Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie 9783787326242, 9783787313433

Mit dem 'Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie', das zwischen 1813 und 1837 in vier immer wieder verbesse

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Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie
 9783787326242, 9783787313433

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JOHANN FRIEDRICH HERBART

Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie Textkritisch revidierte Ausgabe mit einer Einleitung herausgegeben von Wolfbart Henckmann

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

PHILOSOPHISCHE BIBLIOTHEK BAND 453 1912 Vierte Auf lage mit einer Einführ ung heraus gegeben von K. Häntsch (PhB 146) 1993 Textkritisch revidierte Ausgabe, mit einer Einleitung herausgegeben von W. Henckmann Vorliegende Ausgabe: Im Digitaldruck »on demand« hergestelltes, inhaltlich mit der Ausgabe von 1993 identisches Exemplar. Wir bitten um Verständnis für unvermeidliche Abweichungen in der Ausstattung, die der Einzelfertigung geschuldet sind. Weitere Informationen unter: www.meiner.de/bod

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliogra­phi­­sche Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. isbn 978-3-7873-1343-3 ISBN eBook: 978-3-7873-2624-2

© Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 1993. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§  53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Gesamtherstellung: BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruck­ papier, hergestellt aus 100 % chlor­frei gebleich­tem Zellstoff. Printed in www.meiner.de Germany.

INHALT

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . VII Zeittafel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . LXIII Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . LXVI I Johann Friedrich Herbart Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie Vorrede zur ersten Ausgabe (1813)...................... Vorrede zur zweiten Ausgabe (1821) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorrede zur vierten Ausgabe (1837) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3 16 26

ERSTER ABSCHNITT. Allgemeine Propädeutik . . . . . . . . . . . .

29

I. Kapitel. Vorläufige Übersicht(§§ 1-3) . . . . . . . . . . . 2. Kapitel. Erklärungen und Einteilungen(§§ 4-10) 3. Kapitel. Hauptbedingungen des Philosophierens (§§ ll-16) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Kapitel. Skepsis unter Voraussetzung der gemeinen Weltansicht (§§ 17-21) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Kapitel. Höhere Skepsis(§§ 22-23) . . . . . . . . . . . . . .

29 46

ZwEITER ABSCHNITT. Die Logik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

81

I. 2. 3. 4.

56 63 69

Kapitel. Von den Begriffen (§§ 34-51) . . . . . . . . . . . 81 Kapitel. Von den Urteilen(§§ 52-63)............. 95 Kapitel. Von den Schlüssen(§§ 64-70) . . . . . . . . . . . 112 Kapitel. Vonder Anwendungder Logik(§§ 71-80) 123

DRITTER ABSCHNITT. Einleitung in die Ästhetik; besonders in ihren wichtigsten Teil, die praktische Philosophie ....................................................... 130

VI

Inhalt I. Kapitel. Von den Schwierigkeiten der Ästhetik im allgemeinen(§§ 81 -88)............................ 2. Kapitel. Aufzeigung der sittlichen Elemente (§§ 89-96).......................................... 3. Kapitel. Nachweisung anderer ästhetischer Elemente (§§ 97- 102) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Kapitel. Von der Verbindung der ästhetischen und theoretischen Auffassung(§§ 103-115) . . . . . . . . . . I. Von der Tugendlehre und Religionslehre..... II. Von den Künsten und den Kunstlehren.......

130 143 153 163 165 167

VIERTER ABSCHNITT. Einleitung in die Metaphysik . . . . . . 181 1. Kapitel. Nachweisung der gegebenen, und zugleich widersprechenden Grundbegriffe(§§ 116-124) . . 2. Kapitel. Veränderung, als Gegenstand eines Trilemma(§§ 125-131) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kapitel. Vom absoluten Sein, und dessen Gegenteilen(§§ 132-142) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Kapitel. Von den absoluten Qualitäten, oder den platonischen Ideen(§§ 143-148) . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Kapitel. Vorblick auf Resultate metaphysischer Untersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Kapitel. Enzyklopädische Übersicht der Psychologie und Naturphilosophie(§§ 156-164) . . . . . . . . . . Anhang ................................................... Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Namenregister .. . .. . . .. .. .. .. . .. . .. . . .. . .. . .. . . .. . .. . . .. . Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

181 204 227 249 268 301 355 381 403 405

EINLEITUNG

§ 1. Entstehung des Lehrbuchs

Fremde Truppen belästigten Königsberg, Moskau brannte, währenddessen drängten sich die Studenten in Herbarts Vorlesung über die Einleitung in die Philosophie so sehr, daß sie "nicht mehr zum Sitzen und Schreiben Platz fanden", schreibt Herbart über die Zeit der Entstehung des Lehrbuchs (S. 20). Wer erinnert sich bei einer solchen Korrelation von philosophischer Lehre und politischen Verhältnissen nicht an die Worte von E. Gans, daß Hege! unter dem Donner der Schlacht von Jena die Phänomenologie des Geistes vollendet habe? 1 - Doch welch' ein Unterschied zwischen den Ereignissen von Jena und Moskau und den in ihrem Schatten entstandenen beiden philosophischen Werken! Hege! sah in Napoleon den siegreich in Jena einreitenden Weltgeist, und bekanntlich hat der Weltgeist ein höheres Recht, sich die Völker zu unterwerfen - die Weltgeschichte ist das Weltgericht. Herbart sah in Napoleon dagegen einen gewissenlosen Usurpator, der das heilige Recht der Völker mit Füßen trat und die Deutschen dazu verblendete, sich gegenseitig anzufeinden und ihre Epoche für das Zeitalter der vollendeten Sündhaft:igkeit zu halten, wie Fichte in den Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters (1806).2 Hege! deutete die Ereignisse der E. Gans: Nekrolog auf Hegcls Tod, Preuß. Staatszeitung 1832, zit. von K. Rosenkranz: G. W. F. Hegels Leben. Berlin 1844. s. 228f. 2 Mit Fichtes geschichtsphilosophischer Deutung setzte sich Herbart 1814 kritisch auseinander: "Über Fichtes Ansicht der Weltgeschichte", SW III, 305-316. Vgl. auch Herbarts Rezension von Fichtes Grundzügen aus dem .Jahre 1807, SW XIII, 334-340. 1

VIII

Wolfhart Henckmann

Gegenwart aus der inneren Notwendigkeit der weltgeschichtlichen Odyssee des Geistes, Herbart bezog sie auf die bildende Erziehung des Individuums zu vernünftigem Denken und sittlicher Stärke. Herbart stellt die Individual-Pädagogik des Bürgers der Hegeischen Universal-Politik des Weltgeistes entgegen- diese prima-facieFormeln mögen die antipodische Stellung und den ganz anderen Geist andeuten, in der die beiden Denker, die beide in preußischen Diensten ihre Schriften über das "werdende Wissen" (um einen Ausdruck Hegels zu verwenden) im gleichen Lebensalter von 37 Jahren verfaßt haben, zur Erscheinung Napoleons standen. Freilich, sechs Jahre liegen zwischen der Schlacht von Jena und Napoleons fatalem Einzug in Moskau- 1806 schien der Sieger von Jena auf einem unaufhaltsamen Siegeszug nach Osten zu sein, im Sommer 1812 zogen die unschlagbar scheinenden französischen Armeen durch Königsberg, doch in Moskau wendete sich Napoleons Geschick, Weihnachten 1812 zogen die Reste der französischen Armee durch Königsberg nach Westen, und Preußen stand kurz vor der Erhebung zu den Freiheitskriegen, durch die es die als nationale Schmach empfundene Fremdherrschaft abschütteln wollte (Fontanes Roman Vor dem Sturm schildert die Situation der Preußen in dieser Zeit). Die Wiederherstellung des Selbstbestimmungsrechts der Völker schien bevorzustehen- Herbart mochte in diesem Wechsel der politischen Verhältnisse eine Rechtfertigung seiner auf überzeitlich gültigen moralischen Gesetzen beruhenden Haltung und seines erzieherischen Wirkens sehen; wie Platon hat er die Erziehungskunst in engster Verbindung mit einer Staatskunst gesehen, die nicht der Macht, aber auch nicht ausschließlich dem Recht huldigte, sondern beide miteinander vermitteln sollte.~ Eine Unterordnung der Pädagogik unter die Politik kam für ihn deshalb ebensowenig in Frage wie eine Unterordnung von Pädagogik und Politik unter die Geschichtsphilosophie- Herbart suchte 3

Vgl. u. a. Herbarts Jahresbericht über das pädagogische Semi-

nar 1830/31, SW XV, 36.

Einleitung

IX

das Aristotelische Prinzip der Mitte zwischen den Extremen zu finden. Herbarts Hinweise auf die politischen Verhältnisse dienten, oberflächlich betrachtet, nur der Illustration der äußeren Umstände, unter denen das Lehrbuch entstanden ist, d. h. der Illustration, daß selbst unter ungünstigen Bedingungen die akademisch-wissenschaftliche Arbeit fortgesetzt werden kann und soll. So patriotisch Herbart auch damals mit allen Deutschen fühlte, so empfand er die kriegerischen Verhältnisse doch als eine empfindliche Störung seiner wissenschaftlichen Arbeit. Seit seiner Berufung nach Königsberg als Professor für Philosophie und Pädagogik ( 1809) war Herbart damit beschäftigt, seine Philosophie wissenschaftlich-systematisch darzustellen. 1812 befand er sich mitten in der Arbeit an der "Grundlegung der speculativen Psychologie", die er dann auch 1814 zum Abschluß bringen, wenn auch erst zehn Jahre später veröffentlichen konnte (1824/25). 4 Ganz zur unrechten Zeit zwangen ihn nun die äußeren Umstände zur Unterbrechung: Wegen der Überfülltheit des Hörsaals "mußte das Diktieren aufhören; ich riß mich gewaltsam aus der Mitte meiner Arbeiten heraus, und verfaßte binnen weniger Wochen mein Lehrbuch." 5 Herbart erwartete von der Politik, daß sie den äußeren und inneren Freiraum für die Ausübung des wissenschaftlichen Berufes gewähre. Das Verhältnis der Berufsausübung zum Ganzen des gesellschaftlichen und staatlichen Lebens beruhte auf dem Prinzip der Arbeitsteiligkeit und der Eigenverantwortlichkeit des Staatsbürgers. Dieses Verhältnis Vgl. die Anmerkung zu S. 373,37. Über die Veränderungen, die Herbart nach 1814 an seinem Manuskript vorgenommen hat, berichtet er kurz in der Vorrede der Psychologie als Wissenschaft, SWVI, 9. 5 Unveröffentlichte Fassung der Vorrede zur zweiten Ausgabe des Lehrbuchs, SW IV, 21. Vgl. W. Asmus: Der Philosoph und Pädagoge J. F.Herbart an der Universität Königsberg während der Befreiungskriege (1813-1815). In: Festschrift f. H. Wandcrsleb z. Vollendung des 75. Lebensjahres. Bonn 1970. 11-24. 4

Wolfbart Henckmann

X

könne sich nur auf der Grundlage allgemein anerkannter Rechtsgrundlagen entwickeln, die durch den Monarchen sanktioniert worden sind. Eine republikanische Verfassung lehnte Herbart ab, er sah in ihr eine Erhebung des Eigennutzes über den Gemeinsinn, durch die der Unordnung und der Selbstsucht Tür und Tor geöffnet werde. Ebenso lehnte er eine unmittelbare Einwirkung der Philosophie auf die Politik ab (S. 61 ), wie sie nicht nur zur Zeit der Freiheitskriege immer wieder gefordert worden ist. Aufgabe der Philosophie sei vielmehr die anhaltende Betrachtung des Überzeitlichen und Allgemeinen, polemisierte er gegen Steffens;6 das politische Interesse habe innerhalb der Universität nichts zu suchen, die Universität liege außerhalb der politischen Geographie. 7 Hinter der als Quietismus mißverstandenen Haltung Herbarts stand das staatsbürgerliche Ethos der Mitverantwortlichkeit des in abgeschiedener Ruhe arbeitenden Philosophen für die freie Berufsausübung des Bürgers in einer rechtmäßig verfaßten Gesellschaft, in der, wie er mit Platon sagte, "jeder das Seine" zu tun habe. Herbart ging konform mit der Politik des preußischen Staates, auf dem Wege der Erziehung durch geistige Kräfte zu ersetzen, was auf dem Schlachtfeld an physischen Kräften verloren worden war. Die erzieherische Stärkung des Charakters, aber auch des Patriotismus bereitete mittelbar die militärische Befreiung von der Fremdherrschaft vor. War der Kampf um die Freiheit unvermeidbar, so sollte er sich doch der Idee des Rechts unterordnen; es galt, diese Idee wieder in ihre alte Autorität einzusetzen. 8 "Die erfochtenen Siege sind groß und herrlich von manchen Seiten; aber ihr Schönstes ist, daß sie uns Offenheit und Recht zurückgeben." (SW III, 279) Herbart: Über die gute Sache. Gegen Herrn Prof. Steffens (1819), SW IV, 557-579. i Vgl. Herbart: Erinnerung an die Göttingisehe Katastrophe im Jahre 1837 (1838), SW XI, 36. ~ Vgl. die Fragment gebliebenen "Politischen Briefe", die Herbart 1814/I5 verfaßt hat (SW III, 269ff.). 6

Einleitung

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Daß unter dem Druck der äußeren Verhältnisse die erste Auflage des Lehrbuchs manches zu wünschen übrigließ, versteht sich von selbst. Daß Herbart überhaupt die erste Fassung in nur wenigen Wochen im Herbst 1812 zum Abschluß bringen konnte (am 14.12. 1812 schloß Herbart die Vorrede ab, im Frühjahr 1813, als die Studenten die Hörsäle verließen, um die Waffen zu ergreifen, brachte der Königsherger Verlag von August Wilhelm Unzer das Buch auf den Markt), ist wohl hauptsächlich auf zwei Gründe zurückzuführen. Zum einen war Herbart mit seiner Philosophie bereits seit Jahren im Reinen. Sein Freund Böhlendorff berichtete, daß Herbart schon 1798 während seiner Hauslehrerzeit in der Schweiz ( 1797 -1800) die Grundzüge seiner Philosophie festgelegt habe, also im Alter von 22 Jahren! 9 Herbart stimmte mit Einschränkungen zu - "wenn Du statt eines Systems einige erste Punkte davon denkst, deren Unrichtigkeit ich beim weitem Auszeichnen noch nicht gefunden habe" . 10 Deutlicher und differenzierter äußerte er sich Jahre später, als er sich gegen den Vorwurf einer übereilten Schriftstellerei zu wehren hatte: "Die Grundgedanken meiner Metaphysik wurden festgestellt in den Jahren 1798 und 1799. Der Plan zur praktischen Philosophie war entworfen im Jahr 1803. So lange ich in Göttingen lehrte, ward über beides unablässig mitdenkenden Zuhörern gesprochen ... " (1809, SW II, 605). So konnte er während seiner Dozentenzeit an der Universität Göttingen ( 1802- 1809) überraschend schnell drei grundlegende Werke veröffentlichen: die Hauptpunkte der Metaphysik (1808), der die Hauptpunkte der Logik angefügt waren, die Allgemeine praktische Philosophie (1808) und die Allgemeine Pädagogik aus dem Zweck der Erziehung abgeleitet (1806). Für die philosophischen Voraussetzungen des Lehrbuchs waren vor allem die Hauptpunkte wichtig, auf die sich Herbart im Lehrbuch auch immer wieder berufen hat. Herbart hat sein System gefunden [ ... ]" Böhlendorff an Rist 10.11.1798, SW XVI, 97. 10 AnRistinderBeilagezumBriefvom 10.11.1798, SWXVI, 99. 9 .,

XII

Wolfhart Henckmann

Der andere Grund für die kurze Abfassungszeit des Lehrbuchs: Herbart hatte schon seit vielen Jahren regelmäßig außer über Logik auch über "Einleitung in die Philosophie" gelesen. Mit der Kombination von "Logik" und "Einleitung in die Philosophie" hatte er die übliche, für den Anfang des akademischen Studiums obligatorische, aber das Leichteste und Schwerste kentaurenartig verbindende Vorlesung "Logik und Metaphysik" aufgegeben, obwohl ihm von wohlwollender Seite gesagt worden war, daß er mit seiner Neuerung kaum Studenten finden werde (von deren Hörgeld er seinen Lebensunterhalt zu bestreiten hatte). Das Programm der neuartigen Einleitungsvorlesung hatte Herbart 1804 in der kleinen Schrift Kurze Darstellung eines Plans zu philosophischen Vorlesungen vorgestellt. Schon in Bremen, wo er sich 1800-1802 bei seinem Freund J.Smidt auf die akademische Laufbahn vorbereitete, hatte er in einem Aufsatz "Ideen zu einem pädagogischen Lehrplan für höhere Studien" (1801) seine Vorstellungen über Inhalt und Folge des Lehrstoffs auf Gymnasien skizziert und in der Schrift über Pestalozzis Idee eines ABC der Anschauung (1802) die Rolle der Philosophie als "eigentliche Vollenderin der Erziehung" bezeichnet (SW I, 188). Nun ging es um das Curriculum auf der Universität. Die Einleitungsvorlesung sollte sich fest in den Zyklus von drei philosophischen Lehrveranstaltungen einfügen: Einleitung und Logik, praktische Philosophie, Metaphysik. Während praktische Philosophie und Metaphysik eine strenge, systematische Darstellung verlangen, verbleibt die Einleitungsvorlesung im Bereich des Propädeutischen, führt aber doch soweit, daß die Philosophie als Gesamtaufgabe eines eigenen geistigen Schauens aufgefaßt werden kann (SW I, 337). Nicht ein Kanon von philosophischen Kenntnissen, noch viel weniger ein bestimmtes System der Philosophie sollte vermittelt werden, sondern Bedürfnis und Fähigkeit zu einem verantwortbaren Philosophieren, das in die selbständige Bildung der Person integriert ist. Als Herbart 1805 einen Ruf an die Universität Heidelberg abgelehnt hatte und dafür in Göttingen zum außerordentlichen Professor für

