Leibniz [Reprint 2019 ed.]
 9783486778342, 9783486778335

Table of contents :
INHALT
Vorwort
Einleitung
Anhang
Nachwort des Herausgebers
Anmerkungen
Namenregister

Citation preview

K U R T

H U B E R

/

L E I B N I Z

K U R T

HUBER

LEIBNIZ

VERLAG

VON

R.

O L D E N B O U R G

M Ü N C H E N 1951

Herausgegeben von Inge Kode in Verbindung mit C l a r a Huber

Copyright 1951 by R . Oldenbourg Satz, Druck und Buchbinderarbeiten: R. Oldenbourg, Graphische Betriebe G. m. b. H., München

INHALT Vorwort Einleitung

7 '.

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1. K a p i t e l : J u g e n d - u n d S t u d i e n j a h r e 1 6 4 6 — 1 6 6 7 . . Ahnen 13 - Jugendjahre 15 - Universitätsstudium 19 - Jena 21 Juristisches Studium 24 - „Ars combinatoria" 25 - „Specimina juris" 29 - Altorf 30 - Nürnberg 31 2. K a p i t e l : M a i n z 1 6 6 7 — 1 6 7 2 Boineburg 34 - Anstellung in Mainz 37 - Ordnung des Corpus juris und „Nova Methodus" 38 - Naturrecht und Frühethik 40 Theologische Arbeiten 42 - Politische Arbeiten: Polnische Thronfolge 45 - „Bedencken" 46 - Ägyptischer Plan 48 - Akademiepläne 54 - Enzyklopädie 59 - Naturwissenschaftliche Entwicklung 60 - „Hypothesis n o v a " 6 5 - Briefwechsel 68 - Studienbericht für Herzog Johann Friedrich 71

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3. K a p i t e l : P a r i s 1 6 7 2 — 1 6 7 6 Ablehnung des Ägyptischen Planes 72 - Besuch bei der Royal Society 75 - Infinitesimalrechnung 79 - Leibniz und Newton 83 Characteristica universalis 87 - Erkenntnistheorie 89 - Ethik 91 Geistige Entwicklung und Leben in Paris 94 - Zweiter Besuch in London 99 - Aufenthalt in Holland: Biologie 101 - Besuch bei Spinoza 103

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4. K a p i t e l : H a n n o v e r 1 6 7 6 — 1 6 8 9 107 Reformvorschläge für den Staatshaushalt 109 - Publizistik 111 Enzyklopädie- und Akademieentwürfe 114 - „Plus ultra": Einteilung der Wissenschaften, Logik als Wissenschaftslehre 119 Materiale und formale Analyse der Einzelwissenschaften 127 Mathesis universalis 130 - Analytische Geometrie 132 - Leibniz als Mathematiker; Logik und Mathematik 137 - Funktionslogik 140 - Erkenntnistheorie und Definitionslehre 142 - Das Urteil: Inhal tsauffassung 150 Herzog Ernst August und Herzogin Sophie 153 - Unionsverhandlungen 156 - Publizistik gegen Ludwig XIV.; „Mars Christianissimus" 162 - Hannoversche Primogenitur und Kurwürde 168 Reich und souveräne Staaten 170 - Genealogie und Geschichte des Weifenhauses: Reise nach Bayern und Österreich 174

„Metaphysische Abhandlung" 178 - Briefe an Arnauld 193 „Système nouveau de la nature" 195 - Lagegeometrie 199 Mechanik 204 - Dynamistische Physik 212 5. K a p i t e l : H a n n o v e r 1 6 9 0 — 1 7 1 6 218 Italienische Reise 218 - Infinitesimalrechnung 219 - Leibniz als Historiker; Geschichte des Weifenhauses 222 - „De rerum originatione radicali" 229 — „Nouveaux Essais" 232 - Sprachwissenschaft 246 - „Theodizee" 248 - „Uber die Prinzipien der Natur und der Gnade", „Monadologie" 251 - Gründung der Preußischen Akademie der Wissenschaften 261 - Tod 264 6. K a p i t e l : P e r s ö n l i c h k e i t - D e u t u n g - W e i t e r w i r k u n g 267 Persönlichkeit 267 - Entwicklung 272 - Probleme der Deutung 275 - Quellen und Eigenart des Leibnizschen Systems: Philosophia perennis 277 - Darstellungen 283 Weiterwirkung: „Leibniz-Wolff" ; Leibniz und Kant 287 - Lessing 294 - Fichte 297 - 19. Jahrhundert: Philologie und Historische Schule; Schelling 297 - Hegel 304 Anhang Leibniz als D e u t s c h e r und E u r o p ä e r Leibniz und wir Studien zur D a r s t e l l u n g des L e i b n i z s c h e n S y s t e m s 1. Die Leibnizsche Logik als Grundwissenschaft 2. Leibnizens Lehre von den Definitionen 3. Fragmente zur mathematischen Grundlagenforschung und Kombinatorik 4. Zur Datierung der mathematischen Manuskripte in Leibnizens Nachlaß Nachwort des Herausgebers Anmerkungen Namenregister

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VORWORT

Eine exakte wissenschaftliche Biographie Leibnizens kann vor Abschluß der kritischen Gesamtausgabe seiner Schriften und Briefe nicht gegeben werden. Von der Preußischen Akademie der Wissenschaften mustergültig in Angriff genommen, wird sie noch manche Jahre in Anspruch nehmen, Das kann nicht hindern, aus der Leidenschaft der Versenkung in Leibnizens Denken ein kurzes Lebensbild dieser rätselhaftesten Gestalt der deutschen Philosophie seit den Tagen der Reformation zu wagen. Es gilt, ein universales Denksystem aus einem universalen Lebensgang von einmaliger Prägung zu verstehen, Leibnizens Denken in der Weite und Lebendigkeit zu erfassen, in der es ein heute erneut wirksames Ferment der deutschen Geistigkeit - und europäischen Bildung geworden ist. Die Darstellung verzichtet daher bewußt auf eingehende Werkanalysen, systematische Entwicklung der Lehre nach einzelnen Gebieten, den gelehrten Apparat von Anmerkungen und Nachweisen. Sie geht dem künstlerisch freien Werden und Wachsen der Gedanken aus einem unerhört reichen Leben nach, den» Nöten und Drängnissen einer um lichte Klarheit ringenden Weltschau, die sich unter die strenge Zucht der Vernunft begibt, um die Fülle geschauten Lebens zu meistern. Der heroische, nie verzagende Kampf um die Sinnhaftigkeit des Weltganzen ist die philosophische Tat des großen Deutschen und Europäers in der Zeit tiefster Erniedrigung unseres Volkes, aus der wir zu schöpfen und zu lernen haben. Kurt Huber

EINLEITUNG

Mitten aus der schweren Leidenszeit des Dreißigjährigen Krieges, an dem das politisch und religiös zerklüftete Deutschland fast verblutet, lösen sich langsam die Kräfte des geistigen Neuaufbaues heraus. Noch lasten auf dem deutschen Westen die französischen Raubheere des Marschalls Turenne und der Nordosten ist noch fest in schwedischer Hand; aber die Kassen der Kriegführenden sind, geleert, Dörfer und Städte Deutschlands stehen öde und großenteils verwüstet, die Bevölkerung ist auf fast ein Drittel des Standes vor Kriegsbeginn gesunken, allgemeine Kriegsmüdigkeit macht sich allerorten bemerkbar, In diese Jammerzeit der, letzten Kriegsjahre vor Abschluß des Münsterer Friedens — ins Jahr 1646 — fällt die Geburt eines Mannes, der zu den größten und zu den deutschesten Menschen gerechnet werden muß, die unser Volk hervorgebracht hat. Es ist, als ob die zerfallende Nation alles aufholen wollte, was noch an unverbrauchter geistiger K r a f t in ihr schlummert; als ob sie sich auf sich selbst besinnen und in der Schaffung eines universalen Menschentypus sich die Bahn zum Wiederaufstieg freimachen wollte. Die zweite Hälfte des unseligen Kriegsjahrhunderts ist auffallend reich an universalen Begabungen. Sie erwachsen aus allen Ständen, aus dem Adel, einem geistig immer noch ungebrochenen Bürgertum, aus der bäuerlichen Scholle. Ein Zug zur Wiedervereinigung der auseinanderstrebenden Kräfte, zu gemeinschaftlicher Kulturleistung im Namen der prüfenden Vernunft ist im kriegsmüden Europa erwacht. Ein Boden der Verständigung, ein ,,mode de vivre" muß gefunden werden: das ist die gemeinsame unausgesprochene Meinung der Besten der Nation, der führenden geistigen Mächte Europas. Wiederaufbau ist die Signatur des geistigen Lebens, in welches die Gestalt Leibnizens schicksalhaft hineingestellt erscheint. Nur von der gemeinsamen großen

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Einleitung

inaervölkischen Tendenz aus kann dies Denkerleben in seiner Eigenstruktur wie in seiner Wirkkraft verstanden werden. Leibniz ist kein „Philosoph" im heutigen Fachsinn, kein Theoretiker in der dünnen Luft reiner Systembildung, kein .akademischer Lehrer, der etwa einen Schülerkreis um sein Katheder sammelte, kein Bücherschreiber, der hinter Fensterbutzenscheiben die Welt um ihn deutete — dies alles ist er nie gewesen. Er ist ein Mann der Tat, ein durchaus politischer Mensch, er gehört mit allen Fasern seines Wesens der großen Welt, in der Geschichte lebendig flutet; — als solcher wird er zum universalen geistigen Exponenten des deutschen Wiederaufbaues nach dem Dreißigjährigen Krieg. Für die „Luftbaumeister von allerhand Systemen" (Kant) hat Leibniz nicht gelebt und nicht geschrieben. Daher er auch von den systematischen Philosophen seit zwei Jahrhunderten mit Vorliebe mißverstanden worden ist. Unsere politisch aufgerüttelte Zeit steht vor nicht ganz unverwandten Aufgaben. So ist sie besser gerüstet, dem Lebenswerk eines Mannes näherzutreten, das so ganz von der Idee der schöpferischen Kulturpolitik bestimmt war. Fast romanhaft schlingen sich im Leben des Denkers die Fäden zusammen, bieten sich die merkwürdigen „Gelegenheiten", als praktischer Mensch und wissenschaftlicher Kopf ins große Ganze zu wirken — Gelegenheiten freilich, die es nur für den werden, der sie aus schöpferischer Kraft und Originalität zu nutzen versteht. Darin, daß er sie nutzt, in der Art, wie er ein barockes Lebensschicksal zur Einheit einer überragenden Kulturleistung, zusammenzwingt, liegt das Einmalige seiner unwiederholbaren, -umfassenden Persönlichkeit. Der eigenartige politische, und im besonderen kulturpolitische Hintergrund des Leibnizschen Philosophierens hat neuerdings schiefen Deutungen Raum gegeben. Da der Denker nur verhältnismäßig weniges aus einer weitverzweigten philosophischen Tätigkeit im Druck veröffentlicht hat, sind seine philosophischen Arbeiten geradezu als „Gelegenheitsarbeiten" bezeichnet wordert. Als ob eine große philosophische Systematik je „gelegentlich" entstünde und nicht

Einleitung

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immer der verhältnismäßig eng bezirkte Denkniederschlag eines philosophisch geführten und gelebten Lebens wäre! Diese Philosophie erschöpft sich freilich nicht in theoretischer Spekulation; sie überzeugt und gewinnt für eine Idee. Sie wendet sich soi gut wie nie namenlos an „alle", sondern immer in persönlicher Fühlungnahme an wenige Auserlesene, die Träger der großen geistigen Mächte der Zeit. Sie hat immer bestimmte Adressaten, mit denen sie geistige Anknüpfung, Verständigung sucht, um das gebildete Europa über alles Trennende der Stände, Konfessionen, Nationen hinweg zur höheren Einheit des geistigen Lebens, der Kulturgemeinsamkeit zusammenzuschweißen. Leibnizens philosophische Arbeit ist g e i s t i g e D i p l o m a t i e im höchsten Wortsinn, im Dienst des europäischen Kulturfortschritts, an den der Denker mit all der Leidenschaft, deren nur große Menschen fähig sind, glaubt. Sie wird mit wachsender Reife immer bewußter und ausgesprochener zum vaterländischen Bemühen, dem deutschen Geist, deutscher Sprache und deutscher Wissenschaft den ihnen gebührenden Platz im Mittelpunkt des geistigen Europa wieder zu erkämpfen. So ist diese in aller scheinbaren Bruchstückhaftigkeit von wenigen abgeschlossenen „Werken", aber einer Unsumme von Entwürfen und Briefen uns hinterlassene Philosophie Leibnizens mehr denn je heute ein Problem der I n t e r p r e t a t i o n . Jeder Versuch, sie aus den „Werken" allein zu rekonstruieren und zu deuten, mußte mißlingen. Nur aus der Ganzheit einer alle Entwürfe und Korrespondenzen mit einbeziehenden philosophischen Lebensschau kann sie verstanden werden. Als s c h ö p f e r i s c h e L e b e n s a u f g a b e , die sich der Philosoph gestellt hat. Die Frage ist: Was hat Leibniz gewollt? und nicht: Was kann dieser oder jener heute noch aus Leibnizens System brauchen? Er kann Einzelheiten überhaupt nicht aus dem System abtrennen, ohne den Grundgedanken zu ertöten. Dieser Grundgedanke aber liegt nicht in ein paar Werken sichtig zutage, nicht in einem „Systemplan" für jeden offen, nach dem jene ge~

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Einleitung

staltet wären. Leibniz bat sich einen solchen Systeanplan im Lauf einer eigenartigen und stürmischen Entwicklung erarbeitet. Erst von der Periode beginnender Meisterschaft an, nach Abschluß seiner größten mathematischen Entdeckung, der Infinitesimalrechnung, etwa vom Ende der Siebziger Jahre dieses ereignisreichen Jahrhunderts an zeichnen sich die Umrisse eines Systems schärfer ab, welches eine der gewaltigsten Synthesen der europäischen Geistesgeschichte idarstellt. Man hat Leibniz bequem als Fortsetzer der großen Systeme eines Descartes, Hobbes, Spinoza und als Philosophen der deutschen Aufklärung deuten wollen, der das Gedankengut der westeuropäischen Aufklärung nach Deutschland übertragen habe. Man hat mit offenen Augen nicht sehen wollen, daß der Denker den leidenschaftlichsten Kampf g e g e n diese Aufklärungswelle mit all ihren Folgeerscheinungen, g e g e n Naturalismus, reinen Rationalismus, bloßen Empirismus, g e g e n die antimetaphysischen Tendenzen der englischen und französischen Philosophie zugunsten einer aus urgründigen Tiefen schöpfenden n e u e n deutschen M e t a p h y s i k führte. Man hat übersehen, daß die deutsche Aufklärung, so vielfach sie sich auf Leibniz beruft, schon in Lessing und Wolff an Leibniz vorbeigegangen ist. Erst über Kant zurück reichen dem Metaphysiker die Meister des deutschen Idealismus, Fichte, und noch mehr Schelling und Hegel, die Hand. Sie stellen die Kontinuität deutschen Denkens wieder her, die sich nirgendwo unmittelbarer offenbart als in der Kraft der Spekulation, die vor keinem Weltgeheimnis sich in oberflächlicher Rationalität verbescheidet. Und so drängt in Leibniz nicht nur das Irrationale menschlichen Unbewußtseins, sondern ebenso das Überrationale des göttlichen Seins wieder mit einer Wucht und Ungebrochenheit in die Sphäre denkerischer Bemühung, wie sie seit Meister Eckhart und Nikolaus von Kues nicht erlebt und erst vom deutschen Idealismus wieder erreicht — nicht übertroffen worden ist.

1. KAPITEL

Jugend-

und Studienjahre

1646—1667

Der reife Leibniz hat sich, mit Vorarbeiten für eine Selbstdarstellung beschäftigt, auf Zetteln mit gewohnter Gründlichkeit 'alle Quellen notiert, wo er den Namen Leibniz als Familien- oder Ortsnamen antraf. Er hat den slavischen Ursprung des Namens, den er mit „Lubenjecz" wiedergibt, richtig erkannt und daraus auf seine Abstammung von einem alten polnischen Adelsgeschlecht geschlossen. Die naheliegende Parallele mit niederdeutschen Ortsnamen, in denen er selbst die Umbildung altdeutscher Personennamen entdeckt hatte, mag ihn zu dem voreiligen Schluß verleitet haben. Die Leibnize gehören vielmehr zur Gruppe der vielen deutschen Siedlerfamilien, deren Namen aus der Verdeutschung der ehemals slavischen Orte hervorgegangen sind, in denen die Vorfahren Haus und Hof gegründet hatten. Seine eigenen Aufzeichnungen mußten Leibniz auf den Raum zwischen Elbe und Saale verweisen, in welchen die Ortsnamen „Leibniz, Leubeniz" und ähnliche gehäuft vorkommen. In eben diesem Raum nennt eine Familienchronik die ältesten, ins Jahr 1450 hinaufreichenden Ahnen: den Gutsverwalter Ambrosius Leibniz, „unter Hanns von Dieskau im Stifte Magdeburg", und dessen Bruder, den Kantor Georg Leibniz, beide aus Rochlitz gebürtig. Des Ambrosius ältester Enkel gleichen Namens war heimlicher Lutheraner und führte 1535 in erster Ehe die Jungfrau Veronika Jöppl heim. Sie war die Tochter des Dresdener Hoforgianisten Balthasar Jöppl, der unter dem Reformationsgegner Herzog Georg dem Bärtigen als Anhänger der neuen Lehre keinen leichten Stand hatte. Noch Luther hatte dem Alten, dessen Sohn als Predigerkandidat in seinem Hause „köstlich Musicam trieb", Trost und Mut zum Ausharren im Glauben zugesprochen — ein in der Familie treu verwahrtes Vermächtnis.

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1. Jugend- und Studienjahre 1 6 4 6 — 1 6 6 7

Mit Veronika war Musikantenblut in Leibnizens Stammbaum geflossen, zugleich eine Verbindung zum Albertinischen Hofe in Dresden gestiftet. Der Sohn Christof — der Urgroßvater des Philosophen — ward in Dresden in der Musik unterrichtet. Dort verliebte er sich in ein „Kammermädgen" der Kurfürstin, einer dänischen Prinzessin. Barbara von Kahlenberg, aus edlem jütländischem Geschlecht, war noch als Kind der jungen Prinzessin an den Dresdener Hof gefolgt. Zweiundzwanzigjahrig erhielt Christof Leibniz vom Kurfürsten eine Organistenstelle in Pirna und konnte 1556 die neunzehnjährige Braut ehelichen. Doch hielt es ihn nicht lange auf der Orgelbank. 1564 wandte ersieh dem Bergbau zu und wurde 1572 Ratsherr und „Schößer" 1 zu Pirna. Das f ü n f t e Kind aus dieser Ehe, nach dem Stammvater Ambrosius geheißen, blieb dem Bergfach treu. Dieser dritte Ambrosius Leibniz lebte als Stadt- und Bergschreiber im Zinnbergwerk Altenburg im Erzgebirge und heiratete 1596 Anna Deuerlein, eine Verwandte der reichen Leipziger Patrizierfamilie Deuerlein. Am 24. November 1597 wurde aus dieser Ehe der Vater des Philosophen, Friedrich Leibniz, geboren. Aus bäuerlichem Boden stammend, hatten sich die Leibnize zu Beamten und in Friedrich zum Gelehrtenberuf emporgearbeitet. Musik, Liebe zum Bergbau, reformatorische Glaubenstreue waren das Erbe der väterlichen Ahnen. Den Vater schildert Leibniz selbst als zarte und kränkliche Natur, eher sanguinischen Temperaments und von äußerster Sparsamkeit. Schon mit vierzehn Jahren Doppelwaise, konnte er nur mit Unterstützung eines mütterlichen Oheims in Leipzig die Rechte studieren. Er folgte 1624 seinem Gönner, dem damals berühmten Professor der Rechte Johann Müller als Aktuar der Universität, wurde 1628 Notar und 1640 Professor der Moral an der Universität. Er war dreimal verheiratet, zum drittenmal mit Katharina Schmuck, der Tochter eines Leipziger Juristen. Er galt als rechtschaffener und angesehener, gläubiger, zuweilen etwas abergläubischer Gelehrter, dem der Drang der Notariatsgeschäfte nicht sehr viel Zeit zu eigener wissenschaftlicher Arbeit ließ. Daß er

Eltern; Kindheit

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sehr belesen war und geradezu polyhistorische Interessen gehabt haben muß, bezeugt schon die erstaunlich reichhaltige Bibliothek, die er in jahrelanger Tätigkeit zusammengebracht hatte und dem Sohne als kostbares Erbe hinterließ. Die Mutter wird in ihrem „Funeralprogramm" als fromme, stille Frau gezeichnet, die sich nach dem frühen Tode ihres Mannes (1652) ganz der Erziehung ihrer beiden Kinder, Gottfried Wilhelms und einer nachgeborenen Schwester Veronika widmete. Ein Stiefbruder des Philosophen aus erster Ehe wandte sich dem Schulfach zu und starb als Tertiarius an der Thomasschule im Jahre 1694. Am 21. Juni 1646 abends viertel vor sieben Uhr hat Leibniz das Licht der Welt erblickt. Bei der Taufe am Johannistag erhob er neugierig sein Köpfchen, was der Vater dankbar als Zeichen, daß ein großer Mann und Glaubensheld aus ihm werde, in die Familienchronik eintrug. Noch andere wunderbare Begebenheiten und die ungewöhnliche Gewecktheit des Knaben ließen den Vater Besonderes von seinem Sohne erwarten, worüber ihn die Verwandten neckten. Er hat freilich recht behalten dürfen. Wie Schelline, und im Unterschied zu Kant und dem so bedächtig sich entwickelnden Hegel, ist Leibniz eine ausgesprochen frühreife Begabung. Eine kaum zu bändigende Neigung zu selbständigem Forschen zeigt sich bei ihm in frühester Jugend und entfaltet sich in einem immerhin originalen Bildungsgang. Leibniz hat ihn später zweimal ausführlicher beschrieben: In einer „Vita Leibnitii a se ispo delincata", die nur bis etwa 1667 reicht, und der merkwürdigen Skizze „In speeimina Pacidii (Latinisierung von Gottfried!) introduetio histórica", in der er seinen Lebensweg von einem fingierten Pariser Bekannten erzählen läßt. Beides sind typisch literarisch gefärbte Entwicklungscharakteristikcn der Aufklärung, an Descartes' berühmter Sclbstdarstellung im „Discours de la Méthode" orientiert und nicht in allem wörtlich zu nehmen. Wie dort Descartes, ist Leibniz hier bestrebt, die eigene Entwicklung als von außen nicht tiefer beeinflußte, höchstens durch den Unver-

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1. Jugend- und Studienjahre 1 6 4 6 — 1 6 6 7

stand der Erzieher 'gehemmte Selbstentfaltung der autonomen Vernunft darzustellen. Die Vernunft ist dabei als allgemeine,-bei richtiger Leitung oder Selbstführung sich in jedem ziemlich gleich auswirkende geistige Kraft gedacht. Auf individuelle Züge legt Leibniz weniger Wert; ja Genie ist ihm eigentlich nur die graduell ausgezeichnete Fähigkeit, die Kraft der Vernunft voll in sich wirken zu lassen. Den Vater verlor Leibniz im sechsten Lebensjahre (1652). Er erinnerte sich nur, daß er ihn selbst lesen lehrte und ihm biblische und profane Geschichten erzählte. So hat der Sorgliche, Großes ahnend und bereitend, noch den Grund zu einer universalen Bildung legen können, die in diesem Jahrhundert einzigartig dasteht. Schon mit knapp sechs Jahren auf die berühmte Nikolaischule geschickt, bringt der Knabe, etwa achtjährig, den Livius und den „Thesaurus Chronologicus" des Sethus Calvisius in seinen heimlichen Besitz, die ein Student in seinem Hause versetzt hatte. Den Calvisius, ein einfaches lateinisches Geschichtsbuch, versteht er ungefähr, weil ihm die Geschichten vom Vater und einem deutschen Geschichtsbuch her geläufig sind. Den alten, mit Holzschnitten versehenen Livius muß er sich hingegen allmählich, von den Bildunterschriften ausgehend, erarbeiten. Daß sein Lehrer, durch frühreife Antworten in der Schule auf die heimliche Lektüre aufmerksam gemacht, sich bei der Mutter beschwert und den Jungen auf das Comeniusbüchlein und seinen Katechismus beschränken möchte, wollen wir Leibniz gerne glauben. Doch ein weitgereister Edelmann, der bei der Unterhandlung zugegen war, findet an den klugen Antworten des Jungen Gefallen und setzt bei den Verwandten durch, daß ihm die bisher verschlossen gehaltene reiche Bücherei des Vaters geöffnet wird. Eine neue Welt geht ihm darin auf, in die er sich tagelang vergräbt. Zunächst reizen ihn die antiken Autoren und vor allem die Geschichte: Cicero und Quintilian, Seneca und Plinius, später Herodot und Xenophon, Piaton, die Scriptores historiae Augustanae und zahlreiche lateinische und griechische Kirchenväter stehen ihm zu Gebot. Erst versteht er nichts, dann ein

Schuljahre; Descartes, Aristoteles

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wenig, nach und nach aber das Notwendige; bis er „gleich wie diejenigen, welche in der Sonne wandeln, während sie mit etwas anderem beschäftigt sind, gebräunt werden, eine gewisse Färbung nicht nur des Ausdrucks, sondern auch der Gedanken angenommen hatte". Kein Wunder, wenn ihn dann der schwülstige Schaum der Neueren, wie sie damals in den Buchläden Mode waren, ekelte und er aus solchem Studium die Kraft jenes klaren, einfachen, präzisen Stiles zog, die wir an dem Philosophen Leibniz bewundern. Kein Wunder auch, wenn er, ein Vierzehnjähriger, in echter Nachfolge Descartes' zwei Lebensaxiome für sich aufstellte: immer bei den Worten und den übrigen Zeichen der Seele (also auch den mathematischen!) die K l a r h e i t , bei den Dingen aber den N u t z e n zu suchen, bald lernend, daß jenes die Grundlage des U r t e i l s , dieses aber der E r f i n d u n g sei. So stellt Leibniz in der Rückschau Urteil und Erfindung, die Kernbegriffe seiner späteren Logik, wegweisend in die Brennpunkte seiner geistigen Entwicklung. Als ich den Aristoteles kennenlernte — berichtet er anderweitig —, war ich fast noch ein Kind. Wovon er aber nicht spricht, ist die Tatsache, daß er auf seiner Schule ganz im Geiste des protestantischen Aristotelismus aufwuchs und den Aristoteles zunächst sicher nicht in der Stille autodidaktischen Studiums kennenlernte. Er hat ja auch später ausdrücklich anerkannt, daß er aus seinem Schulunterricht in der aristotelischen Logik großen Nutzen gezogen habe. Er kann nicht schlecht gewesen sein; denn die kluge Frage des Vierzehnjährigen, ob es nicht, wie es Prädikamente oder Klassen der einfachen Begriffe, so auch Klassenordnungen der zusammengesetzten Begriffe oder Sätze geben müsse, setzt schon eine nicht ganz oberflächliche Bekanntschaft mit der aristotelischen Logik voraus. Freilich konnte er damals noch nicht ahnen, daß eine solche Ordnung der Sätze, aufsteigend von den einfachsten zu immer höheren Ableitungen, gerade das Wesen der Euklidischen Methode in der Geometrie ausmacht. Neben den Schätzen der Antike reizen auch die neueren 2 Huber, Leibniz

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1. Jagend- und Studienjahre 1646—1667

Bestände der reichen väterlichen Bücherei die unersättliche Wißbegierde des heranwachsenden Jünglings. Die wichtigsten Autoren der neueren spanischen Scholastik, F o n s e c a , F u e r t e s und vor allem der gediegene S u a r e z gestatten ihm, „im Lande der Scholastik schon ziemlich weit vorzudringen" — der Autoren protestantischer Scholastik nicht zu gedenken, die eT als selbstverständlich bekannt gar nicht nennt, Und endlich wirft er sich mit Eifer auf die reformatorischen Streitschriften und die Flut der KontroversienHterato — immer bedacht, jieden Standpunkt zunächst einmal verstehen zu lernen. Und wenn er auch Luthers hartes „De servo arbitrio" oder Laurentius Vallas rhetorisch gezierte Schrift über die Freiheit mit Genuß liest — die Prüfung der verschiedenen Standpunkte führt ihn doch dazu, sich „in den' g e m ä ß i g t e n Lehren der Augsburgischen Religion zu befestigen". Nicht Luthers geniehafter religiöser Determinismus, sondern Melanchthons vorsichtig vermittelnde Freiheitslehre ist der Ausgangspunkt für Leibnizens Lösung des Freiheitsproblems geworden! — Diese eigenartig verstehende große und fruchtbare Objektivität, die in jeden Autor — wie Leibniz später einmal meint — Besseres hineinliest als darinnen steht, tritt schon bei dem jungen Autodidakten aufs deutlichste zutage. Sie wird nicht durch vieles Lesen erreicht — man hat sie oder hat sie nicht, und demgemäß liest man. Eine geniale Kraft der Assimilation setzt den jungen Leibniz in den Stand, in unglaublich kurzer Spanne, auf sein autodidaktisches Wissen organisch aufbauend, die großen geistigen Bewegungen der Zeit in schöpferischer Mitarbeit zu durchleben. Eine höchst bedeutsame Ökonomie des wissenschaftlichen Arbeitens, die er gerne und oft hervorhebt, leistet ihm hiebei wichtige Dienste. Immer darauf bedacht, in jeder Wissenschaft Neues zu leisten, belastet er sich nie mit unnützem und totem Wissenskram. Kaum hat er die ersten Handgriffe einer Disziplin erlernt, so sinnt er auf originäre und möglichst allgemeine Fragestellungen. In dem Versuch, ihrer Herr zu werden, wächst er schöpferisch — nie bloß aufnehmend!

Der Autodidakt. Universität Leipzig; Thomasius

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— in Geist und Methodik jeder Einzelwissenscbaft hinein. Audi an den Stilübungen der Schule in den alten Sprachen findet der Frühreife Gefallen. Er beherrscht das Latein mit dreizehn Jahren in Prosa und gebundener Rede so leicht, daß er für einen erkrankten älteren Mitschüler an einem Vormittag zu aller Staunen ein Pfingstgedicht von dreihundert Hexametern verfaßt und überdies auswendig vorträgt. Die Leichtigkeit der Sprachgebung hat den Philosophen auch später bei allen möglichen Anlässen in deutscher, lateinischer und französischer Sprache den Pegasus besteigen lassen. Ein Dichter ist er darum nicht geworden. Seine Verse haben immer etwas' rein Gedankliches, Nüchternes, Handwerkliches — wenn man von wenigen gelungenen Ausnahmen absieht. So einem innerlich empfundenen Passionslied aus dem Jahre 1684, das fast an Silesius' gedankenreiche Schöpfungen erinnert. Und doch steckt in dem anscheinend so nüchternen Denker eine ausgesprochene Künstlernatur, die dann und wann in den Tiefen metaphysischer Gedankenführung plötzlich die! geschlossene Kette der Beweise durchbricht. J a das in aller ungeheuren Mannigfaltigkeit organisch sich aufbauende System, das sich seinem scharfen und beharrlichen Denken entringt, trägt durchaus die Züge einer künstlerisch freien Gestaltung — ohne etwa „Dichtung" zu sein. Zu Ostern 1661 bezieht der knapp Fünfzehnjährige die heimatliche Universität Leipzig. Jacob Thomasius für Philosophie und Adam Scherzer für Theologie sind seine vorzüglichsten Lehrer; der erstere, ein nicht unbedeutender protestantischer Aristoteliker, erkennt sofort die überragende philosophische Begabung des jungen Studenten. Er wird ihm ein väterlicher Freund. Als einer der frühesten Historiker der Philosophie, die sich über eine Geschichte der Philosophen zur Geschichte der Philosophie erheben, wirkt er nachdrücklich auf Leibniz. Von Scherzer, einem der Hauptkämpen in dem widerliche Formen annehmenden literarischen Kampf der Konfessionen, mag sich der junge Leibniz mehr abgestoßen als belehrt gefühlt haben. Jedenfalls sticht 2*

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1. Jugend- und Studienjahre 1 6 4 6 — 1 6 6 7

des Jünglings reifes, ja genial sicheres Urteil über den damals noch wenig bekannten Dichter Angelus Silasius merkwürdig gegen Scherzers Silesiuspamphlete ab. Von dem sehr sorgfältigen und eingehenden Unterricht bei Thomasius —• und nicht nur von der eigenen Begabung — zeugt Leibnizens erste literarische Leistung, die kleine Schrift „De principio individui", mit der er sich nach zwei Semestern am 30. März 1663 den Baccalaureus erwarb. Sei es Zufall oder ein Wink des Schicksals, daß sich der Lehrling gerade einem Problem zuwandte, das ein Kernproblem in der reifen Lehre des Meisters darstellen sollte — Leibnizens kurze, systematische Darstellung der verschiedenen Standpunkte ist, ohne Neues zu bringen, außergewöhnlich klar und einleuchtend. Mit den meisten Vertretern der katholischen und protestantischen Spätscholastik und mit allen großen Systematikern des 17. Jahrhunderts, mit Descartes, Hobbes, Spinoza hält Leibniz selbst an der „antirealistischen" Lehre fest, daß nur das Individuelle wirkliche Existenz außerhalb unseres Geistes habe, dem Allgemeinen hingegen nur eine Existenz in unserem Denken zukomme. Diese „antirealistische Tendenz" in der Lösung des „Universalienproblems" bildet die gemeinsame Front der „Modernen" gegen den platonischen wie den aristotelischen Realismus, gleichgültig wie man sich sonst das Sein dieses Allgemeinen im Verstände dachte, als ein Sein allgemeiner Begriffe (Conszientialismus) oder eine bloße Zusammenfassung mittels allgemeiner Namen (Nominalismus). Aber auch gegen Duns Scotus' Begriff der „haeeeeitas" wendet sich Leibniz mit den Nominalisten, jeneT eigentümlichen „Dieshaftigkeit", die das allgemeine Sein erst zu einem individuellen „kontrahiere", also dessen Existenz voraussetze. „Jedes Individuuni — betont Leibniz — wird d u r c h s e i n e g a n z e W e s e n h e i t zum Individuum." Und doch verbindet schon den jungen Leibniz — ihm selbst kaum bewußt —• ein entscheidender Gedanke mit der Auffassung des großen Schotten: Daß es kein äußeres Moment — etwa die raumzeitliche Lage —, sondern ein

Leipzig: „De principio individui." Jena: Weigel; Pythagoreismus

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i n n e r e s , q u a l i t a t i v e s M o m e n t sei, welches das Individuum als unwiederholbar Einmaliges charakterisiere. In diesem Gedanken erfüllt sich erst der echte qualitative Individualismus, der zu einer „Monadenlehre" führen kann. In dessen Verfolgung unterscheidet sich Leibniz scharf von einem Descartes, Hobbas und Spinoza. Im Sommer 1663 besucht Leibniz auf Rat seines Verwandten, des Rates Johann Strauch, die damals im Ruf besonderer Fortschrittlichkeit stehende Universität Jena. In der Tat ist das Semester f ü r seine Entwicklung entscheidend geworden. Der Philosoph und Mathematiker Eberhard W e i g e l wird sein Lehrer, ein phantasiercichcr, scharfsinniger, doch etwas schrullenhafter Kopf, der Typus des pythagoreisierenden, in der geheimen Wunderwelt der Zahlen sich heimisch fühlenden deutschen Mathematikers der Zeit. Eine neue Welt geht in dem jungen Philosophen auf, in mehr als. einem Punkte gegensätzlich zu Aristoteles. Nicht geformte Materie, sondern ein Kosmos strenger Zahlengcsetzlichkeit ist das Universum, Harmonie sein oberstes Prinzip. Harmonie des Universums — die Formel wcckt mit Zauberkraft den in dem jungen Leibniz schlummernden Mathematiker. Mit Leidenschaft -wirft er sich unter dem Eindruck von Weigels Vorlesungen auf die neueste pythagoreische Literatur. Der große Kepler wird ihm mindestens schon ein lebendiger Begriff, doch die stärksten unmittelbaren Anregungen gehen neben Weigel selbst von dem wenig bekannten, genialen mathematischen Kombinatoriker Johann Heinrich B i s t e r f e l d in Leiden aus, dessen Werke Adrian Heerebord vor kurzem, 1657, herausgegeben hatte. Leibniz hat Bisterfclds Schriften, seine „Philosophia Prima" und seine Logik, vor allem aber die kleine Schrift „Phosphorus Catholicus scu de Arte meditandi Epitome" aufs höchste geschätzt. Durch letzteres Werk und Eberhard Weigels geistvolle „Analysis Aristotelica e x E u c l i d e r e s t i t u t a " vom Jahre 1658 sind die tragenden Gedanken des deutschen Renaissanccpythagoreismus in moderner und schon sehr geklärter Form auf Leibniz übergegangen.

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1. Jugend- und Studienjahre 1 6 4 6 — 1 6 6 7

Die Wurzeln des neuen Zahlenrationalismus liegen tief in der mittelalterlichen Weltanschauung. Das Trifolium der Mathematik, Musik und Astronomie lebt von der mystischen Überzeugung, .daß sich in der Zahl, in den Proportionen die geheime Vernunft des Weltbaues, Gott selbst offenbare. Ohne diesen metaphysischen Untergrund ist mittelalterliche Mathematik, Musiktheorie und Astronomie nicht zu denken. Die zahlenmäßige Ordnung der Welt ist eine „geheime" Offenbarung neben der Bibel. Meister Eckhart deutet das Johannesevangelium in diesem Sinn. „Im Anfang war das Wort — Logos, Sohn, die geschaffene Welt ist Abbild der göttlichen Urvernunft." Nikolaus von Kues entwickelt eine tiefsinnige Metaphysik des Universums als „Spiegel der Gottheit". Die „wahre" Welt wird nicht in sinnlicher Anschauung, sondern in den, gedanklichen Zeichen der „Zahl" im allerweitesten Sinn erfaßt. Mathesis ist die Zeichensprache der göttlichen Vernunft selbst. Eine tiefe Religiosität der ratio, der Vernunft tut sich neben dem Offenbarungsglauben 'auf, bereit, ihn dereinst zu sprengen. Die Reformation hat, so sehr auch Luthers Werk ganz auf dem Offenbarungsglauben ruht, mit dessen Einschränkung auf das Bibelwort der Entwicklung jener rationalen Religiosität nur Vorschub geleistet. Schon in deren Schöße vollzieht Kepler eine durchgreifende Wendung: In seinem Werk geht der Pythagoreismus der Zahlenharmonie mit dem Individualismus der neueren Philosophie eine neue, höchst fruchtbare Bindung ein. Die Welt ist ein zahlenmäßig geordneter, harmonischer Zusammenhang aller wirklichen existierenden Einzeldinge. Diese „mohadologische Struktur" der Wirklichkeit — wie wir vorgreifend sagen wollen — und die universale Gesetzlichkeit ihrer Ordnung und ihres Zusammenhangs sind zwei weltanschauliche Voraussetzungen des „modernen" Pythagoreismus eines Kepler, Bisterfeld und so auch Lcibniz, an denen der Denker niemals gerüttelt hat. Ja Leibniz wird gerade der Vollender, Zuendedenker eines auf beiden Gedanken als Grundfesten sich aufbauenden Systems.

Jena: Kombinatorik

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Ein ganz neues Verhältnis der Wirklichkeit m Gott liegt in dem neupythagoreischen Gedanken der Weltharmonie eines Nikolaus von Kues, eines Kepler und Kopernikus beschlossen. Das wirkliche Einzelding steht mit allen anderen Einzeldingen des Universums in lebendigem, charakteristischem Zusammenhang. Es ist so in seiner Art, von seiner Stelle aus ein A u s d r u c k .des g e s a m t e n U n i v e r s u m s . Dieser Gedanke der R e p r ä s e n t a t i o n des Universums in jedem Einzelding ist einer der kühnsten, der fruchtbarsten Gedanken deutscher pythagoreischer Weltspekulation. Leibniz hat ihn in sich aufgesogen und, wie kein, zweiter Denker, in einer universalen Systematik zur Entfaltung gebracht. Und endlich ein Drittes: Die Methode der Erarbeitung; dieses universalen WeltzusammenhangB ist bei den großen Denkern der deutschen pythagoreischen Renaissance die echt mathematische Methode der klassischen antiken Geometrie: die Euklidische Methode der Analysis und Synthesis. Das heißt für sie in der Mathematik: Zerlegung des Einzelproblems in einfachere und schon gelöste Probleme, Aufbau der Wissenschaft aus einer endlichen Zahl letzter elementarer S ä t z e . In der Logik: Zerlegung all unserer Begriffe in eine endliche Anzahl letzter Stammbegriffe unseres Verstandes und Aufbau all unseres Wissens aus einer gesetzlichen Verbindung, Kombination dieser Elementarbegriffe. Begreiflich, daß diese weiteste Fassung des Problems der Logik die Mathematik irgendwie in sich schließen muß wie jede andere Wissenschaft. Die in solcher Weite verstandene Logik wird zur Universalwissenschaft. An dieser Stelle setzt das mathematische Problem der Kombinatorik ein. Die mathematische Kombinatorik entwickelt in allgemeinster Form die Gesetze und Regeln der Verbindung von) Elementen zu Komplexen — also auch der Elementarbegriffe zu komplexen Begriffen. Die pythagoreische Logik kann nur eine kombinatorische Logik sein, eine Logik der Erfindung —• ars inveniendi —, die sich zunächst zur formalen aristotelischen Logik der Schulen — der Logik des Urteils, ars judicandi — in schärfsten Gegensatz

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1. Jugend- und Studienjahre 1646—1667

stellt. In Wahrheit jedoch bildet gerade die Einheit der Logik als Forschungs- und Urteilslogik das fruchtbare Problem, aus dessen Bewältigung Leibnizens universale Logik herauswachsen sollte. Auch hier ist er ein unmittelbarer Fortsetzer Weigels. Will dessen „Aristoteles ex Euclide restitutus" doch gerade aufzeigen, daß die wahre, durch äußerlich scholastische Tradition verschüttete Methode der aristotelischen Logik die Euklidische der Analysis und Synthesis sei. Weigel hat demgemäß auch den Blick offen für die gewaltige, eben aus den Denkkräften der Renaissance aufgebrochene Umwälzung des Weltbildes, die sich im großen Kusaner, in Kopernikus und Kepler, in Galilei, Descartes und Hobbes vollzogen hat und eben noch vollzieht. Eindrücklich weist er Leibniz auf das Studium von Hobbes hin. Es ist eine Flut von großen Gedanken, die in Jena auf den jungen Aristoteliker einströmen und die ersten großen weltanschaulichen Spannungen, ja Konflikte in ihm auslösen. Ein Weigel und Bisterfeld sind wohl Künder des Neuen, doch es bleibt beim Programm. In dem jungen Leibniz hingegen sollte sich die Versöhnung aristotelischen, pythagoreischen und modern naturwissenschaftlichen Denkens in einer Form vollziehen, die zu den größten Synthesen der europäischen Geistesgcschichte gerechnet werden muß. Das mathematisch-naturwissenschaftliche Studium in Jena unterbricht er, um allererst in Leipzig sich auf den künftigen Beruf als Jurist vorzubereiten. Die philosophische Magisterarbeit vom 28. Januar 1664 bestreitet er schon mit einem charakteristischen Grenzthema zwischen Philosophie und Rechtswissenschaft. In der kleinen Schrift „Specimen difficultatis in jure seu quaestiones philosophicae amoeniores ex jure collectae" behandelt er in systemlos freier Folge eine Reihe philosophisch zu klärender Begriffe, die als Grundbegriffe (Elemente) oder als Hilfsbegriffe in Rechtsentscheidungen eingehen. Er findet in einem enzyklopädischen Durchblick durch die Philosophie die verschiedenartigsten Begriffe, vom Substanzbegriff und den Kategorialbegriffen von Raum und Zeit bis zu den entscheidenden

Leipzig: Jurisprudenz; „De arte combinatoria"

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Begriffen der Willensfreiheit, der Handlung, der Überlegung und anderen. Kurz nach der glänzend verlaufenen Disputation, am 6. Februar 1664, stirbt die Mutter. Sie hat nur noch die ersten akademischen Erfolge des so sorgsam erzogenen genialen Sohnes erleben dürfen. Leibniz ist nunmehr ganz auf sich selbst angewiesen; der Familie, zumal der besorgten Schwester und dem kleinlich engen Stiefbruder war er bald entfremdet. Für länger freilich konnte ein philosophischer Kopf wie der junge Leibniz der Auseinandersetzung mit den neu auf ihn einwirkenden Geistesmächten nicht aus dem Wege gehen. Deren erste Frucht ist die in aller Unfertigkeit wahrhaft geniale Schrift „De arte combinatoria", mit der er sich am 17. März 1666 pro loco an der philosophischen Fakultät der Universität Leipzig habilitierte. Nur ein Bruchteil der Arbeit lag zur Disputation vor. Er fertigte sie in den folgenden Monaten in Muße aus. Ende 1666 erschien sie im Druck. Die Schrift ist nicht einheitlich und trägt alle Spuren einer ungestümen inneren Entwicklung. Sie geht zunächst vom reinen Problem der mathematischen Kombinatorik aus. Die damals beste Darstellung dieses in der ersten Entwicklung begriffenen Zweiges der Mathematik, die „Deliciae Mathematicae" von Daniel S c h w e n t n e r und Georg Philipp H a r s d ö r f f e r , mag ihm die erste Anregung gegeben haben. Von dem berühmten Ingolstädter Mathematiker Athanasius K i r c h e r stand eben eine „Ars combinatoria" zu erwarten. Als Leibniz das Werkchen später in die Hände fiel, stellte er mit Genugtuung fest, daß es nur die alten, spielerischen Gedanken der „Lullischen Kunst" in neuem Gewände wiederholte. Er hatte mehr zu geben. Zunächst entwickelt er eine scharfsinnige Systematik der kombinatorischen Elementaraufgaben mit Aufweis der Anwendungen auf die allerverschiedensten Gebiete, von der Berechnung der Registermischungen einer Orgel, der Konstruktion von Geheimschlössern, der Entzifferung von Geheimschriften und anagrammatischen Umformung von Hexametern bis zur

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kombinatorischen Diviision (Einteilung) geometrischer Figuren (nach Kepler!), juristischer Kasuistik und endlich — der Kombinatorik der Begriffe und Sätze in der Logik. Vor allem wendet er die kombinatorische Methode auf das Problem der syllogistischen Schlüsse des Aristoteles an. Mit vollem Recht. Die Anzahl der möglichen Schlüsse zu bestimmen, die unter den Gesetzen der aristotelischen Syllogistik stehen, ist eine kombinatorische Aufgabe. Der junge Leibniz löst sie richtiger als sein Vorgänger, der Basler Hospinianus. Versagt hat auch er bei der Ausscheidung1 der unzulässigen Kombinationen. Er hat das Problem später im Zusammenhang seiner mathematischen Logik auf viel tieferer Grundlage neu bearbeitet. In Verfolg der letzteren Probleme und der methodologischen Grundgedanken Bisterfelds und Weigels verschiebt sich der Schwerpunkt der Schrift ins Logische. Leibniz zieht darin die Grundlinien einer k o m b i n a t o r i s c h e n Fors c h u n g s l o g i k . Sie geht nicht von formalen logisdien Schemen, sondern von den Einzelwissenschaften und deren Begriffsbildung aus. Sie ist zunächst Analysis und zerlegt alle in einer Wissenschaft vorkommenden Begriffe in elementare Gegenstands- und Relationsbegriffe. Aus diesen Grundbegriffen baut sie dann synthetisch in deren gegenseitiger Kombination die abgeleiteten Begriffe und Sätze auf; die mathematischen Regeln der Kombinatorik gewährleisten die Vollzähligkeit der Synthese. Analysis und Synthesis sind die methodischen Grundoperationen dieser Forschungslogik. Die metaphysischen Voraussetzungen seiner Logik, die Harmonie und monadologische Struktur des Universums, hat Leibniz in seiner Erstlingsschrift nur angedeutet. Um so schärfer tritt das eigentlich Neue seines Gedankens heraus, wodurch er den Boden des bloßen Programms verläßt: der klare Ausgang von den Einzelwissenschaften, die Forderung einer kategorialen Analyse der Grundbegriffe in jeder Wissenschaft. Ein klassisches, heute noch richtunggebendes Beispiel einer solchen Analyse liefert er in dem „Prooemium"

„De arte combinatoria"

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(Vorwort) der Schrift, in dem er den Begriff der Zahl aus demjenigen der Einheit als dem Grundbegriff alles Quantums ableitet. „Als e i n Gegenstand unseres Denkens gilt, was in e i n e m Akte unseres Geistes zusammengefaßt, a p p e r z i p i e r t wird." Mit diesem inhaltsschweren Satz nimmt der junge Leibniz einen Grundgedanken von Kants idealistischer Deduktion der Kategorien vorweg. Der „Gegenstand unseres Denkens" w i r d durch die zusammenfassende Tätigkeit unseres Denkens. Das zusammenfassende Ich ist die Grundlage der Einheit. Es würde zu weit führen, im einzelnen zu zeigen, wie Leibniz in den tiefschürfenden „Definitionen" der Grundbegriffe der Kombinatorik, der Veränderung der O r d n u n g und der La ige von Elementen, Gedanken keimhaft entwickelt, deren Weiterentfaltung ihn zu seinen größten mathematischen Entdeckungen geführt hat. Leibniz hat, als im Jahre 1690 die Schrift ohne sein Wissen nochmals gedruckt wurde, zwar die jugendliche Unfertigkeit ihrer Problembehandlung abgelehnt. Nie aber hat er bezweifelt, daß die noch ganz den fast spielerischen Geist der Renaissancemathematik atmende Jugendarbeit den unendlich fruchtbaren Kerngedanken seiner ganzen späteren logisch-mathematischen Arbeit klar ausspricht. (Nur andeutend sieht Leibniz in der „Ars combinatoria" eine Erweiterung der kombinatorischen Logik über alle Einzelwissenschaften hinaus auf alle unsere theoretischen und praktischen Begriffe vor.) Noch ein weiterer Wesenszug darf in dem Bilde dieser neuen Logik nicht vergessen werden: Sie ist Kombinatorik, das heißt ein Stück Mathematik und findet ihren exakten Ausdruck erst in einer mathematischen Z e i c h e n s p r a c h e . Sie wird zum K a l k ü l , einem System kombinatorischer Regeln, mit deren Hilfe man „rechnen" kann. Mit Nachdruck verweist der junge Leibniz auf Hobbes' berühmt gewordenen Satz, daß das Denken ein Rechnen sei. Die in der Analyse gefundenen Elementarbegriffe einer Wissenschaft werden durch Zeichen, z. B. durch Zahlen ausgedrückt; die abge-

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leiteten Begriffe erscheinen dann als Kombinationen, etwa als Multiplikation oder Addition von Zahlen. Dies logische Zeichensystem erfährt weiter eine Verallgemeinerung auf a l l e unsere theoretischen und praktischen Begriffe. Es wird zur allgemeinen, in Zeichenverbindungen sich s y m b o l i s c h vollziehenden B e g r i f f s s p r a c h e , zur Kunstsprache der Vernunft — characteristica realis —, die das Sein der Welt unmittelbar ausdrückt oder repräsentiert. Mit diesen, in der „Ars combinatoria" nur erst angedeuteten Gedanken schließt sich Leibniz einer allgemeinen, auf die Schaffung einer allgemeinen Begriffssprache oder Kunstsprache gerichteten Tendenz der Renaissancelogik an, die in England, Deutschland, Italien gleichermaßen wirksam ist. Die systematische, bohrende Arbeit an einer solchen Characteristica realis führt jedoch weit über Leibnizens Studienjahre hinaus. Mit der „Ars combinatoria" errang Leibniz seinen ersten literarischen Erfolg über die Grenzen der Leipziger Alma mater hinaus. Sie wurde viel beachtet, ja angestaunt, doch von einem tieferen Verstehen der entscheidenden neuen Gedanken findet sich in der täglich wachsenden Korrespondenz des jungen Gelehrten keine Andeutung. Nur scheinbar drängte ihn der bevorstehende Abschluß des juristischen Studiums wieder auf andere Bahnen. In Wirklichkeit hat er seine allgemein logischen Ideen zunächst in der Rechtswissenschaft mit sichtlichem Erfolg weiterentwickelt — der Wissenschaft, die für ihn zeitlebens das Muster einer systematischen Geisteswissenschaft geblieben ist. Erstaunlich rasch hat sich Leibniz neben seinen umfassenden philosophischen Studien zur Grundlagenforschung das Handwerkszeug des Juristen erarbeitet, und zwar in einer Breite und Tiefe, die ihn bald zu einem der glänzendsten praktischen Juristen Deutschlands aufsteigen ließ. Doch sein eigentliches Interesse gilt den Grundlagenfragen seiner Brotwissenschaft. Auch die weiteren juristischen Promotionsschriften, die zur Erlangung der juristischen Grade vorgeschrieben waren, behandeln Fragen der juristischen Logik

„Specimina Juris"

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und Methodik. Die Schrift „De conditionibus", die er 1665 in zwei Abteilungen unter dem Vorsitz seines Freundes und Gönners Bartholomäus Leonhard Schwendendörffer erfolgreich disputierte, und die weitere Schrift „De casibus perplexis" (Uber die sogenannten „verwickelten Rechtsfälle"), mit der er sich 1666 — vergeblich! — um den Doktor der Rechte in Leipzig bewarb, gehören innerlich mit der Magisterschrift von 1664 zusammen. Er hat alle drei Arbeiten 1669, zum Teil umgearbeitet, unter, dem Titel „Specimina Juris" herausgegeben. In dieser Form tritt der reformerische Charakter der drei Schriften als Beiträge zu einer neuen Rechtslogik klar heraus. Die endlose Zitierung von Autoritäten im alten scholastischen Stil ist nur äußeres Gewand; im Grunde verläßt man sich nur mehr auf die Logik der Vernunft. Im Widerstreit positiver Rechtssätze, der in den „schwierigen Rechtsfällen" vorliegt, muß man zum Entscheid auf elementare, unzweifelhafte Sätze des Naturrechts zurückgehen. Schon hier taucht der Gedanke eines demonstrativen Aufbaues der gesamten Jurisprudenz aus dem Naturrecht auf. Die erwähnte Untersuchung der philosophischen Grund- und Hilfsbegriffe der Jurisprudenz führt zur Idee einer allgemeinen Rechtsenzyklopädie. Sie ist das Muster für die bald auftauchende Forderung einer allgemeinen Enzyklopädie des gesamten theoretischen und praktischen Wissens. Am tiefsten endlich bohrt die geistvolle Schrift über die „bedingten Rechtssätze", nach dem Urteil eines heutigen Autors das Beste, was bisher über den Gegenstand geschrieben wurde. In ihr hat Leibniz am Beispiel des bedingten Rechtssatzes zwei Erkenntnisse von allgemeinster logischer Bedeutung abgeleitet: Er sieht die genaue strukturelle Entsprechung zwischen Prädikation im kategorischen und Konsequenz im hypothetischen Urteil, die geradezu den Nerv einer brauchbaren allgemeinen Theorie des Urteils ausmacht; und er erkennt den tiefgreifenden Unterschied zwischen formallogischer und materialer, sachlicher Bedingt-

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heit eines Satzes, und demgemäß den Unterschied zwischen formalen und materialen Schlüssen, Der Aufstieg zu den höchsten akademischen Graden sollte Leibniz freilich in der Juristenfakultät nicht so leicht gelingen wie bei den harmloseren Philosophen. Zwar ward ihm anfangs 1666 der Raccalaris so frühe verliehen, als nach den Statuten überhaupt möglich war. Als er sich jedoch im Sommersemester 1666 um den Doktor der Rechte bewarb, mit dem in Leipzig eine Assessorenstelle verbunden war, setzte der Brotkampf der älteren Bewerber gegen Leibniz ein. Gestützt auf den Brauch, daß die Assessorenstellen nach dem Promotionsalter verteilt wurden, setzten sie durch, daß die jüngeren Bewerber, unter ihnen Leibniz als einer der jüngsten, von der Promotion ausgeschlossen und auf spätere Zeit vertröstet wurden. So wenigstens erzählt Leibniz selbst. Die1 näheren Umstände der Ablehnung sind nicht bekannt. Gekränkt verläßt er Leipzig, um an der Nürnberger Universität Altorf zu promovieren. Dort wind er mit offenen Armen aufgenommen. Am 5. November 1667 fand die Feier statt. Alle Anwesenden waren — wie er selbst berichtet — von solcher Gelehrsamkeit und Genauigkeit des Zwanzigjährigen erstaunt. Auf einen begeisterten Bericht des Dekans an den Nürnberger Pastor Primarius Johann Dillher, den Leiter des Nürnberger Unterrichtswesens, wird Leibniz sofort eine Professur an der Universität Altorf angeboten. Der junge Leibniz schlägt die Professur aus. Es gibt Augenblicke im Leben großer Menschen, in denen sie schicksalhaft, schlafwandelnd ¡die unerwartetsten Entscheidungen für ihren Lebensweg treffen. Sie erweisen sich erst später und dem Fernerstehenden als innerlich notwendig. So war für Leibniz —• wie wir heute sehen — die Abkehr von der Universität, ihrem überalterten, verknöcherten Betrieb, ihrem starren, persönlicher Entfaltung wenig Raum gebenden Formalismus der Professorenlaufbahn eine Notwendigkeit. Leibniz wollte ins Weite wirken. Das war, so fühlte er wohl, von dem engen Horizont der kleinen Reichsstadt-

Altorf; Nürnberg: Rosenkreuzer

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Universität aus nicht möglich. Vielleicht aber war es auch eine ganz unbewußte Reaktion gegen die aufs äußerste angespannte wissenschaftliche Tätigkeit von Jahren, die den jungen Denker in gänzlich andere Bahnen trieb: Selbstschutz gegen frühzeitige Gelehrtenroutine! J a vielleicht ein noch tieferliegendes Moment: Verlangen nach etwas Wärmerem, die Seele Aufwühlenderem als den rationalen denkscharfen Schlußgeweben, mit denen er bislang seinen Geist genährt hatte. Kurz: Der angehende Professor Juris utriusque wirft sich ins Leben der Nürnberger Reichsstadt, da, wo es am dunkelsten und im Geheimen flutet und wühlt. Ein faustischer Drang führt ihn der geheimen Sekte der Rosenkreuzer in die Arme, um die sich in diesen Jahrzehnten ein Dunst interessanter Nachrichten und Vermutungen gewoben hatte. Kein Geringerer als Descartes war in seinen letzten Lebensjahren den Rosenkreuzern nahegetreten — auch auf der Suche nach dem lebendigen Gegenpol seiner durchgreifenden Weltrationalisierung. Von der Rosenkreuzer Treiben weiß der junge Leibniz nicht sehr viel mehr als vom Hörensagen. Er ist bei seinen Studien zur „Ars combinatoria" auf einige ihrer Schriften gestoßen. Mag sein, daß den ewig nach Neuem Dürstenden deren Beschäftigung mit der Alchimie angezogen hat. Diese dunkle Kunst, aus der sich eben in diesen Tagen — in England und Frankreich wie in Deutschland — die Wissenschaft der Chemie herauskristallisieren sollte, gehört ja auch seit dem tiefen Mittelalter zum Kreis der pythagoreischen Künste. Und von Chemie versteht er bisher noch nichts. Doch der Schalk sitzt ihm hinter den Ohren — wenn wir dem Bericht seines ungetreuen Sekretärs Eckhardt trauen dürfen: Aus den dunkelsten Terminis der Rosenkreuzersprache, die er selbst kaum versteht, braut er einen Brief an den Vorstand einer Nürnberger Alchimistengemeinde zusammen, in dem er um Aufnahme in die Bruderschaft bittet. Solch spekulativer Tiefsinn war den guten Rosenkreuzern noch nichti begegnet. Er „avanciert" sofort zum Sekretär der Gesellschaft

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und kann in deren Laboratorium arbeiten. Hier hat er nicht nur einen tiefen Blick in die Schliche unlauterer Alchimistenkunst getan, der ihm später nützen sollte, sondern — was viel wichtiger ist — die Fundamente seiner nicht geringen Kenntnisse in der Chemie gelegt. Von dieser aufstrebenden Wissenschaft hat er sich zeitlebens die größte Förderung unserer Kenntnis der Körperwelt versprochen, und mit Recht. Aus unmittelbarer Quelle wissen wir über Leibnizens Nürnberger Aufenthalt so gut wie nichts. Der reife Leibniz hat den Gewinn seiner Nürnberger Studien nicht gering eingeschätzt; sie befähigten ihn frühe, in dem Treiben so zweideutiger Gestalben wie seines begabten Freundes Daniel Krafft und des fast genialen Becher das wissenschaftlich Bedeutsame zu sehen und die epochemachende Leistung eines Boyle voll zu würdigen. Und nicht nur die Alchimie kann den jungen Welt- und Gottsucher in Nürnberg angezogen haben. Denn eine Leitidee der Rosenkreuzer, der Gedanke der religiösen Liebesbruderschaft, in der sich alle Menschen finden sollten, hat in ihm in diesen Nürnberger Tagen tiefe Wurzel geschlagen. Dort in geheimnisvoller Sprache entstellt und getrübt, ist er, zu kristallener Reinheit geklärt, eines der wirksamsten Fermente Leibnizscher Weltschau und Weltplanung geworden und geblieben.

2. KAPITEL

Mainz

1667—1672

Das Leben in der alten freien Reichsstadt Nürnberg hat auf Leibniz einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Hier stieß er auf ein innerlich gesundes deutsches Städtewesen, das durch die Schäden des! Dreißigjährigen Krieges so gut wie nichts von seiner altdeutschen Kraft und stolzen Einfachheit eingebüßt hatte. Wo immer der spätere Kulturpolitiker seinen lieben Deutschen ob ihrer von den Welschen übernommenen Unsitten, ihrer französischen Kleiderpracht, ihres Luxus, der einreißenden Unsittlichkeit der Jugend, der in Mode gekommenen Erziehungsreisen ins Ausland kräftig die Lektion las, hat er auf Nürnberger alte Tracht und Nürnberger ehrenfeste Sitte hingewiesen. Nürnberger Handwerksarbeit hat er mehr als einmal so manchen unsoliden Techniken des Auslandes gegenübergestellt. Die alte Pegnitzstadt schien ihm das Muster und Vorbild deutschen Wesens. Auch die reichsstädtische Universität Altorf war keineswegs unbedeutend und fortschrittlich eingestellt. Die Medizin — für die Leibniiz zeitlebens eine werkwürdige Vorliebe an den Tag legt — und die organischen Naturwissenschaften fanden dort besondere Pflege. Die Universität beherbergte ein „Anatomisches Theater", damals eine Seltenheit, und legte den ersten Botanischen Garten in Deutschland an. Ein bedeutender Mediziner war ihr derzeitiger Rektor. So schien doppelt unverständlich, daß Leibniz die Möglichkeit, dort zu wirken, in den Wind schlug. Das zweifelhafte Amt eines Sekretärs der Rosenkreuzer vermochte doch keinen Ersatz dafür zu bieten, zumal sich Leibniz um die Mitte des Jahres 1667 finanziell nicht in Tosiger Lage befunden zu haben scheint. Im Juli 1667 hat er in Nürnberg noch zwei Schuldscheine ausgestellt; ein 3

H u b e r , Leibniz

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2. Mainz 1 6 6 7 — 1 6 7 2

dritter vom 26. November datiert schon von Frankfurt, wohin er sich in der Zwischenzeit begeben haben muß. Wenn Leibniz in einem Briefe von 1669 an den Prediger von St. Lorenz, Daniel Wülfer, erzählt, er sei im Winter 1667 zufällig auf der Durchreise nach Mainz an den Hof des großen Kurfürsten Johann Philipp von Schönborn gekommen, habe dort „in aula" gelegentlich seine juristischen Reformpläne geäußert und sofort den Zutritt zum Kurfürsten gefunden, so wird seine Übersiedlung gerade nach Frankfurt dadurch um nichts verständlicher. Aus einem anderen, späten Brief (an Bierling 1712) wissen wir nur, daß Leibniz im Winter in Frankfurt, meist am Wirtstisch, eine ziemlich umfangreiche Reformschrift „Nova Methodus docendae discendaeque jurisprudentiae" in Eile verfaßt und dem Kurfürsten gewidmet hat, um sich bei ihm wissenschaftlich näher auszuweisen. Die Schrift erschien in Frankfurt, noch unter dem Druckjahr 1667. Die Überlieferung hat diese Übersiedlung mit einer für Leibniz schicksalhaften Begegnung in Zusammenhang gebracht, der Begegnung mit dem einst allmächtigen, doch seit 1664 gestürzten ersten kurmainzischen Minister Freiherrn von B o i n e b u r g . Er war eine der markantesten, freilich neben dem Kurfürsten selbst auch umstrittensten Gestalten der deutschen Politik nach dem Westfälischen Frieden. Unter seinen Auspizien sollte der junge Leibniz aus der Enge der Gelehrtenstube auf die Bühne des großen Welttheaters verpflanzt werden. Das Verhältnis zu diesem merkwürdigen Menschen bietet den Schlüssel für die Erklärung der eigenartigen und stürmischen Entwicklung, die Leibnizcns Schaffen in diesen Jahren genommen hat. Ohne Frage war Boineburg ein Kopf von universaler Bildung und seltenen Talenten, Diplomat, Literat und religiöser Schwärmer in einer Person, in deren ehrgeizigen Händen sich bis zum politischen Sturz die Fäden nicht nur der kurmainzischen, sondern einer fortschrittlich gerichteten Rcichspolitik geknüpft hatten. Mit nicht wenigen hochgestellten Persönlichkeiten des damaligen Deutschland, so dem Land-

Boineburg

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grafen Ludwig Ernst von Hessen, dem Herzog Johann Friedrich von Braunschweig, war er zum katholischen Glauben zurückgetreten und blieb fortan die Seele einer auf den konfessionellen Frieden im Reiche hinarbeitenden, stark Teligiös gerichteten Partei, der auch einflußreiche Protestanten angehörten. Der Kurfürst selbst trieb eine ausgesprochene Politik der Toleranz und verstand es, die bedeutendsten Köpfe der Zeit an seinen Hof zu ziehen. Das Bild beider, im Grundcharakter ihrer Politik durchaus einigen Männer, Schönborns und Boineburgs, hat in der geschichtlichen Beurteilung nicht unwesentlich geschwankt. Das Streben der kurmainzischen Politik Schönborns war auf die Erhaltung des nach so vielen Opfern errungenen status quo der westfälischen Friedensabmachungen ¡gerichtet, an deren Zustandekommen der Kurfürst wesentlichen Anteil genommen hatte. Heilung der Kriegswunden im verödeten Vaterland, Stärkung der nationalen Schlagkraft auf militärischem, wirtschaftlichem, kulturellem Gebiet waren die großen Ziele, um die Schönborn wie Boineburg sich mühten. Doch schien beiden das Ziel nicht anders erreichbar als um den Preis der Vermeidung aller kriegerischen Anlässe mit dem westlichen Nachbarn, des guten Einvernehmens mit dem Frankreich Ludwigs XIV., dessen hemmungslose Eroberungspolitik mit jedem Tage fragloser in Erscheinung trat. Unter dem Druck der französischen, auf die Auflösung des Reiches gerichteten Politik war es im Jahre 1664 zum Bruch zwischen den beiden Jugendfreunden gekommen. Boineburg, dessen stärkster Charakterfehler ein maßloser Ehrgeiz war, hatte sich auf dem Reichstag zu Regensburg der kaiserlichen Partei auf eigene Faust genähert, in der Hoffnung, die Würde des Reichsvizekanzleramts zu erlangen. Mehr und mehr stellte sich heraus, daß die beiden eigenwilligen Männer, beides universale Begabungen, trotz gleicher Zielrichtung ihrer Politik einander hemmend im Wege standen. Die Franzosen hatten frühzeitig Wind bekommen und forderten vom Kurfürsten die Beseitigung Boineburgs. Der Kurfürst, dem unvorsichtige Schmähreden seines ersten 3*

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2. Mainz 1 6 6 7 — 1 6 7 2

Ministers zugetragen worden waren, gab in der ersten Erbitterung Bomeburg preis. Seiner Ämter enthoben, seiner gesamten Privatkorrespondenz beraubt und sogar gefangengenommen, wurde er in einen langwierigen Prozeß verwickelt, aus dem ihn erst im Jahre 1667 die Bitten des vaterlandslosen Französlings Egon von Fürstenberg befreiten. Die Franzosen hatten längst bemerkt, daß sie in dem ehrgeizigen Mann einen der fähigsten deutschen Diplomaten kaltgestellt hatten. Boineburg wurde auf freien Fuß gesetzt, doch scharf beobachtet; Ludwig XIV. nahm halboffiziös die Beziehungen zu dem Diplomaten wieder auf; das Vertrauen des Kurfürsten hat Boineburg nicht wieder gefunden. Zu einer Annäherung zwischen den beiden wäre es wohl nie mehr gekommen, hätten nicht, alle hohe Politik durchkreuzend, in dem Neffen des Kurfürsten, dem kurmainzischen Hofmarschall von Schönborn, und einer Tochter Boineburgs sich zwei Herzen gefunden. Die Aussöhnung der Familienhäupter war die Bedingung der Heirat. Sie erfolgte erst im April 1668 in Mainz. In der Zwischenzeit seiner Verbannung vom Hofe lebte Boineburg abwechselnd in Mainz, Frankfurt und Köln, seine alten literarischen und kulturpolitischen Pläne und Liebhabereien und eine umfangreiche Korrespondenz weiter pflegend, die ihn mit allen bedeutenden Persönlichkeiten des damaligen Deutschlands verband. In diese Zeit ruhelosen Wartens auf den Tag der Vergeltung, der alles an ihm begangene Unrecht ans Licht bringen sollte, fällt die erste Begegnung zwischen Boineburg und dem um vieles jüngeren Leibniz. In einem Gasthaus in Nürnberg (oder Frankfurt?) sollen sich die beiden zufällig kennengelernt haben. Nach einer anderen Überlieferung hat ein Verwandter Leibnizens, Justus Leibniz, Sohn des ersten Geistlichen an St. Lorenz, den jungen Gelehrten durch Vermittlung der Rosenkreuzer an den Diplomaten verwiesen. Leibnizens eigene, spärliche Angaben und die Akten Boineburgs geben freilich für eine so frühe Begegnung keinerlei Anhaltspunkte. Doch gleich welches Schicksal die beiden zueinanderführte, beachtlich

Anstellung in Mainz

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bleibt immer die überlegene Menschenkenntnis, mit welcher 4er bei allen Schwächen bedeutende Diplomat in dem jungen Rechtsgelehrten sofort das Genie witterte, das er in seine weitgreifenden Pläne schöpferisch einzuschalten gedachte. Als gänzlich Unbekannter kann Leibniz kaum zu den Mainzer Hofkreisen Fühlung gewonnen haben. Sollte er eine frühere Begegnung mit Boineburg verschwiegen haben und doch durch Vermittlung ¡Boineburgs nach Mainz gekommen sein? Boineburg selbst konnte ja damals als politisch Verfemter nicht offen für ihn eintreten. So bliebe verständlich, daß sich ihm in Mainz bald alle Türen öffneten, er den Hofrat Lasser kennenlernte, der im Auftrag des Kurfürsten schon an einer Neuordnung des Corpus juris arbeitete, und durch ihn zum Kurfürsten Zutritt gewann. Man verstünde, daß er nicht in Mainz, sondern in Frankfurt an der „Nova Methodus" arbeitete, das Boineburg erst im März 1667 verlassen hatte. Auf alle Fälle überrascht die betonte Energie, mit der Boineburg unmittelbar nach seiner Aussöhnung mit dem Kirchenfürsten sich seines „Schützlings" annimmt. Die eben im Druck erschienene „Nova Methodus" sendet er noch vor seiner Rückreise mit einem begeisterten Schreiben seinem Freunde, dem berühmten Juristen Hermann Conring, und weist von Köln aus den jungen Schönborn an, den Dr. Leibniz beim Hofrat Lasser aufzusuchen. Schönborn hat dann am 26. April 1668 beim Kurfürsten die vorläufige Anstellung Leibnizens als Mitarbeiter Lassers an der Neuordnung des Corpus juris mit einem Wochengehalt erwirkt. Schon im Juni 1668 finden wir Lasser und Leibniz, der bei dem Hofrat Wohnung genommen hat, in voller Tätigkeit an dem gemeinsamen Werk. Ein 1668 im Druck erschienener Plan „Ratio Corporis Juris reconcinnandi" stammt im wesentlichen von Lasser, dem auch die engere Arbeit an den Institutionen überlassen bleibt. Leibniz bearbeitet seinerseits vorzüglich das Privatrecht und — für seine philosophische Einstellung bezeichnend! •— die Grundlegung des Ganzen in einer Systematik des Naturrechts. Aus einer Reihe von Eingaben aus Leibnizens Feder an den Kur-

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2. Mainz 1667—1672

fürsten und vor allem an den Kaiser läßt sich ein Bild von Anlage und Wachsen der Arbeit gewinnen, die Leibniz „kartographisch" durchführt unter Verwendung riesiger „schwedischer Landkarten". Der allem Neuen aufgeschlossene Kurfürst scheint an der Arbeit großes Interesse genommen zu haben. Leibniz hatte persönlich zu ihm Zutritt, wobei — wie wir später gelegentlich erfahren — auch ganz andere als juristische Probleme zur Sprache kamen. Schon im Sommer 1670 wurde der Vierundzwanzigjährige zum Rat am kurmainzischen Revisionsgericht ernannt — eine hohe Auszeichnung, wenn man bedenkt, daß das oberste Gericht des Erzkanzlers einer der höchsten Gerichtshöfe des Reiches war. Der Plan einer systematischen Kodifizierung der verwirrten Gesetzgebung im Reiche war nicht neu. Schon 1617 hatte der berühmte A l t h u s i u s (Johann Althaus) in seinen „Dicaiologiae Libri tres" den zäh durchgeführten Versuch unternommen, unabhängig von der juristischen Tradition den gesamten römischen Rechtsstoff auf der Grundlage der Logik des Petrus Ramus zu ordnen. Das platonische Verfahren der Dichotomie (Zweiteilung) der Begriffe, das Althusius verwandte, bot dazu freilich nur eine ganz schematische Handhabe. Mit der seither von F e l d e n , G r o t i u s , W e i g e 1 und P H i e n d o r f erhobenen Forderung nach Anwendung der geometrischen Methode auch in der Jurisprudenz macht Leibniz Ernst, indem er sein Verfahren der kombinatorischen Analysis und Synthesis sinngemäß auf den Gesetzesstoff anwendet. Der leitende Gedanke der monumentalen Arbeit, die zu den immer wieder aufgenommenen und mie zum Abschluß gelangten Lebensplänen Leibnizens gehört, wird am besten aus den Ausführungen der „Nova Methodus" klar. Überraschend neu und weitsichtig entwickelt er dort Methodik und wissenschaftstheoretische Stellung der Rechtswissenschaft. Er geht von der Idee des „perfekten Juristen" aus. Dessen Tätigkeit gliedert' sich in die didaktische der Beherrschung des Rechtsstoffes, die historische der Rechts-

Corpus juris; „Nova Methodus"

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geschichte, die exegetische der Rechtsinterpretation und die polemische der R e ch ts ents cheid ung. Nur die erste und vor allem die letzte Tätigkeit ist spezifisch juristisch; Rechtsgeschichte und Interpretation sind nur Mittel des Rechtsvers tändnisses. Mit innerer Berechtigung überträgt ßo Leibniz eine aus der Theologie bekannte Gliederung auf die Rechtswissenschaft. Beide sind systematische und — was für Leibniz das Wesentliche ist! — auf dem V e r s t e h e n einer Quelle aufgebaute Wissenschaften. Systematische Geisteswissenschaften — würden wir heute sagen; mit genialer Klarheit erfaßt Leibniz vorgreifend das Verstehen als deren methodischen Kern. So kann er eine Rechtsphilologie und Rechtsgrammatik als Hilfsdisziplinen der Jurisprudenz fordern. Die Theologie aber ist für Leibnizens Wissenschaftsidee geradezu ein Teilgebiet der Rechtswissenschaft: Jurisprudenz des Gottesreiches! — womit er einen ursprünglichen Ausgangspunkt der christlichen Theologie und der scholastischen Methode richtig bezeichnet. Im Sinn seiner Methode der Analysis und kombinatorischen Synthesis legt nun Leibniz die Elemente der Rechtswissenschaft frei. Es sind Definitionen (der Rechtsgebilde) und nicht weiter auflösbare Rechtssätze (praecepta). Aus der Disposition dieses ursprünglichen Rechtsstoffes, aus der Kombinatorik der Elemente muß die exakte neue Rechtswissenschaft als streng demonstrable apriorische D i s z i p l i n hervorgehen. Hier setzt die Kritik an der „Justinianischen Methode" als einer veralteten Autoritätenmethode ein. Das Corpus juris ist ein Sammelbecken aus verschiedenen Schichten klassischer römischer Rechtsprechung, deren Sätze einander teilweise aufheben. Dazu tritt in der deutschen Rechtspraxis das großenteils auf ganz anderem, nämlich germanischem Boden gewachsene Gewohnheitsrecht und neues statutarisches Recht. In dieses Durcheinander kann nur eine klare systematische Zurückführung aller wirklichen Rechtesätze — unter Ausscheidung der Interpretationen — auf wenige letzte, allgemeinste Sätze Ordnung bringen.

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Notwendig führt die Ordnung auf zwei letzte Rechtsquellen zurück: Naturrechtssätze und Sätze positiven Rechts. Fein bemerkt Leibniz in einem Bericht an den Reichshofrat Portner in Wien: „Die Elemente des Naturrechts sind die Seele der Jurisprudenz; ihr Körper muß anderswoher kommen. Man kann einen Staat nicht mit Naturrecht regieren, sondern braucht daraus abgeleitete bürgerliche Gesetze. Besser noch ungerechte als unsichere Gesetze!" Von selbst sieht sich Leibniz zu einer vertieften Untersuchung der Grundlagen des Naturrechts gedrängt. Die Arbeit daran ist ihm in Mainz buchstäblich über den Kopf gewachsen. Doch die immer neuen Ansätze, darunter als Teifster der Entwurf „Juris et aequi elementa" von 1671 lassen deutlich >die eigenartige und meist nicht scharf genug gesehene Entwicklung erkennen, die seine Lehre schon in ihrer frühesten Gestalt nimmt. Hier kommt mit Macht die religiös-mystische Grundlage des Leibnizschen Pythagoreismus zum Durchbruch, der den jungen Wissenschaftler zu den Rasenkreuzern geführt hatte und in einer Gesellschaft mystisch erhobener Gottesfreunde hatte heimisch werden lassen. Freilich teilt Leibniz den aristotelischen Kerngedanken, Ethik, Recht und Politik aus e i n e T gemeinsamen Wurzel abzuleiten, mit allen Vertretern der auf Melanchthon zurückgehenden reformatorischen Naturrechtslehre. Freilich bezeichnet er als diese Wurzel zunächst in engem Anschluß an den von ihm bewunderten Hobbes den Nutzen, den öffentlichen als Wurzel des Rechts, den privaten als Wurzel der Politik. Doch alle Ansätze zu einer wirklich a u t o n o m e n Naturrechtslehre durchkreuzt er in schärfstem Gegensatz zu Grotius auf der einen, Hobbes auf der anderen Seite durch seine Bestimmung dessen, was „Nutzen" im tieferen Sinne heißt. Die Kernschwierigkeit, wie man im rechtlichen und sittlichen Verhalten zwar nach dem eigenen Glück streben und dennoch das Wohl des anderen mit verwirklichen könne, löst er durch den johanneisch-christlichen Urbegriff der L i e b e . Die Liebe zum Nächsten aus der Liebe zu Gott ist die geheimnisvolle Kraft, die beides vereint. Die Liebe zum

Naturrecht; „Justitia est Caritas sapientis

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anderen ist eine Lust f ü r m i c h , doch eine Lust, die im W o h l e r g e h e n d e s a n d e r e n g r ü n d e t . Diese recht verstandene, 'durch Vernunft bestimmte und in Grenzen gehaltene Liebe zum Nächsten ist die Gerechtigkeit; sie ist die subjektive Grundlage des Rechts wie der Sittlichkeit. Des Rechts zunächst auf seiner untersten Stufe: des jus strictum — Rechts im engsten Sinne —, des privaten Eigentumsrechts, vor dem alle Menschen gleich sind. Auf dieser Unterstufe vorgesellschaftlicher Rechtsbeziehung allein könnte man allenfalls bei Leibniz von autonomem „Naturrecht" sprechen. Die höheren Stufen des „aequum", des Rechts der Billigkeit, die jedem zuteilt, was ihm gebührt, und gar der „pietas", der pflichtmäßigen Gesinnung, sind hingegen für Leibniz ohne die Theokratie des Gottesstaates auf Erden und ohne die Idee der Gottesliebe nicht zu denken. In einer Stufenordnung steigt so Leibniz vom Recht im engsten Sinn zur Sittlichkeit auf. Die verbindende, „kontinuierliche" Stufung, nicht die starre Grenzziehung ist für seinen Denkstil schon in der Sphäre des Naturrechts charakteristisch, durchaus gegensätzlich zu Kant, der in Legalität und Moralität unübersteigbare begriffliche Schranken zwischen Recht und Sittlichkeit zieht. Schranken, die bezeichnend genug Hegel in einem Rückgang zu Leibniz wieder in Stufen der Entwicklung des Logos wandelt! „Justitia est Caritas sapientis" — „Gerechtigkeit ist die Liebe des Weisen" — an dieser Formel der Jugend hat Leibniz, wie so oft an seinen Definitionen, starr bis ins Greisenalter festgehalten, ohne sie wesentlich weiterzuentwickeln. Und so bleiben auch die mannigfachen Ansätze zu einer Ethik der richtig verstandenen Gottesliebe, in Mainz, Paris und noch in Hannover logisch in die Definitionenkette gebannt, aus der er jene Formel entwickelt. Man muß im Auge behalten, daß diese fast mystische Ausgestaltung der Naturrcchtslehre zu einer Ethik der ganz undogmatisch gefaßten christlichen Liebe gleichsam unter den Augen Boineburgs erfolgt ist, im Verkehr mit dem älteren, einem mystischen Christentum geneigten Gönner,

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in einem Kreise religiös gestimmter Freunde wie des tapferen Spener und der beiden Domherrn van der Walenburg, der die Verbrüderung der Konfessionen in einem reiner erlebten echten Christentum äls seine höchste Kulturaufgabe zur Befriedung Deutschlands sah. Auch die theologische Arbeit des jungen Leibniz in den Mainzer Jahren steht ganz im Dienst des Ausgleichs und der Verständigung der Konfessionen auf höherer geistiger Warte. Wer die unsäglich niedere Pamphletenpolemik liest, zu der in der Zeit nach dem großen Religionskrieg der theologische Betrieb an deutschen Universitäten herabgesunken war, kann erst die Bedeutung ermessen, die dem Boineburgschen Kreis für den Wiederaufstieg des deutschen Geisteslebens aus den Niederungen des zersetzendsten Konfessionshasses zukommt. Für die Männer dieses Kreises — Protestanten wie Katholiken — gab es nur einen gefährlichen, leidenschaftlich bekämpften Gegner: den vom Westen heraufdämmernden Atheismus englisch-französischer Prägung. Wohl mögen Boineburg, der Landgraf von Hessen und so mancher aus der katholischen Partei im stillen, auf die „Bekehrung" des genialen jungen Wissenschaftlers gehofft haben — die eigene klare Einsicht und das kräftige Gegengewicht des frommen Spener ließen es nicht so weit kommen. Doch mit Leidenschaft hat Leibniz seinen Scharfsinn auch der Untersuchung der dogmatischen Fragen gewidmet, die den Kern der Gegensätzlichkeiten ausmachten; So allein sind die geistvollen Analysen der christlichen Hauptdogmen zu verstehen, in denen Leibniz nicht etwa dieselben beweisen wollte — niemand hat stärker betont, daß ein „Beweis" eines Dogmas eine contradictio in adjecto sei —, sondern den Dogmenkern einem rationalen Verstehen näherzurücken suchte. Widervernünftig durften die Dogmen nicht sein, wenn sie vernünftig geglaubt werden sollten. Das heißt: ihre logische M ö g l i c h k e i t mußte erwiesen werden. So hat Leibniz sich etwa den Weg zum Verständnis der Transsubstantiationslekre in der von Luther vertretenen Form durch einen geistreichen Gedankengang

Theologie

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zu bahnen gesucht, der aus philosophischen Gründen die bloße Phänomenalität der Körperwelt zu erweisen, unternahm. Hier, n i c h t etwa in der Physik Leibnizens tritt die Vermutung, daß auch deT Kern des Körperlichen etwas Geistiges sei, erstmals auf (1669). Die dogmatischen Studien zur Abendmahlslehre bringen Leibniz im Sommer 1671 erstmals mit dem größten französischen Theologen der Zeit, dem Jansenisten und Descartesschüler Antoine A r n a u 1 d , in Verbindung, gerade in dem Augenblick, wo er den Plan einer diplomatischen Reise nach Paris faßt. Ebenso verfolgt seine Verteidigung des Trinitätsdogmas gegen den polnischen Sozinianer Wissowat den politischen Zweck, das katholische Polen für den von Boineburg vertretenen deutschen Kronprätendenten zu gewinnen. Der Plan eineT „Demonstratio Catholica", einer auf philosophischen Gottes- und Unsterblichkeitsbeweisen sich aufbauenden Darstellung der katholischen Glaubenslehre, dient den irenischen Bestrebungen des Boineburgkreises; fälschlich hat man darunter ein heimliches Bekenntnis Leibnizens zum Katholizismus vermutet. Und so fesselt Leibniz das schwierige Problem einer obersten richterlichen Entscheidungsinstanz in allen geistlichen und weltlichen, juristischen und theologischen Fragen. Durch das kühne Buch des Spinozafreundes M e y e r in Amsterdam „Philosophia Scripturae interpres" von 1666 war die Philosophie zur alleinigen Richterin in allen Fragen der Schrift bestellt worden. Die einzig mögliche rationale, gerechte Lösung dieses Problems sieht Leibniz in der logischen Ausgestaltung des W a h r s c h e i n l i c h k e i t s b e w e i s e s , einer mathematisch exakten „Wägung" des Gewichts von Gründen und Gegengründen für eine Wirklichkeitsannahme. Denn in allen religiösen und juristischen Entscheidungen über Sachverhalte steht die Wirklichkeit in Frage. Wieder werden grundlegende Einzelfragen der Jurisprüdenz und Theologie bei Leibniz Ausgangspunkte zu allgemeinsten logischen Problemstellungen. Der jugendliche Theologe der Mainzer Jahre ist im Herzen noch ganz Rationalist. Sonst könnte er eben nicht die Dog-

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menfrage wie eine juristische Erhebungsfrage ansehen, einen Glaubenssatz mit — einer Wahrscheinlichkeitsannahme verwechseln. Nicht die Theologie, sondern lediglich die Logik der Wahrscheinlichkeiten hat dadurch gewonnen. Sie bildet fortan in Leibnizens Systematik einen wichtigen, seiner Meinung nach vernachlässigten Bastandteil jeder an den Einzelwissenschaften sich orientierenden Logik. Doch schon melden sich die aller Rationalität spottenden Fragen und Widersprüche in jedem: Vorsehungsglauben und damit das spätere Problem der Theodizee mit Wucht. In einer schon allein sprachlich wunderschönen, an Luthers kernhaftem Deutsch geschulten kleinen Skizze „Von der Allmacht und Allwissenheit Gottes" legt er, von einer scharfen Kritik aller christlichen Prädestiuationslehren ausgehend, die rein philosophische, jedem Dogmatismus entzogene Fragestellung bloß. Weiter, zu einer Lösung ist er nicht gelangt. Doch wenn wir weiterhin etwa in einer Analyse des Auferstehungsdogmas bewiesen finden, daß der „Kern", der „Feinleib" aller Organismen und Minerale, und so auch des Menschen von seiner Werdung durch Gott an ewig unzerstörbar sei, so staunen wir, wie Vorstellungen der Alchimie über den Weg theologischer Spekulation mitten ins Zentrum der späteren Monadenlehre weisen. So eigenartig, so kaum entwirrbar sind in diesen Mainzer Jahren mystische und rationale, theoretische und politisch-praktische Denkmotive durcheinandergelagert, die keimhaft nicht nur das philosophische System, sondern die ganze ins Ungemessene sich weitende juristisch- und theologisch-praktische Kulturarbeit des Denkers in sich vorwegnehmen. Ein Geist von der universalen Veranlagung Leibnizens mußte in der universalen Atmosphäre des Boineburgschen Kreises und der Mainzer Residenz Johann Schönborns sein Lebenselement finden. So ist die Arbeit an der Neuordnung des Corpus juris mit ihren naturrechtlichen und theologischen Konsequenzen nur der geringere, sozusagen offizielle Teil der fieberhaften Tätigkeit, die Leibniz in der Zusammenarbeit mit Boineburg entfaltet. Ein Band seltener persön-

Theologie; Politik: polnische Thronfolge

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lieber Freundschaft verknüpft ihn bald mit dem unglücklichen Staatsmann, der er alle Opfer bringt. Er ordnet die große Bücherei Boineburgs und verfaßt dafür minutiös ausgedachte Sachrepertorien. Und Boineburg verwendet den jungen Freund unbedenklich als persönlichen Sekretär. Audi der Politiker Leibniz kann im Rahmen dieser Blätter nur nach der charakterologischen Seite hin gezeichnet werden. Schon die politische Schriftstellerei der Mainzer Jahre spiegelt all die fast unlösbaren Schwierigkeiten, in die deutsche Kleinstaatsgebilde, wie Kurmainz, und mit ihnen das „Reich" sich durch den Kampf der Großmächte, zuvörderst Habsburgs und des Frankreichs Ludwigs XIV., hineingestellt sahen. Dazu tritt im besonderen der Kampf der Meinungen zwischen Boineburg und Schönborn um die aussichtsreichste Fortführung der kurmainzischen Politik. Kleinere staatsrechtliche Erörterungen als Unterlagen für die Verhandlungen und Korrespondenzen Boineburgsi bilden den Anfang, so die fein durchdachte Interpretation des strittigen Burgundparagraphen des Westfälischen Friedens in deutschem Sinne, die sogar in Wien Aufsehen erregte. Umfassendere Aufgaben folgten, Zu Anfang des Jahres 1669 hatte ¿ich Boineburg, dem die Politik notwendige Lebensluft geworden war, nach vierjähriger Pause wieder ins politische Leben einzuschalten versucht — nicht in sehr glücklicher Form. Trotz der Warnungen Schönborns hatte er in dem erbitterten Papierstreit der europäischen Kabinette um die Nachfolge des zurückgetretenen Polenkönigs Johann Kasimir seine KaTte auf den von Bayern (und Brandenburg) präsentierten Pfalzgrafen von Neuburg gesetzt — sehr zum üblen Vermerk der französischen Diplomatie, die mit Sperrung seiner aus früherer Hilfe fälligen Jahrespensionen drohte. Als Vertreter des Pfalzgrafen nahm er an der Wahlhandlung in Warschau teil. Leibniz hatte die politische Werbeschrift auszuarbeiten. Einen Winter lang sitzt er „Tag und Nacht" über der Aufgabe. Das Ergebnis, die „Ansichten eines litauischen Edelmannes zur polnischen Königswahl" (Specimen demonstra-

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tiomim politioarum pro eligendo rege Polonorum) ist eine strenge Demonstration nach geometrischer Methode, daß der Pfalzgraf von Neuburg als einziger unter den Bewerbern vernunftgemäß für die Krone Polens in Betracht komme. Doch der Druck der in Wilna, in Wirklichkeit in Königsberg herausgekommenen Werbeschrift verzögerte sich. Als sie endlich erschien, hatten die Polen in einer stürmischen Wahlsitzung am 26. Mai 1669 allen Kabinettsprätendenten den Laufpaß gegeben und einen Piasten aus ihrer Mitte gewählt. Leibnizens Schrift hat, wenn sie auch ihren politischen Zweck verfehlte, als erste Anwendung der geometrisch demonstrativen Methode auf Probleme der Politik lebhafte Beachtung gefunden. Sie lehrt freilich drastisch, daß geometrische Beweise in politicis nicht verfangen! Umso eindrucksvoller wirkt die erschütternd aktuelle Zeichnung des russischen Kolosses als dauernden Gefahrenherdes für die deutsche Kultur, die zur Einbeziehung des polnischen Raumes in die deutsche Politik zwingt — so damals wie heute. Sie veTrät einen ungewöhnlich sicheren Blick für die wahren politischen Realitäten. Solche Töne einer spezifisch deutschen und groß gesehenen Reichspolitik schlägt Leibniz mit noch viel stärkerem Akzent in einer zweiten großen Denkschrift an, deren Sprache zu ihren tieferen Entstehungsmotiven in der Politik Boineburgs seltsam kontrastiert. Das ,,Bedencken, welcher Gestalt Senilitas publica interna et externa im Reich auf festen Fuß zu stellen" hat Leibniz anfangs August 1670 nach Weisungen Boineburgs in seinem ersten Teil in Bad Schwalbach innerhalb drei Tagen zu Papier gebracht. Dort nämlich trafen sich die Kurfürsten von Mainz und Trier und der Herzog von Lothringen, um gemeinsam der 1668 von William Temple ins Leben gerufenen Tripelallianz von England, Holland und Schweden gegen Ludwig XIV. beizutreten. Das bedeutete für den von Warschau ergebnislos zurückgekehrten Boineburg nichts anderes als einen in seinen Augen verhängnisvollen Umschwung in Schönborns bisheriger Frankreichpolitik. Scharf prallen unter dem Eindruck