Einleitung

XIII

Philosophie ernannt worden war, legte er in einer Beilage zu seiner Antrittsrede "Oe Platonici systematis fundamento commentatio" erneut das Programm seiner Einleitungsvorlesung dar, nämlich "in die natürlichsten, ersten, und darum ältesten Vorstellungsarten, welche sich echten und unbefangenen Denkern" aufdrängten (SW I, 374), kommentierend einzuführen. In der Praxis des akademischen Unterrichts modifizierte sich die Einleitungsvorlesung zwar verschiedentlich, aber nachdem Herbart sich entschlossen hatte, die philosophiegeschichtlichen Problemansätze ganz den sachlichen unterzuordnen- deutlich bereits in seiner Schrift Über philosophisches Studium (1807, SW II, 269-343) und im "Entwurf zu Vorlesungen über die Einleitung in die Philosophie", obwohl die Nachschrift der Einleitungs-Vorlesung vom Sommersemester 1807 noch stark philosophiegeschichtlich angelegt ist 11 -,stand das Gesamtkonzept fest und bewährte sich hinfort aufs beste. Die erste Auflage des Lehrbuchs um faßt etwa die Hälfte des Umfangs der vierten, letzten Auflage (1837), die fast ein Vierteljahrhundert später unter den veränderten Verhältnissen der Zeit nach der Julirevolution von 1830 erschienen ist. In der vierten Auflage konnte Herbart bereits auf Erfahrungen reagieren, die er nach seiner Berufung an die Universität Göttingen (1833) an einer zweiten, nicht zu Preußen gehörenden Universität hatte machen können. Diese letzten Veränderungen hängenjedoch nicht mit den Vorgängen zusammen, die Herbart 1837 als Dekan der philosophischen Fakultät veranlaßt haben, sich gegen die "Göttinger Sieben" auszusprechen; übrigens in Übereinstimmung mit dem größten Teil der Göttinger Professoren. 12 300 von insgesamt ungefähr 900 Studenten verließen unter Protest die UniverHerbart: "Entwurf zu Vorlesungen über die Einleitung in die Philosophie", SW li, 345-378. 12 Vgl. W. Asmus: .J. F. Herbart. Eine pädagogische Biographie. 2 Bde. Heidelberg 1968170. Bd. li, 303ff.; R. Lochner: Herbart und die Göttinger Sieben. In: Die Sammlung 14 (1959), 462-479. 11

XIV

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sität Göttingen. Vorübergehend ist der Besuch auch von Herbarts Einleitungsvorlesung zurückgegangen, bleibend aber war Herbarts Verstimmung über die seiner Meinung nach unbesonnene Reaktion der Studenten. Die Veränderungen in den späteren Auflagen gehören mit in die Entstehungsgeschichte des Lehrbuchs. In der Einteilung und Gliederung des Stoffs hat sich kaum etwas geändert; insofern bestätigt das Lehrbuch, daß Herbarts Philosophie letztlich keine Entwicklung, sondern nur eine Ausformulierung erfahren hat; zumindest seit seiner Göttinger Dozentenzeit von 1802 an. 13 Doch innerhalb dieses Gefüges hat sich in jeder neuen Ausgabe etwas geändert. Die umfangreichsten Änderungen erfolgten zwischen der ersten und zweiten Auflage 14 : beträchtliche Lücken mußten ausgefüllt werden, damit der pädagogische Zweck des Lehrbuchs mit einiger Vollständigkeit erreicht werden konnte. Rezensionen hatten gezeigt, daß das Lehrbuch mißverstanden werden konnte- auch diesem Mangel versuchte Herbart von Auflage zu Auflage (letztlich vergeblich) zu steuern. Da ihmjedoch nicht verborgen bleiben konnte, daß die Mißverständnisse nicht allein von ihm abhingen, sondern auch von den Vorurteilen und der Nachlässigkeit der Leser, nicht zuletzt der Rezensenten, flossen in der zweiten Auflage unverblümte Polemiken ein, von denen er einige später wieder, den Gesamtduktus mäßigend, zurücknahm. Sodann mußte das Lehrbuch an die sich verändernden wissenschaftlichen Verhältnisse angeglichen werden, nach zwei Seiten. Einerseits zur Seite der positiven Wissenschaften R. Zimmermann hat der "originalen" Periode von 1802 an zwei Perioden vorangestellt: die "Fichtesche" Periode von 1794 bis 1796 und die ,,Übergangsperiode" von 1796 bis 1802. Vgl. R. Zimmermann: Perioden in Herbarts philosophischem Geistesgang. In: Sitzungsberichte d. Kaiser!. Akad. d. Wissenschaften. Philos.histor. Klasse. Bd. 83. Wien 1876. 179-234. - Über Herbarts philosophische Entwicklung vgl. jetzt R. Pettoello: Idealismo e realismo. La formazione filosofica dij. F. Herbart. Firenze 1986. H Ein genauer Vergleich der vier Auflagen steht noch aus. 1"

Einleitung

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Herbart hatte es sich zur Pflicht gemacht, auf dem aktuellen Stand insbesondere der Biologie, Physik und Chemie zu bleiben, während er die später sogenannten Geisteswissenschaften (mit Ausnahme der klassischen Philologie) weniger berücksichtigte; nach wie vor hielt er jedoch an der Forderung fest, daß der Philosoph über eine vielseitige, ja allseitige Bildung verfügen müsse, um das richtige Maß für die Auffassung und Einschätzung der philosophischen Grundprobleme zu finden. In der disziplinierenden Orientierung an den Naturwissenschaften liegt überdies eine deutliche Kritik an der (Schellingschen) Naturphilosophie. Darüber hinaus waren zwar weniger die Fortschritte der Philosophie, in denen Herbart, wie seine Rezensionen zeigen, selten etwas anderes als Irrgänge oder Rückfälle sehen konnte, wohl aber die Neuerscheinungen zu berücksichtigen - teils hatte Herbart seine eigenen systematischen Werke an geeigneter Stelle anzuführen, teils mußte er sich gegenüber den Mißverständnissen seitens der Kritiker verteidigen. In den dreißiger Jahren, als sich nach dem Tode Hegels die "Tyrannei" der Absolutisten mehr und mehr in Diadochenkämpfe auflöste, bedurfte es nicht mehr so großer Rechtfertigungs- und Verteidigungs-Anstrengungen; auch deshalb nicht mehr, weil in M. W. Drobisch, L. v. Strümpell, F. K. Griepenkerl, G. Hartenstein entschlossene Verteidiger seiner Lehre aufgetreten waren. 15 So dokumentiert sich in den Veränderungen, die das Lehrbuch zwischen 1813 und 1837 erfahren hat, Herbarts Gang durch die geistigen Auseinandersetzungen, die die ausgehende Phase der Goethezeit, die Zeit der Restauration und des Vormärz geprägt haben.

Die einschlägigen Schriften dieser Herbartianer sind angeführt bei R. Koschnitzke: Herbart und die Herbartschule. Aalen 1988, SOff. I5

XVI

Wolfhart Henckmann § 2. Neuartigkeit des Lehrbuchs

Rezensionen des Lehrbuchs haben- damals wie heute- häufig das erste Wort des Titels außer acht gelassen und betrachten das Lehrbuch bloß als eine Einleitung in die Philosophie. Darin setzt sich eine Lektüre-Erwartung durch, die mit der ungewohnten Unterordnung der Einleitungsaufgabe unter die Aufgabe eines "Lehrbuchs" wenig anzufangen weiß. Die Verbindung von "Lehrbuch" und "Einleitung" läßt die Absicht der Schrift nicht klar genug erkennen - verlangt der Titel, daß der Leser des Lehrbuchs zwei verschiedene Lektüre-Ebenen im Auge behalte und aufeinander beziehe? Die Neuartigkeit des Lehrbuchs liegt in der Tat in dieser Unterscheidung und der damit verbundenen Thematisierung des Didaktischen; heute würde man von einer impliziten Hochschulund Philosophie-Didaktik sprechen. Aus Herbarts wenigen Bemerkungen zur Entstehung des Lehrbuchs ließe sich jedoch leicht ein Argument gegen die Unterscheidung der beiden Lektüre-Ebenen entnehmen: Herbart wollte sich und den Studenten die Mühe eines Diktats der Hauptsätze der Vorlesung ersparen. "Lehrbuch" bedeutet in diesem Sinn soviel wie "Unterrichtsbuch", "Kompendium" (vgl. S. 26), aus dem der Stoff der Einleitungsvorlesung entnommen und von den Studenten nach Belieben durchgearbeitet werden kann. Neuartig wäre immerhin, daß Herbart nicht eine Schrift von der Art der damals üblichen einführenden Schriften in die Logik und Metaphysik oder empirische Psychologie vorgelegt hatte, also in bestimmte, für die Zwecke einer Propädeutik für geeignet gehaltene Disziplinen der Philosophie, sondern eine Einleitung in die Philosophie überhaupt. Herbart stellte sich in seinem "Lehrbuch" jedoch ausdrücklich auch eine didaktische Aufgabe. Er hat sich hierüber in der Vorrede zur ersten Auflage unzweideutig geäußert - ihm sei "von jeher die Aufgabe, zur Philosophie vorzubereiten, als ein didaktisches Problem, didaktischen Regeln unterworfen, erschienen" (S. 11 f.). Nachdrücklicher

Einleitung

XVII

äußerte er sich noch in seiner Polemik gegen die "Modephilosophie dieser Zeit" (1814). 16 Erkennbar ist die didaktische Lektüre-Ebene jedoch fast nur in dem, was das Lehrbuch nicht enthält. Hier können nur wenige Hinweise auf die immanente Didaktik gegeben werden. Das Lehrbuch sollte nur dasjenige enthalten, was für den Zweck der Lehrveranstaltung unbedingt nötig erschien, was aber auch in einem einzigen Kursus behandelt werden konnte. In diesem Sinne ist die erste Lektüre-Regel zu verstehen, nichts in der Einleitung für überflüssig zu halten (S. 23) oder umgekehrt: alles aus wohlerwogenen Gründen für den didaktischen Zweck für erforderlich zu halten. Inhaltliche und pragmatisch-didaktische Überlegungen haben zusammengewirkt, der Schrift den vorliegenden Umfang, Inhalt und Aufbau zu geben. Die von Auflage zu Auflage erfolgten Veränderungen des Textes zeigen jedoch, daß sich das didaktische Geschäft nicht in eine feste Form pressen läßt, sondern eine ständige Anpassung an die sich verändernden Verhältnisse erfordert. Die Einleitung in die Philosophie war für eine vierstündige Lehrveranstaltung gedacht. Die einzelnen Paragraphen hat Herbart absichtlich so knapp gehalten, daß eine mündliche Erläuterung erforderlich wurde - das Angelegtsein auf mündliche Erläuterungen gehört für Herbart zum Wesen eines "Lehr"buchs; es unterscheidet sich dadurch von einem Handbuch. Die mündlichen Erläuterungen dienen dazu, den Stoff zu erklären, mit Beispielen zu belegen, die Aufmerksamkeit der Hörer lebendig zu halten, vor allem aber, sie zu eigenem Denken und Prüfen anzuregen. Relativ beiläufig sagt Herbart, daß zu den Hauptbedingungen der Philosophie auch das Interesse für die Philosophie gerechnet werden könne (S. 59). In Wirklichkeit handelt es sich hierbei um ein pädagogisches Grundproblem, auf das er in seiner Allgemeinen Pädagogik ausführlich eingegangen ist (SW II, Herbart: Über meinen Streit mit der Modephilosophie dieser Zeit. Königsberg 1814. SW III, 317-352, bes. 328f. 16

XVIII

Wolfhart Henckmann

52 ff.). Interesse an einem Gegenstand haben heißt, daß der Gegenstand den Geist des Betrachtenden in Anspruch nimmt, einnimmt, aktiviert. Herbart unterscheidet ein Interesse der Erkenntnis, das einen Gegenstand im Bilde nachahmt, von einem Interesse der Teilnahme, das sich in die Empfindung anderer Menschen versetzt. Das Interesse der Erkenntnis kann auf Mannigfaltigkeit, Gesetzmäßigkeit oder ästhetische Verhältnisse abzielen (empirisches, spekulatives und ästhetisches Interesse), das Interesse der Teilnahme hingegen auf die Menschheit, die Gesellschaft oder auf beider Verhältnis zu Gott (sympathetisches, gesellschaftliches, religiöses Interesse). Es liegt nahe, das Interesse für die Philosophie auf das spekulative Interesse zurückzuführen und Herbarts Bemerkungen als spezialisierende Ausführung dieses Begriffs aufzufassen. Das würde aber dem Begriff der Philosophie als Vollendung der Bildung widersprechen. Das Interesse für die Philosophie muß vielmehr zugleich eine Integration der verschiedenen Interessenrichtungen herbeiführen; die Voraussetzung hierfür ist die "Vielseitigkeit der Bildung", die Herbart von einem Philosophierenden fordert, und das Ergebnis der Integration ist das Erreichen eines philosophischen Standpunkts, von dem aus eine Erkenntnis des Ganzen der Wirklichkeit möglich wird. Wenn Herbart noch von den verschiedenen Interessen an den drei Grunddisziplinen der Philosophie spricht (S. 60), dann geht es auch hier nicht nur um die Differenzierung des philosophischen, noch weniger des spekulativen Interesses, sondern auch um das Problem, wie das "wünschenswerte Gleichgewicht" der verschiedenen Interessen überhaupt zu finden wäre (S. 60) - Herbart formuliert dies ausdrücklich als Aufgabe. Der Text des Lehrbuchs stellt also in mehrfacher Hinsicht nur eine Seite des Unterrichts dar und ist, ja muß unvollständig sein. Was Herbart von Mal zu Mal an Erläuterungen und Ergänzungen hinzugefügt hat, oder was er den mündlichen Erläuterungen zuliebe (die ihm so wichtig waren, daß er es noch bis ins Jahr 1812 hinein ablehnte, einen Leitfaden für

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seine Einleitungsvorlesung zu schreiben) 17 im akademischen Vortrag zusammengefaßt oder übergangen hat, ist nur noch fragmentarisch festzustellen. Einiges hat sich Herbart in seine Handexemplare eingetragen, 18 einiges hat er als Anmerkung in die späteren Auflagen aufgenommen oder auch wieder gestrichen, einiges haben Th. Fritzsch und O.Flügel aus Vorlesungsnachschriften der Jahre 1837/38 ihrer Ausgabe beigegeben. 19 Die gesamte praktische Seite der Einübung ins Philosophieren, die Seite ihrer Bildungsaufgabe, fällt grundsätzlich aus dem Rahmen des Textes eines Lehrbuchs heraus. Der Inhalt des Lehrbuchs ist also sowohl durch didaktische als auch durch philosophische Gesichtspunkte bestimmt. Philosophisch durch den Zweck, den Studenten so vorzubereiten, daß er in der Lage ist, den systematischen Vorträgen der praktischen Philosophie und Metaphysik, d. h. der gesamten Philosophie zu folgen (vgl. S. 65). Die Gliederung des LehrNoch 1812 widerstand Herbart der Versuchung, gegen den von ihm als höchst ungerecht empfundenen Vorwurf, in der Metaphysik von willkürlich ersonnenen Widersprüchen ausgegangen zu sein, "diejenigen allerleichtesten Vorbereitungen drucken zu lassen, welche ich den Anfängern in der Philosophie mündlich vorzutragen pflege." Er war der Meinung, daß akademisch gebildete Männer solche "allerleichtesten Vorbereitungen" nicht bräuchten. Vgl. Herbart: Psychologische Untersuchung über die Stärke einer gegebenen Vorstellung als Funktion ihrer Dauer betrachtet (1812), SW 111, S. 122 Anm. IK Kehrbach hat die Bemerkungen von Herbarts Handexemplaren der ersten und zweiten Auflage abgedruckt in SW IV, 276-294. 19 J. F. Herbart: Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie. Text der 4. Aufl. mit d. Abweichungen der früheren Ausgaben. Mit bisher ungedr. Herbartischen Diktaten sowie mit Einl., Anm. u. Reg. hrsg. v. 0. Flügel u. Th. Fritzsch. Leipzig 1913. 205-224. Die als Anmerkungen zum Text angeführten Diktatauszüge stammen aus mehreren nicht näher beschriebenen und nachgewiesenen Kollegnachschriften und sind am Ende mit einem "T" gekennzeichnet. 17

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buchs zeigt deutlich die Zuordnung zur traditionellen, von Kant ebenso wie von Herbart anerkannten Einteilung der Philosophie in Logik, Ethik und Physik (vgl. S. 56); Herbart machte es den Vertretern der deduktiven "PhilosoP.hie aus einem Prinzip" zum Vorwurf, daß sie die schon von den Griechen anerkannten sachlichen Unterschiede, die hinter der Einteilung in die drei Grunddisziplinen stehen, übersprungen haben; 20 alle anderen Disziplinen der Philosophie sind dieser Grundeinteilung untergeordnet. Das Lehrbuch konnte also mit Recht beanspruchen, ein vollständiger Leitfaden zur Einleitung in die Philosophie zu sein (vgl. S. 20, 81 ). Didaktisch ist der Inhalt des Lehrbuchs dadurch bestimmt, daß es nur die Vorkenntnisse eines "Anfängers" voraussetzt, aber doch soviel vermitteln wollte, daß der Student (Studentinnen gab es damals noch nicht) anschließend das "Hauptstudium" aufnehmen konnte, das auf systematische Vollständigkeit ausgerichtet war. Der Inhalt des Lehrbuchs mußte zudem geeignet sein, in Abschnitte für einzelne Lehrveranstaltungen eingeteilt zu werden. An einer anderen Stelle läßt Herbart erkennen, daß jeweils ein Kapitel den Lehrstoff für eine Unterrichtsstunde ausmache (SW IX, 305). Ob dies auch für das Lehrbuch gilt, ist wohl zu bezweifeln, weil die 19 Kapitel des Lehrbuchs von allzu unterschiedlichem Umfang und inhaltlichem Gewicht sind und weil eine vierstündige Lehrveranstaltung sehr viel mehr als nur 19 Stunden umfaßt; dauerten die Semester doch damals auch noch länger als heute. Eher ließe sich denken, daß die vier Abschnitte des Lehrbuchs (allgemeine Propädeutik, Logik, Ästhetik, Einleitung in die Metaphysik) mit der inhaltlichen zugleich eine didaktische Einteilung in Lehr/ Lerneinheiten abgaben, die proportional zum philosophischen Gesamtzweck und zur Dauer des Semesters aufeinander abgestimmt waren - wobei ausdrücklich darauf hinge-

Vgl. Herbarts Politische Briefe (1814/15), SW 111, 273; Kurze Enzyklopädie der Philosophie (1831), SW IX, 25f. u.ö. 2"

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wiesen sei, daß der vierte Abschnitt mehr als doppelt so umfangreich ist wie die drei anderen Abschnitte zusammen. Ein wichtiges didaktisches Problem liegt im Aufbau der Schrift, in dem sich der didaktische Prozeß widerspiegelt. Herbart geht bezeichnenderweise von einem konkreten "Lernort" aus, von dem der didaktische Prozeß mitbestimmt wird- vom Universitätsunterricht -,wir haben es buchstäblich mit der "Schulphilosophie" und nicht mit der "Weltweisheit" zu tun. Dadurch kann nicht bloß der "Anfänger", sondern auch der Umfang und das Ziel der Lehrveranstaltung genauer bestimmt werden als in Einleitungsschriften, die sowohl für Gymnasien als auch Universitäten, oder generell für die "Gebildeten", im 19. Jahrhundert dann auch gelegentlich für die "Frauenzimmer" gedacht waren. Die Einleitungsvorlesungen hielt Herbart "publice", also für Hörer aller Fakultäten. Der Bildungsstand der "Anfänger" war durch die Gymnasialbildung definiert, die freilich in den verschiedenen deutschen Ländern unterschiedlich genug ausfiel. Preußen bemühte sich damals um Vereinheitlichung und Anhebung der Gymnasialbildung, und Herbart war daran maßgeblich beteiligt- er kannte also seine Anfänger genau. Sie verfügten über die Bildung des humanistischen Gymnasiums, hatten im Griechisch-Unterricht außer den klassischen Dichtern Platon und Xenophon, im Lateinischen den Cicero gelesen, waren also bereits mit der antiken Philosophie bekanntgeworden, verfügten über eine gediegene Ausbildung in Grammatik und oft auch schon, wie Herbart selbst, über gute Kenntnisse der Logik und der Geschichte der Philosophie. Dieser humanistische Bildungsstand ist heute nicht mehr gegeben. Deshalb kann auch nicht mehr uneingeschränkt behauptet werden, wie noch um die Jahrhundertwende, daß Herbarts Lehrbuch immer noch eine mustergültige Einleitung in die Philosophie darstelle - der "Anfänger" müßte nach den heute gegebenen Ausbildungsverhältnissen neu definiert werden. Obwohl Herbart einmal den Stoff des Lehrbuchs als "allerleichteste Vorbereitungen"

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bezeichnet hat2 1, wäre heute ein eigenes propädeutisches Studium erforderlich, um "Anfänger" im Sinne des Lehrbuchs zu werden; Anfänger allerdings dann auch für die Philosophie jener Zeit, die auch nicht mehr im gleichen Sinne und im gleichen Maße die Philosophie unserer Zeit sein kann; eine Auffassung, der Herbart wohl kaum zugestimmt hätte: die Philosophie ist nur eine; Vielgestaltigkeit, "Zeitgemäßheit" komme immer nur der "Modephilosophie" zu, mit der sich Herbart zeitlebens verbissene Gefechte geliefert hat. Der "Anfänger" ist im übrigen nicht nur aus didaktischem, sondern auch aus systematischem Gesichtspunkt zu bestimmen. Im systematischen Sinn ist er durch den, wie es damals hieß, "gemeinen Standpunkt" des Bewußtseins definiert. In der Kurzen Enzyklopädie (1831), die Herbart zugleich mit dem Lehrbuch studiert wissen wollte, findet sich eine differenzierte Erörterung des "praktischen Bedürfnisses" der Philosophie, die nichts Geringeres darstellt als eine Ableitung der Philosophie aus der pragmatischen alltäglichen "Lebenswelt", wie sie hundert Jahre später von Scheler und Husserl thematisiert worden ist. Damals verband sich diese Problematik mit der sehr kontrovers geführten Debatte, wie eigentlich eine "Einleitung" in die Philosophie zu denken sei, ohne dabei schon unter der Hand eine bestimmte Philosophie voraussetzen zu müssen. Fichtes "populäre" Schriften, Hegels Phänomenologie, Krauses subjektiv-analytische Darstellung der Philosophie stellen unterschiedliche Modelle zur Lösung dieses Problems dar. Der didaktische Prozeß, den das Lehrbuch vorführt, folgt ausdrücklich der Maxime "vom Leichteren zum Schweren" (S. 18), und zwar nicht sprunghaft, sondern kontinuierlich. Von Kontinuität kann man aber strenggenommen nur innerhalb der einzelnen Lehr-Abschnitte sprechen, denn Logik, Ethik, Metaphysik hat Herbart für voneinander prinzipiell unabhängige Disziplinen gehalten. Die Reihe der drei In einer Anmerkung zur Psychologischen Untersuchung über die Stärke einer gegebenen Vorstellung (1812), SW 111, 122. 21

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Grunddisziplinen folgt im Ganzen jedoch ebenfalls der Regel "vom Leichteren zum Schweren", wobei sich das Lehrbuchjeweils auf den Umkreis einleitender Erörterungen beschränkt. In der Allgemeinen Pädagogik hat Herbart vier Stufen des Unterrichts unterschieden: Klarheit, Assoziation, System und Methode (SW I I, 50 f. ). Das Lehrbuch hat er insgesamt auf die erste Stufe beschränkt; für die zweite Stufe hatte er die Kurze Enzyklopädie vorgesehen (SW IX, 201). Zusätzliche Kriterien für die Reihung der drei Grunddisziplinen stammen aus dem Bildungsauftrag der Philosophie. Die Ethik sollte z. B. der Metaphysik vorausgehen, damit sich durch sie der "sittliche Charakter" festigen könne, der den Studenten davor bewahrt, sich in metaphysische Grübeleien zu verlieren (SW I, 337), und der ihm die Standfestigkeit verleiht, dem Unterricht bis zuletzt mit der erforderlichen Aufmerksamkeit und Energie zu folgen- "Disziplin" ist der Geist, der das Lehrbuch durchdringt. Die Gesamtaufgabe der Einleitungsvorlesung bestand für Herbart primär in der "Einübung" philosophischen Denkens; er spricht geradezu von der Beschäftigung der "Muskeln des Geistes" (SW I, 337) und einer "Gymnastik des Geistes" (S. 66). Die Beweglichkeit des Geistes, die es diesem ermöglicht, sich auf den Standpunkt anderer Denker, aber eben auch eines Anfängers zu versetzen, das philosophischsympathetische Interesse, hat für Herbart einen sehr hohen Wert - nicht zuletzt aus seiner kritischen Einstellung zu den zeitgenössischen Spinozisten, denen er vorwarf, die Gedanken gegenwärtiger oder früherer Denker gewaltsam nach dem eigenen Dogma zurechtzustutzen. Nicht geringeren Wert legte Herbart auf die Selbsttätigkeit des Denkens. Rezeption und Produktion, Lesen (Hören) und Denken sollten gleichzeitig aktiviert werden und sich frei entfalten - Herbart glaubte sogar empfehlen zu sollen, das Lesen zugunsten des selbständigen Denkens einzuschränken, weil das "historische Philosophieren" überband genommen hatte, die Studenten sollten in den gegenwärtigen Stand der geschichtlichen Entwicklung der Philosophie eingeführt

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werden. Herbart lehnte ein historisches Philosophieren dieser Art strikte ab, vielmehr sollten durch die Einleitung die Voraussetzungen für das Verständnis der philosophischen Probleme, wie sie sich in der (im Grunde ungeschichtlichen, jederzeit gleichen) alltäglichen Erfahrung stellen, allererst geschaffen werden. Seiner Auffassung nach reichte es nicht nur, sondern mußte sich letztlich auch als fortschrittlicher erweisen, den Studenten "Empfänglichkeit" für das "Verstehen und freie Überdenken" philosophischer Probleme zu vermitteln (S. 65). Erziehung zu nüchternem, kritischen Denken war für Herbart das einzig erfolgversprechende Heilmittel gegen die Orakelsprüche aus der Tiefe der intellektuellen Anschauung, in der sich das Absolute genau nach dem Maß des geschichtlich Möglichen und Notwendigen manifestieren sollte. Die Neuartigkeit von Herbarts Lehrbuch liegt also nicht zuletzt darin, daß er den Übergang vom Standpunkt des "gemeinen Verstandes" zum philosophischen Standpunkt nicht als Forderung zu einem genialischen "Sprung", auch nicht als Nachvollzug der bisherigen Geschichte der Philosophie, sondern als ein kritisch kontrollierbares didaktisches Problem aufgefaßt und zu lösen versucht hat. Das war deutlich gegen die zeitgenössischen Absolutisten gerichtet, die, wie es in der ersten Vorrede heißt, "ajove principium" ableiteten (S. 4); eine solche Philosophie setze die Schüler der Gefahr aus, "Hohlköpfe zu werden" (SW IX, 32). Schon während der Studentenzeit in Jena hatte sich Herbart von Fichte distanziert, weil er glaubte eingesehen zu haben, daß nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre "Erziehung" und damit eine kontinuierliche Erweiterung und Vertiefung des Verständnisses vom empirischen zum spekulativen Standpunkt nicht möglich sei. 22 Die "Bildsamkeit" des Menschen, die Herbart im Umriß pädagogischer Vorlesungen Zur Kritik an Fichte und der idealistischen Philosophie aus dem Gesichtspunkt der Pädagogik vgl. Pestalozzis Idee eines ABC der Anschauung, SW I, 285f.; Über die dunkle Seite der Pädagogik (1812), SW III, 151. 22

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(1835) als den Grundbegriff der Pädagogik bezeichnet hat (SW IX, 69), erweist sich auch als das eigentliche sachliche Prinzip für die Möglichkeit und die Notwendigkeit eines Lehrbuchs zur Einleitung in die Philosophie. "Philosophische Systeme, worin entweder Fatalismus oder transeendentale Freiheit angenommen wird, schließen sich selbst von der Pädagogik aus. Denn sie können den Begriff der Bildsamkeit, welcher ein Übergehen von der Unbestimmtheit zur Festigkeit anzeigt, nicht ohne Inkonsequenz in sich aufnehmen." (SW IX, 69) § 3. Nicht nur eine Einleitung in Herbarts Philosophie

In der Vorrede zur zweiten Ausgabe führt Herbart als vierte Regel der Lektüre des Lehrbuchs an, daß man sich erinnern solle, "daß dies Buch nur eine Einleitung ist" (S. 23); wer das System kennenlernen wolle, solle seine Hauptschriften lesen (S. 24) - ist also das Lehrbuch nichts anderes als eine Einleitung in Herbarts Philosophie? Es spricht vieles dafür, nicht nur Herbarts viele Verweise auf seine eigenen Schriften, sondern auch die Forderungen in seinen Hauptschriften, zuvor sich mit dem Lehrbuch vertraut gemacht zu haben. Andererseits spricht Herbart selbst gegen eine solche Einschränkung -das Lehrbuch sei nicht als eine Einleitung in seine Philosophie zu verstehen, sondern als Einleitung in die Philosophie überhaupt, vor aller schulmäßig-dogmatischen Erörterung der Sachprobleme (S. 65). Herbart scheint sich eines Widerspruchs nicht bewußt gewesen zu sein. Wie lassen sich die beiden Aussagen miteinander verbinden? Für die ausschließliche Geltung der ersten These sprechen mindestens drei Argumente: erstens die Funktion, die Herbart dem Lehrbuch für das Verständnis seiner eigenen Philosophie zugesprochen hat- das "Lehrbuch mußte alles in sich fassen, was zum vollständigen Leitfaden für meine Vorlesungen gehört" (S. 81); zweitens die Konzeption der didaktischen Aufgabe des Lehrbuchs- ohne im Besitze eines Systems

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und damit eines Ziels zu sein, könne man keine Einleitung in die Philosophie schreiben (S. 20), so daß dem Lehrbuch Herbarts eigenes System zugrundeliegen mußte; drittens die Auffassung davon, was als philosophisches Problem anzuerkennen und wie es zu formulieren ist. Man kann sogar noch viertens hinzufügen, daß selbst die These, daß das Lehrbuch mehr oder etwas anderes sein soll als eine Einleitung in Herbarts Philosophie, nur aufgrund von Herbarts eigenem Philosophiebegriff denkbar ist. Diesen Argumenten stehen andere gegenüber, die sie einschränken, wenn auch nicht ganz aufheben. Schon in den ersten Äußerungen über seine Einleitungsvorlesungen erklärt sich Herbart dezidiert dagegen, die Studenten auf das System des Lehrers einzuschwören: erstens sei das philosophische Bedürfnis des Anfängers nicht gewaltsam in eine bestimmte Form zu pressen, sondern aus sich selbst heraus zur Entfaltung zu bringen- der Student solle selbst denken, und das mit Lust; zweitens appelliere eine Einführung in das eigene System unter Verwendung von "Kraftwörtern" mehr an die Emotionen als an ein unvoreingenommenes Prüfen und Urteilen; drittens verhindere sie die Entfaltung der Vielseitigkeit und Beweglichkeit des Geistes, die Herbart in Einklang mit dem humanistischen Bildungsideal zu fördern suchte. Allen drei Kriterien liegt natürlich eine bestimmte Philosophie zugrunde, die Herbartsche. Das Entscheidende ist dabei jedoch, daß es eine Philosophie ist, die die intersubjektive Anerkennung von Denkerpersönlichkeiten zuläßt und jedem eine individuelle, selbsttätige Bildung zur Humanität eröffnet. Philosophieren ist nicht bloß eine Angelegenheit der theoretischen, auch nicht bloß der praktischen Vernunft, sondern des ganzen Menschen. Herbart würde diesen Grundsatz seiner Philosophie verleugnen, wenn er die Anfänger nur in seine Philosophie einführen wollte, wenn er als Grundlage der Philosophie nicht die ideale Menschheit, sondern sein individuelles Ich gesetzt hätte. Deshalb ist der Aufbau des Lehrbuchs auch nicht als propädeutischer Abklatsch von Herbarts System zu verstehen, sondern als kri-

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tisch kontrollierbarer Leitfaden, wie der Leser methodisch zu selbständigem Philosophieren gebracht werden kann: in welcher Schrittfolge, mit welchen Kenntnissen und Fähigkeiten, bis zu welchem Wissens- und Fertigkeitsstand, bis sich ihm ein Überblick über die Gesamtaufgabe der Philosophie bietet und sich sein individuelles philosophisches Bedürfnis zur Universalität des philosophischen Standpunkts ausgeweitet hätte. Das Lehrbuch richtet sich deshalb auch nicht nur an künftige Lehrer, die an (preußischen) Gymnasien den Unterricht in philosophischer Propädeutik geben sollten, sondern auch an alle jene Studenten, die sich im Selbststudium Rechenschaft über jeden ihrer Fortschritte in der geistigen Bildung ablegen und mit philosophischem Geist ihrer Berufsausbildung zuwenden wollten. Hieran hielten das Preußische Kultusministerium ebenso wie Herbart fest - die akademische Berufsausbildung in der Jurisprudenz, Medizin und Theologie sollte in philosophischem Geist geschehen, und diesen Geist zu wecken und selbständig werden zu lassen, sah Herbart als vornehmliehe Aufgabe seines Lehrbuchs an. § 4. Unmittelbarkeit des Gegebenen

"Erfahrung" ist nach Herbart der Ausgangspunkt jeglicher Philosophie, aber zunächst auch nicht mehr als der Ausgangspunkt, denn die Erfahrungen sind Täuschungen unterworfen. Gegen jeden naiven Realismus und Empirismus behauptet Herbart, daß "alles unmittelbar Gegebene" nur "Erscheinung" sei (SW V, 187). Wem die Brüchigkeit, Zufälligkeit, Scheinhaftigkeit der Erfahrungswelt noch nicht aufgegangen ist, dem ist noch nicht der philosophische Sinn aufgegangen. Das Aufgehen des philosophischen Sinns hat Herbart für ein in der natürlichen Entwicklung angelegtes Reifestadium angesehen, in das der Mensch etwa mit 16 Jahren eintritt, ähnlich wie er erst in einem gewissen Lebensalter die Sprachfähigkeit entwickelt. Damit der philosophische