„Bedencken": Plan eines Reichsbunds gegen Frankreich

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des Friedens von Aachen im Jahre 1668 die Gegensätze aufeinander. An Ludwigs hemmungslosenEroberungsabsIchten auf deutschen Boden 'ist nicht mehr zu zweifeln. Schönborn wirft sich erstmals entschlossen auf die Gegenseite, nähert sich dem Kaiser und sucht ihn zum Eintritt in die Allianz zu bewegen. Boineburg sieht den Einbruch der französischen Heere ins ! Rheinland als französische Antwort voraus. Das „Bedencken" ist eine letzte, verzweifelte Warnung. An Stelle der Tripelallianz will das „Bedencken" einen geschlossenen Reichsbund der größten deutschen Fürsten, einschließlich des Kaisers als Königs von Böhmen, mit eigenem Bundesrat, einer Bundeskasse und einer Bundesarmee von 20 000 Mann, die man Frankreich am Rhein entgegensetzen könnte — gerade das, was Frankreich fraglos am meisten fürchtete. Es sieht in dem Bunde, dem nach und nach auch die „Triplischen", die Städte, die geistlichen und weltlichen Stände beitreten sollten, das einzig mögliche Instrument zur politischen und kulturellen Wiederherstellung der Reichseinbeit. Gegen ein solches anscheinend innerpolitisches Schutzbündnis konnte Ludwig formell nichts einwenden; — es war das Recht jedes Staates, für seine „securitas" zu sorgen. Die Tripelallianz hingegen war ein „zerbrechlich Rohr", das Ludwigs Heere nur auf Deutschland lenkte. Ob Boineburg im Ernst an die Ausführbarkeit des von seinem Sekretarius mit Scharfsinn und Wärme verfochtenen Bündnisses glaubte? Der zudem ihm und den anderen franzosenfreundlichen Herren allerhand Barsches über die deutsche Französelei zu sagen wußte? Ludwigs überraschender Zugriff auf Lothringen im September schien Boineburg nur zu recht zu geben. Doch Schönborn verhandelte unbeirrt mit dem Kaiser weiter. Im November 1670 legt daher Leibniz nochmals zusammenfassend in einem „zweiten Teil" Ludwigs Politik dar. Diese Politik war auf eine Universalmonarchie, nicht im Sinne des alten Römischen Reichs deutscher Nation, sondern auf die politische Hegemonie in Europa (Leibniz bezeichnet sie als „arbitrium Terum") gerichtet. Packend schildert er die politische und wirtschaftliche Ohn-

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macht des europäischen Kontinents gegenüber Frankreich: „Teutschland hängt, wie oft gemeldet, kaum mit einem seidenen oder strohern Faden zusammen, Italien ist schon zerrissen." Dem steht das Bild des politisch geeinigten, wirtschaftlich und kulturell aufblühenden Frankreich gegenüber. „Daß nun — fährt Leibniz fort — ein König, so eines solchen Landes Meister ist, auch über andere zu herrschen suchet, ist kein Wunder. Dann allezeit nicht allein wer da hat, dem wird gegeben, sondern auch wer da hat, der wird mehr haben wollen.. . Wer alles wüßte, würde der Lust zu erfinden, und wer alles hätte, der Lust zu gewinnen beraubet sein. Daher der Kreaturen, als die endlich, Glückseligkeit ist nicht alles auf einmal haben, s o n d e r n ohne Hindernis allezeit weiter kommen k ö n n e n . . -1" Als ein Streben nach immer ferneren Zielen hatte Hobbes die Glückseligkeit bezeichnet. Wieder sehen wir den jungen Leibniz — wie später Lessing! — in seinen Spuren; er hebt seine fatal richtige Zeichnung des Königs damit in die Höhen einer typischen Aufklärungsidee. Die Allianz —• schließt Leibniz — darf nicht parteiisch, österreichisch oder triplisch sein, da man sonst die antitriplischen Fürsten Frankreich geradezu in die Arme jagen würde. „Da doch unser Interesse erfordert, Frankreich nicht zum Feinde zu haben, sondern vielmehr desto subtiler andere mächtige entlegene Fürsten ihm aufn Hals zu hetzen. Plus enim Galliae amicitia quam inimicitia nocebimus." Durch diesen Schlußgedankcn ist der klare Zusammenhang des „Bedenckens" mit jenem großangelegten Plan erwiesen, der nun — wenn wir recht sehen — Leibnizens eigenem Kopf entsprungen ist und sich nichts anderes zum Ziele setzt als Ludwig XIV. durch eine andere, „entlegene" Macht militärisch und politisch zu binden und dadurch von dem drohenden Zugriff auf deutsches Land abzulenken — dem „Consilium Aegyptiacum". Die Ausführung des phantastisch anmutenden Planes sollte freilich keineswegs in Lud-

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wigs Eroberungspolitik, dafür jedoch um so tiefer in seines Verfassers Lebensschicksale eingreifen. Er war ihm — so erzählt Leibniz Ende 1671 in seinem ersten, an den König selbst gerichteten; Entwurf — schon 1667 bei seinen privaten Studien in Geschichte und Geographie durch eigene Spekulation gekommen. Immer darauf bedacht, das für das Leben Nützlichste und in seinem Gebiete Höchste zuerst zu überlegen, um alles andere daraus abzuleiten, habe er sich klar gemacht, daß es zur Zeit keinen mächtigeren König gebe als den König von Frankreich, keine größere Aufgabe als die Bekämpfung der Ungläubigen, kein reicheres und der Eroberung! werteres Land als — Ägypten. Diese drei „Elemente" — so wollen wir im Sinne seiner universalen Denkmethode fortfahren — „vernünftig" miteinander kombinieren, heißt den ägyptischen Plan entwerfen. Der Kampf wider die bösen Türken wurde freilich „auf allen Kanzeln gepredigt". Seine politische Kombinatorik hingegen zeigt einen politisch gangbaren Weg zum Ziele, entwirft die Mittel und wählt den richtigen Zeitpunkt zur Ausführung des Gedankens. Darin äußert sich das politische Genie. Dieser Zeitpunkt schien Leibniz im August 1671 gekommen. Die bedrohlich wachsenden militärischen Aufrüstungen Ludwigs im Sommer des Jahres ließen dem Klarblickenden keinen Zweifel, daß er im kommenden Frühjahr Holland überfallen werde. Dies mußte unter allen Umständen verhindert werden. Boineburg setzt sich kongenial für den Plan ein. Die erforderliche Literatur beschafft er für Leibniz anfangs September mit vieler Mühe und eilig. Schon im Oktober spricht Leibniz in einem charakterologisch aufschlußreichen Studicnbericht an Herzog Johann Friedrich von Braunschweig-Lüneburg, der uns noch beschäftigen wird, geheimnisvoll von einer kommenden großen Staatsaktion. Doch die Entwürfe reifen langsam und nur unter stetem Drängen Boincburgs; es ist, als könne sich Leibniz über die zweckmäßigste Form der Fassung nicht klar werden. Ein erster, schon genannter Entwurf, unmittelbar an den 4

Huber, Leibniz

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König gerichtet, konzentriert den Gedankengang auf möglichst schlagkräftige realpolitische Argumente — die Gefahren, die Frankreich aus einem holländischen Seekrieg erwachsen würden, dagegen den sicheren Machtzuwachs im Mittelmeer durch die Besetzung Ägyptens, die Niederlegung des ostindischen Handels — , um in kühnem Ideenschwung in der Sicht auf eine Teilung der Welt zwischen den Häusern Habsburg und B ourbon zu gipfeln. Das volle „liberum arbitrium", die politische Vormachtstellung in Europa sei dem König ohne Blutvergießen sicheT. — Doch auch die wenig wirksame Form der geometrischen Demonstration hat! Leibniz, diesmal vielleicht mehr zur eigenen Orientierung, versucht und wieder abgebrochen. Ja sogar ein Staatsroman „Ludovisia" sollte dem König im Bild den Erfolg der Expedition vor Augen stellen. Leibniz skizziert sich die Szene, wie Ludwig der Heilige seinem Enkel, der eben in feierlichem Ministerrat den Krieg gegen das krämerische Holland beschlossen hat, im Traum erscheint und ihn an seine oberste Pflicht erinnert: das Heilige Land den Ungläubigen zu entreißen! Inzwischen hat Boineburg vom König selbst die vertrauliche Nachricht von der bevorstehenden „Züchtigung Hollands" erhalten mit der Auflage, sich in Wien für die Neutralität des Reiches einzusetzen. Leibniz setzt ihm Ende des Jahres in einem Promemoria auseinander, daß nunmehr nur noch eine persönliche Reise beideT nach Paris Aussicht auf Erfolg habe. Boineburg kann sich aus vielen Gründen zur Reise nicht entschließen, nimmt jedoch schon am 10. Januar 1672 mit dem neuernannten Außenminister Arnauld de Pomponne brieflich die Fühlung auf, unter Beilegung eines kleinen Entwurfs, in dem freilich der Name „Ägypten" ängstlich vermieden ist. Das Geheimnis sollte erst mündlich in Paris dem König oder wenigstens Pomponne preisgegeben werden. Auch den Kurfürsten unterrichtet er vorerst nicht. In einem den Entwurf begleitenden persönlichen Schreiben an den König bittet er um gnädige Aufnahme des Autors

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des Planes, der sich, wenn gewünscht, dem König zur Verfügung stellen werde. Es spricht für das hohe Ansehen Boineburgs beim König, daß er sich dem Plan nicljt abgeneigt zeigte. Eine sehr entgegenkommende Antwort Pomponnes lief unterm 12. Februar in Mainz ein. Inzwischen hatten sich die Aussichten für das Unternehmen bedenklich verschlechtert; ein Offensivbündnis Englands mit Frankreich stand zu erwarten, so daß der Beginn der Feindseligkeiten unvermeidlich schien. Nochmals dringt Leibniz in Boineburg, die Reise unter allen Umständen mitzumachen. Erst in diesen Tagen hat er unter Benutzung der älteren und neuer Entwürfe und seiner umfangreichen literarischen Exzerpte in höchster Eile die große Denkschrift verfaßt, die unter den Namen „Justa Dissertatio" bekannt geworden ist und nicht weniger als 49 Folioseiten umfaßt. Vollständig liegt sie nur in seinem Konzept vor, da er wohl bis zur letzten Stunde vor der am 19. März erfolgten Abreise an dem Werk arbeitete. Der tragische Ausgang dieser merkwürdigsten politischen Mission des Denkers gehört dem folgenden Kapitel an. Hier darf die Frage nach der Berechtigung, dem politischen Wert des Unternehmens nicht ungestellt bleiben. Die Denkschrift sucht mit staunenswerter Sachkenntnis im einzelnen, selbst auf militärischem Gebiet, die Möglichkeit und politische Fruchtbarkeit der Expedition darzulegen. Daß der Plan ganz aus den Perspektiven der kurmainzischen Politik — in diesem Punkte deckten sich ja die Ansichten Schönborns und Boineburgs! — und der Lage von 1671 heraus als ein letzter Versuch zur Ablenkung der französischen Rüstungen auf die Levante zu beurteilen ist, liegt auf der Hand. Doch auch vom französischen Gesichtspunkt aus war er an sich alles andere als phantastisch. Die Vorteile eines entscheidenden Doppelschlages im Mittelmeer sowohl gegen die Türken als gegen Hollands ostindischen Handel waren nicht von der Hand zu weisen. Auch die Handelspolitik des großen Ministers! Colbert in der Levante drängte nach dieser Richtung. Hellsichtig empfiehlt Leibniz dem König das „uneinnehm4*

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bare Malta" als Flottenstützpunkt und rät — wenn auch nur in einem der Entwürfe — zum Bau eines Kanals vom Roten Meer zum Nil (einer Art „Suezkanal"), der den Ostindienhandel vollends lahm legen würde. Nach allen diesen Seiten ist Leibnizens Vorschlag staatsmännisch real gesehen. Und endlich gehörte ein Napoleonisches Genie dazu, gerade in dem reichen, doch ganz ungenügend geschützten Ägypten die Achillesferse der türkischen Levantemacht zu entdecken. Doch haben sich auf der anderen Seite — was R i t t e r 2 richtig bemerkt — Boineburg und Leibniz über die unmittelbare und rasche Durchführbarkeit des Planes nicht getäuscht? War Ludwig durch den Einbruch in die spanischen Niederlande und die riesigen Vorbereitungen zum Angriff auf Holland nicht schon das „Gesetz des Handelns" weitgehend vorgeschrieben, so daß es ohne bedenkliche Schwächung seiner Stellung kein Zurück mehr gab? Und endlich: War ein immerhin genügend starkes Osmanenreich nicht umgekehrt der größte Aktivposten in dem Kampf Ludwigs gegen Habsburg? Hier, auf der ideenpolitischen Seite kreuzt sich Leibnizsches Denken hoffnungslos mit der größerer Kulturideen baren Machtpolitik des Roi Soleil. Für Leibniz bildet der Schlag auf Ägypten ein entscheidendes Glied im Kampf gegen die Ungläubigen; Frankreich stellt sich damit, wie einst unter Ludwig dem Heiligen, an die Spitze dieses Kampfes, erwirbt sich ewigen Dank der Christenheit. Die alte „res publica Christiana" ist dadurch gesichert, ruhend nicht mehr auf Kaisertum deutscher Nation und Kirche, sondern auf der Machtstellung der miteinander ausgesöhnten Häuser Habsburg und Bourbon. Das Zukunftsbild eines ewigen Friedens, ja vielleicht einer Wiedervereinigung der christlichen Kirchen, eines unerhörten Kulturaufstieges im Namen der Vernunft taucht am Schluß der Denkschrift auf. Es erinnert augenfällig an Bacons merkwürdigen Dialog ,,De bello sacro", dessen Szenerie auch dei Engländer schon nach Paris verlegt. Wie bei Bacon verbindet sich mit dem Glauben an die alte Macht des christlichen Gedankens der Glaube an die Kulturmission der

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modernen autonomenl Wissenschaft. Schon vernehmen wir die ersten Töne einer weltumspannenden christlichen Mission, die zugleich Kulturmission ist, unter Frankreichs, unter Ludwigs Führung. Die Menschheit wird sich die Natur durch die Maschine unterwerfen, zu einer neuen Medizin, zu einem neuen Recht, einer neuen Theologie im Zeichen der alle einenden Gottesliebe vordringen —• „Ludwig" wird ihr Name sein! Was hätte der König zu solchen Argumenten gesagt, w e n n er sie je zu lesen bekommen hätte? Der Ehrgeizige hätte sie als „points d'honneur" durchaus gelten lassen, w e n n ihm die militärische Besetzung Ägyptens genügend reale politische Vorteile bot, die ihm die keineswegs gefahrlose und ohne weiteres aussichtsreiche direkte Niederwerfung Hollands voll aufwogen. Als solchen realpolitischen Machtplan eines modernen Machtstaates, der nur seinen eigenen Lebensgesetzen gehorcht, hatte Leibniz dem König den ägyptischen Feldzug empfohlen; der Aufweis der Ziele einer christlich-europäischen Ideenpolitik sollte sein stärkstes Argument bilden. Lag darin nicht ein tiefer Widerspruch? Und konnte der warmherzige deutsche Patriot, als der sich uns der junge Politiker in Mainz darstellt, im Ernst die europäische Vormachtstellung Frankreichs wollen, die sich doch aus seinem Plane notwendig ergab? Der Ägyptische Plan des jungen Leibniz ist uns Wegweiser f ü r das Verständnis seiner weiteren politischen Tätigkeit. Schon in ihm zeigt sich jenes eigenartige Schwanken zwischen Altem und Neuem, Tradition und Fortschrittsideal, das Leibnizens ganzes politisches Schaffen durchziehen sollte. Hier heißt es „christliche Staatsidec und moderner nationaler Machtstaat", später „Römisches Reich deutscher Nation und einzeldcutscher Souveränstaat", „Organisation der Kirchen zum einheitlichen Gottesstaat und reformatorische Glaubensfreiheit" — immer steht das Alte und das Neue ungeschieden nebeneinander und kommt nicht zum letzten Ausgleich. Und immer bleibt in einer anderen Schicht eine Spannung zwischen Idee und Wirklichkeit, die nichts

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mit mangelndem Gefühl für die politischen Realitäten zu tun hat. Sie hat tieferliegende Gründe, die es aufzudecken gilt. — Anscheinend in eine andere Weit führt ein weiterer, nunmehr wissenschaftspolitischer Plan, der für Leibnizens Leben nicht minder richtunggebend werden sollte. Er gewinnt zu Anfang des Jahres 1668 nähere Gestalt, im Blick auf die reich sich entfaltende wissenschaftliche Tätigkeit in Frankreich und England. England hat seine „Royal Society" seit 1660, Frankreich durch Richelieus Stiftung von 1664 seine Akademie als geistige Mittelpunkte eines neuen, durch Bacons Forderungen befruchteten wissenschaftlichen Lebens. Der überalterte deutsche Universitätsbetrieb hat dem nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen. Ja, es mangelt schon am Notwendigsten, an einer geordneten Übersicht über die wissenschaftliche Produktion in Deutschland. Ein Auszug aller wichtigen Neuerscheinungen, ähnlich den berühmten Auszügen des Patriarchen Photius aus den Schätzen der später zerstörten byzantinischen Bibliothek, schwebt Leibniz als Ideallösung vor; die kurzen laufenden Berichte des Pariser „Journal des Scavans" sind ungenügend und erscheinen ohnehin in Deutschland zu spät. Und was sollen wir uns von der französischen Berichterstattung abhängig machen, wo doch die Frankfurter und Leipziger Büchermessen mit ihren jährlich in die Hunderte gehenden Neuerscheinungen das Herz des europäischen Buchhandels darstellen? Der junge Universalwissenschaftler will also die Arbeit auf sich nehmen, einen kurzen Auszug aller wichtigeren Neuerscheinungen, „Semestria literaria", jeweils zur Frankfurter Herbst- und Ostermesse in Druck zu geben. In einer von Boineburg geförderten Eingabe an den Kaiser vom September 1668 entwickelt Leibniz in eindrucksvoller Darstellung den Plan und sucht zum Schutz seiner Arbeit vor Nachahmung um ein kaiserliches Privileg nach. Die Eingabe bleibt zunächst unbeantwortet liegen. Inzwischen hört Leibniz, daß sich in Deutschland eine „Gelehrte Gesellschaft" bilden wolle. „Wenn nicht genügend

Bücherindex

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Geld und Geist zur Verfügung steht — schreibt er im September des Jahres an Thomasius — lasse man es lieber bleiben, bevor man sich vor dem Ausland eine Blöße g i b t " Er hat die Kopie eines Briefes in Händen, den deT deutschbürtige Sekretär der Royal Society, der ehemalige bremische Gesandte in London, Heinrich O l d e n b o u r g , an einen Freund in der Heimat gerichtet hat. Darin berichtet Oldenbourg über die laufenden wissenschaftlichen Arbeiten der Gesellschaft: Wilkins veröffentlicht eine „Polygraphia universalis", der Schotte Gregory hat die Quadratur des Zirkels, Dounker diejenige der Hyperbel „gelöst", dazu anatomische Arbeiten von Lower, Willis u. a. — welch ein wissenschaftliches Leben! Wenn es so weitergeht, haben wir bald ein „Philosophia reformata" zum Nutzen des Menschengeschlechts! „Und doch — fügt Leibniz etwas kleinlaut hinzu — tut dies alles den Lehren des Aristoteles keinen Eintrag!" Die Frage, wie Leibniz sich bemüht, mit dieser reformierten Philosophie den alten Aristoteles in Einklang; zu bringen, wird uns noch später begegnen. Man spürt, wie im Feuergeist des jungen Philosophen die beiden Mächte, aristotelische Philosophie und moderne Wissenschaft, aufeinanderprallen und gebieterisch] einen Ausgleich verlangen. In gleichem Sinne schreibt Boineburg zur Unterstützung der Eingabe im November 1669 an den Vizekanzler: „Wie aufgerüttelt sind jetzt die Geister in England, wie weitschichtig ist das literarische Leben in Frankreich! Und wir kennen unsere reich zerstreuten Kräfte n i c h t . . . Sollen wir warten, bis Dänen, Schweden und der ganze Norden vor uns aufwachen?" Der kaiserliche Hof hatte es trotzdem nicht eilig. Ein Zwischenfall gab Leibnizens Plänen eine noch bestimmtere Wendung. Die beiden kaiserlichen Bücherkommissare in Wien, der protestantische und der katholische, lagen einander prozessierend in den Haaren, nicht zur Hebung des kaiserlichen Ansehens. Jetzt schien die Gelegenheit günstig, den Plan des Bücherindex mit einer Neuordnung

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des Zenisurwesens zu verbinden und die Zensurstelle an das Mainzer Erzkanzleramt zu ziehen. Ja noch mehr! Hier war dio Stelle, eine „Deutsche Akademie" oder Gelehrtensozietät unter dem Vorsitz des Kurfürsten von Mainz als Erzkanzler ins Leben zu rufen. Einen diesbezüglichen kühnen Entwurf „De vera ratione reformandi rem literariam Meditationes" reichte Leibniz im Januar 1670 dem Dompropst und Statthalter von Mainz Johann von Saal schriftlich ein. Er ist die Keimzelle aller späteren Akademiegründungen und Akademieplanungen des reifen Meisters geworden. Die Akademie Leibnizens ist alles andere als eine bloße Gelehrte Gesellschaft. In ihr lebt Baconscher Organisationsgeist, sie repräsentiert eine neue Form wissenschaftlichen Lebens, die Leibniz nur zum Teil in den Akademien von Paris und London schon verwirklicht sieht. So ist vor allem die Forderung der religiösen Nichteinmischung, des numerus clausus der Mitglieder, die Gehälter erhalten, den beiden ausländischen Gesellschaften nachgebildet. Die neue Akademie steht ganz im Zeichen der Toleranzbewegung. Und endlich: Der Nutzen fürs Leben, für das Reich ist oberstes Ziel aller ihrer Arbeit. So steht unter den wissenschaftlichen Aufgaben die Förderung der Medizin an erster Stelle — ein echt Leibnizischer, bei der Gründung der Berliner Akademie prompt wiederkehrender Gedanke; erst in zweiter Linie folgen die mathematisch-naturwissenschaftlichen Experimente und deren Austausch. Die Finanzierung des großen Unternehmens löst der junge Leibniz durch einen ganz modern zu nennenden genialen Vorschlag. Eine1 allgemeine Reichspapiersteuer — nach dem Muster Hollands und der Pfalz — hat das Unternehmen zu tragen. Sie trifft den Bauern und Handwerker nicht, nur die höheren Stände, und zügelt die in Deutschland eingerissene verderbliche Schreibwut. Papierarten und Papiermengen werden vorgeschrieben, Schreibpapier kann nur einseitig beschrieben werden, Papierzeichen schützen vor Fälschung, die Verwendung unerlaubten, die Einführung aus-

Akademiepläne

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ländischen Papiers wird streng bestraft; nur Rohmaterialien dürfen eingeführt werden. Unter Zugrundelegung eines täglichen Reichspapierverbrauchs im Wert von lOOOOO Batzen errechnet sich Leibniz ein Einkommen von 1 4 5 0 000 Königsthalern, das zur Hälfte den einzelnen Reichsländern, zur Hälfte der Gesellschaft zufällt. — Eigenartig genug treten neben diesen Akademievorschlag noch drei andere Entwürfe zu wissenschaftlichen Sozietäten, die allem Anschein nach ebenfalls den Mainzer Jahren angehören. Doch tragen sie ein wesentlich anderes Gepräge. Der am frühesten, wohl schon 1669, und lateinisch abgefaßte mit der Überschrift „Societas Philadelphia"* ist der merkwürdigste. Er atmet international europäischen Geist: Eine Gesellschaft edler Menschen lebt, nur dem Studium und praktischen Kulturaufgaben sich widmend, in einer Art säkularisierter Ordensgemeinschaft, für die dem jungen Denker die Organisation der Gesellschaft Jesu als Vorbild vorschwebt. Ihr Sitz ist am besten in dem freien Holland; die reichc holländische Kaufmannschaft finanziert sie, doch so, daß sie sich ans eigener praktischer Arbeit weitererhält. Der Kaiser, der Papst und der französische König garantieren gemeinsam ihre Unabhängigkeit. Das Gegenstück zu diesem Plan bildet der „Grundriß eines Bedenkens von Aufrichtung einer Teutschen Gesellschaft zur Aufnehmung von Künsten und Wissenschaften", vermutlich von 1671. Dieser „Grundriß" und das mehr historisch ausgeführte „Bedenken" selbst bezwecken eine ausgesprochen national deutsche Sozietät. Im Sturmtempo sich jagender Gedanken notiert sich Leibniz auf einem zugehörigen Konzeptblatt die mannigfachen Aufgaben der Gesellschaft. Sie umfassen ein ganzes Kulturprogramm, das mit dem Schlendrian des humanistisch-scholastischen Universitätsbetriebs aufräumt und statt dessen vor allem das Studium der Realien betont. Mathematik, Mechanik, Physik bilden die Voraussetzung für die praktische Lösung staatspolitischer, sozialer, volkswirtschaftlicher Aufgaben, die ganz im Geiste der merkantilistischen Wirtschaftsauffassung

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konzipiert sind: Hebung des Handwerks, Steigerung der Bodenschätze, Drosselung der Einfuhr, Verarbeitung der aus dem Ausland eingeführten Rohstoffe zu hochwertigen Erzeugnissen sind die wichtigsten praktischen Ziele. Im einzelnen sind die neuen Forderungen vielfach Zeitgut und angelesen. Der geniale Becher, Helmont, Labadie und andere werden in den Entwürfen genannt. Beachtlich bleibt doch, mit welchem Ernst und selbständigem Nachdenken sich der junge Leibniz in die Probleme der zeitgenössischen Staatsund Volkswirtschaft vertieft. Ganz prachtvoll zeichnet er in den historischen Ausführungen des „Bedenkens", wie Deutschland so recht das Ausgangsland der großen Kulturleistungen gewesen sei, in denen heute das Ausland floriert. Deutsche haben die großen- Erfindungen der Neuzeit geschaffen, Normannen haben die Schiffahrt und Deutsche haben die Hanse, deutscher'städtischer Gewerbefleiß hat die wichtigsten Manufakturen in die Höhe gebracht. Das Ausland zehrt heute von deutscher Schaffenskraft, die ein unglückseliger Krieg ins Mark getroffen — aber nicht vernichtet hat. Nicht nur zeichnen diese Entwürfe im Umriß den werdenden großen Kulturpolitiker; sie lassen wie der Ägyptische Plan die Spannung deutlich werden, die sein ganzes politisches Schaffen durchzieht: die Spannung zwischen dem Deutschen und dem Europäer. Den Plan der „Societas Philadelphica" könnten ein Halbjahrhundert später — um 1730 — die ersten englischen „free-masons" verfaßt haben; er ist ein verfrühter Auftakt der philanthropischen Bewegung der Aufklärung. Das „Bedenken" umgekehrt ist der erste große, deutsche nationale! Wirtschaftsentwurf nach dem Dreißigjährigen Krieg. Beiden Entwürfen aber gibt der junge Leibniz eine tiefsinnige religiös-philosophische Grundlegung, die ergreifend die inneren Motive seines Planens, ja seiner kommenden philosophischen Systematik bloßlegt. Die wahre Politik — beginnt die „Societas Philadelphica" — will das für uns Nützlichste. Dies ist aber zugleich das Gott Willkommenste: der Beitrag zur Vervollkommnung des Uni-

Enzyklopädie

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versums, der wiederum nur in der Steigerung unserer Macht und Weisheit besteht. In der Harmonie des Universums liegt der objektive Grund dafür, daß die höchste Steigerung von Weisheit und Macht in der g e m e i n s c h a f t l i c h e n A r b e i t an Erkenntnis der Welt und Wohltun allein erreicht werden kann. In noch mystischeren Tönen entwickelt das „Bedenken" die Wissenschaftsgemeinschaft aus den Grundtugenden von Glaube, Hoffnung und Liebe in einer Gedankenführung, die der Schrift des Jesuiten Spee „Über die drei christlichen Tugenden" entnommen ist. Der Kurfürst Johann Philipp hatte Leibniz die Schrift zur Lektüre empfohlen. Noch nach Jahrzehnten — 1697 — berichtet Leibniz der Kurfürstin Sophie von Hannover, welch tiefen Bindruck diese schlichte Schrift auf ihn gemacht habe. Schlagartig beleuchtet die Notiz, aus welchen Quellen später deutscher Barockmystik auch Leibnizens Ethik der alles umspannenden Gottesliebe gespeist worden ist. Schon taucht aber auch im „Bedenken" das letzte wissenschaftliche Ziel all dieser geplanten Gemeinschaftsarbeit von Akademien und Sozietäten auf: die E n z y k l o p ä d i e des g e s a m t e n t h e o r e t i s c h e n u n d praktis c h e n W i s s e n s . Diese Lieblingsidee des Aufklärungszeitalters sendet ihre Wurzeln tief ins 17. Jahrhundert. Auch Leibniz macht sich zu einem solchen frühen enzyklopädischen Versuch von A l s t e d t (1637) kritische Notizen. Ihm selbst ist schon vorher der Gedanke aus seiner Forderung der Rechtsenzyklopädie und dem Plan der „Semestria, literaria" natürlich herausgewachsen. Die Fortsetzung der letzteren Veröffentlichung durch Jahrzehnte, die Anlage von alphabetischen und sachlichen Registern daraus konnte nach und nach von selbst zur Enzyklopädie führen. Doch fehlte noch das ordnende Grundprinzip. Leibniz sieht es wie Bacon in der systematischen E i n t e i l u n g d e r Wissenschaften. Ein Frühentwurf aus der Mainzer Zeit „Encyclopaedia ex sequentibus autoribus propriisque meditationibus delineanda"

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(Phil. VII, 37 f.) spiegelt in der Voranstellung von Theologie, Jurisprudenz und Geschichte mit ihren verschiedenen Unterabteilungen noch ganz deutlich die geisteswissenschaftliche Grundeinstellung der Mainzer Jahre. Die Einteilung endet mit Volks- und Staatswirtschaft und fügt noch ganz nebenbei ein Enchiridion der Mathematik und eine Delineation der Medizin hinzu. — Von diesem Frühplan, der für jedes Teilgebiet sich eine Unzahl von Autoren vormerkt, zu dem Enzyklopädieentwurf von „Plus ultra" aus den Achtzigerjahren, der in einer Comte vorwegnehmenden Anordnung die Reihe der Wissenschaften von der Grundwissenschaft über Mathematik und Naturwissenschaften zu den Geisteswissenschaften hinaufführt, ist fredlich noch ein gutes Stück Wegs. Der Schwerpunkt dieser ganzen, so vielseitigen Entwicklung der Mainzer Jahre liegt auf geisteswissenschaftlichem und praktischem Gebiet. Die Rechtswissenschaft, Ethik und Theologie, Naturrechtsbestrebungen und praktische Politik — alles vereint sich in dem lebendigen Begriff der Gottesliebe als des letzten Grundes einer geistigen Weltharmonie. Nichts ist verkehrter, als Leibnizens philosophisches System einseitig aus der Logik oder der Naturwissenschaft ableiten zu wollen. Der junge Leibniz hat geisteswissenschaftlich schon ganz reife Leistungen aufzuweisen, bevor er auch nur in die Anfangsgründe der modernen Naturwissenschaft seiner Zeit, der mathematischen Naturwissenschaft der Galilei, Kepler und Descartes eingedrungen ist. Diese eigenartig sprunghafte Entwicklung zum überragenden Naturphilosophen und Naturwissenschaftler nimmt einen viel verschlungeneren Weg als etwa die Entwicklung Descartes', der sich unbeschwert durch irgendwelche Tradition in die mathematische Mechanik der Alten und erst recht eines Galilei vertieft. Der junge Leibniz lebt in der aristotelisch-scholastischen Tradition, die er glcichsam mit der Muttermilch eingesogen hat. So sieht er die „modernen" Denkrichtungen des Atomismus und Mechanismus in all ihren Gestalten zunächst mit

Naturphilosophie: die Atomisten und Aristoteles

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den Augen des um die christliche Heilslehre besorgten protestantischen Aristotelisten. Im Rosenwäldchen bei Leipzig — so erzählt Leibniz später — erging er sich als Fünfzehnjähriger tagelang mit der Frage, ob er die substantiellen Formen des Aristoteles beibehalten oder es mit den Atomen der Neueren halten solle. Er entschied sich für die letzteren. Mag sich Leibniz in der Zeitangabe auch um höchstens ein paar Jahre getäuscht haben, den Spuren Gassendis, Digbys und dann auch Descartes' begegnen wir schon in den Exzerpten aus seiner frühesten Universitätszeit, und deutlicher in der „Ars combinatoria". Spruchreif aber wird die Auseinandersetzung erst im Briefwechsel mit Thomasius seit Anfang 1668. Sie knüpft — wie erwähnt — an Leibnizens begeisterten Ausspruch über die Fortschritte der „Philosophia reformata" an, deren frischer Atem von England herüberweht. Man versteht, wie ihm Bacon geradezu ein Idol, Hobbes der eindrucksvollste Lehrmeister wird, auch wo er sich in ständiger Reibung mit dem konsequenten Naturalisten befindet. Noch hält er in diesem Brief und dem sich anschließenden Briefwechsel mit seinem Lehrer die neuen Theorien mit der aristotelischen Naturauffassung für vereinbar. Freilich um den Preis einer Ardstotelesinterpretation, die er mit den Descartesschülern R a y und vor allem, Sir Kenelm D i g b y teilt, und die man mit Thomasius nur als absolut unhistorisch bezeichnen kann. Wenn man — wie er meint — unter der substantiellen Form des Aristoteles lediglich die Gestalt der letzten Körperelemente, der Atome versteht, ist alles in Ordnung. Er sieht nicht, was ihm Thomasius entgegnet, daß eine solche Auffassung' das teleologische Formprinzip der aristotelischen Natur in die mechanisch erzeugten Gestalten (Schemata) der Atome Demokrits verwandeln möchte. Die substantialen Formen aber haben mit der 'Gestalt von Körperelementen nichts zu tun. Als gemeinsamen Grundgedanken der neueren „Atomisten" bezeichnet Leibniz, daß sie alle Veränderungen in der Natur

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nuT aus der „Natur des Körpers", der Größe, Lage und Bewegung der letzten Körperelemente erklären wollen. In diesem Sinne allein zahlt er so verschieden gerichtete Denker wie Galilei, Descartes, Hobbes auf der einen, die eigentlichen Atomisten Gassemdi, Magnenus und andere auf der anderen Seite stets zusammen auf, trotzdem doch beispielsweise Descartes den Aufbau der Körperwelt aus unteilbaren Atomen ausdrücklich leugnet. Ihm geht es jedoch noch gar nicht um eine genauere Stellungnahme, etwa zum Streit zwischen den Mechanisten (Descartes) und den epikureischen Atomisten (Gassendi, Magnenus), noch wird ihm der Gegensatz zwischen quantitativer und qualitativer Deutung der Korpuskulartheorie irgendwie deutlich. Allen genannten Denkern gegenüber versucht jedoch Leibniz zu zeigen, d a ß d i e G r ö ß e , G e s t a l t u n d B e w e g u n g a l l e i n zur E r k l ä r u n g der K ö r p e r p h ä n o m e n e n i c h t a u s r e i c h e n , s o n d e r n noch ein geistiges Prinzip hinzugenommen werden muß. In noch unvollkommener Form führt Leibniz diesen für sein ganzes späteres Philosophieren typischen Gedanken in einer kleinen Abhandlung durch, die offenbar im Boineburgschen Kreise zirkulierte und die der Leibniz befreundete junge Spener dem Augsburger Theologen Spitzel weitergab. Ohne Leibnizens Wissen veröffentlichte sie Spitzel als Anhang zu seinem Buche gegen den Atheismus unter dem phrasenhaften Titel ,,Confessio Naturae contra Atheistas" anfangs 1669. In der Tat steht Leibnizens Interesse an der Naturphilosophie zunächst im Zeichen des Kampfes gegen den aus Frankreich und England einbrechenden Atheismus. Weitblickend genug wittert er in der rein mechanischen Naturerklärung Descartes' bei aller Bewunderung die Gefahr des Materialismus. Die Weiterentwicklung des Cartesianismus in Frankreich, die im atheistischen Materialismus der französischen Aufklärung endete, hat ihm recht gegeben. In interessanter, schon stilistisch ganz an Descartes' Meditationen anlehnender Beweisführung sucht Leibniz zu

Naturphilosophie gegen Descartes; Mechanik

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zeigen, daß aus allgemeinen mechanischen Gesetzen die besonderd Gestalt, Lage und Bewegung des jeweiligen Einzelkörpers niemals zu erklären sei. Ein „zureichender Grund" dafür ist nicht aufzufinden — schon hier zieht er dies spätere große Prinzip der Tatsacbenerkenntnis erstmals heran. Daß gerade diese und keine anderen Bewegungen diesem und jenem Körper zukommen, daß die Bewegung1 in unserem Weltall gerade diese Verteilung und Größe und keine andere aufweist, kann letzten Endes nur auf eine „Setzung" Gottes, auf ein geistiges Prinzip zurückgeführt werden. Ja er sieht in dem erwähnten Gedankengang einen neuen, bisher unbetretenen Weg des Gottesbeweises. Keimhaft ist hier der Gedanke angedeutet, in dem der spätere Leibniz aus der Tatsächlichkeit gerade dieser Welt auf die Einmaligkeit eines sie erzeugenden göttlichen Schöpferwillens schließt. Im August 1669 gewinnen Leibnizens naturphilosophische Gedanken festere Gestalt. In Bad Schwalbach, wo er binnen drei Tagen sein „Bedencken" in Eile niederschrieb, um es den versammelten Kurfürsten vorzulegen, zeigte ihm eines Morgens nach dem Frühstück der Kieler Jurist Mauritius das neueste Heft der „Philosophical Transactions". Darin war die Preisaufgabe der „Royal Society" für 1669 über die Stoßbewegung enthalten, zugleich die beiden im wesentlichen richtigen Lösungen des großen holländischen Physikers Christian H u y g h e n s und des Engländers W r e n. Die Analyse der Stoßbewegung hatte Galilei nicht mehr ausführlich gegeben. Descartes war mit manchen anderen Physikern der Zeit daran gescheitert. Zwischen Wren und Huyghens war begreiflicherweise ein heftiger Prioritätsstreit entbrannt. Die Art und Weise, in der Leibniz zu dem Streit Stellung nimmt und in einem für Mauritius bestimmten Entwurf eine eigene Lösung versucht, zeigt nur zu deutlich, wie fernab Leibniz damals noch von den physikalischen Errungenschaften eines Galilei sich bewegte. Mit Hobbes will er das Stoßproblem, wie alle mechanischen Grundprobleme, nicht aus

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der Erfahrung, sondern rein apriorisch mit Denknotwendigkeit aus den Grunddefinitionen von Körper, Raum, Zeit, Bewegung ableiten. Hobbes' bekannte Argumente gegen die Sinneserfahrung als Ausgangspunkt der Mechanik wiederholt Leibniz sklavisch. Gegen Huyghens, dessen Gedankengang er gänzlich mißversteht, wendet er vorzüglich ein, daß er den Begriff der Ruhe, als des Wegfalls aller Aktivität und damit aller Bewegung, verkannt habe. Eben auf Grund dieser aristotelischen Definition der Ruhe verbaut er sich von vornherein die richtige Lösung und kommt hier wie in der zwei Jahre später veröffentlichten „Theorie der abstrakten Bewegung" zur Aufstellung unmöglicher, der alltäglichsten Erfahrung widersprechender Bewegungsgesetze. Denn daß auch der ruhende Körper einer Bewegungsänderung Widerstand leistet, kann ich aus dem B e g r i f f deT Ruhe als Wegfall aller Bewegung — und damit alles Widerstandes! —• nicht herausziehen. Darüber gibt mir eben nur Erfahrung Auskunft. Geht so Leibnizens Lösungsversuch im Kernansatz gänzlich fehl, so hat Leibniz doch in diesem und in weiteren Entwürfen bis 1671 d i e G r u n d b e g r i f f e v o n K ö r p e r , R a u m u n d Z e i t in e i n e r k a t e g o r i a l e n A n a l y s e s c h a r f s i n n i g d u r c h l e u c h t e t . Auch hier ist er zunächst von Hobbes abhängig. Im Begriff des Körpers hebt er wie dieser neben der Ausdehnung das davon verschiedene Moment der Raumerfüllung, der I n e x i s t e n z gegen Descartes hervor. Noch schärfer bestimmt er das auszeichnende Moment als „Antitypie", worunter er.die Grundeigenschaft versteht, daß kein Körper den Raum eines anderen Körpers durchdringen kann. Man kann sich — wie auch Hobbes bemerkt — wohl einen Raum ohne erfüllenden Körper, doch niemals einen Körper ohne Raumerfüllung vorstellen. Schon hier bestimmt er Raum und Zeit als „Größen, deren Teile zugleich sind oder aufeinanderfolgen", und bereitet jenes klassische Definition von Raum und Zeit als „Ordnungsformen des Zugleich und Nacheinander" vor, die einen der reifsten Gedanken des späten Leibniz aus-

„Hypothesis nova"

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macht. Schon hier gelangt er — merkwürdigerweise in Verfolgung des aristotelischen Ruhebegriffs in seine letzten Konsequenzen — dazu, einem „absolut ruhenden" Körper jeden Widerstand nicht nur, sondern jede Festigkeit, jede Raumerfüllung, jede Wahrnehmbarkeit abzusprechen und damit diesen Begriff ad absurdum zu führen. D a s W e s e n desi K ö r p e r s m u ß e r n u n m e h r i n U m k e h r u n g des u r s p r ü n g l i c h e n G e d a n k e n g a n g e s ger a d e i n d i e B e w e g u n g v e r l e g e n — womit die für den Physiker Leibniz entscheidende Wendung zu einem k i n e t i s c h e n K ö r p e r b e g r i f f eingeleitet ist. Den vorläufigen Abschluß dieser ganzen Entwicklung stellt die Schrift) „Hypothesis nova" vom Jahre 1671 dar, die in ihrem ersten Teil die „konkrete Bewegung" in unserem Weltsystem entwickelt, während der zweite eine „Theorie der abstrakten Bewegung" auf Grund von Definitionen entwirft und seine Theorie der Stoßgesetze in verbesserter Form bringt. Doch auch jetzt bleibt Leibniz bezeichnend genug am aristotelischen Ruhebegriff hängen. Neu und für die Entwicklung der folgenden Jahre von größter Bedeutung ist jedoch sein — noch ganz äußerlicher — Versuch, der Kontinuität der Bewegung durch Einführung des Begriffs der „unendlich kleinen Bewegung" Herr zu werden. Er stützt sich dabei auf den Galileischüler C a v a l i e r i , der im Anschluß an Galileische Betrachtungen zur Annahme von „indivisiblen Größen" als unendlich kleiner Elemente der Linie gelangt war und diese als „kleiner denn jede angebbare Größe" bestimmt hatte. Wie der Punkt als indivisible Größe zur Linie, so verhält sich nach Leibniz die unendlich kleine Anfangsbewegung zur endlichen Bewegung. In diese Anfangsbewegung nun verlegt er mit Hobbes den Kern der Bewegung, die Bewegungs t e n d e n z , die er „conatus" nennt. So verschmelzt er Cavalieris Begriff und Methode der Indivisibilien mit Hobbes' Begriff des Conatus — ein erster Hinweis auf die grundlegende Bedeutung, welche in den folgenden Jahren das Problem des Unendlichkleinen für ihn gewinnen sollte. Er führt den Begriff des Unendlichkleinen 5

Huber, Leibniz

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zunächst in seine physikalische Analyse ein, er weiß jedoch noch gar nichts mit ihm anzufangen. Wieder zeigt sich deutlich der Mangel der mathematischen Schulung,, dessen sich Leibniz erst in Paris, und gerade im ersten Zusammentreffen mit Huyghens, in seinem ganzen Umfang gewiß werden sollte. In der Tat hat Leibniz später selbst in Briefen darauf verwiesen, wie mangelhaft seine mathematischphysikalischen Kenntnisse noch bei seinem Weggang nach Paris gewesen seien. Über den Stand der damaligen deutschen Universitätsmathematik war er kaum hinausgelangt; einen schlechten algebraischen Schmöker hatte er sich noch in Nürnberg gekauft; Descartes' Algebra war ihm noch zu schwer. Seine geometrischen Kenntnisse beschränkten sich auf die Euklidische Schulgeometrie. Bei seiner ersten Begegnung mit Huyghens aber bemerkte er, daß er noch nicht einmal von den Gesetzen des Schwerpunkts eine klare Ahnung besaß — weshalb er auch Huyghens' Lösung der Stoßgesetze, die ja gerade von der Erhaltung des Schwerpunkts in der Bewegung ihren Ausgang nahm, nicht verstanden hatte. Nicht zufällig war — wie wir sahen — Leibniz in der Darstellung seiner Naturlehre von 1671 von dem Unterschied zwischen konkreter und abstrakter Bewegung ausgegangen. Im Begriff der konkreten Bewegung lagen ja Schwierigkeiten, auf die er in der „Comfessio Naturae" deutlich verwiesen hatte. In der „Theoria motus concreti", dem ersten Teil der Doppelschrift, wird gerade der zureichende Grund für die b e s o n d e r e Verteilung der Bewegung in u n s e r e m Weltall zum Problem. Denn daß es außer unserem noch unzählig viele Sonnensysteme gebe, und daß unser System und im besonderen unsere Erde das Produkt einer Jahrtausende währenden Entwicklung sei, ist Leibniz von vornherein klar. Er sucht in seiner Darstellung Descartes zu verbessern. Der große Franzose hatte das Problem einer „natürlichen Welterklärung" auf der Grundlage der modernen Mechanik erstmals wieder neu gestellt und durch seine geistreiche Wirbeltheorie auch zu lösen gesucht.

„Hypothesis nova"

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Leibniz kann sich freilich — wie er 1668 an Thomasius schreibt — mit Descartes' „abrupter" Hypothesenbildung nicht befreunden. Sein Lösungsversuch unterscheidet sich gleich dem anderthalb Jahrzehnte später von N e w t o n gegebenen in sehr charakteristischer Weise von Descartes' Gedankengang, den K a n t in wesentlich verbesserter Form in seiner „Allgemeinen Theorie des Himmels" wieder aufgenommen hat. Es kann kein Zweifel sein, daß Descartes und Kant ihre Aufgabe konsequenter und kühner durchführen. Beide machen mit dem Gedanken Ernst, die Entstehung der Weltkörper aus der Annahme einer im Weltraum gleichmäßig verteilten Materie, die ihren eigenen Bewegungsgesetzen überlassen sei, abzuleiten. Descartes nimmt in dieser Materia prima außerdem nur verschiedene Schwere, Kamt verschiedene Dichtigkeit an den einzelnen Weltstellen an. Leibniz und Newton hingegen gehen vorerst von der Gegebenheit der einzelnen Weltkörper und deren Achsendrehung aus. Mit der „Hypothesis nova" hoffte Leibniz als Naturwissenschaftler einen ganz großen Schlag zu tun und sichi in die Front der europäischen Kämpfer um das neue Weltbild auf der Grandlage der Galileischen Mechanik einzureihen. In solcher Hochstimmung widmete er kühn den ersten Teil der Pariser Akademie der Wissenschaften, den zweiten, die „Theoria motus abstracti", der Londoner Sozietät. Auch sorgte er für Verbreitung des Werks bei den deutschen Wissenschaftlern. Der erhoffte große Erfolg blieb aus. Die Deutschen, darunter der berühmte Bürgermeister Guericke von Magdeburg, äußerten sich zurückhaltend, der Präsident Carcavy der französischen Akademie nahm von der Widmung kaum Notiz. Ihm kam Leibniz nur als Bucheinkäufer für die Akademie auf der Frankfurter Messe gelegen. Eine Andeutung Leibnizens, ihn als korrespondierendes Mitglied der Akademie, etwa mit Pension, mit dem wissenschaftlichen Nachrichtendienst aus Deutschland zu betrauen, lehnte er nicht minder deutlich ab. Um so entschiedener hatte er mit dem schon genannten Sekretär der Londoner Sozietät, dein fein5*

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sinnigen Deutschen Oldenbourg, Glück. Oldenbourg war von den Proben so außergewöhnlichen Wissens und Scharfsinns, •die ihm der junge Landsmann gab, entzückt. Er ließ die Schrift durch mehrere Mitglieder der Akademie begutachten. Die Meinungen waren zwar geteilt, doch sprach sich immerhin eine der gewichtigsten Stimmen, der bedeutende Mathematiker und Physiker John W a l l i s , bei aller Vorsicht aufrichtig anerkennend aus. Das genügte. Ein festes Band zur Sozietät war geknüpft. Der inhaltsreiche Briefwechsel, der Leibniz von da an mit Oldenbourg bis zu dessen Tod im Jahre 1677 verband, ist Zeuge des lebendigen, ja bewundernden Interesses, das Oldenbourg dauernd an Leibnizens Entwicklung genommen hat. Er ist eine der kostbarsten Quellen für unsere Kenntnis von Leibnizens mathematisch-phYsikalischem Werdegang in den folgenden Pariser Jahren geworden. Überhaupt wächst der geistige Radius von Leibnizens Briefwechsel in den kurzen Mainzer Jahren merklich ins Große, weit über den Umkreis einer gewöhnlichen wissenschaftlichen Korrespondenz. Die Freundschaft Berneburgs eröffnet ihm alle wissenschaftlichen Kreise. Er steht mit den bedeutendsten Theologen in Verbindung, vor allem mit Spener, Spitzel und anderen, dem Historiker Böckler in Straßburg, dem Mediziner Conring, dem Physiker Guericke; schon nimmt er mit den wissenschaftlichen Größen des Jesuitenordens Fühlung auf, dem Italiener Honorato Fabri, dem Polen Kochansky. Die Beziehungen zu Carcavy und Arnauld sollten dem Diplomaten den Boden in Paris ebnen, durch Vermittlung Oldenbourgs empfiehlt er sich schon 1669 bei dem von ihm so sehr verehrten Philosophen Hobbes — freilich ohne je einer Antwort gewürdigt zu werden. Auch an Spinoza wendet er sich 1669 mit der Bitte, einen kleinen optischen Traktat über seine Erfindung einer die Randstrahlen besser ausnutzenden Linse zu begutachten. Er wollte wohl unverbindlich mit dem merkwürdigen Manne anknüpfen, über den allerhand dunkle Nachrichten im Umlaufe waren. So wuchs der Kreis der Korrespondenten täglich — der kleineren

Briefwechsel

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Geister nicht zu gedenken, die von dem neu aufblitzenden Stern am Gelehrtenhimmel ihr Teil abzubekommen trachteten. Nur Leipziger Gelehrtennamen suchen wir bemerkenswerterweise vergeblich. Nach der Vaterstadt waren Gerüchte gedrungen, er sei in Mainz kalvinisch geworden. In einem rührenden Brief beschwor ihn die Schwester, jetzige Pastorin Löfflerin, doch dem Väterglauben treu zu bleiben. „Die Leute reden hir so übel von dir, wie wohl ich dich alle Zeit deffendiret habe." „Der liebe Gott — meint sie — wird dich auch in ludersen lande nicht lassen Hunger leiden. Verdraue ihm nur." In der Tat hatte Leibniz nicht vor, dauernd in Mainz zu bleiben. Freilich zog es ihn nicht in Luthersche Lande, vielmehr mit Boineburg an den Wiener Hof. Andere gute Angebote, die ihm sein Freund und Gönner, der schwedische Resident Habbeus von Lichtenstern, in Frankfurt verschaffte, vermeinte er darum ausschlagen zu sollen. Außer dem regierenden Markgrafen von Durlach interessierte sich schon damals — 1669 — der Herzog Johann Friedrich von Braunschweig-Lüneburg für den jungen Gelehrten, von dem ihm Habbeus begeistert erzählt hatte. Leibniz lernte den Herzog 1671 persönlich auf der Durchreise durch Hannover kennen. Für das charakterologische Verständnis des jungen Leibniz in diesen Mainzer Jahren ist kaum eine Quelle so aufschlußreich wie das ausführliche Schreiben, das er kurz nach der Durchreise des Herzogs in Mainz -— wohl in der ersten Hälfte des, Oktober 1671 — an seinen neuen Gönner gerichtet hat. In diesem Selbstbericht nimmt bezeichnend genug die Idee der „Ars charactcristica" und Universalsprache die zentrale Stellung ein; er nennt sie nicht eben bescheiden „das Importantcste, was der Menschengeist zur Bevördcrung der Wissenschaften unternehmen könne". Ausdrücklich bezeichnet er jetzt deren Doppelverfahrcn der analytischen Auffindung der Elementarbegriffe einer Wissenschaft und ihrer nachfolgenden synthetischen Kombinatorik als V e r a l l g e m e i n e r u n g der D e s c a r t e s s c h e n A n a l y s i s . Wir wissen, daß Dcscartes nicht der Ausgangspunkt

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seiner Idee gewesen ist, die ja tief im deutschen Pythagoreismus wurzelt. Doch jetzt, wo er allmählich dem Denker tieferes Verständnis entgegenbringt, setzt er seine Charakteristik in lebendigen Zusammenhang zu Descartes' Anolysis, und damit auch zu dessen Methodenlehre. Darin liegt der erste Ansatz zu einer fruchtbaren Auseinandersetzung mit dem großen Franzosen. In der Naturphilosophie nimmt Leibniz für sich in Anspruch, die Erdbewegung erstmals streng bewiesen zu haben, „nicht durch Experimente, denn die tun's nicht", sondern durch geometrische Ableitung aus seiner Analyse der abstrakten Bewegungsgesetze. Mit immerhin berechtigtem Stolz verweist er auf die günstige Beurteilung seiner „Hypothasis nova" durch Fabri und die englischen Naturwissenschaftler. In der Mathematik und Mechanik legt er das Schwergewicht seiner Leistungen auf die Erfindung seiner Rechenmaschine, „einer lebendigen Rechenbank", die ihm durch praktische Anwendung der Prinzipien seiner „Ars combinatoria" gelungen sei. Uber die Erfindung eines ähnlichen geometrischen Hilfsinstruments, eine Art Planimeter, macht er etwas dunkle Mitteilungen. Weiter hören wir von der Erfindung einer optischen Linse, welche die Randstrahlen; ausnutzt — also eines Vorgängers unserer aplanatischen Linsen —, einer neuen Pulverbüchse mit starker Geschoßwirkung, und zum guten Ende von der Wiedererfindung eines „inventum Drebelii", des von dem Deutschen Drebel vor Jahrzehnten erfundenen ersten — Unterseebootes, dessen Konstruktionsprinzip Drebel mit ins Grab genommen hatte. Das ist für einen eben Fünfundzwanzigjährigen immerhin nicht wenig. Doch das Verzeichnis der Leistungen wird noch gekrönt durch die Entdeckungen in „Philosophie moralis" und „Theologia naturalis", die Leibniz sich in dem Schreiben zuspricht. Da hat er aus der Natur der Bewegung einen strengen Beweis abigeleitet, „daß eine Ratio ultima rerum sive Harmonía universalis, id est Deus seyn müsse". Keine Tätigkeit — so schließt er' — ist in sich selbst Bewegung; es gibt keine körperliche Tätigkeit außer Bewegung — also

Studienbericht an Johann Friedrich von Braunschweig

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ist Bewegung nicht Körper. Mit anderen Worten: Das Phänomen der Bewegung weist auf eine Tätigkeit a b Seinsgrund, die nicht wieder Bewegung, ist — auf etwas Geistiges. Der Geist aber besteht in einem Punkt oder Zentrum, ist unteilbar, unzerstörbar, unsterblich. „Gleich! wie in Centro alle Strahlen concurrieren, so lauffen auch in mente alle impressiones sensibilium per nervös zusammen. U n d a l s o ist Mens eine k l e i n e in einem P u n k t e b e g r i f f e n e W e l t , so aus denen Ideis wie Centnim ex angulis (Winkeln) besteht, denn angulus ist pars Centri, ob gleich Centrum indivisibel, dadurch die ganze natura mentis geometrice erkläret werden kann . . , 3 " Wie in einem kleinen Punkt — so möchten wir weiterfahren — begreift sich in diesen merkwürdig vorausschauenden Worten des jungen Leibniz das ganze mannigfaltige Gebäude des späteren Leibnizschen Systems. Die Grundbelgriffe — Gott als letzte Ratio der Welt, die universelle Harmonie des Weltalls, der Einzelgeist als in sich, in einem metaphysischen Punkte abgeschlossene kleine Welt, als Monade, die Unzerstörbarkeit des geschaffenen geistigen Individuums — alles liegt noch unentfaltet in einer Vision von mystischer Kraft beieinander. Ein genialer Vorgriff auf eine philosophische Erfüllung wie wenige Jugendzeugnisse in der Philosophiegeschichte, ein Programm, das seine eigenen Fesseln spremgcn muß: die ccht Descartessche und Hobbessche Forderung, die Natur des Geistes „geometrice erklären" zu können. Die Einlösung dieses Programms läßt — wie wir sehen werden — an entscheidenden Punkten alle enge Rationalität, alle letzte Einsicht weit hinter sich und gibt dem Überrationalen, dem nicht mehr Faßbaren im System mit einer geistigen Freiheit und einem Verantwortungsbewußtsein Raum, die in der Geschichte der großen Systeme des 17. Jahrhunderts einzigartig dastehen.

3. KAPITEL

Paris

1672—1676

Am 19. März 1672 machte sich Leibniz, nur von einem Diener begleitet, auf die Reise — um Mainz nie wiederzusehen. Er nahm seinen Weg über Metz und schrieb an Boineburg erstmals am 31. März aus Paris. Mit immer noch berechtigten Hoffnungen hatte er seine Reise angetreten. Die ersten Monate in Paris sollten für ihn eine Kette von Enttäuschungen werden, das erste schmerzliche Lehrgeld, das der junge Politiker zu zahlen hatte. Als er in Paris eintraf, hatte England schon den Krieg gegen Frankreich eröffnet. Am 6. April folgte das französische Kriegsmanifest, zu Ende des Monats begab sich der König mit dem Minister Pomponne ins Feld. Die ersten Aussichten für den ägyptischen Plan waren zerschlagen. Eine völlige Umarbeitung der großen Denkschrift war nicht mehr zu umgehen. Leibniz hat sie niemals geliefert. Boineburg drängte brieflich unablässig auf Fertigstellung des Manuskripts oder doch wenigstens eines kurzen Breviariums als Unterlage für den Kurfürsten, dem er nun doch in einer günstigen Stunde anfangs Juni den großen Plan wenigstens angedeutet hatte; freilich ließ er den Kernpunkt, Ägypten, unerwähnt. Der Kurfürst war nämlich selbst auf den Gedanken gekommen, in der Not den König zum heiligen Krieg nachdrücklich aufzufordern — umsonst. Ein zweiter Vorstoß im September 1672 blieb ebenfalls ergebnislos. Bei dieser Gelegenheit war es, daß der Minister dem vermittelnden französischen Gesandten Feuquiere in seinem Reskript die zynische Antwort gab, heilige Kriege seien seit dem Tode Ludwigs des Heiligen in Frankreich aus der Mode gekommen. Um das Schlimmste für Deutschland abzuwenden, bot der Kurfürst im Namen mehrerer Reichsstände dem König seine

Ablehnung des Ägyptischen Plans

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Friedensvermittlung gegenüber Holland und Brandenburg an. Der Hofmarschall von Schönborn traf a m 16. November in Paris ein; in seiner Begleitung war der junge Boineburg der am französischen Hofe vorgestellt werden sollte. D e r sorgliche Vater hatte Leibniz mit der Studienaufsicht über seinen Sohn betraut. Am 21. November suchte Leibniz den Gesandten auf, um ihn im Auftrage Boineburgs in den bisher geheim gehaltenen Plan einzuweihen. Er hatte sogar die Ansprache ausgefertigt, die Schönborn vor dem Könige halten sollte. Der Gesandte hatte sich jedoch nicht an die kräftige, an das heroische Gewissen des Königs appellierende Rede Leibnizens zu halten, sondern an die Propositionen des Kurfürsten, die im üblichen Jammerton die türkische Gefahr schilderten. Von Leibnizens positivem Vorschlag war keine Rede. Der 24. November war der Schicksalstag. Wir sehen Leibniz den jungen Gesandten nach Versailles zum Empfang begleiten. In einem Gasthause wartete er die Antwort des Königs ab. Sie war gnädig, doch unbestimmt. Was er zum Vorschlag des heiligen Krieges gesagt hat, ist nicht bekannt Er dürfte darüber nicht viel anders gedacht haben als Pomponne. > Eine Gelegenheit, dem König den Ägyptischen Plan mündlich zu unterbreiten oder gar die Leibnizsche Denkschrift in umgearbeiteter Form zu überreichen, bot sich dem Gesandten in den vier Wochen seines Wartens auf Ludwigs endgültigen negativen Bescheid nicht mehr. Auch Leibniz hat auf den Plan verzichtet; das ungeänderte Konzept der Denkschrift hat sich mit den Empfehlungsbriefen, die ihm Boineburg an Pomponne und dessen Räte mitgegeben hatte, in seinem Nachlaß gefunden. Leibniz ist in Sachen des ägyptischen Planes niemals an die verantwortlichen Leiter der französischen Politik herangekommen, und somit ist auch kein J o t a von seinen Denkschriftcni und Plänen je in französische Staatsarchive gelangt. Wenn die englische Propaganda im Jahre 1803 die Welt glauben machen wollte, daß eine in den Archiven von Versailles vergrabene Denk-

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3. Paris 1672—1676

schrift Leibnizens Napoleon im Jahre 1798 das Programm zu seinem überraschenden Vorstoß auf Ägypten im einzelnen geliefert habe, so hat sie ¡in immerhin geschickter Fälschung die Akten in Hannover, zu denen sie bequem Zutritt hatte, nach Versailles verpflanzt. Doch auch die Fälscher konnten lernen, daß ein junger deutscher Philosoph die Bedingungen einer europäischen Vormachtstellung zur See so scharfsinnig und weitblickend erkannt und formuliert hat wie nur irgendwie der korsische Eroberer nach mehr denn hundert Jahren. — Wie tragisch belanglos auch der Ägyptische Plan für seinen Schöpfer enden mochte — Leibniz war in Paris, am Ziel geheimer Sehnsucht, in der Metropole von Geist und Wissenschaft der Zeit. Doch auch da zeigten sich Widerstände, auf die er kaum gefaßt gewesen war. Der Wissenschaftler Leibniz fand trotz glänzender [Empfehlungen in den ersten Monaten in der Weltstadt kaum Anschluß und Gehör. Man war gegen Deutsche mißtrauisch, deutsche Wissenschaft galt als rückständig. Seine Besuche beim Präsidenten Carcavy und bei dem Theologen Arnauld hatten ihm nicht den erhofften Zugang zu den leitenden französischen Staatsmännern erwirkt. Der Vorführung der Pläne zu seiner Rechenmaschine gegenüber zeigte sich Carcavy skeptisch. So warf sich Leibniz mit aller Energie darauf, mit Hilfe eines Mechanikers auf eigene Kosten ein Modell zu bauen. Er sah ein, daß man, um in Paris anzukommen, etwas ganz Besonderes zu leisten habe. Wie von selbst konzentrierte sich seine Arbeit auf die Mathematik, Mit Arnauld hatte er im Sommer mehrfach philosophische Unterredungen; im Herbst lernte er auch .schon1 Huyghens kennen. Doch seine letzte Hoffnung hatte er auf die Ankunft Schönborns gesetzt, und die war nun zerschlagen. Noch härtere Schicksalsschläge folgten. Am 22. Dezember traf die Kunde ein, daß Boineburg plötzlich gestorben war. Er war der Aufregung über die Verwüstung seiner Güter durch die einbrechenden brandenburgischen Truppen erlegen. Der Trostbrief, den Leibniz an die Witwe

Besuch bei der Royal Society

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schrieb, zeugt von der aufrichtigen Verehrung Leibnizens für seinen Gönner. Doch prüfen wir genau, sd< war gerade die enge freundschaftliche Anlehnung an den politisch Verfemten der große Mißgriff seiner Mainzer Jahre gewesen. Ihr hatte er zuzuschreiben, daß ihm die weitere politische Laufbahn in Mainz versagt blieb. In solchem Mißgeschick bot sich Leibniz ein neuer Lichtblick. Ein glücklicher Umstand sollte ihn bald mit Oldenbourg und der Royal Society in persönliche Berührung bringen. Der Gesandte von Schönborn hatte für den Fall der Ablehnung Ludwigs XIV. die Weisung, sich unverzüglich an den englischen Hof zu begeben und dort eine Friedenskonferenz aller beteiligten Mächte in Köln vorzuschlagen. Leibniz wurde der Gesandtschaft zugeteilt mit dem privaten Auftrag, für die Witwe Boineburgs eine Forderung auf 2000 Florinen einzutreiben, die Boineburg dem Prinzen Rupert geliehen hatte. Die Familie verließ sich in diesen Angelegenheiten ganz auf „die Dexterität und den hohen Verstand ihres Leibniz". Der junge Boineburg wurde mit einem deutschen Erzieher beim Agenten Heiß in Paris belassen; ein ins einzelnste festgelegtes Tagesprogramm hatte Leibniz für seinen Schützling ausgearbeitet. Am 21. Februar 1673 brach man auf. Leibniz wurde von Oldenbourg in die glänzende Gelehrtengesellschaft eingeführt, die an wissenschaftlichen Leistungen und europäischem Ansehen bald die Pariser Schwesterakademie überflügeln sollte. Innerhalb einer Zeit, die, wie die Restaurations jähre Karls II., zu den turbulentesten und sittenlosesten Verfallszeiten der englischen Geschichte gehören, steht diese Schöpfung des ohne Zweifel kunstsinnigen und wissenschaftlich weit über das Maß des Dilettanten interessierten Stuartherrschers einzigartig da. Der Geist Bacons lebte in der der Beobachtung der Natur geweihten Forscherarbeit der Royal Society weiter; ja er begann eigentlich erst, sich im Bewußtsein des englischen Geisteslebens voll zu entfalten. Naturwissenschaft in allen Formen wurde populär; hatte man sich noch vor Jahrzehnten in der Revolution unter

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3. Paris 1672—1676

Cromwell über die beste Verfassung den Kopf zerbrochen: jetzt waren. Fernrohr und Mikroskop, Magnet und Theorie des Blutkreislaufes hohe Mode. Der König selbst hatte sich in Whitehall ein naturwissenschaftliches Kabinett eingerichtet. Die Gesellschaft vereinte in der Tat Namen von Weltklang: der berühmte Chemiker Boyle war derzeit ihr Präsident, Sloane begann seine ersten botanischen Studien, Ray arbeitete an neuen zoologischen Klassifikationen; Sir William Petty schuf die Grundlagen einer politischen Arithmetik; der bedeutende Mathematiker Wallis, der schon genannte Physiker Wren, die Astronomen Halley und Flamsteede in London, und in Cambridge der eben aufgehende Stern, der alle überstrahlen sollte, Isaac Newton — eine illustre Zahl bedeutender und selbst genialer Köpfe gab dem wissenschaftlichen Leben des Inselreichs eine ganz neue Richtung. In Whitehall führte Leibniz den in London anwesenden Mitgliedern das Modell seiner Rechenmaschine vor. Er ahnte nicht, daß hinter einer Säule ein junger Deutscher, namens Haak, seine Ausführungen genau notierte und die Maschine eingehend musterte, um sie wenig später als seine Erfindung auszugeben. Der Kampf um die Priorität hat Leibniz manchen Ärger gekostet. Von den Londoner Gelehrten hat niemand so nachhaltigen Eindruck auf Leibniz gemacht wie der Chemiker Boyle, zu dem er eine tiefe Verehrung faßt. Von wenigen geistigen Größen seiner Epoche spricht er zeitlebens in Tönen solch uneingeschränkter Anerkennung) des Wissenschaftlers wie des Menschen. Er sieht in Boyle mit Recht den Meister der modernen, aus den Fesseln alchimistischer Spekulation sich lösenden Tatsachenwissenschaft der Chemie. Der plötzliche Tod des Kurfürsten Johann Philipp von Schönborn am 12. Februar 1673 machte den hoffnungsvoll beginnenden Londoner Tagen ein jähes Ende. Die Gesandtschaft kehrte unverzüglich nach Mainz zurück. Leibniz konnte auf! vorerst unbestimmte Dauer als Mandatar für die Forderungen der Familie Boineburg und zugleich verantwort-

Rechenmaschine

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licher Erzieher des jungen Boineburg in Paris bleiben. Der Gesandtej von Schönborn erwirkte in Mainz bei dem neuen Kurfürsten Karl Heinrich von Metternich, daß Leibniz auch in seiner Stellung als Kurfürstlich Mainzischer Rat, freilich unter Sperrung seines Gehalts, belassen wurde. Leibnizens Versuche freilich, dem Kurfürsten seine politischen Dienste, etwa als kurmainzischer Resident, anzubieten, scheiterten. Man war wohl froh, unter die Ära Boineburg einen Schlußstrich ziehen zu können. So war Leibniz in der Weltstadt — wie er sich wohl ersehnt hatte — im Grunde sein freier Herr, lediglich auf die finanziellen und sachlichen Erfolge eigener Arbeit angewiesen. Er hat, von jeher die Zeit als das kostbarste Gut erachtend, die Jahre der Freiheit meisterhaft genützt. Seine ersten wissenschaftlichen Erfolge sollte ihm seine Rechenmaschine bringen, diese erste zukunftsreiche praktische Anwendung seiner kombinatorischen Erkenntnisse. Deren erstaunlicher Eindruck hatte ihm kurz nach seiner Rückkehr nach Paris, am 9. April 1673, die Aufnahme als Mitglied der Royal Society „nemine contradicente" eingetragen. Nur ein Jahr vorher war Newton der gleichen Ehrung teilhaft geworden. Ein Gleiches erhofft sich Leibniz von seiner Vorführung der Rechenmaschine im Mai 1673 vor der Pariser Akademie. Arnauld, Huyghens, Thevenot und selbst die Freunde Pascals müssen die gewaltige Überlegenheit der Leibnizschen Maschine, die Multiplikation, Division, Potenzierung und Wurzelziehen bewerkstelligt, über Pascals bewunderte Rechenmaschine anerkennen. Colbert selbst interessiert sich für das Modell und stellt dem Deutschen einen Mechaniker zur beschleunigten weiteren Verbesserung des Modells zur Verfügung. Leibniz ist von diesem Augenblick an „anerkannt", .ein vollgeachtetes Mitglied der Pariser Gelehrtenrepublik, die sich um den großen Colbert schart. Doch die Ernennung zum Mitglied der Akademie unterbleibt. Eine neue Ehrung sollte Leibniz in diesem Jahre zuteil werden. Auf Vorschlag Pierre H u e t s , des berühmten Erziehers des jungen Dauphin, sollte er mit Oldenbourg an

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3. Paris 1672—1676

einer für den Dauphin beistimmten Ausgabe der antiken Klassiker mit Übersetzung und Anmerkungen mitarbeiten. Nach langem Zögern wählte er Martianus Capeila. Doch gelangte die Arbeit über einen Probebogen nicht hinaus. Schon war er entschieden, all seine freie Zeit der Veröffentlichung seiner mathematischen, physikalischen und geometrischen Untersuchungen zu widmen, „wozu ihn die Freunde drängten". Welche Freunde? Man sieht sich zunächst auf den Kreis von Gelehrten verwiesen, der sich im Haus des Theolagen Arnauld zu versammeln pflegte. Er war alles andere als ein rein theologischer; mathematische, physikalische und selbst technische Fragen fanden bei dem vielgebildeten Descartesfreunde reichstes; Verständnis. Noch nach Jahren (1689) frischt Leibniz brieflich „mit einem seiner ältesten Pariser Freunde" die Erinnerung an jene Tage wieder auf. Es war ein Monsieur des Billets, der im Hause Arnaulds wohnte und eine Unzahl von Modellen und Instrumenten sein eigen nannte. Doch auch Huyghens und der Physiker Mariotte, der junge Mathematiker Osann a, der um die Theorie der Glücksspiele verdiente Herzog von Roannez, ein enger Vertrauter des verstorbenen Pascal, gehörten dem Kreise an. Die berühmten Astronomen Olaf Römer und Cassini, neben Huyghens die ausländischen Zierden der Akademie, und den zurückgezogen lebenden Malebranche lernte Leibniz bald persönlich kennen. Lebendig führt der Briefwechsel mit Oldenbourg in die Arbeiten dieses Pariser Kreises wie in die ganze interessante Wissenschaftsgeschichte dieser Zeit ein. Es entwickelt sich eine unverkennbare Konkurrenz zwischen dem englischen und französischen Forscherkreis. In solch glücklicher Atmosphäre hat sich Leibniz ,,in seinen Mußestunden" —• wie er zu sagen pflegt — zum Mathematiker von Weltformat entwickelt. Soweit auch der Gang seiner Studien im einzelnen aufgehellt ist — das Tempo dieser Entwicklung bleibt nach wie vor ein Rätsel. Schon im Herbst 1672 hatte sich Huyghens des jungen Deutschen, in dem er offenbar rasch das mathematische Genie erkannte,

Der Pariser Kreis. Analysis des Unendlichen

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großzügig angenommen. Unter seiner Leitung tut Leibniz die ersten Schritte in die höhere Mathematik seiner Zeit. Er arbeitet die Algebra des Italieners Bombelli durch und legt seinem Lehrer bald als erste Frucht des Studiums den umfassenden Beweis der Allgemeingültigkeit der bekannten C a r d a n i s e h e n Formel für die Gleichungen dritten Grades vor. Leibnizens Nachweis, daß die Verbindung konjugierter Paare imaginärer Größen reelle Werte ergibt, erregt bei Huyghens noch das staunende Ahnen verborgener Zahlengeheimnisse. Von dort zu dem großen algebraischen Problem der Zeit, der Suche nach einer allgemeinen Lösung der Gleichungen höheren Grades, war nur ein Schritt. Leibniz hat dem Problem während seiner ganzen Pariser Zeit, später mit seinem jungen Freund Tschirnhaus, die eingehendste Arbeit gewidmet. Naturgemäß umsonst; hat doch erst 1827 der junge Abel den Beweis erbracht, daß eine allgemeine Lösung der Gleichungen oberhalb des fünften Grades unmöglich ist. Fruchtbarer, ja von entscheidender Bedeutung sollten Leibnizens schon in Mainz begonnene Studien über höhere arithmetische Reihen werden. In ihnen, n i c h t in physikalischen oder ihm noch fernliegenden höheren geometrischen Problemstellungen vcrdichtet sich zunächst Leibnizens Arbeit an Begriff und Analysis des U n e n d l i c h e n , wie sie durch Cavalieris Methode der Indivisibeln eingeleitet war. Ein höchst merkwürdiger Briefentwurf an den Abbé Gallois vom Dezember 1672, „Accessio ad Arithmeticam Infiniti" betitelt, ist dessen Zeuge. Darin rechnet Leibniz ,,die Wissenschaft vom Kleinsten und Größten oder vom Unteilbaren und Unendlichen unter die wichtigsten Beweismittel, durch die sich der Menschengcist die Unkörpcrlichkeit zuerkennt" — auch das Problem des Uncndlichcn steht für Leibniz im Zeichen der philosophischen Erörterung des Geistbegriffs. An Archimedcs knüpft die neue Geometrie des Unendlichen bei Galilei und Cavalieri, die Arithmetik des Unendlichen bei Wallis an. „Schon die Alten — heißt es — haben für einige Fälle die Summenwerte unendlicher

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3. Paris 1672—1676

reziproker (umgekehrter) Zahlenreihen gekannt." Leibniz bildet die ersten, zweiten und höheren Differenzenreihen für einige einfachere arithmetische und harmonische Reihen und führt für dieselben die Symbole d, d2, d s . . . ein. Sie sind der noch unscheinbare Keim der späteren Symbolsprache der Infinitesimalrechnung. Aus den Differenzenreihen leitet Leibniz eine allgemeine Summenformel ab, die ihm erlaubt, auch die Summen höherer unendlicher Reihen sofort zu berechnen. Seinem Lehrer Huyghens kann Leibniz mit der Formel imponieren; doch als er seine Entdeckung bei einer Gesellschaft im Hause Boyles in London dem Mathematiker Pell mitteilt, erfährt er zu seiner Bestürzung, daß ihm der Franzose Mouton zuvorgekommen sei und sein Landsmann, der Holsteiner Mercator, die Summierung unendlicher Reihen schon seit langem zur Berechnung von Rotationskörpern benutze. Dies unliebsame Erlebnis ist für Leibniz der erste Anlaß geworden, sich eingehend mit den neuen Methoden der höhereni Geometrie zu beschäftigen. Auf Huyghens' Rat studiert er eifrig Pascal und Gregory und macht sich erst jetzt mit Descartes' analytischer Geometrie vertraut. In dem jahrzehntelangen Prioritätsstreit, den die Anhänger Newtons seit 1690 gegen Leibniz1 vom Zaune brachen, hat der Vorwurf eine entscheidende Rolle gespielt, Leibniz habe erst von seinem Aufenthalt in London an sich mit höheren Reihenentwicklungen beschäftigt, wo er durch Newtons Freund Collins Kenntnis von Newtons Fluxionsrechnung erhalten habe. Den Grundgedanken dieser Methode hat Newton bekanntlich schon vor 1669 gefaßt. In der Abhandlung ,,Analysis per aequationes", die allein schon durch die erstmalige Entwicklung des binomischen Lehrsatzes und der sogenannten Newtonschen Interpolationsmethode Unsterblichkeit beansprucht, gibt der .englische Meister auch ein Verfahren zur Quadratur der Kurven an, nach welchem die Fläche einer Kurve durch Fortbewegung einer Linie erzeugt und berechnet wird. Er prägt hiefür den Begriff der ,,Fluxion", aus der das Fluens berechnet wird (und um-

Entwicklung des Infinitesimalkalküls

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gekehrt). Er kann mit seiner Methode die Potenzen von Polynomen differentiieren (wie wir heute sagen würden), doch nur von Fall zu Fall und vermittels umständlicher Entwicklungen. In seiner Verteidigungsschrift von 1715 legt Leibniz besonderen Nachdruck darauf, daß er Collins, der damals Newtons Abhandlung in Verwahrung hatte, in London nicht angetroffen habe. Und wenn dies selbst der Fall gewesen wäre, so hätte er niemals die erforderlichen geometrischen Kenntnisse besessen, um die Abhandlung zu verstehen. Er sei zu den Begriffen des Differentials und Integrals auf arithmetischem Wege bei der Analysis höherer Reihen geführt worden und habe sie erst nachträglich auf geometrische Probleme angewandt. Die Auffindung der ,,Accessio" vom Dezember 1672 bestätigt seine Darstellung einwandfrei. Er hat aber auch — wie er ebenfalls mit Recht hervorhebt — die geometrischen Arbeiten der Engländer, vor allem Barrows, nicht gekannt, als er nach der Rückkehr von London sein Studium Pascals und Dcscartes' begann. Das bezeugt die neuerliche Durcharbeitung seiner Manuskripte. Bei Pascal, n i c h t (wie englisch-amerikanische Forscher neuerdings behaupteten) bei dem Engländer Barrow, lernt Leibniz erstmals an einem Spezialfall die Verwendung eines unendlich k l e i n e n Dreiecks, dessen Hypotenuse ein (une n d l i c h k l e i n e s ) Kurvcnstück bildet, kennen. Pascal hatte die Ähnlichkeit e i n e s s o l c h e n Dreiecks mit e n d l i c h e n Dreie c k e n z u m B e w e i s e i n e s Archimedischen Satzes über die Kuoeloberflächc v e r w a n d t . E i n e b l i t z a r t i g e Ahnung tauchte in L e i b n i z a u f : D i e s e Dreiecke w a r e n f ü r die Ausmessung ( Q u a d r a t u r , K o m p l a n a t i o n ) von Kurvenilächen und Kurvcns t i i e k e n h e r v o r r a g e n d v e r w e r t b a r . Kr wendet sofort dies „ c h a r a k t e r i s t i s c h e D r e i e c k " in a l l e n n u r d e n k b a r e n A b w a n d l u n g e n — K o m b i n a t i o n e n ! — d e r Lage u n d der Bez i e h u n g e n zu b e s t i m m t e n e n d l i c h e n Dreiecken auf eine Fülle v o n O u a d r a t u r a u f . g a b c n mit E r f o l g an. Fast zweihundert M a n u s k n n i l ' l ä r t c r h a t e r in g a n z k u r z e r Z e i t damit gefüllt u n d e i n e M e n g e n e u e r spezieller S ä t z e abgeleitet, die er 6

Iiiiber, Leibniz

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3. Paris 1672—1676

freilich später zum großen Teil bei seinen Vorgängern, bei Pascal, Huyghens, Gregory und endlich Barrow wiederfand. DaTin allein wäre noch nichts wesentlich Neues gelegen. Doch mit der Verallgemeinerungsfähijgfceit des Genies geht Leibniz aufs Ganze. Schon im August 1673 gelingen ihm Entdeckungen, deren volle Tragweite er selbst vorerst nur zu ahnen vermag. In einem Rausche künstlerischer Begeisterung arbeitet er sich in Neuland vor. Ein Manuskript von grundlegender Bedeutung 1 spricht schon die Einsicht aus, daß alle nicht mit rationalen Mitteln lösbaren Kurvenaufgaben auf zwei Grundaufgaben zurückzuführen seien: die Summierung benachbarter unendlich kleiner FlächenStücke und die Bildung unendlich kleiner Differenzen — der Kernansatz der Integral- und Differentialrechnung ist durch eine geniale! Verallgemeinerung gefunden. Im gleichen Manuskript wendet Leibniz die neue Methode des charakteristischen Dreiecks auf die gefürchteten Tangemtenprobleme, zuvörderst das „umgekehrte Tamgentenproblem" an, an welchem Descartes 1 Kunst gescheitert war. Er formuliert erstmals den Begriff der „Funktion", wenn auch noch nicht ganz in dem später von ihm selbst und Bernoulli erarbeiteten Sinn dieses Grundbegriffs der heutigen Mathematik. Doch im sicheren Bewußtsein der Neuheit seines Gedankens überschreibt er sein Manuskript nachträglich „ M e t h o d u s t a n g e n t i u m i n v e r s a s e u d e functionibus". Schlag auf Schlag gelingen ihm die glücklichsten Verallgemeinerungen. Im Gegensatz zu Descartes ist seine Lösung des Tangentenproblems auf jede beliebige Funktion und damit auf a l l e Kurven anwendbar. Damit entfällt für Leibniz erstmals die unmögliche Scheidung Descartes' zwischen algebraischen und „mechanischen" Kurven, welch letztere zwar in der Wirklichkeit vorkämen, aber nicht mehr algebraisch zu bewältigen seien. Diese die rationalen algebraischen Methoden „übersteigenden" Kurven nennt er „transzendente" Kurven. In einer „Algebra der Transzen-

Infinitesimalrechnung. Leibniz und Newton

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denten" sieht er den Höhepunkt mathematischer Entwicklung. Sie ist erst die wahre „Analysis des Unendlichen". Im Zuge seiner genialen Forschungen gelangt er noch 1673 zur Aufstellung der sogenannten „Taylorschen Reihenentwicklung" — vierzig Jahre vor dem Engländer, dessen Ableitung nachweislich an Leibnizsche Gedanken anknüpft. So umfassend und von innen heraus steckt er das ganze Gebiet künftiger Infinitesimalrechnung im Umriß ab. Ohne diese tiefbohrende Aufbereitung des neuen Gebiets wäre sein Algorithmus der Infinitesimalrechnung, in dem man heute noch gerne Leibnizens einzige originale Leistung erblickt, gar nicht möglich gewesen! Die Manuskripte der Jahre 1672—1675 erweisen somit unwiderleglich, daß Leibniz nicht nur den Algorithmus, sondern gerade auch die Grundfragestellungen und Grundmethoden der Infinitesimalrechnung sich in Paris lediglich in Erweiterung Pascalscher Gedanken selbständig erarbeitet hat, ohne jede Anleihe bei den englischen Mathematikern des Newtonkreises, auch nicht bei Barrow. Damit ist der Kernpunkt der englischen Angriffe gegen Leibniz, von dem Prioritätsstreit der Neunzigerjahre angefangen bis zu den heutigen Einschränkungen bei Child und anderen angelsächsischen Mathematikern, widerlegt. Es steht fest, daß Leibniz und Newton, auf denselben Arbeiten ihrer Vorgänger aufbauend, völlig unabhängig voneinander ihre beiden allgemeinen Methoden eines Infinitesimalkalküls entwickelt haben. Unleugbar ist Leibnizens Kalkül der Newtonschen Fluxionsrechnung methodisch überlegen; von ihm, nicht von dem Engländer, ist die glänzend rasche Entwicklung der Mathematik des Unendlichen in der Folgezeit ausgegangen. Doch ebenso sicher gebührt Newton der Anspruch auf die zeitliche Priorität seiner Methode. Der Unterschied, ja fast möchte man sagen, Gegensatz der beiden Methoden ist für die Struktur des mathematischen Denkens bei Leibniz und Newton typisch.* Es ist nicht der Unterschied zwischen dem Analytiker und Synthetiker, den Leibniz selbst außerordentlich früh — in den Siebziger6*

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3. Paris 1672—1676

jähren —

als einen der wichtigsten Strukturunterschiede im

mathematischen Schaffen erkannt hat. Leibniz wie Newton sind gerade in der eigenartigen Verbindung analytischen und synthetischen Denkens irgendwie

genial. Doch der Engländer

im l e t z t e n

schauung und

damit

immer

haftet

an einer unmittelbaren

am spezielleren Fall.

methode haftet so charakteristisch

An-

Die Fluxions-

am Bild der Bewegung

und damit am Gcomctrischen im weitesten Sinne.

Leibniz

dringt auf die höchstmögliche Verallgemeinerung, Verbegrifflichung;

die Anschaulichkeit

verlegt

er

in

das

Symbol.