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Sinn nicht ungestüm, frucht- und ziellos ausufert, muß er geleitet werden- deshalb fordert Herbart einen Philosophieunterricht bereits auf Gymnasien. Die Vernachlässigung der Philosophie führe zu leichtsinniger oder verschrobener Behandlung der Grundbegriffe der Wissenschaften (vgl. 16f., 78 u.ö.). Sobald sich der philosophische Sinn entwickelt hat, muß er vor Schwärmerei und Sprunghaftigkeit bewahrt werden, d. h. er muß lernen, die Erfahrungswelt genau und umfassend daraufbin zu untersuchen, was sie an Zweifelsgründen in sich trägt, aber auch daraufhin, was sich an Beständigem, Haltbarem an ihr zeigt. Die rigorose Rückführung des freigesetzten philosophischen Interesses auf die Befragung der Erfahrung, die Ausrichtung auf das objektiv Gegebene hat Herbart als dringendes Therapeuticum gegen die abgehobenen Gedankenflüge der Idealisten verstanden. Er versuchte auf diese Weise, die Skepsis, die er für unvermeidbar und notwendig hielt, einerseits vor der Verabsolutierung zu einer maß- und haltlosen Skepsis zu bewahren, andererseits sie nicht in ihr Gegenteil, den Dogmatismus umschlagen zu lassen, vielmehr sie im Rahmen kritisch unterscheidenden Denkens und der Suche nach unumstößlichen Gründen zu halten. Der Ausgang von der Erfahrung bietet die einzige Gewähr, zu einer kritisch kontrollierten und gesicherten Philosophie zu gelangen. Den Erkenntnisweg "von unten" hat Herbart kompromißlos dem spekulativ-deduktiven Erkenntnisweg "von oben" entgegengesetzt - sein gesamtes Lebenswerk stellt eine einzige grundsätzliche Kritik der idealistischen Philosophie dar. Die Scheinhaftigkeit des unmittelbar Gegebenen fordert als erstes zu einer Unterscheidung auf zwischen dem, was unbezweifelbar gegeben, und demjenigen an ihm, was bloß aufgrund von Gewohnheit, Tradition, aber auch aufgrund von falschen spekulativen Systemen bloß "hinzugedacht" ist. Es geht um die Bestimmung des tatsächlich Gegebenen. Das Gegebene ist nie isoliert gegeben, es steht von vorn her-

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ein in Zusammenhängen. Herbart spricht vom "täglichen Erfahrungskreis" (S. 207) oder von der "gemeinen Weltansicht", unterläßt es jedoch in der Regel, diese Zusammenhänge zu reflektieren; die Überlegungen zum praktischen Bedürfnis der Philosophie in der Kurzen Enzyklopädie stehen vereinzelt in seinem Gesamtwerk. Größere Aufmerksamkeit widmete er dagegen der Eingebundenheit des Gegebenen in die Fragestellungen und hypothetischen Bestimmungen durch die Wissenschaften. Die scheinbar zufälligen Reflexionen über die Sprachen, Geschichte, Mathematik und Naturkunde (S. 32 ff.) gehören in eine gemeinsame Problemdimension - es sind Reflexionen auf die Formierung der Erfahrungswelt durch die Wissenschaften. Hier bahnen sich Fragestellungen an (auf die Herbart mit der Thematik der "höheren Skepsis" eingeht), die nicht mehr nur die unmittelbare Erfahrungsmaterie, sondern die Form der Erfahrung betreffen. Man muß es Herbart zugutehalten, daß er das Problem des Gegebenen nicht gleich als ein Problem der Erkenntnistheorie (deren Priorität er sowieso nie anerkannt hat - nicht zuletzt hierauf beruhte seine Ausnahmestellung in seiner Zeit) oder der Metaphysik, sondern des- auch didaktischenAusgangspunktes und motivierenden Anlasses zum Philosophieren aufgefaßt hat. Die Platonische Lehre, daß die Philosophie mit dem Staunen beginne, lehnte er wegen ihrer Irrationalität ab, behielt indessen deren sachliches Motiv bei: das unmittelbar Gegebene präsentiere sich auf eine Art und Weise, wonach es nicht mehr aus sich selbst heraus erklärbar sei. Es erweise sich als trügerisch, scheinhaft, aber dennoch als so substantiell, daß es als Verweis auf ein in sich Substanzielles erfaßt werde- kein Schein ohne eine Andeutung von Sein (S. 285; SW IX, 332)- um dieses letztlich unaufhebbare, in sich bestimmte Sein ging es ihm, um eine gedankliche Vermittlung von Kants Ding an sich und Spinozas Substanzbegriff So ist es kein Wunder, daß sich nach Herbart der eigentliche philosophische Impuls in Analysen, in Reflexionen des begrifflich Gemeinten auswirkt, also auf das, was er gleich

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mit dem ersten Satz des Lehrbuchs als "Bearbeitung der Begriffe" (S. 29) bezeichnet - eine trotz aller Erläuterungen recht mißverständliche Definition des Philosophierens,2 3 weil sie auch noch als Gattungsbegriff für verschiedene Formen der "Bearbeitung" verstanden werden soll -jede der drei Grunddisziplinen der Philosophie hat ihre eigene Form von Bearbeitung oder "Umwandlung" von Begriffen. Die Bearbeitung der Begriffe erfolgt durchgehend in Hinsicht auf das, was sie bezeichnen, nicht dagegen in Hinsicht auf die Zeichen selbst und ihre Gesetzmäßigkeiten. Die von C. L. Reinhold zur Zeit der Entstehung des Lehrbuchs geforderte und auf seine Weise entwickelte "Kritik der Sprache", die sich als "Metakritik der Vernunft" versteht,2 4 liegt ganz außerhalb von Herbarts "Bearbeitung der Begriffe". § 5. Interesse an der Geschichte der Philosophie

Die Einleitung in die Philosophie verfolgte ursprünglich den Zweck, die Hauptlehren der Philosophie aus ihrer Geschichte darzustellen. Dies geschah von Anfang an im Bewußtsein des Unterschieds zwischen historischer Gelehrsamkeit und philosophischem Problemverständnis- auf Gelehrsamkeit hat Herbart in Forschung und Lehre nie Anspruch erhoben. Doch hat er auch nie den heilsamen Eindruck vergessen, den ihm mitten in seinen Fichtestudien 1796 die Begegnung mit der Vorsokratischen Philosophie durch Fülleborns Veröffentlichung der Fragmente insbesondere des Parmenides gemacht hat; auf diese Fragmentsammlung ist er im Lehrbuch wiederholt eingegangen, wenn auch sehr kritisch. Das Lehrbuch verfolgt auch hier einen didaktischen Vgl. hierzu auch die Erläuterungen im Streit mit der Modephilosophie, SW 111, 324f. 2·1 C. L. Rein hold: Grundlegung einer Synonymik für den allgemeinen Sprachgebrauch in den philosophischen Wissenschaften. Kiell812. 2"

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Zweck. Es sollte zeigen, unter welchen Voraussetzungen und auf welche Weise man auf überlieferte Lehrmeinungen eingehen kann, ohne den Boden des philosophischen Interesses aufzugeben: Nicht dadurch, daß man eine falsche Gegenwärtigkeit und unmittelbare Zugänglichkeit der alten, überdies lückenhaften und nur durch subtile historische Kritik von fremden Zutaten zu reinigenden Texte postuliert, aber auch nicht dadurch, daß man sich selbstbewußt über die kindischen Anfänge erhebt, sondern indem man sich in die Situation des Philosophierens in den betreffenden Zeiten oder Entwicklungsstadien versetzt. Im Falle der vorsokratischen Denker stellte Herbart die gedankliche Voraussetzung unter den Begriff des "Anfangs", des "Erwachens" der Philosophie, und diesen Anfang verstand er zugleich als die Ausgangssituation eines jeden Anfängers - beide Arten des Anfangs sind "natürliche" und als solche vollgültige Manifestationen des Philosophierens. Der historische und der didaktische "natürliche" Anfang gehören für Herbart auch in den Kontext der Frage, wie eine Vermittlung von Philosophie als Lehren und Lernen möglich sei. Damit der Lehrvortrag über die Philosophie der Alten nicht in einen geschichtlichen Bericht absinke, müsse die "Art" der Alten nachgeahmt werden, also die Art und Weise, wie sich ihnen die spezifisch philosophischen Probleme stellten. Der Lehrvortrag, heißt es 1804, "wird sich Anfangs, gleich einem Erwachenden, nach allen Seiten dehnen, und alle Bewegungen versuchen; alsdann umherschauen, und das Umgebende allmählich unter den möglichen Hauptansichten fixieren; endlich mit sich zu Rate gehn, wie er eine regelmäßige Nachforschung anstellen wolle, mit der dann in der Folge die Nachforschungen anderer verglichen werden mögen." (SW I, 336) Die drei Stufen des nachahmenden Versetzens in das fremde Denken- nachvollziehendes Kennenlernen, Subsumtion unter Hauptbegriffe, kritischer Vergleich - stehen unter der Forderung, alles kennenzulernen; nicht so sehr im quantitativen, sondern im repräsentativen Sinne, d. h. im Sinne der systematischvollständigen Vertretung des gesamten menschlichen Erfah-

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rungskreises, der äußeren und inneren Erfahrung. Nicht ohne Stolz verkündete Herbart, daß die Basis seiner Philosophie "so breit wie die gesamte Erfahrung" sei (SW V, 183)dies gilt auch für die Gesamtheit der überlieferten Texte. Auf die prinzipiell gemeinten Bemerkungen zu den Stufen der "Nachahmung" folgt dann die charakteristische Applikation auf die griechische Philosophie: "Die Versuche der Denker vor Sokrates deuten vollständig genug auf die mannigfaltigen, ursprünglich natürlichen Richtungen." (SW I, 336) Auf die ursprünglich natürlichen, in diesem Sinn prinzipiell möglichen Richtungen folgen die ausgearbeiteteren Formen des Philosophierens, die die Widersprüche deutlicher hervortreten lassen: "Plato und Aristoteles leiten im Theoretischen, Epik ur und Zeno im Praktischen, auf die entgegengesetzten Hauptansichten von Welt und Menschheit." Durch eine solche historische Einleitung werde schließlich das systematische Bedürfnis des Studenten geweckt- zuerst als logische Überprüfung, sodann als Ausbildung der praktischen Ideen, schließlich als kritische Vereinigung der Grundbegriffe der Natur zu einem metaphysischen System (SW I, 336). Doch führen die systematischen Schritte schon über die am Leitfaden der Geschichte vollzogenen Schritte und Stufen der Einleitung hinaus. Was immer Herbart an Auseinandersetzungen mit den Lehren historischer Autoren in das Lehrbuch aufgenommen hat, unterliegt den Gesichtspunkten und Zweckmäßigkeitsüberlegungen einer Einleitung in die Philosophie, nicht in die Gelehrsamkeit. Eine so strikte Unterscheidung wird man heute nicht mehr vertreten; damals, am Anfang der historischen Forschung und Hermeneutik in der Philosophie, entsprach sie noch der allgemeinen Verfassung philosophischer Studien. Mit einem Vorbehalt allerdings - Herbart war einer der ersten, der die philosophischen Voraussetzungen reflektierte, die Philosophie der Vorsokratiker ernst zu nehmen, und der durch den philosophierenden Nachvollzug ihres nur fragmentarisch überlieferten Denkens die starre Entgegensetzung von historischen Daten und Vernunftgründen zu überwinden begann.

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Es läßt sichjedoch nicht übersehen, daß dies nur im Vorhof der Philosophie als Wissenschaft geschah. Vom Allerheiligsten der Philosophie war ihre Geschichte ausgeschlossen. Hart und unmißverständlich schreibt Herbart in der Psychologie als Wissenschaft (1824): "Vergebens sucht man Rat bei älteren Zeiten; sie wußten nicht mehr wie wir. Descartes, Locke, Leibniz, Spinoza, selbst Platon und Aristoteles taugen bei uns nur zur Vorbereitung; in noch frühere Zeiten müßten wir wissentlich hineindichten, was die Dokumente nicht enthalten." (SW V, 183) Von hier aus haben Herbarts Bemerkungen, welche historischen Philosophen in welcher Reihenfolge zu lesen seien (vgl. S. 24f), natürlich nicht den Sinn, die philosophiegeschichtlichen Ahnen der eigenen Philosophie nachzuweisen, sondern den Sinn propädeutisch-didaktischer Empfehlungen für "gymnastische" Übungen im Vorhof der Philosophie. Nichtsdestoweniger haben sie den Vorzug, das Philosophieren über die Grenze, die Kants revolutionäre Neubegründung der Philosophie darstellt, hinauszuführen sowohl über die Sprachbarrieren hinweg vor allem in die von der idealistischen Philosophie diskreditierte englische Tradition, als auch über die Neuzeit hinweg in die antike Tradition, in der außer den Vorsokratikern insbesondere der schon damals nur noch im Gymnasialunterricht berücksichtigte Cicero eine auffallend große Rolle spielt. Es ist also materialiter wie auch formaliter eine ganz andere als die damals übliche "Geschichte der Philosophie", die sich vom Standpunkt des Lehrbuchs eröffnet, und beide, die materiale wie die formale Perspektive, verdienen auch heute ein aufmerksames Studium. § 6. Ohne Logik keine "Bearbeitung der Begriffe"

Ein Fortschreiten über die historische Empirie als auch über die skeptischen Probleme der Erfahrung hinaus zu systematischen Fragen ist nach Herbart zuerst an das Stadium der logischen Überprüfung der überlieferten Lehren und der

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Erfahrungsbegriffe gebunden, also an eine kritische Kontrolle der "Bearbeitung der Begriffe". Die logische Überprüfung soll die Gewähr dafür bieten, daß die Verbindung der Begriffe zu Schlüssen und Theorien nicht auf gedanklichen Sprüngen, Verwechslungen und Erschleichungen beruht. Dabei untersucht die Logik allein die Form der Verbindung der Begriffe, unabhängig von allem möglichen Inhalt und der Gültigkeit der Erkenntnisse. Herbart betont mit Recht, daß der Inhalt immer nur etwas Gedachtes oder Vorgestelltes sein kann, so daß er von vornherein die Logik vonjeder Vermengung mit Fragen der Realität des Gemeinten befreit die damals aktuelle spekulative Verbindung von Logik und Ontologie lehnte Herbart aufs schärfste ab. Ebenso löst er die Verbindung des Denkens mit der Realität des Denkenden die Logik wird gründlich von jeder psychologischen Beimischung gesäubert. Im Psychologismusstreit seiner Zeit hat Herbart, ähnlich wie Husserl um 1900, entschlossen für eine rein immanente Auffassung der Logik plädiert. Der gedrängte Abschnitt über die Logik ist wie die anderen Abschnitte des Lehrbuchs aus der Idee der Einleitung, als ein ihr integrierter Bestandteil zu lesen, nicht als ein davon unabhängiges Lehrstück, das eigenen sachlichen Ansprüchen zu genügen hätte. Dabei ist dreierlei von Bedeutung: daß Herbart die Logik überhaupt in das Lehrbuch aufgenommen hat; die Stelle, an der er sie behandelt, und die grundsätzliche Auffassung der Logik als "formaler" Logik. Die Aufnahme der Logik in das Gesamtvorhaben des Lehrbuchs ist teils gegen die übliche Verbindung mit der Metaphysik oder Ontologie, teils gegen Zeittendenzen gerichtet, die Logik auf einen überwundenen Standpunkt des Philosophierens zurückzusetzen und als unfruchtbare, in leeren Spitzfindigkeiten luxurierende Spielerei abzutun. Für Herbart hat die Logik einen unverzichtbaren, nur zum Schaden der Philosophie verschenkbaren Nutzen als Prüfstein korrekten Denkens. Die idealistische Philosophie demonstriere, auf welch abenteuerliche Abwege das Philosophieren gerate, wenn es die Normen der Logik mißachte.