Newton ist in einem bestimmten Sinne „Intuitionist", W o r t in seiner gewöhnlichen Bedeutung als

das

Anschauungs-

typus genommen; Leibniz ist der Typus des „Symbolisten". Und so konnte auch nur Leibniz seinen Algorithmus des Unendlichen

als

„Spezialfall"

einer

allerallgemeinsten

Zeichensprache fassen —

der

nach deren Gesetzlichkeit

er in engem Anschluß an seine

größte

mathematische

Characteristica

Entdeckung

neu

universalis,

zu

forschen

beginnt. D e n Briefwechsel mit Oldenbourg hatte Leibniz nach seiner Ernennung

zum

Mitglied

der

Royal

Society

jäh

unter-

brochen. E r s t Ende 1 6 7 4 , also im Vollbesitz seiner neuen Erkenntnisse,

macht

er Oldenbourg

die

erste

Mitteilung

über seine Kreisreihe. Oldenbourg verweist darauf, daß die Engländer, Collins und Gregory, ähnliche Reihen

besäßen,

und nun beginnt ein mißtrauisches Feilschen um den A u s tausch. Newton wird erst im M ä r z bourg sendet, auf A n f r a g e

1 6 7 5 genannt. Olden-

einige seiner Reihen,

auf

die

Leibniz zunächst kaum eingeht. E r s t im Juni 1 6 7 6 , nachdem Leibniz längst seinen Algorithmus entdeckt hat, kommt e r auf die Anfrage zurück. E r hat durch den dänischen M a t h e m a t i k e r M o h r zwei neue Reihen Newtons erhalten, um deren Beweis er bittet. E r selbst vermeidet deutlich jede Mitteilung seiner Ergebnisse, in Händen

bevor

er das Verfahren der Engländer

hat. Oldenbourgs

wiederholte Mahnung,

seine

Rechenmaschine und seine K r c i s f o r m c l endlich einzusenden, überhört er so lange, bis ihn der Freund bei seiner Ehre

Leibniz und Newton

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als Deutscher packt, an seine Verpflichtung gegenüber der Sozietät erinnert und — Newtons eigenhändigen Bericht über seine Reihenforschungen schickt. Das wirkt. Leibniz ist von dem meisterhaften Brief, in dem Newton seine Reihenentwicklung mit Hilfe des binomischen Satzes an Beispielen schlicht aufzeigt, mit Recht begeistert. „Dein Brief — schreibt er an Oldenbourg — enthält mehr und Bemerkenswerteres zur Analysis als viele Bände . . . " Er bemerkt scharf den Unterschied zwischen seiner und Newtons Methode und rückt nun seinerseits mit einer interessanten Darstellung seiner Quadratur heraus, in der er — unter Vermeidung seines Algorithmus — an Cavalieri anknüpft. Dabei unterläßt er nicht, auf seine Charakteristik als Ausgangspunkt seiner Methode zu verweisen und eine exakte Analysis der mathematischen Axiome zu fordern — ganz der Grundlagenforscher und insoferne Gegenspieler zu dem aus einer viel breiteren mathematischen „Erfahrung" schöpfenden, doch auf die Grundlagenfragen seiner Wissenschaft weniger bedachten Newton. Doch auch Newton spürt in dem jüngeren Partner den Landsmann aus Genieland und ist von Leibnizens Brief entzückt. Leibnizens Methode der Reihenableitung findet er höchst elegant; sie genügte schon, Leibnizens Ingenium ans Licht zu stellen, auch wenn er nichts anderes geschrieben hätte. Und nun geht er in einem prachtvollen Antwortschreiben näher auf seinen mathematischen Entwicklungsgang ein. Von Wallis' ebenfalls auf den Gavalierischen Indivisibeln ruhenden Reihenentwicklungen für Kreis- und Hyperbelinhalt ist er ausgegangen; kurz stellt er den Übergang zu seinen Methoden der näherungsweisen Interpolation dar und deutet, durch ein Anagramm verhüllt, doch am Beispiel seine Fluxionsrechnung an. Dieser Brief vom 24. Oktober 1676 hat Leibniz nicht mehr in Paris erreicht. Er war Ende September nach England aufgebrochen und hatte eine Woche in London verbracht, dabei zum erstenmal mit Newtons Vertrautem Collins gesprochen, natürlich über die in Frage stehenden neuen Rcihenentwick-

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3. Paris 1672—1676

Jungen. B e i d i e s e r G e l e g e n h e i t m u ß L e i b n i z E i n s i c h t in N e w t o n s g r u n d l e g e n d e A b h a n d l u n g v o n 1 6 6 9 g e n o m m e n h a b e n ; ein sehr eingehender Auszug daraus hat sich in seinem Nachlaß gefunden. Newtons Brief erhielt Leibniz erst im Juni 1677 in Hannover. In seiner begeisterten Antwort entwickelt er (im Anschluß an Newtons Kritik von Slusius' Tangentenmethode) die Grundzüge seiner Differentialrechnung u n t e r V e r wendung seines neuen Algorithmus, Diesen Brief hat Newton eigentümlicherweise k e i n e r A n t w o r t m e h r g e w ü r d i g t . Damit endete die erste und einzig gebliebene1, unmittelbare Begegnung der beiden größten Meister des ausgehenden Jahrhunderts. Nach Jahrzehnten sollten sie mit geschlossenem Visier, gegeneinander kämpfen. In dem bedauernswerten Prioritätsstreit, den dreißig Jahre später, nach dem Tode aller beteiligten Zeugen — Oldenbourgs, Wallis', Collins' und Huyghens' — die Anhänger Newtons vom Zaune brachen, hat sich das klare Bild der Entwicklung nicht ohne die Schuld von Newton und Leibniz völlig verschoben. Die beiden Geistesheroen spielen in diesem, zu einer nationalen Angelegenheit sich weitenden Federkrieg durch gegenseitige Verdächtigungen, Verschweigunig; und Entstellung entscheidender Daten eine nicht sehr rühmliche Rolle. Doch haben zum Glück die Prozeßakten des säkularen Streites durch die Auffindung der Pariser Manuskripte, die den Entwicklungsgang von Leibnizens Entdeckung fast Schritt für Schritt verfolgen lassen, ihre Bedeutung völlig eingebüßt. Der Nachdruck der sachlichen Darstellung ist jedoch auf Leibnizens immer wiederholte Behauptung zu legen, daß seine Erfindung des Differentialkalküls nur eine spezielle Anwendung seiner allgemeinen Charakteristik auf die Probleme des Infiniten darstelle. An der Richtigkeit dieser vielfach zu leicht genommenen Behauptung Leibnizens kann sorgfältige Analyse nicht mehr zweifeln. Sie führt uns von selbst zu dem Stand der Entwicklung zurück, welche

Characteristica universalis

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die allgemeine Problemstellung einer Characteristica universalis' seit ihrer ersten Umrei&ung in der „Ars combinatoria" genommen hat. Die Idee einer wissenschaftlichen wie praktischen U n i v e r s a I s p r a c h e war eine Lieblingsidee der baulustigen Barockzeit. Leibnizens Arbeit daran stellt sich in einen umfassenderen Rahmen. In der Universalsprache erhoffte man „die wahre Sprache der Vernunft". Vorwiegend praktische Ziele verfolgte das primitive und mechanische Verfahren eines Athanasius K i r c h e r und des begabten Mainzer Alchimisten B e c h e r , ein Lexikon der am häufigsten vorkommenden Ausdrücke durchzunumerieren und die gleichen Termini in der lateinischen und in vier bis fünf lebenden! Sprachen mit denselben Nummern zu versehen. Es ist die Idee, die etwa heute unseren telegraphischen Koden zugrunde liegt Leibnizens Universalsprache will dementgegen wie schon diejenige des Raimund Lullus die Sprache der Begriffe selbst sein. S i e s e t z t e i n e l o g i s c h e O r d n u n g d e r elementaren, nicht weiter zerlegbaren Beg r i f f e v o r a u s ; ja sie setzt in einer ausgesprochen „monadologischen" Auffassung vom Wasen der Begriffe als selbstverständlich voraus, daß es überhaupt solche Begriffe geben muß. W e n n es diese gibt, und wenn dann jeder Elementarbegriff mit einem einfachen Zeichen „ausgedrückt" wird, so ergeben sich freilich alle weiteren Begriffe und Sätze als Kombinationen der Grundzeichen bzw. Grundbegriffe. Die Arbeit an der Universalsprache geht von selbst1 in die Arbeit a n d e r k a t e g o r i a l e n A n a l y s e u n s e r e r G r u n d b e g r i f f e über. Als eine solche hatte sich vor Leibniz der Engländer Dalgarno in seiner „Ars signorum" von 1661 mit großer Klarheit die Aufgiabe der Universalsprache gestellt. Dessen einfaches KategoriensYStem von 17 Klassen hat dann der Bischof Wilkins aus dem Kreis der Londoner Sozietät erweitert, doch nicht verbessert. Hingegen lernt Leibniz 1671 in beiden Arbeiten eine einfache Methode kennen, die Zeichensprache in eine aussprechbare Lautsprache umzuwandeln. Tieferen An-

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3. Paris 1672—1676

Sprüchen konnten freilich auch diese Versuche nicht genügen. Für Leibniz verbindet sich in Paris unter dem Einfluß von Hobbes und erst recht von Descartes das Problem der Universalsprache mit dem Problem der „wahren Methode" in der Philosophie. In demselben Entwurf zur „Analysis Infinitorum", der Leibnizens mathematische Studien um 1672 in helles Licht rückt, bringt er auch ¡dies Problem in zunächst Hobbesschem Sinne zur Sprache. In das System einer strengen Philosophie darf kein Satz aufgenommen werden, der nicht aus den Sinnen sich bewahrheitet oder logisch bewiesen ist — mit Ausnahme der Definitionen. Denn letztere hält er in ausdrücklichem Anschluß an Galilei und Hobbes noch für willkürlich. Er bestreitet nur die Hobbessche These, daß darum auch alle Wahrheiten willkürlich seien, da sie von den Definitionen abhängen. Dies trifft schon für Hobbes eigenen, Descartes entgegengehaltenen Satz, daß ich mich im Empfinden als empfindend (und darum auch als seiend) erfasse, nicht zu. Dann aber kommen ihm mitten in der Gedankenführung neue Bedenken — er bricht den Entwurf ab und versucht eine bessere Formulierung: Nicht nur alle experimentell und durch Beobachtung gewonnenen Wahrheiten sind, jeder Willkür entzogen, sondern ebenso alle Wahrheiten, „die aus der klaren und deutlichen Vorstellung oder richtiger Vergegenwärtigung eines Gegenstandes gewonnen sind". Descartes hat über Hobbes' Empirismus und Konventionalismus gesiegt! Das ist — Ende 1672! — eine entscheidende Wendung. Erst in Paris hat Leibniz begonnen, wie Descartes' Geometrie, so auch die erkenntnistheoretische Prinzipienlehre des großen Franzosen ernstlich zu studieren; freilich um sich fast sogleich kritisch eingehend mit ihm auseinanderzusetzen. Dies bezeugt lehrreich Leibnizens eigenartige Lösung des Problems der A u ß e n w e l t e r k e n n t n i s aus dem Jahre 1675, die erste große und bleibende Leistung des Erkenntnistheoretikers Leibniz. Mit ihr tritt

Erkenntnistheorie : Außenwelterkenntnis

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neben Descartes zum erstenmal M a l e b r a n c h e flüchtig in den Gesichtskreis der Leibnizschen Philosophie. Mit dem frommen Oratorianerpater hatte Leibniz — wie mit Mariotte — heftige Dispute über den Raum- und Körperbegriff, die uns an anderer Stelle beschäftigen. 1674 war Malebranches „Recherche de la vérité" erschienen; seine scharfsinnige Kritik an manchen Grundlehren Descartes', so auch an seiner Lehre über die Erkennbarkeit einer Welt außerhalb unseres Bewußtseins, hatte in den Pariser Gelehrtenkreisen 'größtes Aufsehen erregt. Wie Arnauld von feartesianischem Standpunkt aus, so hatte der Kanonikus von Dijon, Simon F ou e h e r , als Vertreter der neuen französischen, auf Montaigne und Charron fußenden Skepsis das Werk scharf kritisiert. In der brieflichen Auseinandersetzung mit ihm entwickelt Leibniz 1 6 7 5 seine eigene Auffassung, eine Weiterdeutung des Descartesschen „Cogito sum". Auch für Leibniz ist dieser Satz die Grundlage all unserer Erfahrungserkenntnis, aber er ist keine „ewige Wahrheit", sondern s e l b s t die e l e m e n t a r s t e all u n s e r e r E r f a h r u n g en. Im Bewußtsein unserer selbst liegt aber nicht nur, daß i c h bewußt bin, sondern daß ich ein Bewußtsein von einer Mannigfaltigkeit von Dingen, m a n n i g f a l t i g ; b e s t i m m t e B e w u ß t s e i n s i n h a l t e habe, deren Ursprung ich im Begriff meiner selbst niemals finde. Sie -weisen auf etwas außer mir. Doch das allein würde niemals genügen, die Realität einer Welt außer mir darzutun. Descartes' Zweifels argument, daß wir all diese Inhalte nur träumen, könnte immer noch zu Rccht bestehen. Da tritt uns eine Erfahrung entgegen, die schon Heraklit dahin formulierte: Im Traum hat jeder seine eigene Welt, wachend haben wir alle dieselbe Welt. Was heißt dies? Der „zureichende Grund" der Mannigfaltigkeit unserer Gedanken liegt nicht in uns. Aber wir haben in dieser Mannigfaltigkeit auch eine' eigenartige Ordnung entdeckt, die uns weitgehend Zukünftiges voraussagen läßt. Diese ordnungsmäßige Verbindung unserer Vorstellungen, die wir im Traum nicht kennen, muß einen konstanten Grund haben. Es muß ein von

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uns unabhängiges Ordnungsgefüge unserer Vorstellungen existieren — wir finden es nach und nach in den sogenannten Naturgesetzen —, und diese Ordnung gewährleistet uns die Existenz von Dingen außer dem eigenen Bewußtsein nicht nur, sondern in einer dauernden gesetzmäßigen Verknüpfung untereinander und mit unserem Bewußtsein. Diese Theorie bedeutet einen klassischen Fortschritt. Leibniz braucht sich nicht mehr aiuf die „Wahrhaftigkeit Gottes" zu berufen, wodurch Descartes die Erkenntnis einer Außenwelt um uns in höchst fraglicher Weise an den Begriff und die Erkenntnis Gottes als des vollkommensten Wesens gebunden hatte. Descartes hat immer „zuviel gezweifelt und umgekehrt seine berechtig,ten Zweifel zu früh abgebrochen". So in der Frage nach der Existenz einer Außenwelt, so und in noch viel charakteristischerer Weise in der Frage nach der Existenz eines allmächtigen obersten Wesens, der Frage der Gottesbeweise. Wir erinnern uns, daß Leibniz schon 1666 in der „Ars combinatoria" einen Gottesbeweis versucht hatte, der ihm bald nicht mehr genügte. In Paris hat er sich mit den Gottesbeweisen in Descartes' berühmten „Meditationen" eingehend auseinandergesetzt, freilich um sie ebenfalls als unzureichend abzulehnen. Klassisch ist wieder sein — von seinen kartesianischen Gegnern in der Folgezeit nie verstandener — Einwand gegen Descartes' Erneuerung des sogenannten „ontoloigischen Gottesbeweises", der von Anselm von Canterbury stammt. Dieser Beweis geht bekanntlich von der Idee eines „vollkommensten Wesens" aus. Zur höchsten Vollkommenheit eines Wesens gehört auch, daß dies Wesen Dasein hat, existiert. Also folgt schon aus dem Begriff eines vollkommensten Wesens, daß es existieren m u ß . Soll der Beweis zwingend sein, so muß nach Leibniz erst bewiesen werden, daß Existenz eine Vollkommenheit ist, und daß weiter der Begriff eines vollkommensten Wesens keinen Widerspruch in sich schließt, also l o g i s c h m ö g l i c h i s t. Diese Analyse führt Leibniz erst später, in Han-

Ontologischer Gottesbeweis. Ethik

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nover, 1677, im Streit mit seinem Freund Tschirnhaais und vor allem dem Kartesianer Eckhardt schrittweise durch. Wie wichtig sie ihm ist, geht daraus hervor, daß die erste systematische Darstellung seiner Metaphysik, die „Metaphysische Abhandlung" von 1686, mit einer tiefgründigen Analyse des Begriffs „vollkommenstes Wesen" anhebt. Es ist tief charakteristisch, daß Leibniz Descartes' Prinzipienlehre nur für ganz kurze Zeit sich zu eigen macht, um sie sofort in seinem Sinn wesentlich umzubilden. Er ist nie in einem strengen Sinne Kartesianer gewesen. Ein gleiches gilt, vielleicht in verstärktem Maße, für die Weiterbildung seiner ethischen Anschauungen in Paris. Auch hier ist zunächst ein plötzlicher Einbrach von Descartes' Gedankenwelt zu bemerken. Die Skizze „De vita beata" ist im wesentlichen eine freie Bearbeitung von Descartes' Ethik, die sogar noch den ontologischen Gottesbeweis und die Berufung auf die Wahrhaftigkeit Gottes sklavisch übernimmt Das stoische Ideal der „tranquillitas animi", die pessimistische Abwertung des Lebens als einer „Comedi" sind ganz unleibnizisch. Und die; Hauptsache: Es fehlt der Zentralbegriff der Liebe, von dem der Schüler Spees in Mainz ausging. An ihre Stelle ist die echt französische „générosité" getreten. Es ist ein Ideal der geistigen „noblesse", die nichts tut, was der Mann der Masse (,,le moindre homme de la lie du peuple") an gleicher Stelle tun würde. Die „gloire" ist ihr Ziel, ,,l'honneur" ihr einziger Wertmaßstab. Mit feinstem Einfühlungsvermögen hat Leibniz den Geist jenes Paris Ludwigs „des Großen", des Paris Boileaus, Racines und der großen, französischen Tragödie in sich aufgesogen. Gerechtigkeit nennt er jetzt — es klingt wie ein Hieb auf den König — „die Seele der Generosität". Aber das will zur alten Definition als „Caritas sapientis" nicht mehr recht passen. Nur äußerlich harmonisiert er, es bleibt der Widerspruch, ja der Kampf zwischen dem heroisch antikisierenden Ideal der „générosité" und dem christlichen Liebesideal, den

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kein Ausgleichsversuch überwindet. Descartes ist hierin k o n sequenter. Noch bedeutsamer ist f ü r Leibnizens ethische Anschauungen eine zweite Spannung, und sie ist fruchtbarer: die Spannung zwischen der Weisheit als rationalem Prinzip der Leitung der Affekte und der Liebe, die Leibniz in ihrer ganzen Irrationalität erkennt. Sie ist ein „ich weiß nicht was so mir an der sadi gefället", ob es sich um Personen oder Dinge der Natur oder die Annehmlichkeiten der Empfindung handelt — «in gänzlich uninteressiertes Wohlgefallen, dessen tiefere Wurzel, die Erfassung der eigenen und a n derer Vollkommenheit, wir nur dunkel ahnen. Die Musik mit ihren Schwingungen, die Harmonie der Töne, die Schläge auf der Trommel, die Freude an Takt und Rhythmus beim Tanzen wird herangezogen — die religiöse Liebe säkularisiert sich zum ästhetischen Wohlgefallen, Motive von K a n t s ästhetischer Urteilskraft werden vorausgenommen. Die H a r monie im eigenen Innern und im Universum wird auch zu einem Leitbegriff dieser ästhetisch gerichteten Ethik der Vollkommenheit. „ D a r a u s sieht man nun — schließt eines der f ü r den reifenden Leibniz charakteristischsten ethischen Fragmente — wie Glückseligkeit, Lust, Liebe, Vollkommenheit, Wesen, Krafft, freiheit, Übereinstimmung, Ordnung und Schönheit aneinander verbunden, welches von wenigen recht angesehen wird." So bricht auch in der ethischen Problemstellung der Pariser Jahre das im tiefsten Grunde ästhetische Wesen Leibnizscher Weltanschauung sich sieghaft Bahn. Wir spüren eine ästhetisch-religiöse Lebensauffassung noch in ihrer originalen K r a f t und Weihe, gegen deren Vcrflachung in der deutschen Aufklärung ein Kant seine Kritik gerichtet h a t — um doch selbst in der Schönheit ein Symbol der Sittlichkeit zu erfassen. Doch noch ist die schillernde Vielfalt dieses Ringens um sinnvolle Lebensgestaltung nicht erschöpft. Die Lektüre von Boyles merkwürdiger, christlich-mystischer „Diatribe" gegen den naturwissenschaftlichen Atheismus hat in Leibniz — um

Ethik. AnalYsis des Objekts

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1 6 7 5 — die Mainzer Pläne einer „Philosophia de mente" wieder wachgerufen. Die wahre Meditation ist deren Grundlage. Leibniz faßt sie nicht so vorwiegend theoretisch wie Descartes, sondern als praktische, den ganzen Menschen erfassende Frage nach 'dem Lebenssinn iim V o r b l i c k a u f d e n T o d . Pascal, den er eifrig studiert, um dessen Nachlaß er sogar eine kleine Reise in die Auvergne unternimmt, wird ihm Vorbild. In dessen Sinn faßt er sein ganzes Mathematikstudium nur als Vorstufe zur Lebensmeditation. So zeichnet er sich in der „Vita Pacidii". Der Pariser Freund ist höchlich erstaunt, den Mathematiker über dem Studium von theologischer Kontroversienliteratur anzutreffen. Da klärt ihn Pacidius darüber auf, daß sein letztes Sinnen den großen religiösen und metaphysischen Fragen gelte. Er fordert dafür mindestens ein Jahr der mathematischen Vorbereitung — wie Piaton. Dessen „Medeis ageometretos eisito" steht auch für Leibniz über dem Eingangstor Zur Metaphysik. So wird begreiflich, daß sich in den ethischen Entwürfen der Pariser Jahre eine weitere grundlegende Umbildung von Descartes' Methodenlehre vollzieht. Dessen „Regeln zur Leitung des Geistes" hat Leibniz —• wie andere Werke Descartes' — noch bei Clerselier im Manuskript einsehen können und sich teilweise abgeschrieben. Er übernimmt sie ursprünglich sklavisch, um bald — das Manuskript ,,De la sagesse" bezeichnet die Wende — eine entscheidende Kritik vom Standpunkt seiner universalen Charakteristik daran zu üben. Was nützt die Vorschrift, alle Probleme zu zerteilen, vom Einfachsten zum Schwierigeren aufzusteigen, in der Aufzählung Vollständigkeit zu beobachten, wenn nicht a m O b j e k t , am Forschungsgegenstand selbst die Strukturen offenbar werden, nach denen allein geteilt, geordnet, eine erschöpfende Aufzählung vorgenommen werden kann. Das eben leistet die Analysis der Universalcharakteristik und als deren logische Grundlage die Definition der Elcmcntargcgcnständc. Notwendigerweise muß sich Leibniz über das logische Wesen der Definition, über den Sinn von „Wahrheit eines Satzes", über die Kriterien von Klarheit

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und Deutlichkeit Rechenschaft vom Standpunkt einer o b j e k t i v e n A n a l y s i S aus geben, die Descartes seiner Meinung nach immer versäumt. Dies .gilt wie für die theoretischen Fragen etwa der Grundlegung der Mathematik, so für die ihn zutiefst bewegenden Fragen der Lebensgestaltung. Für Leibniz ist die Universalcharakteristik — und wir dürfen vorausnehmen, die mathematisch exakte Gestaltung einer Logik als Grundwissenschaft — nicht eine isolierte logisch-mathematische Spekulation, als welche sie in der heutigen Logistik so manchmal erscheinen möchte. Er kann die ihn bewegenden Lebensfragen nicht lösen, ohne sich in der Universalcharakteristik das logische Instrument für deren Beherrschung verschafft zu haben. — Drängend weisen die vielfältigen Denkansätze der Pariser Jahre auf die große Systematik hin, die Leibniz nach seiner Rückkehr in die Heimat in breitestem Umfang in Angriff nehmen sollte — die Heimat, zu der er — man darf wohl sagen —; nahezu alle Beziehungen wissenschaftlicher wie persönlicher Art abgebrochen hatte. Leibniz ist in Paris ein anderer geworden; der Denkstil seines Arbeitens hat sich —für immer — gewandelt. An Stelle des intellektuellen Draufgängers, der mindestens jedes Jahr ein neues mehr oder weniger durchgearbeitetes literarisches Produkt auf den Markt wirft, entwickelt sich in den Pariser Jahren ein fast verhängnisvolles Eigenleben in Manuskripten, die nie der vollen Druckreife gewürdigt werden. Kann man begreifen, daß Leibniz seinen Beweis der Kardanischen Formel, seine Quadratura Circuli, seinen neuen Infinitcsimalkalkül nicht veröffentlichte, daß er sorgfältig ausgereifte Gedankengänge wie seine Lösung des Außcnweltproblems in Briefen verzettelt? Nur dann, wenn man eben nicht die literarische Produktion als solche, sondern die lebendige Wirkung seiner Gedanken von Fall zu Fall auf den Einzelnen von Gewicht als das eigentliche Ziel seines Mühens ansieht. Noch ist Leibnizens intensive Arbeit in Paris ganz nachj innen, auf die eigene mathematisch-philosophische Vervollkommnung gerichtet. Er l e r n t in einem höchsten Sinn. Dort, wo er

Geistige Entwicklung in Paris

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längst etwas zu sagen, zu l e h r e n hat, prüft er erst vorsichtig in mündlicher und brieflicher Fühlungnahme die Wirkung. Was nicht zu wirken verspricht, bleibt unerbittlich im Schreibtisch vergraben. So lebt der Denker mehr und mehr ein Eigenleben n e b e n dem Leben für die anderen; seine genialste Produktivität ergießt sich in dies Eigenleben, dem Leibnizens geistige Umwelt sich nicht verstehend einund unterzuordnen vermag, da er seiner Zeit voraus ist. Der Schwerpunkt von Leibnizens Pariser Jahren liegt ganz in der inneren, geistigen Entwicklung im Schöße der Weltstadt, der stürmischen zum Mathematiker von Weltrang, der bedächtigeren und nicht gleich einheitlichen philosophischen, die freilich wichtige Punkte der kommenden Systembildung erstmals anklingen läßt. Demgegenüber besagen die äußeren Geschiehnisse seit der folgenreichen Londoner Reise wenig. Das Verhältnis zu seinem] jungen Zögling und zum Hause Boineburg mußte sich bald lockern und lösen. Leibniz hatte kerngesunde erzieherische Grundsätze. Doch so wenig wie der junge Fichte war er zum schmiegsamen Hofmeister geboren. Und er ward mit der altprotestantisch strengen, ja freudlosen Erziehungsmethode des Elternhauses dem hochbegabten jungen Adeligen nicht Herr. Wohl hat er verhindern können, daß Boineburg in einem der sittenlosen Pariser adeligen Erziehungsinstitute unterging. Doch der tägliche Studiengang, vom frühesten Morgen bis zum späten Abend mit Lektionen ausgefüllt, die abendliche gemeinsame Lektüre des trockenen Grotius und anderer den kommenden Staatsmann bildender Literatur, das ewige ,,Visitcmachen", für Leibniz der politischen Routine letzter Schluß, war dem nach ,,Fatigucn des Leibes" dürstenden, seine Körperkräfte froh fühlenden jungen Menschen verhaßt. Köstlich wittert der aller Körperertüchtigung ziemlich fremde Gelehrte die beginnende Verführung durch die Altersgenossen. „Die wahren Fatiguen — donnert er laut in einem Briefe an die Mutter mit Fichteschem Pathos — sein Hunger und Durst, Frost und Hitze leiden, im harten Winter Schildwach stehen, etliche Tage nacheinander zu Fuß marschieren,

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wenn das Pferd unterm Leibe erschossen; dieses aber lerne sich in Akademien nicht, sondern in Campagnen und weiten Reisen 2 ." D i e Antwort der Boineburgschen Verwandten war freilich die frostige Entlassung, über die sich Leibniz unter A u f zählung seiner Verdienste bitter beklagt. Er hat nicht ahnen können, daß der Jüngling mehr, als zu erwarten stand, bei ihm gelernt hatte, ein prächtiger Mensch und, gefeierter Staatsmann wurde und als der „große Boineburg" in die Geschichte von Kurmainz eingegangen ist. A l s erster kurmainzischer Minister und Statthalter von Erfurt ist er mit Leibniz zeitlebens in freundschaftlichem Briefwechsel geblieben. D e r E r z i e h u n g s s o r g e n ledig, lebt Leibniz von A n f a n g 1 6 7 4 ab s e i n e n Studien, soweit es die vielfachen j u r i s t i s c h e n A r beiten f ü r deutsche wie f r a n z ö s i s c h e F r e u n d e u n d hochgestellte Persönlichkeiten, mit denen er s e i n e n U n t e r h a l t bestreitet, zulassen. Als begehrter F a c h m a n n vorzüglich für Ehcscheidungsprozesse h a t er neben seinem s t e t s steigenden wissenschaftlichen A n s e h e n allmählich zu den höchsten K r e i s e n Zugang. D i e Herzöge von R o a n n e z u n d Chevreuse, der l e t z t e r e der Schwiegersohn C o l b c r t s , z ä h l t er zu seinen F r e u n d e n , e r k e n n t den P r i n z e n C o n d e und v e r k e h r t bei Colbcrt, den er bewundert. Als f ä h i g e r Schüler dieses Finanzgcnics, als deutscher D i p l o m a t und merkantilistischer V o l k s w i r t s c h a f t l e r s i e h t er sich in dem F r a n k r e i c h Colbcrts mit erstaunlichem S a c h v e r s t ä n d n i s um. Er geht zu den H a n d w e r k e r n und M e c h a n i k e r n und lernt ihnen wichtige Kniffe ab, er s t u d i e r t die reichen M a n u f a k t u r e n , die Scidcnzucht, G a l a n terien, Teppichwebereien und p r ü f t die Aussichten f ü r deren Verpflanzung in die H e i m a t . Kurz, er t r e i b t — wie wir h e u t e sagen würden — ausgedehnte fachmännische W e r k s p i o n a g e und bietet seine Dienare darin durch seinen G ö n n e r , den schwedischcn R e s i d e n t e n H a b b e u s , deutschen und s k a n d i navischen H ö f e n an. Seine in P a r i s gesammelten rcichen wirtschaftlichen E r f a h r u n g e n s i n d der A u s g a n g s p u n k t f ü r eine R e i h e detaillierter Vorschläge geworden, durch die er

Leben in Paris

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später das Wirtschaftsleben Hannovers, Preußens, des Rußlands Peters des Großen zu heben gedachte. In dem Paris Ludwigs XIV. hat sich Leibniz sichtlich wohl gefühlt. Freilich vermissen wir seine näheren Eindrücke aus der Weltstadt. Ernst hat er sich um 1675 mit 'dem Gedanken getragen, sich durch Kauf einer Beamtenstelle ganz dort anzusiedeln, und auf unsicheren Fürstendienst ganz zu verzichten; er hat in diesem Vorhaben auch seine Leipziger Verwandten um ein kleines Darlehen angegangen •— doch ohne Erfolg. In aus kleinlicher Beschränktheit und Bosheit seltsam gemischten Briefen zeiht ihn der eigene Stiefbruder der Vaterlandslosigkeit und des Glaubensverrates. In der Tat finden sich im Pariser Nachlaß Papiere, die Leibniz mit dem Gedanken des Übertritts zur römischen Kirche spielen — oder ringen? — lassen. Aber auch andere Aufzeichnungen, in denen er sich mit seltener Klarheit seiner deutschen Aufgabe bewußt weiß. Seinem mit Zähigkeit verfolgten Ziel, die Mitgliedschaft der französischen Akademie zu erringen, legen sich uns unbekannte Schwierigkeiten in den Weg. Die konfessionellen allein dürften es nicht gewesen sein — auch Huyghens und Olaf Römer waren Reformierte — , viel eher die Abneigung der französischen Mitglieder gegen die Zuwahl weiterer Ausländer. Als jedoch 1676 Carcavy starb, war man im Freundeskreis nur einer Meinung, daß allein Leibniz für eine Nachfolge in Frage käme; auch die Zustimmung Colberts schien gesichert. Nur Leibniz hatte sich eben zu dem folgenschwersten Schritt seines Lebens entschieden. Er war der seit 1673 immer wiederholten dringenden Einladung des Herzogs Johann Friedrich von Braunschwcig-Lüncburg, als Bibliothekar an seinen Hof in Hannover zu kommen, nach jahrelangem Zögern endlich gefolgt und hatte angenommen. Einen vorgefaßten Plan, der ihm richtig däuchte, vergaß ein Leibniz im Leben nie. So hat er unmittelbar nach der Londoner Reise, nachdem durch den Tod des Kurfürsten die letzten Beziehungen zur Kurmainz gelöst waren, dem Herzog Johann Friedrich in dunklen Andeutungen Mitteilungen von 7

Huber, Leibniz

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der „Staatsinvention" gemacht, neben der „nächst Erfindung des fabelhaften Lapidis Philosophorum einem solchen Potentaten, als der König von Frankreich ist, nichts Importanteres" könne vorgetragen werden. — Er hoffte allen Ernstes, seinen Ägyptischen Plan noch durch diesen besonderen Freund und Verehrer des Franzosenkönigs durchsetzen zu können. Doch statt auf den Plan mit einem Worte einzugehen, lud ihn der Herzog als ehrlicher Bewunderer seiner außerordentlichen Fähigkeiten mit einem Gehalt von 600 Reichstalern und dem Ratstitel an seinen Hof. Damals konnte er noch ausweichen; der erneuten Einladung im Jahra 1675 glaubte er sich nicht verschließen zu dürfen. Im Vollbewußtsein seiner Leistung stellte er hohe Forderungen, so die Ernennung zum Geheimen Rat. Die durch über ein Jahr, bis Mai 1676, sich hinziehenden Verhandlungen, die zuletzt von dem herzoglichen Kammerdiener Kahm, einem alten vertrauten Faktotum aus der Mainzer Zeit geführt wurden, konnten Leibniz darüber aufklären, daß er in Hannover nicht alles zum besten finden werde. Aber er hatte endlich sein Wort gegeben. — Bevor er von seinem geliebten Paris scheiden muß, kostet er nach Jahren intensiver Arbeit noch ein wenig die Freuden der Weltstadt — ein Kapitel, das er kaum je anschlägt. Wohl hat er, jedenfalls mit seinem jungen Zögling, die Pariser Theater besucht, hat Molière noch spielen sehen, dessen köstliche Zeichnung damaliger Schulmedizin bei Leibniz noch deutlich nachklingt. Doch zum Schilderer des Teichen künstlerischen Lebens, das sich vor seinen Augen in Paris des Louis Quatorze entfaltete, hat er sich nie hergegeben. Im Gegenteil scheint die nahende Rückkehr in die Heimat Kräfte anderer Art in ihm wachzurufen — Kräfte des Neuaufbaues, der Sammlung seiner so zerstreuten Tätigkeit zum philosophisch geschlossenen Ganzen. Schicksalhaft meldet sich in diesem Augenblick der Lebenswende Piaton. Mit innerer Ergriffenheit liest Leibniz in dem Abschiedsjahr von

Zusage an Hannover. Zweiter Besuch in London

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Paris die Spätdialoge. Von Tfoeätet und Phädon fertigt er sieb auszughafte Übersetzungen. Die Kunst des Platonischen Dialogs berührt ihn tief in ihrer unnachahmlichen Lebendigkeit. Mit unleugbarer Kongenialität wendet er sich in den kommenden Jahren der Dialogform zu. Paris verläßt Leibniz im Herbst 1676 klanglos, wie er gekommen. In Briefen an den Abbé Gallois aus den folgenden Jahren spüren wir noch deutlich den Entschluß, den ihn der Abschied gekostet hat. Wie schon erwähnt, nimmt er den Rückweg in die Heimat zunächst über London, um mit Oldenbourg wieder alte freundschaftliche Beziehungen aufzufrischen, und sicher auch, um dem Newtonkreis endlich persönlich näherzutreten. Über den achttägigen Aufenthalt in London hüllt sich freilich der späte Leibniz in tiefes Schweigen. Daß er dort zum erstenmal Collins gesehen und in Newtons berühmtes Manuskript Einblick genommen hat, erfahren und erschließen wir ja erst aus dem genannten Brief Collins' an Newton und Leibnizens Auszügen. Vielleicht hat er auch bei diesem zweiten Besuche in London bei Oldenbourg und Boyle nochmals die Sprache auf die große Idee der Universalsprache gebracht, die ihn — nach langem Schweigen darüber — zu Ende des Pariser Aufenthalts wieder neu beschäftigt. Vom Mai 1676 datiert nämlich eine merkwürdige Skizze3, in der er lebensfreudig die Erkenntnisse, deren Früchte uns noch bei Lebzeiten in den Schoß fallen, allem späten Ruhm und aller Jenseitsfreude vorzieht und die großen Probleme der Enzyklopädie und Ars characteristica in neuem Aufriß miteinander verbindet, deren systematische Bewältigung die logische Arbeit der ersten Hannoveraner Jahre bilden sollte. In scharfer Trennung zwischen Vernunft- und Tatsachenerkenntnissen, welch letztere gewissermaßen vom „Zufall" abhängen und sich dem forschenden Experiment nicht immer darbieten, betont er hier nachdrücklich die grundlegende Bedeutung der Charakteristik und Universalsprache auch für die Tatsachenwissenschaften der Physik, Chemie und Medizin, kurz: für die Erkenntnis der Innenstruktur der Körperwelt. Und wieder 7*

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knüpft er an die Forderung der umfassenden Enzyklopädie die Idee eines säkularisierten Ordens, der mit der Sorge für die Religion die Sorge um unser zeitliches Glück verbände; gibt es doch keinen wahreren Gottesdienst und Gotteshymnus als die experimentelle oder demonstrative Entschleierung jedes einzelnen Kunstgriffs der Natur. — Auf der in Paris erreichten Stufe einer ungleich tieferen, ja eigentlich erst dem modernen Stand der Wissenschaft entsprechenden und ihn weiterführenden Ausgestaltung des mathematisch-naturwissenschaftlichen Weltbildes greift Leibniz, als ob nicht Jahre ernstesten Einzelstudiums dazwischenlägen, an der Schwelle zu einem neuen Lebensabschnitt unmittelbar auf die logisch-methodologischen Probleme der Mainzer Jahre zurück. — Von London war Leibniz anfangs Oktober 1676 zur Heimreise aufgebrochen. Widrige Winde hielten jedoch sein Schiff mehrere Tage lang in der Themsemündung fest. Auf dem kleinen Schiff, nur in Gesellschaft von Matrosen, überdenkt er — wie er später (1677) an den Abbé Gallois berichtet 4 — neuerdings das Problem der Universalsprache, die nicht die Worte, sondern die Gedanken ,,malen" müßte. Hätten wir sie, so wie er sie im Kopfe weiß, so wären in Metaphysik und Moral ebenso strenge Beweisführungen möglich wie in Mathematik und Geometrie. Descartes' Regeln, so schön sie sind, nützen nichts ohne ein Mittel, sie zu befolgen — eben eine allgemeine Zeichensprache. In einem Bilde, das an Hegels herbe Kritik Kants erinnert, urteilt er Descartes' Methodcnlehre ab: ein Metzger, der das Fleisch tranchiert, muß erst die Fasern kennen, sonst zerreißt er das Stück, statt es zu schneiden (s. u. S. 135). Die Kartesianer haben auf der Grundlage von Descartcs' Methodenlehre keine neuen Entdeckungen gcmacht. „Die wahre Methode muß uns einen A r i a d n e f a d e n an die Hand geben, das heißt, ein sinnliches und grobes Mittel, das den Geist führt, so wie die Hilfslinien der geometrischen Konstruktion und die formalen Regeln des Kalküls, die man dem Mathematikanfänger

Universalsprache. Holland: Biologie

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beibringt. Ohne solche Hilfe schweift unser Geist auf Umwegen . . . " Mit solchen Gedanken füllt Leibniz die unfreiwillige Muße an Albions Strand. Er plant eine Metaphysik und Moral, die sehr sichere und wichtige Sätze liefern könnte, bei der das Für und Wider in Form einer Bilanz aufgestellt und Wahrscheinlichkeiten für die eine und andere These errechnet werden könnten.1 Aber zu alledem bildet die allgemeine Charakteristik den Schlüssel. Nicht weniger als eine exakte strenge Grundlegung der Metaphysik und Geisteswissenschaften also schwebt Leibniz als wichtigste Aufgabe vor, wie er im Begriff ist, den Fuß wieder auf deutschen Boden zu setzen. Er hat ein philosophisches Programm — doch bevor er es ausführt, nutzt der ewig Lernbegierige noch die Möglichkeiten neuer Anregung, die ihm die Reise durch Holland verspricht. In Amsterdam finden wir ihn anfangs November bei dem Mathematiker H u d d e n . Er ist einer der zwölf Räte der Stadt, vor kurzem Bürgermeister, jetzt Schatzmeister und mit Arbeit überhäuft. Er hat Slusius' Tangentenmethode und Mercators 1 Quadratur der Hyperbel schon 1662 gekannt. Seine eigene Methode ist umfassender als die des Slusius. Ganz andere Interessen verfolgt Leibnizens Bcsuch bei dem berühmten Zoologen L e c u w e n h o e k . Daß er sich für biologische Probleme interessierte, konnte in Paris nur aus der regen Anteilnahme an Oldenbourgs Berichten über zoologische, botanische und biologische Neuerscheinungen, vor allem an den Arbeiten des Italieners M a l p i g h i erschlossen werden. Das wissenschaftliche Hauptwerk des großen Italieners, der mit den Holländern Lecuwenhoek und Swammerdam als Begründer der modernen Biologie angesehen werden muß, hatte die Royal Society 1671 im Druck herausgebracht. Leibniz konnte die „Anatome plantarum" in einem von Oldenbourg für die Pariser Freunde gestifteten Exemplar des kostbaren Werks einsehen. In dem noch viel berühmter gewordenen Anhang zu dem Werk untersuchte Malpighi erstmals die Keimentwicklung im bebrüteten Hühnerei.

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Leeuwenhoek hatte seinerseits 1672 mit Hilfe des Mikroskops die Wunderwelt der Mikroorganismen im Wassertropfen entdeckt; etwas später war Swammerdam durch mikroskopische Analyse die Entdeckung der Spermatozoen (männlichen Samentiere) beim Menschen gelungen — alles Leistungen von höchster Tragweite, die erst eine wissenschaftlich ertragreiche Analyse der elementaren Lebensvorgänge einleiteten und auf den um ein Verständnis des Lebens ringenden Philosophen den nachhaltigsten Eindruck machten. Wie mußte sich beim Besuche Leeuwenhoeks, beim ersten Einblick durch die; von dem eigenbrötlerischen Gelehrten neidisch behütete Mikroskopanordnung in die neue mikroorganische Welt das Erlebnis der umwälzenden Entdeckungen vertiefen! Leibniz wäre nicht Aristoteliker gewesen, hätten die neuen Einblicke in die Geheimnisse des Lebens nicht bleibende Spuren in seiner philosophischen Systematik hinterlassen. Greifbar freilich werden auch diese Spuren erst viele Jahre später, andeutend bei der ersten großen Systemkonzeption von 1686. Doch der Besuch bei Leeuwenhoek beweist, daß die ersten bestimmenden Einflüsse der jungen Wissenschaft der Biologie auf Leibnizens Denken in die Pariser Jahre fallen. Es ist immer dasselbe Bild in dieser eigenartigen Denkerentwicklung. Die grundlegenden Gedanken des Systems sind frühe konzipiert; sie machen jedoch eine außergewöhnlich lange Inkubationszeit durch, bis sie als tragende Elemente der Systembildung wirksam und faßbar nach außen treten. Doch auch den französischen Mystiker Poiret hat Leibniz in Holland kennengelernt. In anscheinend seltsamen Kontrasten bewegt sich der geistige Ertrag dieser Reise. Poiret hat Leibniz auf die Schriften der großen spanischen Mystikerin, der heiligen Therese, aufmerksam gemacht. Konnte Leibniz ahnen, daß' er gerade ihren Schriften „den schönen Gedanken" entnehmen sollte, die Seele müsse die Dinge so ansehen, als ob nur Gott und sie selbst in der Welt existierten? was auch eine beachtenswerte Reflexion in der Philosophie ergibt — bemerkt er 1696 dem Eng-

Besuch bei Spinoza 5

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länder Morell .gegenüber —, die ich nützlich, in einer meiner Hypothesen verwendet habe". Es ist freilich eine der Grundhypothesen seines monadologischen Systems geworden. Die eigentümlichste Begegnung auf dem freien Boden Hollands und fraglos eine Begegnung von welthistorischem Aspekt bildet endlich Leibnizens Besuch bei dem einsamen S p i n o z a im Haag, wenige Monate vor dessen im Februar 1677 erfolgtem Tod. Der Freund Tschirnhaus hatte ihm die Begegnung ermöglicht und war sein Begleiter. Legendenumwoben von einer spinozabegeisterten deutschen Philosophenhistorie, und darum auch immer zu Ungunsten Leibnizens dargestellt, bietet die Begegnung bei genauer Befragung der vorhandenen Quellen ein sehr viel anderes Bild von erschreckender Nüchternheit. Der bedürfnislose, einsame Denker der Legende, der sich durch Glasschleifen seinen kargen Unterhalt und damit die Freiheit des Denkens sichert, lebt von recht anständigen Pensionen seiner vielen Freunde, als Mittelpunkt eines das ganze gebildete Europa wie ein Netz umspannenden wissenschaftlichen und noch viel mehr kulturpolitischen Nachrichtendienstes, durch den sich Spinoza über alle Ereignisse von irgendwelcher Bedeutung auf dem laufenden erhält. Er ist die Seele einer leidenschaftlich antichristlich gerichteten Aufklärungsbewegung, die denn auch mit dem Frankreich Ludwigs XIV. und seiner jesuitischen Ratgeber sehr bald in Konflikt gerät. Nicht Parteimißgunst, sondern Wahrheitsfanatismus muß dies Bild des wahren Spinoza einmal sorglich nachzeichnen. Schon 1668 hatte sich Leibniz, wie oben S. 68 kurz erwähnt, an Spinoza gewandt mit einer verlorengegangenen kleinen Abhandlung „Notitiae Opticae promotae", die den Vorschlag machte, die Randstrahlen zur Vergrößerung der Helligkeit und des Blickfelds auszunutzen. Er sandte zwei Exemplare der Hypothesis nova für Spinoza und Hudden mit. Spinoza antwortet gemessen freundlich; er billigt die Idee, falls die Verzerrung des Objekts vermieden werden kann, und schickt seinen „Tractatus theologo-politicus" als Dank. In einem

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Brief an Boineburg fällt der junge Leibniz 1670 über dies Werk einen nicht nur scharfsinnigen, sondern hämisch zersetzenden Bibelkritik ein vernichtendes Urteil — was bei dem jugendlichen „Defensor fidei" nicht anders zu erwarten war. Er nennt es in einem Atem mit Jean Bodins Religionsgespräch „Colloquium Heptaplomeres" und bezeichnet es als „unerträglich freches Buch" (Iibellum intolerabiliter licentiosum), dem man die Druckerlaubnis entziehen sollte. Mit dem sicheren historischen Instinkt, dem wir bei Leibniz immer wieder begegnen, führt er Spinozas Methode und noch mehr Geist der Bibelkritik auf Hobbes' „Lcviathan" zurück, den er ebenfalls aufs schärfste ablehnt — bei aller Bewunderung für Hobbes' Analyse des Menschen wie des Staates. Im Verkehr mit Oldenbourg —• einem der begeistertsten Korrespondenten Spinozas — und Tschirnhaus mag sich seine Stellungnahme zu Spinoza freundlicher erwartend gestaltet haben. Aber kein Zweifel kann mehr darüber walten, daß die persönliche Begegnung der beiden Denker zum glatten Bruch führte. Mit Spinoza hat Leibniz im November 1676 tagelang über philosophische Fragen diskutiert. Wenn er dies später in Abrede stellte, so wird er durch seine eigenen brieflichen Aussagen widerlegt6. Fürs erste erkundigte sich Leibniz bei dem Philosophen nach den näheren Umständen des Märtyrertodes seines Freundes, des Arztes van den Ende, der in Paris den eifernden Jesuiten in die Hände geraten war. Im weiteren Verlauf des Gesprächs legte er Spinoza die kurz zuvor entworfene Skizze eines eigenen Gottesbeweises „Quod Ens Perfectissimum existit" vor, in dem wir leicht die erste grundsätzliche Korrektur von Descartes' ontologischem Beweis wiedererkennen7. Daß für Leibniz die Frage der Gottesbeweise im Mittelpunkt der Unterredung stand, nimmt uns nicht wunder. Hat er doch schon 1670 dem Theologen Spitzel gegenüber betont, daß man "bei der Widerlegung der Einwände gegen die christliche Religion zuallererst die Wahrheiten der natürlichen Religion, nämlich das Dasein eines allmächtigen und allwissenden Gottes

Spinoza

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und die Unsterblichkeit der Seele beweisen müsse. Dann ergebe sich ans der Vernunft, daß Gott nur die wahre Religion geoffenbart haben könne. Wie Spinoza diesen Leibnizschen Gottesbeweis aufgenommen hat, wissen wir nicht direkt. Jedenfalls will er mit Leibniz „nichts mehr zu tun haben, bevor er nicht weiß, was der Mann in Frankreich treibt" (Brief an Schullerus Ende 1676). Leibniz hat seinen Beweis im November 1676 schriftlich nachgesandt, wogegen der Arzt Schullerus ihm auf seine Bitte unterm 6. Februar 1677 den bekannten Beweis aus Spinozas Ethik übermittelt, daß es nur e i n e Substanz geben kann. Zugleich teilt er ihm die Nachricht vom bevorstehenden Ende Spinozas mit. Leibniz ist davon nicht tiefer berührt. Noch im Januar 1677 hat er sich gegenüber seinem Herzog über einen Brief Spinozas an den holländischen Konvertiten van der Burg in Florenz, der den Denker hatte bekehren wollen, denkbar scharf ausgesprochen. Spinoza löse alle Religion in Moral auf. Auch äußert er sich empört darüber, daß Spinoza die katholische Religion kurzerhand mit der jüdischen zusammenwerfe. Das sind Zeugnisse, welche die neuerlich entstandene tiefe Kluft zwischen Leibnizens und Spinozas Denken eindeutig dartun. Mit eisiger Kälte gibt Leibniz die ihm am 11. Februar von Schullcrus eingegangene Nachricht von Spinozas Tode einige Monate später an den Abbe Gallois weiter: «Spinoza est mort cet hiver. Il a une étrange métaphysique, pleine de contradictions 8 .» Und einige Zeilen später fügt er bei, daß Spinoza wahrhaftig kein Beweiskünstlcr sei. Ein Blick auf die wichtigen Annotationen, die sich Leibniz 1678 zu der von Schullerus im Druck übersandten Ethik Spinozas gemacht hat, bestätigt sofort, daß Leibniz sich durch das streng geometrische Gewand Spinozascher Beweise keinen Augenblick verblüffen ließ. Mit der ihm eigenen, am Studium der Mathematik erwachsenen logischen Akribie seziert er Definition um Definition des ersten Buches so unerbittlich wie Jahrzehnte später die klassischen Definitionen der Euklidischen „Prota". Das Ergebnis ist, daß Spinoza aus ver-

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3. Paris 1672—1676

worrenen Begriffen verworrene und einander oft genug widersprechende Schlüsse -zieht. Wohl hat Leibniz mit seiner mathematischen Analyse den eigenartigen, fast mystischen Duft, der über Spinozas Entwicklungen lagert und so viele gefangennahm, so gut wie restlos zerstört. Aber ihm bleibt das Verdienst, als erster und in klassischer Durcharbeitung auf das logisch Gefährliche Spinozistischer Beweiskunst mit Nachdruck den Finger gelegt zu haben 9 . Die „Ethik" hatte Leibniz schon bei dem Besuche Spinozas im Manuskript eingesehen. Schullerus bot ihm das Manuskript um die für damalige Verhältnisse sehr hohe Summe von 150 Goldflorinen an, zog das Angebot jedoch bald wieder zurück, da — wie er unter dem Siegel der Verschwiegenheit berichtet — die Freunde die Herausgabe der Werke der „Ethik" und der „Fragmente" — vorbereiteten. Er legte» ein Verzeichnis von Büchern — „ R a r i a " — bei, die Leibniz aus Spinozas Handbibliothek käuflich erwerben könne. Dies Verzeichnis wirft freilich auf die geistigen Ansprüche Spinozas und seines Kreises ein recht merkwürdiges Licht: Außer des Averroes' „Argumenten für die Ewigkeit der Welt" ist nur italienische und französische Pamphletenund Schmutzliteratur der niedersten Sorte aufgeführt, darunter eines Anonymus „Verkehr der Heiligen untereinander" und der Traktat des zum Islam übergetretenen Mönchs Abbeville „Über die staatliche Autorität in Kirchensachen und die Gründe seines Glaubenswechsels". Aus solch trüben Quellen hat ein Spinoza Material zu seinem theologisch-politischen Traktat geschöpft? — Von Leibnizens Hand findet sich denn auch am Rand des Verzeichnisses mehrfach ein entrüstetes „pessimum opus" vermerkt 10 .

4. KAPITEL

Hannover

1676—1689

Mit der Rückkehr in die Heimat verschieben sich die bisherigen Proportionen Leibnizschen Lebensstils. Der in wenige Jahre zusammengedrängten Entwicklung zum Juristen, Politiker, Philosophen in Leipzig und Mainz, dem nicht minder stürmischen Aufstieg zum Mathematiker von Weltrang in Paris folgt in der Enge der kleinen, doch glänzenden niederdeutschen Residenz eine vierzigjährige Periode der Konsolidierung des gewonnenen Systems, der Ausbreitung seiner Wirkung nach allen Seiten, seines Verfolgens in alle Einzelwissenschaften, des langsamen, durch wenig scharfe Abschnitte gezeichneten Abklingens dieses umfassenden Denkerlebens. Eine ruhige Entfaltung der in dem Denker angelegten Kräfte möchte man erwarten; sie ist dem Rastlosen nicht beschieden gewesen. Für den Feuergeist, der formend, bessernd, aufbauend) in das Weltgetriebe eingreifen wollte, bot die norddeutsche Kleinstadt auf die Dauer nicht die notwendigen Formate des Wirkens. Aus dem Gegensatz zwischen der Größe des Planens und den enggezogenen Grenzen des Verwirklichens und Erreichens entwickeln sich mit unentrinnbarer Notwendigkeit die Konfliktstoffe, die dies Leben auf der Höhe seiner geistigen Reife erst recht zu einem kämpferischen gestalten sollten. Im Dezember 1676 war Leibniz in Hannover eingetroffen. Schon die Sicherung der ihm angebotenen Stellung, des Ranges unter den ordentlichen Hofräten des Herzogs, des Gehalts von 600 Gulden, das er freilich im Lauf weniger Jahre klug auf 900 Gulden zu steigern wußte, mußte er sich in endlosen Eingaben erkämpfen. Es zeigte sich, daß der Herzog die Widerstände seines Beamtenapparates gegen den unbequemen Außenseiter nicht mit einem Federstrich zu überwinden vermochte. Nur langsam gewann der neue Hof-

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4. Hannover 1676—1689

rat die Anerkennung seiner Kollegen und unmittelbaren Vorgesetzten. D i e Akten lassen Leibnizens Stellung} am Hofe von Anfang an wesentlich ungünstiger erscheinen als freundliche Geschichtsschreibung wollte. Er war durch den Herzog persönlich gehalten und hatte jederzeit Zutritt zu ihm; er war mehr Freund und Gesellschafter als Beamter, wenn er auch zumindest in den ersten Jahren als Mitglied des obersten Gerichtshofs Akten bearbeitete, so war ihm doch eingeräumt, von den Sitzungen fernzubleiben, wenn wichtige eigene Arbeiten es erforderten. „Wahrlich, ich möchte nicht dazu verurteilt sein — schreibt er 1679 an Conring — diesen Sisyphusfelsen der Geschäfte am Gerichtshofe einzig und allein zu wälzen, und wenn mir die größten Schätze und die höchsten Ehren verheißen wären." Der Herzog tritt uns in einer blendenden Charakteristik eines französischen Diplomaten am Braunschweiger Hof in Celle, des Marquis d'Acy, leibhaft entgegen: «Le duc Jean Frédéric était d'une taille fort grosse et fort embarassante. Il avait beaucoup d'honneur, de gloire, de sagesse, de savoir et d'habilité, et prenait soin de toutes ses affaires; mais (il était) d'un esprit fin, réservé, défiant, peu décisif, ce qui empêchait qu'on put aisément conclure avec l u i . . » Mit einem solchen Charakter mußte Leibniz innerlich harmonieren; man begreift, was die beiden zueinander zog. Im fast täglichen, vertrauteren Umgang mit dem Herzog fand Leibniz Ersatz für die reichcn, vielfältigen Anregungen, die ihm das Paris Ludwigs XIV. geboten hatte. Er überhäuft den fürstlichen Gönner mit Anträgen und Anregungen aller Art. Aus fliegenden Billetts, durch den unentbehrlichen Kammerdiener Kahm vermittelt, ersehen wir, daß der Herzog, soweit es in seinen Kräften stand, auf die immer gehaltvollen, weitblickenden Vorschläge seines gelehrten Mentors einging. Die umfassende Erweiterung der herzoglichen Bibliothek ist Leibnizens Werk. Wertvolle Büchereien wie die des Dr. Fogel in Hamburg werden erworben; eifrig, doch vergebens müht sich Leibniz um den Nachlaß des bedeutenden Naturforschers

Reformvorschläge für den Staatshaushalt

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Joachim Jungius, den er als Logiker weit über Descartes stellt. Leibniz legt den Grund zu einer Münz- und Mineraliensammlung; sogar eine FossiLiensammlung aus dem Harz soll der lebendigen Anschauung dienen. Er sorgt, zugleich den etwas dilettantischen Interessen des Herzogs schmeichelnd, dafür, die neuesten naturwissenschaftlichen Entdeckungen und Erfindungen am Hofe vorzuführen. Die Entdeckung des Phosphors durch den Hamburger Brandt verfolgt er mit größtem Eifer und verschafft dem um die Frucht seiner Mühen Betrogenen eine herzogliche Pension. Umgekehrt entlarvt er den genialen Phantasten Becher als alchimistischen Betrüger; das ändert freilich nichts an seiner vollen Anerkennung dieses Vorkämpfers des Merkantilismus in Deutschland, dem er grundlegende volkswirtschaftliche Einsichten verdankt. Gerade die Staats Wissenschaft und Staats- und Volkswirtschaft stehen im Mittelpunkt seiner großzügigen, durchaus modernen Vorschläge. Von großartiger Geschlossenheit sind seine Archivpläne: Ein Zentral- oder Landesarchiv, dessen Leitung er erstrebt, soll alle öffentlichen und privaten, weltlichen und (ehemals) geistlichen Archive in seinen Katalogen erfassen. Die restlose Sicherstellung alles sachlich und historisch wichtigen Aktenmaterials ist ihm oberste Forderung. Schon hier kündigt sich der exakte historische Quellenforschcr an, der in Frankreich, im Kreis der Benediktiner um Mabillon historische Quellenarbeit schätzen gelernt hat. Verwaltungstechnische Vorschläge, zum Teil ins einzelnste ausgearbeitet, reihen sich an, von der Forderung vorgedruckter Formulare in allen Kanzleien zur Zeit- und Arbeitsersparnis bis zu den detaillierten Plänen einer politischen Statistik, in denen sich Leibniz als> Schüler der Engländer unter Sir William Petty erweist. Es gibt kein Gebiet des Staatshaushaltes, zu dem der neue Bibliothekar und Hofrat nicht seinem Fürsten und weiterhin dessen viel verständnisloseren Nachfolgern gegründete Vorschläge unterbreitet hätte. Uns fesselt daran das Grandsätzliche, die Idee einer streng rationalen Staats- und Volks-

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Wirtschaft auf kombinatorischer Grundlage, die Leibniz in dem kleinen niederdeutschen Staatswesen in vollem Umfang zur Durchführung bringen möchte. Die „Staatstafeln" — Vorgänger der bekannten Quarthefte, die Friedrich der Große stets bei sich trug — sind; deren charakteristischster Ausdruck. Sie dürfen keine Deutungen, keine irgendwie gefärbten Berichte enthalten, nur nackte Tatsachen, statistische Daten größten Umfangs, auf das unmittelbar Notwendige konzentriert. Der kombinatorische Gedanke, der diese Daten verbindet, der aus ihnen schließend neue Maßnahmen trifft, das ist eben die politische Leistung des „selbstregierenden Fürsten". Nirgendwo ist die Regierungskunst so unmittelbar auf wissenschaftliche Grundlagen gestellt worden, so als Ausfluß einer „politischen Kombinatorik" gedacht worden wie von Leibniz. Sie ist die umfassende Wissenschaft; die politische Arithmetik der Engländer, dieser neue Wissenszweig der angewandten Wahrscheinlichkeitsrechnung, mit dem sich Leibniz in diesen Jahren auch literarisch beschäftigt hat, ist für ihn gana im gleichen Sinn nur Ausschnitt aus der politischen Kombinatorik, wie überhaupt die Arithmetik für ihn einen Teil der Mathesis universalis darstellt. Die politisch-diplomatische Arbeit, die Leibniz am Weifenhof erwartete, war von anderer Art als in dem geistig und politisch führenden Kurmainz unter Schönborn und Berneburg. Von dem großen Zug übergreifender deutscher Reformideen ist hier nichts zu spüren. Leibnizens Tätigkeit blieb in die engen Grenzen der Wirkung für einen Fürstenhof gebannt, dessen einziges politisches Ziel die Stärkung und Vergrößerung seiner Hausmacht bildete. Zudem war Johann Friedrich, ein zielbewußter Regent im Innern, außenpolitisch dem Einfluß LudwigsXIV. gänzlich verfallen, ein schwächlicher Nachahmer des Sonnenkönigs ohne vaterländische Haltung, die man einem Schönborn unbedingt zubilligen mußte. Daß Leibniz in den wirklichen Gang der Staatsgeschäfte nirgends unmittelbar einzugreifen hatte, war sein Verhängnis. Er hatte seine staatsrechtlichen Kenntnisse, seine geschliffene publizistische Feder der Politik des Hauses zur

Politische Kombinatorik. Publizistik: „Caesarinns Fuerstenensis" 111

Verfügung zu stellen. Das war alles, was man von ihm verlangte. Kein Wunder, wenn zwischen dem Hofmann und dem Volksmann, dem Vertreter privater Haus anspräche und. dem begeisterten Vorkämpfer für eine einheitliche Reichspolitik sich mancher bedenkliche Zwiespalt ergab. DeT erste größere politische Auftrag, der Leibniz von dem französisch gesinnten Herzog zuteil wurde, war publizistischer Natur und heikel genug. Er sollte in einer umfassenden Schrift für das von den drei weifischen Herzögen bei den Friedensverhandlungen in Nymwegen beanspruchte Recht der selbständigen Gesandten mit vollem Rang eintreten. Die Weifen hatten schon 1675 den Geheimen Rat Valentin von Schütz mit der Wahrung ihrer Interessen beauftragt. Er hatte jedoch von dem französischen Gesandten wie dem kaiserlichen Gesandten Stratmann eine derbe Abfuhr einstecken müssen. Nicht anders war der König von England verfahren, als die Herzöge sich brieflich persönlich an ihn gewandt hatten. Unter Leibnizens Händen aber gestaltete sich die verlangte publizistische Gelegenheitsarbeit zu einer Staatsschrift von entscheidendem Gewicht, die seinen Ruhm als politischer Schriftsteller begründen sollte. Er nutzt in diesem „Gaesarinus Fuerstenensis" von 1677 die Gelegenheit, um das staatsrechtliche Verhältnis von Kaiser, Kurfürsten und Fürsten zueinander im Reichsvcrband tiefschürfend zu erörtern. In den Mittelpunkt der Abhandlung rückt der moderne Begriff der S o u v e r ä n i t ä t , dem Leibniz eine für die Folgezeit richtunggebende Prägung gibt. Den politischen Kernpunkt des scheinbar bagatellenhaften Streites rückt er zu Anfang schonungslos in die richtige Beleuchtung: Frankreich allein hat mit seinen willkürlichen Machinationen der Gewährung und bald wieder Nichtgewährung des Gesandtschaftsrechts an deutsche Fürsten den Zankapfel unter diese geworfen. Mit der Beschränkung des Gesandtschaftsrechts auf Brandenburg wollte es — was ihm ja auch gelang — den Großen Kurfürsten zu sich hinüberziehen; mit der Ausdehnung des Rechts auf alle Kurfürsten, doch Verweigerung den Fürsten

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4. Hannover

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gegenüber suchte es geschickt neuen Streit im Fürstenkollegium zu entfachen, wobei ihm Schweden folgte. Man muß diesen beißenden Angriff auf die französische Ränkepolitik mit Nachdruck hervorkehren. So schreibt; nicht der Höfling eines französischgesinnten Potentaten, sondern ein kernhaft deutscher Mann, der seinem Fürsten selbst die Augen öffnet! Die Frage selbst aber ist für Leibniz keine Interessenfrage, sondern eine Rechtsfrage — freilich des richtig, verstandenen, lebendigen Rechts, nicht veralteter papierener Formeln. D a nun sieht er, entscheidend für die Fragelösung, das Recht, selbständige Gesandte und nicht nur „Abgeordnete" (deputati) zu schicken, als Ausfluß der t a t s ä c h l i c h e n S o u v e r ä n i t ä t des Fürsten an. Die Frage ist für ihn nur, ob ein Fürst tatsächlich souverän sei und was Souveränität in sich schließe. Souveränität ist für Leibniz ein historisch gewordenes, durch Tatsachen geschaffenes Machtverhältnis. Zu ihrem Wesen gehört die Landeshoheit oder bloße Superiorität, das heißt: die Macht, in einem staatlichen Verband seinen Willen, gegebenenfalls mit Waffengewalt, zu erzwingen . . . 2 Mit einer wahren Leidenschaft erfüllt ihn in dieser hoffnungsvollen Zeit die Aufgabe, für das Wohl der Allgemeinheit zu sorgen. ,,Wir müssen alle nur erdenkbaren Anstrengungen machen, zum öffentlichen Wohl irgendwie beizutragen — heißt es in einem mystischen Dialog, den Leibniz vor 1679 schrieb — , denn Gott ist der Herr, ihm gehört das Wohl der Allgemeinheit wie zu eigen." „Keine gute Handlung ohne Lohn, keine schlcchtc ohne Strafe (châtiment), keine Vollkommenheit ohne eine Folge von anderen bis ins Unendliche . . ." Aus dieser tief religiösen, mystischen Einstellung des Schaffens und Wohltuns in und durch die Gottesliebe will die ungeheure Arbeitsfreude und Arbeitslast dieser Jahre verstanden sein. Sie hat nichts mit theoretischem Philanthropismus zu tun, die Vielgeschäftigkcit des Denkers ist keine äußerliche, nicht auf Erfolg berechnet. Leibniz erschöpft sich in der Arbeit für die Menschheit, beginnend beim Nächsten

Arbeit f ü r die Menschheit

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der Umgebung; er sucht in der Forschung nach 'den ewigen Wahrheiten in mystischer Weise Gott selbst. Wunderschön hat er dies Gottsuchen in einem deutschen Fragment zusammengefaßt: „Die Schönheit der Natür ist so gToß und deren Betrachtung hat eine solche Süßigkeit, auch das liedit und die guthe regung, so daraus entstehen, haben so herrlichen Nuzen bereits in diesem leben, daß wer sie gegostet, alle anderen ergötzlichkeiten gering dagegen achtet!" Sich in die Rolle des Nächsten zu versetzen, ist für Leibniz der wahre Punkt der Perspektive nicht nur in der Moral, sondern ganz ebenso in der Politik. Er zeigt uns nicht nur unsere moralischen Pflichten als ebensosehr die Ansicht, die der andere von uns hat. Daß er sich in die Rolle des Beraters einer feindlichen Macht ganz hineindachte, hat Leibniz nach seinem eigenen Geständnis oft erraten lassen, was sich anderswo abspielte. Er hat diese ihm angeborene Fähigkeit meisterhaft ausgebildet; er verdankt ihr geniale Intuitionen nicht nur in der Politik, sondern ganz allgemein in Menschenkenntnis und Menschenbcurteilung. Aber die höchste Bedeutung kommt dem Prinzip doch in der Moral zu. Ganz verwandt mit Kant formuliert er einen praktischen Imperativ: T u e o d e r v e r w e i g e r e n i e f r e i w i l l i g , w a s du v o n e i n e m a n d e r e n dir n i c h t g e t a n o d e r v e r w e i g e r t h a b e n m ö c h t e s t ! Die Versetzung in den Nächsten läßt uns die Konsequenzen der eigenen Handlung näher, wenn auch nicht unter allen Umständen erkennen. Die kulturpolitische Tätigkeit Leibnizens in Hannover hätte allein genügt, das Leben eines arbeitsreichen Menschen auszufüllen. Das Eigenartige bei' Leibniz ist jedoch, daß er die praktischen Planungen dieser Jahre durch eine wissenschaftliche Leistung unterbaut, die in dieser Breite und Universalität in der neueren Wissenschaftsgeschichte ziemlich vereinzelt dasteht. Mit einer Intensität ohnegleichen stürzt er sich in die theoretische Arbeit, welche die praktischen Vorschläge des Aka8

Huber, Leibniz

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demieplans, der wissenschaftlichen Zusammenarbeit zu einer Enzyklopädie des gesamten theoretischen und praktischen Wissens, unterbauen sollte. Die Logik, die Mathematik, die Theorie der Erkenntnis im engeren Sinn und die Metaphysik werden zugleich in tiefschürfenden Grundlagenanalysen untersucht. Die Zahl der Entwürfe ist Legion; bei der Fülle der ihm zuströmenden Ideen laufen ihm auch manchmal fast primitiv zu nennende, ja falsche Aufzeichnungen unter. Er nimmt sich offenbar kaum Zeit, sie genauer durchzudenken; sie tauchen, ohne je wieder gelesen zu werden, in das Meer von Konzepten jeden Formats vom Foliobogen bis zum kleinsten Zettel zurück, in dem der Denker nach und nach selbst die Orientierung verliert. So wiederholen sich -ähnliche Entwürfe zwei- und dreimal; er schreibt sie lieber nochmals nieder, als daß er unter seinen Papieren sucht. Der — oft schwierige — Vergleich zeigt, daß die Gedanken schon wieder gewandelt, teils fortgeschritten, manchmal aber auch verflacht sind. Zuweilen finden sich die genialsten, an konziser Prägung den späteren Ausführungen weit überlegenen Formulierungen wichtiger Systemgedanken auf losen Zetteln. Nur schwer und lückenhaft baut sich daher ein Bild der wahren philosophischen Entwicklung in diesen Jahren auf. Noch in Paris, im Mai 1676, greift Leibniz die alte Idee einer religiösen Gemeinschaft der Gottesfreunde wieder auf. Als Anwalt einer solchen ordensmäßigen Gemeinschaft legt er sich in diesen Jahren gern die Namen Pacidius oderTheophilus bei, in denen er ja auch später in seinen dialogischen Schriften, sogar noch in den Nouveaux Essais von 1703 auftritt. Ein in großen Zügen hingeworfenes Programm, offensichtlich für den Herzog bestimmt, faßt die Grundgedanken neu zusammen: den notwendigen Nutzen aller theoretischen Studien fürs Leben, der dreifältig in die Vervollkommnung, des Geistes, die Pflege (medicina!) des Körpers und die Annehmlichkeiten der Lebenshaltung gesetzt wird; die Dreiteilung all unserer Erkenntnisse in Demonstrationen, Experimente und historische Aussagen; die Notwendigkeit der

Enzyklopädie- und Akademieentwürfe

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Gemeinschaftsarbeit und die Enzyklopädie alles theoretischen und praktischen Wissens als deren Ziel. Besonderen Nachdruck legt der Entwurf — 1676! — auf den Nachweis, daß auch die exakte Analyse der Körperwelt die „Ars characteristica oder Universalsprache" voraussetzt, die in wunderbarer Weise die Geistesoperationen in ein Kompendium zusammenzieht und allein für die Naturwissenschaft das zu leisten vermag, was die Algebra für die mathematische Erkenntnis leistet. Die weiteren praktischen Vorschläge sind in den Entwürfen näher ausgeführt, die Leibniz in den Jahren 1678—1680 zur Gründung einer „Teutschen Gesellschaft" dem Herzog und in etwas anderer Form zur Gründung einer „Kaiserlichen Sozietät" der Wissenschaften dem Kaiser vorlegt. Sie bringen sachlich nichts Neues; charakteristischerweise tritt ein geheimer Lieblingsplan Leibnizens darin immer deutlicher hervor: die Säkularisierung der großen Kulturklöster der Benediktiner und Bernhardiner zu christlichen Liebesgemeinden, die sich dem großen Ziel der auf einer Universalwissenschaft aufgebauten Menschenvervollkommnung widmen. Ganz eindeutig spricht dies ein schöner Entwurf von 1677 aus: unter all den vielen Klostergemeinschaften der Erde ist noch keine einzige allein und ausschließlich auf den Gedanken der L i e b e aufgebaut. Einen besonderen Weg zu seinem Ziele sieht er für die protestantischen Länder in der wenigstens teilweisen Verwendung der reichen ehemaligen Klosterstiftungen und Kirchenpfründen zu Zwecken wissenschaftlicher Gemeinschaftsarbeit. Nicht umsonst sucht er in immer neuen Eingaben vom Herzog das Amt eines Inspizienten über sämtliche geistlichen Güter und Stiftungen zu erlangen., Die „Kaiserliche Sozietät" der Wissenschaften sollte die Naturwissenschaften und deren praktische Anwendungen pflegen und ihre wissenschaftlichen Ergebnisse i n d e u t s c h e r S p r a c h e im Volk verbreiten. Der Vorschlag stellt zugleich schon eine Liste der Gelehrten auf, die in die Gesellschaft aufzunehmen wären. Eine Enzyklopädie 8*

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in deutscher Sprache, streng demonstrativ auf Definitionen, Axiomen, Hypothesen und empirischen! Sätzen aufgebaut, ,sollte die gemeinsame Gelehrtenarbeit krönen. Doch der Wiener Hof scheint sich f ü r das Projekt wenig interessiert zu haben. So wendet sich Leibniz wieder in einem neuen Vorschlag vom Juni 1679 an die gelehrte Welt. Er ist besonders bedeutsam durch den Aufriß der Wissenschaften, den Leibniz darin entwickelt, und der wichtige Grundgedanken späterer Wissenschaftseinteilungen, vor allem der berühmten Einteilung von August C o m t e vorwegnimmt. Leibniz ordnet die Wissenschaften im Sinn einer Entwicklung von den 'abstraktesten Grundwissenschaften zu immer konkreteren Einzelwissenschaften. Eine „rationale Grammatik", mit deren Aufbau er sich 1678 eingehend beschäftigt hat, bildet die methodologische Voraussetzung der Logik. Von dieser Grundwissenschaft aus gliedert sich der Bau der Wissenschaften in folgendem, für> das Verständnis von Leibnizens Einzelarbeiten höchst aufschlußreichem Schema: Grammatica rationalis Logik Mnemonik (Gedächtnislehre) Topik (Ars invemendi) Poiographie (Qualität der Körper) Kombinatorik Logistik (Mathesis univ.) Homiographie (Klassenlehre) Kosmographie Arithmetik Astronomie (Algebra) Physische Geographie Geometrie Meteorologie Mechanik Idographie Botanik Zoologie Science morale (Psychologie) Geopolitik Politische Geographie Geschichte Natürliche Theologie.

Einteilung der Wissenschaften; „Plus ultra". Ars inveniendi

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In mancher Beziehung noch vollendeter ist eine etwas spätere Einteilung, die Leibniz einer projektierten Abhandlung „Plus ultra, sive initia et specimina S c i e n t i a e g e n e r a l i s " zugrunde legt. Dort wird nach der Mechanik, die Physik in ihren Einzeldisziplinen (Optik, Phoronomie, Dynamik, Mechanik) eingeschoben, ebenso zwischen Zoologie und Psychologie die Medizin. In der Gruppe der „Geisteswissenschaften" folgen auf die Politik Wirtschaftswissenschaft, Kriegswissenschaft und Rechtswissenschaft als selbständige Disziplinen. Enger als in der Mainzer Zeit wird der Gedanke der Enzyklopädie mit dem großen Problemkreis der inzwischen weit geförderten Ars inveniendi verknüpft. Das „Neue" des Gedankens besteht darin, daß die Ergebnisse der Forschung darin nicht etwa bloß zusammengestellt, sondern in der Denkreihe ihrer Erforschung entwickelt werden, „so als würden sie eben neu entdeckt". In dieser Ordnung bilden sie eine logisch streng geordnete Reihe, die man zu den unendlichen Reihen der mathematischen Analysis in Analogie setzen -darf. Wie dort aus der Aufstellung der Reihe neue, bisher unbekannte Gesetzmäßigkeiten, so folgen hier allein schon aus der Anordnung neue Zusammenhänge, zu denen sonst nur schwer ein Weg zu finden wäre. Man sieht daraus, wie man weiterzufahren, welche Lücken man noch auszufüllen hat. Diese Ordnung ist n i c h t diejenige der euklidischen Methode, die lediglich die exakteste B e w e i s f ü h r u n g im Auge hat, sondern eine' genetisch-schöpferische Methode. Nur schöpferische Wissenschaftler verfügen über deren D a r stellung; sie allein führen in die geheimen Qucllgründe ihrer großen Entdeckungen. Ein großartiger, methodisch fruchtbarer Gedanke! Leibniz hat ihn in der Darstellung seiner eigenen, besonders seiner mathematischen Leistungen mehrmals zu verwirklichen gesucht, so in seinem Selbstbericht über die Entdeckung der Kreisreihe, der Analysis situs, der Detcrminantcnrechnung

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und ganz besonders seiner Infinitesimalrechnung. Erst die neue Durcharbeitung der Leibnizschen Manuskripte hat erwiesen, daß! Leibniz in der „Historia originis Calculi differentialis" von 1712 tatsächlich in meisterhafter Form die wirkliche Entstehung seiner neuen Operationskalküls zeichnet — die manche aburteilende Mathematiker der Spätzeit nicht verstanden haben! Für die Darstellung der Enzyklopädie verlangt er prägnante Kürze. Anschauungsmaterial in Form von Abbildungen, Schemata, Karten unterstützt die Gedankenentwicklung, doch ist die Förderung der Anschauung von untergeordneter Bedeutung gegenüber der Gewinnung exakter, deutlicher Begriffe! Wir erinnern uns der Darstellungen von Landkartenformat, in denen sich der junge Mainzer Revisionsrat den Zusammenhang der Rechtssätze im Corpus juris graphisch verdeutlichte. Ein eigener Entwurf aus dem Anfang der Siebzigerjähre 3 sieht einen ganzen „Atlas universalis" vor, in dem nach geographischer Methode „die ganze, Enzyklopädie" kompendiös dargestellt wird. Man staunt, was da alles — noch in ziemlichem Durcheinander — mit Hilfe der Kartographie bewältigt werden soll. Den Wert und die Fruchtbarkeit der „kartographischen Methoden" — wie wir heute sagen würden — hat niemand so klar vorausgesehen wie Leibniz. Aber er weiß auch um deren Grenzen und daß sie immer Hilfsmittel ist und nie Selbstzweck werden darf — wie es heute nicht selten in volkskundlichen und Sprachatlanten der Fall ist. „Der höchste Nutzen der Ars combinatoria — heißt es in einem verwandten Manuskript „De arte inveniendi in genere 4 " — ist die Erstellung einer Enzykloplädie." Den Rahmen für eine solche ergibt, wir wissen es, die Einteilung der Wissenschaften. Doch wie hat sie sich in dem Vorschlag von 1679 gegenüber den Mainzer Jahren gewandelt! Die ganze gewaltige Entwicklung des Mathematikers und Physikers Leibniz in den Pariser Jahren liegt dazwischen, sie erzwingt eine tiefgreifende Verlagerung der Aspekte im globus intellectualis des Wissenschaftssystems. Diese voll-

„Plus ultra": Logik als Wissenschaftslehre

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zieht sich gerade in den Jahren von 1679—1682, nachdem Leibniz 1678 zwei weitere mathematische Entdeckungen von größter Bedeutung auf der Grundlage seiner Ars characteristica gelungen sind: die Aufstellung einer Geometrie der Lage — Analysds situs — und die erste Konzeption der Determinantenrechnung. Die neue Enzyklopädie baut sich auf dem Gesamtkomplex der neuen L o g i k im weitesten Sinn auf, zu der sich nunmehr bei Leibniz die Probleme der Characteristica realis und Universalsprache, der Idee eines logischen Kalküls, der mathematischen Grundlagenforschung, endlich der klassischen Logik des Urteils und des Schlusses zusammenordnen. Diese Logik ist W i s s e n s c h a f t s l e h r e , Theorie der Wissenschaften und des wissenschaftlichen Denkens überhaupt: S c i e n t i a g e n e r a l i s . Aus ihr als Gesamtdisziplin lösen sich als erste, elementarste Einzelwissenschaften die mathematischen Disziplinen im engeren Sinn. Aus ihnen entwickelt Leibniz — Comte vorwegnehmend — in einem Prozeß zunehmender Konkretisierung des Gegenstandes die Naturwissenschaften und zuletzt die Geisteswissenschaften. Damit ist eine streng geschlossene Systematik der Wissenschaften gewonnen, die alle wissenschaftstheoretischen Versuche seit Descartes weit hinter sidi läßt und auch in den nächsten hundert Jahren keine Parallele hat. Im Hinblick auf dies groß gefaßte System entwickelt Leibniz die Kerngedanken seiner neuen Logik. Wir skizzieren sie, den Gang der geschichtlichen Erzählung unterbrechend und spätere Entwicklungen, die wir erst aus den ,,Nouveaux Essais" von 1704 kennen, vorausnehmend, als ein geschlossenes Ganzes. Als solches wollte Leibniz seine Wissenschaftslehre in einem viel zu groß angelegten Werk „ P l u s u l t r a , sive initia et specimina S c i e n t i a e g e n e r a l i s " zur Darstellung bringen. Er hat nie die Zeit und Ruhe dazu gefunden. Doch die Inhaltsangabe des Werks 5 — wohl aus dem Anfang der Achtziger jähre —• läßt am deutlichsten die Stellung erkennen, die Leibniz seiner Logik im Rahmen des Wissenschaftssystems gibt.

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Er geht von einer logischen Analyse der Sprache aus 6 — Grammatica universalis — , um von ihr aus die universale Zeichensprache der „Characteristica realis" abzuleiten. Sie ist zugleich eine Rechnungsart, ein logischer „Kalkül". Mit anderen Worten: Die formale Grundlegung der logischen Zeichensprache ist selbst ein Stück Mathematik. Ihr folgt die materiale Grundlegung der „Elemente der ersten Wahrheiten", die eine Analyse des Wahrheitsbegriffs selbst, eine Wahrheitstheorie in sich schließt. Erst auf dieser doppelten Grundlage einer Z e i c h e n - u n d P r i n z i p i e n l e h r e erhebt sich die allgemeine M e t h o d e n l e h r e der Analysis und Synthesis, der Forschungs- und Urteilslehre. Rücken wir zunächst dem Problem der U n i v e r s a l s p r a c h e und des eng damit zusammenhängenden l o g i s c h e n K a l k ü l s näher, wie es sich in den Studien von 1678 und 1679 erstmals bei Leibniz in voller Klarheit herausschält. Mit der bloßen Idee einer kombinatorischen Zeichensprache auf der Grundlage der elementarsten Verstandesbegriffe ist es ja nicht getan. Die Begriffe müssen gefunden, ihre Zeichen aufgestellt, ein System der Kombination der Zeichen muß geschaffen werden. Von der Idee einer solchen Universalsprache gehen logische Forderungen aus, die in jedem darunter fallenden Zeichensystem erfüllt sein müssen. Welches sind diese? Was will — heute wie ehedem! — das Idealgebilde einer „Leibnizsprache"? All diese Fragen werden am leichtesten an der Analyse von Zeichensystemen sichtbar, die — wie Leibniz zu betonen nicht müde wird — nichts anderes als früh entwickelte Teilsysteme der Characteristica universalis darstellen: dem arithmetischen System der Zahl z e i c h e n für bestimmte Zahlen und den „unbestimmten" Zahlzeichen der Algebra, Das Zeichen „ 2 " ist der Zahl Zwei, einem Denkgegenstand, das Zeichen ,,a" einer unbestimmten algebraischen „Größe a " s y m b o l i s c h z u g e o r d n e t . Wo das Zeichen steht, wird der Gegenstand gedacht, wo es mit anderen verbunden erscheint, entspricht die Verbindung der Zeichen e i n e r g e d a n k l i c h e n Verbindung, die einen Zusammenhang zwi-

Universalsprache als Kalkül

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seien den D e n k g e g e n s t ä n d e n ausdrückt. Solche Zeichen f ü r alle elementaren D e n k ig e g e n s t ä n d e , Zeichenoperationen für a l l e m ö g l i c h e n g e d a n k l i c h e n V e r b i n d u n g e n v o n D e n k g e g e n s t ä n d e n schaffen, heißt die Leibnizsche Universalsprache ersinnen. Sie muß in allen ihren Teilsystemen das leisten, was die algebraischen Zeichen für die Welt der quantitativen Elementargegenstände leisten: Die Zeichen müssen eindeutig den elementaren Gegenständen symbolisch zugeordnet sein; ihre Verbindung muß eindeutig einen Zusammenhang zwischen diesen ausdrücken. Aus ¡der Verbindung der Z e i c h e n a l l e i n schon muß — wie in der Rechenprobe — jede fehlerhafte Verbindung durch „Nachrechnen" ausgeschlossen werden können. Einzelne Zeichensysteme, die diesen Forderungen genügen, sind neben dem Zahlsystem und allgemeinen algebraischen Zeichensystem die Zeichensysteme der Infinitesimalrechnung, der Leibnizschen Geometrie der Lage, heute etwa in sehr vollkommener Form auch das Zeichensystem der chemischen Formelsprache. Es ist dadurch besonders instruktiv, daß es keineswegs nur quantitative, sondern in erster Linie qualitative, chemische Zusammenhänge der Verbindung, Trennung und „Lage" von Elementen zueinander ausdrückt. Die Forderung der „Rechenprobe" hat Leibniz — wenn wir recht sehen •— erstmals um 1677 in aller Schärfe erhoben. E r s t m i t i h r g e h t d i e U n i v e rs al s p r a c h e in e i n e n K a l k ü l ü b e r ; und gerade hierin liegt das Trennende, das so völlig Neue der Leibnizschen Universalsprache gegenüber allen vorangegangenen Versuchen. Er allein hat das Problem rein begrifflicher Symbolsprachen in systematischer Tiefe erfaßt. In völliger Verkennung seiner Grundidee hat man Leibniz vorgeworfen, seine Universalsprache sei undurchführbar, weil es völlig einfache Begriffe nicht gebe und überdies die Zahl, unserer Begriffe unendlich sei. Beides trifft — wie die Entwicklung der modernen Logistik zeigt — in keiner Weise zu. Jede exakte Wissenschaft (auf solche beschränkt sich die Idee einer Univcrsalsprache) strebt tatsächlich nach der Herauslösung letzter Elementar-

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begriffe, die sie als mit ihren Mitteln nicht weiter zerlegbar ansieht. Die Anzahl dieser Begriffe muß in jeder solchen Wissenschaft endlich sein. Wo immer eine Wissenschaft über ein exakt faßbares endliches System von „Elementargegenständen" verfügt, ist eine Leibnizsche Symbolsprache durchführbar. Die „Universalsprache", die Leibniz sucht, verwirklicht sich heute in diesen Wissenschaften mit zunehmendem Erfolg in einer ganzen Reihe untereinander verschiedener „Leibnizsprachen", die jeweils den besonderen Verhältnissen des Gegenstandsbereichs, f ü r den sie gelten, angepaßt sind. Doch für alle gelten gleichermaßen die von Leibniz erhobenen Forderungen. Man kann diese Forderungen zweckmäßig in vier Fragestellungen kleiden, die für jede Leibnizsprache beantwortet sein müssen: Welcher Art ist die symbolische Zuordnung zwischen Zeichen und Denkgegenstand? Für welche Elementargegenstände sind Zeichen — an sich willkürlich — einzuführen? Welche möglichen gegenständlichen Kombinationen müssen durch elementare Zeichenoperationen gedeckt werden? Welches sind die formalen Operationsregeln des auf diesen Operationen sich aufbauenden Kalküls? Hingegen muß auf einen auch von Leibniz nicht" mit genügender Klarheit hervorgehobenen Unterschied nachdrücklich verwiesen werden; er macht erst die Sonderstellung des aus seiner Idee der Universalsprache herausgewachsenen Logikkalküls verständlich: Die Zeichen der Mathematik, der Chemie und verwandter Wissenschaften sind Zeichen f ü r begrifflich eindeutig gefaßte G e g e n s t ä n d e ; für Zahlen, Größen, chemische Elemente und deren Verbindungen. Die Zeichen eines allgemeinsten logischen Kalküls hingegen sind Zeichen für B e g r i f f e von Gegenständen. Das Zeichen + oder — meint eine Verbindung, Addition oder Subtrak-

Symbolische Logik

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tdon von Zahlen; also eine sachliche Verbindung. Das Wortzeichen „und" bzw. „oder" im Deutschen oder daß ihm entsprechende allgemeine Zeichen eines logischen Kalküls meint hingegen eine logische Verknüpfung von Begriffen in einem „Satz" oder von Aussagen, Sätzen. Von hier aus wird verständlich, warum Begriffe als Elemente, Sätze als deren Verbindung und dementsprechend Begriffszeichen und Satzzeichen die Gegenstände eines logischen Kalküls ausmachen. Wir verstehen, wie Leibniz unzerlegbare Begriffe mit unzerlegbaren, also Primzahlen, Sätze mit Zahlformeln in Parallele setzt. So verfällt er im FrühjahT 1679 auf den Gedanken, elementare Begriffe zunächst durch an sich beliebige Primzahlen,, Sätze bzw. komplexe Begriffe durch Produkte aus Primzahlen a u s z u d r ü c k e n , umgekehrt die Analyse eines komplexen Begriffs als Zerlegung eines Produkts in Primzahlenfaktoren darzustellen oder „abzubilden'. Das ist der erste, noch unvollkommene Ansatz einer s y m b o l i s c h e n L o g i k , auf deren Entwicklung hier nicht eingegangen werden kann. Bald ersetzt er die bestimmten Zahlen durch allgemeine Buchstabenausdrücke wie in der Algebra. In drei großen Schüben,' um 1679, 1686 und 1691 hat er immer weiter verfeinerte Systeme einer solchen symbolischen Logik aufgestellt. Deren Prinzipien treten erst klarer hervor, wenn wir Leibnizens eigentümliche Auffassung von den logischen Grundgebilden, von Urteil, Begriff und Schluß kennen. Vor allem ist ihm auf diesem Wege zunächst eine exakte Ableitung der aristotelischen Syllogistik gelungen, welche die „Ars combinatoria" von 1666 noch nicht bewältigt hatte. Wichtige Einzelsätze und Gesaxnterkenntnisse, welche die moderne Logistik auf großen Umwegen erst wieder gefunden hat, hat Leibniz in besserer und überlegener Formulierung vorweggenommen. Eine ihn selbst voll befriedigende, abschließende Systematik eines logischen Kalküls hat er nicht erreicht, doch ist er seiner Zeit unstreitig um Jahrhunderte vorausgeeilt.

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Der Grundplan der Characteristica universalis ist längst fertig, bevor sich Leibniz eingehender mit dem Studium Descartes' beschäftigt, und vor allem Jahre bevor er, Ende 1675, Descartes' „Regulae ad dirigendum ingenium" im Manuskript kennenlernt. Das muß gegenüber falschen geschichtlichen Deutungen wie der neuesten von Heinz M a t z a t 7 scharf hervorgehoben werden. Das Studium dieses genialen Werks hat Leibniz sicher den neuen Auftrieb gegeben, den seine Arbeit an der Characteristica universalis und sein ganzes Philosophieren mit der Rückkehr nach Deutschland überall zeigt; aber es hat die Grundlagen des Plans nicht bestimmen, nur befruchten können. In der Tat lassen die Entwürfe zur Charakteristik einen tiefgreifenden Einschnitt etwa seit dem Jahre 1676 erkennen: vorher Programme, stark durchsetzt mit praktisch-ethischen Gedanken, in denen die Weisheit als Wissenschaft der Glückseligkeit definiert wird. Leibniz häuft Entwurf auf Entwurf 8 . Allmählich konkretisiert sich die Fragestellung. Es geht um eine Methode, über die Wahrheit oder wenigstens die Wahrscheinlichkeit von Sätzen u n f e h l b a r zu u r t e i l e n , und alles, was aus dem uns Gegebenen folgt, nach sicheren Methoden zu finden — also um die Ars judicandi et inveniendi. Doch erst nach 1676 wird die Scientia generalis zur „Wissenschaft von den Wissenschaften" im Sinne der Descartesschen Regulae. Der Zusammenhang all dieser verschiedenen Studien mit der Gesamtidee einer Enzyklopädie wird am deutlichsten aus dem Übersichtsplan zu ,,Plus ultra". Er baut in 37 Punkten das System der Enzyklopädie auf. Er sieht zunächst eine historische und sachliche Einführung in das Problem der Wissenschaftslehre vor (1—7). Dann wird auf der Grundlage der logischen Grammatik (7) der Aufgabenbereich der Scientia generalis oder Wissenschaftslehre im engeren Sinn umrissen: die „Elemente der ewigen Wahrheiten" (8), der Logikkalkül (9) nnd die allgemeine Synthesis (Kombinatorik) und Analysis (10), die Ars inveniendi.

Systementwurf einer Wissenschaftslehre

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An diese Scientia generalis, Grundwissenschaft im engeren Sinn, schließen sich nun die Einzelwissenschaften. Die spezielle Kombinatorik der Qualitäten und die spezielle Analysis der Quantitäten ergeben vereint das Aufgabengebiet der „Matbesis universalis", der Grundlagenwissenschaft der Mathematik. Dann erst folgen die mathematischen (Arithmetik, Algebra, Geometrie, Optik) und mechanischen Einzeldisziplinen (Portographie, Dynamik der festen und flüssigen Körper, Mechanik usw.), die exakten und biologischen Naturwissenschaften und endlich die Geisteswissenschaften in der uns im wesentlichen bekannten Anordnung. Es ist klar, daß diese Stoffmasse die Einheitlichkeit eines Buchwerks sprengen mußte. So beschränkten die Buchentwürfe dieser Zeit die Aufgabe in einem ersten Teil auf die historische und systematische Grundlegung der Idee einer Wissenschaftslehre, die Theorie der ewigen Wahrheiten und die Theorie der allgemeinen Analysis und Synthesis, die allgemeinste Methodenlehre, unter Ausschaltung der logischen Grammatik und des Logikkalküls. Dazu sehen sie nach Descartesschem Muster in einem zweiten Toil „specimina", Proben der allgemeinen WissenschaftsIehre aus der Geometrie und Mathesis universalis, der Mechanik und —• zum Teil —- auch den Geisteswissenschaften vor. Auch aus diesen Entwürfen isfl nie Wirklichkeit geworden. Doch spannen sie den Rahmen, innerhalb dessen nun Leibniz im Lauf der folgenden Jahrzehnte seine eigentümliche Wissenschaftslehre entwickelt. Nichts ist bezeichnender für die Stellung von Leibnizens Logik im, Ganzen seiner wissenschaftlichen Arbeit, als daß in dem großen Systementwurf von „Plus ultra" der Name der Logik als eigener Wissenschaft f e h l t . Noch das große „Consilium de Encyclopaedia nova" von 1679 mutet der „Logik" allerhand im Kern heterogene Aufgaben zu, schränkt sie jedoch auf eine „Kunst der Beurteilung eines Vorliegenden" ein, die aus dem Gebrauch von Schrift und Rede abzuleiten sei. Doch erweitert er auch hier (wie schon in der Nova Methodus) die traditionelle Logik dahin, daß

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den Schlüssen aus der logischen Form die ganz anders gearteten Schlüsse aus der Materie (so in Mathematik und Jurisprudenz) hinzuzufügen seien. Unter diesem großartigen Gesichtspunkt müssen die verschiedenen Einzelentwürfe als Teilausarbeitungen einzelner Kapitel des großen Systemen twurfs verstanden werden: die Entwürfe zur grammatikalischen Logik, zum Logikkalkül, zur Theorie der ewigen Wahrheiten, zur Grundmethode der Analysis und Synthesis, zur Mathesis universalis und so fort. Sie verselbständigen tind erweitern sich immer mehr, so daß der reife Leibniz der Spätjahre allmählich einem hoffnungslosen, ihm selbst kaum mehr überschaubaren Torso gegenübersteht. Und doch liegt gerade in diesem Torso von Einzelausarbeitungen, wie er uns heute erst überblickbar wird, eine Wissenschaftslehre von so überragenden Dimensionen und solch erstaunlicher Tiefe der Einzelforschung vor, daß sich ihr in der Geschichte der Philosophie kaum eine ähnlich ergiebige, problemreiche Wissen schaftslehre zur Seite stellen läßt. Und vor allem keine von heute so lebendigem, richtungweisendem Gepräge! Aus den vielfältigen Ansätzen der Mainzer und Pariser Zeit schält 6ich gegen Ende der Siebziger jähre ein Begriff der L o g i k als Grundwissenschaft, als Wissenschaft der Wissenschaften heraus, der die ganze folgende Entwicklung des philosophischen Systems leitend bestimmt. Leibniz hat diese seine Grundwissenschaft nie als systematisches Ganzes dargestellt, Ansätze und Einzelausführungen von ungleichartigem Wert finden sich an den verschiedensten Stellen seiner philosophischen und mathematischen Schriften und seines Briefwechsels verstreut. So konnte die Größe seiner grundwissenschaftlichen Konzeption nicht zu voller geschichtlicher Wirkung gelangen. Das hindert uns jedoch nicht an unserer Einsicht, daß Leibnizens Gesamtkonzeption der Logik die größte und heute erst in ihrer Fruchtbarkeit erkannte logische Leistung der deutschen Philosophie darstellt.

Logik: 1. Materiale Analyse der Wissenschaften auf letzte Sätze

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Leibniz geht — in schärfstem Gegensatz zur traditionellen Logik der Schulen — von der logischen Analyse der Einzelwissenschaften aus, die er in unnachahmlichem Ausmaße selbst beherrscht. Weder Descartes noch Kant, weder Hegel noch Fichte oder Lotze sind ihm hierin kongenial. Die ersteren lenken den Blick einseitig auf Mathematik und Naturwissenschaften, die deutschen Idealisten sehen als typische Geisteswissenschaftler die Naturwissenschaften im Lichte geisteswissenschaftlicher Methodik, während Comte umgekehrt die Geisteswissenschaften als Naturwissenschaften behandelt. Leibnizens Logik allein läßt die sondernde Eigenart der Einzelwissenschaften und ihrer Methoden in vollem Umfang bestehen. Mit Recht kann Leibniz von sich sagen, er habe Descartes' Idee der geometrischen Analysis auf das Ganze der Wissenschaften übertragen. Denn „geometrische Methode" heißt für ihn innerlich, nicht äußerlich „wissenschaftliche Methode" überhaupt, und diese besteht, wo immer sie auftritt, in der schöpferischen Verbindung von Analyse und Synthese, die schon den Kernpunkt von Galileis Forschungsmethode ausmacht. In der Analyse führt Leibniz die systematische Einzelwissenschaft, sei es nun Geometrie oder Physik, Jurisprudenz oder ein Moralsystem, auf eine letzte, e n d l i c h e Zahl von Sätzen zurück, aus deren schließender Verknüpfung alle Einzelerkenntnisse dieser Wissenschaft gewonnen sind. Der Grundgedanke dieser Analyse ist ganz modern; wir haben heute in den Axiomensystemen der modernen Geometrie und Arithmetik, im Versuch einer Axiomatisierung der Physik ins einzelne durchgeführte Beispiele der von Leibniz geforderten Analyse der Einzelwissenschaften. Eine solche Zurückführung oder Reduktion einer Einzelwissenschaft auf die letzten, nicht mehr auseinander ableitbaren Sätze, die ihr zugrunde liegen, wollen wir die m a t e r i a l e A n a l y s e dieser Einzelwissenschaft nennen. Leibniz setzt sie in seiner Logik überall schon als vollzogen voraus. Aber er überspitzt nicht, wie ein Fichte oder Schelling, die Analyse zu dem unfruchtbaren Beginnen, das

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Ganze aller Wissenschaftern aus einem einzigen allerletzten Grundsatz, etwa einer Setzung des Ich durch das Ich, inhaltlich herausklauben zu wollen. Er; denkt sich vielmehr beispielsweise die Geometrie, wie übrigens schon Euklid, oder die Zahlenlehre aus einer endlichen Anzahl letzter, nicht auseinander ableitbarer, miteinander verträglicher Sätze abgeleitet. In den empirischen Wissenschaften, etwa der Physik, bilden auch sämtliche Erfahrungstatsachen letzte, nicht weiter auseinander ableitbare empirische Sätze, die zu den erfahrungsfreien oder „apriorischen" Grundsätzen der Physik noch hinzutreten 9 . Denken wir uns nun mit Leibniz ein solches System materialer Letztsätze für eine Wissenschaft aufgestellt, also heute das Hilbertsche Axiomensystem für die ebene Euklidische Geometrie, dann ist für Hilbert und die moderne Axiomatik die Arbeit der Analysis getan, n i c h t a b e r f ü r L e i b n i z . Für ihn beginnt erst eine zweite Schicht von Analyse an diesen Grundsätzen: die formale oder — wie wir sie nennen wollen — die kategoriale Analyse der in diesen Sätzen enthaltenen G r u n d b e g r i f f e . Die Hilbertschen Axiome sind Sätze über die Beziehungen zwischen den geometrischen Elementen Punkt, Gerade und Ebene. Ja man kann sagen: die Grundeigenschaften der Elemente Punkt, Gerade und Ebene sind durch die geometrischen Axiome eindeutig festgelegt oder „definiert". Die formale Analyse an dien Letztsätzen geht nun einen zweifachen Weg: Zunächst sind auch diese Sätze, wie alle Sätze einer Wissenschaft, Urteile, die in Schlüssen miteinander verbunden werden, und deren Elemente Begriffe bilden. Das heißt: Die Analyse gilt allgemein den l o g i s c h e n F u n k t i o n e n des Urteils, Schlusses und Begriffs, in denen sich die Erkenntnisse einer Wissenschaft überhaupt gestalten. Diese Analyse der logischen Funktionen ist das Gebiet, welches die Schullogik fälschlich allein als ,,Logik" und überdies abgezogen vom l e b e n d i g e n Zusammenhang mit der Arbeit der Einzelwissenschaften behandeln möchte — aber nicht behandeln kann. Denn es gibt — wie Leibniz

2. Formale (kategoriale) Analyse der Grundbegriffe

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nachdrücklich hervorhebt — keine rein formale lebendige Logik, die von, allem Inhalt i h r e r Elemente, der Begriffe, Urteile und der Schlüsse gänzlich absehen könnte. Die logischen Funktionen haben immer ihr „Gegenüber", ihr „Korrelat" i n d e n a l l g e m e i n s t e n F o r m e n d e r D e n k g e g e n s t ä n d e , durch die etwas überhaupt zu einem „Gegenstand des Denkens" wird: in d e n K a t e g o r i e n des Gegenstandes. Die Analyse der Gegenstandsformen oder der Kategorien, die in die Letztsätze einer Wissenschaft eingehen, diese kategoriale gegenständliche Analyse bildet daher den zweiten Teil der Ledbnizschen formalen Analyse einer Wissenschaft. Erst von dieser großartigen, umspannenden Sicht und Fragestellung einer k a t e g o r i a l e n L o g i k aus wird ein ganz großer Teil der — meist Manuskript gebliebenen — mathematischen Arbeiten Leibnizens der logischen Analyse und überhaupt dem wissenschaftlichen Verständnis zugänglich, über den die mathematischen Darstellungen Leibnizens fast bis zur Gegenwart mit schamhaftem Stillschweigen hinweggegangen sind: als ob es sich dabei um mehr oder weniger populäre Einführungen in die Mathematik handeln würde, die man bestenfalls dem „Aufklärer" Leibniz zugute halten könnte. Eine so geistvolle Schrift wie das „Specimen Geomctriae luciferae" gleicht nicht, wie noch ihr Herausgeber G e r h a r d t 1863 meint, „einem im schnellen Fluge hingeworfenen Tableau, durch das Leibniz die Überzeugung gewinnen wollte, wie aus den einfachsten Fundamentalbegriffen und mit Hilfe seiner geometrischen Charakteristik ein lichtvolleres Gebäude der Geometrie aufgeführt werden könnte, als bisher geschehen" — die Schrift stellt vielmehr eine im Wesentlichen durchgeführte K a t e g o r i a l a n a l y s e der g e o m e t r i s c h e n G r u n d b e g r i f f e dar. Dieselbe Aufgabe der kategorialen Analyse stellt sich Leibniz bezüglich der Algebra in dem Manuskript „De ortu, progressu et natura Algebra«" und'i in der weiteren Schrift „Nova Algebrac Promotio" und für das ganze Gebiet der 9

Huber, Leibniz

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Mathematik in der „Mathesis universalis", fußend auf einer Reihe einzelner Vorarbeiten, die alle schon den ersten Jahren in Hannover, der Zeit von; 1678—1682 angehören. Man wird all diesen Ansätzen einer kategorialen Analyse der mathematischen Einzeldisziplinen nur gerecht, wenn man sie als wertvolle und noch heute, ja heute erst recht wieder aufschlußreiche Bemühungen und Vorarbeiten zu einer L o g i k d e r M a t h e m a t i k zusammenfaßt. Seine geniale Grundidee einer an den Einzelwissenschaften orientierten Logik als Grundwissenschaft überprüft Leibniz im einzelnen an der logischen Struktur der Mathematik — das ist der einigende Sinn dieser Manuskripte, den die Mathematiker der Gegenwart übersehen haben. Kein Wunder, daß Leibniz die ihm vielleicht selbst noch nicht genügenden Arbeiten von der Veröffentlichung zurückhielt. Er hielt mit Recht die Zeit nicht für reif, seiner Problemstellung genügendes Verständnis entgegenzubringen10! In heute noch zu wenig beachteten klassischen Arbeiten aus den Achtzigerjahren, wie „De ortu, progressu et natura Algebrae 11 " hat er die Algebra, in dem „Specimen Geometriae luciferae" aus den Neunzigerjahren 12 hat er die Geometrie kategorial-analytlsch auf ihre Grundbegriffe untersucht und damit das Beispiel einer tiefschürfenden mathematischen Grundlagenforschung gegeben, welche die mathematischen Grundbeziehungen philosophisch zu klären unternimmt und nicht — wie der heutige mathematische Positivismus und Konventionalismus — in expliziten oder impliziten (axiomatischen) Definitionen als willkürliche Gedankensetzungen völlig ungeklärt in algebraische und geometrische Axiomensysteme einführt. Leibnizens umfassende Entwürfe zu einer „Mathesis universalis" als allgemeiner Grundlagenwissenschaft für alle mathematischen Einzeldisziplinen fassen die gesamte reine Mathematik (Arithmetik, Algebra, Kombinatorik) als eine „Theorie der Mengenformen" — wie wir heute sagen würden —, welche die Bestimmung, Verbindung und Ord-

Kategoriale Analyse der Mathematik; „Mathesis universalis"

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nung abstrakter Mengen zu ihrem Gegenstande hat. Hierin ist der Charakter der reinen Mathematik als r e i n e r K a t e g o r i a 1 w i s s e n s c h a f t erstmals klar und eindeutig ausgesprochen. Die Grundkategorien der Mathematik, die schon der junge Verfasser der „Ars combinatoria" klar herauslöste, sind der abstrakte einheitliche Denkgegenstand, Einheit und Mehrheit, Zahl, Menge und Größe. Vorbildlich entwickelt der reife Leibniz an den kategorialen Gegenstandsgebilden die mathematischen Grundrelationen der Identität und Verschiedenheit, Gleichheit und Ungleichheit, der Kongruenz und Ähnlichkeit, der Stellung und Ordnung, der diskreten und kontinuierlichen Menge, der Funktion usw. Er entwickelt die mathematischen, synthetischen und analytischen Grundoperationen, aus denen die höheren Mengenformen hervorgehen — kurz, er schafft erstmals die Idee einer streng einheitlichen kategorialen Theorie der Mengenformen, die als Mathesis universalis alle mathematischen Einzeldisziplinen in sich befaßt, die in einigen ihrer Teile in die Logik hineingreift, die endlich auch die Grundlagen aller Anwendungen der Mathematik auf die Wirklichkeit in sich begreift. Es gibt heute noch keine mathematische Grundlagenforschung von ähnlich imponierender Geschlossenheit der Grundkonzeption, von gleicher logischer Klarheit in der Handhabung der hierfür allein in Frage kommenden Methodik: der kategorialen Analyse der Grundbegriffe. Die moderne mathematische Grundlagenforschung muß, wenn sie sich aus der Unfruchtbarkeit konventionalistischer „Setzungen" von Willkürcharakter erheben will, zu Idee und Methode der Leibnizschen Kategorialanalyse zurückkehren. Leibnizens Methodik vermag die Ergebnisse der modernen Axiomatik und Logistik durchaus in sich aufzunehmen und kritisch zu verarbeiten, Über die Entwicklung der Probleme seit 1677 geben wieder die sehr ausführlichen Berichte lebendiges Zeugnis, in denen Leibniz die Französische Akademie durch Vermittlung des Abbé Gallois über den Stand seiner Arbeiten auf dem 9*

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Laufenden hält. Sie sind in dem offenkundigen Streben abgefaßt, ein möglichst vollständiges Forschungsbild unter Verzicht auf jede Ruhmredigkeit zu geben. Das erste der beiden Schreiben steht überdies unter dem frischen Eindruck von Spinozas Tod, von dem Leibniz durch den Bischof S t e n o n Nachricht erhalten hatte 1 3 . Als Beispiel einer „guten" Definition entwickelt er in Kürze eine der "wichtigsten seines Systems, die Definition der Ä h n l i c h k e i t , von welcher die in diesen Jahren entdeckte A n a l y s i s s i t u s ihren Ausgang nimmt. Sie hat Leibniz langes Nachdenken gekostet. Er bemerkt, daß Ähnlichkeit eine Q u a l i t ä t s r e l a t i o n i s t , von allen Größenbestimmungen unabhängig und durch solche gar nicht zu erfassen. Alle Kreise sind einander vollkommen ähnlich. Sie unterscheiden sich lediglich voneinander, w e n n m a n s i e n e b e n e i n a n d e r s t e l l t , also „per compraesentiam", durch ihre Größe, genauer durch die meßbare Größe ihrer Durchmesser. Was für den Kreis gilt, gilt für alles, was G e s t a l t hat. Zwei v o l l k o m m e n ä h n l i c h e Gestalten unterscheiden sich von einander nur mehr per compraesentiam, abgesehen von ihrer Lage durch ihre Größe. Damit ist der Grundgedanke der Analysis situs als G e s t a l t s g e o m e t r i e — im Unterschied zur Größengeometrie — gefunden. Die geometrischen Figuren werden im Sinne der grundlegenden Einteilung der Ars combinatoria von 1666 als L a g e k o m p l e x e geometrischer Elemente — Punkte, Linien, Winkel, Kurven — verstanden. An diese völlig neue Auffassung der Geometrie schließt sich ein scharfsinniger Vergleich zwischen der antiken, klassischen und der neuen analytischen Geometrie, der auch in den beiden etwas späteren kurzen Darstellungen der Analyse der Lage stereotyp wiederkehrt — ein Beweis, wie wichtig er Leibniz erscheint. In dem ersten Schreiben von 1677 ist sich Leibniz der vollen Tragweite seiner Entdeckung vielleicht noch nicht einmal ganz bewußt. Er bemerkt nur bescheiden, daß sich seine Ähnlichkeitsdefinition auch auf die bekannten Ähnlichkeits-

Briefe an Gallois: Analytische Geometrie

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sätze von Dreiecken anwenden lasse, die Euklid mit soviel Umschweifen (par tants de circuits) zu beweisen sich genötigt sehe — ein Gedanke, der auch in der kurzen Darstellung der Analysis situs vom Jahre 1679 wiederkehrt. Sehr viel sicherer ist die Sprache im zweiten Schreiben von 1678j Wie er dort berichtet, beschäftigt er sich hauptsächlich mit der Kombinatorik, kaum mehr mit Geometrie, in der er sich nur noch, um die Kunst,, schöne Konstruktionen zu finden, bemüht. «Je voys de plus en plus que l'algèbre n'est pais la voye naturelle pour y arriver; e t q u ' i l a m o y e n de f a i r e u n e a u t r e c a r a c t é r i s t i q u e p r o p r e a u x l i g n e s et naturelle pour les solutions linéaires, a u l i e u q u e l ' a l g è b r e e s t c o m m u n e à t o u t e s l e s g r a n d e u r s ; et qu'il faut des détours et des opérations forcées ordinairement pour tirer la construction du calcul.» Umgekehrt sind dite Linearkonstruktionen der „gewöhnlichen" (d.'h. Euklidischen) Geometrie beschränkt (bornées). Die algebraische Analysis liefert zwar immer ein allgemeines Ergebnis, eine Problemlösung, doch nicht auf dem kürzesten Weg, « . . . e t (elle) n'éclaire pas l ' e s p r i t en c h e m i n comme la voye des Géomètres«. Endlich ein letzter Einwand: Vicias und Descartes' algebraische Analysis beschränkt sich auf die Geometrie der Geraden, und damit auf rationale Gleichungen; die viel wichtigere K u r v e n g e o m e t r i e erfordert dementgegen eine neue, „transzendente Algebra", „transzendente Gleichungen", wovon Leibniz nach seiner Versicherung schon wichtige Proben in Händen hat. In klassischer Schärfe ist in den beiden Briefen an Gallois die Idee der neuen, s y n t h e t i s c h e n G e o m e t r i e d e r L a g e als eines Teiles der allgemeinen Charakteristik in statu nascendi entwickelt. Wir sehen wirklich ,,l'esprit en chemin" — den rastlosen Geist des mathematischen Genius auf dem Wege, aus der logischen Grundkonzeption der Characteristica universalis eine neue, fruchtbare mathematische Disziplin zu gewinnen, welche — im Aufbau

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synthetisch verfahrend — die Vorzüge der klassischen (Euklidischen) Konstruktion und der algebraischen Analysis gewissermaßen in sich vereint. — Kurz berichtet Leibniz über seine weiteren mathematischen Problemstellungen. In der reinen Algebra, f ü r welche er die Aufstellung von Rechentafeln fordert, hat er Lösungen' für die irrationalen Wurzeln von Gleichungen höheren als dritten und vierten Grades erarbeitet. In der Arithmetik kennt er — wie wir wissen, schon seit 1671 (s. o. S. 79) — als erster allgemeine Lösungen der Reihen figurierter Zahlen und auch der Diophantischen Probleme^ die ihn jedoch ob ihres geringen Nutzens nicht zu fesseln vermögen. Wenig genug hören wir von der, Mechanik, in welcher er nur — den glücklichen Fortgang in der Konstruktion seiner Rechenmaschine erwähnt. Sollte er wirklich in diesen Jahren die drängenden Probleme einer Mechanik auf infinitesimaler Grundlage ganz haben ruhen lassen? Um so aufschlußreicher verbreitet er sich in beiden Schreiben bei aller Kürze über den Stand der Arbeiten an der allgemeinen Charakteristik. Sie sind rückschließend für die D a tierung mancher Notizen aus dem Nachlaß wichtig. Im ersten Schreiben bittet er Gallois nochmals um die Wortdefinitionen des „Dictionnaire", den die Akademie bearbeitete. Systematisch sucht Leibniz aus allen erreichbaren Quellen seine m a t e r i a l e Definitionensammlung zu bereichern. Doch auch die Grundfragen seiner Charakteristik hat er bei einer — allerdings seltenen! — Gelegenheit nochmals überdacht: auf der Rückfahrt von London nach Holland, auf einem kleinen Schiff in der Themsemündung, durch widrige Winde festgehalten, in Gesellschaft eines einzigen Matrosen. Er rückt ,,3—4 Grundgedanken" in den Vordergrund: die Forderung der Unabhängigkeit einer allgemeinen Charakteristik vom W o r t . Positiv gewendet: die Forderung der a l l g e m e i n e n M i t t e i l b a r k e i t ihrer Zeichensprache in allen Nationen — worin wir Icicht den neuerlichen Einfluß der ähnlich gerichteten Symbolik W r e n s erkennen, mit dem Leibniz in London verkehrt hatte,

Drei Forderungen an die Characteristica universalis

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Als zweite, uns längst bekannte Forderung bezeichnet Leibniz nochmals die F i x i e r b a r k e i t der metaphysischen und moralischen Begriffe in Definitionen von mathematischer Strenge. Leibnizens dritte Forderung läßt sich dahin formulieren, daß die Universalcharakteristik n i c h t f o r m a l e R e g e l n des wissenschaftlichen Erkennens, sondern m a t e r i a l e S t r u k t u r e n der Begriffe und der in diesen gefaßten Gegenstände des wissenschaftlichen Erkennens aufzeigen soll. D e s c a r t e s ' (und anderer) Regeln der Unterscheidung, des Erkenntnisprogresses, der Division der Probleme nützen nichts ohne genaue Angabe des Weges. Durch ein volkstümliches Beispiel erläutert Leibniz diese Forderung: «Il faut qu'un écuier tranchant s c a c h e l e s j o i n t u r e s , sans cela il déchirera les viandes au lieu de les couper.» Das Beispiel Leibnizens gegen Descartes erinnert verblüffend an jenes berühmte Argument Hegels gegen Kants und der Kantianer Theorie der Erkenntnis: man möge nicht immer die Messer wetzen, sondern auch einmal mit dem Schneiden beginnen. Daß Hegel die im Leibniz-Nachlaß zu Hannover vergrabene Briefstelle kannte, ist wohl ausgeschlossen. Es ist vielmehr die Gleichheit der methodologischen Lage und der Gleichklang der Geister, der hier Leibniz in der Kritik Descartes', dort Hegel in der Kritik Kants zu nahezu demselben Bilde greifen läßt. Nur ist Leibnizens Vergleich vollständiger und der Sache zugewandt. Es ist ja auch mit dem Schneiden nichts getan, wenn ich nicht weiß, w a s ich schneiden und wo ich ansetzen soll. Aus der groß gesehenen Kategorialanalyse der Mathematik erfließen für Leibniz neben der weiteren Ausbildung der Infinitesimalmethoden auch die übrigen mathematischen Einzelleistungen der Hannoveraner Jahre, vor allem die Entwicklung einer Geometrie der Lage, deren Anfänge schon ins Jahr 1678 reichen, und die Anfänge der D é t e r m i n a n t en r e c h n u n g seit 1679. Der Geometrie sind außer den Kategorien der reinen Mathematik nur die beiden räumlichen Grundkategorien der Ausdehnung und der Lage! spe-

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zifisch eigentümlich; Leibniz betont scharf, daß sie keine reinen Denkkategorien mehr sind, sondern Anschauungskategorien der räumlichen Anordnung. Der messenden Streckengeometrie des Euklidischen Typus stellt er die Idee einer Geometrie der Lage entgegen oder richtiger zur Seite, die sich auf den Grundrelationen der Lagekongruenz und Lageähnlichkeit aufbaut. Wichtige Ansätze zu einer reinen Lagegeometrie bei Pascal und Desargues waren Leibniz schon seit den Pariser Studien bekannt; er hat sie freilich nicht voll ausgenützt. Seine eigene Systematik krankt daran, daß sie keine reine Lagegeometrie bestimmt, sondern noch Begriffe der Streckengeometrie in den Ansatz einmengt. Schon 1679 macht er Huyghens mit seinen Ideen bekannt, erfährt jedoch von dem Lehrer, der die Notwendigkeit und Fruchtbarkeit der Problematik nicht einsieht, kühlei Abweisung. Nicht besser ergeht es ihm in den Neunzigerjahren, wo er begeisterte Anhänger seiner Differentialrechnung wie den Marquis de l'Hospital odei den Freiherrn von Bodenhausen für seine neue -Geometrie zu interessieren versucht. Er findet nirgendwo Verständnis für seine Problemstellung, und so sind seine grundlegenden Ansätze Torso geblieben. Die Entwicklung einer projektiven Geometrie zu Beginn des 19. Jahrhunderts durch Poncelet, Möbius, Steiner u. a. hat zunächst nicht an ihn, sondern an die Sätze von Pascal und Desargues über projektive Gebilde angeknüpft. Erst 1858 sind durch die Neuherausgabc seiner mathematischen Werke durch Gerhardt Leibnizens Entwürfe den Mathematikern bekannt geworden. Graßmann hat sie aufgegriffen und in seiner Ausdehnungslehre weitergebildet14. Fast noch eigenartigere Schicksale erfuhr Leibnizens Entdeckung der D e t e r m i n a n t e n r e c h n u n g . Sie hat sich organisch aus den Indexbezeichnungen der Koeffizienten entwickelt, die er im Sinne seiner allgemeinen Charakteristik für die Lösung von Gleichungssystemen ersann. Wenn irgendwo, so hat sich hier Leibnizens Auffassung der Mathematik und speziell der Algebra als einer reinen Theorie der (unbestimmten) Mengenformen bewährt. Sieht er doch in den

Schicksale der L. 'sehen Lagegeometrie und Determinantenrecfanung 137

von ihm gebildeten Determ in antenausdrücken linearer Gleichungen nichts anderes als konstant wiederkehrende Mengenformen der Gleichungskoeffizienten, f ü r die er eigene Symbole einführt. Die Lösung linearer GIeichungssY s t e m e vermittels dieser Determinanten geht eindeutig, auf Leibnizens Charakteristik zurück, sie hat nur in Leibnizens strenger Wissenschaftsidee ihre logischen Entstehungsbedingungen. Nicht Cramer oder Bezout, die wohl als Schüler des älteren Bernoulli Leibnizsches Gedankengut in sich aufnahmen, sondern Leibniz allein gebührt die Priorität der Erfindung des Determinantenkalküls. Die Pflicht der historischen Wahrheit gebietet freilich, auch die Schattenseiten in Leibnizens eigenartiger mathematischer Begabung nicht unerwähnt zu lassen. Einer überragenden Genialität der logischen Durchdringung der mathematischen Disziplinen stehen nicht gleichwertige Einzelleistungen auf den verschiedenen Sondergebieten zur Seite. Leibnizens mannigfaltige Entwürfe zur Zahlentheorie aus den ersten Hannoveraner Jahren erheben sich nirgends zu einer bedeutenderen Leistung; er hat die Algebra der höheren Gleichungen trotz umfassender Arbeit durch keine grundlegenden Erkenntnisse bereichert, und es ist nicht nur Zeitmangel, der ihn auf dem neuentdeckten Gebiet der geometrischen Lageanalysis zu keiner abschließenden Gestaltung kommen ließ. An Einzelergebnissen von fortwirkender Bedeutung sind in diesen Jahren fast nur die mannigfachen Anwendungen seiner Infinitesimalmcthoden auf geometrische Probleme zu verzeichnen, mit denen er seit 1684 die wissenschaftlichen Journale, die „Acta Eruditorum" und das „Journal des Scavans" an erster Stelle füllt. Bis zu diesem Jahr hatte er — ein merkwürdiger Charakterzug — seine neuen Methoden streng geheim gehalten. Erst die Gefahr eines Plagiats seiner Methoden durch den ehemaligen Pariser Studiengefährten Tschirnhaus ließ ihn aus seiner Reserve heraustreten. In der denkwürdigen Abhandlung „Nova Methodus pro Maximis et Minimis" in den „Acta Eruditorum" von 1684 und in der ergänzenden Ab-

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handlung „De Geometria recondita et Analysi Indivisibilium et Infinitorum" von 1686 („Acta Eruditorum") hat er die Grundregeln des Differential- und Integralkalküls in gedrängtester, für sich' allein kaum verständlicher Kürze dargestellt. Dabei ist ein merkwürdiger Umstand zu! beobachten: Während er in seiner mathematischen Grundlagenforschung um die größte Durchsichtigkeit und Exaktheit der Grundbegriffe sich müht, läßt er in den über dreißig Abhandlungen zur Infinitesimalgeometrie, in denen er seine Methodik dauernd verfeinert, den Kernbegriff des Differentials im Zwielicht einer eigenartigen Unbestimmtheit stehen. Bald erscheint das Differential als unendlich kleine, gegen Null konvergierende Größe, bald wird es als „wirkliche Null" bezeichnet — der fast naive Künstler im Mathematiker scheut sich, durch eine voreilige Entscheidung sich die Wege einer instinktsicheren praktischen Durcharbeitung seiner Methode zu verbauen. Er hat mit dieser klugen Reserve für den Ausbau der Methoden vielleicht mehr geleistet als durch eine Begriffsanalyse, für die bei der Neuigkeit des Stoffes die nötigen Voraussetzungen fehlten. Erst Weierstraß hat in seiner tiefdringenden rein algebraischen Analyse die im Begriff des Differentials liegenden Unklarheiten durch Einführung des Stetigkeitsbegriffs zu überwinden vermocht. Hand in Hand mit den logisch-mathematischen Fragestellungen schreitet in diesen fruchtbaren Jahren um 1680 die physikalische Analyse der Körperwelt fort. Noch auf der denkwürdigen Überfahrt von England nach Holland im Oktober 1676, während er die Grundlagen seiner Universalcharakteristik überdenkt; skizziert er zugleich einen großen Dialog „Pacidius Philalethi" in Briefform, der sich mit der Natur der Veränderung und Kontinuität in der Bewegung befaßt. „Prima de Motu Philosophia" überschreibt er die Skizze: Die analytische Methode der Grundlagenforschung erstreckt er auch auf die Begriffe der Bewegung und weiterhin des Körpers überhaupt. Der nicht sehr flüssig geschriebene Dialog, in dem man mit einiger Sicherheit Personen

Darstellungsstil In der Mathematik. Logik and Mathematik

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des Londoner Kreises als Unterredner erkennen kann, löst die alten zenonischen Paradoxa der Veränderung und der Bewegung vom Standpunkt des neuen Begriffs des UnendlichKleinen aus. . . . Er hat ihn seit 1686 in doppelter Form durchgeführt, entsprechend der Inhalts- und der Umfamgsauffassung der Urteile. Ist doch im Inhaltsurteil der Prädikatsbegriff im Subjektsbegriff, im Umfangsurteil hingegen der Kreis der Subjektsgegenstände in demjenigen der Prädikatsgegenstände eingeschlossen. Die letztere Darstellung schließt sich der landläufigen Umfangstheorie des Syllogismus näher an; kein Zweifel kann jedoch darüber bestehen, daß Leibnizens Inhaltskalkül des Syllogismus und aller Begriffsschlüsse die vollendetste mathematische Darstellung logischer Schlußformen ist, die wir besitzen, sie wird von keiner modernen logistischen Darstellung erreicht. Die Begriffsschlüsse sind für Leibniz lediglich Anwendungen der allgemeinen Relationskategorien „Identität" und „Einschluß" auf Begriffe. In zwei bedeutsamen Entwürfen 15 hat der reife Leibniz die allgemeinen und besonderen Schlußgesetze der Syllogistik aus einer allgemeinsten Theorie des Ein- und Ausschlußverhältnisses abgeleitet, die er mit Recht zur Universalmathematik — Mathesis universalis — rechnet. So bestimmt sich das Verhältnis von Logik und Mathematik für Leibniz als ein Verhältnis wechselseitiger Ergänzung und Begründung. Die Logik ist, wie für alle Wissenschaften, so auch für die Mathematik formale Grundwissenschaft; sie kann jedoch umgekehrt nicht ohne Zuhilfenahme mathematischer Elementarsätze über das Verhältnis des begrifflichen Einschlusses aufgebaut werden. Sie untersteht in diesem Sinne auch den Gesetzen der Universalmathematik. Noch eine zweite enge Verbindung zwischen Logik und Mathematik ist schon dem frühen Leibniz geläufig. Sie liegt nicht in der Sphäre der streng deduktiven Begriffsschlüsse, sondern der Sachverhaltsschlüsse. Sie ist gegeben, wo die Sachverhaltseinsicht der Prämissen nicht hinreicht, um einen

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Schluß mit Notwendigkeit zu ziehen, wo der Schluß nur als ein möglicher mit Wahrscheinlichkeit gezogen werden kann. Mit Nachdruck fordert Leibniz eine Logik der Wahrscheinlichkeit als Ergänzung der gewöhnlichen Logik; sie kann nur auf einer mathematischen Wahrscheinlichkeitstheorie sich aufbauen, die sich eben in seinem Pariser Freundeskreis herauszubilden begonnen hatte. Klar erkennt er, daß vor allem unsere Schlüsse aus unmittelbaren Tatsachenerkeimtnissen der Sinneswahrnehmung nur Wahrscheinlichkeitsgeltung beanspruchen können. So bereitet er als einer der ersten Logiker einer mathematischen Theorie der induktiven, sacherweiternden Schlüsse den Boden. Mitten aus den Problemen der Logik erwächst Leibniz jene — an sich alte — Unterscheidung zwischen Vernunftund Tatsachenerkenntnissen, Vernunft- und Tatsachenschlüssen, die für seine ganze Metaphysik zentrale Bedeutung gewinnen sollte. Notwendige Einsicht und notwendige Geltung kommen den reinen Vernunfterkentnissen und Vernunftschlüssen, den vérités de raison zu; hingegen beanspruchen die „Tatsachenerkenntnisse", die vérités de fait, nur tatsächliche oder assertorische, die Schlüsse aus Tatsachenerkenntnissen gar nur problematische Geltung. So zerfällt die Gesamtheit unserer möglichen Erkenntnisse in erkenntnistheoretischer Hinsicht in zwei streng voneinander geschiedene Reiche, zwischen denen kein Übergang möglich ist: Apriorische und aposteriorische Erkenntnis bleiben für unseren endlichen Intellekt unüberbrückbar. Und sie führen auch auf zwei verschiedene letzte Prinzipien alles Erkennens zurück: Das Erkenntnisprinzip der Vernunftwahrheiten ist einzig und allein der Satz vom Widerspruch; als Erkenntnisprinzip der Tatsachenerkenntnis und der Tatsachenschlüsse hingegen formuliert Leibniz charakteristisch genug einen logisch-ontologischen Doppelsatz, den er als „Satz vom zureichenden Grund" bezeichnet: Jedes Tatsachenurteil bedarf eines zureichenden Grundes seiner Geltung — jedes Seiende hat einen zureichenden Grund, daß es so ist, wie es ist. Schon die Formulierung des Satzes vom zureichenden

Funktionslogik: Vernunft- und Tatsadxenerkenntnisse

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Grund als Satz über ein Seiendes, Wirkliches läßt erkennen, daß Leibniz die Lösung des Problems der Tatsachenerkenntnis nur in einer Metaphysik des Seienden finden kann. Er läßt nirgendwo einen Zweifel darüber, daß all seine logische und erkenntnis theoretische Arbeit auf metaphysischen Grundlagen ruht und auch bestimmt ist, in ihren Ergebnissen umgekehrt in eine geschlossene Metaphysik einzumünden, sie zu befruchten und zu befestigen. In der Aufstellung der beiden Erkenntnisprinzipien, des Satzes vom Widerspruch und des Satzes vom zureichenden Grund, findet Leibnizens Logik der Denkfunktionen oder Denkgebiete ihren Abschluß. Doch dies ist nur die eine Hälfte Leibnizscher Logik: Ihr Gegenstück, ihr unentbehrliches Korrelat findet sie in einer L o g i k d e s D e n k g e g e n s t a n d e s , die in wichtigsten Punkten Kants Idee der transzendentalen Logik vorwegnimmt. Auch zu ihr gewinnen wir den Zugang am leichtesten von der übergreifenden Idee der Wissenschaftslehre aus. Die erkenntnistheoretische Scheidung zwischen Vernunfts- und Tatsachenwahrheiten zieht notwendigerweise einen scharfen Schnitt im Reich der Einzelwissenschaften nach sich, die Unterscheidung zwischen reinen, apriorischen Vernunftwissenschaften, wie der reinen Mathematik, und Tatsachenwissenschaften, deren letzte Erkenntnisgrundlagen nicht weiter auflösbare „Tatsachen" der sinnlichen und inneren Erfahrung bilden. Zu den apriorischen Wissenschaften gehören nach Leibniz außer der reinen Mathematik die Geometrie und die reine Bewegungslehre (Phoronomie), in welchen beiden Wissenschaften er die Anwendung der Mathematik auf die Naturwissenschaften verankert; aus den Geisteswissenschaften rechnet er Moralwissenschaft und Jurisprudenz, mit einer später zu erwähnenden Einschränkung auch die Metaphysik zu den apriorischen Wissenschaften. Hingegen hebt er scharf den Tatsachencharakter der Naturwissenschaften selbst und aller geschichtlichen Wissenschaften hervor. Die Tatsachengrenze der Sinneserfahrung vermag die Naturwissenschaft,

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diejenige der Innenerf abrang die Psychologie, die Grenze gegebener Quellen die Geschichte nicht zu überschreiten. Nach der reifen Gestalt seiner Lehre führt die Analyse a l l e r Einzelwissenschaften, der Vernunft- wie der Tatsachenwissenschaftein, auf Definitionen und identische Sätze als letzte unauflösbare Elemente zurück, wozu nur in den Tatsachenwissenschaften noch die Tatsachenurteile der Sinne und der Innenerfahrung treten. Axiome hingegen im Sinne Euklids als unbeweisbare Voraussetzungen gibt es für Leibniz nicht, Alle Axiome, auch die der Euklidischen Geometrie, müssen bewiesen, d. h. in Definitionen und identische Sätze zerlegt werden. Klassisch führt er solche Zerlegung an dem Euklidischen Axiom, daß das Ganze größer ist als der Teil, durch. Er macht mit Pascals Forderung vollen Ernst, daß in die Mathematik kein Satz eingehen dürfe, der nicht bewiesen, kein Begriff, der nicht geklärt sei. Darum lobt er Roberval, dem der Beweis einiger Euklidischer Axiome' gelungen ist; darum macht er sich im Jahre 1698 nochmals selbst daran, die Euklidischen Prota in scharfsinniger Analyse auf ihren Axiomenbestand zu untersuchen. Seine Methode der Wissenschaftsanalyse ist nichts anderes als die totale Verallgemeinerung der Pascalschen Forderungen für die Mathematik. Leibniz ist sich darüber im klaren, daß jeder logische Kalkül als ein Rechnen mit Begriffen von der materialen Wahrheit der elementaren Sätze einer Einzelwissenschaft gänzlich unabhängig ist. Er behandelt ja nur die für alle Wissenschaften und jegliches Denken übereinstimmende Form der Ableitung neuer Sätze aus gegebenen, doch in einer Exaktheit und Allgemeinheit, welche die traditionelle Logik nie zu erreichen vermöchte. Die Pilatusfrage hingegen, was Wahrheit ist, und die weitere Frage nach den Kriterien der Wahrheit elementarer Sätze einer Wissenschaft vermag keine Logistik der Welt von sich aus zu beantworten. Hier setzt Leibnizens P r i n z i p i e n l e h r e der „Elementa veritatis primae (absolutae)" ein. Beide eben aufgestellten Fragen,

Die Wahrheit und ihre Kriterien

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die Wahrheitsfrage wie die Kriterienfrage, behandelt daher Leibniz seit seiner Rückkehr nach Deutschland mit Nachdruck, die erste schon im August 1677 in einem meisterhaften Dialog „Über die Verknüpfung zwischen Worten und Dingen 1 6 ". Wenige Dialoge der Neuzeit erreichen so nahe das Vorbild des reifen Plato, kaum eine Schrift führt so lebendig und anschaulich in Leibnizens Kunst der Problemanalyse ein. „A. Wenn man dir einen Faden gäbe, den du so krümmen solltest, daß er in sich selbst zurückläuft und soviel Raum als möglich in sich faßt, in welcher Weise würdest du ihn krümmen? B. In eine Kreislinie, denn, wie die Geometer zeigen, ist der Kreis von allen Figuren mit gleichem Umfange diejenige, die den größten Flächeninhalt in sich schließt. Gibt es also zwei Inseln, die eine von kreisförmiger, die andere von quadratischer Gestalt, die man in der gleichen Zeit umschreiten kann, so enthält die kreisförmige mehr Land. A. Bist du der Ansicht, daß dieser Satz wahr bliebe, auch wenn er von dir nicht gedacht würde? B. Ja, und selbst dann, wenn die Geometer ihn noch nicht bewiesen hätten oder man noch nicht auf ihn aufmerksam geworden wäre. A. Also liegen deiner Ansicht nach W a h r h e i t und F a l s c h h e i t in den Dingen, nicht in den Gedanken? B. Allerdings. A. Kann man nun aber ein Ding falsch nennen?" Diese Gedankenkette ist das klassische Muster einer jedem zugänglichen, eindrucksvollen Problembehandlung im platonisch-sokratischen Sinn. Schlag auf Schlag wird das Wahrheitsproblem an einer entscheidenden Stelle durchleuchtet. Der „Ort der Wahrheit" steht in Frage; liegt sie in den durch Worte bezeichneten Dingen — wie die Scholastik meint — oder in den Worten als Zeichen der Gedanken über die Dinge, im Kern die Hobbessche Lehre? Oder aber — eben in dem eigentümlichen Bezug zwischen Ding und Ge-

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danke, der Transzendenz selbst vom Gedanken zum Ding? Und dies ist Leibnizens Lösungsansatz. Zunächst: Wahrheit und Falschheit betreifen, die m ö g l i c h e n Gedanken. Ob sie von irgend jemand gedacht werden, ob sie „Wirklichkeit" werden, hat mit der Wahrheitsfrage nichts zu tun. Das ist der Ansatz, der später Bolzano — in echter Nachfolge Leibnizens — zur Aufstellung eines idealen „Reiches der Sätze oder der Wahrheiten" geführt hat. Die Frage nach dem Ort der Wahrheit aber beantwortet sich im Suchen nach dem Grunde der Wahrheit. Die Beweisführung ergibt den Erkenntnisgrund eines Satzes. Führt alle Beweisführung auf Definitionen, und sind nach Hobbes alle Definitionen willkürlich, dann allein hat Hobbes recht mit der Behauptung, die Wahrheit liege nur in den Worten, genauer in der Zuordnung von Wortzeichen zu Begriffen, und diese sei willkürlich. Hier setzt Leibnizens Gegenargumentation ein: Wie können dann dieselben „Wahrheiten" in verschiedenen Wortzeichen, etwa verschiedener Sprachen ausgedrückt, wie kann ein und derselbe Satz auf verschiedene Weise bewiesen werden? Da muß doch in der Zusammenfügung der an sich willkürlichen Zeichen (Worte, Zahlen, chemische Zeichen) zum „Satz" (zur „Gleichung") eine O r d n u n g herrschen und eingehalten sein, welche der Ordnung zwischen den Dingen, über die behauptet wird, irgendwie „entspricht". Und dies Verhältnis der Ordnung der Zeichen zu einer Ordnung der Dinge ist für Leibniz Grundlage der Wahrheit. Noch ist Leibnizens Analyse ungenügend; er sagt nicht, welcher Art die Beziehung der Ordnung zwischen Gedanken im Satz (Wortzeichen) und Dingen, Gegenständlichem im behaupteten Sachverhalt ist. Aber klar wird, daß das Problem der Wahrheit mit demjenigen der Transzendenz der Gedanken zu einem Seienden unlöslich verknüpft ist und jede rein immanente Lösung des Wahrheitsproblems, wie sie mit Hobbes der gesamte „Konventionalismus", ja im Grunde

Definitionslehre gegen Hobbes

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jeder Positivismus versucht, iden Kern des Problems verfehlt. Wir können dem vorliegenden Kernproblem noch eine andere, ebenfalls eng an Leibniz anschließende Wendung geben. Wären alle unsere Definitionen nichts als Benennungen von „Dingen" oder genauer deren Ideen mit Zeichen (Worten oder anderen Zeichen), so hätte Hobbes recht. Aber eine echte Definition ist etwas ganz anderes als eine willkürliche Benennung. Sie enthält selbst schon objektive Erkenntnis an sich. Wenn ich einen hellen, schweren, gelblich glänzenden Gegenstand vor mir habe, so will ich nicht wissen, ob dessen Substanz Gold „heißt", sondern ob sie Gold „ist". Ich muß wissen, was Gold, wie beschaffen es ist 17 , und vor allem: wodurch es sich von anderen Substanzen mit ähnlichen äußeren Eigenschaften unterscheidet. Ich muß eine Definition von Gold haben, um feststellen zu können, ob mein Ring „echt" ist. Ich lasse beispielsweise den Goldprüfer feststellen, ob der Ring durch Scheidewasser angegriffen wird. Denn: Konstanz gegenüber den schärfsten Säuren gehört zu den unterscheidenden Merkmalen des Goldes. Eine Definition ist also — wie Leibniz in der zweiten Abhandlung über die Ideen nachweist — insofern niemals willkürlich, als sie nur Merkmale enthalten darf, durch die sie ihren Gegenstand e i n d e u t i g a b g r e n z t . Die Merkmale einer Definition sind, wie wir heute sagen, dem Gegenstand eindeutig zugeordnet, sie bestimmen nur diesen und keinen anderen Gegenstand. Es kann jedoch derselbe Gegenstand auf verschiedene Weise eindeutig definiert werden. So kann ich den Kreis als den geometrischen Ort aller Punkte bestimmen, die von einem gegebenen Punkt gleichen Abstand haben; aber auch als Kurve von konstantem Krümmungsradius. Beide Merkmalsvereinigungen fuhren n u r zu einem Kreis. Ich kann daher zwischen einer Reihe möglicher Definitionen des Kreises willkürlich eine zum Ausgangspunkt weiterer Sätze machen. Die Wahl der Definition, nicht die einzelne Definition, ist willkürlich. Die Definition selbst 10

Huber, Leibniz

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enthält keine. „Festsetzung" — die ich auch anders treffen könnte. Leibniz entwickelt diese Gedanken in der genannten Schrift und noch vollständiger zwei Jahrzehnte später in den „Nouveaux Essais"' mit einer Klarheit, welche den heutigen konventionalistischen Lehren von der „Willkürlichkeit der Definition" (sie gehen alle auf Hobbes zurück) zum Vorbild dienen könnte. Vor allem wäre nur auf Grund des Leibnizschen Ansatzes der wahre Sinn jener „willkürlichen Definitionen" von Gleichzeitigkeit, Zeitfolge, Streckengleichheit, starrer Körper u. a. zu klären, welche in der Diskussion der Relativitätstheorie eine verhängnisvolle Rolle spielen. Doch kann auf dies interessante Problem hier nicht näher eingegangen werden. Wie hängt nun Leibnizens Lehre von der Definition mit Descartes' bekannter Aufstellung der „klaren und deutlichen Ideen" zusammen, welche die letzten Kriterien der Wahrheit bilden sollen? Dieser Zusammenhang liegt auf der Hand: daß die Merkmale einer Definition einen Gegenstand eindeutig bestimmen, muß erst erwiesen werden. Klare und deutliche Ideen des Gegenstandes könnten den Beweis leisten, wenn nicht der Begriff der „klaren und deutlichen Idee" seit seiner Aufstellung durch Descartes schwankte und einen Zankapfel innerhalb der kartesischen Schule darstellte. Der gefeierte Arnauld und der fromme Pater Malebranche haben sich 1684 in einen scharfen Streit über den Sinn des Descartesschen Wahrbeitskriteriums verwickelt, anläßlich deri Kritik, die Arnauld an Malebranches Auslegung der Descartesschen Sätze ü b t ] . . . Notwendig fordert Leibnizens Wahrheitsanalyse ein Kriterium, an dem sich erkennen läßt, ob ein elementarer Satz wahr ist oder nicht. Doch Descartes' berühmte beide Kriterien der Wahrheit und Deutlichkeit genügen ihm bekanntlich längst nicht mehr. Seit seinen Auseinandersetzungen mit dem alten Freunde Coming von 1678 bildet er die Descartessche Lehre in tiefgreifender, noch heute höchst beachtenswerter Weise um, am reifsten vielleicht in der

Die „klare und deutliche Idee"

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1684 in den „Acta Eruditorum" erschienenen Abhandlung „De veritate et ideis 1 8 ". Die Kartesiamer haben alles mögliche für klar und deutlich erklärt, was leicht bestritten werden kann. Leibniz sucht nach einem streng objektiven Kriterium zunächst der Klarheit; er findet es — ein tiefschürfender Gedanke! — in der Wiedererkennbarkeit eines Gegenstandes. Die „verworrene" Idee ist nicht festzuhalten, die „klare" erfaßt das Etwas vor dem Bewußtsein erst als „Gegenstand" — das bezeugt seine Wiedererkenntnis. Kants Begriff der transzendentalen „Erzeugung" des Gegenstandes ist hier vorgeahnt. Auch für den Kant der transzendentalen Deduktion „wird" das unbestimmte Etwas zum „Gegenstand" in der transzendentalen Apprehension und „Rekognition". Das zweite Kriterium der Deutlichkeit sieht Leibniz mit Descartes in der Unterscheidbarkeit der Idee von verwandten anderen Ideen. Diese volle begriffliche Deutlichkeit ist jedoch für ihn allein durch die Merkmale des Gegenstandsbegriffs gewährleistet... Die konventionalistische Lehre von den Definitionen hat Leibniz ja schon seit 1672 überwunden. Doch nur langsam reift an deren Stelle die eigene Theorie, deren Eigenart vielfach verkannt worden ist. Mit dem Hinweis, daß Leibniz die aristotelisch-scholastische Unterscheidung zwischen Nominal- und Realdefinition übernommen habe, ist nichts erklärt. Leibniz füllt die alten Termini mit ganz neuem Sinn Nie ist ihm die Definition — wie er früher meinte — eine bloße Namenserklärung. Gerade hierin erkennt er jetzt den positivistischen Irrtum. Die Definition ist vielmehr d i e e i n d e u t i g e F e s t legung des B e g r i f f s eines Gegenstandes. Das heißt: sie erlaubt, durch Angabe von Merkmalen einen Gegenstand von jedem anderen, ihm ähnlichen e i n d e u t i g z u u n t e r s c h e i d e n . Das aber macht gerade — wie wir wissen — das Wesen der d e u t l i c h e n I d e e aus. Die Definition vermittelt daher die deutliche Idee eines Gegen10*

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standes. Die Namenserklärung ist der Definition sekundär, der Gegenstand wird zur begrifflichen Deutlichkeit erhoben. Hier setzt Leibnizens Unterscheidung zwischen Nominalund Realdefinition ein: Ein Gegenstand ist an sich schon definiert, wenn eine bestimmte Anzahl von Merkmalen h i n r e i c h t , ihn eindeutig von anderen Gegenständen zu unterscheiden. Eine vollständige Kenntnis des Gegenstandes ist nicht erforderlich. So besitzen wir von keinem Gegenstand der Natur eine vollständige Kenntnis. Aber Gold ist durch seine charakteristischen Unterschiede gegenüber anderen Edelmetallen definierbar. Eine solche, n u r h i n r e i c h e n d e Definition nennt Leibniz eine Nominaldefinition. Ihr steht die Realdefinition gegenüber, die den Gegenstand aus seinen Merkmalen b e g r i f f l i c h v o l l s t ä n d i g a u f b a u t , sozusagen „erzeugt". Wenn ich den Kreis als „ O r t aller Punkte" definiere, die von einem gegebenen Punkt gleichen Abstand haben (die „metrische" Kreisdefinition), so gebe ich die Daten zu einer geometrischen Konstruktion des Kreises vollständig. Eine chemische Verbindung ist durch ihre Strukturformel vollständig gekennzeichnet. Nicht wie sie in Wirklichkeit hergestellt wird, macht ihre Definition aus, sondern die begriffliche Angabe ihres Aufbaues aus Elementen. Diese geistvolle, heute noch nicht überholte Theorie, die hier nur in ihren Grundzügen angedeutet werden kann, sieht also das Wesen der Definition in der begrifflichen Fixierung von Erkenntnissen, n i c h t —• wie die „konventionalistischen" Theorien des Positivismus bis zum heutigen Tage — in einer Willkürfestsetzung. Die „Namengebung" ist willkürlich, nicht die „Definition" als logische Operation. Beides verwechselt der Konventionalismus dauernd, wie man leicht an den Grunddefinitionen der heutigen Relativitätstheorie nachweisen könnte. Woher stammen aber die letzten Erkenntnisse, die in einer Definition zur Fixierung gelangen? Diese Frage hat sich Leibniz ganz klar vorgelegt und im Kern immer gleich be-

Nominal- und Realdefinition. Das Urteil

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antwortet. Wir verdanken diese Erkenntnisse ursprünglicher Anschauung, sinnlicher oder aber auch einer höheren geistigen Anschauung, der Intuition. Wir könnten statt dessen auch sagen: empirischer und apriorischer Anschauung. Auf letztere hat nicht erst Kant verwiesen. Sie steckt implizite schon in Leibnizens Theorie der Definition in apriorischen Wissenschaften. All unsere Urerkenntnisse sind anschaulicher Natur. Das begriffliche Denken in Merkmalen, deren Zusammenhang durch die Definition gegeben ist, ist diesem gegenüber ein abgeleitetes, nicht intuitives, sondern „signifikatives Denken". Erst das signifikative Denken, nicht das ursprüngliche intuitive Erfassen, bedarf der Zeichen, der Formulierung. Es setzt Zeichen für Ideen und erreicht den Denkfortschritt durch die Kombination der Begriffe. Als solche faßt Leibniz das U r t e i l im weitesten Sinn, den sprachlichen Satz wie die mathematische, chemische oder anderweitige Formel. Alles signifikative Denken vollzieht sich u n d f o r m u l i e r t s i c h i m U r t e i l . Damit rückt für Leibniz die Theorie des Urteils in den Mittelpunkt seiner Logik der Funktionen, der Logik im engeren Sinn, d. h. im wesentlichen der Theorie, von Urteil, Begriff und Schluß. Für Leibniz ist das Urteil die primäre logische Funktion. Es „setzt" sich nicht aus „elementaren" Begriffen zusammen, die irgendwo isoliert in unserem Verstand ihre Stelle hätten, sondern der logische Prozeß verläuft gerade umgekehrt! Im Urteil vollzieht sich erst die Begriffsbildung. Ist doch die Definition selbst, als wissenschaftlich vollkommene Form der Begriffsbildung, nichts anderes als ein Urteil. Der Gegenstand, den ich in seiner Idee vor mir habe, steht in einer Menge von Beziehungen. Diese Beziehungen aus dem Gegenstand herausholen, als Prädikate dem Subjekt gegenüberstellen, heißt über den Gegenstand urteilen. Die Zeichenkombination des Urteils meint also einen im Grunde analytischen Prozeß, eine Zerlegung des vollen, unanalysierten Subjekts in seine möglichen Prädikationen. Diese „analytische Theorie" des Urteils ist der landläufigen Schulauf-

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fassung des Urteils als einer Synthese von elementaren Begriffen unendlich überlegen, Sie legt erst den logischen Nerv des Urteilsprozesses frei. Es wird verständlich, daß Leibniz die Beziehung des Prädikats zum Subjekt als ein E i n g e s c h l o s s e n s e i n , ein „inesse" des Prädikats im Subjekt faßt. Alles, was ich über einen Gegenstand prädikativ aussagen kann, ist in diesem Gegenstand, genauer in der Idee des Gegenstandes vor mir schon enthalten. Ich „entnehme" das ¡ Prädikat ;.der Vergegenwärtigung des Gegenstandes. Es ist der „Inhalt", den ich am Gegenstand aufzeige. Diese „Immanenztheorie" — wie man Leibnizens Urteilslehre genannt hat — geht nicht von leeren Subjekts- und Prädikatsschemen der Schullogik, sondern von der Stellung des Urteils in den Einzelwissenschaften und im praktischen Leben aus. Und sie hat die monadologische Sicht des Universums im Hintergrund, wonach nur Individuelles wirklich ist und alle Beziehungen letztendig an und zwischen Individuellem sichtig werden- Da steht das Individuelle in seiner Fülle nicht nur als das Enthaltende, sondern als der innere G r u n d aller Beziehungen, die an ihm sichtig werden. Da wird in einer reinen Beziehungslehre wie der Mathematik die eine Beziehung Grund für eine Fülle anderer Beziehungen. In dem „vollständigen Begriff" eines Subjekts müßte demnach auch alles enthalten sein, was wir über das Subjekt aussagen können — im Begriff des Kreises alle überhaupt möglichen Sätze über den Kreis, im Begriff Cäsars, daß er den Rubikon überschreitet, Pompejus besiegt, im Jahre 44 v. Chr. durch Mörderhand fällt. Diese kühnen Folgerungen aus seiner Urteilstheorie werden wir den Denker auch in seiner Metaphysik ziehen sehen, eben weil seine Logik metaphysisch und in der monadologischen Grundanschauung verankert ist. Das! abgegriffene Schulurteil „Cajus ist sterblich" hat also für einen Leibniz nicht den ihm noch von Kant beigelegten U n - S i n n , daß Cajus „zur Klasse der Sterblichem gehöre", sondern den zunächstliegenden, daß es im Wesen, im indivi-

Urteil: Inhaltsauffassung. Scblußlehre

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duellen Begriff des Cajus liege, sterblich zu sein. Und so tritt in der Urteils- und weiter in der Schlußlehre überall die Inhaltsauffassung des Urteils bei Leibniz der äußerlichen „Umfangsauffassung" entgegen. Leibniz läßt die Umfangsauffassung nur gelten, wo das Urteil gar nicht primär eine Aussage über den Gegenstand macht, sondern den Gegenstand begrifflich in eine Gruppe, Klasse oder Art e i n o r d n e t , wie etwa in dem Urteil: Das Pferd ist ein Säugetier, der Mensch ein Lebewesen usw. Leibniz erkennt, daß in allen Wissenschaften das echte Umfangsurteil der logischen Ordnung ihrer Gegenstände dient, also methodologische Bedeutung hat. Soviel zur Urteilsauffassung Leibnizens. Den logisch konsequenten Ubergang zur Schlußlehre eröffnet er sich durch einen Gedanken, der zu den feinsten Intuitionen des großen Logikers gehört. Er erkennt die durchgängige Parallelität zwischen dem Verhältnis der Prädikation, das im Urteil, und dem Verhältnis des Grundes und der Folge, 'das im Schluß vorliegt. Den einzig richtigen Übergang zum Schluß bildet daher für Leibniz das hypothetische Urteil, in dem nichts anderes als ein Grundfolgeverhältnis zum Prädikat wird. Daraus ergibt sich von selbst, daß jedes hypothetische Urteil in einen Schluß umgeformt, umgekehrt jeder noch so verwickelte Schluß grundsätzlich als hypothetisches Urteil mit mehreren „Vordersätzen" ausgesprochen werden kann. Wie einfach gestaltet sich unter diesem entscheidenden Gesichtspunkt die logische Elementarlehre Leibnizens, wie gezwungen und unnatürlich nimmt sich dagegen Kants Urteilstafel aus — um von den üblichen Schuldarstellungen ganz zu schweigen! Die große Klarheit der Leibnizschen Elementarlogik gibt sich schon darin zu erkennen, daß in den fast immer gelegentlichen kurzen Erörterungen ihrer Probleme — vor allem in den Nouveaux Essais — mehr Grundlegendes zum Aufbau der Logik zu holen ist als in den größten Lehrbüchern des vergangenen Jahrhunderts. Das ohne Frage Scharfsinnigste jedoch hat er in seiner „Mathematisierung"

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der Schlußlehre im Zusammenhang des Logikkalküls geleistet. Zunächst führt er als einziger klassischer Logiker die grundlegende Unterscheidung zwischen Sach- und Begriffsschlüssen durch, die schon dem jungen Juristen 1665 an einer Einzelwissenschaft aufgegangen war. Im Syllogismus erkennt er mit Recht den Prototyp des reinen Begriffsschlusses, dessen Grund-Folgeverhältnis lediglich auf dem E i n s c h l u ß bzw. A u s s c h l u ß v o n B e g r i f f e n r u h t . Auf dieses Verhältnis der logischen Immanenz gründet er — im Sinn seiner Inhaltsauffassung — seinen Kalkül. So reicht, was uns im Abschluß der logischen Darlegungen zwingend deutlich wird, die Problematik -der Leibnizschen Logik mitten in die Grundprobleme der Metaphysik hinein. Nicht als ob sie dieselben begründete; im Gegenteil ruht sie letzten Endes überall auf einem metaphysischen Grund, der dem Logischen selbst niemals zu entnehmen wäre. Sie setzt die metaphysischen Urintuitionen des Denkers, sie setzt vor allem die monadologische Struktur des Leibnizschen Universums und das Grundverhältnis der Repräsentation, des Ausdruckseins überall voraus. Nur auf dem Boden einer monadologischen Weltansicht wird Leibnizens Wahrheitsbegriff, der Ausbau seiner Ideenlehre, wird Begriff und Methode der universellen Charakteristik überhaupt verständlich. Leibnizens Logik, umfassend in ihrer Zielsetzung und in ihrem Aufgabenkreis wie keine zweite, legt den Nerv des eigentlich Logischen in einer Tiefe bloß, die in der Gcschichte der Logik seit Plato keine Parallele hat. Und sie zeigt, wie die Logik Piatos und des Aristoteles, daß es eine Logik ohne metaphysische Grundvoraussetzungen, eine ,,metaphysikfreie Logik", nicht geben kann. Darin besteht ihr tiefster Gegensatz zur Logik des Hobbes und des auf ihm weiterbauenden Positivismus, auch des neukantischen, der in seiner Interpretation von Leibnizens Logik deren metaphysischen Kern vergeblich wegzuinterpretieren suchte.

Herzog Ernst August

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Mit dem Regierungsantritt E r n s t A u g u s t s 1680 ändert sich Leibnizens Stellung in Hannover sehr zuungunsten des Denkers. Mit diesem berechnend kühlen, mit zäher Energie nur auf Erweiterung seiner Hausmacht hinarbeitenden Fürsten verbindet ihn von Anfang an kein geistiges Band. Leibniz ist dem Herzog persönlich nie wirklich nahegetreteni — das erweisen die Akten gegenüber aller schönfärberischen Geschichtsschreibung mit nackter Deutlichkeit. Zunächst ist Leibniz ängstlich darauf bedacht, sich in der bisher errungenen Stellung, zu; behaupten. Er wiederholt seine Eingaben um Schaffung eines zentralen Hausarchivs, um die Inspektion der Klostergüter und Stiftungen, er sucht mit allerhand neuen, finanziell aussichtsreichen Vorschlägen sich die Gunst des neuen Herrn in nicht immer würdiger Weise zu sichern. Eine Ritterakademie f ü r die Erziehung der jungen Prinzen und des Adels, nach dem Muster der eben in Turin gegründeten, soll dem Staat Geld bringen und zugleich der ungesunden Auslandserziehung des deutschen Adels steuern. Das Münzwesen soll auf eine neue Grundlage gestellt, ausländische Industrien, so die Seidenzucht, sollen ins Land verpflanzt werden; vor allem aber soll der Harz, dies Wunder einer reichen Naturlandschaft, in jeder Weise ausgenutzt werden — das große Windmühlenprojekt erscheint Leibniz nur als Glied in einer Kette den Harz betreffender Projekte. Der Herzog rechnet nüchtern und sachlich. Der Ausbau der Bibliotheken und Archive interessiert ihn nicht. In sechs Jahren hat er dafür kaum mehr als siebenhundert Taler übrig — kaum ein Sechstel der von seinem Vorgänger in wenigen Jahren ausgeworfenen Summen. In die hohe Politik wird Leibniz — wie er bald mit Bitterkeit bemerkt — nicht hereingezogen, auch nicht in beratender Tätigkeit; im Ministerium spielt er neben dem von Osnabrück mitgebrachten neuen ersten Minister Platen, dem zum Kammerpräsidenten ernannten Grote und dem Erzkanzler Ludolf eine recht untergeordnete Rolle. Das einzige Projekt, von dem sich der Herzog — entgegen den Einflüsterungen der

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Bergkammern — gewisse Vorteile verspricht, ist das Windmühlenprojekt. Er bestätigt die weitgehenden Verträge und Garantien seines Vorgängers — und Leibniz wirft sich mit Feuereifer in die Arbeit. Auf 31 Reisen hat Leibniz in den Jahren 1680 bis 1686 etwa 165 Arbeitswochen im Harz geweilt... In dem gesamten Brief- und Aktenmaterial der Hannoveraner Jahre schwingt kein Ton einer persönlichen Beziehung zu Herzog Ernst August, dem „größten Gentleman seiner Zeit". Ganz auf Glanz, Äußerlichkeiten, Repräsentation gerichtet, von Mätressen beherrscht, hat er kein Interesse für Leibnizsche Gedankengänge. Um so eigenartiger berührt angesichts der kühlen Haltung des Herzogs das ganz andersartige, ausgesprochen persönlich freundschaftliche Verhältnis, das Leibniz sehr bald mit der geistvollen Herzogin Sophie, der zweiten Tochter des „Winterkönigs" und wohl kaum weniger geistvollen Schwester der berühmten Prinzessin Elisabeth Charlotte von der Pfalz, verband. Inmitten eines äußerlich glanzvollen, innerlich hohlen und zum Teil recht sittenlosen Hoflebens, das in allem das große Vorbild von Versailles nachzuahmen suchte, müssen sich die beiden einzig überragenden Geister des damaligen Hannover sehr bald gefunden haben. Als Leibniz sich einmal über die Interesselosigkeit und Arroganz der Hofleute bitter beklagte, meinte der Kanzler Grote zu ihm tröstend: „Am Hofe will man nur lachen, urteilt nur nach dem Vergnügen, das man davon gehabt hat, und will durchaus nichts zu denken haben. Alles, was man in diesen Kreisen nicht begreifen kann, beleidigt." Mit dieser klugen Charakteristik hat Grote die Geistigkeit des Hoflebens an der Wurzel getroffen. Kein Wunder, daß zwei so markante Gestalten wie Leibniz und Sophie bald eine Atmosphäre um sich schufen, die nun in krassem Gegensatz zu den Niederungen frivoler Geselligkeit stand und alle edleren Geister, nicht zuletzt auch nach und nach Ernst August selbst, in ihren Bann zog. Aus dieser hohen und überlegenen Atmosphäre einer geistreichen und vor tief-

Herzogin Sophie

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sten Fragestellungen nicht zurückscheuenden Geselligkeit wird allein der f a s t anmutig zu nennende Briefwechsel verständlich, in dem sich Leibniz und die spätere Kurfürstin über die bedeutsameren Ereignisse des Tages wie über strenge Problemstellungen Leibnizschen Philosophierens mit gleicher Leichtigkeit und Biegsamkeit des Ausdrucks unterhalten. In diesen Briefen zeigt sich Leibniz, wie sonst selten, von der neuen Seite eines gesellschaftlich freien, eindrucksvoll anschaulichen und doch immer die exakte Problemstellung im Auge behaltenden und weiterführenden Philosophierens. Und ehrliche Bewunderung verdienen die Anfragen, Einwürfe und Antworten seiner Gönnerin, über die Leibniz nicht zu Unrecht immer wieder entzückt ist. Sie sind von seltener Natürlichkeit und weiblicher Geistesschärfe, die mit den gefährlichsten Fragen fast spielerisch umzugehen scheint und doch wunde Stellen der Beweisführung, Möglichkeiten der praktischen Anwendung und unerwartete Weiterungen mit instinktiver Sicherheit herausfühlt. Man spürt in dem eigenartigen geistigen Kontakt dieser Briefe, daß Philosophie sehr wohl eine lebendige Macht auch im geselligen Kreise sein kann — ein Wandeln auf den Höhen des Geistigen, das sich nichts von seiner geselligen Freiheit vergibt; ein Stück souveräner Lebensbejahung und Lebensbeherrschung — das ist die Atmosphäre von Schloß Herrenhausen, wo man bei der Tafel mit dem Abt Molanus über den Sinn der Unsterblichkeit streitet. „Der Geist Ew. Hoheit — schreibt Leibniz unterm 5. Januar 1684 aus Zellerfeld — , welcher an erster Stelle unter den großen Geistern der Zeit genannt werden, muß, durchdringt bald alle Geistesgebiete. Neben Ihnen leuchtet wie das Tagesgestirn die unvergleichlichste Prinzessin . . . " Alle manchmal recht heiklen Fragen der Hauspolitik, in welche die Herzogin zum Teil vorbereitend eingreift, der Stand der Reunionsverhandlungcn, die mütterliche Sorge um die Karriere der Söhne am Wiener Hof, die sie durch Leibniz auf alle Weise gefördert sehen möchte, finden in dem Briefwechsel ihren Niederschlag. Den Höhepunkt des Brief-

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Wechsels bilden naturgemäß die Wiener Jahre 1687/88'. In späteren Jahren ist Leibniz ja fast täglicher Gast in Herrenhausen, wo an der Tafel, im Park, auf Spazierfahrten die schwierigsten Probleme Leibnizscher Metaphysik zur Sprache kommen. Nicht zu ihrem Vorteil hat Leibniz in den philosophischen Spätwerken, den Nouveaux Essais und der aus Gesprächen mit der Kurfürstin Sophie hervorgegangenen Theodizee seine Sprache dem Ton dieses gesellig-philosophischen Gedankenaustausches angepaßt. Wohl finden sich in den Briefen manche populär lichtvolle Ausdeutungen seiner Metaphysik; doch werden auch umgekehrt tiefste Fragen mit einem „je ne scais quoi" von Nonchalance behandelt, das scharf gegen den Ernst, die nachdrückliche. Kürze von Leibnizens klassischen Formulierungen absticht. Für das große Werk der Kirchenvereinigung brachte kaum jemand in Europa günstigere Voraussetzungen mit als Leibniz. Schon als angehender Student hatte er sich — wir erinnern uns — mit großartiger Objektivität in die umfangreiche Kontroversienliteratur eingearbeitet, als theologisch hochgebildeter Laie und Jurist verfügte er über alle Mittel und besaß außerdem alle natürlichen Fähigkeiten, den Unterhandlungen das Gewicht ernstester Prüfung und ehrlicher Objektivität zu verleihen. In dem milde und versöhnlich, dabei durchaus vaterländisch gestimmten Kreis des Mainzer Kurfürsten und Boineburgs hatte er den Katholizismus von seiner geistig besten Seite kennen und verstehen gelernt. Keinen Zweifel dürfen wir in den Ernst seiner damaligen Versuche setzen, die wichtigsten christlichen Dogmen soweit wie möglich in einem beweisenden Verfahren vernünftigem Glauben annehmbar zu machen. Ebenso war der Toleranzgedanke ja schon dem Mainzer Akademievorschlag zugrunde gelegen. Ja die Akademiemitglieder sollten geradezu den Kern einer überkonfessionellen religiösen Vereinigung bilden, wofür er eigene „Friedensregeln" entwickelt hatte.

Kirchenvereinigung

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Diese ausgesprochen religiös überkonfessionelle Stimmung beherrscht auch Leibnizens Hannoveraner Vorschläge. Der „Verein der Gottesfreunde", den er im Zusammenhang mit der Akademie in Hannover gründen will, zeugt von einer fast mystischen Stimmung. In seiner Idee wurzelt auch, daß Leibniz sich bis in die Spätjahre gerne die Namen Pacidius und Theophilus beilegt. Die tieferen religiösen und politischen Motive, die hinter den allerorts neu auftauchenden Wiedervereinigungsbestrebungen wirksam waren und ihnen die Kraft lebendiger Bewegungen gaben, sind auch in Leibnizens Verhandlungstätigkeit leicht erkennbar. Der Gedanke der e i n e n christlichen Kirche, den auch die Confessio Augustana festgehalten hatte, war noch durchaus lebendig, die alte Kirche innerlich vielleicht mehr denn je zu weitgehenden Zugeständnissen bereit; nicht umsonst erinnert Leibniz gerne daran, daß im Rahmen der alten Kirche schon schärfere Gegensätze der Lehre überbrückt worden waren; der Gegensatz zwischen dem altgläubigen Protestantismus und der Altkirche schien — trotz des Tridentinums! — nicht unüberwindlich. Was aber beide Parteien einander näherrückte, war der drohende Kulturzerfall nach dem Dreißigjährigen Krieg und der gemeinsame Doppelfeind aller echt christlich Denkenden: der Türke vor den Toren Europas und der Atheismus. In diesem Kampf — das war Leibnizens unverbrüchliche Hoffnung! •— mußten sich die Geister ehrlich begegnen. Gegen beide Mächte war Leibnizens äußeres und inneres politisches Denken und Handeln vom ersten praktischen Eingreifen in Deutschlands politisches Geschehen an ausgerichtet. So wird von selbst verständlich, daß Leibniz sich nunmehr mit leidenschaftlichem Eifer erneut den Reunionsbestrebungen zuwenden mußte, die seit wenigen Jahren in ganz Europa wie Zeichen einer kommenden schöneren Zeit aufflammten. Den stärksten Anstoß hatte der große französische Kanzelredner B o s s u e t mit seiner 1671 erschienenen „Darlegung des Glaubens der katholischen Kirche" gegeben, worin er die von Ludwig, schon hart bedrängten fran-

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zösischen Reformierten f ü r die alte Kirche wiederzugewinnen suchte. Ein zweiter Anstoß war vom friedliebenden Kaiser Leopold ausgegangen. Der Türkenkampf forderte gebieterisch den Ausgleich der religiösen Spannungen mit den ungarischen Protestanten. Bischof S p i n o 1 a von Weißenburg führte die Verhandlungen und erhielt vom Kaiser die Genehmigung, auch die norddeutschen Fürstenhöfe zwecks Anbahnung einer zunächst organisatorischen Wiedervereinigung der drei getrennten christlichen Kardien zu besuchen. Er erschien, nachdem er auch beim Großen Kurfürsten angeklopft hatte, zu Beginn des Jahres 1679 am hannoveranischen Hofe. Freilich waren hier die Aussichten noch weniger günstig als anderswo, da der katholische Herzog jeden scheinbaren Eingriff in die religiösen Angelegenheiten des protestantischen Landes zu vermeiden suchte. Leibniz durchschaute sofort, daß Spinola nicht die geistige Kapazität war, ein derartiges Werk erfolgreich zustande zu bringen. So wandte er sich brieflich an Bossuet selbst und deri ihm von Paris her bekannten Bischof Huet als die geistigen Häupter der gallikanischen Kirche. Keine Frage war für Leibniz, daß er sich eine Wiedervereinigung der Kirchen inur unter voller Wahrung der protestantischen Lehrfreiheit denken konnte, die f ü r ihn mit der wissenschaftlichen Denkfreiheit zusammenfiel. Doch innerhalb dieses Rahmens war er zu weitestgehenden Zugeständnissen bereit. Sie erflossen aus seiner alten, schon in der „Nova Methodus" von 1665 klar ausgesprochenen juristischen Auffassung von Kirche und Theologie. Daß nur e i n e einheitliche Kirchenorganisation in! Wahrheit mit dem Bibelwort vereinbar war, schien ihm selbstverständlich. Aus solcher Überlegung heraus hat er auch einmal die theologische Falkultät in Helmstedt unbedenklich zur gutachtlichen Anerkennung des päpstlichen Primats gezwungen. Wenn es daher gelang, die entscheidenden Sätze des Tridentinischen Konzils auf dem Verhandlungswege außer Kraft zu setzen, dann war f ü r ihn' keine Frage, daß protestantischerseits die Verbindung mit der der römischen Kurie

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am selbständigsten gegenüberstehenden gallikanischen Kirche den meisten Erfolg versprach. Im August 1679 schrieb er an Huet, dessen plumpen Bekehrungsversuch überlegen ablehnend: „Den Papst Innozenz XI. höre ich wegen seines heiligen Lebenswandels, seines vortrefflichen Willens und seiner Weisheit loben. Dazu kommt des Kaisers glühende Frömmigkeit und des größten Königs höchste Tugend. Daher wird entweder jetzt etwas geschehen oder ich fürchte, wenn wir die Gelegenheit vorübergehen lassen, wird das allen heilsame Werk noch auf Jahrhunderte hinausgeschoben..." Der Tod des Herzogs und der Raub Straßburgs hatten den Verhandlungen ein rasches Ende gesetzt. Um so williger ergriffen Herzog Ernst August und seine geistig überragende Gemahlin bei einem neuerlichen Besuche Spinolas zu Anfang 1683 die Gelegenheit, die Verhandlungen über die Kirchenvereinigung ganz an ihren Hof zu ziehen. Es ist nicht immer leicht, sich in den Geist dieser fürstlichen Aufklärungsbestrebungen zu versetzen, aus denen auch Leibnizens vielfältige Arbeit an den neuen Reunionsverhandlungen beurteilt werden muß. Die brennende Frage der Wiedervereinigung der getrennten christlichen Kirchen wird in Hannover als persönliche Angelegenheit des Hofes und im wesentlichen als diplomatische Frage behandelt. Die geistvolle Herzogin, selbst reformierten Bekenntnisses, nimmt daran ernstesten Anteil, wenn sie darüber auch einmal scherzend an Leibniz schreibt, man müsse auf eine außerordentliche Offenbarung hoffen; und da das Christentum durch eine Frau in die Welt gekommen sei, so wäre es glorreich für sie, wenn die Union durch sie zustande käme; nur bedürfe es besonderer Einflüsse, um dies zu vollbringen. Den Reunionsverhandlungen war freilich nur ein äußerer Schein des Fortschrittes beschieden, solange der 1683 wieder in Hannover aufgetauchte Bischof Spinola die katholische Sache vertrat (1683—1686). Mit unglaubwürdig weitgehenden Vollmachten von Kaiser und Papst versehen, die sogar eine Aufhebung des Tridentiner Konzils in den Kreis der Möglichkeiten zogen, begegnete er in Deutschland in allen

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Lagern, und vor allem auch bei Leibniz, größter Skepsis. Der Herzog hatte sich jedoch nun einmal in den Kopf gesetzt, sich auf diesem gefährlichen Boden politische Lorbeeren zu holen, und Leibniz hatte sich zu fügen. Die wiederum von Abt Molanus und dem jungen Calixtus mit Spinola im geheimen in der Residenz geführten Verhandlungen versprachen aufsehenerregende Erfolge. Schon im März 1683 war nach kurzer Verhandlung ein „Methodus reducendae Unionis inter Romanenses et Protestantes" fertiggestellt, dem bald darauf eine auch die Reformierten einbeziehende Denkschrift ,,Regulae circa Christianorum omnium ecclesiasticam unionem" folgte, diei — 1691 gedruckte — Grundlage für alle weiteren Verhandlungen, auch in Ungarn und Frankreich. Wie der Kaiser, so erklärten sich überraschenderweise Papst Innozenz XI. und mehrere ¡einflußreiche Kardinäle zustimmend zu der Denkschrift. Aufrichtige Katholiken, wie der Landgraf von Hessen, und Reformierte, wie die Herzogin Sophie, befürchteten in diesem Vorgehen eine Falle, und auch der damals in den Bergwerken im Harz vollbeschäftigte Leibniz warnte den Abt Molanus vor dem undurchsichtigen Bischof. Noch in den Sommermonaten von 1686, also kurz nach Beendigung der „Metaphysischen Abhandlung", rät Leibniz dem Herzog, die offenstehenden Kontroversen nicht zu leicht zu nehmen, um „mit aller möglichen Aufrichtigkeit und Genauigkeit, ohne Verstellung und Verheimlichung handeln zu können". Die unklaren Abmachungen der „Hannoveraner Theologen", die unter Zurückstellung der verschiedenen Lehrmeinungen auf die Vereinigung aller Christen in einer einheitlichen Hierarchie hinausliefen, boten gewiß keine genügende geistige Grundlage für einen dauernden Erfolg. Äußerlich aber scheiterten die von Spinola bis zu seinem 1695 erfolgten Tode geführten Verhandlungen an viel realeren Mächten: zunächst an der französischen Kirchenpolitik Ludwigs XIV., dem an einer Aufhebung der für seine Politik so günstigen religiösen Gegensätze auf dem europäischen Kontinent nicht das mindeste gelegen war. In merkwürdigem Zusammen-

Scheitern der Unionsverhandlungen

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treffen verflicht sich mit dem Intrigenspiel des Königs der ehrliche, aus einer tiefreligiösen Grundhaltung, genährte Widerstand des größten französischen Theologen der Zeit, des Bischofs Bossuet, gegen alle äußerlich diplomatischen Lösungen der Reunionsfrage. Schon den ersten Verhandlungen in Hannover vom Jahre 1683 hatte Spinola Bossuets tiefdringende „Exposition de la foi" zugrunde gelegt, das beste apologetische Werk auf katholischer Seite. Leibniz sah von Anfang neben dem greisen Arnauld, dem bedeutendsten Wortführer der Jansenisten, in dem jüngeren Bossuet den eigentlichen Partner, mit dem es sich in ernsteren Verhandlungen auseinanderzusetzen galt. Ja darüber hinaus erblickte er in der weitgehenden Annahme seines methaphysischen Systems in philosophisch geschulten Kreisen geradezu eine der wichtigsten inneren Voraussetzungen auch f ü r eine kirchliche Annäherung. Nicht umsonst hat er sich in dem durch drei Jahre sich hindurchziehenden Briefwechsel mit Arnauld von 1686 bis 1689 um ein philosophisches Verständnis seiner Systematik bei dem greisen Theologen bemüht. Für Leibniz gibt es keine grundsätzliche Trennung von Philosophie und Religion, und nichts ist verkehrter, als seine philosophischen und religionspolitischen Bemühungen als zwei getrennte Sphären zu betrachten, die nichts miteinander zuf tun hätten. Gewiß ringt sich Leibniz, und vielleicht gerade unter dem Eindruck der ischeiternden Unionsverhandlungen, seit 1690 immer mehr zu einer ausgesprochen unkirchlichen, undogmatischen Religionsauffassung durch. Eben darum steht er dem Plan einer weitgehenden organisatorischen Wiedervereinigung der Kirchen bei völliger Freiheit der Lehrmeinungen durchaus sympathisch gegenüber. Ihm geht es um die politische Ausschaltung der dogmatischen Differenzen nicht nur, sondern um die Herausschälung des eigentlich positiven religiösen Kerns in den christlichen Bekenntnissen. Er stellt sich gegenüber den Bekehrungsversuchen von seiten des französischen Katholizismus und der Kurie klar und unmißverständlich wie selten sonst auf den unerschütterlichen Standpunkt der 11

Huber, Leibniz

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Augsburgischen Konfession, was den Kernpunkt der Freiheit des Christenmenschen betrifft. Aber er ist weit entfernt von einem dogmatisch gebundenen Luthertum und steht, wie noch eingehender zu erweisen, in wichtigsten Grundpositionen dem Kalvinismus viel näher. Das Jahr 1683 steigt herauf. Mit ihm die unsagbare Not des Reiches, das die Türken vor Wien sieht und im Westen von Ludwig XIV. bedrängt wird. Da zieht Leibniz die Rechnung langer, bitterer Erfahrungen mit der Politik des Sonnenkönigs. Der großartige Entsatz Wiens durch Sobieski und den Herzog von Lothringen wird für ihn zum Auftakt eines neuen, begeisterten Bekenntnisses zu Kaiser und Reich. In Versen feiert er diesen Wendepunkt deutscher Geschichte. Doch Verse sind nicht seine Stärke. Das eindeutigste Bekenntnis zu seinem Deutschtum ist die erbitterte Satire, die er auf Ludwigs neue Angriffspläne schreibt: der „ M a r s C h r i s t i a n i s s im u s". Leibniz hat sie selbst lateinisch und französisch erscheinen lassen. Eine etwas später erschienene deutsche Übersetzung fand wenig Verbreitung. Man soll eine gute Satire nicht zerpflücken; sie will als Ganzes genossen sein. Leibnizens Satirenkunst ist messerscharf,' hart, gedankenreich, aber nicht volkstümlich. Unter der Maske des Franzosenfreundes („Gallograecus") hält er Ludwigs brutaler Machtpolitik seit 1672 ein vernichtendes Sündenregister vor. Wo Macht Recht wird und von sich aus bestimmt, was „Rechtens ist", hört jeder Maßstab auf. Darum hält er's mit der Definition des Thrasymachos bei Plato: Gut ist, was dem Mächtigeren nützt. Der Mächtigste ist Gott, nach ihm — vom Teufel abgesehen — der große König. Als „weltlicher Statthalter Christi" steht er außerhalb des gewöhnlichen und Völkerrechts. Es ist not, eine neue Jurisprudenz für ihn zu verfassen; denn was er tut, ist recht. Die „göttliche Vorsehung", die den französischen Faulenzer und ébauché von Erfolg zu Erfolg steigen läßt, während dem arbeitsamen frommen Kaiser Leopold alles schief geht, läßt sinnfällig erkennen, auf wessen Seite sie steht. Wer als

,,Mars Christianissimus"

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deutscher Fürst sich nicht unter die Hut dieses Schirmers der Christenheit stellt, lökt wider den Stachel der Geschichte. Und so geht es weiter, Hieb um Hieb auf das freche Gebaren der französischen Minister, auf den katholischen Klerus und die „Fürstenberge", auf die Reichstage, auf Pufendorfs und der typischen Protestanten „kleindeutschen Gesichtswinkel" setzend, erst amüsant, bald zum bittersten Vorwurf sich steigernd, mit dem wahren Maßstab der Geschichte richtend. Eines hat er freilich vergessen: daß der einzige deutsche Fürst von Bedeutung, der den Kaiser in höchster Not, augenblicklich ein Franzosenfreund, im Stich ließ — der Kurfürst von Brandenburg war. So macht er auch saure Miene zum bösen Spiele, als das Haus Hannover, vor der Vermählung der Prinzessin Sophie Charlotte mit dem Kurprinzen Friedrich Wilhelm von Brandenburg stehend, wohl oder übel in die Bündnispolitik des Großen Kurfürsten mit den Franzosen hineingerissen wurde. Das bedeutete f ü r Jahre eine merkliche Abkühlung des traditionell guten Einvernehmens mit dem Kaiserhause. Man bemühte sich, durch eifrigen Militärdienst der Prinzensöhne am Wiener Hof und Entsendung eines nicht unbedeutenden Truppenkontingents gegen die Türken die Scharte auszuwetzen. Auch ward das hervorragend tapfere Verhalten der beiden Prinzen beim glorreichen Entsatz von Wien unter der Fahne des Grafen Ragatta vom Kaiser nicht vergessen. Für wen Leibniz den „Mars Christianissimus" geschrieben hat? Fürs Volk sicher nicht — da waren die urwüchsigen und von höchstem vaterländischem Empfinden getragenen Predigten des Abraham a Santa Clara schon wirksamere Publizistik!. . . Die politische Linie, die Leibniz während der folgenden zehn bis zwölf Jahre nach Erscheinen des „Caesarinus Fuerstenensis" einhielt, erweist sich bei näherem Zusehen nach außen und innen durchaus gleichmäßig und geradlinig. Der „Mars Christianissimus" bildet den Höhepunkt des leidenschaftlichen publizistischen Kampfes gegen den Sonnenkönig. Aber u*

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niemand konnte bei ruhiger Überlegung zweifeln,, daß zwischen dem publizistischen Ideenkampf gegen Ludwig XIV. und realen politischen Maßnahmen gegen Frankreich ein gewaltiger Unterschied bestehen mußte. So wäre es lächerlich, in den « C o n s u l t a t i o n s t o u c h a n t l a g u e r r e o u l ' a c c o m o d e m e n t a v e c l a F r a n c e » des Jahres 1684, in denen Leibniz ebenso bestimmt unter Abwägung aller Gründe und Gegengründe f ü r Fortsetzung des Krieges mit Frankreich dennoch zur friedlichen Auseinandersetzung rät, irgendwie eine charakterliche Zweideutigkeit erblicken zu wollen. Im Gegenteil verrät diese sorgfältige Darlegung den ganzen vaterländischen Ernst! und unbestechlich klaren Blick des S t a a t s m a n n e s Leibniz. Satiren vermag auch ein im Grunde ganz unpolitischer Publizist zu verfassen; reale Vorschläge erfordern, wenn sie ernst genommen werden können, den verantwortungsbewußten Politiker. Und diese Denkschrift für den Herzog, welche die Stellungnahme Hannovers auf dem künftigen Reichstag zu Regensburg präzisieren sollte, ist von unleugbare - Wirkung gewesen! Mit imponierender Strenge fordert er für die kommende Entscheidung, eine Entscheidung des Staates auf Leben und Tod, „einen Augenblick völliger Geistes- und Gemütsruhe, um nur und allein auf die Stimme der Vernunft zu hören". Gerechtigkeit, Ehre, Selbsterhaltung sprechen durchaus für die Fortsetzung des Krieges. Mit dem Verlust der spanischen Niederlande ist Holland verloren, der Rhein ungedeckt; Frankreich wird den katholischen Klerus an sich ziehen und einen, neuen Religionskrieg entfachen. Aber noch stärker sind die Gegenmomente, die noch nicht gebannte Türkengefahr, Tökölis Aufstand in Ungarn, dessen offenkundige Verbindung mit Frankreich; Brandenburg steht grollend beiseite. Darum ist Leibniz, um Zeit zu gewinnen, für den Waffenstillstand. Daß er von Frankreich dennoch! bei nächster Gelegenheit gebrochen werde, sieht er klar voraus. Leibnizens dringender Rat fand Gehör. Am 15. August 1684 nahmen Kaiser und Reich auf dem Reichstag in Regensburg den zwanzigjährigen Waffenstillstand mit Frankreich an. Ja

Augsburger Bund gegen Frankreich

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auch der von Leibniz so dringlich besorgte engere Zusammenschluß der frankreichfeindlichen Mächte folgte: Im Jahr 1686 schlössen auf Betreiben Wilhelms von Oranien der Kaiser und mehrere Reichsstände, Brandenburg, Holland, Schweden und Spanien sich zum Augsburger Bund gegen .den Erzfeind Frankreich zusammen. Leibniz "weiß sich für kurze Zeit auf dem Höhepunkt seiner politischen Erfolge: «L'Allemagne n'a jamais été mieux unie qu'elle est à présent», schreibt er begeistert 1 9 . Ganz Europa ist gegen Frankreich aufgebracht. Die ungarische Gefahr ist durch die freilich blutige Niederwerfung Tökölis beseitigt, der Herzog Karl von Lothringen hat d a s seit 146 Jahren türkische Ofen befreit — der Kaiser schreitet von Erfolg zu Erfolg. Selbst das furchtbare) Blutgericht von Eperies gegen die aufständischen Reformierten in Ungarn vermag die allgemeine Freude über die Bannung der Türkengefahr nicht zu übertönen. Schon schien man sich in Wien mit dem Gedanken zu tragen, das zerfallende türkische Reich zwischen Österreich und Frankreich zu teilen — ein Kerngedanke des Ägyptischen Plans schien damit der Erfüllung nahe zu sein. Nimmt es da wunder, wenn Leibniz, der mit bewundernswerter Konsequenz ein Leben hindurch an seinen politischen wie wissenschaftlichen Grundideen festhielt, gerade in dieser günstigen und doch in manchem wieder an den Winter 1671 erinnernden Situation den Ägyptischen Plan selbst wieder in Vorschlag brachte? Im Gegenteil. Frankreich — das sah er scharf — war gedemütigt, aber keineswegs geschwächt; er wußte, daß der König nur auf einen passenden Augenblick wartete, sich zu rächen und aufs neue in Deutschland! einzufallen. Ob nicht diesmal, unter für das Reich besseren Umständen, das Ablenkungsmanöver auf Ägypten gelingen konnte? Aus dem Mißerfolg von 1672 hatte er gelernt. An Hiob Ludolf schreibt er im Sommer 1687, daß die Franzosen jetzt vielleicht auf den Vorschlag eingehen werden, „wenn e i n R a t g e b e r v o n g l e i c h e m A n s e h e n — in Gestalt des siegreichen Österreichs! — a u f t r ä t e " . Auf geheime Botschaften ohne das nötige politische Gewicht, wie unter

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Boineburg, wollte er sich nicht mehr verlassen. Diesmal versucht er es auf publizistischem Weg in der merkwürdigen Schrift „Wahres Interesse der Krone Frankreichs oder des großen Königs Hauptdessein — durch eine vielleicht nicht ganz ungegründete Muthmassung freimütig und offen entworfen von einem deutschen Freund der vereinigten Niederlande. Leipzig bei Weidmann 1687". Man erkennt am Titel: Die deutsche offentliche Meinung und vor allem der Wiener Hof soll bearbeitet werden. Erst in zweiter Linie richtet sich die Schrift auch an Frankreich. Man kann sich freilich schwer denken, wie diese Tänkevolle Mischung von Franzosenspott im Ton des „Mars Christianissimus" und anscheinend ernstem Hinweis auf die politischen Möglichkeiten, die sich dem König in einem Feldzug gegen die Türken boten, auf die französische Politik hätte eine Wirkung tun sollen. Wollte Leibniz mit der erneuten Auftischung des französischen Sündenregisters den König moralisch binden? ihm den Türkenkrieg als „Rechtfertigung" seiner bisherigen Politik empfehlen? Das hatte eben nur Sinn, wenn er den neuen Bruch des Waffenstillstandes kommen sah — als letzter Hinweis, daß Ludwig XIV. durch Übernahme der Führung im Kampf gegen die Türken Österreich empfindlicher treffen könne als durch den erneuten Raub deutschen Bodens. Vom Kern des Ägyptischen Planes, der Besetzung Ägyptens, fällt freilich kein Wort mehr. Eine zweite, schonungslos scharfe Schrift vom Sommer 1688, „Das verwürzte Köln oder die geschwächte kölnische Kurwürde", eifert schon offen zum neuen Kampf gegen den französischen Räuber. Sie wendet sich gegen die französischen Versuche, den Verräter Fürstenberg auf den eben erledigten Kursitz von Köln zu erheben. Klar deckt! er den Hintergedanken Ludwigs auf, beim Tode des alternden Günstlings das Erzbistum Frankreich einzuverleiben. „Bei Wiens Belagerung galt es für Österreich: Philister über dir, Simson! Frankreich und Fürstenberg lauerten wie die Füchse auf den Ausgang, um nach Eroberung Wiens den ganzen Rheinstrom nachzuholen. Aber der Mensch denkt, Gott lenkt.

Publizistik gegen die Raubkriege Ludwigs XIV

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Das hohe Haus Österreich sdhwung seine siegreichen Adlersflügel in die Höhe und bleibt bis jetzt ein Meister der Türken und Ruthe der Ungläubigen. Und nun Frankreich gegenüber, es gehe nun drunter oder drüber, so muß einmal die Karte zerrissen werden. Man zwickt und zwackt Deutschland so lange, bis der Adler gegen Occident fliegt und den stolzen Hahnen zu parieren treibet." Inzwischen hatte sich Leibniz — Ende 1687 — auf die italienische Reise begeben. Von Wien aus schreibt er im August 1688 an Hiob Ludolf: „Der gegenwärtig verhandelte Friede mit den Türken wird nicht zustande kommen. Wir haben große Hoffnung, dieselben jetzt ganz aus Europa zu vertreiben, wenn nicht im Westen ein Ungewitter aufsteigt." Das Ungewitter ließ nicht lange auf sich warten. Der schmähliche Einbruch von Ludwigs Mordgeneralen über den Rhein am 24. September 1688, die Niederbrennung des Heidelberger Schlosses und von Worms, die Plünderung der Speierer Kaisergräber, die Verwüstungen in Franken und Schwaben ließen keinen Zweifel mehr, was von dem allerchristlichsten König zu erwarten stand. Am 18. Oktober erging auf die übermütige französische Kriegserklärung das kurze, aber in würdiger Form abgefaßte Kaiserliche Antwortsmanifest. Kein Geringerer als Leibniz ist dessen Verfasser. Die Autorschaft wird durch den Inhalt der «Réflexions sur la déclaration de la guerre» sichergestellt, die Leibniz den Kanzlern Stratmann und Grafen Königseck im Dezember aus Italien übersandte. Sie führten im einzelnen die Gedanken des Manifestes weiter durch 20 . Die Reflexionen sind ein Muster großer politischer Schriftstellerei. Mit der Kraft und geistigen Überlegenheit dessen, bei dem das Recht steht, reißt Leibniz dem König und dessen üblen Beratern die Friedenslarve vom Gesicht, Punkt um Punkt der lächerlichen Anwürfe gegen Kaiser und Reich mit vernichtenden Gegenschlägen erwidernd. Überall ist der großdeutsche Gesichtspunkt der unzerstörbaren Reichseinheit für Leibniz maßgebend: Das Reich läßt sich das Recht der freien Bündnisse, der militärischen Sicherung, der Entscheidung

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über die Erbansprüche in der Pfalz nicht durch den frechgewordenen Nachbarn nehmen; der Reichsgedanke fordert — gerade im Krieg gegen Frankreich — die Unterordnung der deutschen Fürsten unter Österreichs Leitung, um die Freiheit und Selbständigkeit der Deutschen zu erhalten, die unter Frankreichs Despotenherrschaft gänzlich verloren wäre. In vollem Umfang deckt Leibniz in den Reflexionen die kaiserliche Politik als Reichspolitik — selten ist in diesen Zeitläufen eine so wahrhaft deutsche Sprache gegen den Erbfeind gesprochen worden. Sie kann nur der Feder entstammen, die im Manifest mit den kräftig schönen Worten schloß: „Man verzagt in Deutschland nicht; den Türken, den Brecher der alten Verträge, hat man gebändigt und zu Boden geworfen; man wird auch noch den Franzosen, den Brecher der frischen Verträge, niederwerfen können." Zum Überfluß sendet Leibniz noch im Oktober an Kaiser Leopold die „Geschwinde Kriegsverfassung, so weiland König Ludwig XIII. in Frankreich in einer dringenden Not hat ergeben lassen" — als Beispiel, wie man auch vom Feinde lernen müsse, und mit einer wenig schmeichelhaften Einleitung f ü r seine lieben Deutschen versehen, die vor allem den „hohen Herren" ordentlich zu Leibe rückt. Freilich war zum Schlüsse alles Predigen und alle Vorschläge in den Wind geredet. Gegen die Überlegenheit der französischen Waffen war mit dem schwerfälligen deutschen Kriegsapparat auf die Dauer nichts auszurichten. Über die Geschlossenheit und Einheitlichkeit des von Leibniz gegen Frankreich geführten publizistischen und im engeren Sinn politischen Kampfes kann kein Zweifel sein. Er kämpft lediglich als Deutscher mit seinen geistigen Waffen; kein Sonderwunsch hannoveranischer Serenissimi, keine protestantische Eigenbrötelei kann ihn hindern, die kaiserliche Politik in jeder Hinsicht zu stützen, den Reichsgedanken bei Fürsten und Volk lebendig zu erhalten. Nun hat er aber auch weiterhin seine immer bereite Feder in den Dienst

Hannoveranische Primogenitur und Kurwürde

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weifischer Hauspolitik zu stellen. Kann er beides miteinander vereinen? Ja und nein. Mit ungewöhnlicher Energie und gegebenenfalls über Leichen schreitend verfleht Herzog Ernst August seine Hausmachtziele. Er drückt in seinem Hause, gegen die Einwände der eigenen nachgeborenen Söhne, ein P r i m o g e n i t u r g e s e t z durch, das der weiteren Teilung seiner Erblande Vorschub leistet. Eine traurige Familientragödie, in die Leibniz, zumindest als Berater der Herzogin Sophie, hineingezogen wird, ist der Erfolg. Von den Verwandten der Wolfenbüttler und Celleschen Linie angestiftet, tritt der junge Herzog in einer Verschwörung gegen den unerbittlichen Vater auf. Die Gründe, mit denen Leibniz in seiner Staatsschrift das Primogeniturgesetz stützt, lassen sich hören. Er geht geschickt und sachlich vollberechtigt von den Erfordernissen des Volkes aus. „Die Völker gehören einem Herrn nicht wie Pferde, Ländereien und anderes Besitztum, das er immerhin unter seine Kinder verteilen mag. Sondern es ist Aufgabe und Pflicht, die fürstliche Macht, s t a t t sie durch beständige Erbteilungen fortgehend zu schwächen, vielmehr zum Wohle der Untertanen nach Gottes Willen zu stärken." Auch verweist er auf die Verteuerung der Hofhaltungen, den Anlaß zu Kleinkriegen, die aus dieser dem Naturrecht wie den alten Reichsgesetzen zuwiderlaufenden Unsitte der Erbteilung entstehen. Beträchtlichere politische Schwierigkeiten waren bei der Erwerbung des K u r h u t s zu überwinden, die vor allem bei den geistlichen Kurfürsten auf scharfen Widerspruch stieß. Selbst ein Hiob Ludolf war aus Gründen der Erhaltung der alten Reichsform dagegen. Die katholischen Gegner, die sich um den Kurfürsten von Mainz scharten, wußte Leibniz geschickt durch Vermittlung des jungen Boineburg zu gewinnen, der in Mainz kaiserlicher Gesandter war. Die Stärkung der protestantischen Partei, die wohl auch in seiner Absicht lag, hat er in den diesbezüglichen Schriften nie herausgekehrt. Viel wichtiger erschien ihm gegen Ludolf, daß durch die neue

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Kurwürde das Schwergewicht der Kurfürstentümer sich von deiii ständig bedrohten Westen nach dem Reichsinnern verschiebe. Auch hier hat der Gedanke der Reichssicherheit vor allen partikularen Bestrebungen den unbestrittenen Vorrang. Nach endlosen Verhandlungen ward Hannover der Kurhut im Jahre 1688 vom Kaiser zugesichert, doch erst 1692 vom Reichstag zu Regensburg bestätigt. Die Hauptsorge Leibnizens aber war, den verderblichen Wettkampf der beiden norddeutschen Fürstenhäuser, Brandenburgs und Hannovers, um die politische Vormacht zum Stillstand zu bringen. Er ahnte noch nicht, daß nicht der Gegensatz zu Kaiser und Reich, sondern eben der nicht mehr zu behebende Gegensatz zwischen Brandenburg und Hannover ihn in der Folgezeit zermürben und seinen Lebensabend trüben sollte. Mit dem Begriff des Fürsten verbindet Leibniz immer noch die Idee eines höheren universalen Menschentums, des politischen Führers nicht nur, vielmehr des geistigen und sittlichen Führers, der organisatorischen Lebenszelle des Staates. Es ist eine hohe Auffassung des „grand prince", nach dem er sich dauernd sehnt, für den ihm jedoch im Deutschland seiner Zeit durchaus die Formate fehlen. Den Großen Kurfürsten hören wir ihn so gut wie nie erwähnen. Um so näher kommt trotz aller politischen Gegnerschaft, die sich bis zum ehrlichsten nationalen Haß steigert, Ludwig XIV. Leibnizens Fürstenideal. Unter diesem Aspekt sieht er Ludwig ganz anders. Der Monarch, den er eben noch als Räuber, Wortbrecher und Dieb an deutschem Eigentum gebrandmarkt hat, wird ihm jetzt zum glänzenden Vorbild autoritärer Machtentfaltung im Namen des Staates, zum Träger alles staatsübergreifenden politischen Willens und zum Symbol des materiellen und geistigen Fortschrittes. Er kann nicht nur, er will sich dem überragenden Eindruck von Ludwigs staatsmännischer Leistung gar nicht entziehen. Was der Sonnenkönig für Frankreich tut, das tut er f ü r die ganze europäische Kulturwelt. So wird er für Leibniz zum Exponenten künftiger, auf

Akademiepläne für Ludwig XIV.