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Herbart hat der Logik eine Stelle zwischen dem Abschnitt über die Skepsis und der praktischen Philosophie angewiesen. Nach beiden Seiten hat sie je spezifische Aufgaben zu erfüllen: in Beziehung auf die Skepsis als Prüfung der Widersprüche, da ohne Einsicht in die sehr verschiedenen Zweifelsgründe keine Lehre gefunden werden könne, die wenigstens formell der Kritik standhalte- die Logik als Mittel der Überwindung eines absoluten Skeptizismus. In Beziehung auf die praktische Philosophie, mit der der inhaltliche Teil der Philosophie beginnt, hat die Logik die Funktion eines Kriteriums für eine lückenlose und korrekte Argumentation. Indem Herbart die Logik der Entfaltung der inhaltlichen Theoreme voranstellt, erhebt er den Anspruch, daß alle inhaltlichen Disziplinen der Philosophie die logische Prüfung zu bestehen haben. Diese Aufgaben könne jedoch nur eine Logik lösen, die sich unabhängig von jeder inhaltlichen, weltanschaulichen, metaphysischen Voraussetzung entfalte, also nur die formale Logik. Man hat Herbart zum Vorwurf gemacht, daß er ohne Umstände die formale Logik Kants und der Leibniz-Wolffschen Schulphilosophie übernommen habe. Solche Argumente, die auf der These vom spekulativen Fortschritt der Philosophie beruhen, lassen sich auf die Sache nicht ein. Außerdem übersehen sie den didaktischen Kontext, in den Herbart die Logik eingefügt hat- nicht "die" Logik, sondern nur dasjenige aus ihr hatte er angeführt, was für den Zweck der Einleitung unbedingt nötig war. So ging auch Trendelenburg an der Sache vorbei, als er kritisch auf die Unterschiede zwischen der Kategorienlehre des Lehrbuchs und der der PsychologiealsWissenschaft(Bd. II,§ 124, 131;SWVI, 129ff., 162ff.) hinwies, als ob er Herbart bei einem Selbstwiderspruch erwischt hätte.2 5 Auf die naheliegende Erklärung, daß die Unterschiede auf die verschiedenen thematischen Kontexte zurückzuführen seien, ist er nicht gekommen. Im übrigen A. Trendelenburg: Geschichte der Kategorienlehre. Zwei Abhandlungen. Berlin 1846. Bes.S. 338-355. 2 -'

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war sich Herbart sehr wohl bewußt, daß von der formalen Logik nicht allzu viel für die Philosophie zu erwarten sei, daß sie nur einen "negativen" Nutzen habe; immerhin jedoch den didaktischen Nutzen einer gründlichen Einübung in die Genauigkeit des Denkensund die Schärfe von Unterscheidungen - den Scharfsinn hat Herbart als das erste Talent eines Philosophen bezeichnet (vgl. z. B. SW XII, 162, 109, 134, 157). Herbart fordert die Logik also nicht bloß aus wissenschaftlichen Gründen, sondern auch aus Gründen einer Ethik des Philosophierens. § 7. Herbarts "Ästhetik" Regelrecht verbissen hat Herbart gegen alle kritischen Einwände zeit seines Lebens an einem Begriff von Ästhetik festgehalten, der weder von der Sache noch vom Sprachgebrauch her einleuchtet: Ästhetik sei die Wissenschaft von den Begriffen, die einen Zusatz des Beifalls oder Mißfallens zu unseren Vorstellungen bezeichnen (S. 52). Beifall oder Mißfallen, Vorziehen oder Verwerfen können sich auf moralische oder im engeren Sinn ästhetische (schöne, häßliche, erhabene usw.) Phänomene beziehen, in beiden Fällen handele es sich um Fragen des "Geschmacks". Die These, daß moralische Urteile eine Frage des Geschmacks sein sollen- in der Allgemeinen praktischen Philosophie (1808) geht Herbart ausführlich auf den "sittlichen Geschmack" ein (SW 111, 389 ff.) -,hat Empörung ausgelöst, was Herbart aber nicht zu einer Korrektur seiner Ausdrucksweise veranlaßt hat, zu sicher stand ihm vor Augen, daß den beiden für sich betrachtet völlig unterschiedlichen und unabhängig voneinander bestehenden Arten des Urteils doch ein und das gleiche eigenartige Phänomen eines unmittelbaren und unwillkürlichen "Zusatzes" von Beifall oder Mißfallen zu unseren Vorstellungen zugrundeliege; wobei "Zusatz" nicht gerade ein glücklicher Ausdruck für die Unmittelbarkeit und Dichte der Verbindung von Vorstellung und wertender Apperzeption

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ist. Die Tatsache, daß sich Herbart gezwungen sah, immer wieder durch Erläuterungen deutlich zu machen, ob er von Ästhetik im allgemeinen oder nur in dem engeren Sinn einer Lehre vom Schönen oder Häßlichen spreche, hätte ihn von der Unzweckmäßigkeit seines Begriffs von Ästhetik überzeugen können, aber er fand, daß es für das gemeinte Phänomen keinen passenderen Ausdruck gebe. Wenn Herbart dem Leser des Lehrbuchs am Anfang rät, nicht an der Streitfrage kleben zu bleiben, ob die praktische Philosophie wirklich eine ästhetische Wissenschaft sei oder nicht, dann geschieht dies nicht, weil ihm die Frage unwichtig erscheint, sondern aus didaktischen Erwägungen. Für den Zweck einer Einleitung ist der Ausgang von dem, was sich im Bewußtsein unmittelbar an sittlichen Einsichten aufweisen lasse, der einzig erfolgversprechende Ansatz; die Frage eines gemeinsamen Prinzips stellt sich erst später. Der Sache nach ist mit dem allgemeinen Begriff "Ästhetik" das gemeint, was später von Herbarts Schüler Lotze als "Wertphilosophie" bezeichnet wurde. Das Werturteil stellt ein selbständiges, von anderen unabhängiges Phänomen des Bewußtseins dar, das weder als ein logisches noch als ein metaphysisches Urteil aufgefaßt werden kann. Die Werturteile gliedern sich in zwei Arten, die moralischen und die ästhetischen. Die Vorschriften, die die Logik aufstellt, und die Zustimmung oder Ablehnung von logischen Urteilen, den "assensus logicus" (S. 134; vgl. SW IX, 204), hat Herbart ausdrücklich von den Werturteilen ausgeschlossen. Wohl aber spricht er gelegentlich bei religiösen Urteilen von Vorziehen und Verwerfen, so daß man schließlich von drei unabhängig voneinander bestehenden Arten von Werturteilen sprechen kann. In seiner Aversion gegen Ableitungen aus einem einzigen Prinzip hat er sie alle als unmittelbar gegebene, voneinander unableitbare Urteile nebeneinander gestellt; auch die Frage nach einer Hierarchie unter den verschiedenen Arten von Werturteilen hat er als Irrtum abgelehnt. Von den verschiedenen Arten hat er das moralische Werturteil am ausführlichsten und häufigsten behandelt. Die

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Grundlage bildete von den ersten Entwürfen zur praktischen Philosophie an seine Lehre von den fünf voneinander unableitbaren praktischen Ideen: der inneren Freiheit, der Vollkommenheit, des Wohlwollens, des Rechts und der Billigkeit - in dieser Reihenfolge, die einer bestimmten Logik folgt: von innen nach außen. Herbart sah die Lehre von den praktischen Ideen bereits bei Cicero und noch früher bei Platon vollständig entwickelt, was er für ein Zeichen ihrer ahistorischen Geltung hielt. 26 Bezieht sich der Geltungsanspruch der fünf Ideen unmittelbar auf die Individuen, so derjenige der ihnen entsprechenden fünf abgeleiteten Ideen (beseelte Gesellschaft, Kultursystem, Verwaltungssystem, Rechtsgesellschaft und Lohnsystem) auf die Gesellschaft. Herbart will die Ideenlehre im Lehrbuch natürlich nicht wissenschaftlich beweisen, sondern nur dem unvoreingenommenen, freien Überdenken vorlegen. Im Unterschied zu den sittlichen hat Herbart die ästhetischen Urteile so wenig in seinen Schriften und Vorlesungen behandelt, daß bei den Überlegungen der Göttinger Universität zur Besetzung des zweiten philosophischen Lehrstuhls die Forderung aufgestellt wurde, daß der in Frage kommende Kandidat in der Lage sein solle, Ästhetik zu lehren, um diese Lücke im Lehrangebot zu schließen. Herbarts Desinteresse an der Ästhetik ist um so auffallender, als er ein hervorragender Musiker gewesen ist und sich in der klassischen Literatur sehr gut auskannte. Man hat sich das Desinteresse dadurch erklärt, daß Herbarts Charakter in einem ungewöhnlich starken Maße durch sittlichen Ernst geprägt gewesen ist. Sein Freund Smidt bezeichnete ihn als personifizierten kategorischen Imperativ (SW I, S. XXV), dem alles Leichtere, Spielerische fremd gewesen sei. Fügt man noch hinzu, daß er so unsinnlich wirkte, daß seine Jugendfreunde Vgl. zur "praktischen Ideenlehre" die Allgemeine praktische Philosophie (1808), SW II, 407 ff.; die Rede über Ciceros Philosophie (18II), SW III, bes. 89 ff.;die Kurze Enzyklopädie (1831), SW IX, bes. 26

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fürchteten, er werde sich nie verheiraten, dann wird seine Prädisposition für die Bevorzugung des Erhabenen vor dem Schönen, der Zeichnung vor den Farben, der Gesetzmäßigkeit vor dem Irrationalen verständlicher. Immerhin sind seine Ausführungen zu den ästhetischen Urteilen im Lehrbuch, die man durch die "Aphorismen" ergänzen sollte (SW IV, bes. S. 398 ff.), bei aller Kürze doch so präzise und grundlegend ausgefallen, daß sie in den fünfzigerJahrendes 19. Jh.s durch R.Zimmermann zu einer vollständigen "formalistischen Ästhetik" ausgebaut werden konnten. § 8. Naturphilosophie und Metaphysik

In der Erfahrungswelt treten unvermeidbare grundsätzliche Widersprüche auf, so daß das Bedürfnis entsteht, die Erfahrungswelt gedanklich so zu ergänzen, daß sie widerspruchsfrei denkbar wird - die Aufgabe der Metaphysik besteht im Denkbarmachen der Begriffe der Erfahrung (S. 269). In diesem Sinn bezieht sich die Metaphysik auf die in der Erfahrung gegebene Natur, ist primär Naturphilosophie, im buchstäblichen Sinn "Meta-Physik". Herbarts Bestimmung dieses Begriffs hat man als eine willkürliche Festlegung und als eine rigorose Reduktion der Aufgabe der Metaphysik kritisiert. Demgegenüber hat Herbart leicht auf die chaotische Verwendungsweise des Disziplintitels hinweisen können. Sachlich berief er sich auf die faktisch von Aristoteles an bis hin zur Leibniz-Wolffschen Schule betriebenen Untersuchungen über Raum, Zeit, Veränderung, Materie usw., so daß er, ähnlich wie in der praktischen Philosophie, seine eigene Auffassung durch die klassische Tradition legitimiert sehen konnte (S. 269). Die von Herbart seit den Hauptpunkten (1808) sogenannte "Methode der Beziehungen", d. h. der Methode, die verborgenen, aber für das Begreiflichmachen der widersprüchlichen Erfahrung notwendigen Ergänzungsbegriffe aufzusuchen (SW II, S. 218), stellt die für die Metaphysik grundle-

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gende Methode dar. Man solle sich bei der Lektüre des Lehrbuchs davor hüten, in der Dornenhecke dieser Methode hängenzubleiben, hat Herbart vorsorglich geraten (S. 24); in den von Auflage zu Auflage erfolgenden Veränderungen des vierten Abschnitts hat er das Seine dazu beigetragen, ein Hängenbleiben zu vermeiden. Im Lehrbuch bewegt sich der Leser allerdings noch weitgehend im Vorfeld der Metaphysik, also noch diesseits der Verfitzungen der Dornenhecke. Sehr viel wichtiger als die Methode der Beziehungen ist für das Verständnis des Lehrbuchs der Begriff des Widerspruchs; sachlich und geistesgeschichtlich. Mit diesem Begriff und der grundlegenden Rolle, die er in der Metaphysik spielt, scheint sich Herbart auf das Terrain begeben zu haben, das sein Antipode Heget in Besitz genommen hatte - aber der Schein trügt: es handelt sich um eine Gleichzeitigkeit von Ungleichartigem. Herbart hatte sich durch seine formale Logik davor gefeit, der von ihm perhorreszierten spekulativen Dialektik zu verfallen. Der heftige Streit der Hegelianer gegen Herbarts Begriff des Widerspruchs - es tue Not, allererst die Widersprüche in Herbarts eigener Theorie zu beseitigen, bevor sie auf die wahre Beseitigung des Widerspruchs als dem dialektischen Puls der Dinge auch nur vorbereitet sei2 7 - ist sachlich kaum mehr als ein polemisches aneinander Vorbeireden. Es kann natürlich dazu dienen, die Distanz und die Höhendifferenz zu bestimmen, die zwischen den synonym bezeichneten Gebieten liegt, worauf wir hier jedoch verzichten müssen- es hieße, den gesamten Streit zwischen Hegelianern und Herbartianern nach Hegels Tod aufzurollen. Eine analoge Rolle wie die praktischen Ideen in der Ästhetik spielen die Grundprobleme oder Grundwidersprüche in der Metaphysik: Inhärenz, Veränderung, Materie, Ich - in dieser (didaktisch bedingten) Reihenfolge konkretisiert sich und spitzt sich zu, worin Herbart die Widersprüche in den Grundlagen unserer Erfahrungswelt sieht. Jeder von ihnen Vgl. Hinrichs' Besprechung von Herbarts Metaphysik Bd. 2 in: Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik 1831, Bd. I, Sp.86. 27

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stellt ein spezifisches, eignes Problem dar. Im Unterschied zu der Reihe der praktischen Ideen in der Ästhetik ist in der Metaphysik die Reihe der Grundprobleme unabschließbar, da sie auf der in der Zeit- und Raumerstreckung unendlichen Erfahrung beruhen. In jedem einzelnen Problemkreis setzt sich Herbart von der zeitgenössischen Philosophie ab, am entschiedensten jedoch mit dem Grundprinzip des Idealismus schlechthin (in der frühen Fassung Fichtes und Schellings), diesem "schwersten aller Probleme" (S. 326), dem Problem des "Ich". Das Lehrbuch leitet in die Erörterung dieses Problems nur ein; die Vertiefung und Radikalisierung des Ich-Problems in alle seine Widersprüchlichkeiten hinein erfolgt in den systematischen Schriften Herbarts. Von den jugendlichen Auseinandersetzungen mit der Wissenschaftslehre Fichtes und Schellings an über die Hauptpunkte, die Psychologie als Wissenschaft bis in die Metaphysik, die Kurze Enzyklopädie und die anderen Schriften der dreißiger Jahre hinein entfaltet Herbart eine sehr differenzierte und scharfsinnige Erörterung, von der man aus den jüngsten Darstellungen dieses Problemkreises von Herbarts Metaphysik kaum eine Vorstellung gewinnt. 28 § 9. Enzyklopädische Perspektiven

Kapitel sechs des Lehrbuchs ist einem enzyklopädischen Überblick über die Teile gewidmet, die die "angewandte" Metaphysik ausmachen: Psychologie, Naturphilosophie, Religionsphilosophie. Eine enzyklopädische Übersicht gehört zu den traditionellen Aufgaben einer einleitenden Vorlesung. Vgl. R. Lauth: Herbarts hellsichtige Beurteilung der Schelling'schen Schrift ,Vom Ich' im Jahre 1796. In: Ders.: Die Entstehung von Schellings Identitätsphilosophie in der Auseinandersetzung mit Fichtes Wissenschaftslehre (1795-1801). Freiburg 1975. 205-210.M. Frank: Selbstbewußtseinstheorien von Fichte bis Sartre. Frankfurt 1991. 482-492. 2R

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Ihr didaktischer Wert für die Auffassung der inneren Einheit und des logischen Zusammenhangs der verschiedenen Disziplinen der Philosophie, für die daraufberuhende Umsicht in der Analyse der einzelnen Probleme, die Vorbeugung vor Einseitigkeit, vorschnellen Pauschalurteilen und Parteilichkeit-all dies wird heute viel zu gering geschätzt. Eine enzyklopädische Übersicht stellt auch eine immanente Überprüfung eines philosophischen Systems dar: ob es fähig ist zu einer widerspruchsfreien Durchdringung aller philosophischen Disziplinen und Probleme und ob es über die erforderlichen logischen und wissenschaftstheoretischen Mittel für die Einteilung der Philosophie verfügt. Es wurde bereits gesagt, daß Herbart die antike Einteilung der Philosophie in Logik, Ethik und Physik für begründet hält; er korrigiert sie in die dem Lehrbuch zugrundeliegende Einteilung in Logik, Ästhetik und Metaphysik- jede von ihnen ist durch eine eigentümliche Form der "Bearbeitung der Begriffe" geprägt. Zu den formalen Wissenschaften der Philosophie rechnet er außer der Logik auch die Mathematikdarin versuchten sich zu seiner Zeit auch Fries, J.J. Wagner und K. Chr. F. Krause. Im Sinne der didaktischen Zielsetzung des Lehrbuchs war es sinnvoll, daß Herbart in der 4. Auflage auch wieder die Problematik der "angewandten Logik" aufgegriffen, d. h. auf die Grenzen einer "unsachlichen" Anwendung der Logik in den einzelnen Wissenschaften hingewiesen hat. Mit gutem Grund stellt er sich auf den Boden von Aristoteles' Prinzip, daß die Entwicklung der einzelnen Wissenschaften den Forderungen ihrer materialen Probleme, der "Sachen" gehorchen solle. Die nur von den Einzelwissenschaften aus zu entwickelnden Methodologien haben die Aufgabe, die allgemeinen Grundsätze der Logik zu ergänzen. Die materialen Grunddisziplinen der Philosophie (Ästhetik und Metaphysik) gliedern sich ihrerseits nach immanenten Gesetzmäßigkeiten- auch hier lehnt Herbart eine durch alle philosophischen Disziplinen hindurchgreifende einheitliche Logik ab, er war kein Verteidiger der "Einheitswissenschaft", im Gegenteil. Die Ästhetik gliedert sich in

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ihrem ethischen Teil in den individual- und sozialphilosophischen Teil, d. h. in Moral und Naturrecht auf, in der Sphäre der "Anwendung" (auf die Erfahrungswelt, zu der alle Philosophie wieder zurückkehren müsse) in die Pädagogik und Politik. Die Metaphysik gliedert Herbart, z. T. im Rückgriff auf die Leibniz-Wolffsche Schule, in die allgemeine Metaphysik (Ontologie), Psychologie und Naturphilosophie (Kosmologie), welche letzteren beide die Sphäre der inneren und der äußeren Erfahrung umfassen. Eine instabile Einordnung hat dagegen die natürliche Theologie bzw. Religionsphilosophie erhalten: sie könne die metaphysischen Disziplinen vervollständigen, aber auch die der "Ästhetik". Diese Unentschiedenheil nimmt sich im Zeitalter des deutschen Idealismus und Spätidealismus fremdartig aus. Ob man daraus schließen darf, wie es getan worden ist, daß Herbart in religiösen Fragen philosophisch indifferent gewesen sei oder daß eine Philosophie wie die seine in ihrer unentschlossenen Einstellung zur Religion ihren Offenbarungseid leiste 29 , müssen wir hier dahingestellt sein lassen. Die enzyklopädischen Perspektiven des Lehrbuchs zeigen aber, ähnlich wie die bewußt durcheinandergewürfelte Einteilung der Kurzen Enzyklopädie, daß sich Herbart der Aufgabe einer streng durchgeführten Systematik eher spielerisch entzogen als sich ihr mit dem gebührenden Ernst gestellt hat; weshalb es auch nicht allzu dogmatisch gemeint sein wird, wenn er das Lehrbuch mit ausführlichen Bemerkungen zur Staatsphilosophie statt zu einem persönlichen Gott abschließt.