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die Autonomie der Vernunft gebauter europäischer Kultur, wenn — ja, w e n n er seine hohe Aufgabe begreift, die ihm das Schicksal bestimmt hat. In solcher Eigenschaft adressiert Leibniz von Hannover aus in einem letzten Versuch die Rätselgestalt des Königs — nachdem ihn die Akademien von Paris und London, der Kaiser, der Erzkanzler, die Hannoveraner Mäzene im Stich gelassen haben. Ludwig ist der einzige Mann in Europa, der f ü r Europa mit einem Machtwort Leibnizens Kulturpläne durchzusetzen vermag. Er unterbreitet ihm dieselben Vorschläge wie dem Kaiser und dem Haus Hannover, nur mit noch gesonderter Betonung der E n z y k l o p ä d i e , in deren Erstellung die höchste Aufgabe der zu gründenden Akademie besteht. Nur ein Machtwort des politischen Führers schweißt streitende und saumselige Gelehrtenköpfe zu der einzig vordringlichen Bewältigung der größten Kulturaufgabe des Jahrhunderts zusammen. Die Denkschriftentwürfe f ü r den König sind wohl nie in dessen Hände gelangt. Er hätte auch wohl kaum Verständnis d a f ü r gehabt, daß s e i n e Akademie reformbedürftig sei. Tatsache ist, daß Leibniz — sogar nach dem Frieden von Nymwegen — den Schritt nach Frankreich ernstlich erwogen und eingeleitet hat. Er ist f ü r seine Kulturpolitik der folgenden Jahre symbolisch. Mit ihm begräbt Leibniz endgültig die Hoffnung auf eine Deutsche und Reichsakademie; damit aber auch den Kulturgedanken der deutschen Reichseinheit. Die Akademien, die er in späteren Jahren gründet und projektiert, in Berlin, in Wien und Dresden, sind einzelstaatliche Kulturinstitute. Und die einzige Akademie, die erf selbst noch ins Leben rufen durfte, die Preußische Akademie in Berlin, hat es ihrem Gründer schmählich genug gelohnt! — Von der vollen Anerkennung Ludwigs XIV. als staatsmännischen Genies zu dessen Verherrlichung war nur ein Schritt. Auch ihn hat Leibniz getan. Wir besitzen von ihm mehrere kurze Gedichte, die den König in Lobeshymnen im Geschmack der Zeit feiern und ihren Weg an dem Könige nahe-

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stehende Adelskreise nahmen. Und dies in den Jahren, da das hannoversche Fürstenhaus durch seine verwandtschaftliche Bindung mit Preußen so gut wie ganz ins Schlepptau der französischen Politik geraten war! Eine neue Wendung zu Kaiser und Reich nimmt Leibnizens politische Tätigkeit erst wieder mit dem Besuch am österreichischen Kaiserhof im Jahre 1689. Man wird all diesen zunächst fast unverständlichen Einzelzügen Leibnizscher "Politik nur gerecht, wenn man sie als Ausflüsse des inneren Kampfes zwischen zwei grundsätzlich verschiedenen und in der Politik der Zeit immer wieder einander entgegentretenden politischen Ideen sieht: der noch fast mittelalterlich fest geprägten Idee des römischen Kaisertums deutscher Nation und der i n d i e s e m K a i s e r t u m v e r w u r z e l t e n R e i c h s e i n h e i t , und der Idee des aufgeklärten Vernunftstaates, des aus eigener realer Machtentfaltung souveränen Einzelstaates, wie ihn der „Caesarinus Fuerstenensis" entwickelt. Dabei läßt sich die für Leibniz so charakteristische Verschiebung nicht verkennen, daß — für Deutschland wenigstens! — nur und gerade der alte Imperiumsgedanke die politische Einheit eines Deutschen Reiches, einer gesamten deutschen Nation in sich schließt und darum ein n a t i o n a l s t a a t l i c h e r G e d a n k e ist, während die einzelnen deutschen Fürstenstaaten des anderen, modernen Typus, etwa das Hannover seiner Wirkungssphäre und 'das Preußen des Großen Kurfürsten, einer tragenden nationalen Grundidee durchaus entbehren. Diese eigenartige Konstellation der Ideen und der dahinterstehenden politischen Mächte, n i c h t Fürstendienerei und platte persönliche Erfolgsrechnung bewirkt die innere Unstetheit gerade der Leibnizschen Politik. Ja, wenn es ihm hätte gelingen können, das Kaisertum und das Reich a l s G a n z e s , wenn auch nur kulturpolitisch, zur Einheit des souveränen, autonomen, ja autarken Führerstaates zusammenzuschweißen, wäre eine Verschmelzung der beiden Ideen in einer politischen Realität möglich gewesen. Dafür, daß dies nicht gelingen konnte, sorgte Ludwigs XIV. europäische Politik,

Reich und souveräner Einzelstaat. Geologie

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durch die Glaubensspaltung und die Verselbständigungspolitik der deutschen Fürsten aufs wirksamste unterstützt. So steht Leibniz als tragische Figur in einer Politik der Wende, am Vorabend der Entwicklung Preußens zur führenden Großmacht, in der Schicksalsstunde des Weifenhauses, das zugunsten dynastischer Machtfülle die letzten nationalen Fesseln sprengt — um aus der deutschen Geschichte endgültig auszuscheiden. Der erfinderische praktische Physiker, der in den Harzbergwerken Neuerungen von dauernder Bedeutung vorzuschlagen vermag, ist ja nur die eine Seite an Leibnizens Tätigkeit im Harz. Die andere, die verstehend schauende, die „Goetheseite" dieser Tätigkeit eint den Philosophen aufs merkwürdigste mit dem Dichter, der hundert Jahre später, Steine beklopfend wie Leibniz, auf einsamen Wanderfahrten vielleicht dieselben Harztäler und Harzberge durchzieht. Beiden Wanderern erschließt sich im genießenden Schauen der Landschaft ein tieferes, lebendiges Bild ihres Werdens, ein sinnvoller Aufbau der heimatlichen Natur in einem in Urzeit zurückreichenden geschichtlichen Prozeß: die Schichtung unserer Erdoberfläche, als Folge gewaltiger Naturrevolutionen, als ein Trümmer- und Ruinenfeld, aus dem wir die Geschichte unseres Planeten zu deuten unternehmen. Dem Philosophen wie dem Dichter wird die Sorge für kostbare Quellen des eigenen Landesreichtums zum Anlaß, in einer ausgesprochen künstlerischen Divination ein geologisches Weltbild der Heimat zu entwerfen. Mit Stolz verweist Leibniz in den Einleitungssätzen seiner ,,P r o t o g ä a", in der er 1691 die Ergebnisse seines geologischen Forschens niedergelegt hat, auf dies Stück „Heimatgeschichte": „Zuhause eröffnen sich uns bedeutsame Konjekturen, gleichsam Strahlen eines öffentlichen Lichtes, von dem aus die forschende Untersuchung zu den übrigen Ländern fortschreitet." Kann man eine kühne geologische Theorie heimatverbundener aufbauen? Die Theorie selbst lassen wir

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4. Hannover 1 6 7 6 — 1 6 8 9

erst an späterer Stelle zur Sprache kommen, wo sie sich, durch Reisebeobachtungen in Süddeutschland, Italien und Illyrien unterbaut, 'Leibnizens allgemeiner Dynamik und Kosmogonie auf dynamischer Grundlage einordnet. Das eine jedoch fesselt uns schon hier, daß die Methode, mittels deren Leibniz seine Resultate findet, tatsächlich die schauende, intuitive Methode Goethescher Naturforschung ist. Nicht im Aufbau von Einzelerfahrungen und deren Häufung wird ein induktives Schlußgefüge gezogen, vielmehr richtet sich Leibnizens wie Goethes Blick v e r s t e h e n d auf die G a n z h e i t d e r P h ä n o m e n e , auf „die Natur" als eine sinnvoll, obzwar mit Mitteln des Mechanismus gestaltende Kraft. Diese immanente Welterklärung schaltet schon bei Leibniz —• und darin liegt ein wesentlicher Fortschritt seiner Theorie —• jeden Bezug zu theologischen Spekulationen aus. In denselben Jahren, in denen Leibniz im Harz sein Bild der Erdentstehung gestaltete, arbeitete sein späterer Freund Thomas Burnett in einer „Theoria Sacra Telluris" von 1682 noch mit kabbalistischer Hypothesenbildung... Die unglückliche Harzaffäre, so sehr sie augenblicklich dem Ansehen Leibnizens einen Stoß versetzen mochte, hatte doch auch ihre gute Seite. Indem der Herzog 1685 auf einen eigenen frühen Vorschlag Leibnizens, die G e n e a l o g i e u n d G e s c h i c h t e d e s W e i f e n h a u s e s zu schreiben, zurückgriff, war Leibniz ein geschlossener wissenschaftlicher Auftrag gegeben, der ihn wieder zu geschichtlichen Forschungen als offizieller Haupttätigkeit zurückrief. Genealogie war im Zeitalter eines Ludwigs XIV.! die große Form der politischen Geschichtsschreibung. Nicht nur daß sich, absolutistischem Denken entsprechend, die Volks- und Staatengeschichte in der Geschichte des Fürstenhauses zu verkörpern schien: die genealogischen Forschungen hatten vorzüglich dynastischen Ansprüchen zu dienen, wie dynastische Testamente und Erbverträge noch die Kraft hatten, europäische Kriege auszulösen.

Genealogie und Geschichte des Weifenhauses

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Leibnizens überlegener historischer Blick sollte auch bei der Übernahme dieser Aufgabe, die sich freilich unter den Händen des Denkers zu einen Lebenslast weitete, sich bewähren und bahnbrechend wirken. War es doch Leibniz, der den lächerlichen und gänzlich unhistorischen humanistischen Genealogien des Zeitgeschmacks, die sich in der phantastischen Ableitung deutscher Fürstenhäuser aus römischen Patrizier- und sogar Kaiserfamilien nicht genug tun konnten, Idee und Leistung einer wissenschaftlich exakten, auf intensiver und umfassender Quellenforschung aufgebauten Genealogie entgegensetzte. Dazu einer Genealogie, die den deutschen Ursprung deutscher Fürstenhäuser einwandfrei sicherstellte. Daß Leibniz, immer aufs Ganze dringend, seine Aufgabe zu einer Geschichte des Heiligen Römischen Reiches Teutscher Nation aus dem Gesichtswinkel der Weifengeschichte weitete, ist ihm freilich zum Verhängnis geworden. Ein solches genealogisches Machwerk eines, holländischen Edelmannes, das den gemeinsamen Stammvater der Weifen, den italienischen Markgrafen Azzo aus dem elften Jahrhundert, auf die Patrizierfamilie der Arier und auf Augustus zurückführte, hatte der Herzog auf seiner Reise nach Venedig 1685 zum Geschenk erhalten. Es war f ü r Leibniz der Anlaß, den gelehrten Bibliothekar des Herzogs von Modena, den Sonderling Magliabecchi, um Auskunft über eine Reihe vonUrkunden über Azzo zu ersuchen. Daraus sind Plan und Befehl zu einer Reise durch Deutschland und Italien zum Zweck der Urkundensammlung für die Weifengeschichte entstanden. Ein geheimer Lieblingsplan der Pariser Jahre, das Italien Galileis zu sehen, erfüllte sich. Im Herbst 1687 brach er auf. Der Weg führte Leibniz über die Welfenklöstcr Hessens, Frankens und Bayerns nach Münchcn. Doch der Volkswirtschaft!« ließ es sich nicht entgehen, alle Berg- und Hüttenwerke, alle wichtigeren Industrien, die nur irgendwie von seinem Reisewege aus erreichbar waren, zu besichtigen. Ihn interessieren eigen-

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artige Methoden; der Bleiverhüttung oder die volkstümliche Perlenfischerei in der Oberpfalz mindestens ebensosehr wie die Originalhandschriften Aventins, die er in München nur füij einige Augenblicke zu sehen bekommt, da die Räte die persönliche Erlaubnis des Kurfürsten nachträglich aufheben. Doch während sie eben am Deliberieren sind, reist der Schlaue kurzerhand nach Augsburg, wo er im Kloster St. Afra auf Grund eines Fingerzeigs bei Aventin die für seine Studien entscheidende Quelle aufstöbert: einen alten Codex, der als das Geschlecht des Markgrafen Azzo mit deutlicher Schrift die Familie der „Estenses" bezeichnet, die Aventin in falscher Abschrift „Astenses" umbenannte. Der Nachweis des von ihm schon gegen den niedersächsischen Geschichtsforscher Meibom vermuteten Zusammenhangs der Weifen mit dem berühmten Geschlecht der Este in Modena ist ihm gelungen, der Weg f ü r .die Italienreise vorgezeichnet. Drei Wochen hat ihn die Halsstarrigkeit der bayerischen Räte gekostet, über die er sich bitter beklagt. Ein Colbert und Louvois hatten es f ü r die höchste Ehre gehalten, hinter dem Wunsch ihres Königs anonym zurückzutreten, aber die Herren Bayern? — Er vergleicht sie spitz mit dem Notar Bartolo der italienischen Komödie. Über die oberösterreichischen Weifenklöster, die reicheres Material bieten, langt Leibniz im Mai 1688 in Wien an. Dort findet er durch besondere kaiserliche Gunst Zutritt zu den Schätzen der Hofbibliothek, über die er nicht genug staunen kann. Und zugleich läßt er seine politischen Minen spielen. Bei dem allmächtigen Grafen Stratmann setzt er einen Herzenswunsch Sophies durch, ihren zweiten Sohn zum Generalmajor in der kaiserlichen Armee befördert zu sehen. Den eigenen tiefsten Wunsch, endlich zum Kaiser in persönliche Fühlung zu kommen, sieht er durch Vermittlung der Kaiserin, der Tochter des von ihm verehrten Herzogs Johann Friedrich, erfüllt. Er fühlt sich — wir entnehmen es seinen Briefen an Herzogin Sophie — am politischen Ziel seiner Wiener Reise. Doch er ahnt nicht das niedere Intrigenspiel, das

Reise nach Bayern und Österreich. Relativität der Bewegung

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schon jetzt von Hannover aus — nicht ohne Wissen des Herzogs — gegen ihn in Szene gesetzt wird. Durch eine geistreiche Interpretation sucht er in dem kleinen Aufsatz „Phoronomus" die Kurie zur Aufhebung des Verbotes gegen die Kopernikanische Theorie zu bewegen. Sie geht von einem geklärten Begriff der „Hypothese" aus. Die „Wahrheit"' einer Hypothese besteht nicht im Nachweis ihres Zutreffcns, den ich für die echte Hypothese ja gar nicht führen kann, sondern in ihrer größeren Klarheit, Einfachheit und Einsichtigkeit gegenüber allen anderen Hypothesen, die noch in Frage kommen. Zwischen dem Ptolemäischen und dem Kopernikanischen Weltsystem kann grundsätzlich nicht in dem Sinne entschieden werden, daß eher eine von beiden objektiv zutreffe. Warum? Wie geometrisch zu beweisen, ist in einem reinen Bewegungssystem von Körpern niemals zu entscheiden, welcher der Körper ruht oder das Zentrum der Bewegung darstellt. D e n n j e d e B e w e g u n g k a n n n u r r e l a t i v z u e i n e m alsi r u h e n d a n g e nommenen Körper bestimmt werden. Mit klaren Worten formuliert Leibniz den Satz von der Relativität der Bewegung aller Weltkörper gegeneinander. Unter allen möglichen Formulierungen; der Planetenbewegungen führt die Kopernikanische, die den Mittelpunkt der Bewegung in die als ruhend gedachte; Sonne setzt, zu den einfachsten und durchsichtigsten Gesetzmäßigkeiten. Darum allein, nicht weil sie objektiv „zutrifft", verdient sie den unbedingten Vorzug vor dem Ptolemäischen Weltbild. Das ist der Standpunkt eines modernen, scharfsinnig durchdachten R e l a t i v i s m u s (s. S. 212). Ungleich schärfer als Descartes und mit ganz anderer Begründung führt Leibniz seine Relativitätsthese durch. Er stützt sie nicht wie der Franzose auf die vermeintliche Identität von Körper und Ausdehnung. Wir werden Leibniz gegen Ende seines Lebens seine Relativitätslehre auch gegen Newtons berühmte Argumente verteidigen sehen. Jetzt nutzt er sie geschickt, um dem Kardinalskollegium die Aufhebung des verhängnisvollen Verbots 12

Huber, Leibniz

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plausibel zu machen und einen für die Kirche blamablen Fall aus der Welt zu schaffen. Und er erreicht tatsächlich sein Ziel. *

Mit dem Aufenthalt in Hannover beginnt für Leibniz für mehrere Jahre eine Zeit der intensivsten Systemarbeit. Die vordem in mancher Beziehung noch mehr getrennt geführten einzelwissenschaftlichen und im engeren Sinn philosophischen Untersuchungen werden nunmehr durch grundlegende Arbeiten logisch-erkenntnistheoretischen Inhalts systematisch unterbaut. Auf sie stützt sich die erste große Gesamtkonzeption des Systems, die Leibniz nach zehnjähriger Weiterarbeit mit der „Metaphysischen Abhandlung" wagt. Wir verlassen daher für diese Zeit den rein historischen Bericht, um das System als Ganzes in den Blickpunkt einer einheitlichen Gedankenentwicklung zu stellen. Erst in der Weiterbildung des Systems nach 1686 folgen wir wieder enger den einzelnen Phasen, die durch je eine größere Darstellung repräsentiert sind. Leibnizens Philosophieren muß wie im Flusse der Entwicklung der einzelwissenschaftlichen Ergebnisse, so umgekehrt in der Einheitlichkeit einer systematischen Zielsetzung von dem Augenblick an begriffen werden, wo sich die Gedankenmassen auf der Grundlage des Wissenschaftsideals der Analysis und Synthesis zu konsolidieren beginnen. Die im engeren Sinn metaphysische Arbeit der ersten Jahre in Hannover steht ganz im Kampfzeichen gegen Descartes. Es ist, als ob Leibniz erst auf deutschem Boden die Freiheit fände, sich dem überragenden Einfluß des großen Franzosen entgegenzustemmen. Er greift an einem zentralen Punkt der Descartesschen Metaphysik an: am Gottesbeweis. Die Frage nach dem Sein und der Existenz des ens perfectissimum läßt ihn nicht mehr ruhen. Einen eigenen Beweisversuch aus der Vollkommenheit hatte er ja Spinoza vorgelegt. (S. 104 f.). Descartes' Beweis, der aus der Vollkommenheit Gottes darum auf Gottes Existenz schließt, weil die Existenz zur Vollkommenheit Gottes gehört — dieser modifizierte

Metaphysische Abhandlung: Vollkommenheit

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ontologische Gottesbeweis befriedigt ihn nicht. Leibniz hat darüber in Hannover mit dem Abt Molanus von Zokikum. und dem Mathematiker Eckhart von Helmstedt mündlich und schriftlich diskutiert — ohnei Erfolg. Der hartnäckige Kartesianer Eckhart war nicht zu überzeugen. Leibniz läßt den Beweis nur unter zwei ganz wesentlichen Einschränkungen gelten, nämlich nur unter der Voraussetzung, daß der Begriff des vollkommensten Wesens keinen Widerspruch in sich schließt, also l o g i s c h m ö g l i c h ist und daß das Existieren eine Vollkommenheit ist. Gerade diese Beweise bedürfen länger ausholender Gedankengänge, die Leibniz erst 1686 in der „Metaphysischen Abhandlung" zusammenfassend entwickelt. Die „Metaphysische Abhandlung" geht von der Idee Gottes als des v o l l k o m m e n s t e n Wesens ab. Bei Leibniz dagegen ist h i e r einmal kein Übergang, keine Zurückführung der einen Erkenntnisform, auf die andere. In dem Sinn ist er kein Rationalist: er beläßt die Uneinsichtigkeit der Tatsachenerfassung, damit zusammenhängend in der Psychologie das Unbewußte. Der Aufklärungsrationalismus ä la Wolff duldet das nicht; er sieht seine Hauptaufgabe darin, das Weltbild rational beherrschbar zu machen. Wenn man den Satz vom zureichenden Grunde vom Widerspruchssatz ableiten kann, dann ist die Welt beherrschbar. Warum unterscheidet, fragen wir uns, Wolff überhaupt noch Tatsachen- und Vernunfterkenntnis, empirische und apriorische Disziplinen?; Dann wäre die empirische Erkenntnis nur eine Art vorläufige Methode, die nachher durch rationale Ableitungen ersetzt werden muß. Nach Leibniz können wir nur Zug um Zug, aber immer ins Unendliche fortgehend, Sätze, die wir bisher nur für empirisch begründet ansahen, zu einem Teil einsichtig ableiten. Aber überall bleibt die Grenze: Das letzte Faktum eines Naturgesetzes ist nicht ableitbar. Wolff teilt die Logik als Propädeutik — damit meint er die formale Logik der logischen Funktionen — in sein System ein. Damit ist die Unterordnung des Ganzen der Wissenschaften unter eine Logik allgemeinster Ordnungen preisgegeben. Das ganze Problem der gegenständlichen Logik, das später bei Kant auf einem Umweg wieder aufgenommen wurde, ist bei Wolff gestrichen.

Die Logik bei Leibniz, Wolff, Kant

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Über dieser Logik als Propädeutik; baut sich die Metaphysik auf. Leibniz bezeichnet die Metaphysik als Lehre) vom Möglichen, Für Wolff stellen alle apriorischen Gebilde mögliche dar; die Metaphysik i s t eine Wissenschaft möglicher Gebilde, Bei Wolff kommt zunächst die Ontologie, in Namensanlehnung an die Scholastik, als Lehre der d e n k möglichen Gegenstände. In dieser Ontologie wird 'das Leibnizsche Problem der Kategorien untergebracht, der Begriffe auä unserem eigenen Geist. Nun folgt die Scheidung der Erkenntnisse. Wo bleibt die Welt der empirischen, der Tatsachenerkenntnisse? In vollendeter Oberflächlichkeit wird einer rationalen Theologie, Kosmologie und Psychologie eine empirische Theo-, Kosmo-, Psychologie zugeordnet. Wo stehen wir damit? Uberhaupt nirgends mehr. Diese Gegenüberstellung hat mit dem Leibnizschen Entwickeln der metaphysischen Grundwissenschaften aus den Einzelwissenschaften nichts zu tun. Die kantische Kritik der reinen Vernunft übernimmt in der Grundanlage genau diesen Gang der Wolffschen Metaphysik: formale Logik, transzendentale Logik, hier in reiner Form das bei Wolff Unklare. Die transzendentale Logik behandelt den denkmöglichen Gegenstand, die Kategorien, die etwas in der Anwendung auf die Sinnlichkeit zu einem Gegenstand machen. Diese Architektur ist bei Kant einer der Gründe, daß er Leibniz oft statt Wolff erwischt. D i e Wölfische Architektur ist bei Kant nicht nur etwas Äußerliches: er denkt noch in diesen Formen dort, wo er den entscheidenden Übergang zu seiner transzendentalen Philosophie macht; er denkt sie um, Darum wird sein Verhältnis zu Leibniz aus seinen eigenen Angaben und seiner Kritik nicht voll verständlich. In manchem steht Leibniz ihm zum Teil näher als er meint; oft verkennt Kant den ganz andern Ausgangspunkt des A u f baus bei Leibniz. Bei Leibniz steht dem Philosophen das Ganze der Wissenschaften vor Augen, bei Kant ein Schema, unter das Wollf die Einzelwissenschaften bringen wollte, was für Kant ebenso unmöjglich ist wie für Leibniz. Nach Wolff hat in der empirischen Kosmologie die ganze Natur19

Ilnher, Leibniz

290

6. Persönlichkeit — Deutung — Weiterwirkung

Wissenschaft Platz, in der rationalen Psychologie alle Wissenschaft, die mit dem Menschen zu tun hat. In der transzendentalen Philosophie ist selbstverständlich keine Rede von Unterordnung der Einzelwissenschaften unter dieses Schema. So schlägt die Aufklärungsphilosophie in Leibniz eine Bresche. Die Harmonie bei Wolff: Bei Leibniz ist die Welt da für den Gottesstaat; er meint durchaus nicht, daß jede Organisation in der Welt auf den Nutzen des Menschen abgestellt sei. In der Wölfischen Theologie ist das ganz anders: Die Welt ist auf den Menschen angelegt. Die verdorbene Theologie kommt wieder in der Kantschen Kritik der Urteilskraft, nicht als Erkenntnis, sondern als Schauen. Statt transzendenter Teilteleologie hat Kant eine immanente Totalteleologie; die Abgestimmtheit ist auch in der Kritik der Urteilskraft das Letzte. Zur Anerkennung des empirischen Charakters aller Erkenntnis kann sich Wolff nicht durchringen; keinesfalls konnte er eine Theorie der Wirklichkeitserkenntnis in sein System aufnehmen. In pro und contra bringt die Aufklärungsphilosophie keine Grundlegung der Wissenschaft mehr zusammen. Hier setzt Kant ein. Er steht vor Wolff, vor einer Metaphysik von ganz ungesicherter Systematik, und meint damit die ganze vergangene Metaphysik zu treffen. Die Leibnizsche Systematik kommt aber a u s den Einzelwissenschaften. Kant will diese Unwissenschaftlichkeit der Aufklärung überwinden. Er bringt den ersten Rückgang zu einer großen Wissenschaftssystematik. Die Leibnizsche Metaphysik ist in Kant voll erhalten, nur in anderer Form. Nach Kant reicht unsere Erkenntnis nicht über die sinnliche Sphäre hinaus. Metaphysik als Theorie letzter Gegebenheiten, Gotteserkenntnis, Erkenntnis des Seelischen usw. ist keine Erkenntnis. Theoretische Erkenntnisse würde Kant dem Leibnizschen System im ganzen absprechen. Die Ideen sind logische Ideen, gehen aber ein in das sittliche Handeln. Das sittliche Gebot ist ein Urfaktum, das letzte Urfaktum in der ganzen Struktur des mensch-

Die Leibnizsche Metaphysik bei Kant

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liehen Bewußtseins. Hier aber kommt Leibnizens Metaphysik in allen Einzelerkenntnissen mit Gewalt zum Vorschein. „Bestimmtheit durch Freiheit, Bestimmtheit durch das Sittengesetz in u n s " : Im Sinn dieses Sittengesetzes liegt eine Erweiterung der Erkenntnis auf gerade die Gebiete, die die Metaphysik als Metaphysik meint, und die in geistvoller und durchorganisierter Form die Leibnizsche Metaphysik meint. Der einzelne Mensch befindet sich bei Leibniz nicht allein im Kosmos des Sittlichen, sondern ist eingebaut in den Staat der Geister. Dieses Reich der Monaden mit Gott kehrt genau im Reich des Sittlichen bei Kant wieder, vor allem aber in seinen drei Ideen Gott, Freiheit, Unsterblichkeit. Aus der Idee des Sittlichen heraus entsteht für Kant die Idee einer persönlichen Gottheit. Bei Kant ist sie nicht theoretisch erkannt, aber in derselben Weise wie bei Leibniz bestimmt, in direktem Rekurs auf Leibnizens Ausdrücke als etwas dargestellt, das in einer notwendigen logischen Konsequenz des Faktums des Sittengesetzes liegt; denn wenn das Sittengesetz nicht für einen, sondern für alle Geister gilt, so muß irgendwo eine Welt sein, in der sich dieses Sittengesetz realisieren kann. Was wäre das für eine Weltordnung, fragt Kant, wenn es ein Sittengesetz gäbe, das wir in uns als absolut verpflichtend erkennen, aber um uns eine Welt, in der sich das Sittengesetz gar nicht realisieren läßt? Das wäre eine Welt des Nonsens. Sinnlos kann die Welt nicht sein. Also muß die Welt auf die Realisierung des Sittengesetzes hin geschaffen sein. Nach Leibniz hat Gott die Welt letztendig im Hinblick auf die Geister geschaffen, in denen sich sein oberstes Gesetz realisieren kann. Diese Welt als mögliche Form der Realisierung des Sittengesetzes kehrt bei Kant wieder, von Fichte abgesehen. Wenn ich die Gottheit theoretisch erkennen könnte, wüßte ich nicht, warum ich an sie glauben soll. Eines oder das andere, beides nebeneinander ist undurchführbar. Aus diesen Gedanken heraus fordert Kant: marn muß die Erkenntnis nicht einschränken, sondern aufgeben, um dem Glauben Platz zu machen. Glauben heißt bei ihm die Ideen des prak19*

292

6. Persönlichkeit — Deutung — Weiterwirkung

tischen Verstandes setzen, die in der Konsequenz des kategorischen Imperativs liegen. Nicht G o t t zuliebe, das ist der große Unterschied zur Leibnizschen Ethik; aber in der Konsequenz des kategorischen Imperativs liegt das Setzen einer sinnvollen, Kant sagt sogar: harmonischen Ordnung des Weltalls. Die Seele, der Träger der Realisierung des Sittlichen, muß in einem Sinn unsterblich sein, sonst kann von einer Realisierung nicht gesprochen werden. Der Mensch muß frei sein, das heißt nur so bestimmt sein können, daß er das allgemeine Gesetz zu seiner Maxime macht. Also muß f ü r Kant nicht nur die Trias Gott, Freiheit, Unsterblichkeit, sondern vor allem auch die Idee eines harmonischen, in sich geschlossenen, in allen individuellen Teilen abgestimmten Universums gegeben sein. Es kehrt die g a n z e Leibnizsche Metaphysik wieder; was Leibniz theoretisch zu erkennen meint, erscheint hier als logische Konsequenz des Praktischen. Der grundsätzliche sittliche Individualismus fehlt hier bei Kant, das, was Fichte aufnimmt, indem er Kant korrigiert. Dies setzt Fichte dem kategorischen Imperativ nicht entgegen, sondern ordnet es ihm über;, er ist für ihn wie für Leibniz noch, nicht die ganze Ethik. Die Leibnizsche Wissenschaftsichre ist nicht eine von den Wissenschaften abgetrennte Wissenschaft, sondern entsteht aus den Einzelwissenschaften und für sie. Der späte Leibniz ist in seinem wissenschaftlichen Schaffen gerade dadurch so eigenartig, daß die ganze Fülle seiner wissenschaftlichen Systematik: und vor allem seiner Metaphysik wieder hineinwirkt in seine einzelwissenschaftliche Tätigkeit. Er hat letzte Gesetzlichkeiten, wie das Gesetz der Kontinuität: es gibt im Universum keinen Sprung, alles hängt mit allem zusammen. Hier setzt bei Kant eine Umgestaltung ein, und zwar entwickelt er sie gerade an dem Punkt, an dem er die Leibnizsche Metaphysik in sein System übernimmt — im Anhang zur Kritik der spekulativen Theologie. Die Vernunft geht nicht auf die Gegenstände, sondern auf den Verstand und erst durch ihn auf sie. Es gibt also eine

Kontinuität bei Leibniz und Vernunft bei Kant

293

Funktion, die anders gelagert ist als die Erzeugung von Gegenständen für ein Denken im Begriff: die der Ordnung der Begriffe zu einem System, zu einer Totalität. Das nennt er im Theoretischen Vernunft. Was hat sie mit Leibnizens Kontinuität zu tun? Es ist ein sehr tiefsinniger Gedanke, durch den die ganze Bedeutung dieser Gesetze erst von innen heraus, von der Vernunft aus durchleuchtet wird. Sie sind nicht Gesetze eines Wirklichen, sondern Gesetze, durch die wir die Einzelerkenntnisse des Verstandes ordnen, zu einem System erheben. Eine Reihe logischer Funktionen sind nichts als Systematisierungsfunktionen, z. B. Arten und Gattungen. Kant fragt zum erstenmal: Warum können wir Arten und Gattungen bilden? Wann können wir sie auf eine Welt von Gegenständen hinordnen? Nur, wenn sie als Gegenstände für ein Denken uns den Gefallen tun, sich ordnen zu lassen. Nun zeigt Kant eine eigenartige Struktur des Geistigen in uns. Es muß ein Prinzip der Gleichartigkeit, der Homogenität in der Welt der Gegenstände für uns bestehen. Sonst würde nicht nur alle logische Ordnung nichts nützen — wir kämen gar nicht bis zu ihr, wenn nichts mit einem anderen vergleichbar wäre. Für Leibniz ist jedes Individuum vollkommen anders. Das kann man durchaus zugeben, aber es muß noch mit den anderen vergleichbar sein. Diese Gleichartigkeit muß irgendwie der Welt der Gegenstände übergeordnet sein. Daß eine solche Gleichartigkeit besteht, ist ein Prinzip der Leitung unseres Verstandes, ein regulatives Prinzip. Das kann nicht aus dem Nichts herauskommen. Etwas muß in der Welt und tatsächlich auch in den Dingen an sich schon sein, damit ihre Erscheinungen, die Gegenstände für mich, werden durch den Begriff, überhaupt vergleichbar werden. Doch überall sehen wir, daß beim Vergleich Letztes immer unvergleichbar bleibt. Jetzt wird das Leibnizsche Prinzip der völligen Unterscheidung ebenfalls zu einem regulativen Prinzip: daß immer weitere Unterschiede da sind bis zu letzten Unterschieden, eine immer weitere Spezifikation der

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6. Persönlichkeit — Deutung — Weiterwirkung

Arten. Das würde aber alles gar nichts nützen, wenn wir nicht in einem stufenweisen Übergang von Arten zu Arten fortgehen könnten. Als drittes wird also auch das Gesetz der Kontinuität, das Leibniz als metaphysisches Prinzip faßt, hier zu einem regulativen Prinzip, in der Affinität der Arten und Gattungen untereinander, in dem, was eigentlich die Aufgabe der Vernunft in ihrem theoretischen Gebrauch ist: die Einheit unserer Geistesstruktur in der Gesamtheit unserer Erkenntnisse unter allen Umständen durchzusetzen. Ohne das sind die Erkenntnisse ein aufgelesenes Etwas, für Kant streng genommen überhaupt noch nicht Erkenntnis. Erst in einer Totalität von Reihen, durch die wir die einzelnen Erkenntnisse zur geschlossenen Einheit binden, werden sie es. Es gibt keine Wissenschaftsordnung ohne diese drei Prinzipien. Der ungeheure Einfluß der Leibnizschen t h e o l o g i a n a t u r a l i s auf das ganze 18. Jahrhundert kann nicht übersehen werden. Er ist durch W o l f i s oberflächliche Systematik freilich zuerst gebrochen worden, sofern diese gerade das Feinste und Tiefste der Leibnizschen Gedanken, den Monadenbegriff, die kontinuierliche Stufung der Substanzen, die Repräsentation, die prästabilierte Harmonie, die Erschließung eines Unbewußten preisgibt. Dies fein durchgebildete Gebäude von Begriffen forderte zu seiner geistigen Durchdringung einen irgendwie kongenialen Denker. Wir finden ihn — was die theologia naturalis betrifft — nicht unter den deutschen Theologen oder den Kathederphilosophen der Wolffschen Schule, wohl aber bei dem jüngen L e s s i n g. Das Problem des Christentums beschäftigt Lessing seit seiner Jugendzeit. Der junge Student, der am Christentum zunächst einmal „klüglich zweifelt" (Brief an seinen Vater von 1749), hat sich in Leibnizens System und im besonderen in dessen natürliche Theologie sehr eingehend vertieft. Eine Frucht seines eindringenden Leibnizstudiums ist das im Jahr 1753

Lessings natürliche Theologie

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VOM dem 24jährigen abgefaßte Fragment „Das Christentum der Vernunft", das in etlichen zwanzig Kernsätzen die Grundlage für ein „vernünftiges Christentum" im Sinne der rationalen Theologie entwickelt. Merkwürdig bleibt immer, daß die kleine Arbeit n a c h den „Gedanken über die Herrnhuter" vom Jahre 1 7 5 0 entstanden ist. Die „Gedanken über die Herrnhuter" hatten einen scharfen Trennungsstrich zwischen Religion und Theologie gezogen. „Der Mensch ward zum Tun und nicht zum Vernünfteln erschaffen" — steht dort in lapidaren Worten. Der Gottesvernünftler siegt über die Herzens- und Tatreligion des Herrnhuters, weil dieser sich gar nicht verteidigt. Es ist kein Zufall, daß der junge Lessing das Schicksal der Religion mit der „Geschichte der Weltweisheit in einer Nuß" parallelisiert. Man sieht leicht: Die Übereinstimmung mit Leibniz kann nicht vollkommener sein als in diesem Fragment. Das Leibnizsche System der Metaphysischen Abhandlung bereichert um den geistreichen Gedanken der Trinitätsableitung i s t Lessings „Christentum der reinen Vernunft". Auch das zweite, geharnischte Fragment „Über die Entstehung der geoffenbarten Religion" trägt nicht nur die Spuren Leibnizens, sondern atmet noch ganz den Geist des „natürlichen Systems", nun aber k r i t i s c h g e g e n alle geoffenbarte Religion gerichtet. Wundervoll sind die in den ersten beiden Paragraphen entwickelten Begriffsbestimmungen einer natürlichen Religion: „Einen Gott — Religion" (§ 5). In ihr ist ein jeder Mensch „ n a c h d e m M a ß e s e i n e r K r ä f t e aufgelegt und v e r b u n d e n " (re-ligio! § 2). Doch — eben das Maß der i n d i v i d u e l l e n Kräfte ist verschieden. Soll Religion G e m e i n s c h a f t s g e b i l d e sein, so muß Übereinkunft, konventionelle Fixierung der Wichtigkeit und Notwendigkeit statthaben, welche die natürlich erkannten Religionswahrheiten d u r c h s i c h s e l b s t hatten (§ 7). Geoffenbarte, positive Religion ist G e m e i n s c h a f t s l e i s t u n g , die von großen F ü h r e r n als Exponenten der

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6. Persönlichkeit — Deutung — Weiterwirkung

Gemeinschaft Recht!)

ausgeht.

(Vergleich

mit

dem

positiven

Mit Leibniz geht Lessing vom Begriff des einzigen vollkommensten Wesens aus (vgl. Metaph. Abhandlung 1—4). Das vollkommenste Wesen (§ 1) kann nur sich selbst denken (§ 2). Vorstellen, Wollen und Schaffen sind in Gott eins (§ 8). Auf diesem Leibnizschen Fundament gewinnt Lessing eine tiefschürfende Z w e i t e i l u n g : Gott kann sich nur auf zweierlei Art denken. Entweder denkt, er all seine Vollkommenheiten auf einmal und sich als Inbegriff derselben, oder er denkt sie zerteilt und jede in sich selbst nach Graden abgeteilt (§ 4). Aus der ersten Form leitet er in einem völlig originellen Gedanken die Dreiheit der Personen in Gott ab (§ 5—§ 12), aus der zweiten in der bekannten Leibnizschen Weise die geschaffene Welt als beste aller in Gott möglichen Welten (§ 12—§ 18). Interessant ist der Trinitätsgedanke: Der „Inbegriff aller Vollkommenheiten", auf einmal gedacht, ist das identische Bild Gottes, „Gott Sohn" ( § 6 — § 8 ) ; die vollkommenste H a r m o n i e — man beachte den Leibnizschen Begriff! •— zwischen dem vollkommensten Wesen und dem von ihm gedachten identischen Bild ist „der Geist, welcher vom Vater und Sohn ausgeht" (§ 10). Diese Harmonie ist Gott ( § 1 1 ) und a l l e D r e i s i n d E i n s (§ 12). Da schon jeder Gedanke bei Gott eine Schöpfung ist (§ 13), so bilden bzw. heißen die zerteilten Vollkommenheiten als gcdacht-geschaffene Wesen zusammen d i e W e l t (§ 14). Sukzessiv leitet Lessing aus den Leibnizschen Begriffen der unendlich vielen möglichen Welten, unter denen e i n e die vollkommenste sein muß (§ 15), die Welt als unendliche Reihe von Vollkommenheiten ab (§ 16—§ 17). Aber auch der Begriff der einfachen Substanzen („Gott schafft nichts als einfache Wesen" § 19) und ihrer Zusammensetzung, der prästabilierten Harmonie zwischen diesen (§ 20), kehrt wieder, und sogar die Bezeichnung dieser einfachen Wesen als „eingeschränkte Götter", deren Voll-

Fichte : Setzung statt Repräsentation

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kommenheiten den Vollkommenheiten Gottes „wie Teile dem Ganzen" ähnlich sind (§ 22). Die Rückkehr zu Leibniz beginnt in F i c h t e s Philosophieren genau an dem Punkte, an dem er in der Kantischen D e n k form der „Setzung" den noch bei Kant bestehenden Dualismus zwischen Spontaneität und Rezeptivität u n d damit den problematischen Begriff des „Ding an sich" beseitigt. D a s Ich setzt sich selbst doppelt: als bestimmend das Nichtich, und als bestimmt durch das Nichtich — diese Formel meint in ihrem ersten Teil nichts anderes als den teleologischen Zusammenhang des „um willen", in dem die „ W e l t " als Nichtich zum Ich steht; das aber entspricht der teleologischen Zentriertheit des Phänomens „ W e l t " auf jede Einzelmonade. Die Setzung des Ich als bestimmt durch das Nichtich ist jedoch eine „unbewußte Setzung". Sie entspricht bei Leibniz dem Gedanken, daß die Welt der Phänomene aus dem unbewußten Zusammenfließen aller unserer Repräsentationen des gesamten Universums in verworrener Form h e r vorgeht. Immer tritt bei Fichte das Verhältnis der „Setzung" an Stelle des Leibnizschen Verhältnisses .der „Repräsentation", des „Ausdrückens". ¡Mit izunehmender Richtung aber auf das Absolute nimmt in der späten Fichteschcn Lehre die ursprünglich „transzendentale Setzung" immer mehr die Form einer Leibnizischen „Repräsentation des Absoluten durch das Einzelich" an. Das heißt: An Stelle der tranzendentalen tritt immer mehr eine metaphYsisch-monadologische Grundauffassung des Verhältnisses von Ich und Absolutem. 12

Das Kernstück der Vorlesungen August B o e c k h s („Enzyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften", 1. A. 1877, 2. A. 1886) ist 1809 (!) verfaßt und verrät ursprünglich kaum irgendwelche Einwirkung Hegels. Hingegen ist Schelling überall f ü r die philosophische Grundlegung der Hermeneutik führend. Ausdrücklich bezieht! sich Boeckh auf Schöllings „Vorlesungen über die Methode des

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6. Persönlichkeit — Deutung — Weiterwirkung

akademischen Studiums" und zitiert zustimmend dessen Bestimmung des Philologen. Er steht auf der Grundlage von Schellings Philosophie des L e b e n s , Natur und' Geist sind Erscheinungsformen desselben Lebens. Der Jugendlehrer Boeckhs, Steffens, war Anhänger von Leibniz und Locke und Gegner Kants. In der Akademierede, in der Boeckh Steffens als Mitglied der Preußischen Akademie begrüßt, gedenkt er des starken Eindrucks, den Steffens auf den jungen Heidelberger Studenten gemacht hat. Steffens hat vermutlich Boeckh nachhaltig auf Schölling gewiesen13. Von .grundlegender Bedeutung ist seine Akademierede über Schölling^ Verhältnis zu Leibnizens Philosophie 14 , aus welcher Boeckhs klares Bewußtsein der philosophischen Abhängigkeit hervorgeht, in der er über Schelling zu Leibniz steht. Charakteristisch ist der Anschluß an Schelling mit kritischer Wendung gegen Kant wie gegen Hegel verbunden. Boeckh ist wie Schelling Irrationalst. Kants Definition der Philologie als „einer kritischen Kenntnis der Bücher und Sprachen des Altertums" wird als nicht einmal empirisch richtig bezeichnet 15 . Schellingisch ist auch Boeckhs Auffassung der Geschichte und ihrer Entwicklung.^ Geschichte ist ihm Entwicklung des Geistes, in dem das L e b e n zum Bewußtsein erwacht. Scharf wendet sich Boeckh gegen Hegels Ableitung des geschichtlichen Prozesses aus „seinen Kategorien" als eine Vermessenheit gegenüber Gott. Wir spüren auch in der Geschichte eine geordnete Entfaltung idealer Strukturen, aber sie ist uns nicht durchsichtig. Philologie ist f ü r Boeckh das Erkennen dessen, was schon einmal erkannt war — eine geniale Definition von erstaunlich weitem Sinn. Auch Kunstgebilde und geschichtliche Literarien gehören dazu — kurz alles, was schon irgendwie formuliert ist. In diesem Sinn verstanden ist Philologie die umfassendste der Wissenschaften. Unendlichkeit gehört zur Wissenschaft. Diese Zielsetzung der Philologie ist nur in der Ausdehnung unerreichbar, nicht in der Tiefe. „Man kann sich1 im einzelnen so vertiefen, daß man in ihm wie

Philologie, Historismus: Theorie des Verstehens

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in einem Mikrokosmos das Ganze, den Makrokosmos, erf a ß t " — wieder ein echter Leibnizischer Gedanke. Philosophie und Philologie haben denselben Gegenstand, erkennen ihn jedoch auf verschiedene Weise, jene vom Begriff, diese vom tatsächlich Vorhandenen ausgehend. So ist der Zweck der Philologie historisch, der der Philosophie konstruktiv. Endlich ist die geisteswissenschaftliche Theorie des Verstehens oder die H e r m e n e u t i k , wie sie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die großen Philologen Fr. August W o l f , Ph. A s t , August B o e c k h, der Theologe und Philologe S c h l e i e r m a c h e r , der Sprachforscher Wilhelm v. H u m b o l d t , der Historiker Gustav D r o y s e n in enger gegenseitiger Abhängigkeit entwickelt haben, in den übergreifenden Zusammenhang jener neuen verstehenden Sinnanschauung.-des Weltganzen eingebaut, die Leibniz und Shaftesbury, Herder und Hamann, Goethe und Schelling, die Brüder Schlegel und Novalis gelehrt und gelebt haben. Erst langsam bricht sich die Erkenntnis Bahn, daß die Quellgedanken jener großen Epoche der Neubegründung der Geisteswissenschaften bei Leibniz und Shaftesbury in deren gemeinsamer Auffassung von der geistigen Harmonie des Universums liegen. Erst langsam wird auch sichtig, daß diese metaphysischen Systemgedanken, daß der philosophisch unterbaute, unverbrüchliche Glaube an die Sinnhaftigkeit des Weltganzen, den Leibniz wie Shaftesbury dem Naturalismus eines Hobbes und Spinoza entgegensetzen, jene universale Theorie des Verstehens als der methodischen Grundhaltung aller Geisteswissenschaften erst ermöglicht! hat. Wenn man heute abschätzend von „Historismus" spricht als einer Relativierung aller geschichtlichen und überhaupt geistigen Werte, so trifft der Vorwurf jenen metaphysisch fundierten ä l t e r e n H i s t o r i s m u s nicht, dem wir die methodische Grundlegung der Geisteswissenschaften, der Philologie und modernen Theologie, der Germanistik und allgemeinen Sprachwissenschaft, äet Geschichte, Kulturgeschichte, der historischen

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6. Persönlichkeit — Deutung — Weiterwirkung

Rechtswissenschaft und Nationalökonomie, der Mythologie und Volkskunde verdanken. Das verbindende Glied in diesem großartigen Aufschwung der Geisteswissenschaften ist Schelling. Erst etwas später wirkt sich Hegels umfassende Philosophie des aboluten Geistes auf die einzelnen geisteswissenschaftlichen Disziplinen — und nicht durchweg zu deren Vorteil! 16 — aus. Man kann S cfae 11 i n g s wunderbaren Vorlesungszyklus „Über die Methode des akademischen Studiums" vom Jahre 1802 als den unmittelbaren Ausgangspunkt des älteren Historismus bezeichnen. Gerade in diesem Werk liegt Schellings metaphysische Begründung geisteswissenschaftlichen Verstehens und der bewußte Rückgriff auf Leibniz offen zutage. Hier sind in methodisch f ü r den Ausbau der Geisteswissenschaften richtunggebender Weise Leibnizsche und Herdersche Gedanken organisch miteinander verbunden. Hier wird erstmals im Herderschen Sinne der „Geist des Altertums" als Domäne, seine durchdringende Erfassung als einer geistigen Ganzheit als Ziel der Philologie aufgestellt. Das „Verstehen" wird als die methodische Grundhaltung nicht nur der Philologie, sondern aller echten Geisteswissenschaften erkannt. Eben dies Verstehen aber setzt, wo es möglich sein soll, einen geistigen Gleichklang zwischen Verstehendem und zu Verstehendem voraus. Schelling gründet ihn — echt Icibnizisch — auf die metaphysische Harmonie der Geister untereinander. Es ist jene prästabilierte Harmonie, die allein die Sinnhaftigkeit des Weltganzen gewährleistet. Sie beruht — wie wir wissen — darauf, daß jedes Einzelindividuum, daß jedes Tun, und Werk des Individuums in einzigartiger, nur ihm zukommender Weise das Ganze ausdrückt. Methodisch folgerichtig muß jeder Zug eines, Einzelwerkes daher a u s d e m G a n z e n v e r s t a n d e n w e r d e n . Eben in der Interpretation aus der Ganzheit liegt das spezifisch Neue der von Schelling für die Philologie geforderten hermeneutischen Methode. Darin allein liegt auch die Verwandtschaft der philologischen Interpretation mit dem künstlerischen Schaffen, auf die Schelling größtes Gewicht legt.

Verstehen aus dem Ganzen

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„ D e r bloße Sprachgelehrte — spricht er eindeutig aus — heißt nur durch Mißbrauch Philolog; dieser steht mit dem Künstler und Philosophen auf einer der höchsten Stufen, oder vielmehr durchdringen sich beide in ihm." Schelling spricht hier in größter Klarheit aus, was in Leibnizens historischer Quelleninterpretation, in Winckehnanns und Goethes Interpretation des Kunstwerks, in Herders meisterhafter Deutung des Volkskunstgebildes schon praktisch überall vollzogen ist. Er bringt in blitzartig erleuchteten Prägungen das Wesen des Verstehens als geisteswissenschaftlicher Grundmethode zum wissenschaftlichen Bewußtsein. A s t ; Schleiermacher, Boeckh haben für die klassische Philologie, Schleiermacher zugleich auch für die theologische Hermeneutik, Humboldt f ü r die vergleichende Sprachwissenschaft und Anthropologie, Droysen für die Geschichtswissenschaft auf dieser Grundlage weitergebaut und die heute gültigen Umrisse einer systematischen Hermeneutik geschaffen. Dabei hat besonders Schleiermacher das Phänomen des Verstehens in seiner umfassenden Weite richtig als Kern und Wesenszug jeder menschlichen Gemeinschaftsbildung gesehen. Er löst es vom Bezug auf irgendwelche Einzelwissenschaften los und gründet es — wir würden heute sagen: lebensphi'Iosophisch (und existentiell — im Erlebnis des „ D u " , ohne das keine geistige Gemeinschaft denkbar ist. Aber auch in dieser alles Ausdrucksverständnis mit einbeziehenden Weite bleibt für Schleiermacher der Bezug zum metaphysischen Grundansatz der prästabilierten Harmonie erhalten. Erst die psychologistische und im Grunde positivistische, antimetaphysische Wendung des Verstehensproblems, die der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts angehört und in D i l t h e y ihren bezeichnendsten Vertreter gefunden hat, gibt den ursprünglich Leibnizischen Grundgedanken preis; damit eröffnet sich aber auch einem müden historischen Relativismus Tür und Tor. D a s „individuum est ineffabile", die Unerschöpflichkeit des Individuums, ist eine gemeinsame Grundthese der aufgewiesenen hermeneutischen Theorien. Und darum ist das

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6. Persönlichkeit — Deutung — Weiterwirfcung

(

Verstehen, gerade wo es auf das Individuum selbst geht, eine unvollendbare Aufgabestellung und im letztenl Grunde i r r a t i o n a l . Leibnizens rationale Formulierung, daß alles Tun und Geschehen des Individuums logisch aus dessen von Gott einmal gesetztem Sein folge, macht darum das Individuum nicht — wie man ihm fälschlich unterschob — rational faßbar. Es ist ja gerade als einmaliges Tatsachengebilde nicht voll zu erkennen. Der Gedanke aber, daß all sein Sein und Handeln aus seinem innersten Kern folge, gewinnt erst in der Theorie des Verstehens seine volle Bedeutung und Auswirkung. Schon Kant und Fichte denken in ihrer Unterscheidung zwischen empirischem und intelligiblem Charakter Leibnizens Problemstellung neu und vertieft durch. Der empirische Charakter ergibt sich als rein durch Erfahrung aus den Handlungen des Einzelnen aufweisbarer Charakter — er ist Phänomen und anscheinend wechselnd. Hinter ihm aber steht die ,,Ding-an-sich"~Welt des Einzelnen als sich selbst bestimmendes sittliches Wesen, als frei handelnde Person: das Gleichbleibende in der Erscheinungen Flucht, und dieser intelligible Charakter ist die vor aller Erfahrung liegende, die wahre Struktur des einzelnen Individuums. (Sie muß als die sittlich verantwortliche (Größe der Phänomenwelt des empirischen Charakters unterlegt werden. Weder Kant noch Fichte aber finden eine andere Lösung für deren Sein als die im Grunde Leibnizische: daß das Dasein und Sosein des Individuums eine Tatsache sei. Für die Ethik des späten Fichte wird gerade der intelligible Charakter zum Ansatzpunkt einer gegenüber Kants formalem kategorischen Imperativ neuen, inhaltlichen sittlichen Grundforderung: Werde, was du bist! Das heißt: Zeuge gegenüber allem Bestimmtsein durch deine Umwelt deinen eigenen, deinen intelligiblen Charakter aus! Sei dir selbst in allem und jedem treu! Diese ethische Wendung des Problems bei Kant und erst recht bei Fichte erfährt nun in der Theorie des Verstehens nach der Seite des Erkennens eine grundlegende Erweiterung auf das ganze Sein der Person, doch immer unter Betonung

Verstehen des Individuellen

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ihres sittlichen Kerns. Einen individuellen Autor verstehen, heißt letzten Endes nie etwas anderes als ihn in seinem ganzen persönlichen Sein, in seinem sittlichen Kern erfassen wollen. Die „individuelle Interpretation" {von Schleiermacher und anderen auch „psychologische" genannt) zielt nur auf diese Einheit. Sie weiß sie unerschöpflich, aber nicht grundsätzlich unzugänglich; sie nimmt den aus der Quelle und allen anderen Zeugnissen der Person erreichbaren empirischen Charakter zusammen, um doch nur den' — intelligiblen zu deuten. Sie m u ß die Einheit des Seins in der Mannigfaltigkeit des Erscheinens zu packen suchen, auch wo es sich nicht als Eines, sondern als ein durchaus zwiespältiges Sein offenbaren sollte. Sie m u ß das Erfahrbare, das immer Bruchstück ist, in Bezug auf dies Sein v e r s t e h e n ; sie muß den einen Zug als w e s e n t l i c h , den anderen als unwesentlich und peripher ansehen dürfen. Sie muß, zwischen dem Erfahrbaren auswählend, die wesentlichen Züge zum Ganzen verbinden können. Schleiermacher, Boeckh und Humboldt haben das Problem der individuellen Interpretation in dieser Sicht behandelt. Am tiefsten geht Humboldt auf den philosophischen Kern der Frage. Klar fordert er die Verbindung von praktischer Beobachtung mit spekulativem Nachdenken. Die Beobachtung gibt uns nur immer das Wirkliche, die Äußerung eines Charakters, nicht dessen inneres Wesen, Das Wirkliche muß aber mit dem Möglichen verglichen werden, um zu beurteilen, wie es sich dem Notwendigen anzunähern vermöge. Hier eben liegt der entscheidende Punkt. Eine weite Bildung muß mir die Möglichkeit des Zusammentretens verschiedener Züge zur Einheit eines Charakters vermitteln. Dies Zusammentreten aber fasse ich als Notwendigkeit, und alle Äußerungen des Charakters in der Wirklichkeit als dessen notwendige logische Folge. Damit ist Leibnizens Gedanke vom notwendigen Sein und sich gerade so Entwickeln jedes Individuums in die Form der verstehenden Erkenntnis dieses Seins überführt. Sehr schön spricht im gleichen Sinne Jean Paul von einer „Grundfarbe" des Charakters, die als ein

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6. Persönlichkeit — Deutung — Weiterwirkung

„Leibnizisches vinculum substantiale die Monaden mit Gewalt zusammenhält" — dies viculum substantiale gilt es verstehend zu treffen; so allein wird auch begreiflich, wie ein einziger Zug, eine einzige menschliche Handlung uns blitzartig den „wahren" Charakter, den eigentlichen Seinsgrund einer Menschenseele zu enthüllen vermag. Die Gleichsetzung von „Geist" und „Leben" in einer letzten Tiefe, die wir bei Leibniz antreffen, begegnet uns durch das ganze 18. Jahrhundert in einer theologisch-philosophischen Strömung des deutschen protestantischen Südens, die unmittelbar aus der deutschen Naturphilosophie herausgewachsen ist, aber auch ihren geistigen Zusammenhang mit Leibniz kräftig betont. Es ist die stark mystisch inspirierte „Theologie der Schwabenväter", eines B e n g e l , H a h n (d.Ä. und d. J.) und anderer schwäbischer Theologen, in deren Schatten die jungen Denker und Dichter des Tübinger Stifts, Hölderlin, Schelling und Hegel heranreifen. Nicht Kant, ja nicht einmal Fichte, sondern die L e b e n s p h i l o s o p h i e der Schwabenväter verbindet den Tübinger Frühidealismus mit Leibniz und führt das Freundesgestirn zu Leibniz zurück, noch bevor es sich in philosophisch klarer Form mit Kant, Fichte und dem Landsmann Schillcr auseinanderzusetzen beginnt. Wenn wir Hegels Fragment 17 lesen, welches das „unendliche Leben" all der individuellen Ichc des Universums und deren nirgends unterbrochenen Lebenszusammenhang als den wahren und einzigen Gegenstand der Metaphysik darstellt, so meinen wir den nüchtern präzisen Denker des 17. Jahrhunderts in einer poetisch verklärten, gelockerten, vertieften Sprache reden zu hören. In der Symbolsprache Hegels kommt uns erst zum Bewußtsein, welch irrationale. Tiefen in dem Monadenansatz der Leibnizschcn Lebensphilosophie sich auftun, wenn ein ganz Großer den Leibnizschen Rahmen mit seinem wuchtigcn Erleben füllt. Die geschliffene Form der Monadologie wirkt gegen diese Tiefen aufwühlende Ineinssetzung von Leben und Geist im Göttlichen wirklich wie eine feine Kartonskizze.

ANHANG

Leibniz, der Deutsche und Europäer Leibniz und wir

Studien zur Darstellung des Systems

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Huber, Leibniz

L e i b n i z , der D e u t s c h e und E u r o p ä e r

Ein Vortrag 'Wir sind hellhöriger geworden f ü r das große Thema „Deutschland—Europa", das ein Grundthema unserer Geschichte ist, f ü r die Auseinandersetzung jedes einzelnen unter uns mit dem engeren und weiteren Lebensbaum, darein er schicksalhaft gestellt ist. Den Älteren unter uns, die vor etwa vierzig Jahren die Tageszeitung, die politische Publizistik um dieses Thema angingen, trat Mutter Europa im wesentlichen als einfache mechanische Maschine entgegen: als eine große Waage, an deren Armen die großen und kleinen Staatenverbände zappelten und „europäisches Gleichgewicht" spielten. So arm, so entleert, quantitiert war dieser politischen Denkart der alte Kulturbegriff Europa geworden. Man hatte noch, dem neureichen Amerika gegenüber, den Stolz alter Kulturtradition — doch ein tieferes Ideal „Europa" wird man in der Publizistik der Vorkriegszeit wohl vergebens suchen. Das alte „Heilige Römische Reich teutscher Nation" war ein solches religiöses, christlich-germanisches Ideal, das dem mittelalterlichen deutschen Menschen sein Gepräge gab. Man mag sich heute dazu stellen, wie man will: Dieses Europa war eine innere Einheit, solange die religiösen und politischen Voraussetzungen dafür gegeben waren. Durch die Reformation in seinen Grundvesten mit geschichtlicher Notwendigkeit erschüttert, ward es seit dem Westfälischen Frieden von 1648 endgültig in seiner Totalität gesprengt. Ein neues Europa mit neuer Sinnfüllung zieht herauf; in seine Geburtsstunde fällt die Geburt — 1 6 4 6 — d e s Denkers, der einem solchen neuen Europai und neu erstarkenden Deutschland eine Geistesarbeit von einem Umfang und einer Breite und Tiefe gewidmet hat wie kein zweiter Deutscher seiner Zeit — ein tragischer Kämpfer für ein neues Deutschland, ein neues Europa. Ihm ist es in einziger Person gelungen, das Gesicht des deutschen Geisteslebens mit einem

Europa: Gottesstaat auf Erden

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Schlage zu ändern. Seit Leibniz stellt sich deutsches Geistesleben wieder in einer in keinem anderen Lande erreichten Universalität in den Mittelpunkt europäischer Geistesbildung; das „autarke Land der europäischen Mitte", von dem Leibniz nicht müde wird zu sprechen, stellt sich führend an die Spitze der geistigen Entwicklung. Hat der Denker auch am politischen Gesicht Deutschlands etwas ändern können? War es ihm vergönnt, irgendwo; entscheidend sein Deutschland aus der Ohnmacht eines zermürbten, zerfallenden Volksgebildes, eines Trümmerhaufens herauszuführen? Das zu erreichen war der große Traum, der persönliche Ehrgeiz seines Lebens. Er wollte einen persönlichen, führenden Einfluß auf die Gestaltung von Deutschlands politischen Geschicken gewinnen. Er war ein Denker, wie man sich sonst gerade deutsche Philosophen nicht vorzustellen pflegt — ein, durchaus politischer Mensch. Politik schien die Seele seines Wesens. Der jugendliche Autodidakt, der in der reichen Bibliothek des frühverstorbenen Vaters in ganz eigenartigem, genialem Einlesen in die alten Denker und Dichter etwas von der Färbung, der Tinktur des antiken Menschen lebendig angenommen hatte, fühlte sich in erster Linie als zoon politikon, als Mensch der Gemeinschaft. Sein ethisches Ideal ist die Gemeinschaft, nicht die stolze, selbstgewählte heroische Einsamkeit eines Descartes oder die gemimte eines Spinoza. Dies Ideal ist durchdrungen von dem tief christlichen einer johanneisch gefaßten Gottesliebe, die den Nächsten und von ihm aus die Welt durchstrahlt. Der Sieg der richtig verstandenen, der durch Vernunft geklärten Menschenliebe, das ist der innere Kern seiner großartigen Europavision: ein Gottesstaat auf Erden — doch in der religiösen Freiheit des einzelnen Christenmenschen, die durch die Reformation erkämpft worden war. Gerechtigkeit, die durch Vernunft geleitete Liebe, war für ihn die Grundlage des Rechtsund Staatslebens. Es war der Grundbegriff seines Naturrechts, auf den alles positive Recht, auf den jedes wirkliche Leben1 der Gemeinschaft im Staate sich zurückführen lassen 20*

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Leibniz, der Deutsche und Europäer

mußte. Die letzte, die höchste Sicherung des Rechtelebens sah er im Gottesbegriff selbst, nicht so als ob Gottes Willkür bestimmte, was Rechtens sei, sondern die Rechtsordnung war ihm -der Ausfluß des unendlichen göttlichen Wesens, das Liebe und nur immer wieder Liebe ist. Das Naturrecht war ihm das Recht der klaren Vernunft, der Idealstaat der Staat der höchsterreichbaren menschlichen Vernunft, das vernünftige Handeln die ideale Sittlichkeit — insoferne gehört Leibniz ganz der großen Strömung des europäischen Rationalismus an. Doch im Kern seines ganz eigenartigen Rationalismus, in den tiefen Schächten der Kräfte, die die Welt aus einem höheren Geschehen zusammenhalten, lebt und wirkt für ihn das tief irrationale Wesen der Liebe. Jenes „ich weiß nicht was", das mich zum anderen zieht, jenes uninteressierte Gefallen an der Natur ist für uns nichts anderes denn eine Erhöhung unserer eigenen Vollkommenheit, unseres wahren Wesens, die wir lebendig fühlen, im letzten nicht zu erklären vermögen. Die Liebe ist der Ausdruck der harmonischen Zusammenstimmung mit dem Nächsten in einem Weltplan, der H a r m o n i e des U n i v e r s u m s . Diese großartige, in der deutschen Aufklärung bis zur Unkenntlichkeit verflachte Gedankenkette hat der knapp Fünfundzwanzigjährige um 1670 in Mainz gedacht. Sie ist der Ausgangspunkt seiner praktischen Philosophie und so auch die immer spürbare Grundlage seines politischen Mühens. Sie entstammt einer religiösen Weltstimmung, die ihre Wurzeln in die deutsche Liebesmystik senkt. Aus der Mystik wollte ein Leibniz die Kraft neuer politischer Ideale gewinnen, indem er deren Gedanken weitgehend säkularisiert. Ein genialer Jurist, hat er schon in seiner Studienzeit über die methodischen und philosophischen Grundlagen seiner Wissenschaft tief nachgedacht, sie in eine umfassende logische Wissenschaftslehre eingebaut, die uns hier nicht beschäftigen kann. Der Idee des Gottesstaates auf Erden steht bei Leibniz der Begriff des tatsächlichen Staates gegenüber. Und hier hat

Antimachiavell

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er schon früh den vielleicht modernsten Staatsbegriff des 17. Jahrhunderts gefunden. E r wendet sich mit Schärfe gegen den naturalistischen Absolutismus eines Machiavelli und seines großen Theoretikers, des von Leibniz offen bewunderten Hobbes, gegen die Vereinigung des Staatsbegriffs in der Macht des Herrschers, gegen die Ableitung des Rechts aus der Staatsmacht: Sein S t a a t ist — der antimachiavellistische Staat Friedrichs des Großen, der vonj niemand so nachdrücklich gelernt hat wie von Leibniz. Sein S t a a t ist eine d u r c h e i n e n R a u m zusammengeschlossene Vereinigung von Menschen —• das ist das Neue; eine geschlossene Körperschaft e i n e r Person mit einheitlichen* Willen, von Herrschenden und Beherrschten. D e r Herrscher aber — gleich welcher Staatsform — ist d e r e r s t e Diener seines Staates. Dies die tief dringende Lehre'. Leibnizens vom tatsächlichen S t a a t als einer menschlichen Schöpfung, Er ist ein Bild, eine endliche Verwirklichung des Gottesstaates a u f Erden, aber immer endlich, menschlich, in das große Geschehen der Geschichte eingefügt, mit ihm sich wandelnd und entwikkelnd. Er muß immer neu geschaffen, gleichsam als Ziel aller Politik erworben, erkämpft werden. Man muß diese tragenden Gedanken Leibnizscher praktischer Rechts- und Staatsphilosophie verstehen, um Leibnizens politisches Schaffen zu würdigen. Nichts falscher als die heute mit Nachdruck' wieder erhobene Behauptung, der Politiker und der Philosoph in Leibniz seien getrennte Welten. Der jugendliche Jurist, der mitterf in einer scheinbar alltäglich gediegenen, aber stürmisch erfolgreichen akademischen Laufbahn plötzlich in der geheimen Sekte der Rosenkreuzer in Nürnberg verschwindet, um 1667 — ein Einundzwanzigjähriger — am Mainzer Kurfürstenhof des bedeutenden Johann Friedrich von Schönborn als Sekretär und Freund seines gestürzten Ministers von Boineburg aufzutauchen, ist keine „akademische Persönlichkeit", für die Wissenschaft abgetrennt vom Leben irgend etwas bedeutete.

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Leibniz, der Deutsche und Europäer

Der Nutzen f ü r das praktische Leben ist der einzige Maßstab f ü r die Echtheit und Berechtigung einer Philosophie und Wissenschaft. Unter der bestimmenden Einwirkung des merkwürdigen Boineburg, im Gesichtskreis der kurmainzischen Politik Schönborns hat sich -der junge Leibniz zum Politiker gebildet. Er hat den mitteldeutschen Aspekt dieser Politik nie verleugnen oder überwinden können. In den Arbeiten dieser Jahre kommt die ganze jugendliche Kraft einer tiefen Deutschlandliebe inmitten all der verschlungenen politischen Kombinationen, die er gehen muß, prächtig zum Durchbruch. Für das Deutschtum eines Mannes wie Leibniz braucht man nicht nach Voraussetzungen zu suchen. Es ist gefühlsmäßig, blutsmäßig bestimmt, unreflektiert, ungekünstelt, ehrlich. Zum Europäer hingegen werden wir nicht „geboren". Europa ist in jeder Periode deutscher Geschichte eine schöpferische Idee oder ein leeres Loch. Leibnizens Deutschtum tritt eine neue, religiös-kulturelle Europaidee gegenüber, deren Verwirklichung ein treibendes Ziel seiner Politik ist. Und beides erprobt sich an dem realen Machtgefüge, an der politischen Konstellation, in die er eingreifen möchte. Wenn Leibniz von! „unserem Europa" spricht, so hat es doppelte Wurzeln: eine religiös-christliche und eine modern kulturelle. Das „Heilige Römische Reich Deutscher Nation" bildet für die christliche Auffassung den Übergang. Es ist deutsch, aber es hat außerdeutsche Ansprüche: das oberste und umfassendste Staatsgebilde, der Führer der ganzen, zu einer geistigen Einheit verschmolzenen Christenheit zu sein. Das Europa dieser Fassung ist das christliche Europa, das eine geschlossene Kultur darstellt und sich gegenüber der ungläubigen Welt, dem Islam und der heidnischen Welt absetzt. Diese Welt muß in ihrer Reinheit erhalten, sie muß ins Herz Asiens und der fremden Länder getragen werden. Was deutsches Wesen sei, ist dem jugendlichen Denker nicht auf der1 Hochschule, sondern in der alten Reichsstadt Nürnberg im Kreise der Frommen des Rosenkreuzerbundes

Deutsche Akademie

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aufgegangen. Wo immer er in seinem politischen Schrifttum die verworrenen, verwilderten Zustände des Deutschland nach dem Dreißigjährigen Kriege geißelt, den Zerfall der Sitte, der zünftisch-bürgerlichen Ordnung, die Verwilderung der Jugend, die Französelei in Adel und Bürgertum, die geistig und wirtschaftlich schädigenden Auslandsreisen, da verweist er auf das noch altdeutsch-gesunde Leben der alten Reichsstadt als leuchtendes Vorbild. Inmitten einer teilweise französisch orientierten Landespolitik, in Mainz, in den ersten Jahren in Hannover, hat er das Ideal deutschen Wesens, deutscher Bildung, deutscher Gesittung und Sprache hochgehalten. Er ist einer der ersten, der — am schönsten in den „Unvorgreifflichen Gedanken zur Beförderung der teutscheri Sprache" von 1696 — wieder die Rückkehr zur deutschen Sprache als Sprache des öffentlichen Lebens, der Rechtsprechung, der Wissenschaft, der Bildung gefordert hat. Er fordert Deutsch! als Hauptsprache in den Schulen, deutsche Erziehungsinstitute, die dem national verderblichen Aiislandstudium der besten deutschen Jugend den Riegel vorschieben, Vertiefung in die deutsche Geschichte an Stelle eines humanistischen Fremdlebens in der Welt der Antike, Hervorhebung der Realien, der Mathematik, Physik, Chemie im Lehrstoff unter Führung des Deutschunterrichts. Daneben aber steht das Ideal einer gemeinsamen, alle verbindenden europäischen Kultur, einer Gelehrtenrepublik, die untereinander lateinisch verkehrt, einer europäischen Bildungsschicht, die wohl oder übel sich des Französischen bedient. Der junge Leibniz ist geblendet vom Glanz der neuen Akademien, die sich in Paris und London um 1660 unter dem bestimmenden Einfluß des Baconschen Wissenschaftsideals gebildet haben. Er fordert in einer Reihe von Entwürfen die Gründung einer Deutschen Akademie, die in ähnlich nationalem Sinn das ganze wissenschaftliche Leben zusammenfaßt, zentralisiert. Aber neben diesen Entwürfen stehen andere, deutlich religiös gerichtete Frühentwürfe zu einer „Gesellschaft der Gottesfreunde", einer säkularisierten Ordensgemeinschaft europäischer Wissenschaft, die am

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Leibniz, der Deutsche und Europäer

besten im freien Holland ihren Sitz aufschlägt, sich aus Stiftungen erhält und für die der Kaiser, der Papst, der König von Frankreich die Garantien übernehmen. Schon hier, in den Kulturbelangen, wird die Spannung zwischen dem Deutschen und dem Europäer deutlich, die sein ganzes politisches Schaifen durchzieht. Die Akademiepläne begleiten Leibniz durch sein ganzes Leben. Sie sind der deutlichste Ausdruck seines umfassenden Kulturprogramms, das eine Erneuerung der deutschen wie der internationalen Wissenschaft auf der Grundlage einer umfassenden, schlechthin genialen enzyklopädischen Wissenschaftslehre sich zum Ziel setzt. Diese Akademien sind den überalterten Universitäten ausdrücklich entgegengesetzt: Forschungs-, nicht Lehranstalten, die Realien und alles, was für den S t a a t oder die Gemeinschaft nützlich ist, gegenüber dem humanistischen Studium pflegend. Die Theologie ist aus ihnen ausgeschaltet; das Toleranzprinzip ist überall durchgeführt. An allen bedeutenden Höfen des europäischen Kontinents hat Leibniz eine solche Akademiegründung versucht, immer nach dem Fürsten Ausschau haltend, dessen Machtstellung die enzyklopädische Gemeinschaftsarbeit erzwänge, in Paris und Hannover, in Berlin und Dresden, in Wien und endlich in dem zu europäischer Kultur sich durchringenden Petersburg Peters des Großen. Nur die Gründung in Berlin ist ihm gelungen; er hat sie mit schmählicher B e handlung durch den preußischen S t a a t bezahlen dürfen. Dresden, Wien und Petersburg sind erst nach seinem Tode gefolgt. Wohl sind diese Akademien alle als nationale Anstalten gedacht; doch der alternde Leibniz hätte, durch die Mißerfolge in Deutschland erschüttert, auch das Vaterland preisgegeben, wenn ihm etwa in Rußland die Möglichkeit, seine Lieblingsidee durchzusetzen, gegeben worden wäre. Die politische Konstellation, in die der junge Politiker in Mainz eintrat, war derjenigen nicht so völlig unähnlich, die wir heute vor uns sehen. D a s türkische Reich im Osten, der Machtstaat Ludwigs X I V . im Westen, die größten deutschen

Das Reich als Bundesstaat

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Fürstenterritorien auf dem Wege zu modernen Eigenstaaten, der Kaiser in Spanien gebunden und in, erster Linie auf die Erhaltung seiner Hausmacht bedacht. Dem Kampf gegen Ludwigs Eroberungspolitik gelten seine ersten und seine letzten politischen Arbeiten; er zieht sich wie ein roter Faden durch dies Denkerleben. Erstaunlich klar hat der junge Leibniz die Mentalität des französischen Herrschers erkannt: Wem viel anvertraut ist, der will alleweil noch mehr haben ; der Machttrieb ist ihm das Geheimnis von des Königs Persönlichkeit; ihm opfert er jedes sittliche Bedenken eines guten Herzens. Leibniz ist für die Genialität dieses Machtstrebens nicht unempfänglich; mit Neid sieht er auf die aufwärtsstrebende Entwicklung Frankreichs, wogegen das Reich nur noch mit einem seidenen oder gar strohernen Faden zusammenhängt. Leibnizens Gedanken zur Reichsreform erwachsen ganz aus Boineburgs Politik, allgemeiner aus den kurmainzischen Reformplänen Johann Friedrich v. Schönborns. Im ,,Bedencken" von 1670, noch unter Boineburgs Aufsicht, formuliert, wiederholt er sie 1677 im „Caesarinus" bis in die Staatsschriften des ausgehenden, Jahrhunderts. Die k u r mainzische Politik war darauf gerichtet, das morsche, auf die mittelalterliche Lehnsherrschaft gegründete Heilige Römische Reich in eine Art Bundesstaat unter Führung des Kaisers, doch mit starker innen- und außenpolitischer Selbständigkeit der Bundesglieder zu verwandeln. Die vorläufigen Partikularbündnisse der größten und einflußreichsten Fürsten waren als Vorstufe zur Reichsreform gedacht. Mit Nachdruck schaltet der Vorschlag des „Bedenckens" die außerdeutschcn Mächte, mit denen die Einzelfürsten verbündet waren, aus dem Schutzbündnis aus. An diesem Gedanken des rein deutschen Bundesstaatsgebildes im Heiligen Römischen Rcich hat Leibniz zeitlebens festgehalten. Man kann daher nicht gegen ihn einwenden, sein leidenschaftlicher Kampf um den: Reichsgcdanken sei ein Eintreten für eine überalterte, durch den Gang der Geschichte überholte Staatsidee gewesen. Ein in Wirklichkeit bundesstaatliches

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Leibniz, der Deutsche und Europäer

Reichsgebilde, das alle geschichtlich gewordenen außerdeutschen, .europäischen Machtansprüche des alten Heiligen Römischeii Reiches in sich aufnähme — das war der Sinn der gegen Frankreich gerichteten Reformvorschläge von 1670, der staatsrechtlichen Erörterungen von 1677 und ebenso von Leibnizens Erörterungen zur Regensburger Allianz von 1686. Eine Bundesverfassung mit Bundesdirektorium sollte die nirgends mehr faßbare alte Reichsordnung von 1480, ein elastischer Bundesrat den nie arbeitsfähigen Regensburger Reichstag ablösen. Eine einheitliche Reichsgesetzgebung auf der Doppelgrundlage des rezipierten römischen Rechts u n d alten deutsch-germanischen Gewohnheitsrechts, eine einheitliche Bundeskasse und ein Bundesheer sollten die Eckpfeiler der bundesstaatlichen Reform und die Garanten der Reichseinheit darstellen. „Eine Trennung von Ober- und Niederdeutschland — heißt es schon im ,Bedencken' — gäbe dem Reich die letzte Ölung." Leibniz geht so weit, in) dies bundesstaatliche Gebilde den Kaiser immer nur als Vertreter seiner Erblande, als „primus inter pares" einzusetzen. Erst recht entscheidet das Fürstenkollegium durch einfache, man kann sagen „demokratische" Stimmenmehrheit. Auf der anderen Seite sieht jedoch Leibniz das „Reich", dies sich selbst genügende „Land der Mitte" geradezu theokratisch als den Gottesstaat auf Erden, faßt er das Verhältnis der Fürsten zum Kaiser als ein absolut patriarchalisches Treueverhältnis. Wie ist der anscheinende Widerspruch zwischen den zwei Staatsideen zu deuten? Falsch wäre es, einfach von einem Widerspruch zwischen realer Gestaltung und idealer Deutung zu reden. Der nüchterne Politiker Leibniz baut keine Luftschlösser. Gerade der Staatsmann in ihm: sieht, je mehr er sich in die Geschichte des Weifenhauses vertieft, in der alten Reichsidee eine fortwirkende geschichtliche Macht. Mit der Rückkehr ir£ die Heimat verschiebt sich das Verhältnis des Philosophen zum Reich und zum weiteren Europa in einschneidender Weise. Vierzig Jahre lang, unter drei

Leibniz im Dienst der Weifen

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Herrschern sollte er dem Hause ¡dei Weifen dienen; er hat den glänzenden und doch fragwürdigen Aufstieg der Hannoveraner Linie zum neunten Kurfürstentum und endlich zur englischen Königskrone nicht nur erlebt, sondern durch seine Feder an beidem entscheidenden Anteil genommen. Er durchlebt mit leidenschaftlicher innerer Anteilnahme die wechselvolle Geschichte Deutschlands in diesen vierzig Jahren: die unglücklichen Kriege mit Frankreich, Höhepunkt und Niedergang der französischen Vormachtstellung in Europa, die glückliche Behebung der Türkengefahr, den Aufstieg Brandenburgs und die Rivalität Brandenburg—Österreich, die sich erst später in ihrer ganzen Schwere offenbaren sollte. Die Geschichte von Leibnizens Anteil an diesem deutschen und europäischen Geschehen,, die Geschichte des Politikers Leibniz in den Hannoveraner Jahren gestaltet sich, nicht ohne Leibnizens eigene Schuld, zur Tragödie. Glänzend, hoffnungsvoll beginnt Leibnizens Wirksamkeit unter dem kühlen reservierten Franzosenfreund Johann Friedrich. Die drei kurzen Jahre von 1 6 7 6 — 1 6 7 9 , bis zu dem Tod des Herzogs auf der Reise nach Italien in Augsburg, sollten für Leibniz die Jahre ungetrübtesten, intensivsten Schaffens sein. Der grundlegende Neuaufbau seiner Wissenschaftslehre, die ersten Ansätze eines logischen Kalküls, die Umreißung einer neuen Geometrie der Lage, die Entdeckung der Determinantenrechnung, tiefdringendc, heute erst fruchtbar werdende Grundlagenforschung der Mathematik sind dem Uneingeweihten nur Titel, die ihn nicht entfernt ahnen lassen, welche Unsumme von geistiger Arbeit in diesen Entwürfen steckt. Für einen Leibniz sind es — 1 Nebenbeschäftigungen, die sich der durch vielfältige Geschäfte gebundene Politiker und Staatsjurist in der freien Zeit abringt, Denn im Mittelpunkt seiner Arbeit stehen die Vorschläge für eine rationale Gestaltung, des kleinen, doch in manchem Beziehungen schon musterhaften hannoveranischen Staatswesens. Es gibt kein Gebiet des Staatshaushalts, zu dem' der neue Bibliothekar und Hofrat nicht seinem Fürsten und später

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Leibniz, der Deutsche und Europäer

dessen sehr viel verständnisloseren Nachfolgern gegründete Vorschläge gemacht hätte. Zentralisierung der gesamten Landesarchive, Schaffung einen umfassenden Landesstatistik zur unmittelbaren praktischen Verwendung des Fürsten — Vorgänger der bekannten Quarthefte Friedrichs des Großen — , Münz- und Steuervorschläge, großzügige Versicherungen und Armenpflege, tief sachkundige Münzvorschläge und endlich die kühnen Vorschläge zur Verbesserung des Ertrags der Harzbergwerke, die im Jahre 1685 den Vielgeschäftigen fast seine Stellung gekostet hätten. Uns fesselt das Grundsätzliche, die I d e e e i n e r s t r e n g r a t i o n a l e n S t a a t s - u n d V o l k s w i r t s c h a f t , die Leibniz in dem kleinen niederdeutschen Staatswesen in vollem Umfang zur Durchführung bringen möchtc. Abwegig der Einwand, viele der Vorschläge seien nicht Leibnizens eigenem Kopf entsprungen. Als ob bei praktischen Vorschlägen zur Staatsführung die Originalität und nicht die Zweckmäßigkeit und Durchführbarkeit in Frage stünde! Und Undurchführbares hat Leibniz nie verlangt, auch nicht in seinem kühnen Harzprojekt, das an der H a r t köpfigkeit und Verständnislosigkeit der Bergbauverwaltungen scheitern mußte. Was ein Colbert für Frankreich, ein Becher f ü r Österreich war, das wollte und konnte Leibniz für Hannover werden. Vieles, was er verlangte, ist kaum Jahrzehnte später im Brandenburg Friedrich Wilhelms I. und noch später und nicht ohne inneren Zusammenhang mit Leibniz von Friedrich dem: Großen verwirklicht worden. Zum Staatswirtschaftler von Gewicht tritt, ihn ergänzend, erst der Politiker, und zwar der Staats- und Kulturpolitikev. Er führt wieder in das Getriebe verwickelter deutscher und europäischer Konstellationen, in dem sich der Rastlose zermürben sollte. Eben weil er n i c h t — wie er sich erhofft hatte — in die unmittelbare politische Führung des Staatswesens hereingezogen wurde, sondern von Anfang an die verhängnisvolle Stellung des politischen Außenseiters beziehen mußte, der sich durch Sonderleistungen politisch un-

Souveränität und Reich

entbehrlich zu machen hoffte. Er hat staatsrechtliche und andere juristische Sonderaufgaben zu lösen, er. hat einen umfassenden Briefwechsel zu führen, bei dem die Grenzen des Halbamtlichen und Privaten kaum zu ziehen sind — aber er hat nicht zu regieren. In dieser halben Stellung liegt von Anfang an der Schlüssel zu der Katastrophe. Der große Denker war für Johann Friedrich eine interessante Aquisition, die er vielleicht noch an die richtige Stelle zu setzen gewußt hätte; f ü r seinen Nachfolger Ernst August schon mehr eine Belastung, die man trug. Trauriges Schicksal! Eine staatsrechtliche Arbeit der ersten Hannoveraner Jahre von 1677 hat1 Leibnizens Ruhm als politischen Schriftsteller mit begründet. Der „Caesarinus Fucrstencnsis", aus einem Gesandtschaftsstreit erwachsen, klärt .das staatsrechtliche Verhältnis der deutschen Fürsten zum Reich und untereinander — eine grundlegende Fragestellung. Der Begriff der S o u v e r ä n i t ä t steht im Mittelpunkt. Leibniz gesteht ihn allen Einzelfürsten zu, soweit ihrer Herrschaft die Merkmale der Autonomie, genügender Größe ihres Gebietes, des Rechts der Verträge und über Krieg und Frieden zukommen. Diese Fürsten sind souverän, aber sie stehen in einem höheren staatlichen Verband, der durch die Souveränität nicht erschöpft ist, sie stehen im Treueverhältnis zum Reich, zum Kaiser. Ein m o d e r n e r Souverän i t ä t s b e g r i f f und die G r u n d i d e e der T r e u e g e f o l g s c h a f t g e h e n in L e i b n i z e n s I d e e des „ R e i c h e s " ein. Diese Bindung des Neuen und des Alten ist für Leibnizens Reichsidee charakteristisch. Sie ist im tiefsten Grunde h i s t o r i s c h , nicht systematisch. Leibniz fragt sich: Wie sieht das Reich; t a t s ä c h l i c h aus? Nicht wie Pufendorf: Ist es unter die Monarchie, Aristokratie oder irgendeine andere Herrschaftsform e i n z u o r d n e n ? Nur für den Mozambano-Theoretiker ist es ein staatsrechtliches Monstrum; f ü r den, der aus Einseitigkeit und Mißgunst die Wirklichkeit nicht sehen w i l l , dem der Primat Habsburgs

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Leibniz, der Deutsche und Europäer

ein Dorn im Auge ist. Für Leibniz ist das Reich etwas ganz Einmaliges, geschichtlich Gewordenes, letzten Endes ein unwiederholbares Staatenindividuum, eine „Monade". Und e r erlebt diesen Organismus als zwar geschwächt, doch voll lebendig, daseinswert, als Ausfluß gerade des deutschen Staatswillens. Er steigt in die Vorzeit der ältesten Herrscherfamilien, so der Weifen zurück und findet das Treuegefolgschaftsverhältnis an sich selbständiger Fürsten zu einem selbstgewählten Oberhaupt als die charakteristische Struktur des germanischen Königtums. Sie hat das römische Imperium, eine gänzlich andere Staatsform abgelöst, g e r m a n i s i e r t . Lächerliche Humanistenweisheit, die deutschen Fürstenfamilien in ihrem Stammbaum auf römische Kaiser zurückführen zu wollen! Wie Leibniz sich als braunschweigisch-lüneburgischer Historioigraph in die Genealogie des Weifenhauses vertieft, bucht er als unerwartetsten Erfolg die Verwandtschaft des Herzoghauses mit dem italienischen Herzogshaus der Este durch einen gemeinsamen Ahnen Azzo. Nicht eine römische Abkunft, sondern das germanische Blut in ältesten italienischen Familien ist für ihn entscheidend. Er gründet darauf die Ansprüche des Reichs auf die italienischen Staatengebilde. Eine solche tief historische Einstellung zum Reich bildet die unwägbare Voraussetzung von Leibnizens ganzer Realpolitik auch in den Hannoveraner Jahren. Er hat an ihr — fast bis an sein Lebensende — nicht gerüttelt; erst die bitteren Erfahrungen am Wiener Hof scheinen im letzten Lebensjahr ihn den Reichsgedankcn aufgeben zu lassen. Damit freilich bräche das ganze Gebäude seiner Politik zusammen. Man hat Leibniz einen Großdeutschen genannt. Gerade das ist er nicht in dem Sinne, als ob er vom Standpunkt Österreichs aus Politik machte. Er unterscheidet scharf das „Reich" und „Habsburg-Österreich". Daß seine „Reichspolitik" im Grunde keine österreichische sei, war der Verdacht, den die Wiener leitenden Stellen im letzten gegen Leibniz hegten. Er war keiner von den „ihren".

Grenzen von Leibnizens politischer Begabung

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Je schärfer Leibnizens spätere politische Publizistik im Vergleich zu den Leistungen der zeitgenössischen großen Publizisten, eines Lisola und Dumont, auch eines Abraham a Santa; Clara, unter die Lupe genommen wird, desto mehr erweist sie sich als Produkt einer nicht eigentlich originalen, gewiß nicht genialen Feder. Sie zeigt uns die Grenzen, die auch der universalen Riesenbegabung eines Leibniz gesetzt waren. Ein großer Realpolitiker in dem Sinne, daß er im gegebenen Augenblick bestimmend in den Gang der Politik an irgendeiner Stelle hätte eingreifen können, ist er nie gewesen. Selten offenbart sich so scharf eine tiefe Diskrepanz zwischen hohen, der Zeit voraneilenden politischen Zielen und der Fähigkeit, die Mittel und Wege zu deren Erreichung zu finden. Es ist zunächst vielleicht eine Unfähigkeit der politisch suggestiven Wirkung. Schon der „Mars Christanissimus", die feinste Satire auf Ludwig XIV., ist einer breiten Wirkung nicht fähig. Noch viel weniger die zum Teil langweiligen, mathematisch genau vorgehenden Deduktionen der Spätpublizistik zum Erbfolgekrieg in all seinen verschiedenen Phasen. Leibniz hat den Blick f ü r weite Sichten, aber nicht unmittelbar für das Nächstzutuende. Schwerer fällt freilich eine charakterliche Unsicherheit ins Gewicht. Der Politiker, der sich dauernd hinter Anonymitäten verbirgt, der für jeden Schritt, den er tut, das verzwickte Spiel von Vordermännern braucht, die er in die Front schickt, der lieber den Umweg über fürstliche Freundinnen nimmt, statt mit seinen Herrn ein gerades Wort zu reden, ist keine restlos erfreuliche Erscheinung. Dazu kommt eine merkwürdige, mit den Jahren sich bedenklich steigernde Geschäftigkeit, verbunden mit einer kaum verständlichen Unkenntnis über die eigene Lage. Er jongliert zwischen den einzelnen Höfen, jeweils eine Bedeutung und Intimität vorgebend, die er nie besessen hat, so daß er nirgends vollem, ungeteiltem Vertrauen begegnet. Und das ist die erschütterndste Tragik seines politischen Tuns: ihm fehlte die selbstsichere Vertrauenswürdigkeit.

ilo

Leibniz, der Deutsche und Europäer

Widersprüche gibt es in jeder lebendigen Politik. Doch d a s Maß der Widersprüche hat irgendwo seine Grenze. D a s Verhalten des späten Leibniz bleibt als Ganzes dunkel und widerspruchsvoll. Mit dem Tode der Königin Sophie Charlotte, dem schwersten Schicksalsschlag, der ihn je traf, ist seine Rolle am Preußenhof ausgespielt. Doch auch den Weg zu Wien hat er sich längst verbaut, und in Hannover ist er schon f a s t ein Fremdling. Immer wieder versucht er den Zugang zur lebendigen politischen Welt, in der die großen Entscheidungen fallen, aber nirgends wird ihm auch nur eine Hintertüre': geöffnet. In dieser tragischen Lage strebt sein Geist in unwirkliche Fernen. Er hält die Zeit für ein gewaltig erweitertes Kulturgebilde „ E u r o p a " , für einen übereuropäischen Kulturraum für gekommen, den es zu gestalten gilt. Er träumt von ungeahnten Möglichkeiten, die ihm der Zugang zu Peter dem Großen zu eröffnen scheint. Längst — spätestens seit 1697 — hat er sich ihm zu nähern gesucht. Es gelingt ihm, in Entwürfen über Entwürfen den Zaren zu einer großangelegten Kulturpolitik zu begeistern. Er war so weit, für den Preis der Durchsetzung seiner großen Ideen sein Vaterland aufzugeben. Kann man ihm verdenken, daß er sich in der Enge des deutschen Fürstenhofes mißverstanden fühlte? Kann man ihm nicht nachfühlen, daß er — ein wahrer Schüler Piatons — mit dem Gedanken spielte, in dem weiten russischen Raum, auf jungfräulichem Kulturboden, nicht eine Tyrannis, sondern d e n Staat der Vernunft und wahren Liebe aufzubauen? Frei von hemmenden historischen Bindungen, vom Gezänke der Konfessionen, von Machtansprüchen R o m s ? Und eine Brücke zu schlagen zu dem Vernunftstaat des Ostens, als der ihm China erschien? In Ludwig, Peter und dem chinesischen Kaiser sah er die Machtfülle vereint, die Menschheit unter dem Banner von Vernunft und Liebe zu sammeln. Der deutsche Träumer! Er träumt ein Vorspiel ganz andersgearteter Machtkonstellationen, die heute Europa und den

Scheitern der politischen Pläne

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Fernen Osten zur Auseinandersetzung zwingen. Doch er weist den Weg zu einer kommenden, tieferen Auseinandersetzung im Zeichen von Vernunft und Liebe.

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Huber, Leibniz

Leibniz und

wir

1. Zu den großen Deutschen, zu denen unsere Zeit noch kein ihr entsprechendes neues Verhältnis gefunden hat, gehört ohne Frage Leibniz. Ja, streng genommen ist noch keine deutsche Kulturepoche zur vollen Lebendigmachung dessen gelangt, was diesem eigenartigen Denker eine Lebensaufgabe gewesen war. Die Zeit, die manchmal unversehens eine andere Richtung nimmt, schreitet als Ganzes über solche Geister nicht hinaus, sondern am Kern der Gestalt und ihres Werkes vorbei — die größte Unbill, die schöpferischen Geistern widerfahren kann. Die deutsche Aufklärung hat so an Leibniz vorbeiphilosophiert. Als Lessing, ihr gewaltigster Vertreter und erster Überwinder, den Irrtum einsah, war es zu spät 1 . Die flache Leibniz-Systematik eines Christian Wolff war eine historische Größe geworden; noch Kant sah den ihm kongenialen Vorgänger im wesentlichen durch die Brille dieses, gewiß nicht unverdienten, Polyhistors. Was Herder von Leibniz sich zu eigen machte, war ungleich originaler gesehen, doch zu sehr Bruchstück, um das Ganze Leibnizschen Denkens wirksam zu machen. Doch als Ferment von immer neu zeugender Kraft sind Leibnizsche Ideen durch Lessing wie durch Herder in die Gedankenwelt Goethes und der Romantiker eingegangen Die Wege freilich, auf denen die Denker des deutschen Idealismus: Fichte, Schelling, Hegel, über Kant hinausgreifend vielfach zu Leibniz zurückgefunden haben, sind nicht mehr in allem die unsrigen. Noch viel mehr mutet uns das Bild, welches die naturwissenschaftliche Philosophie des ausgehenden 19. Jahrhunderts von Leibniz entwarf, als verzeichnet an — vollends in der gänzlich ungeschichtlichen Form, in welcher der Neukantianismus einen der größten Systematiker deutscher Metaphysik zum antimetaphysischen Transzendentalkritiker umstempelte 3 . Mit größerem Recht, doch nicht minder einseitig, haben die Mathematiker und Logiker der Mathematik, seit den

Nachwirken Leibnizens: I.ogik und Mathematik

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Dreißigerjahren des vergangenen Jahrhunderts erneut an Leibniz anknüpfend, den Denker f ü r sich beansprucht 4 . In der Tat ist Leibnizens System mit der geschichtlichen Entwicklung wie mit den logischen Voraussetzungen der Mathematik in einer Weise innerlich verknüpft wie keines der großen Systeme deutscher und außerdeutscher Philosophie, das Kantische und Kartesische nicht ausgenommen (um von Spinozas Scheinmathematismus zu schweigen). Doch auch im Mathematischen sind Leibnizens grundlegende Gedanken nicht selten mißverständlich interpretiert und weitergeführt und manchmal geradeswegs in ihr Gegenteil verkehrt worden. So in den Bestrebungen der sogenannten „mathematischen Logik", die sich — seit Hamilton — zu Unrecht auf Leibniz beruft 5 . Denn der große Mathematiker strebt gerade nicht nach einer äußerlichen Mathematisierung der Logik, sondern erkennt mit bewundernswertem Scharfblick den i n n e r s t - 1 o g i s c h e n , kategorialen Charakter der Mathematik in allen ihren Einzelzweigen. Auf dessen Herausarbeitung, auf eine die Mathematik wie die gewöhnliche Begriffslogik in höherem Sinn umspannende L o g i k d e r a l l g e m e i n s t e n O r d n u n g e n ist sein weitausschauendes Denken seit der in aller Unfertigkeit gedankenschweren Frühschrift der „Ars combinatoria" (1466) gerichtet 6 . In wenigen Strichen hat er dort das Kategoriennetz vorgezeichnet, in welchem er in allmählichem Reifen die Idee seiner Ars inveniendi und Mathesis universalis als einer Einheitslogik wissenschaftlicher Erfindung entwickelt. Und nichts anderes sucht er in seiner „Characteristica universalis" denn ein allgemeinstes wissenschaftliches Zeichensystem, welches in einem „Kalkül" von mathematischer Strenge und Sicherheit alle wissenschaftlichen Probleme in logischer Ordnung entwickeln helfen soll 7 . Alles, was der schöpferische Mathematiker in Leibniz geleistet hat, steht in unlösbarer Beziehung zu der großen logischen Problemstellung. Die genial ersonnenen Rechenverfahren des (Lcibnizschen) Differential- und Integral21*

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Leibniz und wir

kalküls, der geometrischen Lageanalysis, der Determinantenrechnung sind für Leibniz nur Sonderfälle dieser allgemeinen Charakteristik 8 . Indem .er die Analysis des Unendlichen auf die Algebra stützt, die gesamte Algebra aber auf eine logische Kombinatorik unbestimmter Zahlen, die gesamte Geometrie auf eine Kombinatorik der Lage zurückzuführen sucht, gewinnt er in der Kombinatorik die Idee eines allgemeinsten Kalküls, der — weit über alles Quantitative hinausgehend; — auf Begriffe wie auf Zahlen, Größen und Gestalten, kurz, auf alles, was einer O r d n u n g fähig ist, angewendet werden kann 9 . Es ist hier nicht auszuführen, in wie weitem Maße diese Gedankenreihe Grundlagenbetrachtungen der modernen mathematischen Analysis und Axiomatik vorwegnimmt; ja, man kann sagen, daß sich die neuere Mathematik seit L a g r ä n g e , G a u ß und G a 11 o i s , seit G r a ß m a n n und H a n k e 1, F r e g e und D e d e k i n d langsam, doch mit merkwürdiger Stetigkeit in allen ihren Einzelzweigen der Idee einer alle mathematischen Disziplinen übergreifenden Logik der allgemeinsten Ordnungen in der Ausführung nähert, wie sie Leibniz in kühner Vorausschau konzipiert hat 1 0 . Leibnizens Logik ist jedoch, als Ganzes betrachtet, viel mehr als eine Grundlagenwissenschaft für die Mathematik. Ihr tieferer und ganz moderner Grundgedanke 1 ist noch ein anderer: Diese Logik will die allgemeinste M e t h o d e n l e h r e sein, wie sie sich aus dem logischen Vorgehen a l l e r Wissenschaften, der Geisteswissenschaften wie der Naturwissenschaften und der Mathematik, ergibt. Wissenschaftliche Erkenntnis ist für Leibniz nur auf der Grundlage fester Begriffsbildung möglich. Die wissenschaftliche D e f i n i t i o n schafft eigentlich erst die Gegenstände einer Wissenschaft. In Leibnizens Lehre von der Definition, das noch wenig ausgeschöpfte Kernstück seiner logischen Methodenlehre, geht in beispiellosem Reichtum das Ganze seiner juristischen, theologischen, historischen und sprachphilosophischen wie seiner mathematischen, physikalischen und sogar biologischen Einzelarbeit, geht — man darf

Logik als Wissenschaftslehre

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sagen die Wissenschaft seiner Zeit stofflich ein. Eine Fülle der feinsten wissenschaftlichen Einzelbeobachtungen liegt der methodologischen Unterscheidung zugrunde, die Leibniz unter den bekannten Namen der Real- und Nominaldefinition, doch mit neuer Sinnfüllung, zum Ausgangspunkt einer rein logischen Analyse wissenschaftlicher Begriffsbildung macht. Die Tendenz aller wissenschaftlichen Arbeit geht von der eindeutigen Abgrenzung ihrer Gegenstände gegeneinander in einer Nominaldefinition zu deren Wesenserkenntnis, wie sie die Erzeugungsdefinition formuliert. Dieser Prozeß ist in keiner Wissenschaft abgeschlossen; er ist jedoch in den Idealwissenschaften vom Typus der Mathematik grundsätzlich abschließbar, in den Tatsachenwissenschaften der Wirklichkeit hingegen grundsätzlich nnabschließbar, weil unendlich. So stehen die einsichtigen V e r n u n f t erkenntnisse des M ö g l i c h e n den im Letzten uneinsichtigen T a t s a c h e n e r k e n n t n i s s e n des W i r k l i c h e n gegenüber — eine von Leibniz seit Aristoteles erstmals wieder mit voller methodologischer Klarheit gezogene1 Scheidelinie von Ewigkeitsgeltung. Das Prinzip aller Möglichkeitserkenntnis ist — wie Leibniz ebenfalls erstmals klar formuliert — der logische Satz des Widerspruchs; dasjenige der Wirklichkeitserkenntnis sucht er in freilich noch unzureichender Gedankenführung im logischen Satz vom zureichenden Grund. — Nur eine aus dem Leben der Einzelwissenschaften gezogene Logik und Methodenlehre hat — das lernen wir von Leibniz! — auch für uns heute Daseinsberechtigung. Wir sind von diesem Ideal heute weiter entfernt als Leibniz zu seiner Zeit, der das gesamte wissenschaftliche Leben seines Jahrhunderts in seiner schöpferischen Arbeit wie in einem Brennspicgel zu sammeln, und umgekehrt nach allen Richtungen zu befruchten wußte. 2. Mit der strengsten Richtung auf das Allgemeinste aller wissenschaftlichen Arbeit, deren Methode selbst, paart sich bei Leibniz — ein bezeichnender Zug seines wissenschaftlichen Denkens! — die lebendige Richtung auf die konkrete

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Leibniz und wir

wissenschaftliche Einzelleistung. Leibnizens Methodenlehre will f ü r die wissenschaftliche E i n z e l leistung, f ü r die historische und juristische wie f ü r die mathematische und naturwissenschaftliche (alles im weitesten Sinne genommen!) f r u c h t b a r werden; sie schafft keine Theorie neben der Praxis der Einzelwissenschaften — wie die meisten Logiken und Wissenschaftslehren der Vergangenheit und Gegenwart. Hierauf beruht ihre heute neu verspürte Überlegenheit. Ganz im Sinne heutiger Forderungen lehnt Leibniz mit Schärfe jede „wissenschaftliche" Fragestellung grundsätzlich ab, die nicht n u t z b r i n g e n d ist. Ja, der positive Nutzen einer Fragestellung und Aufgabenlösung für das Ganze des Lebens, f ü r dessen Fortschritt und den Fortschritt der Kultur entscheidet umgekehrt über die Wissenschaftlichkeit der Fragestellung selbst. Es ist unwirtschaftlich und unsittlich, seine Zeit mit lebensunwichtigen Fragestellungen und deren Bearbeitung zu vergeuden 11 . Diese lebendige Richtung in Leibnizens Denken auf das Leben selbst, damit auf alles Konkrete in seiner Fülle ist auch die Wurzel alles dessen, was 'wir bei Leibniz als „Zug zum Individuum", als I n d i v i d u a l i s m u s im richtigen Verstände zusammenfassen und als einen der Grundpfeiler seines ganzen Philosophierens verstehen und werten müssen. Solcher Individualismus hat nichts zu tun mit dem in falscher Sprachgebung auch „Individualismus" genannten Egozentrismus der Eigenperson, der das bürgerliche Philosophieren vergangener Jahrzehnte zur Unfruchtbarkeit verurteilte. Mit der, Liebe des altdeutschen Meisters vertieft sich der große Mensch in jede Einzelheit des Universums. Er denkt nicht daran, die Welt in ihrer Fülle in das Prokrustesbett von Abstraktionen einzuspannen. Ein Wunderbares bleibt jedoch für ihn immer erneut die E i n h e i t d e r S i n n g e s t a l t u n g , die alles M a n n i g f a l t i g e dem Tieferblickenden in seinem „Zusammen" offenbart. Diese Einheit in der Mannigfaltigkeit — das große Problem seines Philosophierens — kann er nur immer wieder unter dem Bilde der musikalischen H a r m o n i e begreifen, des Zusammenstimmens aller Teile des Universums

Individualistisches Weltsystem

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zu einem höheren Ganzen, in einer höheren Vollkommenheit, als sie alle Einzelteile f ü r sich aufweisen 1 2 . Logisch-ontologischer Kern dieser Gedankenentwicklung ist die Grundüberzeugung, daß n u r d a s E i n z e l n e i n W a h r h e i t w i r k l i c h s e i . Kein Allgemeines hat selbständige Existenz — diese „antirealistische" Lösung des Universalienproblems teilt Leibniz als geradezu selbstverständlich mit allen großen Systematikern des 17. Jahrhunderts, von Descartes angefangen 13 . Die Entthronung des Allgemeinen als Realität, ein mitten in der spätmittelalterlichen Philosophie einsetzender Renaissancezug des Denkens, bildet den kennzeichnendsten ontologischen Unterschied der großen Systeme des 17. Jahrhunderts nicht nur gegenüber einem Plato oder Thomas, sondern ganz ebenso gegenüber einem Meister Eckhart und der deutschen Mystik, für welche nicht nur die Realität, sondern der höhere Realitätsgrad des Allgemeinen gegenüber dem Besonderen unerschütterlich feststeht. Doch erst Leibniz und n u r Leibniz hat, den Grundgedanken von der Alleinwirklichkeit des Einzelnen mit kühnster Strenge in alle Tiefen verfolgend, ein i n d i v i d u a l i s t i s c h e s W e l t s y s t e m entwickelt, wie es die Monadenlehre darstellt. Das Individuelle und darum letzten Endes Einmalige erhält durch die vorgezeichnete Lösung des Universalienproblems bei Leibniz auch logisch-ontologisch, nicht nur in der gefühlsmäßigen Wertung, eine ganz neue Würde als Kern der Wirklichkeit. Auf diesen Kernbestand ist Leibnizens Logik — so kühn die Behauptung klingen mag! — im Letzten gerichtet. Eine Methodenlehre, die das Individuelle nicht zu treffen, das heißt: als wissenschaftlichen Gegenstand einzufangen vermöchte, wäre für Leibniz tote Abstraktion, da sie überhaupt nicht an die Wirklichkeit herankäme. Leibnizens Wissenschaftsideal zeigt sich uns an dieser Stelle von einer neuen, merkwürdig wenig durchforschten Seite. Auch Leibniz stellt sich die Aufgabe, das Individuelle „logisch" zu machen. Doch er löst sie ganz anders als Kant und gar erst neukantianische Philosopheme, die, vom naturwissenschaftlichen Denken im Grunde nicht loskommend,

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Leibniz und wir

das Individuelle als Kreuzungspunkt in einem System allgemeiner Reihenbegriffe doch dem Allgemeinen ein- und unterordnen möchten. Leibniz f a ß t umgekehrt das individuelle „ E t w a s " als logischen Ausgangspunkt einer praktisch unendlichen Reihe möglicher allgemeiner wie besonderer Prädikationen. D a s Individuum wird für ihn logisch faßbar, wenn alles, was von ihm je ausgesagt werden kann, das heißt aber: wenn alles, was ihm je „begegnet", a l s P r ä d i k a t in s e i n e m B e g r i f f e n t h a l t e n ist14. Eine fast ungeheuerliche Folgerung aus Begriff und logischem Wesen der Definition als wissenschaftlicher Gegenstandsbestimmung! Die Wirklichkeit zerfällt in lauter einzelne Individuen; das Se.in und Werden jedes Individuums aber ist die l o g i s c h e F o l g e aus dessen, Begriff. Hätten wir — ein Beispiel Leibnizens — den individuellen Begriff Casars, so wüßten wir apriori, daß und wann er den Rubiko überschreiten, wann und unter welchen Umständen er sterben m u ß t e und brauchten uns nicht auf die Erfahrung, in diesem Falle auf die Fremdwahrnehmung historischer Zeugen zu verlassen 1 5 . D a wir in den individuellen Begriff des Individuums hiernach eine Einsicht von A r t der mathematischen Einsicht gewinnen können, und da alles Geschichtliche als Vergangenes unserer wahrnehmenden Erfahrung nicht zugänglich ist, bleibt nur das Z e u g n i s als letzte Erkenntnisquelle der Geschichte übrig. So wird verständlich, daß gerade Leibniz die ersten Spatenstiche zu einer geschichtlichen Quellenkritik tun mußte. Uns Heutigen tut sich der tiefere Sinn der anscheinend so absonderlichen Überspitzung logischer Forderungen als alles andere denn ein rationalistischer Mathematismus auf. W i r sehen, wie sich in der Aufstellung einer solchen Forderung der große H i s t o r i k e r , genauer der Methodiker der G e schichtswissenschaften (im weitesten Sinn!) neben, j a in dem überragenden Bedeutungsanspruch des Individuellen über den Mathematiker und exakten Naturwissenschaftler stellt. Die: Logisierung des Individuums in seiner Einmaligkeit ist eine unendliche, nie erreichbare G r e n z f o r d e -

Logisierung der Geschichte

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r u n g an das Individuum als den Kerngegenstand geschichtlicher Erkenntnis, ohne welche Geschichte als Wissenschaft im tieferen Sinne für Leibniz nicht möglich wäre. Geschichte — das erleben wir heute mit Macht! — wäre die bloße aneinanderreihende Erzählung von „Geschehnissen", denen vielleicht eine gewisse Allgemeinbedeutung zukommen mag, bildeten nicht große, überragende Individuen, historische P e r s ö n l i c h k e i t e n ihre letzten Träger, die nämlich, welche „Geschichte machen". Die wissenschaftliche Einführung der geschichtlichen Persönlichkeit als des wesentlichsten Trägers der Geschichte wäre logisch sinnlos, wenn nicht das Entscheidende am T u n dieser Persönlichkeit, eben das, was „Geschichte macht", in allererster Linie aus dem S e i n dieser Persönlichkeit erflösse, aus deren „innerem Begriff" allein verstanden werden könnte 1 ". Die unendliche Aufgabe des Historikers reißt Leibniz auf: Nicht „das Sinnlose sinnvoll zu machen", vielmehr den auf Persönlichkeit, auf individuellen G e i s t bezogenen S i n n k e r n in allem Geschehen, das „geschichtlich" heißt, herauszuarbeiten. Nicht alles im geschichtlichen Geschehen kann von uns als sinnvoll verstanden werden: der geschichtliche „Zufall" behält sein Recht — die Grenze der Logisierung geschichtlichen Geschehens wird nie erreicht. Würde sie erreicht, so müßten wir „Gottes Weltplan im Ganzen" kennen 17 . Der g ö t t l i c h e W e l t p l a n steht als Grenzbegriff am Ende der ganzen, in Kürze entwickelten Gedankenreihe. Die Annahme eines Weltplanes ist f ü r Leibniz eine logische Forderung des geschichtlichen Bewußtseins. An dieser Stelle setzt der Systematikcr einer Metaphysik ein, die das merkwürdige Geschick traf, als fröhliches Gedankenspiel e ; nes reichlich bourgeoisen optimistischen Philisters in unverantwortliche „deutsche Ideengeschichte" einzugehen. Man übersah, daß Leibnizens metaphysische Gedankengänge erst von dem Augenblick an — in der „Metaphysischen Abhandlung" vom Jahre 1686 — zu einer geschlossenen und von Leibniz selbst als grundlegend angesehenen Darstellung reifen, da der Denker diesen historischen Standpunkt der geschaffenen

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Leibniz und wir

Welt gegenüber erreicht hat. Nicht so sehr seine naturwissenschaftlichen Ergebnisse als ein geschichtliches Denken beherrscht die Darstellung. Im Begriff des „vollkommensten Wesens", das sich der deutsche 'Gottsucher mit Meister Eckhart, Böhme, Nikolaus von Kues nur als Abgrund unendlicher Schöpferkraft, als ,,reine Tätigkeit" denken kann, ist gelegen, daß es eine Welt aus sich erschaffen m u ß : sie kann nur die „vollkommenste unter allen möglichen Welten" sein 18 . Aus der unendlichen Fülle aller möglichen Weltgegestaltungen wählt Gott in einmaligem Schöpferakt diese beste der Welten aus; daß diese eine „Wirklichkeit" wird, ist Gottes freie Willenstat. Die Spannung zwischen dem Möglichen und dem Wirklichen, in der Methodenlehre aufgeworfen, findet auf der höheren Ebene der Metaphysik ihre Begründung: Dort die Möglichkeiten in unendlicher Fülle, die auch Gott nicht ändern kann, da er nicht widervernünftig sein und handeln kann; hier die e i n e Wirklichkeit, die des vollkommensten Weltplanes, die alle menschliche Erkenntnis übersteigen und d a r u m uneinsichtig bleiben muß. Jedes einzelne Individuum aber in dem Aggregat von Individuen, das Universum heißt, hat seine Stelle, seine Aufgäbe in dem einen Weltplan. Es hängt einzig und allein durch die Totalität des Weltplanes s i n n h a f t — u n d n i c h t k a u s a l —• mit allen anderen Individuen des Universums zusammen 19 . Das Wunder der sinnhaften Harmonie aller Einzelteile im Universum, das heißt: aller Individuen untereinander, löst sich für den Denker in dieser geschichtlichen Sinnbetrachtung des einmaligen Weltganzen. Die „prästabilierte Harmonie" aller Weltteile in deren gegenseitigem Bezug, im besonderen die Harmonie zwischen „Seele und Leib" des Einzelindividuums, zwischen allen wahrnehmenden und tätigen Individuen untereinander ist nichts anderes als der vom Individuum aus gesehene Ausfluß der Sinnhaftigkeit des göttlichen Weltplanes 20 . 3. Jetzt erst greift das Gesamtergebnis Leibnizscher naturwissenschaftlicher Forschung, teilweise vorweggenommen, in die metaphysische Betrachtung mit einer n e g a t i v e n Be-

Natur als Welt von Phänomenen

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Stimmung ein: Die eingehende, immer wieder überprüfte Analyse der Körperwelt erweist den gesamten Gegenstand „Natur" der Naturwissenschaft als eine Welt von P h ä n o m e n e n , damit als unselbständige Realitäten, die ein erkennendes Bewußtsein voraussetzen, welches diese Phänomene „hat". Die naturwissenschaftliche „Reduktion" der Körperwelt zu einer Welt von Phänomenen in der Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts ist oft genug dargestellt worden. Außer Hobbes hat sie niemand so schonungslos folgerichtig durchgeführt wie Leibniz. An zwei Stellen setzt seine Analyse schon vor dem Jahre 1670 ein: bei der Formulierung der Bewegungsgesetze und bei der Definition des Körpers. Die Lösung des ersteren Problems f ü h r t Leibniz (der sich von A n f a n g e n auf C a v a l i e r i s Methode der ,,minima indivisibilia" und damit auf einen Keimgedanken seiner späteren Infinitesimalrechnung stützt) in einen mit jedem neuen physikalischen Ansatz sich vertiefenden Gegensatz zu Descartes' rationaler, „einsichtiger" Physik. Doch erst wo es ihm (wie vor ihm Galilei) gelingt, die Ruhe als einen Grenzfall der Bewegung zu fassen, vermag er die Unvereinbarkeit der Descartesschen Stoßgesetze mit der E r f a h r u n g einwandfrei darzutun und den mechanischen Begriff der Bewegung grundsätzlich tiefer zu verankern. Der Ursprung raumzeitlicher Bewegung ist selbst nicht wieder etwas Raumzeitliches. Er ist Tätigkeit, Kraft, etwas, wodurch allein in einem gegebenen mechanischen System der bewegte Körper vom unbewegten eindeutig unterschieden werden kann. Die Definition des Körpers selbst durch Undurchdringlichkeit und Widerstand gegen äußere Kräfte erfordert ihrerseits wieder den Kraftbegriff. Die „Masse" ist nichts anderes als ein relativ abgeschlossenes Kräftcsystem, das von außen kommenden Kräften entgegenwirkt. In die Rechnung des Physikers aber geht nicht diese „Ursache der Bewegung" selbst, sondern der durch sie verursachte Bewegungszustand als „derivative K r a f t " ein. In diesen Grundansätzen zu einer d y n a m i s t i s c h e n P h y s i k beschränkt Leibniz die Arbeit des Phy-

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Leibniz und wir

sikers gänzlich auf die raumzeitphänomenale „Welt". Die Erklärung der Körperwelt im Sinne der Physik führt nirgends über die mechanische Naturerklärung durch derivative Kräfte hinaus. Die Kräfte selbst und die Kraftverteilung im Universum aber sind etwas Tatsächliches, die Naturgesetze der Körperwelt und damit der Physik und Chemie (soweit sie nicht Anwendungen von Idealgesetzen auf die Wirklichkeit darstellen) sind T a t s a c h e n g e s e t z e und keine einsichtigen Vernunftgesetze. D a ß sie bestehen und daß gerade s i e im Universum gelten,; kann letztendig nur teleologisch auf Gottes Weltplan zurückgeführt werden. Die Gesetze der Natur sind Gesetzlichkeiten der Beschränkung in den geschaffenen Individuen; sie sind „Gewohnheiten Gottes", über die er sich jederzeit zugunsten höherer Gesetzlichkeiten hinwegsetzen könnte. Freilich bleibt auch in Leibnizens Reduktion der Körperwelt zu Phänomenen zunächst nichts übrig als ein g e s e t z m ä ß i g e r Z u s a m m e n h a n g zwischen den Phänomenen unserer Sinneswahrnehmung. Ihn gilt es in den Wissenschaften von der Körperstruktur und Körperbewegung zu bestimmen, wodurch Leibnizens Begriff des Naturgesetzes erst seine volle logische Struktur entfaltet. Das Muster einer gesetzmäßigen Verknüpfung liegt für Leibniz — genau wie später für Comte und den modernen Positivismus — in dem mathematischen Verknüpfungszusammenhang der F u n k t i o n vor, den gerade Leibniz in voller Schärfe herausgearbeitet hat. Er entwickelt in seiner Infinitesimalrechnung auch als einer der ersten den mathematischen Begriff der S t e t i g k e i t ; ja das Bild der stetigen Funktion wird für ihn zum einseitigen formalen Leitbild seiner Naturlehre wie seiner Metaphysik. Und hier muß man wirklich Leibniz der voreiligen Fixierung dieses Begriffes in seiner Anwendung auf das gesamte Naturgeschehen zeihen. Denn nichts anderes bedeutet das von ihm formulierte K o n t i n u i t ä t s g e s e t z . Es fordert, daß alle Geschehnisse in der Natur und alle gleichzeitigen Erscheinungen in ihr im Sinne einer s t e t i g e n F u n k t i o n auseinander ableitbar seien. In glänzender Be-

D a s Gesetz der Kontinuität

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weisführung zeigt er, wie die Descartessche Physik in ihrer Aufstellung der Bewegungsgesetze wie in ihrem Satz von der Erhaltung der. Bewegungsquantität gegen dies „Grundgesetz der N a t u r " verstößt. Die Annahme seiner ausnahmslosen Gültigkeit leitet ihn auch; im Fortschritt zur organischen Natur zu ganz großen hypothetischen Vorausnahmen wie derjenigen des kontinuierlichen und stufenweisen Überganges aller Lebewesen und damit auch aller biologischen Arten und Gattungen ineinander. Doch schon Leibniz überspannt dies Prinzip der Stetigkeit zu einer W e l t f o r m e l , wie sie dann auch ein Laplace ganz in Leibnizschem Geiste zu geben versucht. Er übersieht, daß es schon im Mathematischen ,,unstetigej Funktionen" und möglicherweise auch im Weltgeschehen als Ganzem grundsätzlich „Sprünge" geben kann. So endet Leibnizens physikalische Analyse der Körperwelt in einem, strengen Phänomenalismus. Im Phänomenalismus, doch nicht im Positivismus. Im Übergang von den Phänomenen zu den „res", den diese Phänomene habenden individuellen perzipierenden Substanzen liegt die Grenze, welche Leibniz von Hobbes, Hume und dem gesamten Positivismus der Neuzeit scheidet. Doch auch vom transzendentalen Idealismus Kants und vollends der Neukantianer trennt ihn eine messerscharfe Linie: Das Individuelle ist als alleiniger Kern der Wirklichkeit aus Leibnizens System nicht hinwegzudeuten. Neben der unendlichen Mannigfaltigkeit der individuellen Substanzen im Weltenbau ist f ü r ein transzendentales übergreifendes Subjekt kein Platz. Es war Fichtes Philosophie vorbehalten, vom transzendentalen Subjekt Kants aus den Rückwcg zu Leibnizens unendlicher Mannigfaltigkeit des Individuellen und folgerichtig zur metaphysischen Ureinheit eines Absoluten anzutreten. Fälschlich wird Leibnizens Übergang zur alleinigen Weltrealität perzipierender Individuen bald in einen systemlosen, ja phantastischen Realismus, bald in einen Idealismus transzendentaler Haltung umgebogen oder gar als nicht mehr diskutable metaphysische Spekulation stillschweigend bei-

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Leibniz und wir

seitegeschoben. Alle solchen willkürlichen Einschnitte in das System treffen den Kern der Lehre nicht. Wer, wie Leibniz, die Phänomenalisierung der Körperwelt mit aller Strenge durchführt und auf der anderen Seite nur das Individuelle als Wirklichkeit anerkennt, d e r k a n n n i c h t a n d e r s als d i e p h ä n o m e n a l e K ö r p e r w e l t in ein S y s t e m von h a r m o n i s c h e i n a n d e r entsprechenden Repräsentationen seelisch-geistiger perz i p i e r e n d e r I n d i v i d u e n a u f l ö s e n . Es gibt in solchem Zusammenhange kein Drittes, wenn man nicht die Phänomenalität der Körperwelt o d e r umgekehrt die Alleinwirklichkeit des Einzelnen preisgeben will. Das eine wie das andere hieße Leibnizens wissenschaftliche Einzelergebnisse und grundlegende Systemkonzeption vernichten. Die einander entsprechenden Begriffe der P e r z e p t i o n als der geistigen Tätigkeit individueller Substanzen und der R e p r ä s e n t a t i o n als der in dieser Tätigkeit vollzogenen geistigen Leistung werden so zu Achsenpunkten des Systems. Die eigentümlichen Schwierigkeiten, die in der Aufstellung beider Begriffe liegen, verhehlt sich der Denker keineswegs; unablässig arbeitet er an deren Überwindung, an der Klärung seines neuen individualistischen Substanzbegriffes. Das innerste Wesen der individuellen Substanz ist T ä t i g k e i t ; Streben ist der Übergang von einer Perzeption zur anderen. Im ,,Cogito sum" Descartes', der Uranschauung unseres Daseins als eines bewußten Seins, werden wir wohl dieses geistigen Tuns in jedem Augenblicke inne, n i c h t aber des vollständigen Seins unserer jeweiligen individuellen Substanz. Von dem, was das Prinzip der eigenen Individualität ausmacht und sie von jeder anderen unterscheidet, haben wir nur eine sehr verworrene E r f a h r u n g . Wir wissen um unser eigenes Ich, allein wir kennen es nicht. Damit ist der Ausgangspunkt von Descartes' Vorrangstellung der inneren Erkenntnis vor der Außenerkenntnis allerdings verschoben, eine unübersteigbare Grenze auch der Selbsterkenntnis gezogen. Zugleich aber weitet sich Leibnizens Blick für das Sein der individuellen Substanzen. Die starre

Tätigkeit der Substanzen: Perzeption und Repräsentation

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Form der Selbsterkenntnis ist nicht die einzige, sondern nur die höchste uns erfahrbare Form perzipierender Substanzen. Es muß Grade der Perzeption und demgemäß auch Stufen der Repräsentation von niedersten, nur perzipierenden, zu höchsten sich selbst erkennenden individuellen Substanzen geben. 4. Soweit gelangt der Denker in fortschreitender Analyse des aus der phänomenalistischen Auflösung der Körperweit sich ihm ergebenden Substanzbegriffs. Eine weitere Vertiefung, die völlig neue Perspektiven eröffnet, erfährt die Analyse von der B i o l o g i e aus; schon von der Mitte der Siebzigerjahre an sucht der reifende Denker auch diese jung aufstrebende Wissenschaft in den Rahmen seiner Wissenschaftslehre einzubauen. Den Ausgangspunkt bilden die epochemachenden Forschungen des Italieners M a 1 p i g h i über den Zellenaufbau der Organismen und die Entwicklung des Tieres im Ei und der Holländer S w a m m e r d a m und L e e u w e n h o e k über die Metamorphose niederer Organismen 21 . Leibniz erkennt sogleich die Bedeutung dieser für die moderne Biologie als Wissenschaft grundlegend gewordenen Untersuchungen f ü r eine Systematik der lebenden Natur. Er müßte nicht mit Aristoteles im lebendigen Organismus, in der Einheit von Körperlichem und Seelischem in e i n e m Individuum den Kern alles unserer Erfahrung zugänglichen geistigen Lebens und Zeugens sehen! Die Werdensgesetzlichkeit des lebendigen Organismus ist ihm E n t f a l t u n g aller in einem Keime angelegten Fähigkeiten. In einer neuen Schicht des Seienden stellt er sich damit D e s c a r t e s entgegen, freilich mit aller Vorsicht und in scharfer Hcrausarbeitung des bleibend Fruchtbaren in Descartes' mechanistischer Theorie der Lebewesen. Auch Leibniz ist der Überzeugung, daß das einzelne Lebewesen wissenschaftlich zunächst soweit als möglich als Mechanismus begriffen werden muß, wenn es überhaupt wissenschaftlich analysierbar sein soll. Es ist eine Maschine, aber — und hier liegt die bedeutsame Einschränkung — eine Maschine, die noch in ihren letzten Teilen s e l b s t ä n d i g

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Leibniz und wir 22

bleibt . Was dem Organismus die Einheit eines „Ganzen", die innere Zweckmäßigkeit und Zielstrebigkeit gegenüber den Gestalten und Bewegungen der toten Natur verleiht, ist eben nicht wieder etwas Mechanisches; die Selbsttätigkeit, Spontaneität des Organismus ist ein geistartiger Zug, eine geistige Kraft 2 3 . Nicht minder grundlegend wird ein zweiter Gedanke, auf den sich Leibniz im besonderen durch Malpighis Entdeckung der Zelle geführt sieht: Der höhere Organismus ist zwar eine i n n e r e E i n h e i t , doch k e i n e E i n z i g k e i t ; er setzt sich aus einer unendlich großen Zahl einfacherer und einfachster Organismen, letztendig aus den Einzelzellen zusammen. Er ist Aggregat von Einheiten, und mehr als dies: ein s i n n v o l l funktionierender Verband einer Vielheit von Lebewesen abgestufter Vollkommenheit 24 . Alle zum höheren Organismus verbundenen Lebewesen — wir können sie nunmehr schon ruhig M o n a d e n nennen — bilden ein S t u f e n g e f ü g e der Vollkommenheit und unterstehen der Führung der vollkommensten unter ihnen, der Zentralmonade, an deren Leben sie teilhaben 25 . Der Monadenbegriff ist so für Leibniz zunächst ein . b i o l o g i s c h e r Begriff: Begriff der l e t z t e n e c h t e n E i n h e i t e n im Aggregat lebendiger Individuen. Die von den holländischen Forschern herausgestellten Tatsachen der Metamorphose d e u t e t Leibniz (mit welchem Rechte, bleibe dahingestellt!) als Aggregatumwandlung, als Übergang von niedereren zu höheren Individualverbänden von Monaden und umgekehrt. Eine grundsätzliche Verallgemeinerung des Phänomens der Metamorphose läßt ihn kühn das. Rätsel des körperlichen Todes lösen: E s g i b t k e i n e n T o d i m s t r e n g e n S i n n e , d. h. keine völlige Vernichtung von lebendiger letztindividueller Substanz. Es gibt nur die Auflösung höherer Verbände in niederere bzw. in ihre letzten individuellen Elemente (Monaden), und d i e s e heißt T o d. Die geschaffenene Letztsubstanzen selbst sind unzerstörbar 26 .

Die Monaden

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Es leuchtet ein, daß das Problem des lebendigen Organismus jedem Phänomenalismus der Körperwelt die größten Schwiekeiten bietet. Die Phänomenalisten des 18. Jahrhunderts, mit Hobbes beginnend, haben sie freilich* nicht gesehen; sie halten ja im Sinne Descartes' alle Organismen mehr oder weniger f ü r Maschinen. Leibniz erkennt klar die Unmöglichkeit, ja Widersinnigkeit einer durchgängigen Maschinendeutung der lebendigen Substanz. Er formt daher die Descartessche Lehre in, eine m e t h o d o l o g i s c h e F o r d e r u n g der wissenschaftlichen Analyse um und löst so das Problem als einziger im Rahmen des Phänomenalismus der Körperwelt in strenger Form. In der ,,Metaphysischen Abhandlung" von 1686 macht Leibniz vom biologischen Monadenbegriff noch keinen systematischen Gebrauch, trotzdem seine biologischen Studien schon mehrere Jahre zurückreichen 27 . Erst die Verknüpfung desselben mit dem Begriff der individuellen unkörperlichen perzipierenden Substanz und ihrer Repräsentation — in dem Briefwechsel mit dem Theologen A r n a u 1 d zuerst nachweisbar (1686) — schafft den m e t a p h y s i s c h e n Monadenbegriff in seiner ganzen Problemfülle 2 ". Denn nach jenem müssen nunmehr a l l e E i n z e l l e b e w e s e n eines höheren Organismus als etwas an sich Unkörperliches, selbst als das Weltganze irgendwie r e p r ä s e n t i e r e n d e unkörperliche, unteilbare, seelenhafte Individualsysteme gedacht werden. Es muß j e d e m dieser Elemente und nächsthöheren Verbände (Aggregate) eine e i g e n e Repräsentationsweisc von bestimmtem Umfang des Weltausschnittes und bestimmtem Grade der Klarheit und Deutlichkeit seiner Perzeption zugeschrieben werden. So haben die niedersten „Lebewesen" (die „nackten Monaden") nur eine ganz dumpfe Perzeption der sie — nicht in räumlichem Sinne! — „umgebenden" Monaden. Ungleich reicher und vollkommener ist die Repräsentation der höheren Tierseelenmonadcn. Die „Geistmonade" individueller Menschen hingegen besitzt als Zentralmonade des menschlichen „Körpers" eine zum Teil klare und deutliche Apperzeption ihres 22 Ilubcr, Leibniz

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eigenen Ich, undeutlichere, verworrene Perzeptionen der zu ihrem „Körper", zu ihrem Repräsentationssystem gehörenden niederen Monaden, und endlich noch weniger distinkte Perzeptionen all der anderen Monaden, deren Gesamtheit ihre erfahrbare „Außenwelt" darstellt. Der individuelle Einzelmensch einerseits ist vielleicht als unselbständiger Teil in die noch höheren Repräsentationssysteme von „Geistern" eingebaut, die er nicht mehr zu apperzipieren vermag — und schließlich endet der großartige Stufenbau sich übereinandertürmender, immer vollkommenerer Repräsentationssysteme der e i n e n Welt, der besten aller möglichen Welten, in Gott selbst als der obersten, der „Monade aller Monaden" 20 . Eine gewaltige, immer wieder neu ansetzende Arbeit vollzieht sich in Leibnizens Denken an diesem Grundbegriff der individuellen Substanzen und ihres Stufenaufbaus zum Weltganzen von der Metaphysischen Abhandlung von 1686 bis zur „Monadologie" von 1714 im Zeitraum fast dreier Jahrzehnte30. In der Monadologie wie in den fast gleichzeitig abgefaßten „Vernunftprinzipkn der Natur und der Gnade" aus demselben Jahre 1714 beschreitet Leibniz gewissermaßen den umgekehrten Weg wie in der metaphysischen Erstdarstellung, die vom Begriff des vollkommensten Wesens ausging. Er beginnt in einem Rückwege zu Gott mit der streng philosophischen Fassung seines eigenartigen Substanzbegriffs. Ja er hebt in beiden Darstellungen das eigentlich für substantiell Geltende, das Substrathafte am Substanzbegriff nahezu auf. Das "être capable de l'action" der ,,Vernunftprinzipien" ist nicht so weit entfernt von der „reinen Tätigkeit" Fichtes oder von der ausdrücklich als Nichtsubstanz bezeichneten „Seele" der Kantischen Vernunftkritik. Eine Welt unendlicher Lebensfülle birgt sich hinter den nackten, definitionenhaften neunzig Kernsätzen der Monadologie31. Die V i e 1h e i t einfacher tätiger Substanzen, aufsteigend in der Stufendreiheit „Lebendiges — Seele — Geist" erzeugt in ihrer aggregathaften Zusammensetzung die Körperwelt als S y s t e m g e g e n s e i t i g e r p h ä n o -

Selbstoffenbarung Gottes in der Schöpfung

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menaler Repräsentationen. In der schlichten Perzeption der niedersten Monaden, in der sinnlichen Empfindung der Tiere, in der vom Selbstbewußtsein getragenen gedanklichen Erkenntnis (— Apperzeption) der Geister vollendet sich das System einer S e l b s t o f f e n b a r u n g G o t t e s in seinen geschaffenen Substanzen, der Entfaltung der unendlichen Einheit in die Vielheit und harmonische Mannigfaltigkeit eines Universums. Das Problem dieser Selbstoffenbarung Gottes ist iml nachkantischen deutschen Idealismus nicht mehr zur Ruhe gekommen. Fichte, Schelling, Hegel arbeiten daran mit unverminderter K r a f t in immer neuen, gestaltenreichen Ansätzen. Das allervollkommenste Wesen der Scholastik wird — schon bei Leibniz deutlich spürbar — zum allerirrationalsten Wesen, zum Ungrund bei Schelling, zum überrationalen, das Konkrete in seiner ganzen Fülle in sich schließenden und aus sich gebärenden Logos bei Hegel — Entwicklungen, diei in dem typisch Leibnizschen Problem der Logizität der! individuellen Substanz alle schon vorgeformt sind. Der Problembestand ist unverlierbar. Leibniz sieht ihn ganz nüchtern, seine Monadenlehre ist alles eher denn eine Ausgeburt ungezügelter, ihrer Widersprüche nicht bewußter Barockphantasie 3 2 . Es ist ungleich philosophischer, in ein System ein Höchstmaß an Tatsachen und Denkansätzen zur Welterklärung aufzunehmen — wie es die Monadenlehre ganz bewußt versucht — , als die Welt von e i n e m Punkte aus unter Außerachtlassung aller dem Grundansatz entgegenstehender Momente konstruieren zu wollen. Nicht die erzwungene Einheit des Ansatzes, sondern die harmonische Vielheit der Erklärungsmöglichkeiten spricht für die Brauchbarkeit und Berechtigung einer philosophischen Systematik. — 5. In der Entwicklung zur Monadologie erfährt nun das „System" Leibnizens, soweit wir es bis jetzt geschildert haben, eine Art Vorzeichenumkehrung bezüglich der Wertigkeit seiner Teile: Der vielberufene „Mathematismus" des Leibnizschen Denkens wird allmählich zur A u ß e n s e i t e , der grundsätzliche „Individualismus" hingegen mit seinem 22*

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nie abschließbaren Erkenntnisfortschritt zum I n n e n kern einer weltumfassenden Wirklichkeitserkenntnis. Die mathematischen Gegenstände sind nach Leibnizens späterer ausdrücklicher Lehre darum einsichtig erfaßbar, weil sie die einfachsten, homogensten, idealen M ö g l i c h k e i t e n der Anordnung von Zahlen, Größen, Lagen betreffen, denen auch alles wirkliche Einzelne unterstehen muß 3 3 . Die idealen Möglichkeiten juristischer oder moralischer Gegenstände sind schon ungleich verwickelter beschaffen, ihre wissenschaftliche Erkenntnis ist viel weniger durchsichtig. Auf der anderen Seite sind die Gegenstände der Naturwissenschaft zwar wirkliche, unerschöpfliche, zum Teil exakt bestimmbare Phänomene, aber eben doch n u r Phänomene repräsentierender Individuen, nicht eine Eigenwelt außerhalb deren gesetzmäßiger Repräsentation. Ins Innere des Weltenbaues und Weltenplanes also dringt n u r die Tatsachenerkenntnis, soweit sie: — von der einsichtigen Möglichkeitserkenntnis dauernd geführt — das wirklich Einmalige, die „Setzung" im Weltplan bloßzulegen vermag. Das letzte und höchste Ziel aller wissenschaftlichen Erkenntnis ist die Aufhellung (nicht Vollerkenntnis!) des e i n m a l i g e n S i n n e s u n s e r e r W e l t , der Welt, in der wir leben und wirken müssen 3 4 . In den Mittelpunkt dieses schier unerschöpflichen Systems rückt darum mit fortschreitender Entwicklung folgerichtig weder Gott noch „die Natur", und erst recht nicht das ideale Reich der bloßen Möglichkeiten in der Mathematik, sondern der M e n s c h als geschlossene und als die höchste unserem Erkennen zugängliche Individualität, mit ihm G e s c h i c h t e und A n t h r o p o l o g i e . Der konkrete Begriff des Einzelmenschen ist zugleich dessen geschichtliche Sendung. In ihm hat Geschichte als Wissenschaft ihre Wurzel und methodologische Grundlage 3 5 . Das Problem der Anthropologie ihrerseits ist, den Menschen von h i s t o r i s c h e m A b l a u f ganz als z e n t r a l e M o n a d e zu begreifen. Die L o c k e sche Psychologie des „Durchschnittsmenschen" ohne alles individuelle Gepräge, und damit die empirische Psychologie

Geschichte und Anthropologie im Mittelpunkt

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des 18. und 19. Jahrhunderts, ist nicht identisch mit der Anthropologie Leibnizens. Diese geht zwar auch' von der Selbstevidenz des „Cogito sum" und damit vom Bewußtsein, aber n i c h t n u r vom Bewußtsein, sondern ebenso u r sprünglich vom gesamten leib-seelischen Zusammenhang des immer „einmaligen" Individuums aus. Sie erschließt darum auch vom gegebenen Bewußten aus ein U n b e w u ß t e s als Bedingung von Bewußtem, weil sie gar nicht mit Descartes und Locke ihren Blick einzig und allein auf das Sich-Bewußtsein, sondern ebenso unmittelbar auf dais T u n , das S i c h V e r h a l t e n des Individuums richtet 36 . Von der einseitigen Nahstellung des Bewußtseins aus kann man Unbewußtes niemals entdecken; sehr wohl .aber läßt sich von der Analyse des Handelns aus, dessen einzelne Stadien und Teilleistungen nie ganz ins Bewußtsein des Handelnden fallen, Unbewußtes als notwendige Voraussetzung e r s c h l i e ß e n , wenn anders ein Tun als „gesetzmäßig" erkannt werden soll. Mit vollem Recht zieht Leibniz gegenüber Locke die wichtige methodologische Parallele, daß wir auf Grund des uns in der Reflexion bruchstückhaft gegebenen bewußten Seelischen ebenso auf ein unbewußte^ Seelisches zu schließen berechtigt sind, wie wir in der Physik aus dem bruchstückhaft Gegebenen der Sinneswahrnehmungen auf unwahrnehmbare körperliche Vorgänge schließen 37 . Dies unbewußte Seelische wird schon für Leibniz zum breiten tragenden Grund alles seelischen Lebens, aus dem das b e w u ß t e Seelenleben seinerseits nur Zeiten- und bruchstückweise herausragt — nämlich nur da, wo wir vom Bewußtsein des eigenen Selbst aus Gegenständliches „apperzipieren". A p p e r z e p t i o n u n d e i g e n b e w u ß tes S e e l e n l e b e n w e r d e n s o f ü r L e i b n i z W e c h s e 1 b e g r i f f c 3S . Es besteht weiterhin nach Leibnizens Auffassung auch im individuellen Einzclseelischen ein kontinuierlicher Übergang vom unbewußten zum bewußten und selbstbewußten Seelenleben; ja er entdeckt geradezu das Grundphänomen der S c h w e l l e des Bewußtseins als der Stelle, wo dieser Übergang statthat. Das Gesetz der Konti-

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nuität, 'das Leibniz ursprünglich an der Welt der Phänomene ableitete, beherrscht — wie er meint — auch die Struktur und das Leben der „wahren Substanzen", der Monaden in ihrem stufenweisen Aufbau. Erst dadurch wird es ihm zu einem metaphysischen Grundgesetz 3 9 . Wir wollen im heutigen Aufbau einer lebensnahen Anthropologie grundlegende Erkenntnisse Leibnizens nicht missen: Nicht die Erkenntnis von der Existenz eines unbewußten Seelischen, nicht seine Erkenntnis vom stufenweisen Aufbau auch des individuellen seelischen Lebens. Zu neuer Diskussion zu stellen ist seine geistreich durchgeführte Lehre, daß a l l e s seelische Leben an körperliches gebunden sei und umgekehrt —1 was freilich in der Ernstsprache Leibnizscher Metaphysik nichts anderes mehr heißen kann, als daß es Perzeption ohne „Organe" des Perzipierens, d.h. ohne Mittätigkeit niederer Monaden, und daß es Repräsentation ohne Repräsentiertes nicht gibt* 0 . Denn unser „Leib" ist ja nach dem klaren Sinn der Monadenlehre nur Phänomen einer an sich tinkörperlichen Struktur; letztere ist das Aggregat niederer Nachbarmonaden, die eine höhere Seelenmonade als „sich zugehörig" perzipiert — der „Gesichtspunkt", unter dem die individuelle Einzelseele das Ganze des Universums ausdrückt. Ein einziger Bruch bleibt in dem tiefsinnig entwickelten qualitativen! Kontinuitätssystem der an sich diskreten Vielheit von Einzelmonaden, und er wird von Leibniz mit Absicht immer wieder hervorgehoben: Er liegt in dem Übergang von Seele zu G e i s t , von bloßen Seelenmonaden zu den höheren Seelenmonaden, die Träger des Geistigen sind, an einem Reich der Geister mit Bewußtheit teilhaben 41 . Es ist derselbe Bruch, der — von einem anderen Aspekt aus betrachtet — zwischen dem „Reiche der N a t u r " und dem „Reich der Gnade" liegt und in einem dritten, schon erwähnten Aspekt zwischen dem bloßen Bewußtsein und dem Selbstbewußtsein als der Grundlage aller Apperzeption. Das Problem des Geistes tut sich in diesem Bruch mit aller Schwere auf. Wir kennen Geistiges unmittelbar nur als

Geist und Seele

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Objektivation menschlicher Seelen, und die einzelnen Seelen als „teilhabend" an Geistigem. Wir kennen nur „in die Materie versenkten G e i s t " im Umkreis unserer Selbst- und Fremderfahrung. Alles uns zugängliche Geistige ist durch seinen Einbau in einen ganz beistimmten einmaligen Lebenszusammenhang gekennzeichnet. E s ist Geist einer bestimmten Rasse, Nation, eines bestimmten Geschlechts und in diesem stehenden Individuums, Geist einer bestimmten Zeit und nicht „ G e i s t überhaupt". Immer wieder legt Leibniz den Finger auf das Einmalig-Unwiederholbare, das G e s c h i c h t l i c h e alles geistigen Lebens. Wie der einzelne Geist ist auch der Zusammenhang, des Geistigen in einer Kultur einmalig und unwiederholbar, der Einzelmensch nur im Zusammenhang einer bestimmten Kultur Mensch und in seiner individuellen Eigenart ganz zu erfassen. Nicht so sehr durch Außeneinflüsse als durch Herkunft und von den Vätern vererbte Anlage, von innen heraus ist das Einzelindividuum leiblich und geistig v o r a u s b e s t i m m t . Die menschliche Seele ist daher f ü r Leibniz in allem das Gegenteil einer t a b u l a r a s a , in die erst von außen durch die Sinnesempfindungen ein Inhalt hineingelangte 1 2 . Sie ist in ihrem Kern ein ganz aus sich selbst, aus ihren eigenen Tiefen sich gestaltendes Wesen von geistiger Fülle: Sinnlich aufnehmender, erkennender, strebender, handelnder Intellekt, reine Tätigkeit — ein geschaffenes Abbild von Gottes unendlicher Schöpferkraft. Die Paarung des Anschaulichen mit dem Begriff, die unlösbare Aufeinanderbezogenheit beider in jeder echten Erkenntnis steht f ü r Leibniz so unverrückbar fest wie später f ü r Kant. Doch gibt er ihr im A u f b a u der Erkenntnis eine gänzlich andere Deutung. Wenn er die sinnliche Anschauung als „verworrenes Denken" bezeichnet, so denkt er nicht — was ihm Kant vorwirft —» so sehr daran, die Grenzen zwischen Anschauung und Denken einfach zu verwischen; vielmehr sucht er den kontinuierlichen Übergang von der Anschauung zum Denken derart aufzuzeigen, daß es kein völlig denkfreies, -ganz ungeformtes A n - S c h a u e n und erst recht kein völlig

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anschauungsfreies, jeder sinnlichen Grundlage entbehrendes Denken geben kann. Auf .der Grundlage dieser Kontinuitätsbetrachtung bildet er schon frühe — 1684 — Descartes' berühmte Kriterienlehre in heute noch fruchtbarer Weise um 43 , Er bezeichnet eine geläuterte Anschauung dann als „klar", wenn der Gegenstand auf Grund derselben w i e d e r e r k a n n t werden kann. Das Wiedererkennen ist ihm aber eine D e n k leistung. „Deutlich" oder „distinkt" ist endlich auch in der Anschauung ein Gegenstand erst gegeben, wo er auf Grund b e g r i f f l i c h h e r a u s h e b b a r e r M e r k m a l e von jedem anderen Gegenstand u n t e r s c h i e d e n werden kann. Die Definition i s t diese begriffliche Abhebung des Gegenstands in wissenschaftlicher, methodischer Form. Die Eigenart der Leibnizschen Kriterienlehre liegt in der scharfen Herausarbeitung der k a t e g o r i a l e n Form u n g am „Gegenstand f ü r ein Denken". Was wiedererkannt wird, das ist schon als Einheit f ü r das Bewußtsein in einem Akt der Apperzeption „umfaßt", also kategorial zum „Gegenstand" geformt, an dem die begriffliche Verarbeitung angreifen kann. Die letzten, einfachsten „Merkmale" von Gegenständen sind aber nicht wieder bloße „Begriffe", sie sind nur in e i n e r A n s c h a u u n g a u f w e i s b a r „intuitiv" gegeben 44 . Gerade hierin sieht Leibniz tiefer als Kant in seiner Kategorienlehre, indem sich -ihm der Begriff der Anschauung doppelt: Der klaren, aber undeutlichen „sinnlichen" Anschauung der Sinnesqualitäten wie unserer Innenerlebnissc steht die d i s t i n k t e A n s c h a u u n g der elementarsten k a t e g o r i a l e n Form e n gegenüber, jener „Begriffe, die aus unserem eigenen Geiste stammen". Leibniz zählt sie freilich nicht systematisch auf, die Formbegriffe des Seins, der Sustanz,! Einheit, Tätigkeit, der Identität, Verschiedenheit, Ähnlichkeit und anderer — aber kein Zweifel ist, daß ihm diese nicht mehr zerlegbaren Letztmerkmale in einer kategorialen A n s c h a u u n g gegeben erscheinen und nicht, wie bei Kant, als „bloße Begriffe" erst auf eine davon gänzlich verschie-

Die Erkenntniskriterien; kategoriale Anschauung. Die Person

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dene sinnliche Anschauung angewandt werden müssen, um überhaupt Erkenntnis zu erzeugen. Die kategoriale Anschauung ist f ü r Leibniz eine': Urerkenntnis — in ihrer Anerkennung steht der ältere Denker Kant schroff gegenüber. Sie ist weder „blind", wie die sinnliche Anschauung f ü r sich allein, noch sind die auf ihrer Grundlage gewonnenen Begriffe „leer". Ja es wird der Unterschied zwischen Tatsachenwahrheiten und Vernunftwahrheiten erkenntnistheoretisch letztendig auf denjenigen zwischen sinnlicher und kategorialer Anschauung — in den „Nouveaux Essais" — zurückgeführt 4 5 . So kann Leibniz mit Recht den sensualistischen Satz „nihil est in intellectu, quod non antea fuerit in sensu" völlig durch den Zusatz umformen „nisi intellectus ipse". Denn eben von diesem „intellectus ipse" haben wir eine eigene kategoriale Anschauung von Notwendigkeitscharakter. Auf ihr beruht die auch von Leibniz klar gesehene Apriorität der Logik und 'der reinen Mathematik, die beide für ihn — im scharfen Gegensatz zu Kants Auffassung der Mathematik! — r e i n e Kategorialw i s s e n s c h a f t e n sind < 6 . Wie alle kategorialcn Grundbegriffe, so entstammt für Leibniz auch der Begriff der g e i s t i g e n Individua l i t ä t , der Person, unserem eigenen Geiste. Er kann — wie Leibniz in einer tief dringenden Kritik des Lockeschen Standpunkts hervorhebt — freilich nicht dem Flusse unserer äußeren und| inneren Bewußtseinsinhalte, der „ideas", entnommen werden, auf welche Locke einseitig seinen Blick richtet. Er ist vielmehr einzig und, allein an der S i n n e i n h e i t u n s e r e r g e i s t i g e n A k t e , des Erkennens und vor allem 'des sittlichen Handelns zu erfassen. Nicht umsonst setzt der große Jurist in den „Nouveaux Essais" Lockes Zweifeln an der Einheit eines rein geistigen Prinzips den Begriff der Verantwortlichkeit entgegen. Die juristische Verantwortlichkeit früheren bewußten Handelns bleibt bestehen, auch wenn ich in der Zwischenzeit alle meine Taten durch eine vorübergehende Gcdächtnistrübung vergessen haben sollte. Denn nicht das Ich als „Komplex von Ideen",

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«ondern das I c h a l s T r ä g e r g e i s t i g e r A k t e ist diel wahrhaft substantielle, individuelle einmalige historische Einheit, welche die Identität der Person verbürgt 4 7 . Es ist keine Rede davon, daß Leibniz diesen sein System vollendenden Begriff der g e i s t i g e n P e r s o n in denjenigen der F u n k t i o n aufgelöst hätte, wie neukantianische Interpreten wahrhaben möchten 4 8 . Nicht ein alle Individuen übergreifendes transzendentales Bewußtsein, sondern die geistige K r a f t des einzelnen Individuums ist der letzte Träger des Systems. Durch ihre geistige Kraft unterscheiden sich die Substanzen der individuellen „Geister" aufs schärfste von den niedereren individuellen Monaden: Die Geistmonaden repräsentieren in ihrer geistigen Tätigkeit viel mehr Gott selbst als die geschaffene Welt, sie sind dieser gegenüber wie „kleine Götter", die an Gottes eigenem Leben irgendwie teilhaben; sie schließen sich im „Reich der Gnade" zu einer Gemeinschaft der Geister zusammen, einem Staate, dessen Monarch Gott ist, der die Glückseligkeit jedes seiner Untertanen will. Glückseligkeit aber ist nach Leibnizens klaren Worten das nur den geistigen Personen erlebbare Bewußtsein ihrer eigenen Vollkommenheit. Die wahre Einheit gibt auch der geistigen Substanz der Person erst das Sinngesetz ihrer .einmaligen Repräsentation Gottes und des Universums von einem bestimmten Weltpunkt aus. Vom Sinnge.setz des Individuellen aus gewinnt Leibniz auch den Ansatz zu einer Lösung des F r e i h e i t s p r o b l e m s . Nur wer in 'der Reflexion des Selbstbewußtseins sein eigenes Ich als Ausgang geistiger Akte zu erfassen vermag, ist überhaupt einer Idee der Freiheit fähig. Ein apperzipierendes Wesen erfaßt sich in seinen Akten als frei gegenüber allen anderen Wesen, als n i c h t v o n a u ß e n her bestimmt. Es ist in diesem Sinne in Wahrheit frei. Doch die i n n e r e Bestimmtheit ihres Wesens vermag auch die Geistsubstanz der Person nicht aufzuheben. Sie ist an ihre individuelle Sinnstruktur, an ihre „Vorausbestimmung" gebunden. Sie ist eingebaut in den göttlichen Weltplan, in den sie keine

Ethik: Prädestination; Harmonie

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Einsicht besitzt. Sie kann nur von sich aus tätig sein, in ihrer Tätigkeit Gottes Willen, ihre Bestimmung nach Kräften zu erfüllen trachten 4 9 . Kein Zweifel, daß in dieser „philosophischen Prädestinationslehre" wie in der aus ihr hervorquellenden, E t h i k des tätigen Menschen kalvinistischer Geist in Leibnizens System zum Durchbruch kommt. 'Dieser strenge, harte Geist einer unentrinnbaren Determination jedes einzelnen Menschenschicksals in Gottes unerforschlichem Weltplan, der zugleich den Nutzen einesi menschlichen Tuns als sichtbares Zeichen seiner Gottwohlgefälligkeit wertet, bestimmt ohne Frage den religiösen Grundton des Systems. Die logische Strenge deis Begriffs der individuellen Geistsubstanz hat ihre religiöse Motivation im kalvinistischen Vorsehungsglauben. Bei aller weitgehendsten Konzilianz, die er in seinen ein Leben hindurch verfolgten Plänen zu einer Vereinigung der christlichen Konfessionen hat walten lassen, steht 'der Theologe in Leibniz dem Kalvinismus im Herzen allein nahe. Die Härte der kalvinischen Vorsehungslehre und ihrer unerbittlichen Logik wird jedoch durch jenen ganz unkalvinischen, im Grunde antik, sinnenfreudigen Zug eigenartig gemildert, der in dem in so früher Jugend bei dem kaum Vierundzwanzigjährigen (1670) klar hervorbrechenden pyhtagoreischen Gedanken von der Harmonie des Weltalls liegt. Ein geradezu unerschütterlicher Glaube an die Weltenharmonie verbindet ihn mit Kepler und dem großen Cusaner; er ist das Pythagoreische und zugleich Künstlerische in der wunderbar reichen Systemgestaltung. Gottes Tätigkeit ist die Schöpferkraft des Künstlers, des Weltenbaumeisters, welche die unendliche Mannigfaltigkeit des Universums aus der Ureinheit des Geistes zeugt, dem Werke immanent, das Gottes „Offenbarung" ist. Leibnizens Harmoniebegriff führt freilich über die antike und mittelalterliche pythagoreische Harmonie der Zahlen und Verhältnisse, die in all ihren historischen Ausformungen einen abstrakt-mathematischen Charakter niemals ver-

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Leibniz und wir

leugnet, weit hinaus. Es ist zwar auch ein durchaus ästhetischer Begriff, aber doch dem Begriff von Harmonie viel innerlicher verwandt, der im Mittelpunkt von S h a f t e s b u r y s schwärmerischer Naturanschauung und menschlichen Charakterdeutung steht und sich bei Shaftesbury in einer ästhetisch durchwehten Ethik der Vollkommenheit vollendet. Zwei Männer derselben Epoche geben, wohl unabhängig voneinander, derselben tiefsten Weltstimmung ihrer Epoche Ausdruck. Sie schaffen philosophisch 'den dem antiken Harmoniebegriff gegenüber wesenhaft neuen i n d i vidualistischen Begriff einer vorausbestimmten Harmonie aller Individuen untereinander im Weltganzen. D i e s e Harmonie hat im Grunde nichts Zahlenmäßiges mehr an sich; es ist die rein q u a l i t a t i v e Harmonie der geistigen Entsprechung, des aufeinander Bezogenseins in demselben einen Universum. Es ist zugleich h i s t o r i s c h e H a r m o n i e , und die Sinnhaftigkeit der Geschichte hat in dieser ihre letzte metaphysische Wurzel und Begründung zugleich. Denn wo wäre für Leibniz Sinnhaftigkeit einer geschichtlichen Entwicklung überhaupt nur denkbar, wenn die Begriffe der handelnden Individuen nicht in e i n e m göttlichen Weltplan aufeinander abgestimmt wären? Es erweist sich so der individuelle Harmoniebegriff als durchgängige Voraussetzung einer Universalgeschichte. Als solche ist Leibnizens Harmoniebegriff durch Herder, Goethe und Schelling in die metaphysische Geschichtsbegründung der Historischen Schule eingegangen. Die einander wechselseitig fordernden Begriffe der individuellen Harmonie und des göttlichen Weltplanes kehren nicht umsonst bei den Systematiken! der Historischen Schule, bei Ast, Schelling und Schleiermacher, bei Boeckh und Humboldt, in vollendeter Lebensfülle und Systematik endlich bei Ranke und Droysen wieder. Sie bezeugen in ihrer mannigfaltigen Verschlingung und verschiedenartigen Betonung aufs eindringlichste die Kontinuität dieses neuen geschichtlichen Denkens mit Leibnizens großen Systemkonzeptionen. Es war der

Theodizee

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zweifelhafte Fortschritt des neueren positivistischen „Historismus", mit der leichten Preisgabe dieser Geistbegriffe zugunsten eines unklaren Lebensbegriffs dem historischen Relativismus Tür und Tor geöffnet zu haben. 6. Aus der innigen Verschmelzung von logischer Notwendigkeit und künstlerischer Freitätigkeit im Gottesbegriff, aus der Auffassung des Universums als eines schlechthin zur Harmonie vollendeten K u n s t w e r k s erwächst der Leibnizsche O p t i m i s m u s als ethische Grundhaltung und Weltwertung des denkenden, an der wachsenden Erkenntnis in den Weltzusammenhang gereiften Menschen. Leibnizens Theodizee hat nichts mit billigem Vorsehungsglauben des „guten Christen" oder mit der banalen anthropomorphen Teleologie der deutschen Aufklärer zu tun, die sich in philisterhafter Überhebung gerne auf den „Herrn von Leibniz" beriefen, wo sie ihre weisen Einsichten in Gottes Weltplan durch den Aufweis von allerhand Nützlichkeiten im Bau des Universums für den Menschen dokumentierten. Turmhoch über solcher Verkrämerung des Weltalls steht die in fruchtbarster wissenschaftlicher Einzelforschung, in der einmalig großen Zusammenschau des Wissens! einer ganzen Epoche erarbeitete Idee der besten aller möglichen Welten. Asymptotisch — so meint der große Denker — nähert sich die Wissenschaft a l s G a n z e s dem großen Ziel der Erfassung des einmaligen Weltsinnes. Es gibt keine ernstliche Gegeninstanz, die uns an der bewundernden Schau dieses Zusammenhangs und Ineinandergreifens von allem mit 'allem auch nur an einer einzigen Weltstelle irre machen könnte. Und so muß auch das Alogische, das Nichtseinsollende, das „Übel" in der Welt in des Wortes weitester Bedeutung, in seiner Sinnlosigkeit als Einzelnes seine Sinnberechtigung für das Ganze haben. Ein uralter, orphisch-pythagoreischer Gedanke von der Sinnhaftigkeit des anscheinend Sinnlosen, am Phänomen der musikalischen Dissonanz verbildlicht, wird von Leibniz wie später von Schclling durch die Tiefen des Universums verfolgt. Das Zwecklose, Sinnwidrige und endlich das eigentlich B ö s e

350

Leibniz und wir

löst sich als Durchgangsdissonanz im Weltprozeß auf höherer Stufe zur reineren Harmonie, einer Harmonie, die nur das Gute' selbst auf einer höheren Stufe der Entwicklung, der Bewußtheit sein kann. Auch von dieser Vorstellung sind alle falschen, verkleinernden und den Gedankenkern entstellenden anthropomorphen Verbeispiehingen fernzuhalten. Es handelt sich gar nicht darum, daß der Einzelmensch an der Überwindung des Bösen überhaupt erst seine sittliche Kraft, oder daß Gott selbst daran seine überlegene Macht aufzuweisen habe, sondern um einen tieferen Aspekt: Das Gute entwickelt sich selbst zum Höchsten erst am Widerstand, an einem Leiden, das nur wieder höhere, umfassendere Selbsttätigkeit aufzuheben vermag. Auch im Mittelpunkt des von Leibniz so eingehend behandelten T h e o d i z e e p r o b l e m s steht für Leibniz die Idee — schon nicht mehr ein bloßer „Begriff" — der S e l b s t t ä t i g k e i t , der S e l b s t e n t f a l t u n g des individuellen Soseins, der einmaligen Eigenart. Daß j e d e r Mensch dazu angelegt ist, ein „kleiner Gott" zu sein, ein Urquell schöpferischer Kraft, wenn auch in verschiedener Mächtigkeit; daß endlich jeder, je mehr er schöpferisch ist, desto mehr nicht das Universum, sondern Gott selbst „ausdrückt", an seinem unsichtbaren Reich der Geister teil hat, ist Leibnizens tiefste und einsinnig r e l i g i ö s e Überzeugung, die ganz nahe an Fichtes Idee der Selbstentfaltung herankommt. Das völlige Aufgehen, SichHineinnehmen in den göttlichen Weltplan ist unsere höchste Aufgabe, das Bewußtsein des Mittuns an Gottes Selbstentfaltung ist Quell unseres tiefsten Glücks, ist Beseligung selbst. Man kann allerdings nicht übersehen, daß zwischen diesem ethischen Ideal der individuellen Selbstentfaltung und dem kalvinischen Prädestinationsglauben in Leibnizens Ethik noch eine Spannung besteht, die durch die wenigen Ausführungen des Denkers zu dem Problem in keiner Weise zum inneren Ausgleich gelangt. 7. Wo liegt nun für uns Heutige der Lebensnerv eines so unerhört fein abgestuften, bei aller Verschlingung ganz ver-

Die Wirklichkeit des Einzelnen

351

schiedener Gedankenmotive doch erstaunlich geschlossenen Systems wie des Leibnizschen? Diese Frage scheint uns in den bisherigen Darstellungen Leibnizscher Philosophie doch noch nicht in f ü r uns befriedigender Weise gelöst. Niemand kann heute mehr übersehen, daß die ganze Denkarbeit moderner mathematisch-logischer! Axiomatik wie auf Piatos Idee von der Einheit aller Wissenschaften, so auf Leibnizens Riesenkonzeption der wissenschaftlichen Universalsprache ruht. Die wissenschaftliche Sprache künftiger strenger Philosophie ist eine „Leibnizsprache" — daran kann kein Zweifel mehr möglich sein. Und sie wird — allen positivistischen Willkürdekreten zum Trotz — wieder in die metaphysischen Tiefen echter „Leibnizsprachen" dringen, zur logischen Sorgfalt Leibnizscheri Kategorialanalysen sich emporarbeiten müssen. Was uns auf der anderen Seite heute wieder am unmittelbarsten mit Leibniz verbindet, ist des Denkers ungebrochenes Bekenntnis zur W i r k l i c h k e i t des Einzelnen, zur Seinshaftigkeit und Sinnhaftigkeit alles Individuellen, das kein blutleerer Transzendentalismus aus der Welt schaffen kann. Das transzendentale Subjekt Kants ist eine notwendige Konstruktion, geschaffen, um das objektive Gelten aller Wissenschaften, aller überpersönlichen Normen zu begreifen. Doch wir k e n n e n ! nur e i n z e l n e B e w u ß t s e i n e in ihrem unleugbaren Bezogensein aufeinander, in ihrem seelisch-geistigen Kontakt miteinander; und diese stehen keineswegs in einer durchgängigen Verbindung von so unverbrüchlichem Notwendigkeitscharakter, wie ihn die Theorie des transzendentalen Subjekts in der Ableitung der Allgemeingeltung des Erkennens überall voraussetzt. Dem Problem des Individuellen in seiner ganzen Breite, dem Problem des geschichtlichen Menschen wie der geschichtlichen Gemeinschaften wird kein einseitiger Transzendentalismus Herr. Wir erkennen immer weiter fortschreitend Gleichartigkeit und Ungleichartigkeit unserer seelischen und körperlichen Strukturen, in welchen die Möglichkeiten und die Grenzen

352

Leibniz und wir

alles geistigen V e r s t e h e n s beschlossen liegen. Wir erkennen, daß sie in einer inneren H a r m o n i e zueinander stehen, die sie nicht aus sich selbst haben, die immer wieder auf ein höheres sinngebendes Prinzip im Weltganzen hinweist. Zum erstenmal in der Geschichte der neueren Philosophie rührt hier ein großer Geist vollbewußt an das Problem des Verstehens als der besonderen Form, in der sich alle Erkenntnis des eigentlich Geistigen vollzieht. Hier schon — nicht erst bei Herder oder Schleiermacher, Boeckh oder Droysen — wird Harmonie der Individuen untereinander zur unumgänglichen Voraussetzung nicht nur des Sinnes in der Geschichte, sondern der L e i s t u n g des Verstehens. Ohne diese Harmonie ist kein Verstehen möglich. Wir müssen uns der Tatsache ganz versichern, daß unter allen großen deutschen Denksystemen vor Schelling und Hegel nur das Leibnizsche den Grundfragen geisteswissenschaftlicher, systematischer wie geschichtlicher Erkenntnis gerecht wird. J a eine einzigartige Vorrangstellung unter allen großen Systemen beansprucht es dadurch, daß es allein natur- und geisteswissenschaftliche Erkenntnis in einem einheitlichen Erkenntnisansatz zusammenfaßt. Und das ist das Eigenartige Leibnizschen Philosophierens. Er verschmilzt in nicht mehr erreichter Weite das anscheinend Heterogene miteinander, Das Wesen Leibnizscher Philosophie ist — wie das Leben selbst — überhaupt nicht auf, eine kurze und in ihrer bequemen Kürze eindeutige Formel zu bringen. Man wird ihrem Rcichtum so wenig wie ihrer freilich nicht offen zutage liegenden Geschlossenheit gerecht, wenn man sie als ,,Barockphilosophie" und damit als ,.nicht einheitliche" Philosophie den „Einheitssystemen" der kantischen und nachkantischen Philosophie gegenüberstellt (Stammler, Schmalenbach 50 ). Es ist ebenso konstruktive Vergewaltigung und Vereinseitigung, das Leibnizsche Denken zwischen die beiden Pole „Mathematismus" und „Kalvinismus" einspannen zu wollen (Schmalenbach). Dies System fügt sich nicht solch einfachen „stilkritischen" Antithesen; auch nicht

D a s Wesen der Leibnizschen Philosophie

353

der Formel einer „Synthese von Universalmathematik und Individualmetaphysik" (Dietrich Mahnke 51 ), wenngleich' die letztere Formel schon viel mehr von der Weite der geistigen Horizonte in sich befaßt, die hier zur Einheit einer Weltanschauung gebunden werden. Unmöglich ist endlich die gradlinige Einreihung Leibnizens in eine Entwicklungslinie zur Transzendentalphilosophie Kants hin, welche ja schon dadurch im Grundansatz sich weltweit von Leibniz scheidet, daß sie das Problem des Individuellen — übersieht (Cassirer) 50 ! Vom Ganzen Leibnizscher Philosophie geben diese Gegenwartsdeutungen jeweils nur eine einseitige Sicht; dies Ganze ist nur von einer inneren E n t w i c k l u n g aus faßbar, die aus der hingebenden Arbeit an den E i n z e l wissenschaften herauswächst und um bestimmte Kristallisationszentren wissenschaftlicher Arbeit zur Einheit eines Systems zusammenschießt. Das mathematische Gebilde, der physikalische Körper, das Lebendige, der geschichtlich gewordene Mensch, das Rechtsbild der Kulturvölker, die Sprache, die Gottesidee sind solche Zentren, Kristallisationskerne, die vom Logischen aus als der führenden Denkform erhellt, durchstaltet und in einer Systematik von einzigartiger Weite und innerer Beweglichkeit aufeinander bezogen werden. Das Letzteinigende ist das SchöpferischGeistige selbst, das die ,,Welt als Kunstwerk" in ihrer Einmaligkeit in einem wahren Kunstwerk des Ineinandergreifens wissenschaftlicher Gesichtspunkte zur Abbildung bringt. Thematisch wie in einer Sonate, und ganz und gar nicht in einem losen Nebeneinander, verflechten sich die wissenschaftlichen Grundmotive zum Riesenbau des Systems, der — nirgends völlig abgeschlossen, nirgends voreilig beschränkt — sich zum Gerüst einer philosophia perennis weiten soll. Und hinter diesem Bau, dessen Größe schon die Zeitgenossen mehr staunend ahnen als ermessen, verschwindet im Halbdunkel eines unsteten, von tausend Aufgaben und tausend Entwürfen durchzogenen, wahrhaft barocken Lebens, nirgends als die eigenartige Persönlichkeit 23

IIubor,

Leibniz

354

Leibniz und wir

völlig faßbar, der Baumeister — wie ein Händel und wie ein Schlüter hinter ihrem Werk; ein Mensch des Barock, der den Traum von der Einheit der Wissenschaft an einer zufälligen Weltstelle verwirklicht und schaffenden Generationen als Erbe hinterläßt, das es wiederzuerwerben gilt.

Studien zur Datstellung

des Leibnizschen

Systems

1. Die Leibnizsche Logik als G r u n d w i s s e n s c h a f t

Ans den vielfältigen Entwicklungsansätzen der Mainzer und Pariser Jahre schält sich gegen das Ende der Siebzigerjahre ein Begriff der Logik als Grundwissenschaft, als Wissenschaft der Wissenschaften heraus, der sich in seinen G r u n d zügen in der ganzen Folgezeit bei Leibniz nicht mehr; verändert. Mit -dem systematischen A u f b a u und Ausbau der Logik als Wissenschaftslehre beginnt die Reifezeit des Denkers und die Periode der sukzessiven Ausreifung des ganzen umfassenden Systems, das wir Leibnizsche Philosophie nennen müssen. Diese Logik Leibnizens ist — so zerstreut auch die Ausführungen ihres A u f b a u s bis zu den ,,Nouveaux Essais" von 1704 oder den Initia Metaphysica rerum Mathematicarum von 1714 sind — als Ganzes eine klassische, einmalige und noch heute richtunggebende Leistung. Es bleibt angesichts dieser Logik restlos unverständlich, wie noch ein Kant die (formale) Logik seit ihrer Begründung durch Aristoteles „keinen einzigen Schritt vorwärts t u n " lassen konnte. D e r Schritt vorwärts in eine „transzendentale Logik", den Kant selbst tut, wird sich uns ja n u r als ein Teil der umfassenden Konzeption einer Logik enthüllen, wie sie Leibniz entworfen hat. Es handelt sich uns hier nicht mehr um die historische Darstellung einzelner Teilschritte der logischen Entwicklung, die ohne Herausarbeitung der Grundidee ja unverständlich bleiben müßte, sondern um die systematische Darstellung dieser Grundidee der Logik als Wissenschaftslehre und die Zeichnung kleinerer Entwicklungsschübe innerhalb des einmal herausgestellten Grundgedankens. Erst die systematische Analyse läßt die Größe der Konzeption erkennen, hinter der freilich die Ausführungen im einzelnen, schon ob ihrer 23

356

Studien: 1. Leibnizsche Logik als Grundwissenschaft

sehr ungleichen Behandlung, um ein gutes Stück zurückbleiben. Wer weiß aber, ob eine „durchgeführte" Logik Leibnizens der genialen Weite der Ansätze, die in den „Bruchstücken" liegen, nicht da und dort eher Abbruch getan hätte? Leibniz hat — es ist wahr — seine reife Darstellung der logischen Probleme in alle Winde zerstreut. Neben den schon genannten Grundlagenabhandlungen von 1677 und 1684 kommen vor 1700 im wesentlichen die logischen Partien der metaphysischen Hauptschriften, das Manuskript „De Synthesi et Analysi universali seu Arte inveniendi et judicandi" (undatiert, doch vor 1700 abgefaßt), endlich die mannigfacheren kleineren Entwürfe zur CharacterLstica universalis in Betracht, die Couturat für die Pariser, Gerhardt f ü r die Hannoveraner Zeit zusammengestellt haben, daneben — aber in kleinem Umfang — der Briefwechsel vor 1700. Nach 1700 bilden die „Nouveaux Essais" die weitaus wichtigste Quelle, die über die teilweise Fortentwicklung der logischen Theorien Aufschluß gibt. Mit dem Abschluß dieses Werks erlischt sichtlich das Interesse des Denkers für die Behandlung rein logischer Fragen, soweit dieselben nicht im Zusammenhang mit dem Problem des logischen Aufbaues der Mathematik stehen. Doch schon hier sei bemerkt, daß die logischen Erörterungen der „Nouveaux Essais" vielmehr längst feststehende logische Stellungnahmen Leibnizens in der Auseinandersetzung mit Locke klären, verdeutlichen und neu beleuchten, als daß sie eine neuerliche Umbildung oder Fortentwicklung darstellten. Die „Nouveaux Essais" bringen in mehrerem Betracht eine reiche Ernte früherer Jahre ein und vertiefen das Gewonnene nach Gelegenheit der Stellungnahme zu dem Lockeschen Werk. Die Logik Leibnizens geht als Wissenschaftslehrc von der lebendigen Analyse der Einzelwissenschaften aus, die Leibniz in unnachahmlichem Ausmaße selbst beherrscht und befruchtet. In diesem Sinne ist Leibnizsche Logik nur mit dem ähnlich gerichtetem Programm der Comteschen Wissenschaftslehre zu vergleichen. Weder Descartes noch Kant, weder

Analyse der Einzelwissenschaften

357

Hegel noch Fichte haben in ihren logischen Grundlegungen in ähnlichem Sinne das Ganze der Wissenschaften vor Augen. Die einen — Descartes und Kant — lenken den Blick einseitig auf Mathematik und Naturwissenschaften, die anderen — Fichte und Hegel — entbehren als typische Geisteswissenschaftler des wirklich lebendigen Zugangs zur Naturwissenschaft ihrer Zeit. Ein Comte sieht zwar die Problematik der Geisteswissenschaften; doch es ist eben seine einseitige Leistung, sie in seiner Wissenschaftslehre ganz als Naturwissenschaften zu behandeln. Leibnizsche Logik ist in ihrem ersten, vorbereitenden oder besser grundlegenden Teile A n a l y s i s . Mit Recht kann er von sich sagen, daß er die Descartessche Idee der geometrischen Analysis auf das Ganze der Wissenschaften übertragen habe. Er verallgemeinert damit nur den Galileischen Methodenbegriff der Analysis und Synthesis, den Galilei an der physikalischen Forschung entwickelt, in der weitestmöglichen Form zur logischen, wissenschaftlichen Methode überhaupt. Die Analysis einer Einzelwissenschaft besteht nach Leibniz in der Reduktion ihrer Sätze auf letzte Sätze, der in diesen enthaltenen Begriffe auf letzte, nicht mehr zerlegbare Begriffe, Elementarbegriffe. Aus diesen, durch Definition eindeutig fixierten Begriffen muß dann in einer Synthese, das heißt: in einer systematischen Kombinatorik der Begriffe das Ganze der wissenschaftlichen Sätze sich ableiten lassen. Noch Descartes hatte in den „Regulac ad dirigendum ingenium" den Versuch entwickelt, alle Erkenntnisse der verschiedenen Wissenschaften auf einen letzten, unmittelbar evidenten Grundsatz zurückzuführen, als welcher ihm der Satz des! „Cogito sum" erschien. Einen ähnlichen formalen Letztsatz hat später Fichte in seiner Wissenschaftslehre im Satz der Identität, einen analogen materialen im Satze von der Setzung des Ich durch sich selbst entwickelt. Leibniz ist zu sehr Einzelwissenschaftler, um solcher Überspannung der Einheitlichkeit der Wissenschaften in seiner Wissenschaftssystematik Raum zu .geben. Die Analyse schon einer einzigen Einzelwissenschaft, und erst recht aller Ein-

358

Studien: 1. Leibnizsche Logik als Grundwissenschaft

zelwissenschaften, führt keineswegs auf einen einzigen Letztsatz, vielmehr auf eine Reihe von Sätzen von verschiedenartiger logisch-erkenntnistheoretischer Struktur. Mit Leibniz unterscheiden wir in den apriorischen Wissenschaften Definitionen und identische Sätze, wozu in den empirischen Wissenschaften als eigentlich empirische Fundamentalsätze noch empirisch evidente Sätze, wie der E r f a h r u n g s s a t z des „Cogito sum" und die Sätze sinnlicher Evidenz, hinzutreten. Leibniz hat daher nicht nur ein sehr klares Bewußtsein von der verschiedenartigen Reduktion apriorischer und empirischer Wissenschaften, sondern er berücksichtigt auch schon in den empirischen Wissenschaften deren apriorische Bestandteile als Mittel der strengen Verknüpfung empirischer Wahrheiten. Er berücksichtigt weiter in seiner Theorie, daß auch in den systematischen Aufbau empirischer Wissenschaften nur durch Definition festgelegte Grundbegriffe, z. B. der chemischen Elemente, eingehen dürfen. Nach beiden Hinsichten schafft er erst ein dem logischen Gang der Einzelwissenschaften angepaßtes S y s t e m d e r Reduktion. Was die apriorischen Wissenschaften anlangt, so macht sich Leibniz für alle die Forderung Pascals an die Mathematik zu eigen, daß kein Begriff, auch nicht der unscheinbarste, in der Mathematik Undefiniert bleiben dürfe. Was für die Geometrie oder Zahlenlehre gilt, gilt f ü r Leibniz auch in der Jurisprudenz und Moralwissenschaft. Jede apriorische Wissenschaft baut ihr System aus den Definitionen ihrer Grundbegriffe mittels Verknüpfung durch identische Sätze auf. In den empirisch-systematischen Wissenschaften — Leibniz geht auf sie nur grenzweise ein — liegt der Fall etwas verwickelter. Wohl müssen auch sie ihre empirischen Grundbegriffe definieren; doch der Fortschritt in der Verknüpfung der Sätze wird außer durch apriorische Beziehungen immer wieder durch empirische Feststellungen bestimmt, die) letztendig auf unmittelbare Innen- oder Sinneswahrnehmung zurückführen. Das Gefüge demonstrativ-apriorischer Verknüpfung kann Leibniz mit einem gewissen Recht als eine

Materiale Reduktion

359

fortlaufende Kette von Definitionen bezeichnen. Dasjenige empirischer Demonstration wird immer wieder durch neue empirische Daten unterbrochen. In Berücksichtigung dieser Strukturen kann man — wie es Leibniz selbst einmal tut — den Definitionen und identischen Sätzen für den Bereich empirischer Wissenschaften die empirischen Einzelsätze als dritte Gruppe elementarer, nicht mehr zurückführbarer Sätze anreihen. Wir wollen diese analytische Zerlegung einer Wissenschaft — gleich, ob apriorischer oder empirischer systematischer Wissenschaft — in eine Reihe von untereinander unabhängigen Letztsätzen die m a t e r i a l e R e d u k t i o n dieser Wissenschaf t nennen. In diesem Sinne ist beispielsweise der Aufweis eines Systems voneinander unabhängiger geometrischer oder arithmetischer Axiome in der geometrischen und arithmetischen Axiomatik unserer Tage eine materiale Reduktion der Geometrie und Arithmetik. In den Axiomen selbst steckt dann nur noch eine Gruppe nicht mehr weiter zerlegbarer Begriffe von Elementen — z. B. Punkt, Gerade, Ebene, die einzelnen Zahlen — und deren möglicher Beziehungen untereinander — z. B. Beziehungen der Verknüpfung, Anordnung, Deckung. Beschränken wir die Analyse der Einfachheit halber zunächst auf ein solches apriorisches Wissenschaftssystem. Die materiale Analyse hat in der Reduktion auf letzte Sätze — z. B. Axiome — ihr Ende gefunden. Eine solche materiale Analyse setzt Leibniz bei seiner wissenschaftstheoretischen Analyse überall schon\ als vollzogen voraus. Dann aber erhebt sich für ihn eine zweite Frage: die Frage nach dem Wesen der Begriffe von Gegenständen und gegenständlichen Verknüpfungen bzw. Beziehungen, die in diese Letztsätze eingehen. Ebenso die Frage nach dem Wesen der logischen Verknüpfung dieser Begriffe zu Sätzen, wie sie in den Definitionen und identischen Sätzen vorliegen. Mit anderen Worten: Er fragt nach der k a t e g o r i a l e n S t r u k t u r der logischen Funktionen und gegenständlichen Begriffe, die in jene Sätze eingehen. Wir können diese Seite der Analyse

360

Studien: 1. Leibnizsche Logik als Grundwissenschaft

im Unterschied von einer materialen die f o r m a l e oder k a t e g o r i a l e A n a l y s e einer Wissenschaft nennen. Wir hoben eben zwei voneinander nur begrifflich zu trennende Seiten an dieser Analyse heraus: Die Analyse der l o g i s c h e n F u n k t i o n e n , in; welchen die Begriffe zu Sätzen verknüpft werden, und die Analyse der g e g e n s t ä n d l i c h e n B e g r i f f e selbst, die zur Verknüpfung gelangen. Diese beiden Seiten oder Sphären, die logischfunktionale und die gegenständlich-ontologische („formalontologische"), sind immer korrelat einander zugeordnet; das Gefüge der Sätze, Schlüsse, Folgerungen, das eine Wissenschaft ausmacht, ist immer beides zugleich, ein Gefüge logischer Funktionen und eine Entwicklung der gegenständlichen Inhalte gerade dieser Wissenschaft. Ein wesentlicher Unterschied aber ist der folgende: Während das Gefüge der formalen Verknüpfungen in allen Wissenschaften d a s s e l b e ist —• jede Einzelwissenschaft gestaltet sich in Urteilen und deren schließender Verknüpfung — , ist das inhaltliche Gefüge der sich entwickelnden kategorialen Begriffe und daraus sich ergebenden apriorischen Wahrheiten in jeder apriorischen Einzelwissenschaft (und analog in jeder empirischen Einzelwissenschaft) ein b e s o n d e r e s und g e r a d e d i e s e r Wissenschaft eigentümlich. Hier erst ist die Stelle, wo Leibnizsche Logik zur formalen ,,Schullogik" im üblichen Sinn in Beziehung tritt. Die Analyse der für alle Wissenschaften im Grunde gleichen Formen der l o g i s c h e n V e r k n ü p f u n g von Begriffen in Urteil und Schluß ist das Gebiet der reinen Logik im engeren Sinn. Die Analyse der kategorial-gegenständlichen Strukturen in den verschiedenen Einzelwissenschaften ist Logik im weiteren Sinn, Logik des Gegenstandes. B e i d e s zusammen aber erst ist die g a n z e L o g i k als Wissenschaftstheorie, als einer Wissenschaft der allgemeinsten gegenständlichen und funktionalen O r d n u n g e n . Es ist überaus bezeichnend, daß die reife Logik Leibnizens immer von der Ganzheit der Wissenschaften bzw. jeder

Kategoriale Analyse: a) der Funktionen, b) der Gegenstände

361

Einzelwissenschaft ihren Ausgang nimmt. Durch deren analytische materiale Zerlegung gelangt sie zu Definitionen und identischen Sätz-en nebst empirischen Einzelsätzen in den empirischen Wissenschaften, die alle U r t e i l e sind. Sie erledigt nun, immer analytisch vorgehend, zunächst eine T h e o r i e d e r D e f i n i t i o n und eine T h e o r i e d e r i d e n t i s c h e n S ä t z e , um erst dann zu einer T h e o r i e d e s U r t e i l s als der alle diese Sätze in sich begreifenden logischen Grundform überzugehen. Die Strukturelemente des Urteils sind die Begriffe, und so folgt in Leibnizscher Logik eine T h e o r i e d e s B e g r i f f s in der Analysis an letzter Stelle. Am Begriff als formalem und materialem Element wissenschaftlicher Sätze angekommen, geht die Analyse in die S y n t h e s e über, den strengen Wiederaufbau der Wissenschaft aus ihren nachweislich letzten Elementen. Hier hat in der reifen Logik seit den Achtzigerjahren nunmehr das Frühproblem der l o g i s c h e n K o m b i n a t o r i k seine wissenschaftstheoretische Stelle. Jetzt handelt es sich für Leibniz darum, durch ein allgemeingültiges kombinatorisches Verfahren, durch einen logischen Kalkül das Ganze apriorischer Erkenntnis in einem bestimmten Wissensgebiet so abzuleiten, daß grundsätzlich keine Lücke entstehen kann und keine mögliche Erkenntnis übersehen wird. Ein Hauptziel dieser Kombinatorik ist die mathematische Gewähr absoluter Vollständigkeit im synthetischen Aufbau der Einzelwissenschaften. In all seinen mathematischen Einzelarbeiten hat er auf solche Vollständigkeit aus der Einheit eines allgemeinsten Gesichtspunktes, auf generelle Lösungen der mathematischen Probleme immer entscheidendes Gewicht gelegt. Die generelle Lösung ist ein Weg näher zum Ziel der allgemeinen Kombinatorik; eine höhere Allgemeinheit als diejenige, welche durch die Kombinatorik der letzten elementaren Begriffe erreicht wird, kann es nicht geben. In ihr müssen schlechthin alle besonderen Fälle enthalten sein. Alle die mannigfachen Ansätze und Entwürfe Lcibnizens zu einer Characteristica universalis gewinnen Einheit und Be-

362

Studien: 1. Leibnizsche Logik als Grundwissenschaft

deutung erst aus der scharf gefaßten Idee einer solchen Kombinatorik, welche die einzelnen Elementarbegriffe durch Zahlenindices ersetzt bzw. repräsentiert und mit diesen einen rein formalen Kalkül der möglichen Kombinationen zu 2, 3, 4 . . . Elementen .durchführt. Als Endergebnis des Verfahrens schwebt Leibniz vor, daß jede apriorische Einzelwissenschaft durch den Doppelweg der Analyse und Synthese vollkommen aus ihren Elementen begründet und lückenlos in ihren möglichen Ergebnissen dasteht. Leibniz ist mit dieser Kombinatorik nicht zu Ende gekommen — soweit man darunter die allgemeine formale Theorie des synthetischen Aufbaues einer Wissenschaft aus ihren letzten Begriffselementen versteht, und allein verstehen darf. Das Problem, das er sich stellte, bleibt jedoch, richtig gefaßt, zu Recht bestehen. Es ist kein Scheinproblem — wozu neuere Interpretationen die Leibnizsche Kombinatorik stempeln möchten. Es lebt heute in den Bestrebungen der mathematischen und logischen Axiomatik weiter. Auch dort wird — wie später zu zeigen — der Aufbau einer axiomatisch fundierten Wissenschaft als eine Kombinatorik der Axiome verstanden. Es ist daher wissenschaftliche Pflicht, Leibnizens Ansätze unter ständigem Hinblick auf die analogen modernen Entwicklungen in einer Weite und zugleich in einer Präzision der Fragestellung, zu erfassen und darzustellen, welche die Kontinuität der Gedankenentwicklung von Leibniz bis zur Gegenwart mit größtmöglicher Deutlichkeit hervortreten läßt. Dabei wird sich weiter zeigen, wie die modernen Entwicklungen einer algcbraischcn Logik zunächst von einem falsch verstandenen Leibniz ausgehen, um erst allmählich — in der Axiomatik — sich zu dem Standpunkt wieder durchzuringen, der von Anfang an der Standpunkt Leibnizens gewesen ist. Der Kernpunkt des Mißverständnisses liegt in der Auffassung vom Wesen des Urteils, welches die neueren logischen Algebraisten in ihrer Lehre von der Quantifikation des Prädikats rein umfangstheoretisch fassen, im Sinne der alten Schullogik, während Leibniz seiner Kombinatorik eine vertiefte inhaltstheoretische

Leibnizsche Kombinatorik und moderne Axiomatik

363

Auffassung des Urteils zugrunde legt. Audi hier also f ü h r t die Synthesis bei Leibniz überall auf die Ergebnisse einer meisterhaften Analyse zurück.