Vgl. J. E. Erdmann: Schopenhauer und Herbart, eine Antithese. In: Zeitschr. f. Philos. u. philos. Kritik 21 (1852), 214f. Die auffallende religionsphilosophische Lücke hat M. W. Drobisch auszufüllen gesucht: Grundlehren der Religionsphilosophie. Leipzig 1840. Vgl. hierzu Chr. H. Weißes Besprechung in der Zeitschr. f. Philos. u. spekulat. Thcol. 7 (1841), 278-287 und H.Uirici: Zur Religionsphilosophie II. In: Zeitschrift. f. Philos. u. philos. Kritik 23 (1853), 240ff., bes. 264-282. 29

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Wolfbart Henckmann § 10. Stellung zur zeitgenössischen Philosophie

Charakteristisch, ja entscheidend für Herbarts Stellung zu den zeitgenössischen philosophischen Standpunkten ist seine Auseinandersetzung mit dem Idealismus des frühen Fichte und SeheHing-seit 1796, also seit den Kinderjahren des Idealismus, gehen Idealismus und Realismus auseinander. Die Radikalität, mit der Fichte den Begriff des Ich zum Prinzip einer Philosophie, die als Wissenschaft auftreten sollte, entwickelt hatte, forderte den Gegner zu einer ebenso radikalen Begründung des entgegengesetzten Standpunkts heraus. Herbarts Gegnerschaft zum Idealismus ging über Kants philosophiegeschichtliches Grundmuster Dogmatismus-Skeptizismus-Kritizismus hinaus, verzichtete auch auf eine Parteinahme für den von den Franzosen entwickelten Materialismus, ebenso auf einen Rückgriff auf religiöse, außerphilosophische Prinzipien- der neue "Sektenname", wie man es damals nannte, war der "Realismus", und Herbart machte sich zu einem seiner Vorkämpfer. Er stand nicht allein. Zu den Realisten unter den Anti-Idealisten gehörten Fries, Bouterwek, Krug, Beneke, Köppen und auch Schopenhauer - lauter Einzelkämpfer, die bis in die dreißiger Jahre hinein kaum etwas gegen die Phalanx der idealistischen Schulen auszurichten vermochten. Sie mußten sich jedoch nicht nur gegen die Idealisten abgrenzen, sondern auch untereinander, wodurch jeder zum Einzelgänger wurde, gefolgt allein von einer mehr oder weniger großen Schar von Anhängern, in gebührendem Abstand. Herbart trug in den ersten zwei Jahrzehnten seiner Lehrtätigkeit schwer an seiner isolierten Stellung im fernen Königsberg, "ankämpfend wider Wind und Strom", so daß er .,nur mit äußerster Anstrengung" seine Richtung zu halten vermochte und ohne die Stütze der Mathematik seinem eigenen Bekenntnis nach untergegangen wäre (SW V, S. 181). Er forderte, daß der .,wahre Realismus" aus der Überwindung des Idealismus hervorgehen müsse (SW VI, 55), daß es also nicht reiche, sich auf irgendeinen vor-idealistischen Realismus zu-

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rückzuziehen. In der Überwindung des Idealismus wollte Herbart den Realismus zur Vollendung führen (S. 275 f), und es gelang ihm tatsächlich im Laufe der Jahre, vor allem seit der Veröffentlichung der Psychologie und der Metaphysik, den "wahren Realismus" zu einem der stärksten Gegner des Idealismus zu entwickeln. Wie aber war dieser näher zu charakterisieren? So gut wie vonjedem philosophischen Standpunkt aus wurde ein "Realismus" definiert, in entsprechender perspektivischer Akzentuierung. Einer von Herbarts Schülern schlug schließlich "metaphysischen Realismus" vor, womit er der Sache bzw. dem Selbstverständnis wohl am nächsten kam.3° Mit dem Empirismus der verschiedensten, auch von Kant beeinflußten Schattierungen hatte dieser Realismus nichts zu tun. Das erkennt man schon an der Formulierung der vier Grundthesen, durch die Herbart seinen Standpunkt inhaltlich umriß: Die Grundbegriffe der praktischen Philosophie sind ästhetisch; die der Metaphysik sind widersprechend; die der Psychologie sind mathematisch; zur Begründung der Naturphilosophie gehört "Synechologie" (SW IX, 20)- auf erfahrungsbezogene Verständlichkeit, auf die der Empirismus so viel Wert legte, konnten diese Sätze nicht einmal unter den akademisch Gebildeten rechnen. Was Herbart unter dem emphatischen Titel eines "wahren Realismus" dem sieggewohnten Idealismus entgegenstellte, bedarf einer geduldigen Interpretation. Zu seinen Lebzeiten fand sie kaum statt. So fiel ihm auch die Siegespalme in der Gigan30

L. Strümpell: Die Einleitung in die Philosophie vom Stand-

punkte der Geschichte der Philosophie. Leipzig 1886. 282 ff. Vgl. zur Fragestellung: I. Frauenstädt: Über den letzten Unterschied der philosophischen Systeme. In: Zeitschr. f. Philos. u. philos. Kritik 25 (1854), 77-94; H.Uirici: Einige Bemerkungen über den Gegensatz von Idealismus und Realismus und Schopenhauers Auffassung desselben. Ib. 94- 114; F. Ueberweg: Über Idealismus, Realismus und Idealrealismus. Ib. 34 (1859), 63-80; M. W. Drobisch: Über die Wandlungen der Begriffe Idealismus und Realismus und die idealistische Seite der Herbart'schen Metaphysik. In: Zeitschr. f. ex. Philos. 5 (1865), 121-166.

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tomachie zwischen Idealismus und Realismus nicht zu- symptomatisch, daß er nach Hegels Tod nicht nach Berlin berufen wurde, was ihn sehr enttäuscht hat; er verließ Preußen und folgte einem Ruf an die Universität Göttingen, vor der, nach einer bissigen Bemerkung Heines, die Ideen der neuesten (idealistischen) Philosophie in Quarantäne lagen. Daß sein Nachfolger in Königsberg der Hegelianer K.Rosenkranz wurde, stellte auch keine Ermutigung in seinem Kampf gegen Schwärmerei und Modephilosophie dar. Will man seine Stellung zu den zeitgenössischen Philosophen genauer bestimmen, muß man auf die historische Einleitung zur Allgemeinen Metaphysik (SW VI I) sowie seine vielen Rezensionen zurückgreifen (SW XII-XIII), unter ihnen besonders auf die Besprechungen von Schriften von Fichte, Schopenhauer, Bachmann, Fries, Krug, Beneke, Steffens, Bouterwek, Krause, Weiße und natürlich Hege!. Diese Aufgabe darf man nicht mehr nur den allzu voreingenommenen Herbartianern des 19. Jh.s überlassen, ebensowenig einer allein an einem einzigen Autor interessierten Forschung, sondern müßte sie einer breitangelegten geistesgeschichtlichen (Kampf) Feldforschung übertragen, die die Bewegungen, Ergebnisse und Filiationen der kämpfenden Parteien zur Zeit des deutschen Idealismus und des Vormärz herausarbeitete. Dann würde man deutlicher abschätzen können, was es bedeutet haben mochte, wenn Herbart sich als einen "Kantianer von 1828" bezeichnete (SW VII, 13); die Diskussion um diese Formel setzte manchen Herbartianer in Verlegenheit, die Hegelianer in Siegesstimmung. Herbart hatte sie primär als Einschränkung gedacht, was von einem Denker, der Kants Philosophie in so vielen grundsätzlichen Fragen kritisiert hatte, auch nicht anders zu erwarten war- er lehnte die Erkenntnis apriori, die Lehre von den Seelenvermögen (die er als "mythologische Wesen" zu bezeichnen pflegte), die transzendentale Freiheit usw. ab, so daß man seine Berufung auf Kant geradezu als Hohn empfunden hatte. Doch ging Herbarts Bewunderung für die Konsequenz von Kants kritischem Denken weit über die Kritik an einzelnen seiner Leh-

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ren hinaus; Kants "kritisches Geschäft" wollte Herbart weiterführen (SW V, S. 183), und dazu gehörte wesentlich die Orientierung der Philosophie an der Erfahrung, insbesondere in der von den Naturwissenschaften bestimmten Form, auch wenn sie zur Ablehnung eines großen Teils der Ergebnisse von Kants Kritik führte. Letztlich maß sich Herbart jedoch nicht an den zeitgenössischen Denkern und philosophischen Strömungen, sondern an einer Art von "philosophia perennis". In seiner Rede 1833 zur Erinnerung an Kants Geburtstag stellte er sich eine jenseitige Versammlung der Philosophen Platon, Aristoteles, Parmenides, Descartes, Locke, Leibniz, Spinoza, Hume und Kant vor, die über seine Philosophie zu urteilen hätte. Die Versammlung setzt sich sichtlich aus Philosophen zusammen, denen sich Herbart in dem einen oder anderen Sinn verbunden fühlte. Allerdings war seine Meinung von diesem Gremium dann doch nicht sehr hoch, denn er ließ sie nur nach persönlichen Vorurteilen und Interessen verhandeln, als wäre so etwas unausweichlich, selbst im Jenseits. Nur bei Kant glaubte er eine Bereitschaft zum Einlassen auf seine Lehre voraussetzen zu dürfen. In diesem Fall wollte Herbart versuchen nachzuweisen, "Kant sei nicht überall und im engsten Sinne Kantianer; und auf diese Weise würde ich die Strenge dieser Benennung erst mildern, um sie hintennach biegsam genug zu meinem Gebrauche zu finden. Doch was hilft mein Träumen? Kant hört mich auch nicht! So stehe ich denn als ein Unbefangener außerhalb des Kreises einer bekannten Schule; und in dieser Unbefangenheit lege ich ein unparteiisches also desto stärkeres Zeugnis ab für Kant" (SW X, S. 37). So wäre Herbart dann schließlich nicht so sehr ein Kantianer von 1828, sondern von 1833, d. h. mit der im Geist der Philosophie überhaupt begründeten und am ehesten von Kant befolgten Tugend einer unparteiischer Prüfung der Lehre eines anderen Denkers. Es ist diejenige Tugend, die Herbart mit seinem Lehrbuch einüben wollte, eine Tugend, ohne die ein Zugang zur Philosophie nicht nur der Zeitgenossen, sondern der Genossenjeder Zeit nicht möglich ist.

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§ 11. Incognito und Autorität: Aspekte der Rezeption

Erst in den dreißiger Jahren, nachdem die Metaphysik erschienen war, begann eine ernstzunehmende wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Herbarts Philosophie. Über die inkompetenten Besprechungen seiner Werke hat sich Herbart immer wieder in den Vorreden seiner Schriften ereifert, bis er Ende der zwanziger Jahre endlich auch einmal sachlich angemessene Rezensionen nennen konnte- die Öffentlichkeit begann, Aufgeschlossenheit für sein Denken zu zeigen, 31 Schüler und Anhänger sammelten sich um seine Lehre, in den vierziger Jahren wurde sie vereinzelt sogar als die herrschende Lehre der Zeit bezeichnet. Der um zwei Jahrzehnte verspätete Anfang einer wissenschaftlichen Rezeption ist bezeichnend für die Fremdheit von Herbarts Denken in der Zeit des deutschen Idealismus. Noch schlimmer erging es freilich anderen Anti-Idealisten wie z. B. Beneke32 und Schopenhauer. Im Falle Herbarts bildete sich alsbald ein charakteristisches rezeptionsgeschichtliches Grundschema heraus: von einer nach Hegels Tod wachsenden Schar von Anhängern wurde er als eine dominierende Autorität angesehen, von den nicht-realistischen Schulen dagegen kaum wahrgenommen; und wenn, dann nur im Licht schulinterner Kategorien, in der Hegeischen Schule besonders im Licht der logisch bedingten Stadien der philosophiegeschichtlichen Entwicklung, hinter denen alles, Als vollkommenes Muster eines Berichts bezeichnete Herbart die Besprechung des ersten Bandes der Psychologie in der Leipziger Literatur-Zeitung 1828 (SW VII, 4f.) und der Metaphysik in der Jen. Allg. Literatur-Zeitung 1830 (SW IX, 20f.), diebeidevon M. Drobisch stammen. Für die "unstreitig würdigste und durchdachteste" Rezension der Metaphysik hielt Herbart die Besprechung von Chr. A. ßrandis in der Hall. Allgem. Literatur-Zeitung (vgl. SW VII I, IX); die Rezension ist abgedruckt in SW VIII, 394-412). 32 Über Beneke vgl. jetzt die abgewogene und wohlfundierte Studie von R. Pettoello: Un ,povero diavolo empirista'. F. E. Beneke tra criticismo e positivismo. Milano 1992. 31

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was nicht in ihrem Horizont lag, dem Dunkel des Vergessens überantwortet blieb. Exemplifiziert sich diese Gesetzmäßigkeit vor allem in Beziehung auf Herbarts spekulativen "Standpunkt", den wie auch immer zu bestimmenden "Realismus", so stellt sich das Licht-Schatten-Verhältnis zwischen Autorität und Incognito auch im Rahmen einzelner Disziplinen her. Herbart hat einer Kanalisierung der Rezeption seines Werkes dadurch Vorschub geleistet, daß er den philosophischen Disziplinen prinzipielle Unabhängigkeit voneinander zusprach. Fast jede einzelne Disziplin stellte einen eigenen Rezeptionskanal dar, der getrennt von den anderen verlief. Innerhalb dieser disziplinären Traditionen traten die anderen Teile von Herbarts Philosophie mehr und mehr ins Unbekannte zurück. Metaphysik, Ethik, Ästhetik, Psychologie, vor allem aber die Pädagogik verselbständigten sich auf diese Weise, sogar das Lehrbuch bildete als Muster einer propädeutischen Schrift eine eigene Tradition aus 33, insbesondere in Österreich, wo von 1850 an Herbarts Philosophie eine ähnlich machtvolle Stellung eingenommen hatte wie früher Hegels Philosophie in Preußen. Herbarts Philosophie war aktuell, solange die Gigantomachie zwischen Idealismus und Realismus dauerte; diese erste Rezeptionsphase dauerte etwa bis in die fünfziger Jahre. In dieser Phase dominierte die Auseinandersetzung mit Herbarts Metaphysik. Die erste systematische Kritik erfuhr sie durch den Sohn von J. G. Fichte, den zum Spätidealismus zählenden I. H. Fichte, der in seiner Schrift Über Gegensatz, Wendepunkt und Ziel heutiger Philosophie (Heidelberg 1832) Herbarts Philosophie als eine "völlig abgesonderte Seitenrichtung" der zeitgenössischen Philosophie hinstellte Vgl. die Berichte in der Zeitschrift für exakte Philosophie: F. H.Th. Allihn: Die neuesten Leistungen für die philosophische Propädeutik auf den k. k. Gymnasien Österreichs. Bd. 3 ( 1863), 91-116; H. Brock: Die philosophische Propädeutik auf Gymnasien. Bd. 6 (1866), 285-312. 33

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(S. 234). Systematisch-historisch betrachtet ordnete er Herbart der Philosophie des Reflexionsstandpunktes zu, über den die dialektisch-spekulative Philosophie seit Fichte hinweggeschritten sei. Herbart habe den Gedanken einer "qualitativen (dynamischen) Atomistik" entwickelt, der, "gehörig geprüft und im Systeme verarbeitet, eine wesentliche Lücke der bisherigen Spekulation auszufüllen" verspreche (S. 300). Doch zeigte sich I. H. Fichte vorerst überhaupt nicht an einer solchen Verarbeitung interessiert; später, nachdem er seine eigene Metaphysik ausgearbeitet hatte, gelangte er zu einer wesentlich günstigeren Einschätzung von Herbarts Werk. Auch I. H. Fichtes Freund, Chr. H. Weiße, machte 1835 in seiner umfangreichen Besprechung der Philosophie Herbarts und der ersten Herbartianer von vornherein deutlich, daß diese Produkte einer überholten "Verstandesphilosophie" nicht mehr fruchtbar werden können, also tote Randerscheinungen der eigentlichen spekulativen Auseinandersetzungen der Gegenwart darstellten. 34 Er sprach Herbart das bescheidene Verdienst zu, auf der untergeordneten Ebene der Verstandesphilosophie "durch die bloße Konsequenz des abstrakten Verstandes allem Materialismus und groben Empirismus ein Ende gemacht" zu haben (Sp. 178). Er betont die "Wahlverwandtschaft" zwischen Herbart und Kant und hob Herbart über alle Kantianer hinaus, jedoch in ein leeres Abseits, weil Herbart durch die Verleugnung von Kants erkenntniskritischem Anliegen sich aus der eigentlichen spekulativen Entwicklung der nachkantischen Philosophie herausgesetzt habe (Sp. 189 f.). Dadurch sei seine Philosophie auf die unverholenste und unzweideutigste Weise zu etwas geworden, was Kant als "Dogmatismus" bezeichnet hätte (Sp. 190). Für das Lehrbuch gelte dieser Vorwurf jedoch nicht. "Die Enthaltsamkeit ist nicht genug zu rühmen, mit welcher Herbart die metaphysischen Grundprinzipien seines Werkes bis zum Schlusse dieser Einleitung "' Ch. H. Weiße, Sammelbespr. in: Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik 1835, Bd. II, Sp. 169-215.