Schema

der Leibnizschen

Logik

Einzelwissenschaft apriorische /

empirische /

1. A n a l y s i s

Synthesis

/

Definitionen / identische Sätze / empirische Sätze

[

/

/

Urteile 2. logische Verknüpfung / Begriffe

materiale

Analysis

gegenständliche Begriffe / Kategorien (materiale Begriffe)

/

Urteile / Schlüsse / reine Logik

formale

Gegenstandslogik

/

Logik der allgemeinen

Analysis

/

Ordnungen

Im Mittelpunkt der logischen Arbeit um die Siebziger jähre steht jedoch noch nicht — wie später — das Problem der Definition selbst; die Definition ist vorerst nur Mittel zum Zweck. Mit der Gründlichkeit, die an dem jungen Forscher zu bewundern ist, legt er sich seit 1670 ausführliche Tabellen von Grunddefinitionen aus den verschiedenen Wissenschaftsgebieten an. Sie können n u r als M a t e r i a l s a m m l u n g f ü r einen! späteren kombinatorischen A u f b a u des Systems der Wissenschaften verstanden und in ihrer Bedeutung f ü r den jungen Leibniz gewertet werden. Daher die Ungleichartig,keit der Definitionen, die bald Exzerpte aus der antiken und neueren Literatur, in der Hauptsache jedoch

364

Studien: 1. Leibnizscbe Logik als Grundwissenschaft

eigene Definitionsversuche als elementar erkannter Grundbegriffe der Rechtswissenschaft, Morallehre und zum Teil auch der Metaphysik enthalten. An mathematischen Definitionen finden sich bezeichnenderweise fast nur Exzerpte aus Euklids P r o t a , daneben einige Descartessche Definitionen. Eine solche, „Tabula explicata" benannte Tabelle von 996 Definitionen auf neun Foliotafeln hat sich im Hannoverschen Nachlaß erhalten. Noch der späte Leibniz nimmt auf diese Definitionensammlungen ausdrücklich Bezug, ein schlagender Beweis dafür, welche Bedeutung er zeitlebens den materialen Grunddefinitionen beimaß. In einem Briefe an B o u r g u e t vom Jahre 1714 schreibt er: "J'ai fabriqué quantité de définitions, que je souhaite de pouvoir ranger un jour" und tadelt Descartes, der die Definitionen verachtete, da sie nur Dunkles durch Dunkles erklärten. Leibnizens Meinung ist von Anfang an eine andere. Schon in seinem ersten empfehlenden Schreiben an den. großen f r a n zösischen Theologen und Descartesschüler A r n a u 1 d vom Jahre 1668 berichtet er, daß er im Besitze „wichtiger Definitionen" sei. Im Jahre 1674 bittet er den damaligen Sekretär der Französischen Akademie, den Abbé G a l l o i s , eindringlich um Übersendung der Definitionensammlungen der Enzyklopädie; im selben Sinne erkundigte er sich 1687 bei dem Theologen P 1 a c c i u s angelegentlich nach einer Definitionensammlung des verstorbenen, von ihm so hochgeschätzten Logikers Joachim J u n g i u s . In einem Briefe an C o m e n i u s vom Jahre 1778 nennt er die Definitionen bezeichnenderweise „die Schlüssel der Beweise in der Logik und Metaphysik, in der Moral und im Naturrecht". Die Definitionen Piatos lobt er dabei „hin und wieder", um so uneingeschränkter diejenigen des Aristoteles, Euklids und der Mathematiker und nicht minder der römischen Pandektisten; doch auch Definitionen von Campanella, Hobbes, Descartes und Ritschel führt er als vorbildlich an. In einem weiteren Briefe an seinen Neffen, den Theologen L ö f f i e r , vom Jahre 1694 verlangt Leibniz sogar mathematische Definitionen auch für die Theologie.

Sammlung materialer Definitionen

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Angesichts s o uneingeschränkter Zeugnisse aus allen Perioden) seines Schaffens läßt sich an der Vorrangstellung materialer Grunddefinitionen im Aufbau der Einzelwissenschaften bei Leibniz nicht zweifeln. Sie beanspruchen jedoch diese Bedeutung keineswegs — wie T r e n d e l e n b u r g i meint (s. o. S. 2 8 4 ) — „auch losgelöst von der Charakteristik", sondern nur und gerade a l s a n a l y t i s c h e s Instrument einer alle Einzelwissenschaften umspannenden logischen Kombinatorik. Die E i n h e i t d e r l o g i s c h e n M e t h o d i k in allen Einzelwissenschaften unbeschadet ihrer materialen Verschiedenheit soll ja gerade durch! den Ausbau dieser kombinatorischen Grundwissenschaft gewährleistet werden. Von selbst erfordert daher die zentrale Stellung der materialen Definitionen in der neuen Logik der Forschung eine tieferdringende N e u b e g r ü n d u n g der Lehre von der Definition; diese fällt jedoch nicht mehr in Leibnizens Jugendjahre. Leibniz entwickelt sie seit 1677 — seit der endgültigen Niederlassung in Hannover — in mehreren, im wesentlichen miteinander übereinstimmenden Darstellungen, die zur logischen Grundlegung des Gesamtsystems gehören. V o r dieser Grundlegung liegt die Entwicklung zur selbständigen Meisterschaft, die Leibniz als Mathematiker und Physiker in den fünf Jahren seines Pariser Aufenthalts ( 1 6 7 2 — 1 6 7 7 ) genommen hat. Ohne sie wäre auch Leibnizens Fortschritt in der Lehre von der Definition kaum verständlich, wie sie auch die Auseinandersetzung mit Descartes' Ideenlehre voraussetzt. Die logische Weiterentwicklung wie die Ansätze einer Wissenschaftstheorie vollziehen sich zunächst in den j u r i s t i s c h e n A r b e i t e n vor 1670, welche der Ausarbeitung der Ars combinatoria parallel gehen. So sehr diese Arbeiten in ihrer äußerlichen Methodik noch dem Kreise und auch der Enge der damaligen Leipziger Rechtsschule angehören, in deren konservativen Ideenbereich die Fragen der neuen Naturrechtsbegründung eben erst von ferne hereinspielen, s o deutlich verrät schon die Wahl und Fragestellung der behandelten Themen das allgemeinere

366

Studien: 1. Leibnizsche Logik als Grundwissenschaft

W i s s e n s c h a f t s t h e o r e t i s c h e Interesse des jungen Forschers an der Jurisprudenz. Von den Fragen des neuen Naturrechts und P u f e n d o r f s Arbeiten hört der Rechtsstudent erst gelegentlich einer juristischen Disputation im Jahre 1668 Näheres; er erkundigt sich brieflich bei seinem Lehrer Jakob T h o m a s i u s , der ihn auf H o b b e s aufmerksam gemacht hatte, nach Autoren, die in der Darstellung des Naturrechtes Gleiches an Sorgfalt geleistet haben, oder Besseres in Rücksicht auf die Sorgfalt. Pufendorf ist ihm — wohl nur dem Namen nach! — bekannt; er soll jedoch seine Elemente der Rechtswissenschaft fast ganz aus der Euklidischen Ethik „unseres Weigel" gezogen haben. Diese Briefstelle bezeugt nur, daß auch Leibniz das neuere Naturrecht noch nicht kennt; die Deutung S t a m m l e r s , daß Leibniz bezeichnenderweise erst nach der Autorität im Naturrecht statt nach der Sache frage, fällt angesichts der selbständigen Fragestellungen des jungen Leibniz in sich zusammen1. Denn nur ein Geist, der auch, die Rechtswissenschaft sofort im Rahmen der übrigen Wissenschaften sieht und wertet, wirft sich von Anfang an auf kritische Grenzgebiete und Grenzfragen der positiven Rechtswissenschaft. Die „schwierigen" und die „nicht mehr unmittelbar lösbaren Rechtsfragen und Rechtsfälle" behandeln Leibnizens beide ersten Jugendschriften...

2. Leibnizens

Lehre

von den

Definitionen

Als methodologische Grundgedanken der Leibnizschen Lehre von der D e f i n i t i o n in ihrer reifen, entwickelten Gestalt fanden wir die folgenden: 1. Jeder Begriff, der in eine systematische Untersuchung eingeht, muß grundsätzlich d e f i n i e r t , d. h. in seine Merkmale aufgelöst sein. Die den Begriff konstituierenden Merkmale sind selbst wiederum Begriffe, die ihrerseits der Definition bedürfen (Pascal). 2. Die Definitionen von Begriffen sind n i c h t w i l l k ü r l i c h (gegen Hobbes). Willkürlich sind nur die elementaren Bezeichnungen von in Begriffen gefaßten Denkgegenständen. Darum ist auch eine Definition k e i n e B e n e n n u n g . 3. Die Definitionen zerfallen in N o m i n a l d e f i n i t i o n e n und R e a l d e f i n i t i o n e n . a) N o m i n a l d e f i n i t i o n e n sind solche Begriffsbestimmungen, welche von einem Gegenstand hinreichend viele und hinreichend genaue Merkmale angeben, um ihn von allen anderen Denkgegenständen eindeutig zu unterscheiden. Mit anderen Worten: die Nominaldefinition macht einen Begriff zunächst nur d e u t l i c h . Alle unsere Definitionen empirischer Naturgegenstände sind sonach a n f ä n g l i c h Nominaldefinitionen im Leibnizschen Sinne, sofern sie nur soviel Merkmale enthalten, als nötig sind um den in der Erfahrung g e g e b e n e n Gegenstand hinreichend von anderen ähnlichen Gegenständen zu unterscheiden. Es sind Definitionen, „wie sie die Goldscheider vom, Golde haben". b) R e a 1 definitionen sind dementgegen nach Leibniz solche, welche die M ö g l i c h k e i t eines Dinges enthalten. Unter ihnen sind die vollständigsten die E r z e u i g u n g s d e f i n i -

368

Studien: 2. Leibnizens Lehre von den Definitionen

t i o n e n , da sie die Möglichkeit der Erzeugung oder Bildung eines Dinges in sich befassen und angeben 1 . Soweit Leibniz. Wir prüfen die Unterscheidungen auf ihre Berechtigung und wissenschaftliche Brauchbarkeit. I 1. Um mit den Nominaldefinitionen zu beginnen: Sie erfordern eine hinreichende Anzahl im einzelnen hinreichend deutlicher und klarer Merkmale. Wir bleiben beim Beispiel des Goldes stehen. Gold ist also etwa ein in gewöhnlicher Form gelbliches Metall vom spezifischen Gewicht 19,33, dem Wärmeleitungskoeffizienten p, der elektrischen Leitfähigkeitskoeffizienten k, dem Schmelzgrad s usw., das auch in Scheidewasser unlöslich ist usw. Alle diese Merkmale Mi, M2 Mp bilden eine grundsätzlich (bisher) n i c h t a b g e s c h l o s s e n e Merkmals r e i h e , die gestattet, Gold immer feiner, auch in kleinsten Spuren und in nicht gewöhnlichem Zustand (Blattgold, durchsichtige Goldhäute) von allen bisher bekannten Edelmetallen zu unterscheiden. Weiter geht die gewöhnliche Reihe der Golddefinition nicht. Die Summe aller Merkmale SM gestattet jedoch, a l l e schweren Metalle nach demselben Merkmalsschema zu untersuchen und zu definieren. Darin liegt die k l a s s i f i k a t o r i s c h e Bedeutung einer solchen Merkmalsreihe. Sie lehrt uns beispielsweise, die Merkmale Mi, M2 Mp als v a r i a b l e M e r k m a l e einer G r u p p e chemischer Elemente aufzufassen und danach die Elemente dieser Gruppe zu bestimmen und zu o r d n e n . Nunmehr hat jedes Element der Gruppe seine ganz bestimmte S t e l l u n g (ordo) in der Gruppe. Die Nominaldefinition ermöglicht so die Klassifikation zumindest empirischer Gegenstände, aber auch nichtempirischer Gegenstände, soweit deren Eigenschaften noch nicht genügend bekannt sind. 2. Nominaldefinitionen lassen, als grundsätzlich n i e abgeschlossen, stets die Möglichkeit offen, daß die Auffindung neuer Eigenschaften und Beziehungen n e u e M e r k m a l e der zu definierenden Gegenstände an die Hand gibt, schon

Nominaldefinition: Inbegriff der Merkmale

369

bekannte als falsch ausscheidet oder als zur Unterscheidung ungenügend oder bedeutungslos kennzeichnet, wodurch die wissenschaftlichen Begriffe der Gegenstände fortschreitend eindeutiger, deren Gegenstände schärfer voneinander abhebbar werden. Auf dieser sukzessiven Verbesserung und Verfeinerung der Merkmalsreihen beruhen alle Fortschritte der Wissenschaften in logischer Hinsicht der begrifflichen Durchdringung und Bewältigung ihres Gegenstandsbereichs. 3. Die e n t w i c k e l t e n Noxninaldefinitionen eines Wissenschaftsgebiets ergeben so „nicht abgeschlossene Merkmalsi n b e g r i f f e " , die keine bloßen Summen voneinander unabhängiger Begriffselemente mehr darstellen — womit jede Nominaldefinition in einem undurchforschten Wissensgebiet beginnt. Die Einzelmerkmale Mi, M2 Mp sind nur insoferne gegeneinander s e l b s t ä n d i g , als ihr B e g r i f f unabhängig von allen anderen Merkmalen des Inbegriffs gebildet werden kann. Die Eigenschaften und Beziehungen hingegen, welche die Begriffe m e i n e n , sind meist nicht voneinander unabhängig, sondern stehen in verwickelten Relationen zueinander. So bestehen bekanntlich zwischen der spezifischen Wärme und der elektrischen Leitfähigkeit eines Metalls, zwischen der spezifischen Wärme eines Gases bei konstantem Druck oder konstantem Volumen und der Schallgeschwindigkeit in dem Gase unmittelbare Abhängigkeitsbeziehungen. Die M e r k m a l e der akustischen Leitfähigkeit bei konstantem Druck und konstantem Volumen gehen aber darum i n k e i n e r W e i s e ineinander über, da sie ja b e g r i f f l i c h ganz Verschiedenes treffen! An der Bedeutsamkeit und Fruchtbarkeit des Leibnizschen Begriffes der Nominaldefinition ist daher gar kein Zweifel möglich. Er bedeutet n i c h t — wie bei H o b b e s — die (im Grunde willkürliche) Zuordnung eines Namens zu einem Gegenstand bzw. dessen Begriff, sondern eben den Inbegriff der Merkmale, durch welche der Gegenstand als von allem anderen unterschieden g e d a c h t werden kann und muß. •„> 1

HuhiT,

T.eibniz

370

Studien: 2. Leibnizens Lehre von den Definitionen

II Die hinreichende begriffliche (!) Unterscheidung eines Gegenstandes von anderen schließt jedoch noch n i c h t — oder zumindest nicht notwendigerweise — ©ine wirkliche E r k e n n t n i s des Gegenstandes in sich.. Dies ist für Leibniz der Grund, zu einer andern Definitionsform fortzuschreiten, welchej eine tiefere sachliche Einsicht i n d a s W e s e n des Gegenstandes begrifflich in Merkmalen fixiert: die Erkenntnis seiner s a c h l i c h e n (nicht bloß begrifflichen) M ö g l i c h k e i t . Ein Gegenstand ist begrifflich möglich, wenn seine Merkmale widerspruchsfrei nebeneinander bestehen können. Diese Widerspruchsfreiheit der Merkmale ist eine logische Voraussetzung j e d e r Definition — natürlich auch der Nominaldefinitionen. Was heißt aber sachliche Möglichkeit? Die Problemstellung übernimmt Leibniz ohne Frage von H o b b e s , dessen Begriff der Nominaldefinition er gerade übernimmt. Auch Hobbes stellt seiner Nominaldefinition eine Definition entgegen, welche d i e E n t s t e h u n g des Dinges angibt, wobei er an die k a u s a l e Bestimmtheit des Dinges allein denkt. Auch Hobbes erläutert diese Definitionsform an der euklidischen Definition etwa des Kreises, der aus der Bewegung einer Geraden um einen festen Endpunkt als Achse „entsteht" oder richtiger „erzeugt wird". Scheinbar ist sich also Leibniz mit Hobbes in der Forderung einer Erzeugungsdefinition, welche die M ö g l i c h k e i t der Erzeugung des Gegenstandes angibt, durchaus einig. Doch nur auf den ersten Blick, nicht für den tiefer dringenden Vergleich. Ein geometrisches Gebilde ist allerdings definiert, wenn seine K o n s t r u k t i o n angegeben werden kann. D o c h d i e K o n s t r u k t i o n d e s G e b i l d e s ist etwas ganz a n d e r e s als die r e a l e H e r s t e l l u n g , auch dann noch, wenn reale Kreise tatsächlich nach der angegebenen Konstruktion „hergestellt" werden können. Leibniz ist auf dem Wege zu dieser entscheidenden Einsicht, nicht aber Hobbes! Dies zeigt seine genauere Analyse geometrischer wie allererst arithmetischer „Konstruktionen".

Realdefinition: ideale Erzeugungsdefinition

371

M a n kann die meisten geometrischen Gebilde mehrfach definieren, weil ganz verschiedene Konstruktionen zum selben Gebilde führen. Ob man den Kreis im Sinne obiger Bewegungsdefinition ¡bestimmt oder seine Konstruktion; als Spezialform eines Kegelschnitts angibt oder als den Grenzfall einer Ellipse, deren Brennpunkte zusammenfallen — man kann für alle diese Konstruktionen, reale Herstellungsverfahren finden. Doch e i n e Konstruktion hat in einem bestimmten System den Vorzug der Einf a c h s t h e i t , da sie auf einem M i n i m u m an Voraussetzungen ruht. Die Kegelschnittdefinition setzt geometrische Körper voraus, die Bewegungsdefinition abstrakte (nicht wirkliche!) Bewegung — - was dem gewöhnlichsten Begriff der Geometrie eigentlich ganz fremd ist. Nur eine Definition, die Definition des Kreises als geometrischer Ort aller Punkte einer Ebene, die gleichen Abstand von einem gegebenen Punkt P haben, erfüllt in Wahrheit die l o g i s c h e Minimumsforderung. Sie setzt nur vier Begriffe voraus, den Begriff des Punkts, der Ebene, des Abstands und der Grundbeziehung der Gleichheit, von welchen drei r e i n geometrische Begriffe darstellen und einer — der Ebenebegriff •— noch weiterer Zerlegung in Elementarbegriffe fähig ist, die gerade Leibniz später gezeigt hat. (Vgl. die Definition des Kreises o h n e Zuhilfenahme der Ebene.) Erst an diesem Punkte sieht man ein, daß die Bewegungskonstruktion des Kreises gar nichts anderes darstellt als die e i n f a c h s t e mechanische Erfüllung der Konstruktionsbedingungen, welche die geometrischej O r t s definition dem Geometer stellt: die Erhaltung des Abstandes sichert der feste Körper, die gleichc Lage des Beziehungspunktes P die Festmachung in Punkt P, die Bestreichung aller Richtungen in der Ebene die Drehung — und die „ B e wegung" als solche fällt aus der Konstruktion als bloßes „mechanisches Mittel zur Erreichung, eines g e o m e t r i s c h e n Zwecks ( ! ) " heraus. Als s a c h l i c h e 24*

M ö g l i c h k e i t der Bildung des Kreises

372

Studien: 2. Leibnizens Lehre von den Definitionen

geht in die Definition nicht die Bewegung ein, sondern die Beziehung, daß die Konstruktion aller verlangten Punkte eine i n s i c h g e s c h l o s s e n e K u r v e gibt, eben den Kreis, was aus den Begriffen Punkt, Abstand, Ebene und Gleichheit a l s B e g r i f f e n n i e m a l s f o l g t 2 . Die einfachste Bildungsdefinition des Kreises ist daher auch k e i n e K a u s a l d e f i n i t i o n — und Leibniz fordert, konsequent weitergedacht, f ü r die Geometrie gerade k e i n e realen Kausaldefinitionen, sondern i d e a l e E r z e u g u n g s d e f i n i t i o n e n : Erzeugungen, die das ,,Wesen" eines Gebildes als eines im idealen Räume m ö g l i c h e n Gebildes dartun. Es ist möglich,' weil es mit den Grundwesenseigenschaften dessen vereinbar ist, was wir „ R a u m " nennen. In den Konstruktionsdefinitionen der Gebilde der Geometrie liegt schon implizit die Auffassung der Geometrie als einer synthetischen Wissenschaft... Was f ü r die Geometrie als synthetische „Idealwissenschaft" gilt, gilt f ü r alle synthetischen Real- und Idealwissenschaften bezüglich der Definitionen ganz ebenso. Eine Maschine ist technisch definiert, wenn ihre Konstruktion angegeben ist. Die Angabe ihres Zwecks bezeichnet nur eine Forderung, ein „Desiderat", weshalb im Patentverfahren eine Konstruktionsdefinition u n d — f ü r Realgegenstände entscheidend! — der Nachweis ihrer r e a l e n H e r s t e l l b a r k e i t gefordert wird. Eine neue chemische Verbindung ist durch die Angabe ihrer (vielleicht zum Teil auf analytischem Wege gefundenen) Z u s a m m e n s e t z u n g aus Elementen d e f i n i e r t . Ob sie überdies wirklich (rein) h e r g e s t e l l t werden kann, das heißt: ob die Wege zur völligen Realisierung dieser Zusammensetzung schon bekannt sind, hat mit der chemischen Definition der Verbindung zunächst nichts zu tun. Man kann die Formelsprache der modernen Chemie geradezu als ideale Erfüllung des in der Characteristica universalis angelegten Plans einer universellen wissenschaftlichen Zeichensprache wie eines universellen Systems von Erzeugungsdefinitionen im Gebiete einer R e a l Wissenschaft be-

Chemie als ideales System von Erzeugungsdeiinitionen

373

zeichnen. Sie ist — wie Leibniz immer fordert — ein System allgemeiner Mittelbarkeit und ein System der logisch-systematischen Entdeckung neuer Zusammenhänge z u g l e i c h . Sie gibt ihre Gegenstände — die chemischen Verbindungen — in der genauen Ordnung ihres Zusammenhanges als K o m p l e x e aus letzten, nicht weiter zerlegbaren Elementen (wenigstens, im Sinne der „klassischen" Chemie!). Sie gibt endlich in der S t r u k t u r f o r m e l nicht eine bloße Ordnung des Zusammen, sondern eine Analysis situs der Elemente zueinander in quasi-räumlicher Anordnung. Die chemische Formelsprache kann, dies alles, weil sie mit dem Begriff der Zusammensetzung der Stoffe aus Elementen Ernst macht und weil die Natur uns den Gefallen tut, alle ihre Baustoffe als K o m p l e x e aus letzten, diskreten E l e m e n t e n in ganzzahligen M e n g e n - und bestimmbaren L a g e Verhältnissen darzustellen. Arbeitete die Natur nicht im strengsten Sinne pythagoreisch, so vermöchte kein Pythagoras ihre chemischen Baugesetze in mathematischen Mengen- und Lagekomplexen auszudrücken, welche unsere Formelsprache meint. Eine zwei Jahrhunderte lange Entwicklung vorahnend, bezeichnet Leibniz in einem Briefe an Huyghens die Chemie als diejenige Wissenschaft, von der wir die tiefsten, ja bisher ungeahnte Einblicke in die Struktur der Materie zu erwarten haben. Chemische Experimente haben ihn wie auch Huyghens immer beschäftigt. Beide tauschen ihre Ergebnisse brieflich aus. Unter den Sternen am europäischen Gelehrtenhimmel ist kaum einer, von dem Leibniz dauernd mit so uneingeschränkter Hochachtung sprach wie von dem Chemiker B o y 1 e , der lange Zeit der Präsident der Royal Society und darum Leibniz seit seinem Londoner Besuch auch persönlich verbunden war. Gehen wir zu den G e i s t e s w i s s e n s c h a f t e n über, so kann zunächst die G e s c h i c h t e als Tatsachenwissenschaft von Vergangenem aus sich allein wesensmäßig k e i n e Erzeugungsdefinitionen entwickeln; sie muß vielmehr ihre Erzeugungsdefinitionen, von denen sie in weitem Umfang Ge-

374

Studien: 2. Leibnizens Lehre von den Definitionen

brauch macht, anderen, systematischen Geisteswissenschaften entnehmen. J a es kann von den ihr allein eigentümlichen, als historischen Einmaligkeiten immer individuellen Letztgegenständen a u c h k e i n e N o m i n a l d e f i n i t i o n im Leibnizischen Sinne geben. Weder Goethe oder Friedrich der Große noch der Bauer des 16. Jahrhunderts, weder die Girondisten noch die Entsatzarmee bei Waterloo sind a l s gerade diese Einmaligkeiten in einer Nominaldefinition als Aufzählung von Merkmalen eigentlich begrifflich bestimmbar, l o g i s c h erschöpfbar. „Der Verfasser des Faust", ,,deT Sieger von Leuthen" sind Goethe und Friedrich dem Großen zwar eindeutig zugeordnete Bestimmungen, aber sie sind eben n u r B e n e n n u n g e n der beiden historischen, Individuen von i n i h r e r E i n m a l i g k e i t eindeutiger historischer Zuordnung, sofern nur einer gerade dieses Gedicht geschrieben, nur einer im Jahre 1763 bei Leuthen gesiegt hat. G o e t h e d e f i n i e r e n hieße hingegen eine hinreichend große Anzahl g e i s t i g e r M e r k m a l e in einer bestimmten Verbindung angeben, durch die das geistige Wesen „Goethe" von allen anderen geistigen Wesen sicher unterschieden werden könnte. Eine noch so eindeutige historische Zuordnung ist keine Definition des Individuums, wie umgekehrt eine Nominaldefinition des Wesens „Goethe" einen bestimmten T y p u s „Mensch" aufstellte, von dem man sich die Frage vorlegen kann, ob er in allen Stücken auf den historischen Goethe zutrifft, seine eigenartige Geistigkeit irgendwie erschöpfend charakterisiert. Dann aber sind wir im Gebiete einer Anthropologie als menschlicher Typenlehre und nicht mehr im Gebiet der Geschichte. Aber man kann doch — dürfte man uns entgegenhalten — vernünftigerweise fragen: Wer war Goethe? Friedrich der Große? Was versteht man unter „Girondisten"? und sich die Frage mehr oder weniger gut beantworten lassen. Die Antwort fällt jedoch im Grunde nicht anders aus, als wenn wir den Ort Gräfelfing durch seine Entfernung von München in einer gewissen Himmelsrichtung „definieren" wollten, wo wir doch nur seine Lage festlegen können. So wenig: das

Geisteswissenschaften: Identifikation und Definition

375

geographische Datum eine Definition von Gräfeling oder München, so wenig ist die Häufung von Daten aus Goethes Leben eine Definition Goethes., Es gibt sonach — im historischen Sinn — keine Definition des historischen Individuums Goethe, sondern nur eine P e r s o n a 1 b e s c h r e i b u n g Goethes. Sie hat bei dem Dichter logisch keine andere Aufgabe als bei dem Verbrecher: das Individuum aus der Masse aller übrigen eindeutig herauszufinden, zu i d e n t i f i z i e r e n . Die Identifikation aber ist logisch etwas gänzlich anderes als die Definition. Sie wird — bezeichnend für die Einseitigkeit unserer Lehrbücher — in den meisten Logiken nicht einmal genannt, geschweige denn behandelt. Die Identifikation ist auch eine Begrenzung, aber nicht durch Begriffe, auch nicht durch Individualbegriffe, sondern durch T a t s a c h e n a n g a b e n . Das Individuum wird in der Identifikation i n s e i n e r t a t s ä c h l i c h e n E x i s t e n z b e g r e n z t . Wer war Goethe? Der Mann, der den Faust schrieb, am 28. August 1749 in Frankfurt als Sohn des Rates Goethe geboren wurde usw. Ist dies ein echtes Werk Beethovens? Das Manuskript trägt alle Züge seiner Handschrift um 1810, das Notenpapier hat Lineatur und Wasserzeichen des damals meist von Beethoven benutzten Papiers. Wenn nun aber nur der ,,Stil" des Werkes auf den Beethoven um 1810 wiese? Dann zeigt sich sogleich der Unterschied: Der „Stil" Beethovens um 1810 ist eine Bestimmtheit, die wir in — wenn auch vagen — Merkmalen fassen und zu einem komplexen Begriff des Individualstils Beethovens zusammenfassen: Beethovenstil etwa um 1810. Die tatsächliche Identifikation des Autors mit Beethoven w a g e n wir auf Grund einer Individualdefinition, die wir aus den sicher datierten Werken des Meisters gewonnen haben, und der sich der Stil des fraglichen Werks gut einfügt. Wir tun mit diesem Werk nichts anderes als der Goldscheider mit einem Stück Gold, das er auf Grund der Scheidewasserprobe als Gold erkennt. Nur der Sicherheitsgrad der Zuweisung ist hier und dort ein verschiedener.

376

Studien: 2, Leibnizens Lehre von den Definitionen

Die logische Funktion und der logische Gehalt von Definitionen, und zwar Nominal- wie Realdefinitionen, wird in den systematischen Geisteswissenschaften leicht unterschätzt. Die Geschichte kennt auf dem ihr eigensten Gebiet keine Definitionen, sehr wohl aber alle systematischen Geisteswissenschaften, und zwar beide Leibnizschen Formen. Alle S t i l definitionen der Philologie und Kunstwissenschaft sind N o m i n a l definitionen. Das einzelne Stilkriterium oder Stilmerkmal ist Definitionsmerkmal eines Komplexes, nämlich des Merkmalskomplexes, der einen Stil t y p u s konstituiert. Im selben Sinne sind alle echten Typenbegriffe der verschiedenen Geisteswissenschaften in Nominaldefinitionen faßbar. Die logische Funktion der Stilkriterien besteht darin, ein individuelles Gebilde einem definierten Typenkomplex e i n z u o r d n e n . Dasselbe gilt für beliebige Typenmerkmale der Geisteswissenschaften. Nur die sattsam bekannte Vagheit, Mehrdeutigkeit des E i n z e l merkmals läßt die definitorische Leistung des Typenkriteriums verkennen.' Völlig falsch wäre es endlich, im Sinne weitverbreiteter Ansichten die Nominaldefinitionen den empirischen, die Erzeugungsdefinitionen hingegen den Wesens- oder Idealwissenschaften zuordnen zu wollen. Eine solche Zuordnung verkennt den r e i n l o g i s c h e n Charakter der Unterscheidung beider Definitionsformen, der mit der Frage der Realität oder Idealität der Gegenstände der Definition nicht das mindeste zu tun hat. Klassische Beispiele von Realdefinitionen der empirischen Wissenschaften bilden die chemischen Strukturformeln, die man schlechterdings nur auf Grund von Bcobachtungsreihcn feststellen kann. Umgekehrt sind die nominalen Wesensdefinitionen von Stiltypen und Stilmerkmalen so wenig abgeschlossen wie nur irgendwelche Mcrkmalsbestimmungen empirischer Klassen, so etwa der botanischen und zoologischen Klasseneinteilungen. Schwieriger als bei den geisteswissenschaftlichen Typologien ist es, die logische Struktur j u r i s t i s c h e r B e g r i f f s b i l d u n g immer scharf zu bestimmen, die ja in Leibnizens

Die juristische Definition

Denken

als

Vorbild

377

praktisch-wissenschaftlicher

Begriffs-

bildung eine sehr wesentliche R o l l e spielt. Sind die j u r i s t i schen Grundbegriffe, etwa im S t r a f r e c h t , in N o m i n a l - oder in

Erzeugungsdefinitionen

zu

erschöpfen?

Oder

kommen

beide Formen im juristischen D e n k e n vor? W e n n wir f r a gen, womit

der T a t b e s t a n d

des D i e b s t a h l s

(furtum),

der

Unterschlagung und anderer D e l i k t e gegeben sei, s o halten wir 11ns zunächst zweifelsohne an die im geltenden

Straf-

recht festgelegte Begriffsbestimmung des D i e b s t a h l s , die b e sagt, durch welche Züge oder Merkmale der volle T a t b e s t a n d „ D i e b s t a h l " konstituiert wird. E s handelt sich dabei ohne Frage um einen E r z e u g u n g s d e f i n i t i o n , etwa angibt, welche Züge h i n r e i c h e n d

welche nicht

sind, um etwa

eine Handlung als D i e b s t a h l zu erkennen, sondern

welche

besondere M e r k m a l s s t r u k t u r n o t w e n d i g und darum s a c h lich e r s c h ö p f e n d

den T a t b e s t a n d

grenzt. E i n e Rechtsbestimmung, alle

Fälle

des Diebstahls

um-

z. B . des Eigentums,

muß

erschöpfen, in denen die Frage, ob der B e -

stand Eigentum vorliegt, 1 gestellt werden kann. D i e

Unter-

suchung eines bestimmten Einzelfalls k a n n nur die betreffen,

ob der F a l l

der Rechtsdefinition

Frage

subsumiert

werden k a n n oder nicht. Eine neue Schwierigkeit entsteht freilich bei Rechtsbegriffen dadurch, daß es in gewissem Bereich d e m Gesetzgebers

Willen

des

anheimgestellt ist, was er am T a t b e s t a n d

D i e b s t a h l für wesentlich hält, und weiterhin, was er für die Bestimmung! des S t r a f m a ß e s für entscheidend ansieht. Kein Gesetzgeber kann aber n i c h t

D i e b s t a h l heißen, was

alle

W e l t für D i e b s t a h l ansieht, ohne sich auf die D a u e r mit dem Rechtsbewußtsein seines Volkes in Widerspruch zu setzen. Es bleibt jedoch ohne F r a g e in der juristischen Definition ein Spielraum

der Willkür,

der

C h a r a k t e r einer S e t z u n g ,

diesem

DefinitionstYpus

den

wenn auch nicht einer vollwill-

kürlichen Setzung verleiht. M a n k ö n n t e die juristische D e f i nition als a n d a s n a t ü r l i c h e einer

Gemeinschaft

die G e m e i n s c h a f t

Rechtsbewußtsein

gebundene

ansehen.

Setzung

für

378

Studien: 2. Leibnizens Lehre von den Definitionen

Von hier aus wird auch sichtig, warum juristische Definitionen i h r e m W e s e n n a c h Erzeugungsdefinitionen sein m ü s s e n . Sie müssen erstens einen a b g e s c h l o s s e n e n M e r k m a l s k o m p l e x darstellen, weil sonst eine Subsumtion des Einzelfalls unter die Definition g r u n d s ä t z l i c h mit Zweifeln behaftet sein könnte. Sie müssen zweitens — ganz im Sinne von Leibnizens Bestimmung — die M ö g l i c h k e i t des Gegenstandes erst dartun. Die Möglichkeit des chemischen Elements Gold wird durch die E x i s t e n z von Einzelstücken dieser Substanz dargetan. Die Möglichkeit des Tatbestandes „Diebstahl" kann ich nicht durch den Hinweis auf „existierende Diebstähle" erweisen. Zunächst muß der komplexe Begriff logisch möglich, das heißt in seinen Merkmalen widerspruchsfrei sein. Doch dies allein genügt keineswegs. Sachlich, material möglich wird Diebstahl überall da, wo u m g r e n z t e s E i g e n t u m vorliegt. Was allen so notwendig gehört wie Luft zum Atmen, kann nicht gestohlen werden. Die B e e i n t r ä c h t i g u n g der vom Diebstahl betroffenen Person und ihrer Rechtssphäre, zu der Eigentum gehört, ist der Sachgrund, der Diebstahl „möglich" macht. Wo keine Möglichkeit der Beschränkung der Eigentumssphäre gegeben ist, kann auch von Diebstahl nicht gesprochen werden. Die b e g r i f f l i c h e F i x i e r u n g der besonderen Form von Eigentumsbeschränkung, welche die Handlung einer Person zum Diebstahl „macht", ist die Erzeugungsdefinition des Diebstahls. Daß die Handlung im Deutschen „Diebstahl" heißt, ist belanglos; so belanglos, wie daß der geometrische Ort aller Punkte gleichen Abstands von einem gegebenen „Kreis" heißt. Die komplexe Handlungsstruktur im einen, die komplexe Raumgestalt im anderen Fall ist das, was in der Definition e i n d e u t i g getroffen wird. Wenn die für diese Handlungsstruktur wesentlichen, sie konstituierenden Merkmale Mi, Mä Mp im empirischen Einzelfall zu einem geschlossenen Komplex zusammentreten, ist der „Tatbestand Diebstahl" gegeben. Die juristischen Definitionen bilden so

ein

Hauptgebiet

Nominaldefinition nie abgeschlossen

379

der Erzeugungsdefinitionen von W e s e n s zusammenhängen, unter welche individuelle Tatbestände zu subsumieren sind. Man kann dem bisher aufgezeigten logischen und methodologischen Unterschied zwischen Nominal- und Realdefinition noch auf einem anderen Wege beizukommen suchen. Die von Leibniz f ü r die erstere aufgestellte Bestimmung „'hinreichend, um den Gegenstand von jedem anderen, zu unterscheiden" schließt in sich, daß der Gegenstand' n i c h t i n a l l e n seinen Eigenschaften b e k a n n t ist; ja daß weiter die Eigenschaften, welche von ihm bekannt sind, n i c h t oder zumindest nicht notwendigerweise in einer logischen Ordnung! zueinander stehen, so daß sie logisch eine in sich geschlossene Merkmalsstruktur ergeben könnten. Ob eine Summe von Merkmalen Mi, M», Ms Mp wirklich hinreichend ist, einen Gegenstand G von allen anderen Gegenständen zu unterscheiden, kann man der bloßen Summe der Merkmale nicht ansehen. Entweder genügen die Merkmale e r f a h r u n g s g e m ä ß —ji soweit keine Gegeninstanz vorliegt —, oder aber es ist eine eigene Untersuchung darüber nötig, ob undi unter. welchen Bedingungen die Merkmale hinreichend sind. Die Geschichte der Wissenschaften — und zwar der Realwie der Idealwissenschaften — bietet nach dieser Hinsicht Beispiele grober Täuschungen und gänzlich unerwarteter „Erfährungen". Die Goldprüfung mit Scheidewassen — das bekannte Leibnizsche Beispiel — war nur solange hinreichend, als Gold nur in gewöhnlicher fester Form und in genügender Größe des Einzelstücks bekannt war. Sie ist auf feinste durchsichtige und farblose Goldhäutchen und allerfeinste Goldspuren in Gesteinen nicht anwendbar. Hier mußten andere Kriterien gefunden, es mußte demgemäß der „Begriff des Goldes" um n e u e Merkmale erweitert werden, wenn er auf alle Formen, in denen Gold vorkommen k a n n , anwendbar sein sollte. Doch selbst die Mathematik bildet klassische Beispiele für die Nichtabgeschlossenheit von Nominaldefinitionen. So schien es lange ganz selbstverständ-

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Studien: 2 Leibnizens Lehre von den Definitionen

lieh, sozusagen im „Begriff" der Stetigkeit enthalten, daß jede stetige Funktion mindestens eine erste Ableitung besitzen, also grundsätzlich differenzierbar sein müsse. Als es nun gelang, eine Funktion aufzuzeigen, die streng stetig und doch n i c h t .differenzierbar ist, also in keinem Punkte eine Ableitung besitzt, mußte das Merkmal der A b l e i t b a r k e i t aus dem Begriff der Stetigkeit g e s t r i c h e n werden. Hingegen brauchte die gewöhnliche Nominaldefinition der Stetigkeit o h n e das Merkmal der Ableitbarkeit nicht geändert zu werden, da sie auch nicht ableitbare stetige Funktionen deutlich, in unserem Falle eindeutig von stetigen Funktionen unterscheidet. Es war jedoch e i n e e r n e u t e U n t e r s u c h u n g darüben nötig, ob — nach dem bisher Bekannten — die Definition alle Fälle stetiger Funktionen in sich befaßt. Der Ausdruck „hinreichend" 1 schließt daher logisch immer eine Beziehung nicht etwa auf „Erfahrung", sondern a u f d e n j e w e i l i g e n S t a n d unseres W i s s e n s ein, gleichgültig, ob dies Wissen ein Erfahrungsoder ein Wesenswissen bzw. Vernunftwissen ist. Ist es doch ein F a k t u m , daß wir lange nicht alles wissen, was man grundsätzlich vernunftgemäß wissen kann. Auch! das Vernunftwissen hat seinen Erkenntnis f o r t s c h r i t t . Die Bemerkung Leibnizens, daß jede echte Realdefinition letzten Endes eine i n t u i t i v e E r k e n n t n i s in sich schließe, besteht wohl zurecht, genügt jedoch für sich allein keineswegs, um Realdefinitionen von Nominaldefinitionen zu unterscheiden, da auch in Nominaldefinitionen intuitive T e i l erkenntnisse enthalten sein können. Man sieht daraus, daß in diesen Bestimmungen noch ein von Leibmz ungelöstes Problem steckt, ebenso wie in der Behauptung, daß jede Realdefinition die „Möglichkeit" des -Gegenstandes dartue. Um letzteres einzusehen, gehen wir wieder von der .so wichtigen Unterscheidung zwischen einer „Benennung" und einer „Definition" aus, die auch in den heutigen Lehrbüchern der Logik noch sehr im argen liegt. Die geometrische Ortsdefinition des Kreises läßt erkennen, „was ein Kreis ist", da sie einen G r u n d für die B i 1 d u n g

Definition und Benennung

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des Gegenstandes angibt. Sie tut mit anderen Worten dar, wie sich die Punktmannigfaltigkeit „Kreis" nach einem einheitlichen Bildungsgesetz erzeugt, Die Definition „den Ausdruck a + b n e n n e n wir ein Binom" lehrt gar nichts, sondern ist eine abkürzende Benenn u n g . Die Definition des Menschen als „animal rationale" enthält zwar ohne Frage eine Erkenntnis; sie reicht auch im großen ganzen vielleicht! hin, um den Menschen — wie man landläufig sagt — „vom Tier zu unterscheiden". Aber sie enthält gar keinen G r u n d d e r M ö g l i c h k e i t eines solchen Wesens. Dessen Möglichkeit wird allein durch seine Existenz gesichert, also — f e s t g e s t e l l t . Die Realdefinition enthält daher eine b e g r ü n d e t e , die Nominaldefinition eine u n b e g r ü n d e t e , die Benennung endlich ü b e r h a u p t k e i n e E r k e n n t n i s . Es ist jedoch gar nicht immer leicht, im Aufbau eines Wissensgebietes, etwa des mathematischen, die drei verschiedenen Formen zu unterscheiden. Viele mathematische „Definitionen" sind als Benennungen nur symbolische Abkürzungen unhandlicher Ausdrücke. Das Differential z e i c h e n dx, dx/dy usw. ist als zweckmäßiger symbolischer Ausdruck für eine Größe, die unter jede angebbare Größe sinkt, eine B e n e n n u n g . Die Definition des Differentialquotienten dy/dx bzw. df(x)/dx hingegen als des (endlichen) W e r t e s , den eine Funktion bzw. ein mit x durch eine Funktionsbeziehung verknüpfte variable Größe a n n i m m t , w e n n der Wert dx kleiner als jede angebbare Größe wird, ist eine E r z e u g u n g s d e f i n i t i o n . Sie schließt die g r u n d l e g e n d e E r k e n n t n i s in sich, daß die Variable "unter dieser Voraussetzung im allgemeinen einen mathematisch g e n a u b e s t i m m b a r e n W e r t annimmt. Leibnizens Auffassung vom Wesen der Definition und im besonderen der echten mathematischen Definitionen ist daher •— man möchte sagen — abgrundtief von jenem modernen „Dcfinitionalismus" oder mathematischen Konvcntionalismus geschieden, der sich in der positivistischen Mathematik der Neuzeit, letztendig auf H o b b e s ' Zeichenlehre fußend,

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Studien: 2. Leibnizens Lehre von den Definitionen

herausgebildet hat. Gerhard S t a m m l e r hat f ü r die Auswüchse dieses Definitionalismus in ablehnendem Sinn den treffenden Ausdruck „Deikretmanier" geprägt. Es wäre nur hinzuzufügen, daß diese Dekretmanier viel weiter reicht, als auch noch Stammler annimmt, und in mehr oder weniger verkappter Form auch in der so sehr, modernen geometrischen, arithmetischen und logischen „Axiomatik" ihr unheilvolles Wesen treibt — die Axiomatik David H i l b e r t s nicht ausgenommen! Die' Dekretmanier ist geradezu das Kennzeichen positivistischer Geisteshaltung in der Wissenschaft der Gegenwart, ob es sich nun um ein Dekret handelt, was unter mathematischer Widerspruchsfreiheit oder was in der Volkskunde unter „Volk" zu verstehen sei. Hier hat Leibnizens tiefdringende, doch nirgends abgeschlossene Analyse der Definition eine Aufgabe der Wissenschaftstheoretischen Reinigung der Grundbegriffe in den verschiedenen Wissenschaften zu erfüllen. Eine Definition ist keine „willkürliche Festsetzung" von Merkmalkomplexen, gegebenenfalls mit der Prüfung, ob sie sich „bewähren". Das sind „Benennungen", nicht „Begrenzungen" (definitio, horismos). Die Definition schließt eine E r k e n n t n i s in sich, die — bei Grunddefinitionen intuitiver Natur — methodologisch zum A u s g a n g s p u n k t weiterer systematischer Begriffsbildung erhoben wird. Eine gewisse Freiheit — nicht eigentlich Willkür! — besteht nur i n d e r W a h l d e r A u s g a n g s p u n k t e , die definitorisch festgelegt werden. Daß aber auf solchen methodologisch „ausgezeichneten", durch Definition festgelegten Grunderkenntnissen jede systematische wissenschaftliche Begriffsbildung aufbauen müsse, ist der Kerngedanke in Leibnizens Lehre von der Definition. Sie ist in ihrem Wesen verkannt, wenn sie im Sinne positivistischer Gedankengänge ausgelegt wird. In der Lehre von der Zeichenzuordnung (Semantik) wie in der Lehre von der Definition tut sich gleichermaßen die große Scheidewand zwischen Leibniz und Hobbes, zwischen der Logik der Erfindung und der Logik der Darstellung auf, die sich in drei

und die heutige Logik

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Jahrhunderten a l s unübersteigbar, ja als vielleicht grundsätzlich unüberwindbar erwiesen hat. Leibnizens A u f f a s s u n g vom logischen Wesen der Definition ist nicht nur nicht überholt, sie ist in der heutigen Logik in ihrer Tragweite für den logischen Aufbau der Wissenschaften kaum verstanden, geschweige denn ausgeschöpft oder gar weitergebildet. M a n braucht nur auf zwei der umfassendsten Logikdarstellungen der jüngsten Vergangenheit zu verweisen: die notwendigerweise ungenügenden Darlegungen in Benno E r d m a n n s die Gesamtloigik vom Altertum bis zur Neuzeit berücksichtigender Logik, welchen freilich in dem nicht mehr erschienenen, der Methodenlehre gewidmeten Band ein Kapitel über die Definition folgen sollte; oder auf S i g w a r t s Logik, die in einem umfassenden Kapitel der Methodenlehre (2. Band) über die übliche Behandlung der Lehre von der Definition kaum hinausführt. Näher kommt Alexander P f ä n d e r den Leibnizschen Grundgedanken in seiner Scheidung zwischen Sach-und Wortdefinition, die jedoch weit hinter dem von Leibniz schon Erarbeiteten zurückbleibt. Die kleineren Lehrbücher der Logik geben auf wenigen Seiten nur das Gerippe einer „möglichen" Definitionslehre. Die .von Erdmann wie von Sigwart streng durchgeführte Beschränkung der Definition auf N o m i n a l definitionen, wobei überdies zwischen diesen und bloßen Benennungen nicht genügend unterschieden wird, mußten wir scharf ablehnen. Sie stellt in Deutschland die positivistische Definitionslehre im Sinne von Hobbes dar. Der echte Leibnizsche Standpunkt wird in keiner deutschen Logik der Gegenwart vertreten. Was ihn betrifft, so ist seit dem klugen, doch nicht erschöpfenden Aufsatz Trendelenburgs „Über die Rolle der Definition in Leibnizens Philosophie" vom Jahre 1856 kaum etwas Besseres über den Gegenstand geschrieben worden. Grundsätzlich abzulehnen ist die Verzeichnung der Definitionslehre Leibnizens in! C a s s i r e r s neukantianischer Leibnizdarstellung. Anders steht es um die Wirkkraft von Leibnizens Definitionslehre in der heutigen Mathematik! Die Forderung

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Studien: 2. Leibnizens Lehre von den Definitionen

P a s c a l s , keinen auch nur einigermaßen fragwürdigen Begriff der Geometrie Undefiniert zu lassen, die weitergehende Forderung Leibnizens nach einem a l l s e i t i g e n , e i n heitlichen, grundlegenden Definitionensystem der Mathematik ist in der Mathematik bis zur Gegenwart nicht mehr zur Ruhe gekommen. Ja die Forderung nach einem tragenden Definitionensystem ist die Grundforderung der heutigen Mathematik; die Diskussion solcher Definitionensysteme spielt in allen mathematischen Einzelzweigen eine außerordentliche Rolle. Leibnizens „Metaphysische Anfangsgründe der Mathematik" vom Jahre 1714, auf deren sachlichen Gehalt wir erst an späterer Stelle eingehen können, stellen wohl den ersten zusammenfassenden Versuch eines solchen Definitionensystems dar und sind in dieser Hinsicht k l a s s i s c h zu nennen (Cassirer). Im Sinne von Leibnizens Lehre führt ein zusammenhängendes Definitionensystem im allgemeinen auf letzte, nicht mehr ableitbare und darum im eigentlichen Sinn definierbare Begriffselemente zurück. Über deren Gegebenheit spricht sich Leibniz — wie wir sahen — nicht immer ganz klar und eindeutig aus. Er scheint sich dieselben als begriffliche Fixierungen u n m i t t e l b a r e r U r i n t u i t i o n e n zu denken. Dahin läßt sich wenigstens der wichtige Satz der „Nouveaux Essais" als der weitaus reifsten Darstellung der Probleme auslegen, daß alle Realdefinitionen letztlich i n t u i t i v e E r k e n n t n i s s e in sich schließen. An dieser Stelle beginnt auch die grundlegende Problematik der heutigen Definitionensysteme, die noch in keiner Hinsicht und in keiner Einzelwissenschaft (!) als voll erledigt betrachtet werden kann. Auch Hilberts axiomatische Begründung der Geometrie macht hievon k e i n e Ausnahme. Es lassen sich zunächst folgende Fragen aufwerfen: 1. Sind die Grunddefinitionen eines mathematischen Definitionensystems Fixierungen i n t u i t i v e r E r k e n n t n i s s e oder w i l l k ü r l i c h e S e t z u n g e n , oder endlich teils dies, teils jenes? Im ersten Falle können wir von I n t u i t i o n i s m u s , im

und die heutige Mathematik

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zweiten von D e f i n i t i s m u s bei extremer Durchbildung beider „Standpunkte" reden. Wir sind hier einmal im Ernst an einer Stelle der Logik und Wissenschaftstheorie überhaupt, wo die Beziehung eines solchen S t a n d p u n k t e s durch die P r o b l e m l a g e g e f o r d e r t i s t , und nicht auf willkürlichen bzw. nicht zu Ende gedachten Ansätzen ruht. Die erste Richtung entspricht ohne Frage dem Leibnizschen Ideal von Mathematik, die zweite geht ebenso zweifelsfrei in der neueren Philosophie auf Hobbes zurück, den Leibniz ob dieses Definitismus in der reinen Logik wie in der Mathematik gleichermaßen bekämpft. 2. Wie hängen die Grundbegriffe und Grunddefinitionen eines Systems ihrerseits untereinander zusammen? Die Frage ist berechtigt, denn es steht — auch für Leibniz — a u ß e r Z w e i f e l , daß die Analyse der mathematischen Teilgebiete in sich selbst wie untereinander in a b g e g r e n z t e n Mehrheiten nicht mehr aufeinander zurückf ü h r b a r e r Elemente und Sätze über diese E l e m e n t e ihren 'logischen Abschluß findet. Denn die letztauffindbaren Elemente können nur mehr in S ä t z e n ü b e r d e r e n V e r k n ü p f u n g u n t e r e i n a n d e r in gegenseitige Beziehung gebracht werden. Zur Prüfung dieser Sätze dient ein Blick auf den heutigen Stand der Reduktion auf Elemente in irgendeiner mathematischen Disziplin, grundlegend inj der Zahlenlehre selbst. Man kann zwar die komplexen Zahlen in einem gewissen Sinne auf die reellen, diese wieder auf die natürlichen Zahlen zurückführen. Kann man aber den Zahlenbegriff aus dem Mengenbegriff oder umgekehrt diesen aus dem Zahlenbegriff ableiten? Das sind zumindest offene Fragen. Kann man — in den Geometrie — den Winkel auf die Gerade oder den Punkt zurückführen? Kann man das Parallclenaxiom als einen charakteristischen ,,Verknüpfungssatz" von Elementen aus einem einfacheren Satz ableiten? Aus dieser Problemlage ergab sich der Versuch, n a c h Aufsuchung der letzten Elemente eine Reihe nicht mehr ableitbarer Sätze ü b e r die Verknüpfung dieser Elemente 25

Huber, Leibniz

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Studien: 2. Leibnizens Lehre von den Definitionen

zu einem i n s i c h w i d e r s p r u c h s f r e i e n S y s t e m , einem A x i o m e n s y s t e m (im modernen strengen Sinn!) zu verbinden. Dies ist die logische Zielsetzung der modernen A x i o m a t i k . Sie ist mit Leibnizens Idee eines vollkommenen Deflnitionensystems nicht nur verträglich, sondern m u ß in dem Augenblick aus ihr herauswachsen, in dem eine mathematische Teilwissenschaft nach erneuter logischer Durchprüfung auf eine M e h r h e i t nicht mehr auseinander ableitbarer E l e m e n t e und diese v e r k n ü p f e n d e S ä t z e zurückführt. Man hat in der Gegenwart die Neuheit dieser Axiomatik, wie sie f ü r die Geometrie David H i l b e r t mit an sich bewundernswerter Schärfe durchführte, doch wesentlich überschätzt, nicht minder die Rolle, welche in einem solchen System das Kriterium der W i d e r s p r u c h s f r e i h e i t spielen muß. Es ist gerade im Sinne der Leibnizschen logischen Analyse selbstverständlich, daß die Verknüpfung der Elemente wie schon die Bestimmung von Elementen, die im System nebeneinander bestehen sollen, n u r mehr ¡ der Forderung der Widerspruchsf r e i h e i t z u g e n ü g e n b r a u c h t . Ob die als Elemente angesetzten Gebilde bzw. die elementaren Sätze über deren Verknüpfung w i r k l i c h widerspruchsfrei sind, kann im allgemeinen nur aus den Folgerungen aus diesen Sätzen und deren weiterer Verknüpfung sich ergeben, weil an irgendeiner Stelle im komplexen System d e r W i d e r s p r u c h g r e i f b a r h e r a u s t r e t e n m u ß , der in den elementaren Verknüpfungen unbemerkt bleiben konnte. Tritt ein solcher Widerspruch in der Begründung eines Axiomensystems auf, so muß die Aufsuchung der letzten Elemente bzw. ihrer elementaren Verknüpfungssätze von neuem beginnen — an der Gültigkeit der Forderung der Widerspruchsfreiheit wird dadurch nichts geändert. Gesetzt nun aber, die Widerspruchsfreiheit eines solchen Axiomensystems sei in aller Strenge gewährleistet: d a n n entsteht erst die vom Mathematiker und Axiomatiker teilweise zu leicht genommene grundlegende Frage nach der B e d e u t u n g des Systems und dem S i n n der Behauptung,

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a —. Unter deren Einfluß muß sich Leibniz in Paris für seine Studien dies „italienische Zeichen" angewöhnt haben (wie wir es kurz herkunftsmäßig bezeichnen wollen). Es tritt d u r c h g ä n g i g in dem wichtigen Briefwechsel mit O l d e n b o u r g von 1 6 7 2 — 1 6 7 7 auf (M. Sehr. I, 3 bis 1 7 1 ) ; und dies, trotzdem der deutschgeborene damalige Sekretär der Royal Society sich durchgehends des = Zeichens bedient, das Newton und der ganze Kreis englischer Mathematiker um Newton gebrauchen. Ein Vergleich von Leibnizens mathematischer Schreibung in diesem Briefwechsel mit derjenigen von Oldenbourg, und am charakteristischsten mit dem von Newton selbst in seinen (durch Wallis vermittelten) beiden Schreiben an Oldenbourg und Leibniz angewandten Algorithmus lehrt, daß Newton und sein Kreis schon in den siebziger Jahren einen einheitlichen und er-

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Studien: 4. Zur Datierung der mathematischen Manuskripte

staunlich fortschrittlichen Algorithmus entwickelt hatten, der sich nur mehr in Kleinigkeiten von der noch heute üblichen Schreibweise unterscheidet. Wir müssen, der Wahrheit die Ehre gebend, diesem einheitlich geschlossenen, modernen System den Namen des „englischen Algorithmus" vorbehalten. Er zeichnet sich gegenüber den zum Teil noch bombastischen Zeichenhäufungen der festländischen Mathematiker durch eine außerordentliche Vereinfachung und Klärung des Zeichenbildes aus: Wegfall der unnötigen Zeichen, Indizesbezeichnung der Exponenten, Verwendung von gebrochenen Exponentenindizes, Verwendung des Klammerzeichens ( ) für zusammengesetzte Ausdrücke usw. Endlich ist dem englischen Algorithmus die Verwendung des liegenden x als Produktzeichen eigentümlich, vielleicht das einzige „unnötige" Zeichen im Gesamtsystem. Es läßt sich zeigen, daß Leibniz im Verlauf des Briefwechsels in mehr als einer Hinsicht dem Newton-Oldenbourgschen Algorithmus sich angleicht; freilich mit e i n e r sehr bezeichnenden Ausnahme, dem Gleichheitszeichen. Erst in dem Antwortschreiben auf Newtons berühmten Brief an Oldenbourg vom 27. August 1676 (M. Sehr. I, 114ff.) bequemt er sich e i n e i n z i g e s M a l ¡zu1 ]dem neuen Zeichen,, um schon im nächsten Brief (der im Konzept erhalten ist) das ihm gewohnte italienische Zeichen wieder zu gebrauchen (M. Sehr. I, 154ff.). Ja selbst in seinen Randvermerken zu Newtons erstem Brief, in denen er Newtons umständliche Formeln sich in die elegante Sprache seines neuen Infinitesimalkalküls übersetzt, geht er von dem Zeichen nicht ab •— ein schlagender Beweis, daß Leibniz in den siebziger Jahren in diesem Zeichen „dachte"! Altes und Neuestes seiner eigenen genialen algorithmischen Erfindung steht nebeneinander. Es liegen in der Gerhardtschen Ausgabe mit Ausnahme der wenigen Briefe an Huyghens aus dem Jahre 1674 (M.iSchr. II, 11—17) keine weiteren datierbaren Belege vor, daß Leibniz während seines Pariser Aufenthalts ausschließlich das Waagezeichen benutzt hätte. Hier müßte vor allem eine Durchsicht

Abfolge der Gleichheitszeichen

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der Originalentwürfe zur Infinitesimalrechnung aus den Jahren 1675/77 eingreifen, die Gerhardt wegen ihres konzeptartigen Charakters unverständlicherweise nicht für die Veröffentlichung geeignet hielt. Zum letztenmal, aber als einzige A u s nahme, taucht das Waagezeichen nochmals durchgehends in dem oben schon angeführten Entwurf der „Characteristica Geometrica" vom 10. August 1679 auf, wo dasselbe ausdrücklich definitorisch eingeführt und dem „ a aequ. b " gleichgesetzt wird. Merkwürdigerweise geht schon die dem Manuskript angefügte „Beilage", in welcher Leibniz am Beispiel einer Dreiecksaufgäbe die Schwierigkeit und Umständlichkeit der algebraischen Analysis gegenüber der Analysis situs aufzeigt, von der vorher eingeführten Bezeichnung ab und v e r w e n d e t d a s W o r t z e i c h e n „ a e q u . " (M. Sehr. V, 168ff.). Damit ist ein neuerlicher Wechsel der Bezeichnungsweise angezeigt, der zeitlich ziemlich genau mit der Rückkehr nach Hannover (Ende 1676) zusammenfällt. Ich stelle auch hier die Belege kurz zusammen. Neben d a s Manuskript der „Characteristica Geometrica" tritt ergänzend der Briefwechsel mit T s c h i r n h a u s und H u y g h e n s . Zwei Briefe an Tschirnhaus vom E n d e M a i 1678 (M. Sehr. IV, 451 ff.) und vom 13. Mai 1681 (ebd. 484ff.) gebrauchen d a s neue Wortzeichen, während ein undatierter — dem Inhalt nach vom Jahre 1678 (477ff.) — noch am Waagezeichen festhält. Von 1679 ab wird das „ a e q u . " oder das ihm analoge „egal a " r e g e l m ä ß i g . Es erscheint nicht nur in! der — spärlichen — Korrespondenz der Zeit, s o in den wichtigen Briefen an Huyghens über die Lageanalysis (8. Sept. 1679, Dez. 1679, Math. Sehr. II, 17ff., 29ff.) sondern auch in den D r u c k v c r ö f f e n t l i c h u n g e n : der „Meditatio juridico-mathematica" in den Acta Eruditorum von 1682; in der Abhandlung „ D e vera proportione Circuli ad Q u a d r a t u m circumscriptum" aus demselben Jahr (Acta Er. 1682, Math. Sehr. V, 118 ff.), welche die Ergebnisse von Leibnizens Arbeiten zur Quadratur des Kreises erstmals der Öffentlichkeit vorlegt; endlich in dem kurzen Auszug eines Briefes an den Herausgeber des Journal des 26 Hulier, [.pibniz

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Studien: 4. Zur Datierung der mathematischen Manuskripte

Scavans über die Quadratur eines Teils der Cycloide vom Jahre 1678 (Math. Sehr. V, 116). 3. Fast schlagartig ändert sich zum drittenmal das Gleichheitszeichen mit Leibnizens e r s t e r V e r ö f f e n t l i c h u n g seiner Differentialmethode in den Acta Eruditorum vom Jahre 1684. Die „Nova Methodus pro Maximis et Minimis . . . " führt zuerst mit Hilfe des a l t e n ,,aequ."-Zeichens den A l g o r i t h m u s d e s n e u e n Differentialk a l k ü l s e i n , um d a n n , z u n ä c h s t in d e n m i t geteilten Grund formein, zum = Zeichen ü b e r z u g e h e n (M. Sehr. V, 220ff.). Wir haben eine methodisch vollbewußte Verknüpfung des neuen Gleichheitszeichens mit dem Differentialalgorithmus vor uns. Schon die nächste, auch den Integralkalkiii und das Integralzeichen einführende Abhandlung ,,De Geometria recondita et Analysi indivisibilium atque infinitorum" vom Jahre 1686 (Acta Er. 1686, Math. Sehr. V, 226ff.) verzichtet gänzlich auf die alten Zeichen. V o m j a h r e 1 6 8 4 a b — so läßt sich zusammenfassen •— v e r w e n d e t L e i b n i z in D r u c k s c h r i f t e n und K o r r e s p o n d e n z e n a u s s c h l i e ß l i c h das = für d i e G l e i c h h e i t , nunmehr selbstverständlich in dem allgemeinen Sinn, der — unter Ausschluß eines eigenen Summenzeichens — auch schon den Zeichen '—' und „aequ." zukam. Und auch in mehreren, anderen Zeichenformen, die wir hier übergehen müssen, ist von nun an der Anschluß an die Newtonsche Schreibweise endgültig vollzogen. Die Klarheit des Newtonschen Algorithmus konnte einem Meister der Zeichensprache wie Leibniz auf die Dauer nicht verborgen bleiben — so wenig wie die Newtonpartei sich auf die Dauer der sichtbaren Überlegenheit des Leibnizschen Infinitesimalkalküls und des ihm entsprechenden Algorithmus über Newtons Fluxions-Methode zu entziehen vermochte. — Die Bedeutung des Gleichheitszeichens für eine einigermaßen sichere Datierung der Manuskripte liegt auf der Hand. Sie ist in gewisser Hinsicht derjenigen des v iqse/.yvoTiy/)v für die Ordnung der Platonischen Schriften zu vergleichen.

Entwicklung in der Verwendung der Gleichheitszeichen

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Die Jahre 1 6 7 2 ; 1678/79 und 1684 bilden die unverrückbaren Stützen für eine erste vorläufige Datierung. Sie bieten den jeweiligen t e r m i n u s a n t e q u e m für jedes der von Leibniz benutzten Gleichheitszeichen. Eine einzige Schwierigkeit besteht noch hinsichtlich des Aequaliszeichens, die wir bisher übergingen. Die Randbemerkungen zum z w e i t e n Newtonbrief vom 24. Okt. 1676, die wiederum den Differential- und Integralkalkül auf die Newtonschen Formeln anwenden, benutzen das Zeichen „aequ." (M. Sehr. 1 , 1 4 5 f . Anm.). Diesen Brief erhielt jedoch Leibniz sehr spät, erst n a c h dem Antritt seiner Stelle in Hannover, zugesandt. D a Leibnizens Antwort auf diesen Brief (undatiert) und ein bald auf diese folgendes zweites Schreiben an Oldenbourg aus1 Hannover vom 12. Juni 1677 noch durchgehends das Waagezeichen verwenden, kann die erwähnte Randbemerkung kaum bei Erhalt des Briefes gemacht worden sein, sondern ist wohl erst bei einem späteren nochmaligen Studium des Briefes zugefügt worden. Auf alle Fälle ist der Übergang zum Aequaliszeichen hiemit auf die Zeit zwischen Juni 1677 und Mai 1678 eingeschränkt.; er erfolgte also bestimmt in Hannover. Umgekehrt läßt sich das späte letzte Auftreten des Waagezeichens in der Characteristica Geometrica vom August 1679 leicht damit erklären, daß das Datum den Tag der Vollendung der wesentlich früher begonnenen Schrift darstellt, in der Leibniz jedoch die alte Bezeichnung einheitlich wahrte. Ein besonderer Grund, warum Leibniz im Jahr 1677/78 vom Waagezeichen zu! dem doch wenig bequemen und wenig deutlichen Wortzeichen überging, ist uns freilich nicht ersichtlich. Die Ergebnisse der scheinbar kleinlichen Analyse zusammenfassend, stellen wir fest: V o r 1672, 1677/78, 1684 treten die drei von Leibniz nacheinander benutzten Zeichen nicht auf; umgekehrt verschwindet das Waagezeichen n a c h 1679, das Aequaliszeichen n a c h 1684 gänzlich, womit der Beweis einer E n t w i c k l u n g in Leibnizens Verwendung der Zeichen erbracht ist. '„'G*

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Studien: 4. Zur Datierung der mathematischen Manuskripte

II Durchforschen wir im Hinblick auf das gewonnene Zeitkriterium die u n d a t i e r t e n Manuskripte der Gerhardtschen Ausgabe, so ergibt sich sofort eine augenfällig klare Dreiteilung der Manuskripte in 1. solche, die ausschließlich das italienische Zeichen, 2. solche, die ebenso ausschließlich das Aequaliszeichen benutzen, wobei in diesen beiden Gruppen Leibniz noch öfters volle Wortwendungen statt der beiden Zeichen gebraucht. Die 3. Gruppe hingegen, die „Spätschicht" mit dem = Zeichen, verzichtet, wie auf die älteren Zeichen, so fast ganz auf die umständlichen Wortwendungen. Dadurch erhält der Algorithmus dieser Gruppe schon im äußerlichen Bilde eine größere Geschlossenheit und Klarheit: Die kurze Formelsprache tritt zusehends an die Stelle weitläufiger Erklärungen. D i e s e u n e r w a r t e t s c h a r f e T r e n n b a r k e i t auch der M a n u s k r i p t e nach der Verwendung des Gleichheitsz e i c h e n s und —• wie wir noch sehen werden — nach dem ganzen übrigen algorithmischen Bilde i s t d i e V o r a u s s e t z u n g d a f ü r , daß wir das Z e i c h e n k r i t e r i u m a u f die M a n u s k r i p t e a n w c n d e n ' k ö n n e n . Der Algorithmus der Manuskripte verhält sich nicht anders als derjenige der Korrespondenzen und Veröffentlichungen in den drei voneinander abgegrenzten Entwicklungsperioden. Wir ordnen mit Recht auch die Manuskripte nach diesen Perioden und gewinnen so eine erste zeitliche Festlegung derselben. I. Der Periode von 1 6 7 2 — 1 6 7 8 ( 1 6 7 9 ) gehören sonach die folgenden, das Waagezeichen ausschließlich verwendenden Manuskripte an (nach der Ordnung der Gcrhardtschen Ausgabe): 1. Brief an den Herausgeber des Journal des Scavans über die Quadratur des Kreises M. Sehr. V, 88 ff. 2. De resolutionibus acquationum cubicarum M. Sehr. VII, 138 ff. 3. De constructione M. Sehr. VII, 249 ff.

Anwendung auf die undatierten Manuskripte

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II. Der Periode von 1678—1684 gehören nach dem verwendeten Aequaliszeichen an: 4. Initia Mathematica M. Sehr. VII, 29 ff. 5. Conspectus Calculi M. Sehr. VII, 83 ff. 6. De primitivis et divisoribus ex Tabula combinatoria M. Sehr. VII, 101 ff. 7. D e reditibus ad vitam . . . . M. Sehr. VII, 133 ff. 8. De ortu, progressu et natura Algebrae M. Sehr. VII, 203 ff. 9. Epistola ad. . . . Antonium Magliabecchum M. Sch. VII, 301 ff. III. Der Spätperiode nach 1684 gehören nach der Verwendung des Gleichheitszeichens = die meisten undatierten Manuskripte an: 10. Compendium Quadraturae Arithmeticae M. Sehr. V, 93 ff. 11. Schreiben an v. Bodenhausen . . M. Sehr. V, 113 ff. 12. In Euclidis Prota M. Sehr. V, 183 ff. 13. Historia et origo Calculi differentialis, mit Beilagen M. Sehr. V, 392 ff. 14. Initia rerum Mathematicarum Metaphysica M. Sehr. VII, 17 ff. 15. Mathesis universalis M. Sehr. VII, 49 ff. 16. Prima calculi magnitidinum elementa demonstrata M. Sehr. VII, 77 ff. 17. Exercitium ad promovendam Scientiam Numerorum M. Sehr. VII, 114 ff.2 Wir versuchen zunächst, aus der Gestaltung des übrigen Algorithmus Hinweise für eine feinere Weiterdatierung der Manuskripte zu gewinnen. Denn — wie schon erwähnt — ändert sich doch nicht nur das Gleichheitszeichen, sondern dieses allerdings am auffälligsten und einschneidendsten in einer G e s a m t entwicklung des Leibnizschen Algorithmus. Da kommen nach dem Gleichheitszeichen in erster Linie die Zeichen für die elementaren Operationen der Multiplikation, Division, Potenzierung und Radizierung, die Bezeichnungen

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Studien: 4. Zur Datierung der mathematischen Manuskripte

zusammengehöriger Ausdrücke („Klammerausdrücke") in Frage. Von der „Ars combinatoria" an verwendet Leibniz für Multiplikation und Division die Bindezeichen a ^ b und a ^ b . Sie läßt sich durch eine Reihe von Schriften unserer zweiten Periode verfolgen und bricht mit dem Jahre 1684 ebenso plötzlich ab, wie die alten Gleichheitszeichen verschwinden. Es ist jedoch zu bemerken, daß Leibniz diese Klammerbezeichnung bei einfacheren algebraischen Ausdrücken so gut wie nie anwendet, vielmehr dieselbe auf Zahlenmultiplikationen, geometrische Multiplikationen und Produkte aus zusammengesetzten Ausdrücken beschränkt. Dies mag auch der Grund sein, warum das Zeichen in den wenigen algebraischen Zeichen der ersten — Pariser — Periode n i c h t vorkommt. Ähnlich steht es um Potenzzeichen und „Klammerzeichen". Bei einfachen Potenzausdrücken verwendet Leibniz fast ausschließlich die heutige Kleinziffer über dem Exponendus. Aufschlußreicher ist die Entwicklung der Klammerzeichen für zusammengesetzte Ausdrücke. Auch hier geht der Weg von einer Mannigfaltigkeit von zum Teil überflüssigen zur Auslese einiger weniger übersichtlicher Zeichen. Die ältesten Zeichen hat der „Conspectus Calculi", die früheste systematische Entwicklung der Rechenoperationen tmd ihres Algorithmus, die — wie erwähnt — der zweiten Periode angehört. Dort werden verwendet: a) Der Strich u n t e r dem Ausdruck für verschiedene Ausdrücke d e s s e l b e n Zahlenwertes, z. B. g + e aequ. c + d + b + c, aber auch für Summenexponenten. Er findet sich nur noch vereinzelt in Arbeiten vor 1684. b) Der Strich ü b e r dem Ausdruck allgemein f ü r alle zusammengesetzten Ausdrücke, wo heute die Klammer steht. Diese Bezeichnung, die auch Newton anwendet, v e r s c h w i n d e t in den Veröffentlichungen zur Analysis Infiniti s e i t E n d e 1 6 9 5 , ebenso im Briefwechsel mit dem Freiherrn von Bodenhausen (VII, 390) und dem Marquis de l'Hospital (II, 302). Schon 1697 braucht Leibniz in der

Entwicklung der übrigen algebraischen Zeichen

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Korrespondenz die Klammer (VII, 3 9 1 ) . Von da an wird sie die Regel. c) Eine gerade Strichklammer /6/ für die Zahlenwerte unbestimmter Ausdrücke und eine geschwungene Klammer { zur Zusammenziehung von Ausdrücken kommen nur in den Schriften vor 1 6 8 4 vor. So bestimmt der Übergang zur Klammer seit dem J a h r e 1 6 9 7 einen neuen festen Punkt für die Datierung von Manuskripten der d r i t t e n P e r i o d e . Nach diesem Kriterium fallen Brief an v. Bodenhausen Compendium Quadraturae Arithmeticae v o r 1697: Quadrat. Arithm. c o m m u n . . . . ( 1 6 9 1 ! ) Mathesis universalis, T (Nova Promotio Algebrae, n a c h 1697:4„. . . r , (Divisiones formularum reperire. Einen Übergang, in! dem gelegentlich beide Formen vorkommen, bildet die kleine Schrift: Prima calculi Magnitudinum elementa, die wohl um 1 6 9 7 geschrieben sein dürfte. Freilich ist das Kriterium nur auf die wenigen algebraischen und analytisch-geometrischen Abhandlungen anwendbar, in denen Klammerausdrücke vorkommen. N a c h 1 7 0 0 tragen die Leibnizischen Abhandlungen in der Verwendung der Klammern, Potenzzeichen und der immer häufiger werdenden Potenzausdrücke mit gebrochenem E x ponenten (statt umständlicher Wurzelzeichen) schon einen ganz modernen Charakter, der vor allem von dem Algorithmus der ersten und zweiten Periode äußerlich so stark absticht, daß die betreffenden Abhandlungen schon nach dem algorithmischen Bilde als Spätwerke zu erkennen sind. Die neugewonnene Ordnung der Manuskripte ergab jedoch, daß weitaus die Mehrzahl der undatierten Arbeiten ( 1 0 — 2 3 ) in die Zeit nach 1 6 8 4 fällt. Darin liegt ein Nachteil; denn während sich die beiden Frühperioden auf je; wenige Jahre erstrecken und eine ziemlich genaue Datierung der in sie fallenden Werke ermöglichen, erstreckt sich die mögliche Abfassungszeit der Arbeiten der „Spätperiode" auf drei Jahrzehnte, solange nicht weitere Kriterien einengend und

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Studien: 4. Zur Datierung der mathematischen Manuskripte

scheidend hinzutreten. Im Gebiet der geometrischen Arbeiten bietet sich zunächst ein solches an. Es liegt in der Bezeichnung der Relationen der Ä h n l i c h k e i t , K o n g r u e n z und K o i n z i d e n z von Figuren, die eine dem Gleichheitszeichen verwandte Entwicklung durchmacht. Das Kriterium kommt freilich, als weniger allgemein, fast nur den Arbeiten zur Analysis situs zugute. In der Früharbeit der „Characteristica Geometrica", deren Redaktion Leibniz wohl am August 1679 beendet hat, verwendet Leibniz für die Koinzidenz das liegende Zeichen so, f ü r die Ähnlichkeit das heute noch übliche Zeichen ~ , f ü r die Kongruenz das stehende Zeichen 8 . Ebenso wendet er den Strich über dem Buchstaben f ü r Linien im ganzen an, z. B. Z 3 Zur Gewinnung eines klaren Uberblicks über die mathematische Entwicklung ist es zumindest für die beiden ersten Perioden und die Spätperiode bis etwa 1700 erforderlich, den undatierten Manuskripten die Veröffentlichungen und datierten Manuskripte gegenüberzustellen. I. Der F r ü h p e r i o d e gehört allein an: 1. De Quadratura Circuli 1676 (Msc., verloren!) II. Veröffentlichungen und datierte Manuskripte beginnen mit dem Jahre 1678, dem Übergang zur z w e i t e n P c r i o d e . Es sind von 1678—1684 die Arbeiten: 2. Extrait d'une lettre de M. Leibniz écrite d'Hanovre touchant la quadrature d'une portion de la Roulette (Journ. des Scav. de l'an 1678) . . M. Sehr. V, 116 ff. 3. Observation nouvelle d'essayer si un nombre est primitif (Journ. des Scav. Février 1678) . M. Sehr. VII, 119 ff. 4. Beilage zum Brief an Huyghens vom 8. Sept. 1679, die Analysis situs betreffend . . . . M. Sehr. II, 20 ff. 5. Characteristica Gcomctrica, datiert vom 10. August 1679 (Msc.) M.Schr.V, 141 ff. 6. Invenire triangulum rectangulum in numeris cujus area sit Quadratus, Mse., 29. Dez. 1678. M. Sehr. VII. 120 ff.

Geometrische Zeichen

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7. D e vera propositione circuli ad Q u a d r a t u m circumscriptum . . (Acta Er. 1682) . . . M. Sehr. V, 118 ff. 8. Meditatio juridico-mathematica (Acta Er. 1682) M. Sehr. VII, 125 ff. III. Von den Schriften seit 1 6 8 4 kommt die geschlossene G r u p p e der Arbeiten zur Analysis infiniti (M. Sehr. V, Analysis infinitorum I — X X X I ) f ü r unsere Problemstellung nicht in Frage. Wir nennen von diesen und den übrigen Schriften die jeweils erste Veröffentlichung u n d datierte Manuskripte. 1. Novus Methodus p r o Maximis et Minimis (Acta Er. 1684) M. Sehr. V, 2 2 0 ff. 2. De dimensionibus Figurarum inveniendis (Acta Er. 1684) M. Sehr. V, 123 ff. 3. Meditatio nova de n a t u r a Anguli contactus (Acta Er. 1686) M. Sehr. VII, 3 2 6 4. Die Analysis Geometrica propria betreffend, Msc. 1698 M. Sehr. V, 172 ff. Wie ersichtlich, h a t Leibniz vor dem J a h r e 1 7 0 0 von seinen mannigfachen Arbeiten und E n t w ü r f e n zur Mathcsis universalis und Characteristica Geometrica nichts veröffentlicht. Gerade betreffs dieser philosophisch weitaus wichtigsten Seite der mathematischen Entwicklung Leibnizens sind wir auf äußere D a t i e r u n g aus dem Algorithmus und innere Entwicklungsmerkmalc angewiesen. Bei einigen wenigen A r beiten bieten außerdem die mathematischen Korrespondenzen f ü r die D a t i e r u n g gewisse Anhaltspunkte. Besonders schwierig ist die Frage zu entscheiden, welchc der undatierten Manuskripte unserer „ S p ä t p e r i o d e " in die wirkliche Spätund Reifezeit Leibnizens nach 1700 heraufreichen . . . . . Ihre Bezeichnung ist identisch mit dem Kongruenzzeichen 8 , das Leibniz in seiner ersten Mitteilung an Huyghens über die Analysis s i t u s der Einfachheit und Verständlichkeit wegen allein anwendet (M. Sehr. T, 20 ff.). In einer Kurzdarstellung der „Analysis geometrica p r o p r i a " , die Leibniz im Jahre 1698 (einem beiliegenden Zettel zufolge)

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Studien: 4. Zur Datierung der mathematischen Manuskripte

für den Freiherrn von Bodenhausen entwarf, sind die Zeichen f ü r Kongruenz und Koinzidenz derart geändert, daß aus den Zeichen unmittelbar! die Beziehung der drei Relationen zueinander erkannt werden kann: Das Kongruenzzeichen ist aus dem Ähnlichkeits- und Gleichheitszeichen zusammengesetzt, also das Koinzidenzzeichen... deutet die Identität an, f ü r die Leibniz schon in der „Mathesis universalis" ein Zeichen eingeführt hatte. D a die größere Arbeit „In Euclidis Prota" dieselben Zeichen uneingeführt verwendet und mit den dort entwickelten Methoden der Lageanalysis die Untersuchung führt, dürfte sie um dieselbe Zeit, wohl kaum vor 1698 entstanden sein. Leibniz hat offenbar im Zusammenhang mit dem mehrfach in seinem Briefwechsel mit Bodenhausen erwähnten Plan, den treuen Freund und Schüler tiefer in seine geometrische Analysis einzuweihen, das Euklidische Grundwerk nochmals vorgenommen und dessen. Definitionen unter dem Gesichtspunkt der neuen Lageanalyse einer eingehenden, geistreichen Kritik unterzogen. Aus den kurzen, leider nicht datierten Auszügen, die sich Bodenhausen aus den Briefen Leibnizens machte . . . Zwischen diese beiden Eckpunkte der Entwicklung rückcn nun offensichtlich Umformungen der Kongruenzzeichen, wie sie sich gemeinsam in der „Mathesis universalis" und dem „Specimen Geometriae luciferae" finden, die sonach ziemlich zur s e l b e n Zeit und v o r 1 6 9 8 geschrieben sein müssen. Wir ordnen die Zeichenentwicklung in eine Tabelle und fügen zugleich die verschiedenen, wiederum wechselnden Zeichen für die L a g e e l e m e n t e Punkt, Linie, Ebene, Körper und deren g e o m e t r i s c h e O r t e an. Als dritte Zeichengruppe sind die Zeichen für die lagegeometrischen Relationen zwischen verschiedenen Elementen, der „Verbindung" (Projektion!), des Schnittes, des Teil- und Enthaltenseins (des. „inessc") zu nennen, die erst in der Kritik der Euklidischen Prota weiter durchgebildet sind. Schon aus dieser Zeichengruppe läßt sich ersehen, daß sich Leibniz in seiner Lageanalysis gar nicht auf die Relation der Kongru-

Literarische Hinweise: erste und zweite Periode

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enz einseitig beschränkt hat, wie ihm H. Graßmann 1847 vorgeworfen hat 5 , sondern sehr wohl die charakteristischen O p e r a t i o n e n des Schneidens und Projizierens in ihrer Bedeutung erkannt hat, auf welchen sich die neuere projektive Geometrie aufbaut. Die lagegeometrischen Zeichenkriterien gestatten daher — wie zusammenfassend nochmals hervorgehoben sei — eine e i n d e u t i g e F e s t l e g u n g der R e i h e n f o l g e , in welcher Leibnizens mehrfache Entwürfe zur Lageanalysis entstanden sind. III Im Vorstehenden sind die Zeichenkriterien für eine Chronologie von Leibnizens mathematischen Schriften annähernd erschöpfend entwickelt. Sie gestatten eine immerhin weitgehende chronologische Aufsplitterung der Manuskripte, die nunmehr durch' die leider recht dürftigen literarischen Hinweise in Leibnizens Schriften zu ergänzen ist. Solche finden sich nur für wenige Arbeiten., 1. Aus der ersten Periode (bis 1678) wissen wir durch den Briefwechsel mit O l d e n b o u r g (M. Sehr. I, 53, 59), daß die Schrift „De Quadratura Circuli" schon 1674 in einer Erstfassung vorlag und unter den Pariser Freunden Leibnizens kursierte. Ebenso erwähnte Leibniz die große Arbeit ,,De resolutionibus aequationum cubicarum" schon 1674 in einem Brief an H u y g h e n s (M. Sehr. II, llif.). Die beiden Angaben bestätigen die Richtigkeit unserer Zeichenkriterien für die erste Periode. 2. Aus der zweiten Periode (1678—1683/84) hat schon Gerhardt die Abfassungszeit des „Sendschreibens an Antonio Magliabecchi" näher durch den Nachweis umrissen, daß das Rundschreiben Magliabecchis aus dem Jahre 1676 stammt. Leibnizens Lösung der dort gestellten Aufgaben wird — seiner Gewohnheit entsprechend — nicht sehr lange haben auf sich warten lassen. Sie ist sicher v o r 1 6 8 0 anzusetzen. Von besonderer Bedeutung ist die literarisch genauere Festlegung der algebraischen Grundlagenschrift „De ortu, pro-

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Studien: 4. Zur Datierung der mathematischen Manuskripte

gressu et natura Algebrae". Sie enthält in ihrem zweiten (unvollständigen) historischen Teil eine ziemlich ausführliche Darstellung der Entwicklung der Algebra von der Spätantike bis zu Leibnizens Zeit, die in der sehr viel später abgefaßten Grundlagenschrift „Nova Algebrae Promotio" im Auszug wiederholt ist. Am Schluß zählt sie unter den Neuerscheinungen die Algebra des Engländers K e r s e y auf, deren erster Teil nach brieflichen Mitteilungen 0 1 d e n b o u r g s 1676, deren zweiter im Mai 1677 erschien. Als „novissime edita" führt Leibniz endlich die „Historia Algebrae" von W a l l i s an, die, 1682 herauskam, Leibniz aber offenbar noch nicht bekannt war. Der uns an späterer Stelle beschäftigende historische Abriß gestattet jedoch noch eine weitere Eingrenzung. Bei der Besprechung von F e r m a t s Erfindung der Maxima-Minima-Methoden und deren Weiterbildung durch die Holländer H u d d e n und S 1 u s i u s fährt er fort: ,,Ego vero ni fallor edito in Actis Eruditorum schediasmate n u p e r m e n s e . . . a n n i . . . colophonem imposui effecique invento novo calculi differentialis, ut j a m f r a c t a s , i r r a t i o n a l e s e t t r a n s c e n d e n t e s non moretur quarum alias sublatio calculi laborem in immensum äuget, praeterquam quod transcendentes non Semper tolli possunt, quem fructum meae methodi nuper Joh. Craigius Scotus in erudito de Quadraturis libro agnovit et praedicavit" (M. Sehr. VII, 213). Unzweideutig nimmt Leibniz auf seine berühmte erste Veröffentlichung der Differentialmethode in der „Nova Methodus" Bezug, die im Mai 1684 in den Acta Eruditorum erschien. Das Ergebnis der Zeichenanalysc zeigt jedoch, daß die Schrift ,,De ortu" unserer zweiten Periode angehört und v o r 1 6 8 4 g e s c h r i e b e n s e i n m u ß . Darauf deutet nun auch die Lücke bei Zitierung der Schrift. Leibniz wußte bei der Niederschrift dieser — offensichtlich in den Gesamtzusammenhang des Abrisses e i n g e s c h o b e n e n — Stelle noch nicht, wann seine Abhandlung „Nova Methodus" im Druck erscheinen würde. Für unsere Datierung bietet auch die

Literarische Hinweise: „De ortu, progressu et natura Algebrae"

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Nennung des Werkes von C r a i g einen weiteren Beleg. D a s selbe erschien allerdings erst 1 6 8 5 ; aber Leibniz hatte schon 1 6 8 3 durch T s c h i r n h a u s von Craigs Absicht, die Differentialmethode in einem Buch „ D e Quadraturis" zu verwerten, Kenntnis erhalten und nahm an obiger Stelle die Veröffentlichung voraus, o h n e das Werk zu kennen — offenbar in der Absicht, die Abhandlung „ D e o r t u " sofort nach Erscheinen von Craigs Werk d r u c k e n z u l a s s e n . Als er jedoch — wohl Ende 1 6 8 5 ! — das Buch zu Gesicht bekam, mußte er mit Befremden feststellen, daß Craig seine Methode f a l s c h dargestellt und denselben Fehler begangen hatte wie Tschirnhaus in seiner voreiligen Veröffentlichung der Leibnizschen Differentialmethode in den A c t a Eruditorum vom Oktober 1 6 8 3 ! Dieses Plagiat hatte j a in erster Linie Leibniz endlich zur eigenen grundlegenden (und reichlich schwierigen!) Darstellung seiner D i f ferentialmethode bewogen. Gleich in der folgenden Abhandlung „Geometria recondita" vom Jahre 1 6 8 6 , welche nun auch die Integralmethoden entwickelt, klärt er den Fehler von1 Tschirnhaus und Craig in eingehender Kritik auf. Nach alledem setzen wir die letzte Redaktion von „ D e o r t u " mit großer Sicherheit in das Ende des Jahres 1 6 8 3 oder den Anfang von 1 6 8 4 , während der Algorithmus der Schrift beweist, daß die Abfassung des systematischen Teiles zumindest schon etwas, früher erfolgt sein muß. Damit wird die Brauchbarkeit unserer Zeichenkriterien auch für die zweite Periode schlagend erwiesen. Setzt doch der Algorithmus unserer dritten Periode g e r a d e mit den beiden Abhandlungen „Nova Methodus" und „De dimensionibus" von 1 6 8 4 ein! Die angeführte Stelle aus „De o r t u " ist jedoch in Verbindung mit der1 richtigen Datierung der Schrift auch von besonderer sachlicher Bedeutung. Beweist sie doch eindeutig, daß Leibniz s c h o n i m J a h r c l 6 8 3 seinen Differentialkalkül a l s u n m i t t e l b a r e F o r t b i l d u n g v o n F e r m a t s M e t h o d e der M a x i m a und M i n i m a d a r s t e l l t e . Hätte er damals diese auch in systematischer

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Studien: 4. Zur Datierung der mathematischen Manuskripte

Hinsicht hochbedeutende Grundlagenschrift zur Algebra veröffentlicht, so wäre es den Engländern dreißig Jahre später wesentlich schwerer gefallen, die Ruhmespalme der Erfindung der Infinitesimalmethoden einseitig für Newton in Anspruch zu nehmen! Von den weiteren Manuskripten der zweiten Periode ist „De reditibus ad vitam" dadurch festgelegt, daß 'die kleine Schrift in der Propositio V der „Meditatio juridico-mathematica de Interusurio simplice" vom Jahre 1683 als Fortsetzung angekündigt wird, die sich mit dem „interusurium compositum" beschäftige. Das Manuskript auch dieser Schrift dürfte jedoch schon v o r der Drucklegung der „Meditatio" abgefaßt sein, da es noch1 das alte Klammerzeichen —> für die Multiplikation enthält, das in dem Druck durch ein „multiplicetur" ersetzt ist, und umgekehrt das zusammenfassende Gleichheitszeichen in den Formeln ( = ) noch nicht aufweist, durch welches die Meditatio sich deutlich als Ü b e r g a n g s s c h r i f t zur dritten Periode charakterisiert. Die übrigen Schriften der zweiten Periode, voran die grundlegende Arbeit „Initia Mathematica", rücken erst durch die genaueren Datierungen der dritten Periode in die richtige Beleuchtung, denen wir uns jetzt zuwenden. 3. Im Mittelpunkt der dritten Periode steht die große mathematische Grundlagenschrift der „Mathesis universalis". Nach den Zeichenkriterien konnten wir sie nach oben durch die Jahre 1697—98 begrenzen. Eine Grenze nach unten liefern die literarischen Belege. Sie bedürfen allerdings der sorgfältigen Interpretation. In der Vorrede berichtet Leibniz, er hätte in einer so durchgearbeiteten Disziplin wie der Mathematik nie das Wort ergriffen, hätte er nicht von ihr eine von den überkommenen Begriffen s o v ö l l i g a b w e i c h e n d e I d e e gewonnen. So habe er ursprünglich nur die „Scientia Infiniti", die Lehre vom Unendlichen, behandeln wollen, die den höheren Teil der Mathesis generalis darstelle. Nachträglich habe er sich jedoch überzeugt, daß nicht einmal die gemeine Logistik (Algebra) in ihren Ursprüngen erkannt,

Literarische Hinweise: dritte Periode, „Mathesis universalis"

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geschweige denn die Natur der Quantität und ihrer Relationen, ja sogar der Proportionen genügend geklärt sei (M. Sehr. VII, 49 f.). Wie aus dem Briefwechsel mit H u y g h e n s hervorgeht, reifte der erste Plan zur Darstellung seiner Infinitesimalmethoden in streng systematischer Form unter dem Druck des Lehrers, endlich seine Methoden im Zusammenhang zu veröffentlichen (Brief an Huyghens vom 12.—22. Juni 1694, an de l'Hospital vom 27. Dezember 1694; M. Sehr. II, 179 und 225). Bis Dezember hat er — wie er an de l'Hospital berichtet — nur Stoff, dem er keine Form geben kann, da er in seiner eigenen Infinitesimalmethode ganz außer Übung ist. Aus diesen Plänen einer Scientia infiniti ist also die „Mathesis universalis" als Grundlagenbau hervorgegangen, ¡die nun ihrerseits die „Scientia infiniti" im vorhandenen Manuskript gar nicht behandelt, sondern nach kurzer Zusammenfassung ihrer Aufgaben abbricht. Die Schrift kann also nicht vor 1695 entstanden sein und läßt sich daher mit großer Genauigkeit z w i s c h e n d i e J a h r e 1 6 9 5 — 1 6 9 7 einschränken. Dem ursprünglichen Plane nach sollte freilich die „Mathesis universalis" in die zwei Teile der „Scientia finiti" und der „Scientia infiniti", als der höheren Mathematik bzw. Analysis zerfallen. Daß der zweite Teil nicht weiter ausgeführt wurde, kann nur aus der augenblicklichen Überlastung Leibnizens mit seinen historischen Arbeiten an der Hannoverschen Hausgeschichte erklärt 'werden. Noch am 6. Dezember 1697 schreibt er an von Bodenhausen: „Mein buch de Scientia infiniti ist noch zur zeit ein bloßes project; ich hätte wohl materi es auszufüllen; es gehet mir aber wie dem Hrn. Viviani. Wenn in der nähe ein wackerer Kopf wäre, der sich zu diesen meditationibus schickte, so wäre viel thunlich, allein ich weiß noch keinen in gantz Teutschland" (M. Sehr. VII, 392). Den höheren Teil der Mathesis universalis grenzt Leibniz gegen den niederen wie folgt ab: „Itaque M a t h e s e o s u n i v e r s a l i s p a r s s u p e r i o r nihil aliud est quam Scientia infiniti, quatenus ad inveniendas finitas quantitates prodest"

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Studien: 4. Zur Datierung der mathematischen Manuskripte

(M. Sehr. VII, 69). Das Hauptinstrument der Scientia infiniti bildet die von ihm eingeführte Differentialrechnung, die er an ihrem Ort gesondert behandeln will (de quo suo loco). So sollte also das „buch de Scientia infiniti" offenbar sich an die Mathesis universalis als gesonderter Teil anschließen. Von dem niederen und alkin näher ausgeführten Teil der Mathesis universalis, der Scientia finiti o d e r Algebra führen nun klärende Verbindungslinien nach rückwärts wie nach vorwärts in Leibnizens riesenhafter und immer wieder neu aufgenommener Arbeit an der Grundlegung der Mathematik. Zuerst nach rückwärts: Die „Mathesis universalis" ist keine völlige Neuarbeit. Sie benutzt — wie hier nicht näher zu beweisen ist — in ihrer Theorie der mathematischen Zeichen und Formen den „Conspectus Calculi" als Vorarbeit, der dieselben Fragen ausführlich behandelt und in seinem ersten Teil (Satz 1—40) als Theorie der mathematischen Operationen bezeichnet werden kann. Die „Mathesis universalis" führt die dort entwickelte Theorie der Operationen durch die geistreiche und tiefdringende Einteilung der mathematischen Operationen in p r o g r e s s i v e und r e g r e s s i v e Operationen weiter. Aus der „Störung" (irritatio) der r e g r e s s i v e n Operationen ergibt sich — ein verblüffend moderner Gedanke! — die Notwendigkeit einer Erweiterung des Zahlensystems. Hieraus entstehen nacheinander die negativen (Subtraktion), gebrochenen (Division), irrationalen (Wurzelziehen), weiter die transzendenten Zahlen, womit der Übergang1 in die „Scientia infiniti" gewonnen ist. Den Algorithmus des „Conspectus Calculi" hatten wir schon in mehrfacher Hinsicht als besonders altertümlich hervorgehoben, ja er ist bis auf das Aequaliszeichen mit demjenigen der ersten Periode noch identisch. Die Abfassungszeit der Schrift muß daher in die ersten Hannoveraner Jahre, etwa in die Jahre 1677—1679 verlegt werden. Schwieriger ist die Entstehungszeit der „Initia Mathematica" zu bestimmen, der zweiten Grundlagenschrift der Jahre 1678 bis/ 1684. Auch diese, erstmals in D e f i n i t i o n e n f o r m abgefaßte Skizze hat Leibniz bei der Ausarbeitung der

„Conspectus C a l c u l i " , „Initia M a t h e m a t i c a "

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Mathesis universalis offensichtlich als Vorarbeit benutzt. D a in dieser Schrift der Nachdruck auf den Definitionen von Grundbegriffen der Quantität und deren Erläuterung liegt, kommt ein ausgedehnterer Algorithmus nicht in A n wendung. D a ß sie auf Grund des Aequaliszcichens und der Multiplikationsklammer in den Beginn der Achtziger jähre gehört, ist sicher. Sie dürfte etwas später als der Conspectus und die Redaktion der „Characteristica Geometrica" fallen. Aus letzterer übernimmt sie die Definitionen der Koinzidenz, Kongruenz, Ähnlichkeit und Gleichheit und die aus diesen abgeleiteten Axiome. Betrachtet man den Gesamtinhalt des Definitionensystems der „Initia", so erkennt man leicht, daß es sich um die Grundlegung einer Theorie der Q u a n t i t ä t u n d i h r e r R e l a t i o n e n handelt, also gerade die Kernprobleme einer Grundlegung der Mathematik, die er in der Vorrede zur „Mathesis universalis" als noch ungelöst bezeichnet. Sic erstreckt sich auf die K a t e g o r i e der Quantität im allgemeinen, weiter die engeren Kategorien von Größe und Maß und die R e l a tionen des Verhältnisses (ratio) und der Proportion im engeren Sinn (proportio). Nimmt man hinzu, daß der „Conspectus Calculi" — wie erwähnt — eine kurzgefaßte Theorie des Rechcnalgorithmus und der Rechenoperationen entwickelt, so sind in den beiden Arbeiten die Fundamcntaldisziplinen bestimmt, aus denen der Haupteil der „Mathesis universalis" von 1 6 9 5 zusammenwächst: eine Theorie der mathematischen Elementaroperationen und eine Theorie der mathematischen E l e m e n t a r g e g e n s t ä n d e . Beide ergänzen sich gegenseitig und sind einander genau in demselben Sinne zugeordnet wie die Theorie der allgemeinsten „Gegenstände für ein D e n k e n " oder Kategorien und die Theorie der logischen Elementarfunktionen (Operationen) in Leibnizens Projekt einer allgemeinsten Logik der Ordnungen. Man muß sich dieses streng systematischen Gedankenganges bemächtigt haben, um die mathematische Grundlegungsarbeit Leibnizens verstehen zu können. Die „Mathesis universalis" ist für Leibniz 27 Uulier, I.eibniz

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Studien: 4. Zur Datierung der mathematischen Manuskripte

derjenige Teil einer allgemeinsten Logik der Ordnungen, der sich mit den s p e z i f i s c h m a t h e m a t i s c h e n Kategorien befaßt. Sie entwickelt das System dieser Kategorien und das System der mathematischen Grundoperationen a l s eines Sonderfalls logischer O p e r a t i o n e n , Nur so wird der tiefe Sinn der einleitenden Sätze 1 — 8 verständlich, in denen er die Mathesis universalis als „scientia de q u a n t i t a t e i n U n i v e r s u m " und als „Logica Mathematica" zugleich bestimmt. W i r müssen es uns hier leider versagen, auf diese geistvollen Ausführungen, die das Programm Leibnizscher Analyse der Mathematik in nuce enthalten, näher einzugehen. — Weitere Fäden verbinden die „Mathesis universalis" nach rückwärts mit den beiden wichtigen Grundlagenschriften der „Nova Algebrae Promotio" und des „Specimen Geometriae luciferae". In beiden wird die entwickelte Methode der Grundlagenanalyse im besonderen auf die Algebra und Geometrie (im allgemeinen) angewandt. In ihrem kurzen Abriß der Entwicklung der neueren Algebra stützt sich die erstere Schrift — wie schon betont — ganz auf die breiteren Ausführungen von,,De o r t u ' M h r eigentliches systematisches Ziel ist jedoch die Darstellung des algebraischen „Stellenkalküls" — wie wir die von Leibniz erstmals im Jahre 1 6 7 8 auf einem Zettel angedeutete Methode nennen wollen. D o r t wendet sich Leibniz gegen die gewöhnliche Schreibung der algebraischen Koeffizienten durch Buchstaben und will sie durch ein feindurchdachtcs System von Zahlen ersetzen, welchc die S t e l l u n g des jeweiligen Koeffizienten in einer Kombinatorik der Koeffizienten jeweils sofort erkennen lassen. Die Idee dieses bekanntlich den Gedanken der D e terminantenrechnung allgemein vorwegnehmenden Kalküls hat Leibniz in der Arbeit ,,De condcndis Tabulis Mathemat i c i s " vom 5. Januar 1 6 9 4 näher entwickelt. . . Mit dem „Specimen Geometriae Luciferae" betreten wir in der Analyse erstmals das Gebiet der Lagegeometrie. Die mehrfach herangezogene „Characteristica Geometrica" von

Lagegeometrie

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1679 enthält in gedrängter Form alles, was Leibniz sich bis zu diesem Zeitpunkt auf dem Gebiet seiner neuen Lageanalysis erarbeitet hat — und es ist nicht wenig. Auszüge aus diesem Manuskript teilt er 1677 und 1678/79 in programmatischer Absicht dem Sekretär der mathematischen Klasse der Französischen Akademie, dem Abbé Gallois, mit. Und zwar entwickelt er im ersten Brief kurz den für ihn entscheidenden Begriff der Ä h n l i c h k e i t . Ähnlich ist, was sich nur mehr im unmittelbaren Gegenwartvergleich als größenunterschieden auffassen läßt. Im zweiten Brief bringt er die f ü r ihn so charakteristische Kritik der algebraische» Analysis: Sie setzt geometrische Lagebeziehungen v o r a u s , muß also erst durch eine grundlegende Analysis der geometrischen Lagebeziehungen systematisch unterbaut werden. Eine weitere Probe seiner Lagegeometrie, die lageanalytische Entwicklung einfacher geometrischer ö r t e r , sendet er 1679 an Huyghens, doch freilich ohne Verständnis für die Eigenart nnd vor 'allem Neuheit seiner Betrachtungsweise zu finden. Der Entwurf für Huyghens und derjenige für v. Bodenhausen vom Jahre 1698 gehen beide vom Begriff der K o n g r u e n z aus. Leibniz entwickelt die Kongruenzverhältnisse zwischen Punkten, leitet jedoch daraus einige wichtige S c h n i t t e ab. Daß die Analysis situs unmittelbar aus der allgemeinen Charakteristik sachlich und zeitlich herauswächst, lehrt eine Analyse der „Characteristica Geometrica" von 1679 eindeutig. Mehr denn zehnmal — schreibt Leibniz — hat er sich an die Aufgabe gemacht, die Idee der geometrischen Charakteristik von den ersten Anfängen an (ab primis initiis) systematisch zu entwickeln. Unter den verschiedenen an sich brauchbaren Lösungen hält er die nachfolgende für die einfachste, die denn auch tatsächlich die grundlegende Betrachtung bei Poncelct (1822), Möbius (1827) und v. Staudt (1847) darstellt, während Steiner (1832) wie Leibniz im späteren Entwurf] des Manuskripts „De analysi situs" beim Begriff der Ähnlichkeit einsetzt 27*

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Studien: 4. Zur Datierung der mathematischen Manuskripte

Leibnis beginnt beim Punkt als Element des Raumes, als dem Element, das bloß eine Lage hat, und führt zur Entwicklung der weiteren Grundgestalten den Begriff des W e g e s (via) als des „sukzessiven kontinuierlichen Ortes" (locus continuus successivus) ein. Der Weg des Punktes ist die Linie, der Weg der Linie die Ebene, der Weg der Ebene ist der Raum. Der Begriff des Weges deckt sich daher in allem wesentlichen mit Poncelets Begriff der „Erzeugung". Die erzeugte Linie nennt er „tractus", die Gerade ist ein Sonderfall des tractus, der „einfachste tractus". Für die so erhaltenen Gebilde wird der Algorithmus eingeführt, aus dessen Entwicklung wir oben auf die Abfassungszeit der Manuskripte zur Lageanalysis schließen konnten. (1—22). Das Ziel des Algorithmus ist, die Rechnung mit den neuen Zeichen unabhängig von der Anschauung zu machen, so daß sie sogar zu Raumerkenntnissen führe, die nicht mehr in einer Anschauung realisierbar sind (vgl. [49] und öfter). Zu diesem Zweck werden nunmehr als G e s e t z l i c h k e i t e n der Lageanordnung die Relationen der Kongruenz, Ähnlichkeit und Gleichheit eingeführt, mit deren Hilfe Leibniz eine Reihe geometrischer Örter ableitet. Erst spät erscheint der grundlegende Begriff des S c h n i t t e s zweier Elemente, und zwar als Schnitt zweier geometrischer Örter (100). Hier setzt der kurze Auszug an H u y g h e n s vom 8. September 1679 ein, der aus den geometrischen Örtern von Raum, Ebene, Gerade, Punkt, Kreis einfache Schnitte zwischen den Elementen b e w e i s t . Dabei führt Leibniz charakteristischer Weise den Begriff der B e w e g u n g e i n e s E l e m e n t e s (des Punktes, der Linie, der Ebene) ein, welcher den Begriff der P r o j e k t i o n vorwegnimmt, von dem Poncelet ausgeht. Erst spät erscheint der zweite grundlegende Begriff des S c h n i t t e s 1 . Daß Huyghens den Kerngedanken dieser Ausführungen nicht verstand, nimmt bei der äußerst gedrängten Darstellung Leibnizens kaum wunder. Daß sie aber offenkundig auch von G r a ß m a n n 5 1847 viel zu eng verstanden wurden, beweist dessen um-

Analysis der Lage und kategoriale Analyse

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ständlicher Nachweis, Leibnizens Begriff der Kongruenz reiche für kompliziertere Fälle nicht aus. Wie aus der „Characteristica Geometrica" klar hervorgeht, hat Leibniz die Begriffe der Erzeugung, der Projektion und sogar des Schnittes schon in dem Entwurf von 1679 gewonnen und in ihrer grundlegenden Bedeutung für die Lageanalyse erkannt. Schon in dem Brief an Huyghens stellt Leibniz seine neue Analyse scharf als Analysis der Lage der algebraischen bloßen Analyse der Größen gegenüber. Von dieser Unterscheidung gehen die folgenden Manuskripte aus, die aus Zeichenkriterien nicht datierbare kleine Abhandlung „De analysi situs" und der Entwurf f ü r v. Bodenhausen vom Jahre 1698. Erstere stellt den Begriff der Ähnlichkeit, letzterer wieder denjenigen der Kongruenz in den Vordergrund, „sepositis in alium locum s i m i l i t u d i n e et motu". Dieser „andere O r t " ist in gewisser Hinsicht das „Specimen Geometriae luciferae", das umfangreichste der Leibnizschen Manuskripte zur Geometrie, das wir auf Grund seines Lagealgorithmus v o r 1697, ziemlich gleichzeitig mit der „Mathesis universalis" ansetzen mußten. Doch liegt hierin kein Widerspruch, sondern nur ein Hinweis, daß Leibniz seinem Schüler die neue Geometrie in der geordneten Folge der Behandlung der Grundbegriffe „Kongruenz, Ähnlichkeit, Bewegung ( = Projektion!)" entwickeln wollte. Diese Entwicklung ist nämlich in der zitierten Grundlagenschrift eingehalten, welche an sich ein ganz anderes Ziel verfolgt als das einer Einführung in die Lagegeometrie. Das „Specimen" hat das Ganze der Geometrie zum Gegenstand. Es untersucht die Grundlagen der Geometrie nach derselben Methode e i n e r k a t e g o r i a l e n A n a l y s e wie die Mathesis universalis die Grundlagen der Arithmetik und Algebra — also der reinen Mathematik. Leibniz wendet darin dieselbe Methode an wie in den „Initia Mathematica" und der Mathesis, die wir am besten als k a t e g o r i a l e A n a l y s e der mathematischen und hier im besonderen der geometrischen G r u n d b e g r i f f e bezeichnen. Es handelt sich für Leibniz

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Studien: 4. Zur Datierung der mathematischen Manuskripte

gar nicht, wie für Euklid und dessen Nachfolger bis zu Hilbert, darum, die Geometrie auf ein System letzter Sätze zurückzuführen, die als A x i o m e dem ganzen Bau geometrischer Beweisführung zugrunde liegen — eine solche m a t e r i a l e , a x i o m a t i s c h e Grundlegung der Geometrie setzt er schon als geleistet voraus, ebenso den Nachweis der Widerspruchslosigkeit der Axiome untereinander. Aber schon in den Axiomen erscheint ein System letzter B e g r i f f e , die in ihnen zu Sätzen verbunden sind. Leibniz geht diese k a t e g o r i a l e n O r d n u n g s b e g r i f f e in systematischer Folge durch. Der größte Teil derselben ist gar nicht der Geometrie allein eigentümlich. Die Kategorien der Identität, der Bestimmung (determinatio), der Einordnung (inesse) treten in der Begriffslogik auf; Ähnlichkeit ist die Grundrelation der Qualität, Einheit-Mehrheit, GanzesTeil sind Grundkategorien der Quantität im allgemeinen. Spezifisch geometrisch sind nur die Kategorien der L a g e und der A u s d e h n u n g . . . IV Von der Rückkehr nach Hannover im Dezember 1676 an gewinnt das Bild der mathematisch-logischen Entwicklung Leibnizens durch die neuen Datierungen wesentlich an Einheitlichkeit. Das neuerliche Durchdenken der Problematik einer Mathesis universalis in unfreiwilligen Mußestunden auf dem Schiff, das durch widrige Winde länger an der Themsemündung festgehalten wurde, wirkt wie ein Signal. Mit ganzer K r a f t wirft sich Leibniz in den ersten Hannoveraner Jahren auf die Förderung des Problems, in der allgemeinen Logik wie in den mathematischen Einzelgcbieten. Denn das ist ja gerade charakteristisch, daß die allgemeine Problemstellung sich weitaus am fruchtbarsten in den Einzeldisziplinen bewährt und auswirkt. Und zwar gleichsam mit einem Schlage. So wird erst verständlich, daß die ersten, doch schon grundlegenden Konzeptionen der Analysis situs wie der Determinatenrechnung beide in den Sommer 1678 fallen. Ihre Problematik stammt eben aus derselben Wurzel,

Zweite Schicht der Mathesis-Arbeit: „Initia Mathematica"

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sie bedeuten nur Anwendungen der Einheitskombinatorik auf Geometrie und Algebra im Sinne der Kategorienlehre von 1666! Den Grundgedanken der Determinantenrechnung hält Leibniz auf einem flüchtigen Zettel fest, der das Datum „Junii 1678" trägt. Er scheint ihm mitten in der Arbeit an algebraischen Problemen gekommen zu sein. Das „berüchtigte Problem, die allgemeine Auflösung der Gleichungen zu finden" (Gerhardt), stand damals im Mittelpunkt seiner algebraischen Studien. Streng parallel mit der algebraischen Anwendung läuft der ebenfalls in der Kategorienlehre von 1666 schon vorgezeichnete Versuch, eine völlig neue Geometrie als Lagekombinatorik der Figuren zu schaffen. Wir wissen, wie Leibniz — immer mit dem Einfachsten beginnend — zunächst eine Reihe geometrischer Örter im Sinne einer Lagekombinatorik von Punkten interpretiert, wir wissen auch, wie wenig Verständnis sein Versuch bei Vertretern der alten klassischen Methode wie Huyghens gefunden hat! So liegt es auch durchaus im Zuge dieser ganzen Neuaufnahme des Problems der Mathesis universalis, daß Leibniz in einem eigenen Versuch über die Grundlagen der Mathematik — denn einen solchen stellen die „Initia Mathematica" dar — unmittelbar bei den kategorialen Bestimmungen des Prooemiums und der Definitionen seiner „Ars combinatoria" wieder einsetzt. Die „Initia Mathematica" stellen nur eine WeiteTführung der dort begonnenen kategorialen Einstellung der Mathematik dar. Gerade an dieser Schrift bewährt sich unsere Methode der Datierung eindeutig. Die Gerhardtsche Ausgabe stellt sie hinter die reife Spätschrift der „Initia rerum Mathematicarum Metaphysica" von 1714, gleichsam als eine rein mathematische Fortsetzung derselben. So bleibt natürlich unverständlich, warum sich dort manche Definitionen fast wörtlich wiederholen, die Schrift als Ganzes jedoch gegenüber der erstcren einen unfertigen, skizzenhaften Eindruck hinterläßt. Die Datierung zeigt, daß die Schrift zusammen mit dem „Conspectus Calculi" in die Periode der ersten systematischen Wiederaufnahme des

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Studien: 4. Zur Datierung der mathematischen Manuskripte

Mathesis universalis-Problems in (Hannover gehört und mit den erwähnten Arbeiten und Entwürfen zur Analysis situs und Determinantenrechnung eine geschlossene Einheit darstellt. Nun wird das Skizzenhafte und Unfertige der „Initia" gegenüber der Spätschrift nicht nur voll verständlich, vielmehr haben wir in der Schrift den Entwicklungsstand der mathematischen Grundlagenlehre Leibnizens um 1680 zu erblicken. Endlich gehören auch die Arbeit ,,De primitivis et divisoribus ex Tabula Combinatoria" und die Torso gebliebene, hochinteressante Studie „De ortu, progressu et natura Algebra«" in diese zweite Entwicklungsschicht der Mathesis universalis. Die erstere läßt den Zusammenhang mit der Kombinatorik von 1666 ja schon in der Überschrift erkennen. Die Kombinatorik wird darin auf das zahlentheorctische Kernproblem der Bestimmung der Primzahlen angewandt. Die Schrift „De ortu, progressu et natura Algebrae" ist die vollständigste und konsequenteste „Grundlegung der Algebra", die wtf von Leibniz haben. In knappen Umrissen wird sie, ausgehend von einem einfachen Zahlenbeispiel, der Quadratur der Zahl 12, als designative Wissenschaft von den unbestimmten Zahlen und damit von der Q u a n t i t ä t i m a l l g e m e i n e n eingeführt und der Mathesis universalis u n t e r g e o r d n e t . Daß Quantität und Zahl, „am Gegenstande betrachtet", dasselbe sei, hatte Leibniz schon in der „Ars combinatoria" behauptet und die tiefe Einsicht gezeigt, daß der Begriff der Quantität ohne Bezug auf die Kategorie von Ganzem und Teilen nicht bildbar ist. Wie später Dedekind 6 definiert er als „kleiner": was einem Teile des Ganzen gleich ist. Das Ganze ist diesem gegenüber „größer". Gegenüber den Definitionen von 1666 arbeitet Leibniz hier besonders scharf den Begriff der Maßzahl heraus, in bezug auf welchcn in der Quantität das Ganze und die Teile unterschieden werden. Diese ganzen Ausführungen sind klassisch und, wie der Vergleich mit Dedekind und Hilbert zeigt, heute noch in voller Geltung. Die Unterordnung der Algebra gegenüber der allgemeineren

Zweite Schicht: „De ortu, progressu et natura Algebrae"

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Mathesis universalis vollzieht Leibniz in dieser Schrift dahin, daß die Algebra nur die Quantitätsbeziehungen, die Mathesis universalis in der Teildisziplin der Kombinatorik aber auch die Qualitätsbeziehungen der A n o r d n u n g der Teile zum Gegenstand hat, so daß die Mathesis universalis sich in die einander nebengeordneten Disziplinen der qualitativen Kombinatorik und der quantitativen Logistik oder Algebra gliedert. Diese Aufteilung des Begriffs „Mathesis universalis" ist die klarste, die Leibniz gegeben hat; auf sie bezieht er sich auch in späteren Schriften andeutend immer wieder zurück. Die dritte Schicht mathematischer Grundlagenbetrachtung setzt — wie die Vorgeschichte der Mathesis universalis erweist—• nach der italienischen Reise, etwa um 1691, ein. Da beschäftigt er sich, durch Huyghens und den Marquis de l'Hospital gleichermaßen angeregt, nochmals mit dem Plan einer systematischen Grundlagendarstellung der Scientia infiniti. Er greift — wie wir nachwiesen — systematisch auf die früheren Arbeiten der Achtziger] ahre zurück und gestaltet aus dem Conspectus Calculi' und den Initia Mathematica den ersten und eigentlichen Hauptteil der Mathesis universalis, gegenüber dem nun der zweite Teil der Scientia infiniti wieder ganz zurücktritt. Im Manuskript ,,De condendis Tabulis Algebraicis" nimmt er eine Lieblingsidee der ersten Hannoveraner Zeit wieder auf und führt die Theorie seines Stellenkalküls erstmals bis zur Division durch. Sehr viel später — wohl erst um 1700 — verknüpft er in seiner neuen Darstellung der Algebra, der ,,Nova Algebrae Promotio" — das Problem des Stellenkalküls mit einer abgekürzten systematisch-historischen Darstellung der Algebra aus ,,De ortu" zur Skizzierung einer kombinatorischen Algebra, welche die wichtigsten Ideen der Determinantenrcchnung enthält und vor allem die Methode der Elimination der Determinanten von linearen Gleichungssystemen schon auf höhere rationale, ganze und gebrochene Funktionen überträgt — ein in der Folgezeit nirgends ausgenutzter Gedanke. —

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Studien: 4. Zur Datierung der mathematischen Manuskripte

Es erübrigt noch, die nicht aus Zeichenkriterien datierbaren Manuskripte! sachlich in dein verwickelten Entwicklungsgang der Leibnizschen Grundlagenforschung einzubauen. In erster Linie kommen hier die beiden Vorreden „Praefatio Clavis Mathematicae arcanae" und „Inventoriuni Mathematicum" in Frage, die den siebten Band der Gerhardtschen Sammlung eröffnen und — wie einleitend e r w ä h n t — d o r t unmittelbar vor den reifen „Initia rerum mathematicarum metaphysica" sich wunderlich genug ausnehmen. Die erstere Praefatio zeichnet •—• wie wir jetzt leicht erkennen — noch ganz das Bildi von Mathematik als Ganzem, wie es sich Leibniz v o r 1 6 7 8 machte. Im Sinne des Hobbesschen Wissenschaftsideals geht die Einleitung vom Nutzen der Mathematik f ü r die Beherrschung der Natur und damit des Lebens aus. Jede mathematische Teildisziplin soll in der „Clavis" so plastisch in ihrem Begründungszusammenhang zur D a r stellung gelangen, daß jeder Einzelschritt verständlich, daß ein Selbststudium ermöglicht wird. Doch der einleitende abgrenzende Überblick über die einzelnen Disziplinen ist noch lange nicht das klar durchdachte System, dem wir nach 1680 in „De ortu" und in ausgereiftester Form in der Mathesis universalis begegnen. Leibniz benutzt in der Hauptsache in der Literatur vorhandene unzureichende Begriffsbestimmungen. Der „Logistik" als einer Lehre von den verschiedenen Rechnungs a r t e n folgt das Rechnen mit bestimmten und unbestimmten Zahlen, hier als „Algorithmus" und „Algebra" unterschieden. Als vierte Disziplin wird die „Arithmetica Diophantica", die Methode der diophantischen Gleichungen mit unterbestimmten Unbekannten, eingeführt. Wie Leibniz über die Methode schon 1678 denkt, lehrt wieder der erwähnte Brief an Gallois vom Dezember des Jahres, wo er sie als gänzlich unnütz ablehnt. Unausgereift sind auch die weiteren Einteilungen. Als fünfter Teil schiebt sich in die Disziplinen plötzlich die Idee einer „Tabula Analyticarum mirificarum", Keim der algebraischen Tabellenprobleme, denen wir im Briefwechsel mit Gallois 1678 und später in gereifter Form

Datierung ohne Zeichenkriterien

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in „De condendis Tabulis" vom 5. Januar 1694 begegnen. Es ist immer dasselbe Bild: Frühe kühn konzipierte Ideen werden jahrzehntelang herumgetragen, bis sie allmählich in gereifter, geklärter Form wieder bearbeitet werden. Der sechste, „Algebra transcendentium" betitelte Teil ermöglicht eine Begrenzung des Manuskripts nach unten, da die Bezeichnung und Idee der „transzendenten Gleichungen unbestimmten Grades" erst im1 Briefwechsel mit Oldenbourg 1674 auftritt.

NACHWORT DES HERAUSGEBERS ,,Habent sua fata libelli" — ein jedes Buch hat seine Geschichte, aber für dieses hier gilt der Vergilische Vers schon in besonderem Maß. Zu Ende der Dreißigerjahre begannen sich die philosophiegeschichtlichen Studien Kurt Hubers immer mehr um Leibniz zu konzentrieren — kein Wunder, da er, der Psychologe, Volksliedforscher, Musikwissenschaftler, Wissenschaftstheoretiker und Philosophiegeschichtier an Vielseitigkeit des Forschens und Richtung des Geistes diesem Universalisten unter den deutschen Philosophen von sich aus nahe stand. Seine vierstündige Leibnizvorlesung war einer der Anziehungspunkte der Münchner philosophischen Fakultät und so kam es, daß im Winter 1941/42 Kläre Buchmann, die Neubegründerin des Cotta-Verlags, auf der Suche nach einem Autor für den Leibnizband ihrer geplanten Reihe „Die Denker Europas" auf Kurt Huber verfiel. Die Auswahl war ja nicht groß. Es war kein Zufall, daß sich an Leibniz nach seinem ersten Biographen, Guhrauer (1842), nie mehr ein zweiter wagte, und dies trotz der Leibniz-Renaissance, die um die Jahrhundertwende eingesetzt hatte. (Die den verschiedenen LeibnizWürdigungen vorausgeschickten, voneinander abhängigen Lebensskizzen kann man wohl ebensowenig Biographen nennen wie die unter einem engen Blickwinkel getroffenen Würdigungen selbst Systemdarstellungen,) In dem Kapitel ,,Der Leibnizforscher" des Gedächtnisbuches für Kurt Huber, das Frau Clara Huber 1947 herausgab, habe ich die dramatische Geschichte dieses Leibnizmanuskripts genauer beschrieben und auch eine Charakteristik versucht, für die hier nicht der Ort wäre. Um es kurz zusammenzufassen, Kurt Huber sagte zu und schrieb gleich 1942 die ersten drei Kapitel: Jugend und Studium, Mainz, Paris. Es war eine mühevolle, nicht durchaus angenehme Arbeit für ihn, bei der ersten Gelegenheit zur zusammenfassenden Äußerung über diesen seinen Hauptgegenstand die Fülle des neu gesehenen Stoffes, der originellen Ergebnisse gleich in den engen Rahmen einer „kurzen Biographie für weitere gebildete

Nachwort

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K r e i s e " zu pressen. Er schrieb und schrieb, er strich und strich, bis einige Aussicht war, mit zehn Bogen f ü r s Ganze zurechtzukommen. Im Winter 1942 auf 43 stockte die Arbeit und alle Mahnungen der Herausgeberin, die ich als ihr Außenposten meinem Professor weiterzugeben hatte, blieben ohne Erfolg. Die außenpolitische Verdüsterung, das Eintreffen des prophezeiten Verhängnisses begann ihn, den Patrioten, in der Seele zu lähmen. ,,Ich kann nicht arbeiten, ich bin k r a n k " , sagte er gequält, als nach der Katastrophe von Stalingrad das Semester wieder begann. Am Samstag, den 27. Februar 1943, neun Tage nach dem Abwurf der Flugblätter durch die Geschwister Scholl und vier Tage nach deren Hinrichtung, wurde Kurt Huber verhaftet. Am Vortag hatte er noch voll Interesse und Eifer mit Kläre Buchmann verhandelt, die eigens dazu nach München gekommen war. — E s folgten der Aufenthalt im Gestapogefängnis im Wittelsbacherpalais, Verhöre, am 19. April die Verhandlung vor dem Volksgerichtshof und — zum Geburtstag des Führers — das Todesurteil. Kurt Huber war aber nicht, wie man nach der Pressenotiz glauben mußte, schon hingerichtet; er lebte im Gefängnis Stadelheim. Bis zuletzt beschäftigten ihn dort seine Arbeiten, vor allem das Leibnizbuch. Eine Eingabe des Verlags Cotta erreichte, daß ihm das Schreiben erlaubt wurde und seine Frau Büchcr ins Gefängnis schicken durfte. Hier, in Erwartung der Hinrichtung, gelang es ihm noch, die größten Lücken zu schließen — bezeichnenderweise nicht solche der Lebensgeschichtc, sondern der Systemdarstcllung. Er schrieb hier noch die Darstellungen der Reifemetaphysik der „Metaphysischen Abhandlung" (S. 1 7 9 — 1 9 2 ) , der Spätmetaphysik (S. 2 5 1 — 2 5 6 ) , der Psychologie der „Nouveaux E s s a i s " (S. 2 3 9 — 2 4 4 ) und der Lagegeometrie und späten Physik (S. 1 9 9 — 2 1 7 ) . Die drängende Zeit hatte ihn rascheste Zusammenfassung gelehrt — diese Abschnitte sind mit die besten des Buches. Am 13. Juli machte der Hinrichtungsbei'ehl allen neuerlichen Begnadigungshoffnungen ein Ende.

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Nachwort

Drei Kapitel lagen fertig beim Verlag. Von den zwei ausstehenden, der früheren und späteren Hannoveraner Zeit, oder dreien, wenn man ein Schlußkapitel über Deutung und Weiterwirkung dazurechnete, waren große Streckein, ja fast alles Wesentliche, in vielen kleinen und größeren, zum Teil aneinander anschließenden, zum Teil einzelnstehenden, aber auch einander überschneidenden, ja parallellaufenden Fragmenten vorhanden. Es fehlten noch Stücke vor allem des f ü n f ten Kapitels, der späteren Hannoveraner Zeit, und es fehlte der Guß des Ganzen, der den Zusammenhang vollenden und zugleich diesen Teil im Maßstab der fertigen drei Kapitel zusammendrängen sollte. Die Fragmente, fast alle maschinengeschrieben, hatten einen Umfang von einer bis etwa zwölf Seiten im Format Din A 5; die im Gefängnis entstandenen, handgeschriebenen waren fast die längsten. Zu Themen wie dem Komplex der Leibnizschen Logik, Kombinatorik und Enzyklopädie-Arbeit, der Kurt Huber besonders wichtig war und ein Hauptmotiv dieser Systemgeschichte bilden sollte, lagen vielfach drei und mehr Parallelfassungen vor. Es gab nun zwei Möglichkeiten: entweder aus diesen Stücken durch energische Eingriffe, durch Kürzung und Kompilierung einen durchgehenden, maßstäblich einigermaßen zum fertigen Teil passenden Text herzustellen — womöglich noch mit überbrückenden Zwischentexten, oder, auf alle wirklichen Operationen verzichtend, nur durch geschickte Zusammenfügung der intakten Fragmente — höchstens mit schonender Abtrennung „doppelter Ränder" — und sorgfältige Auswahl der jeweils besten von mehreren Fassungen ein bedeutend breiteres, aber verhältnismäßig authentisches Schlußstück herzustellen. Wir entschieden uns für das letztere, nicht so sehr aus persönlicher, als aus sachlicher Pietät, und hoffen, daß der Leser bereit ist, auf eine künstliche Geschlossenheit zu verzichten und daß er lieber die gewisse Heterogenität der beiden Teile und den stockenden, sich manchmal wiederholenden Fortgang des zweiten in Kauf nimmt als die ständige Ungewißheit, ob der Satz, die Seite, die er liest, auch wirklich in

Nachwort

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dieser Form von Kurt Huber stammt oder vom Herausgeber zusammengeflickt ist. Die Auswahl der jeweils besten Fassung erwies sich als merkwürdig schwierig. Was Kurt Huber von Leibnizens Arbeitsweise schreibt (im 6. Kap. etwa S. 270!), das gilt ebenso von der seinigen: Nicht immer ist die letzte Fassung die beste, manchmal ist eine sichtlich frühere reifer, meistens aber läßt sich überhaupt keine beste herausfinden, da jede Fassung das Thema von einem etwas anderen Gesichtspunkt aus angeht und so jede etwas für sich hat. Hier mußte natürlich schon manchmal getrennt und zusammengefügt werden — a b e r auch dies nur selten und dann nur abschnitt-, nicht, satzweise. — Auf Zwischentexte glaubte ich verzichten zu können, zumal das System fast vollständig dargestellt ist und von der Lebensgeschichte nur einige ohnehin wenig ergiebige Strecken aus Leibnizens Alter fehlen. Der Leser hat also im großen die Kurt Huber vorschwebende zusammenhängende Fassung der letzten drei Kapitel v o r der Kürzung (die zugleich eine Einschränkung der rein fachlichen Stücke bedeutet hätte) vor sich. Ich habe mir, um des flüssigeren Fortgangs willen, die eine Freiheit genommen, die Fragmente nur dann als solche zu kennzeichnen, wenn der Gedankenfaden abbrach und nicht im folgenden wieder aufgenommen wurde, im anderen Fall aber ohne Durchschuß weiterzufahren. Eine besonders empfindliche Lücke, die an der Stelle des Leibniz-Wolffschen Systems — empfindlich darum, weil Kurt Huber Wert darauf legte — , habe ich durch das betreffende Stück meiner Nachschrift seiner Leibnizvorlesung ausgefüllt. Das ziemlich starke Abweichen dieser Stelle vom Stil des Übrigen erklärt sich also als Unterschied zwischen sorgfältig gefeiltem Manuskript und frei vorgetragener lebhafter Rede. Hier habe ich ausnahmsweise auch die Skizze Hubers zu dem geplanten Stück der Biographie in Anmerkung beigegeben. Die Biographie auf den Literaturstand von 1 9 4 7 — d e m Jahr des Satzes —, 1949 — dem Jahr der Umbruchkorrektur — oder 1951 — dem Jahr des Druckes, so Gott will — zu bringen, hätte wohl wenig Sinn gehabt. Die Anmerkungen zu

432

Nachwort

den unfertigen Kapiteln habe ich, soweit nötig, ergänzt; die ganz von mir stammenden sind durch Kursivdruck gekennzeichnet Kurt Huber, der sogar in seinen wissenschaftlichen Veröffentlichungen, um so mehr in den gemeinverständlichen seinen Ehrgeiz nicht in der Betonung, sondern vielmehr in der Beseitigung der Arbeitsspuren sah, wollte hier ganz ohne Anmerkungen auskommen. So haben die ersten Kapitel fast keine, und die verhältnismäßig wenigen und ungleich verteilten Anmerkungen der letzten sind nichts als stehengebliebene Stücke vom Baugerüst. Soweit zur Biographie. Für die ihm an sich sehr gut liegende, hier aber doch etwas erzwungene Kürze und Gemeinverständlichkeit der Systemdarstellung hatte sich Kurt Huber dadurch schadlos gehalten, daß er nebenher abgerundete, eingehende Kapitel zu einem zweiten Band „Das System" niederschrieb. Wie und wo dieser zweite Band erscheinen sollte, war noch dahingestellt. Außerdem waren noch drei große Stücke vorhanden: ein fertiger umfangreicher Artikel für eine Fachzeitschrift ,,Leibniz und wir", ein schon (vor breiterem Publikum) gehaltener Vortrag „Leibniz als Deutscher und Europäer" und eine ausgesprochen textkritische Untersuchung „Zur Datierung der mathematischen Schriften in Leibnizens Nachlaß". Wir planten ursprünglich, die Biographie allein zu veröffentlichen und aus diesen Stücken einen II. Band zu machen. Doch schließlich überzeugte uns der Verlag davon, daß sie in einem II. Band verloren wären, andererseits aber der ohnehin schon mehr zum Fachbuch gewordenen Biographie nicht schadcn könnten. Sie sind nun als Anhang beigefügt. Die Hauptsache war, diese wichtigen, wenn auch etwas heterogenen Stücke zu sammeln und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Es bleibt nur noch, dem Verlag zu danken, der sich trotz allen Schwierigkeiten unbeirrbar zu diesem Objekt bekannt hat und es jetzt unter Opfern verwirklicht, aber auch der Subskribenten nicht zu vergessen, die sich in unerwarteter Anzahl eingefunden haben, um dem Verlag die Basis für diese Verwirklichung zu geben. Am 21. April 1951

Inge Köck

ANMERKUNGEN Die kursiv gesetzten Anmerkungen stammen vom Herausgeber I. K a p i t e l :

Jugend-

und

Studienjahre

1646 —1667

Steuereinnehmer. II. K a p i t e l : M a i n z 1 6 6 7 — 1 6 7 2 P a u l R i t t e r , G. W. Leibniz, Sämtliche Schriften und Briefe. Hg. von der P r e u ß i s c h e n A k a d . d. W i s s . in Berlin. Bd. I, Polit.-hist. Briefwechsel. P a u l R i t t e r , Leibniz' Ägyptischer Plan, Leibnizarchiv Bd. I, D a r m stadt 1930, S. 146 u. ö. Die philosophischen Schriften von G. W. Leibniz, hg. von C. J. G e r h a r d t , Berlin 1875—1890, I. Bd., S. 167 f. III. K a p i t e l : P a r i s 1 672 — 1 6 7 6 Cat. crit. 575. Akademie-Ausgabe Briefwechsel I, . . . L o u i s C o u t u r a t , Opuscules et fragments inédits de Leibniz, Paris 1903, S. 93 ff. Leibnizens mathematische Schriften, hg. von C. J. G e r h a r d t , Berlin, später Halle 1849 ff., II. Bd., 189 ff. L o u i s D a v i l l é , Le séjour de Leibniz á Paris (Arch. f. Gesch. d. Philos., Bd. 32—35, 1920/23), S. 326. Math. Sehr. I, 119. Phil. Sehr. VII, 261 f.; vgl. u. S. 178. Math. Sehr. II, 179. Phil. Sehr. I, 139 ff. Das Kapitel ist sachlich vollständig, es fehlen nur einige abschließende Sätze. Die folgenden Kapitel IV mit VI sind vom Herausgeber aus Fragmenten zusammengesetzt, die aber nur dort, wo sie sich nicht bruchlos aneinanderfügen, durch Durchschuß als solche gekennzeichnet sind. IV. K a p i t e l : H a n n o v e r 1 6 7 6 — 1 6 8 9 G. E. G u h r a u e r , Kurmainz 1672, II, 66. Weiteres zum Thema Souveränität s. S. 314. Couturat, Opuscules 222 ff. ebd. 164. Phil. Sehr. VII, 9 8 8 ; Couturat, Opuscules 217 ff., 511 ff. Couturat, Opuscules 277 ff. H u b e r , Leibniz

434

Anmerkungen

7

H e i n z L. M a t z a t , Untersuchungen über die metaphysischen Grundlagen der Leibnizschen Zeichenkunst, Berlin 1938. e Phil. Sehr. VII, Nr. I—VI. " Ab „Er denkt" im Ms. durchstrichen. 10 Vergleich zwischen Logik und Mathematik, Mathesis universalis, J^iath. Sehr. VII, 54. 11

Math. Sehr. VII, 203 ff. Math. Sehr. VII, 260 ff. 13 s. o. S. 105. 14 H e r m a n n G r a ß m a n n (d. Ä.), Ausdehnungslehre, 1844. Weiteres über die Leibnizsche Lagegeometrie s. u. S. 199, S. 419 ff. 15 Phil. Sdir. VII, Nr 19 und 20. " Phil. Sehr. VII, 190 ff. 17 Das Stück von „Wir können" bis hierher ist im Ms. durdtstrichen. 18 Phil. Sehr. IV, 422 ff. 19 Die Werke von Leibniz. Erste Reihe : Historisch-politische und staatswissenschaftliche Schriften. Hg. von O n n o K l o p p , Hannover 1844ff., V, 498. 20 ebd. V, 525—634. 21 vgl. Phil. Sehr. II, 246 f. 22 Metaphysische Abhandlung cap. 19, Phil. Sehr. IV. 23 Math. Sehr. II, 17 ff.; Br. IV; vgl. Vorrede S. 4 f. 24 undatiert; Math. Sehr. I, 31. 2 » Math. Sehr. I, 35. 26 Math. Sehr. II, 5 Anm. 27 G e o r g J o o s , Theoretische Physik, 2. Aufl. 1935, S. 208; s. dazu auch o. S. 177. 12

V. K a p i t e l : H a n n o v e r 1 6 9 0 — 1 7 1 6 1 2 3 4 5 0 7 8

s. o. S. 175 ff. A. 924. Dort auch Bezug auf Tacitus! M i c h a e l S c h m a u s , Katholische Dogmatik III, 1, 296. Prinzipien der Natur und der Gnade § 4; Monadologie § 61—77. Monadol. § 14—28. Monadol. § 38—48. Monadol. § 47. Metaph. Abh. cap. 85, Phil. Sehr. IV.

VI. K a p i t e l : P e r s ö n l i c h k e i t — D e u t u n g — 1 2 3

4

Weiterwirkung

W i l h e l m D i l t h e y , Gesammelte Schriften VII, 268. ebd. VII, 249. B e n n o E r d m a n n , Orientierende Bemerkungen über die Quellen von Leibnizens Philosophie. Sitzungsber. d. Berliner Akad. d. Wiss. 1917, S 658. C. G. L u d o v i c i , Entwurf einer vollständigen Historie der Leibnizschen Philosophie, 2 Teile. Leipzig 1737.

Anmerkungen

435

6

K u n o F i s c h e r , Geschichte der neueren Philosophie, III.: G. W. Leibniz. Leben, Werke und Lehre, 5. Aufl. Heidelberg 1920. 6 A. T r e n d e l e n b u r g , Leibniz' Entwurf der universalen Charakteristik, Abh. d. Berliner Akad. d. Wiss. 1856. Derselbe: Über die Elemente der Definition in Leibnizens Philosophie, Monatsberichte der Berliner Akad. d. Wiss. 1860, 374 ff. Derselbe: Das Verhältnis des Allgemeinen und Besonderen bei Leibniz und sein Naturrecht. Monatsberichte der Berliner Akad. d. Wiss. 1848, S. 291 ff. 7 B e r t r a n d R u s s e l l , A critical exposition of the philosophy of Leibniz, Cambridge 1900. a L o u i s C o u t u r a t , La logique de Leibniz d'après des documents inédits, Paris 1901. " E r n s t C a s s i r c r , Leibniz' System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen, Marburg 1902. 111 G e r h a r d S t a m m l e r , Leibniz, Geschichte der Philosophie in Einzeldarstellungen, München 1930, S. 145. 11 Das folgende Stück bis S. 292 oben hat der Herausgeber seiner Nachentommen, da in der Bioschrift von Kurt Hubers Leibnizvorlesung graphie das Stück „Leibniz-Wolff" fehlte. Daher erklärt sich der Unterschied im Stil. Als Vorarbeit zu diesem Stück der Biographie ist nur die folgende Skizze zu Wolff s Einteilung der Wissenschaften vorhanden: W o l f i s E i n t e i l u n g d e r W i s s e n s c h a f t e n enthält den Rahmen, innerhalb dessen sich die Kantische Entwicklung abspielt und liegt deren Darstellung fortlaufend zugrunde. 1. Leibniz-Wolff beginnt mit einer L o g i k a l s W i s s e n s c h a f t s l e h r e . Sie liegt seit der Ars combinatoria vom Jahre 1666 Leibnizens ganzem System zugrunde. Aber bei Wolff wird sie als f o r m a l e P r o pädeutik aller Wissenschaft von G e g e n s t ä n d e n voranges t e l l t . Dabei ist auf beide Bestimmungen zu achten. Sie kehren in Kants Kritik der reinen Vernunft, am schärfsten in der Vorrede der zweiten Auflage (1791), also im Reifezustand des voll entwickelten Systems wieder. „In ihr hat es der Verstand — unter Abstraktion von allen Objekten der Erkenntnis und ihren Unterschieden — mit nichts weiter als s i c h s e l b s t u n d s e i n e r F o r m zu tun; . . . daher jene (die Logik) auch als Propädeutik gleichsam nur den Vorhof der Wissenschaften ausmacht." 2. O n t o l o g i e ist bei Wolff allgemeine, apriorische G e g e n s t a n d s l e h r e , Lehre vom M ö g l i c h e n , wie und warum es möglich ist. Die Definition der Philosophie als Lehre vom Möglichen ist Bezeichnung des Ganzen aus einem Teil, sofernc auch das Wirkliche möglich ist. Faktisch setzt auch Kants Kritik an dieser Gegenstandslehre ein. Sie verwandelt jedoch die Lehre vom m ö g l i c h e n S c i n s g e g e n s t a n d (im ontologi-8 a

436

Anmerkungen

sehen Sinne) in eine k r i t i s c h e Analyse des m ö g l i c h e n G e g e n s t a n d s einer E r k e n n t n i s (im erkenntnistheoretischen Sinn). Die Frage ist nicht: Was ist? sondern: Was kann Gegenstand einer Erkenntnis werden? a) Audi Wolfis Ontologie als reine Lehre von S e i n s e i g e n s c h a f t e n ist eine a p r i o r i s c h e , freie Wissenschaft.

den allgemeinsten d. h. erfahrungs-

b) Ontologie wird bei K a n t Transzendentale Logik 1. Abt. Transzendentale Analytik, 2. Abt. Transzendentale Dialektik, in umgekehrter Reihenfolge. Dadurch wird der tiefere Sinn der ganzen Architektonik der Kritik der reinen Vernunft bis zur transzendentalen Methodenlehre klar Was als b e s t e h e n d bei Wolff g e s e t z t ist, wird als , , P r o b 1 e m der M ö g l i c h k e i t der apriorischen Wissenschaft" nach t r a n s z e n d e n t a l e r Methode abgehandelt. Die „transzendentale" Methode ist nichts anderes als die Untersuchung der Möglichkeit eines ,,Gegenstands apriorischer Erkenntnis". So weit geht die Kritik der ,,reinen" oder t h e o r e t i s c h e n V e r n u n f t . 3 Scheidung der apriorischen Wissenschaften in t h e o r e t i s c h e und p r a k t i s c h e , siehe L e i b n i z und K a n t Kr d. r V 2 A. S. 8 „Erkenntnis kann auf zweierlei Art auf ihren Gegenstand apriorisch bezogen werden, entweder diesen und seinen Begriff (der anderweitig gegeben werden muß!) bloß zu b e s t i m m e n , oder ihn aiuch w i r k l i c h zu machen. Die erste ist theoretische, die andere praktische Erkenntnis der Vernunft. Von beiden muß der r e i n e Teil .., darin Vernunft gänzlich apriori ihr Objekt bestimmt, vorher allein vorgetragen werden." Daran schließt Kants Kr. d. r. V die Frage nach „Wissenschaftlichkeit" der Mathematik, der apriorischen Physik, endlich der M e t h a p h y s i k . 4 Theoretische Wissenschaften nach Wolff Gegenstände apriorischer Erkenntnis 1 Theologie rationale Offenb theol apriori aposteriori \ (Ideal d. r V ) 12

Gott — Natur — Mensch, daher

2 Kosmologie rationale apriori

empirische aposter

(Antinomien d. r V )

3 Psychologie rationale empirische apriori aposter \ (Paralogismen d. r V )

Wirkung Leibnizens auf das 19 Jahrhundert J o a c h i m W a c h , D a s Verstehen. Grundzüge einer Geschichte der hermeneutischen Theorie im 19 Jahrhundert, 3 Bde , Tübingen 1926 Bd. I, Die großen Systeme. F r . A s t , Grundriß der Philologie, 1808. Derselbe Grundlinien der Grammatik, Hermeneutik und Kritik. 1808. F r i e d r i c h S c h l e i e r m a c h e r , Akademiereden über Hermeneutik, Gesammelte Werke III. A b t , 3 Bd , S 344 ff

437

Anmerkungen

13 14 15 16

17

Derselbe: Systematische Hermeneutik, Gesammelte Werke, I. Abt., 7. Bd. A u g u s t B o e c k h , Enzyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften, 1. Aufl. 1877, 2. Aufl. 1886 (gesdirieben 1809!). Derselbe: Kleine Schriften, besonders: Über das Verhältnis von Schellings Philosophie zu Philosophemen Leibnizens, Kl. Sehr. I, 439 ff. W i l h e l m v o n H u m b o l d t , Gesammelte Werke, hg. von der Berliner Akad. d. Wiss. 1903 ff., besonders: Über das Studium des Altertums (1793), Ges. Werke I, 255 ff. Die Bildung des Menschen, Ges. Werke II, 282 ff. Plan einer vergleichenden Anthropologie, Ges. Werke I, 377 ff. Charakteristik Pindars, Ges. Werke II, 1—113. Uber die Aufgabe des Geschichtsschreibers, Ges. Werke IV, 35-57. Uber die Grundzüge des allgemeinen Sprachtypus (1824), VIII, 364—475. Über die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues (1827/ 29), Ges. Werke VI, 341—403 und VII, 1—344. Kleine Schriften I, 216 ff. ebd. I, 439 ff. Enzyklopädie und Methodologie, S. 8. Hegels philosophisches Schrifttum vor Abfassung der Phänomenologie des Geistes (1806) kommt f ü r die Entwicklung der historischen Schule schon darum nicht in Betracht, weil die hierhergehörigen Frühschriften Manuskript geblieben sind und in die Entwicklung nicht eingreifen können. Die hermeneutischen Theorien von Ast und Schleiermacher, zum größten Teil auch von Humboldt sind von Hegel unabhängig. Erst bei Boeckh läßt sich auch die Einwirkung Hegels deutlich nachweisen. H e r m a n n N o h l , Hegel, theol, Jugendschriften. Anhang Leibniz der D e u t s c h e und

1

Europäer

Diesen Vortrag hat Kurt Huber im November 1942 in det , München vor einem breiteten Publikum gehalten. Leibniz und

Universität

wir

Dieser 1938/39 geschriebene Aufsatz wurde erstmals in Zs. f. philos. Forschung, hg. von G. Schischkoff, I. Jg. 1945/46, Heft 1, veröffentlicht. ' I.essing trug sich noch in seinen letzten Lebensjahren mit dem Plan, eine allgemeinverständliche Darstellung von Leibnizens Philosophie zu geben. Die kurzen Notizen über Leibniz (Leibnizisterei ; Chronologisches aus Leibnizens Leben; Einige Auszüge aus Leibnizens Leben; Leibniz von den ewigen Strafen), die aus I.essings Nachlaß erstmals 28a»

438

Anmerkungen

von Karl Lessing in dessen Gesamtausgabe (2. Tejí und 4. Teil) 1795 veröffentlicht worden sind, stellen nur erste Vorarbeiten hiezu dar. Den frühen und nachhaltigen Einfluß Leibnizens auf Lessing bezeugen dessen frühe theologische Schriften „Das Christentum der reinen Vernunft" und „Über die Entstehung der geoffenbarten Religion", Fragmente von 1753 und 1755, deren erstes vollkommen auf der Gedankenwelt der Monadologie von 1714 ruht. 2

Vgl. Herders in manchen Punkten meisterhafte Darstellung Leibnizens in der „Adrastea" 1801 (Ges. Werke, herausgeg. v. D ü n t z e r , Bd. XIV, S. 398—412) und kürzer in den „Briefen zur Beförderung der Humanität" von 1793, Brief 60-62 (WW. XIII, S. 286 ff.). In eigenartiger und selbständiger Weise setzt sich der junge Herder in der Abhandlung „Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele" 1778 (WW. XVn, S. 165 ff.) mit Leibnizens Psychologie auseinander, ohne sich freilich des überragenden Einflusses Leibnizens auf seine eigene Denkweise ganz bewußt zu werden. Vgl. K. H u b e r , Die philosophischen Grundlagen von Herders Musikästhetik (Archiv für Musikforschung, 3. Jg., 1938, Heft 2), wo der bestimmende Einfluß Leibnizens auf die Ästhetik der „Kritischen Wälder", besonders des Vierten Wäldchens nachgewiesen ist.

3

Zur naturwissenschaftlichen Interpretation des Leibnizschen Systems vgl. besonders W. W u n d t , Leibniz 1917, und E. C a s s i r e r , Leibniz' System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen, Marburg 1902.

4

Vgl. C. J. G e r h a r d t s feinsinnige Einleitungen zur Herausgabe von Leibnizens Mathematischen Schriften, Bd. 1—7, L. 1850—1863. — Hermann G r a ß m a n n d. Ä., Ausdehnungslehre, 1. Aufl.. 1844 u. ö.

5

W . H a m i l t o n , Lectures on Quaternions, London 1842 — Bertrand R ü s s e l , A critical exposition of the philosophy of Leibniz, Cambridge 1900. — Sehr wichtig hingegen W. W u n d t , Leibniz. 6 Philosophische Schriften, herausgeg. v. C. J. G e r h a r d t , Bd. 1—7, 1875—90, Band 4, S. 27 ff. 7

8

Vgl. Math. Sehr. 7, S. 9 ff., 203 ff. u. ö. — Phil Sehr. Bd. 7, Scientia generalis. — Hiezu vgl. L. C o u t u r a t , Opuscules et fragments ínédits de Leibniz, Paris 1903, und L. C o u t u r a t , La logique de Leibniz, Paris 1901. Zur Infinitesimalrechnung vgl. Math. Sehr. Bd. 5 (ganz) und 7, S. 69 ff. — Zur Analysis situs vgl. Math. Sehr. 2, S. 20 ff., 29 ff. (Briefwechsel mit H u y g h e n s ) , Bd. 7, S. 69ff. (Mathesis universalis), 260ff., 316ff. — Zur Determinantenrechnung: Math. Sehr. 7, 59 ff u. ö.

9

Zur Einordnung der Algebra unter die Kombinatorik und dieser unter die allgemeine Logik vgl. Math. Sehr. 7, S. 61,203 f. (Math, universalis), bes. 260 ff. („De ortu, progressu et natura algebrae . . .' ) u. ö.

10

Vgl. Hermann Graßmann d. Ä., Ausdehnungslehre 1844. I,. G a l l o v s , Oeuvres complets . . .

Anmerkungen

439

Deutlich durch Leibniz beeinflußt entwickeln Gotth. F r e g e , G r u n d lagen der Arithmetik 1884, und W. D e d e k i n d , W a s sind und was sollen die Zahlen?, Braunschweig 1887, gegenüber dem positivistischen Empirismus (Schröter, C a n t o r u. a.) eine kategorial-logische A u f f a s s u n g des Zahlbegriffs. 11

Vgl. Metaphysische Abhandlung 1686, Phil. Sehr. 4, S. 427 ff.

12

Schon f r ü h e — 1671 •— f a ß t Leibniz den f ü r ihn leitenden Gedankeö der Harmonia universalis in einem Briefe an Herzog Johann Friedrich von Braunschweig, Phil. Sehr. 1, S. 167 f.

13

Vgl. D e s c a r t e s , corpore.

14

Metaph. Abhdlg., Phil. Sehr. 4, S. 433, cap. 8 — 9 , 13.

15

Metaph. Abhdlg., Phil. Sehr. 4, S. 433, 4 3 8 f. — Die landläufigen D a r stellungen des Universalienrealismus übersehen, daß der von D u n s Scotus geprägte Begriff der h a e e e e i t a s die Gesetzlichkeit der Individuellen treffen und derjenigen des Allgemeinen im platonischen w i e im aristotelischen Sinn als etwas Neues gegenüberstellen will. Leibnizens ,.Begriff des Individuellen", aus welchem dessen ganzes reales Sein logisch folgt, ist daher gerade n i c h t nominalistisch, sondern setzt den l o g i s c h e n I n d i v i d u a l r e a l i s m u s der haeeeeitas folgerichtig fort.

16

Metaph. Abhdlg. s. o. Anm. 15. Leibnizens methodologische Geschichtsa u f f a s s u n g tritt in den genannten Stellen klar zutage. Sie ist auch streng zu trennen von der Frage nach dem „Nutzen" der Geschichte, die Leibniz in den „Nouveaux Essais", Buch III, beiläufig behandelt, einer Stelle, die fälschlich als alleinige Quelle f ü r Leibnizens Stellung zur Geschichte herangezogen wird. Vgl. die oberflächliche Deutung Gerh. S t a m m l e r s , Leibniz 1930, in: Kafka, Geschichte der Philosophie in Einzeldarstellungen, Bd. 19, München 1930, S. 113. Auch das historische Geschehen ist also f ü r Leibniz ein streng determiniertes Geschehen, aber es ist determiniert nicht durch kausale sinnfreie Bänder, sondern l o g i s c h durch die Fülle alles dessen, was im Begriffe aller einzelnen Individuen schlummcrt.

,7

Leibnizens Lehre vom Individuellen als Kern der \yirklichkeit ist daher a u c h n i c h t r a t i o n a l i s t i s c h im gewöhnlichen Wortsinn. Denn die logische Gesetzlichkeit des Individuums vermögen wir nach Leibnizens ausdrücklicher Lehre eben nicht zu begreifen, womit Leibniz die für uns i r r a t i o n a l e , wenngleich d u r c h a u s l o g i s c h c S t r u k t u r der individuellen wie der Gesamtwirklichkeit anerkennt und begründet.

1S

Zum Begriff der Vollkommenheit vgl. Metaph. Abhdlg., Phil. Sehr., S. 427 ff., cap. 6 (Definition!). Metaph. Abhdlg., Phil. Sehr. 4, S. 4 3 6 ff., cap. 13. Die geistvolle Darstellung des Geschichtlichen in Edmund Colerus' Leibnizroman übersieht den n i c h t k a u s a l e n C h a r a k t e r des Leibnizschen Geschichtsbildes, das durch den Begriff der mathematischen

19

Regulae ad dirigendum ingenium; H o b b e s ,

De

440

i0

Anmerkungen

Funktion allein in keiner Weise erschöpft wird (Edmund Colerus, Leibniz. Der Lebensroman eines weltumspannenden Geistes. 1934). Metaph. Abhdlg., Phil. Sehr. 4, S. 439 ff., cap. 13—14. — Système nouveau de la nature, Phil. Sehr. 4, 483 ff. (Begriff der Repräsentation!) In Leibnizens Ausdruck „prästabilierte Harmonie" ist diese, für die Geschichtsauffassung der späteren Historischen Schule grundlegende Verknüpfung der Begriffe „Harmonie" und „Weltplan" sprachlich treffend formuliert.

M a l p i g h i s grundlegendes Werk „Anatome plantarem", in welchem er erstmals die Anschauung vom Zellenaufbau aller Organismen vertritt, erschien 1675 mit einer beigegebenen Abhandlung über die Entwicklung des bebrüteten Hühnereies. Leibniz wurde auf das Werk schon bei dessen Erscheinen durch den Sekretär der Royal Society, O l d e n b o u r g , aufmerksam gemacht. Die Arbeiten von L e e u w e n h o e k über die Spermatozoen und von S w a m m e r d a m m zur Anatomie und Metamorphose der Insekten fallen in die Jahre 1670—1685. 22 Vgl. Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade (1714), Phil. Sehr. 6, S. 427 f. 23 Die entscheidende Stelle steht im „Neuen System der Natur" 1695 (Phil. Sehr. 4, S. 259 f. und 264), wo sich Leibniz ausdrücklich gegen Fontenelle richtet. Das Ungenüge der mechanistischen Theorie erkennt er schon in der „Metaphysischen Abhandlung" (Phil. Sehr. 4, S. 162); die Weiterentwicklung seiner Lehre läßt sich im Briefwechsel mit A r n a u l d genauer verfolgen. 24 Den Begriff der einfachen und zusammengesetzten Substanzen entwickelt Leibniz erstmals im zweiten Brief an Arnauld (Phil. Sehr. 2, S. 73 f.) von 1686; auch der Gedanke des stufenweisen Aufbaues der organischen Substanzen entwickelt sich erst allmählich. Noch im vierten Brief an Arnauld (1687) bekennt Leibniz, er habe die Unterscheidung der (niedersten) „lebenden Substanzen" von den Tieren noch zu wenig durchdacht. 25 Der Gedanke der Führung oder Beherrschung der niederen Monaden durch die höheren tritt erst in der reifen Darstellung der „Vernunftprinzipien" auf. 26 Vgl. vierter Brief an Arnauld, Sept. 1687 (Phil. Sehr. 2, l l l f f . ) , wo sich Leibniz erstmalig auf Leeuwenhoek und Swammerdam bezieht. „Betrachtungen über die Lebensprinzipien" 1705 (Phil. Sehr. 6, S. 539 ff.). — Nouv. Syst., Phil. Sehr. 4, 480 f. Aber beim G e i s t : , , . . . Dieu y ayant si bien pourvu que tous les changemens de la matière ne leur scauraient faire perdre les qualités morales de leur personnalité." 27 Weitestgehende mechanische Erklärung ist in der Biologie berechtigt und nützlich, die Kausalerklärung überdies immer „tiefer" als diejenige durch Zweckursachen, der Leibniz einen mehr heuristischen Wert zuerkennt. Leibniz erwähnt hier nur, daß, w e n n Tiere Substanzen sind und eine Seele haben, die „substantiellen Formen" der Tiere ebensowenig untergehen können wie die menschlichen Einzelseelen.

Anmerkungen 23

441

Der Stufenbau der Substanzen bis zu Gott ist erstmals kurz durchgeführt Metaph. Abhdlg., cap. 35 (Phil. Sehr. 6, 460ff.); über die Geisterwelt oberhalb des Menschen vgl. Nouv. Ess. IV, cap. 3, § 27. — Im Syst. Nouv. f e h l t der Gedanke der Stufenordnung fast ganz, da nur die n i e d e"r s t e n Einheiten behandelt werden und diesen der „Geist s c h a r f g e g e n ü b e r g e s t e l l t " wird. Ähnlich Met. Abhdlg. cap. 33, Phil. 4, S. 448 f. A b e r Met. Abhdlg. cap. 35, Phil. 4, S. 460ff. 3 " Zwischen den Frühdarstellungen und die Spätwerke schiebt sich vor allem der — nachfolgend zu behandelnde — erkenntnistheoretische und psychologische Ausbau des Systems mit den „Nouveaux Essais" von 1705 als Mittelpunkt. 31 Zum Folgenden vgl. Monadologie (Phil. Sehr. 6, S. 607—623) und „Prinzipien der Natur und der Gnade" (Phil. Sehr 6, S. 598—607) passim. 3 - Diese Auffassung hat Gerhard S t a m m l e r Leibniz, durchgängig, aber mit schwachen Gründen durchzuführen versucht. 33 Leibniz betont die Einfachheit der geometrischen Artgebilde im Gegensatz zum Begriff der individuellen Substanz schon im ersten Brief an Arnauld 1686 (Phil. Sehr. 2, S. 197). Abschließendes in den „Metaphysischen Anfangsgründen der Mathematik" (Math. Sehr. 7, S. 18 f.). Den Gedanken der Einfachstheit der mathematischen Gegenstände haben d ' A l e m b e r t und vor allem C o m t e von Leibniz übernommen. 34 Auch hierin tritt der geschichtliche Charakter des Leibnizschen Systems offen zutage. Die Frage nach einem Welt s i n n übersteigt alles naturwissenschaftliche Erkennen, das ja gerade für Leibniz auf die Welt der Phänomene eingeschränkt bleibt. 35 Vgl. oben S. 328 ff. 3C Zu Leibnizens Lehre vom Unbewußten vgl. Metaph. Abhdlg., cap. 33, Nouv. Essais, Vorrede, ebd. II, cap. 1 und cap. 27; Prinzipien, cap. 13. 37 Vgl. Nouv. Ess. Vorrede und II, cap. 1, § 15. 38 Das Wechselverhältnis zwischen Apperzeption und Selbstbewußtsein als Voraussetzung alles geistigen Lebens ist im Kern unverändert in Kants Theorie der Apperzeption eingegangen. Vgl. Monadologie, cap. 14 ff. und Kritik der reinen Vernunft. . . 39 Vgl. die von Leibniz oft gebrauchten Beispiele von den Sandkörnern eines Sandhaufens und dem Wogcnrauschen. Met. Abhdlg., cap. 35 Nouv. Ess. Vorrede, Prinzipien, cap. 13. Nach Leibniz s u m m i e r e n sich die unhörbaren Geräusche der einzelnen Wogen integralhaft zu einem hörbaren Gesamtgeräusch, ebenso wie die unendlich kleinen Linienelemente einer Kurve zur endlichen Gestalt derselben. 40 Keine Seele ohne Körper und umgekehrt! Nouv. Ess., Vorrede. Bd. I, cap. 1, Einleitung; Bd. II, cap. 21, § 73; cap. 23, § 19. Vgl. Metaph. Abhdlg., cap. 23, 37; Syst. nouv. (Cassirer, III. Band, S. 261 ff.); Vernunftprinzipien, cap. 4, 5; Monadologie, cap. 14—17. Vgl. Met. Abhdlg., cap. 26, 27; Nouv. Ess.. Vorrede; Bd. I, cap. 1, Einleitung; Bd. II, cap. 1, § 2.

442

Anmerkungen

49

Vgl. Betrachtungen über Erkenntnis, Wahrheit und Ideen, Phil. Sehr. 4, S. 422—26. 44 Ebd. S. 423, „notio intuitiva". Die Aufzählung der kategorialen Anschauungen lautet an mehreren Stellen verschieden, z B. Nouv. Ess. II, cap. 1, § 7. 45 Hier ist bei Leibniz die Wurzel jener heutigen Erkenntnistheorien, welche der sinnlichen Anschauung — im schroffen Gegensatz zu Kant — eine kategoriale F o r m a n s c h a u u n g gegenüberstellen. So vor allem bei H u s s e r l , der jedoch Leibniz in diesem Zusammenhang nirgends nennt. " Erst am Grund dieser erkenntnistheoretischen Betrachtungen tritt der rein kategoriale Charakter von Leibnizens Begründung der r e i n e n Mathematik klar hervor, an welchem Leibniz von dem ersten Versuch von 1666 an genau festhält. Darin liegt der tiefste Wcsensunterschicd zwischen Leibnizens und Kants Theorie der reinen Mathematik. Kants Rückführung des Zahlenbegriffs wie der arithmetischen Gesetze auf „Veranschaulichung" (die zehn Finger!) ist G e o m e t r i s m u s in der Mathematik. 47 Vgl. Nouv. Ess., n, cap. 27, § 16 f., § 22—23. 48 Vgl. besonders E. Cassirer, Einleitung zu Leibniz, Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, deutsch, Bd. II. 48 Vgl. Met. Abhdlg., cap. 37. 51 H. Schmalenbach, Leibniz, München 1921. 51 D. Mahnke, Leibnizens Synthese von Universalmathematik und Individualmetaphysik, I. Teil, Halle 1925. 52 Wer heute die vielfältigen Anknüpfungen der Gegenwart an Leibniz überblickt, erlebt das fremdartig anmutende Schauspiel, daß einander gänzlich heterogene Geistesströmungen einigermaßen zu Leibniz zurückfinden und sich auf ihn berufen: Die positivistische Begründung einer mathematisch-logischen Axiomatik wie die phänomenologische Kategorienlehre eines Husserl und Hartmann, der empirisch-physikalische Relativismus ebensowohl wie die neue Biologie der lebendigen Ganzheiten, der einseitig naturwissenschaftlichen Weltdeutung. Zwischen Anm. 49 und 52 hat der Verf. noch 6 weitere Anmerkungen vorgesehen, aber nicht niedergeschrieben. S t u d i e n z u r D a r s t e l l u n g d e s I, e i b n i z ' s ch e n 1. D i e L e i b n i z s c h e L o g i k a l s 1

G e r h a r d S t a m m l e r , Leibniz, S. 49 f. 2. L e i b n i z e n s L e h r e v o n d e n

1

1

Systems

Grundwissenschaft

Definitionen

Randnotiz des Verf.: „Leibnizens Verwechslung von ,ReaV = ,Sache' und ,wirklich'l" Randnotiz des Verf.: „,Syntaktischer' Charakter der Grunddefinitionen!"

Anmerkungen

443

3. F r a g m e n t e z u r m a t h e m a t i s c h e n G r u n d l a g e n f o r s c h u n g und Kombinatorik 1 Eine bedeutsame Weiterentwicklung f a n d Kurt Hubers Idee einer kategorial-logischen Analyse der Mathematik bei dem Münchner W o l f g a n g G r ö z i n g e r , der dem Huberkreis nahestand. Wolfgang Grözinger h a t dem Herausgeber freundlicherweise die folgende kurze Darstellung seines Grundgedankens zur Verfügung gestellt: „Die kategorial-logische Analyse ist eine Vereinigung der kategorialen Analyse Kants, die vornehmlich das Problem der Zuordnung physikalischer Gegebenheiten zu dem a priori der Mathematik behandelte, mit der logisdien Analyse Herbarts, die den logischen Gehalt der Mathematik am Kontinuumsproblem .synechologisch' ü b e r p r ü f t e . Beide Methoden lassen sich aber n u r u n t e r dem Gesichtspunkt des ,monadologischen Kontinuums' vereinigen als der Anschauungs- oder Perzeptions- und Bewußtseins- oder Apperzeptionseinheit schlechthin, deren wechselnde Strukturen die jeweiligen Kategorien ergeben, unter welche das Empirische gebracht werden muß, um wissenschaftlich erfahren zu werden. D e r Wechsel dieser Kontinuumsstrukturen wird durch sogenannte Dimensionsverlustgesetze in Regeln gebracht. Diese Gesetze besagen, daß die ursprüngliche volldimensionale Anschauungseinheit der Monas durch das mathematische Denken einen Abbau erf ä h r t , der diskontinuierlich erfolgt und mehr oder weniger anschauungsgesenkte, d. h. formalisierte Kontinuen ergibt, deren Struktur durch bestimmte Zahlkörper darstellbar ist. Diese Zahlkörper entsprechen den Kontinuumsstrukturen, die Ernst Foradori in seiner Teilthcorie zuerst beschrieben hat. Sic erweitern den Bereich der imaginären Zahlen durch .reale' Zahlen, die mittels einer 45-, 30- und 15G r a d - D r e h u n g am Einheitskreis ableitbar sind, und können als Differentialquanten der Quaternionen a u f g e f a ß t werden, zumal ihnen ganz bestimmte mikrophysikalische Gegcnstandsberciche zuzuordnen sind. D a m i t sind sie der Beweis f ü r die Richtigkeit der realistischen Zahlentheoric von I.eibniz, für die sein Ausspruch bezeichnend ist: „Esscntiae rerum sunt sicut numeri." Die Berechnung der realen Zahlen, die bei einer weiteren Drehung der Achse des Einheitskreises unter 15 Grad in dem beliebig teilbaren, rein punktuellen, idealen Zahlenkontinuum verschwinden, erfolgt an einem nichtkartesischen Differentialkoordinatensystem, in dessen Mittelpunkt zwei Nullpunkte und ein ,Nullschnitt' stehen, die zusammen erst die Zahl Null ergeben. D e r Einheitskreis wird durch diesen Mittelpunkt qualitativ zur Einheitsellipse, innerhalb derer der Abbau der imaginären Zahlen über die trithetischen, d i a b e t i s c h e n und monothetischen zu den punktuellen Zahlen dem jeweiligen Dimensionsvcrlust entspricht. Die Theorie der Dimensionsverluste findet eine physikalische Stütze in neueren amerikanischen Versuchen, die nachweisen konnten, daß das Gehirn bei Lösung arithmetischer Aufgaben die sogenannten Kappastrahlen aussendet. Für

444

Anmerkungen

die Grundlagenforschung ergibt sich die Folgerung, daß die allgemeinen Grundlagen von Logik und Mathematik sich in einem Komplementärverhältnis zu jeder speziellen, axiomatischen Mathematik und Logik befinden und daher niemals streng, sondern nur durch Mathesis, d. h. durch eine allgemeine Topologie und Kombinatorik der Elemente der Anschauung und des Denkens unter dem Gesichtspunkt ihres monadologischen Zusammenhangs darstellbar sind." 4. Z u r D a t i e r u n g d e r m a t h e m a t i s c h e n in L e i b n i z e n s N a c h l a ß

Manuskripte

1

L o u i s C o u t u r a t , Opuscules et fragments inédits de Leibniz, Paris 1903. ' Hier folgt im Ms. auf S. 14 S. 15d, es fehlen also mindestens 4 Seiten. Zunächst folgte noch die Aufzählung uon 6 weiteten undatierten Manuskripten der Spätperiode, s. u. S. 407 die Erwähnung von Nr. 10—23. 3 Hier fehlt im Ms. 1 Seite. 4

Hier fehlt im Ms. ein Stück.

5

H e r m a n n G r a s s m a n n (d. Ä.), Ausdehnungslehre.

6

W. D e d e k i n d , Was sind und was sollen die Zahlen? Braunschweig 1887.

NAMENREGISTER Abbeville 106 Abel 79 Abraham a Santa Clara 163, 319 Académie française 54, 67, 75, 77, 97, 131, 134, 171, 280, 283, 318 Albertiner 14 d'Alembert, Jean 204 f. Althusius, Johann 38 Alstedt, Johann Heinrich 59 Angelus Silesius 19, 20, 242, 273 Anselm von Canterbury 90 Archimedes 79, 81 Aristoteles 17, 20, 21, 26, 55, 61, 152, 235, 257, 279, 325, 355 Aristoteliker, protestantische ¡9, 102 aristotelisch 23, 24, 40, 60 f., 64f., 239 Amauld, Antoine 43, 68, 74, 77, 78, 89, 146, 161, 185, 188, 193 f , 197, 206, 271, 280, 337, 364 Ast 299, 301, 348 Atomisten 60, 62 Augustinus 228 Augustus 175 Aventin 176 Averroes 106 Azzo von Este 175 f., 318 Bach, Johann Sebastian 275 Bacon, Francis 52, 54, 56, 59, 61. 75 Baro 227 Barrow, Isaac 81, 82, 83, 398 Bayle, Pierre 195, 197, 248, 280 Becher, Joh. Joachim 32, 58, 87, 109, 316 Berkeley, George 285 Bernoulli, Jakob 137, 220 f., 265

Beraoulli, Johann (d. J.) 82, 203, 220 f., 265 Bezout 137 Bierling 34 des Billets 78 Bisterfeld, Johann Heinrich 21, 26 Bodenhausen, Freiherr von 136, 219 f., 222, 406, 410, 415, 419, 421 Boeckh, August 298, 299, 301, 303, 348 Böckler 68 Böhme, Jakob 180, 186, 239, 250, 258, 330 Bodin, Jean 104 Boineburg, Joh. Christian Freiherr von 34, 35, 36, 37, 41 ff., 44, 45, 46, 47—51, 52, 54 f., 62, 68 f., 72 f., 74 f., 77, 96, 104, 110, 156, 166, 309, 313 Boineburg, Philipp Wilhelm Freiherr von (Sohn) 73, 75, 95 f., ! 6 9 Boileau, Nicolas 91, 243 Bolzano, Bernhard 144 Bombelli 79, 399 Bossuet, Jacques 157 f , 161 Bouhours 245 Bourguet 364 Boyle, Robert 32, 76, 80, 92, 99, 373 Brandt 109 Burg, van der 105 Burnett, Thomas 174 Calixtus 160 Cantor, Georg 391 Cardanische Formeln 79, 94 Carcavy, Pierre de 67 f., 74, 97 Cassini 78, 181 Cassirer, Ernst 181, 278, 279, 353, 383 f

446

Namensregister

Cavalieri, Francesco 65, 79, 85, 331 Cicero 16 Charron, Pierre 89 Chasles, Michael 200 Chevreuse, Herzog von 96 Child 83 Clarke, Samuel 206, 212, 214, 261, 266 Clernberg 186 Clerselier, Claude 93 Colbert, Jean Baptiste 51, 77, 96, 97, 176, 316 Collins, Anthony 80 f., 84, 85, 86, 99, 204 Comenius, Johann Amos 16, 364 Comte, Auguste 60, 116, 119, 127, 332, 356 f. Condé, Prinz von 96 Conring, Hermann 37, 68, 108 Costes, Pierre 233 f. Couturat, Louis 276, 285, 356, 395 Cramer, Gabriel 137 Craig, John 412 f. Cromwell, Oliver 76 Dalgarno 87 Danckelmann, Eberhard Frhr v. 262 Dedekind, Julius 324, 424 Demokrit 61 Demokriteer 247 Desargues, Gérard 136 Descartes, René 12, 15, 17, 20, 21, 24, 31, 43, 60, 61, 62, 63, 64, 66 f., 69 f., 71, 80 f., 82, 89, 90, 91, 92, 93, 94, 100, 104, 109, 119, 124, 125, 127, 135, 146, 177, 178, 183, 186, 189, 190, 192, 196, 204. 205, 206, 211, 214, 224, 236, 238, 244, 249, 255, 280, 307, 327, 331, 333, 334, 335, 337, 356 f., 364, 365, 397, 398 Kartesianer 146 f., 209, 220 kartesianisch 243, 323,

Deuerlein, Anna 14 Dieskau, Hans von 13 Digby, Sir Kenelm 61 Dillher, Johann 30 Dilthey, Wilhelm 275 f., 301 Dounker 55 Dorothea, Herzogin 160 Drebel 70 Droysen, Joh. Gustav 299, 301, 348 Dubos 243 Dumont 319 Duns Scotus 20 Durlach, Markgraf von 69 Eckhart, Meister 12, 22, 180, 327, 330 Eckart, Joh. Georg (Sekretär) 31 Eckhart (Mathematiker) 91, 179 Elisabeth Charlotte von der Pfalz 154 Ende, van den 104 epikureisch 62 Erdmann, Benno 277 f., 279 f., 284, 383 Erdmann, Joh. Eduard 284, 285 Emst, Landgraf von Hessen 35, 42, 160, 193 Ernst August, Herzog von Hannover 153 f., 159, 160, 164, 169, 174, 177, 226 f., 317 Eugen, Prinz von Savoyen 252 Euklid 21, 24, 153, 202, 362, 422 euklidisch 17, 23, 66, 128, 136, 142, 410 Fabri, Honorato 68, 70 Felden 38 Fcrmat, Pierre de 204, 412 Feuquiere 72 Fichte, Johann Gottlieb 12, 95, 127, 260, 282, 283, 291, 292, 297, 302, 304, 322, 332, 338 f., 350, 357 Fischer, Kuno 281, 284 Flamstede 76 Fludd 258

Namensregister Fogel, Dr. Martin 108 Fonseca, Pedro da 18 La Forge 186 Foucher de Careil 89 Fontenelle, Bernard de 283 f. Frege, Gotthold 324 Friedrich III., Kurfürst von Brandenburg, später König 163, 262f., 264 Friedrich der Große 110, 309, 316 Friedrich Wilhelm I., Gr. Kurfürst 112, 158, 163, 170, 313 Fürstenberg, Egon von 36, 163 Fuertes 18 . Galilei 24, 60, 62, 63, 65, 79, 127, 175, 205, 207, 331, 357 Gallois, Jean 79, 99, 100, 105, 131, 134, 181, 199, 265, 324, 364, 419, 426 Gassendi, Pierre 61, 62 Gauß, Karl Friedrich 324 Georg d. Bärtige, Herzog von Sachsen 13 Gerhardt, C. J. 129, 202, 285, 356, 393, 395 f., 397, 400, 401, 423 Geulincx, Arnold 186, 196 Goethe, Johann Wolfgang 173 f., 218, 222, 250, 297, 301, 322, 348, 372 f. Gottschalk 228 Graßmann, Hermann (d. Ä.) 136, 201, 324, 391—94, 420 Gregory 55, 80, 82, 84 Grote, Otto Freiherr von 1531". Grotius, Hugo 38, 40 Guericke, Otto 67 f. Habsburg 45, 50, 52 Haak 76 Habbcus von Lichtenstern, Christian Freiherr von 69. 96 Händel, Georg Friedrich 275, 284, 354 Halley, Edmund 76

447

Hamann, Johann Georg 297 Hamilton, William 285, 323, 392 Hankel, Wilhelm Gottlieb 324, 393 Harsdörffer, Georg Philipp 25 Hartmann, Nikolai 261 Hartsoeker 197 Herebord, Adrian 21 Hegel, Friedrich 12, 15, 41, 100, 127, 135, 225, 260, 277, 279, 281, 282, 283, 298 f., 300, 304, 322, 339, 357 Heidegger, Martin 229, 261 Heisenberg, Werner 240 Heiß 275 Helmont, Franz Mercurius von 58, 258 Heraklit 89 Herder, Johann Gottfried 247, 284, 287, 299 f., 301, 322, 348 Herodot 16 Hilbert, David 128, 382, 384, 394, 422, 424 Hobbes, Thomas 12, 20, 21, 24, 27, 40, 48, 61, 62, 63 f., 68, 71, 104, 143—146, 182, 192, 248, 255, 273, 280, 299, 309, 331, 333, 364, 367, 368, 380, 383, 426 Hölderlin, Friedrich 277, 304 Hospinianus 26 Hospital, Marquis de 1' 136, 201, 207, 208, 221 f., 265, 406, 415, 425 Hudde, Johann 101, 103, 412 Huet, Pierre 77, 158 f. Humboldt, Wilhelm von 247, 299, 301, 303, 344 Hume, David 256, 281, 285, 332 Husserl, Edmund 260, 283 Huyghens, Christian van 63 f., 66, 74, 77, 78, 79, 80, 82, 86, 97, 136, 199, 200, 201, 202, 203, 204, 205, 211, 214, 2 2 0 f „ 222, 265, 373, 399, 400, 409, 411, 415, 419, 420, 421, 423. 425

448

Namensregister

Innocenz XI. 159 f. Jablonski 262 f. Johann Friedrich Herzog von Braunschweig 35, 49, 69, 97, 104, 107, 108, 110, 114f., 158f., 176, 268, 316 Johann Kasimir, König von Polen 45 Johannes Evangelista 22, 40 Jöppl, Balthasar 13 Jöppl, Veronika 13 Jungius, Joachim 109, 364 justinianische Methode 39 Kahlenberg, Barbara von 14 Kahm 98, 108 Karl, Herzog von Lothringen 46, 162, 165 Kalvin, Johann 250 Kalvinismus, kalvinisch 162, 348, 350 Kant, Immanuel 10, 12, 15, 27, 41, 67, 100, 127, 135, 141, 147, 150f., 183, 204f., 207, 214, 217, 224, 231, 234, 235, 253, 256, 260, 269, 279, 281, 282, 283, 287, 289—93, 298, 302, 323, 327, 333, 338, 343, 344, 345, 351 f., 353, 355, 356 f. Karl II., König von England 75, 76 Kästner 234, 284 Kepler, Johann 21, 22, 23 f., 26, 60, 186 f., 211, 260, 347 Kersey 412 Kircher, Athanasius 25, 87 Kochansky 68 Kopernikus, Nikolaus 23 f. kopernikanisch 177, 212 Krafft, Daniel 32 Kues, Nikolaus von 12, 22, 23, 24, 186, 260, 330, 347 Labadie, Jean de 58 Laplace, Pierre Marquis de 214,333

Lasser, Hermann Andreas, Hofrat 37 Leeuwenhoek, Anthony van 101 f., 197, 335 Leibniz, Ambrosius I. 13 Leibniz, Ambrosius II. 13 Leibniz, Ambrosius III. 14 Leibniz, Christoph 14 Leibniz, Friedrich (Vater) 14—16 Leibniz, Georg 13 Leibniz, Veronika (Schwester, verh. I.öfflerin) 15, 25, 69 Leibniz, Katharina geb. Schmuck (Mutter) 14, 16, 25 Leibniz, Stiefbruder 15, 25, 97 Leibniz, Justus 36 Lelong, Jacques 227 Leopold I., Kaiser 158 f., 162, 165, 168, 170, 176 Lessing, Gotthold Ephraim 12, 48, 294 f., 322 Livius 16 Locke, John 231—36, 238 f., 244, 247 f., 298, 340 f., 345, 356 Löffler 364 I.otze, Rudolf Hermann 126, 260 , I.ouvois, François Michel 176 I.ower 55 Ludolf, Hiob 165, 167, 169 Ludovici, C. G. 284 Ludwig der Heilige 50, 52 Ludwig XIV. 35, 36, 45 f., 47 f., 49—53, 72 f., 91, 98, 103, 157, 159, 160—62, 164, 166, 167, 170 f., 172, 174, 252, 312, 320 Lullus Raimundus 87 Lullische Kunst 25 Luther, Martin 13, 18, 22, 42, 44, 250 Luthertum 162 Mabillon, Jean 109, 228 Machiavelli, Nicolô 309 Magliabecchi, Antonio 175, 219, 411

Namensregister Magnenus 62 Mahnke, Dietrich 353 Malebranche, Nicolas 78, 89, 146, 183, 186, 248, 255, 280 Malpighi, Marcello 101, 197, 335, 336 Mariotte, Edme 78, 89 Martianus Capella 78 Matzat, Heinz L. 124 Mauriner 227 Mauritius 63 Meibom, Heinrich 176 Melanchthon, Philipp 18, 40 Mercator, Gerhard 80, 101 Mettemidi Karl Heinrich, Kurfürst von Mainz 77 Meyer, Amsterdam 43 Möbius, August Ferd. 136, 419 Molanus, Abt Gerhard 155, 156, 179 Mohr 84 Molière, Jean Bapt. 98, 209 Molinos, Miguel de 243 Molyneux 233 Montaigne, Michel de 89 Montesquieu, Charles de 225 Morell, Andreas 103 Mouton 80 Müller, Johann 14 Muratori, Ludovico 227 Napoleon 52, 74 Neuburg, Pfalzgraf von 45 f. Neukantianer 152, 285, 322, 327, 333 (s. auch Cassirer) Newton, Isaac 67, 76, 77, 80, 83 f., 85 f., 99, 204, 206, 207, 211 bis 214, 216, 231, 261, 266, 280, 399f., 402, 406, 414 Novalis 292 Okkasionalisten 197 Oldenbourg, Heinrich 55, 68, 75, 77, 84, 85, 86, 99, 101, 104, 265, 399 f., 411, 412, 427

449

Osanna 78 Paracelsus, Philippus Theophrastus 186 Pascal, Blaise 77, 80, 81, 82, 83, 93, 136, 142, 204, 358, 367, 384 Paul, Jean 303 Pell 80 Peter der Große 312, 320 Petty, William 76, 109 Pfänder, Alexander 383 Photius 54 Placcius 261, 364 Platen, Franz Ernst von 153 Piaton 16, 20, 38, 98, 143, 152, 162, 187, 235, 260, 275, 327, 402 Plinius 16 Plotin 256 Ploucquet 202 l'oiret, Pierre 102, 184 Pomponne, Arnauld de 50 f., 72, 73 Poncelet, Jean Victor 136, 201 f., 419 f. Portner 40 Preußische Akademie 56, 171, 261 ff., 312 Ptolemäisches System 172, 212 Pufendorf, Samuel 38, 163, 262, 317, 366 Pythagoreer 21 Pythagoreismus 22 ff., 40, 70 pythagoreisch 187, 348 f., 373 Quintilian 16 Racine, Jean Baptiste 91 Ragattä, Graf 163 Ramus, Petrus 38 Ranke, Leopold von 184, 348 Raspe, E. 234, 284 Ray, John 61, 76 Rémond de Montmort, Nicolas 252, 278

450

Namensregister

Rhabanus 228 Richelieu, Armand Jean Herzog von 54 Ritter, Paul 52 Roannez, Herzog von 78, 96 Roberval, Gilles de 142 Römer, Olaf 78, 97 Rosenkreuzer 31, 40, 309, 310 Royal Society 54f., 63, 67, 75, 77, 85, 87, 101, 171, 311 Rupert, Prinz von England 75 Russell, Bertrand 276, 285

Saal, Johann von 56 Schelling, Friedrich Wilhelm 12, 15, 127, 239, 250, 260, 298 f., 300 f., 322, 339, 348 f. Scherzer, Adam 19 f. Schiller, Friedrich 222, 304 Schlegel, Brüder 299 Schleiennadler, Friedrich 297, 301, 303, 348 Schmalenbach, Hermann 352 Scholastik 18, 20, 257, 278 f., 339 Schopenhauer, Arthur 239 Schönborn, Johann Philipp von, Kurfürst von Mainz 34—38, 44 bis 47, 50 f., 56, 59, 72 f., 74. 76, 97, 110, 156, 310, 313 Schönborn, Melchior Friedrich von, Hofmarschall 36, 37, 72, 75, 77 Schullerus, Georg Hermann 105 f, Schütz, Valentin von 111 Schwendendörffer, Barth. Leonhard 29 Schwentner, Daniel 25 Seneca 16 Sethus, Calvisius 16 Shaftesbury, Anthony, Graf 299, 348 Sloane, Sir Hans 76 Slusius 86, 101, 412 Sigwart, Christoph 383 Sobieski, Johann 162

von

Sophie, Herzogin von Hannover, Gemahlin Herzog Ernst Augusts 59, 153 bis 156, 159, 169, 176, 262, 264, 280 Sophie Charlotte, Prinzessin von Hannover, Gemahlin König Friedrichs I. von Preußen 163, 245, 249, 262 f., 265 f., 271 Spee, Friedrich 59, 91 Spcner, Philipp Jakob 42, 62, 68 Spinola, Christoph de Rojas y, Bischof 158 f., 160, 161 Spinoza, Baruch 12, 20, 21, 43, 68, 103 f., 105 f., 132, 178, 182 f., 186, 189, 192, 248, 255, 280, 281, 297, 307, 323 Spinozismus 181 Spitzel, Gottlieb 62, 68, 104 Stammler, Gerhard 286, 352, 366, 382 Staudt, Karl Georg von 201, 419 Steffens, Henrich 298 Steiner, Jakob 136, 201 f., 419 Stenon, Bischof 132 Steuchius 278 Stratmann 111, 167, 176 Strauch, Johann 21 Sturm 206 Suarez, Franc. 18, 243 Swammerdam, Jan 101, 335

Tacitus 227 f. Tauler, Johannes 180 Taylorsche Reihe 83 Temple, William 46 Tertullian 245 Therese, hl. 102, 184 Thevenot 77 Thomas von Aquin 327 thomistisch 257 Thomasius, Jacob 19 f., 55, 61, 67, 366 Tököli 164 f.

Namensregister Trendelenburg, Adolf 284, 364, 383 Tschirnhaus, Ehrenfried Waither Freiherr von 79, 91, 103, 104, 137, 413 Türken 49, 51, 52, 157 f., 164 Turenne, Henri Vicomte de 7 Uylenbrock 202 Valla, Laurentius 18 Vieta, François 133 Voider, de 194, 206, 265

Wallis, John 68, 76, 79, 85 f., 399, 412 Weigel, Eberhard 21, 24, 26, 38 Wilhelm von Oranien 165 Wilkins 55, 87 Willis 55 Winckelmann, Johann Joachim 301 Wissowat 43 Wolf, Friedrich August 299 Wolff, Christian 12, 286—94, 322 Wren, Sir Christopher 63, 76, 134 Wülfer, Daniel 34 Xenophon 16

Walenburg, van der 42 Weierstraß, Karl 138

451

Zcnonische Paradoxa 139