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zurückhält, der ganzen übrigen Darstellung aber eine solche Haltung gibt, durch welche ohne dogmatische Präokkupation das freie Denken des Lesers geweckt wird." (Sp. 198 f.). Wegen der undogmatischen, geistig freien Argumentation zieht Weiße das Lehrbuch und die Kurze Enzyklopädie allen anderen Schriften Herbarts vor. Hege! hatte mit seiner Lehre, daß die Geschichte der Philosophie einer immanenten Vernünftigkeit folge, deren Gesetze denen der Logik entsprechen, nicht nur einen neuen Maßstab für die Bestimmung des Orts vorgegeben, den eine Lehre im Entwicklungsgang der Philosophie einnehme, sondern auch die Verpflichtung zu einer entsprechenden Beurteilung jeder philosophischen Lehre. Ein wesentlicher Teil der Auseinandersetzung mit Herbarts Lehre in der ersten Rezeptionsphase ist von den Auseinandersetzungen geprägt, welchen Ort Herbarts Denken einnimmt. Die Meinungen schwankten zwischen einer Rückstufung auf die Ebene Kants (Michelet, Chalybäus) und einer Aufwertung zum eigentlichen Gegner Hegels (Hartenstein). 35 Nachdem die spekulative Philosophiegeschichtsschreibung etwa Mitte der fünfziger Jahre, nachdem J. E.Erdmanns großer Versuch einer

wissenschaftlichen Darstellung der Geschichte der neuern Philosophie (Leipzig 1834-1853, Reprint Stuttgart 1931 ff.) zum Ab-

schluß gelangt war, an Interesse verloren hatte, wurde diese Form der hermeneutisch-logischen Interpretation und Kritik selber zu einem historischen Phänomen. Die "Ismen" verloren ihren vernunft-geschichtlichen Zusammenhang und isolierten sich zu weltanschaulichen Standpunkten, unter denen ein Realismus ohne weiteres neben einem Idealismus, Pantheismus, Materialismus usw. toleriert werden konnte. Vgl. K. L. Michelet: Geschichte der letzten Systeme der Philosophie in Deutschland von Kant bis Hegel. Teil I. Berlin 1837. 274-299.- H. M. Chalybäus: Historische Entwicklung der spekulativen Philosophie von Kant bis Hege I. Dresden 1837. 57-109. G. Hartenstein: Über die neuesten Darstellungen und Beurteilungen der Herbartsehen Philosophie. Leipzig 1838. 3·;

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Ein unmittelbareres sachliches Interesse an Herbarts Philosophie zeigte sich dagegen in Abhandlungen, die in den vierziger und Anfang der fünfziger Jahre von Drobisch, Lotze, Fechner, I. H. Fichte und- mit grundsätzlicher Kritik -von Trendelenburg veröffentlicht worden sind.:16 In ihnen geht der Impuls, der von Herbarts Metaphysik ausgegangen ist, allmählich einer Erschöpfung entgegen, die mit dem allgemeinen Absinken spekulativ-philosophischen Interesses nach der Revolution von 1848 parallelläuft. In Österreich, das sich gegen die ideologischen Auswirkungen des Idealismus mit Erfolg abzusichern wußte, wurde Herbarts realistische Philosophie in den Schulen und Universitäten zu einer Art von Staatsphilosophie erhoben. Durch R. Zimmermann und andere wurde besonders die Logik und Ästhetik Herbarts gefördert, 37 mit Nachwirkungen bis in den Prager Strukturalismus vor dem zweiten Weltkrieg. Hartensteins Ausgabe von Herbarts sämtlichen Werken stellte die Textbasis der zweiten Rezeptionsphase dar. Ihre systematische Anordnung präjudizierte die Kanalisierung der Rezeptionen in einzelnen Disziplinen. In der Zeitschrift für exakte Philosophie (1861-1875, 1883-1896) fanden die BeH. Lotze: Herbarts Ontologie. In: Zeitschrift f. Philos. u. philos. Kritik (ZPh) II (1843), 203-234; M. W. Drobisch: Zur Verständigung über Herbarts Ontologie. In: ZPh 13 (1844), 37-68; Ders.: Monadologie und spekulative Theologie. In: ZPh 14 (1845), 77 -106; Ders.: Über einige Einwürfe Trendelenburgs gegen die Herbart'sche Metaphysik. In: ZPh 21 (1852), 11-41; Ders.: Synechologische Forschungen. In: ZPh 25 (1854), 179-208; 26 (1855), 1-39; G. Th. Fechner: Zur Kritik der Grundlagen von Herbarts Metaphysik. In: ZPh 23 (1853), 70-102; I. H. Fichte: Herbarts monadologisches System und der Idealismus in ihren Prinzipien. In: ZPh 14 (1845), 107 -135; A. Trendelenburg: Logische Untersuchungen (1840). 2. erg. Aufl. Leipzig 1862. 173ff.; Bd. II, 81 ff.; Ders.: Über Herbarts Metaphysik und eine neue Auffassung derselben. Berlin 1854. '17 Vgl. den Bericht von P. Durdik: Über die Verbreitung der Herbart'schen Philosophie in Böhmen. In: Zeitschr. f. ex. Philos. 12 (1883), 317-326. ~•;

Einleitung

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mühungen der Herbartianer um die Konservierung und Verteidigung von Herbarts Philosophie ihr zentrales Sammelbecken. Drobisch hatte schon 1834 anstelle von "Realismus" den Ausdruck "exakte Philosophie" zur Kennzeichnung von Herbarts Anliegen vorgeschlagen. Unter diesem zeitgemäßen Schlagwort erfolgte die kritische Sichtung der Fachliteratur in ausführlichen Forschungsberichten zur Metaphysik, Psychologie, praktischen Philosophie, Religionsphilosophie, Ästhetik usw. auf ihre Verträglichkeit mit Herbarts Lehre. 38 Im Laufe der Jahre gewannen die Pädagogen immer mehr an Einfluß, so daß sich der eigentlich philosophische Gehalt von Herbarts Lehre bereits verflüchtigt hatte, als um die Jahrhundertwende vor allem durch den Neukantianer P.Natorp auch die Pädagogik Herbarts und der Herbart-Schule einer scharfen Kritik unterzogen wurde. 39 Mit der Vollendung der von Kehrbach begonnenen chronologisch angeordneten Ausgabe von Herbarts sämtlichen Werken (1883-1912) ging die zweite Rezeptionsphase zu Ende; die letzte allgemeine Zeitschrift der Herbartianer, die Zeitschrift für Philosophie und Pädago[!;ik (1894-1914), die sich ebenfalls durch ausführliche Forschungsberichte verdient gemacht hat, stellte zu Beginn des ersten Weltkriegs ihr ErHingewiesen sei vor allem auf die folgenden Artikel: F. H. Th. Allihn, C. S. Cornelius: Die Reform der Metaphysik durch Herbart. Bd. 1 (1861), 149-221, 225-291.- R. Zimmermann: Zur Reform der Ästhetik als exakter Wissenschaft. Bd. 2 ( 1862), 309358. - F. H.Th. Allihn: Die Reform der allgemeinen Ethik durch Herbart. Bd. 2 (1862), 361-383; Bd. 3 (1863), 183-209, 345-383; Bd. 5 (1865), 233-275.- G. Schilling: Die Reform der Psychologie durch Herbart. Bd. 3 (1863), 273-327; Bd. 5 (1865), 1-80.0. Flügel: Ein neuer Angriff auf Herbarts Religionsphilosophie. Bd. 13 (1884), 276-304. 3!1 P. Natorp: Herbart, Pestalozzi und die heutigen Aufgaben der Erziehungslehre. Stuttgart 1899. Gegen diesen Angriff verteidigten die amtierenden Schulhäupter Herbarts Lehre: O.Willmann: Der Neukantianismus gegen Herbarts Pädagogik. In: Zeitschr. f. Philos. u. Päd. 6 (1899), 103-108; 0. Flügel, K. Just, W. Rein: Herbart, Pestalozzi und- Herr Professor P. Natorp. Ibid. 257-315. 3~

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scheinen ein, während noch kurz zuvor H.Zimmer von einem lawinenartigen Anwachsen der Herbart-Literatur gesprochen hatte. 40 Das pädagogische Erbe wurde noch bis Ende der zwanziger Jahre in einzelnen Fachorganen weitergetragen. G.Weiß faßte 1928 die Quintessenz von Herbarts Lehre nach Disziplinen geordnet zusammen, als es bereits um Herbart stillgeworden war. 4 I Nach dem zweiten Weltkrieg ist durch das unermüdliche Wirken von Asmus 42 , aber auch durch Nohl und andere Pädagogen die dritte Phase eingeleitet worden. Sie steht vorwiegend im Zeichen der Erinnerung und der historischen Forschung.'13 Von der Pädagogik ausgehend hat sie, wenn auch intermittierend, auf andere Disziplinen eingewirkt; in der Philosophie sind vor allem die Arbeiten von Träger, Volpicelli und R.Pettoello hervorzuheben. 44 Gelegentlich taucht die Rede von einer "Herbart-Renaissance" auf, aber das sind allenfalls gutgemeinte Wunschvorstellungen. Konsequente historische Forschung, abgelöst von allem weltanschaulichen H. Zimmer: Führer durch die deutsche Herbartliteratur. Langensalza l!l!O. 3. • 1 G. Weiß: Herbart und seine Schule. München 1928 (Geschichte der Philosophie in Einzeldarstellungen. Bd. 35). • 2 Sein Hauptwerk: Johann Friedrich Herbart. Eine pädagogische Biographie. 2 Bde. Heidelberg 1968/1970. Vgl. W. Asmus: Wie ich zu Herbart fand. In: Pädagogische Rundschau 23 (1969), 111

349-357.

Verdienstvolle, wenn auch noch recht schmal ausgefallene Übersichten geben F. W. Busch, H. D. Raapke (Hrsg.): .J. F. Herbart. Leben und Werk in den Widersprüchen seiner Zeit. Neun Analysen. Olrlenburg 1976.- R. Lassahn (Hrsg.): Tendenzen internationaler Herbart-Rezeption. Kastellan 1978.- E. E. Geißler (Hrsg.): .Johann Friedrich Herbart. ,Der beste Pädagoge unter den Philosophen und der beste Philosoph unter den Pädagogen'. Bonn 1991. 11 F. Träger: Herbarts realistisches Denken. Ein Abriß. Amsterrlam 1982.- I. Volpicelli: Esperienza e metafisica nella psicologia di .J. F. Herbart. Roma 1982.- R. Pettoello: Idealismo e realismo. La formazione filosofica dij. F. Herbart. Firenze 1986.- Ders.: lntroduzione a Herbart. Roma/Bari 1988. l:l

Einleitung

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oder philosophischen Dogmatismus, müßte die Beziehungen von Herbarts Philosophie zum Werk der Heroen des deutschen Idealismus von Kant bis Hege! und den maßgeblichen Philosophen des Vormärz herausarbeiten, was auch rückwirkend der Interpretation des Werks der idealistischen und spätidealistischen Denker zugute käme. § 12. Editorische Bemerkungen Neue, nach dem Tode Herbarts veranstaltete Editionen des Lehrbuchs, das zu Lebzeiten den akademischen Stand und alle Ehrentitel des Verfassers anführte ("Hofrath und Professor der Philosophie zu Göttingen, Ritter des Kgl. Preußischen rothen Adler-Ordens 4. Klasse" in der 3. und 4. Aufl.) können sich inzwischen prinzipiell an zwei Modellen orientieren: Entweder legen sie wie Kehrbach (SW IV, 1891) die erste Auflage des Lehrbuchs von 1813 zugrunde und verweisen alle Abweichungen der 2.-4. Auflage in die Fußnoten, oder sie legen wie Hartenstein (Sämtliche Werke Bd. I, 5 1883) die 4. Auflage von 1837 zugrunde und setzen die Abweichungen der 1.-3. Auflage in die Fußnoten. K. Häntsch, der Herausgeber der Auflage in der Philosophischen Bibliothek 1912, tat ganz recht, Hartensteins Ausgabe mit der ausgereiftesten Fassung des Lehrbuchs zugrundezulegen, die einen übersichtlicheren und einheitlieberen Text darbot. Seine Ausgabe weistjedoch eine Vielzahl von Fehlern auf, die zum Teil auf Hartensteins Ausgabe zurückgehen. Da auch Kehrbachs Ausgabe nicht fehlerfrei ist, mußte der Text durchgehend mit der 4. Auflage verglichen und entsprechend korrigiert werden. Häntschs Modernisierung der Schreibweise wurde beibehalten, nicht dagegen seine sowieso inkonsequenten Eingriffe in die Zeichensetzung. Offensichtliche Druckfehler der 4. Aufl. wurden stillschweigend behoben - Druckfehler, welche aus technischen Gründen nicht in den Text eingearbeitet werden konnten, wurden mit o bezogen unter die betreffende Seite gestellt -, wenn an

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entspr. Stelle der 3. Aufl. das richtige Wort stand; z. B. 258,35 "Bescheidenheit" statt 4. Aufl. "Beschaffenheit"; 324,10 "Vorstellen" statt 4. Aufl. "Vorstellungen" usw. Herbarts Verweise auf vorangegangene Paragraphen, die er irrtümlich von der 3. in die erweiterte 4. Aufl. übernommen und die auch Kehrbach nicht korrigiert hat, sind stillschweigend korrigiert worden, z. T. bereits durch Häntsch. Neben der in der "Vorrede zur vierten Ausgabe" begründeten Änderung der Paragraphenzählung ab § 70 (vgl. o. S. 28) unterscheidet sich die Ausgabe von 1837 auch darin von den drei vorangegangenen Ausgaben, daß Herbart hier im Inhaltsverzeichnis den vierten und letzten Abschnitt seines Lehrbuchs nicht nur in überschriebene Kapitel gliedert, sondern auch jedem Einzelparagraphen eine eigene Überschrift zuweist, welche jedoch im Text selbst nicht wieder auftaucht: VIETER ABSCHNITT.

1.

2.

Einleitung in die Metaphysik . . . . . . 181

Kap. Nachweisung der gegebenen, und zugleich widersprechenden Grundbegriffe . . . . . . . . . . . . 181 § 116. Anknüpfung an die Skepsis.-§ 117. Vorläufige Entscheidung. - § 118. Das Was der Dinge wird uns durch die Sinne nicht bekannt. - § 119. Raumerfüllung. - § 120. Zeiterfüllung. - § 121. Vom Unendlich-Grossen in Raum und Zeit. § 122. Vom Dinge mit mehreren Merkmalen. § 123. Kausalität und Veränderung.-§ 124. Idealismus. Kap. Veränderung, als Gegenstand eines Trilemma .................................. 204 § 125. Exposition des Trilemma. - § 126. Stoff. § 127. Kraft, die nach außen wirkt.-§ 128. Selbstbestimmung, oder transzendentale Freiheit. § 129. Absolutes Werden. - § 130. Schlußbemerkung über das Trilemma. - § 131. Beziehung des Trilemma auf die Frage vom Ursprunge der Erkenntnis.

Einleitung 3.

4.

5.

6.

LVII

Kap. Vom absoluten Sein, und dessen Gegenteilen ..................................... § 132-134. Vorbemerkungen.-§ 135. Die Qualität des Seienden ist schlechthin einfach. - § 136. Über die Bestimmung des Seienden durchs Denken.-§ 137. Dem Seienden kommen weder räumliche noch zeitliche Bestimmungen zu. - § 138. Erwähnung des Parmenides. - § 139. Gründe gegen die Bewegung. - § 140. Gründe gegen das organische Leben. - § 141. Atomen. - § 142. Spinoza. Kap. Von den absoluten Qualitäten, oder den platonischen Ideen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 143. Erinnerung an die sittlichen und mathematischen Wahrheiten.-§ 144. Begriff der absoluten Qualitäten.-§ 145. Logische Eigenheit der absoluten Qualitäten.-§ 146. Hervorhebung des Guten unter den übrigen absoluten Qualitäten. - § 147. Verfehlter Versuch, die Weltbildung zu erklären. § 148. Allgemeine Anmerkungen. Kap. Vorblick auf Resultate metaphysischer Untersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 149. Über die neuern Versuche, durch Kritik des Erkenntnisvermögens die Metaphysik zu verbessern.-§ 150. Besondere Rücksicht auf die Kamische Lehre.-§ 151. Kurze Bezeichnung des wahren Ganges der Metaphysik.-§ 152. Vorblick auf die allgemeine Metaphysik. - § 153. Auf Psychologie. - § 154. Auf Naturphilosophie. - § 155. Auf Religionslehre. Kap. Enzyklopädische Übersicht der Psychologie und Naturphilosophie(§ 156- 164) ...........

227

249

268

301

Hartenstein hat die "Anmerkungen", die Herbart in der vierten Auflage in kleinerem Druck am Ende, manchmal aber in der Mitte der Paragraphen eingefügt hat, in einer einheit-

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Iichen Größe drucken lassen. Dadurch läßt sich einigemale das Ende der in der Mitte eingefügten Anmerkungen nicht mehr erkennen. Da es den Sinn des Textes z. T. nicht unwesentlich berührt, ob eine Passage als Anmerkung anzusehen ist oder nicht, mußte das Ende der Anmerkungen, abweichend von Häntschs Ausgabe, wieder wie bei Hartenstein und später in der Ausgabe von FlügeVFritzsch deutlich sichtbar gemacht werden; in dieser Ausgabe durch die folgende Liste: Anm. zu§ 59 S. 104 schließt mit "gedacht wird" S. 105,2; Anm. zu § 82 S. 131 schließt mit "entfernen können" s. 132,8; Anm. zu § ll9 S. 187 schließt mit "sogleich folgt" s. 188,27; Anm. zu § 127 S. 207 schließt mit "unbedenklich zugegeben" S. 207,40; Anm. zu § 128 S. 2ll schließt mit "sonst mißverstanden" S. 212,8; Anm. zu § 129 S. 215 schließt mit "lächerlich wäre" S. 215,36; Anm. zu§ 129 S. 216 schließt mit "des Systems" S. 217,24; Anm. zu § 130 S. 222 schließt mit "fassen können" s. 223,32; Anm. zu § 131 S. 225 schließt mit "psych. rat. § 611" s. 226,2; Anm. zu§ 140 S. 241 schließt mit "Grund aus" S. 242,39; Anm. zu § 144 S. 253 schließt mit "Anmerkungen" s. 254,ll; Anm. zu§ 146 S. 258 schließt mit "tut es nicht" S. 259,30; Anm. zu§ 149 S. 269 schließt mit "Metaphysik" S. 269,26; Anm. zu § 153 S. 280 schließt mit "schwer zu Begreifendes" S. 281,4; Anm. zu § 155 S. 290 schließt mit "hinaus lenkte" S. 291,20. Das Ende der Anmerkungen ist mit dem Zeichen ll in dieser Ausgabe kenntlich gemacht worden.

Einleitung

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Alle anderen Anmerkungen enden entweder vor einer weiteren Anm. oder vor dem folgenden Paragraphen. Hartenstein hat sich seinerzeit die Mühe gemacht, Herbarts Verweisen auf Schriften von Platon nach der Bipontina in [ ... ] die Stephanus-Paginierung hinzuzufügen. Dagegen sind Herbarts Verweise auf die anderen Autoren von allen Herausgebern des Lehrbuchs (Hartenstein, Kehrbach, Häntsch, Flügel/Fritzsch) unüberprüft übernommen worden. Daß sich Herbart beim Zitieren einige Freiheiten und Ungenauigkeiten gestattet hat, übrigens in Übereinstimmung mit den Gepflogenheiten seiner Zeit, läßt sich den Nachweisen in den "Anmerkungen zum Text" am Ende dieser Ausgabe entnehmen. Soweit wie möglich wurden die Nachweise nach heute erreichbaren Ausgaben und Übersetzungen vorgenommen. Herbart hat der 2. Aufl. sein "Votum über den Unterricht in der Philosophie auf Gymnasien" beigegeben, es dagegen in den beiden folgenden Auflagen wieder fortgelassen; daran haben sich Hartenstein und Häntsch gehalten, ebenso die vorliegende Ausgabe. Der Interessent findet das Votum, das für die damalige Diskussion um die Einführung des Philosophieunterrichts auf den preußischen Gymnasien von Interesse ist, am bequemsten in Kehrbachs Ausgabe (SW IV,

271-275).

ZEITTAFEL

1776

4. Mai Geburt vonJohann Friedrich Herbart in 01denburg als einziges Kind des Justiz- und Regierungsrates Thomas Gerhard Herbart und seiner Frau Lucie Margarete, Tochter eines Arztes aus 01denburg. Die Mutter übte einen beherrschenden Einfluß auf die Erziehung und Entwicklung ihres Sohnes aus, von dem er sich erst allmählich befreien kann. 1783 ff. Privatunterricht, durch Ültze mit besonderem Erfolg in protestantischer Religion, Moralphilosophie und Logik. Vielseitige musikalische Ausbildung, vor allem im KlavierspieL 1788 Im Herbst Eintritt in die Lateinschule in Oldenburg. Ausgeprägtes Interesse für Philosophie und Physik. 1794 Als Primus seines Jahrgangs hält H. die Abschiedsrede an die abgehenden Studenten, die auch im Druck erschien: "Etwas über die allgemeinen Ursachen, welche in Staaten das Wachstum und den Verfall der Moralität bewirken." Im Frühjahr zu vorbereitenden Studien an die Universität Jena, kurz bevor Fichte seine Professur übernimmt. Im Herbst auf Wunsch des Vaters Studium der Rechte an der Universität Jena. Die fortgesetzten Studien der Philosophie, Philologie und Literatur entfremden H. zunehmend von der Jurisprudenz. Starker Einfluß von Fichte. 1796 Zunehmende Distanzierung von der Philosophie Fichtes. Beginn der Auseinandersetzung mit der Philosophie Schellings. Intensive Beschäftigung mit den griechischen Klassikern und durch Fülleborns Edition mit der Philosophie der Vorsokrati-

LXI I

Zeittafel

ker, besonders des Parmenides. Mitglied der "Gesellschaft der freien Männer". 1797 Im März geht Herbart ohne Studienabschluß als Hauslehrer der Familie v. Steiger nach Interlaken in die Schweiz. Er lernt Pestalozzi kennen, der sein pädagogisches Denken anregt. 1798/99 findet er den Ansatz zu einem eigenen philosophischen System. Herbart gibt seine Stellung als Hauslehrer auf und 1800 folgt einer Einladung seines Freundes J. Smidt nach Bremen. Er hält Vorlesungen über Pädagogik und wirkt an der Neugestaltung des Gymnasialunterrichts mit. Kontinuierliche Arbeit an den Grundzügen seiner Philosophie. Im Mai geht H. an die Universität Göttingen. Im 1802 Herbst Promotion und Habilitation in Philosophie. Veröffentlichungüber Pestalozzis Werke Wie Gertrud ihre Kinder lehrte und Idee eines ABC der Anschauung. 1803 Vorlesungen über praktische Philosophie. 1804 2. Aufl. seiner Abhandlung über Pestalozzis ABC der Anschauung zusammen mit der Abhandlung "Über die ästhetische Darstellung der Welt". 1805 H. lehnt Berufungen nach Heidelberg und Landshut ab und wird zum außerordentlichen Professor für Philosophie in Göttingen ernannt. 1806 Veröffentlichung der Allgemeinen Pädagogik, der Hauptpunkte der Metaphysik und der Hauptpunkte der Logik. Erste Vorlesung über Psychologie. 1808 Veröffentlichung der Allgemeinen praktischen Philoso1809

1809

phie.

Berufung an die Universität Königsberg als Nachfolger von W. T. Krug auf dem Lehrstuhl Kants als Professor für Philosophie und Pädagogik (18081833). Vom Sommersemester an liest H. jedes Semester 4stdg. über Logik und Einleitung in die Philosophie.

Zeittafel

1810

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Gründung des Pädagogischen Seminars, an dem praktische Unterrichtsübungen mit ihrer theoretischen Analyse verbunden werden. Im Sommersemester erste didaktische Übungen. 1811 Am 13. Januar Heirat mit der achtzehnjährigen Mary Jane Drake (1791 in Memel als Tochter einer englischen Kaufmannsfamilie geboren, 1876 gest.). Die Ehe bleibt kinderlos. Mitglied (1811-16), 18ll und 1816 Leiter der wissenschaftlichen Deputation. 1812 Am 19. Juni Iatein. Antrittsvorlesung "Theoriae de attractione eiementarum principia metaphysica". 1813 Veröffentlichung des Lehrbuchs zur Einleitung in die Philosophie. 1816 Veröffentlichung des Lehrbuchs zur Psychologie. 1816-1820 Direktor der wissenschaftlichen Prüfungskommission. 1824/25 Veröffentlichung der Psychologie als Wissenschaft, 2 Bde. 1828/29 Veröffentlichung der Allgemeinen Metaphysik in zwei Bänden. Seit 1829 Schulrat im Provinzialschulkollegium. 1831 Veröffentlichung der Kurzen Enzyklopädie der Philosophie. 1833 Berufung an die Universität Göttingen (18331841). 1836 Veröffentlichung der Analytischen Beleuchtung des Naturrechts und der Moral und der Briefe an Griepenkerl Zur Lehre von der Freiheit des menschlichen Willens. 1837 Als Dekan der Philosophischen Fakultät Distanzierung vom Protest der" Göttinger Sieben". Die vierte und letzte von ihm selbst überarbeitete Auflage des Lehrbuchs zur Einleitung in die Philosophie erscheint. 1841 Am 14. August Tod infolge eines Schlaganfalls.

LITERATURVERZEICHNIS

Bibliographien und Forschungsberichte Die Literatur der Philosophie Herbarts und seiner Schule. In: Rein, W. (Hrsg.): Encyclopädisches Handbuch der Pädagogik. Bd. 3. Langensalza 1897. 486ff. Zimmer, H.: Führer durch die deutsche Herbartliteratur. Langensalza 1910. Schmitz, J.N.: Herbart-Bibliographie 1842-1963. Weinheim 1964. Martens, C.: Recent Herbart studies: A survey of the postwar German Iiterature on Herbart. In: Paedagogica Historica 16 (1976), 310-335. Pettoello, R.: Bibliografia. In: Ders.: Idealismo e realismo. La formazione filosofica di J. F. Herbart. Firenze 1986. 253-292. Pettoello, R.: Bibliografia. In: Ders.: Introduzione a Herbart. Bari 1988. 163-184. Koschnitzke, R.: Herbart und Herbartschule. Aalen 1988. 25-65, 99-132.

Herbarts Werke a) Gesamtausgaben J. Fr. Herbarts Sämmtliche Werke. Hrsg. v. G. Hartenstein. 12 Bde. Leipzig 1850-1852. 2. Aufl. 1883-1893, mit einem zusätzlichen Bd. 13: Nachträge u. Ergänzungen. J. Fr. Herbarts Sämtliche Werke. In chronologischer Reihenfolge hrsg. v. K. Kehrbach. 19 Bde. Langensalza 1887-1912. Reprint Aalen 1964.

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Literaturverzeichnis

b) Ausgaben des Lehrbuchs zur Einleitung in die Philosophie I. Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie. Königsberg: A. W. Unzer 1813. XXVII, 168 S. 2. Ausgabe I82l. XXIV, 288 S. 3. verb. Ausgabe I834. IV, 307 S. 4. verb. u. verm. Ausgabe 1837. VIII, 310 S. 5. Aufl., hrsg. v. G. Hartenstein. Leipzig: Leopold Voss 1850. VIII, 360 S.; 2. Abdruck Harnburg 1883. [Sonderausgabe von J. F. Herbart: Sämtliche Werke. Hrsg. v. G .Hartenstein. Bd. 1. Leipzig 1850. Textgrundlage ist die 4. Aufl., die Varianten der Auflagen 1-3 sind in Anmerkungen, z. T. im Anhang abgedruckt.] 6. Aufl. in J. F. Herbart: Sämtliche Werke. In chronologischer Reihenfolge hrsg. v. K. Kehrbach u. 0. Flügel. Bd. 4. Langensalza: H. Beyer & Söhne 1891. 1-294. [Textgrundlage ist die l. Auflage, die Varianten der zweiten bis vierten Aufl. sind in Anm. beigefügt. Als Beilagen folgen "Über den Unterricht in der Philosophie auf Gymnasien könnte man deuten auf die Idee der inneren Freiheit (!I 80) [§ 89 der 4. Ausg.]; aber ebenso gut kann es die leere Konsequenz sein, in welche sich dieselbe verwandeln würde, wenn man statt der übrigen Ideen (§ 81-84) [90-93 d. 4. Ausg.] bloße Maximen der Willkür oder der Klugheit setzte. - Gleich darauf werden aus den Schriften des Zeno von Cittium und des Chrysipp so unanständige Dinge angeführt, daß Sextus hinzusetzt, sie möchten schwerlich wagen, solchen Lehren gemäß zu leben, außer bei Kyklopen und Laistrygonen. - Alle Dialektik der Stoiker konnte den ästhetischen Sinn nicht ersetzen, der ihnen fehlte; daher verdarben sie das Gute, was sie vom Platon hatten. - Mit Spinoza, dem heutiges Tages Vielgepriesenen, steht es im Sittlichen nicht im mindesten besser. Sein eigentlicher Hauptgrundsatz ist das s u um u t il e qua er er e. Sein Gott liebt mit unendlicher Liebe s i c h s e I b s t. Kein IJtoft<oftor; kann diesen Egoismus veredeln ; das verrät am stärksten der Staat des Spinoza."

{Jlu.

1. Kap. Von den Schwierigkeiten der Ästhetik. § 82.

133

Sinne ist in der Tat mit dem Gefallenden und Mißfallenden sehr nahe verwandt. Es besteht nämlich in derjenigen unmittelbaren Empfindung, vermittelst deren wir ein Empfundenes, ohne weiteren Grund, und selbst ohne Begierde oder Abscheu, vorziehen oder verwerfen. Man kann sogar das Unangenehme, z. B. einen elektrischen Schlag, begehren (während man experimentiert), das Angenehme dagegen verabscheuen (aus Furcht vor übeln Folgen); und bei aller Lebhaftigkeit jener Begierde und dieses Abscheus dennoch des Angenehmen und Unangenehmen als solchen sich bewußt bleiben. - Zu der unwillkürlichen Beurteilung, wodurch das Schöne und Gute erkannt wird, fehlt hier nichts weiter, als ein Gegenstand der Beurteilung, der uns gegenüber trete. Denn das Angenehme und Unangenehme schreiben wir als ein Ge f ü h I uns selbst zu. Das nämliche ereignet sich bei jeder mangelhaften Auffassung des Schönen, wo wir auch nicht wissen, was uns eigentlich gefallen habe. Daher auf der einen Seite die Leichtigkeit der Verwechslung, - während auf der andern Seite doch der nämliche Umstand auch die Unterscheidung erleichtert. Denn wer das Schöne schärfer betrachtet, der findet allemal einen Gegenstand, welcher ihm zu denken gibt; das Angenehme hingegen bleibt immer nur gegenwärtig in augenblicklichen Gefühlen, aus denen sich weiter nichts machen läßt, und über welche man eben deshalb durchs Nachdenken sich mehr oder minder hinweggesetzt findet. An m er k u n g. Manche bedienen sich 1 auch beim Nützlichen und Angenehmen des Ausdrucks: es g e f ä II t. Dabei ist zuerst zu erinnern, daß das Nützliche, welches zwar nicht gefällt, aber doch vorgezogen wird, nur mittelbar, und nicht, wie hier allenthalben vorausgeseh.t wird, u n m i tt e I bar, einen Vorzug vor seinem Gegenteil, dem Schädlichen, hat. Was aber das Angenehme anlangt, so verwechselt man es gewöhnlich mit dem, was die Begierden befriedigt; und im Zuge dieser Verwechslung mag dann auch jemand, der im Kartenspiel gewinnt, wohl sagen, das Spiel sei ihm angenehm, und: es ge1 Wortlaut der 2. Ausgabe: "Manche bedienen sich,-wenigstens wenn sie Einwürfe gegen das hier Vorgetragene machen wollen, - auch beim Nützlichen" usw.

134

Dritter Abschnitt, Einleitung in die Ästhetik.

fa II e ihm 1 -

wo beides gleich unrichtig gesprochen ist. Nimmt man das Angenehme in seinem wahren Sinne, so kommt es dem Schönen, wie schon oben gesagt, allerdings nahe. 1 Dennoch wird auch hier der Sprachgebrauch verwirrt, wenn jemand sagt, der Geruch der Hyazinthe gefällt mir besser als der Geruch der Li I i e. Denn bei dem Ausdruck: es g e f ä II t, wird etwas, das da gefalle, als etwas bestimmt vor Augen zu Stellendes vorausgesetzt; niemand aber kann den Geruch einer Blume, der eine Empfindung in ihm ist, andern mitteilen, noch darauf, als auf ein Objekt der Betrachtung hinweisen. - übrigens ist im ästhetischen Gebiete die Sprachverwirrung so groß, daß täglich vom schön e n Wetter, statt vom angenehmen Wetter geredet, auch von einer Medizin gesagt wird, sie schmecke h ä ß Ii c h. Doch aber macht es der gemeine Sprachgebrauch nicht so arg, wie manche, die sogar den a s s e n s u s I o g i c u s auf deutsch mit Beifall, anstatt mit Zustimmung, übersetzen. Niemand sagt, e i n v i e r e c k i g e r Z i r k e I m i ß f ä II t m i r 1 oder gar: es g e f ä II t mir, daß der Z i r k e I rund ist! 1 § 83. Während nun das Angenehme und Unangenehme aus dem eben angegebenen Grunde, bei fortschreitender Bildung immer mehr als etwas Geringfügiges und Vorübergehendes zurückgestellt wird: hebt sich dagegen das Schöne, als etwas Bleibendes von unleugbarem Werte, immer mehr hervor. Aber aus dem übrigen Schönen selbst scheidet sich das Sittliche heraus, als dasjenige, was nicht bloß als eine Sache von Wert besessen wird, sondern den unbedingten Wert der Personen selbst bestimmt. Endlich aus dem Sittlichen sondert das Rechtliche sich ab, als dasjenige, worauf die gegenseitigen Forderungen der Menschen dringen, und ohne dessen Beachtung die unentbehrliche gesellschaftliche Einrichtung nicht bestehen könne. So erlangen die verschiedenen Gegenstände des unWortlaut der 2. u. 3. Ausgabe: "allerdings nahe; und viel näher, als denjenigen willkommen ist, die, um recht erhaben zu erscheinen, auch das Verwandte gern durch unübersteigliche Klüfte trennen mögen. Dennoch" usw. 1 2. Ausgabe: , übersetzen. Denn außer den Schulen sagt Niemand, ein viereckiger ... rund ist! Und ob wohl irgendeiner auf seinem Katheder so spricht? -" 1

1. Kap. Von den Schwierigkeiten der Ästhetik. § 83.

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mittelbaren und willkürlosen Vorziehens und Verwerfens ein ganz verschiedenes Gewicht in der Schätzung der Menschen. Allein das darf die Wissenschaft nicht hindern, die Gleichartigkeit aller dieser Gegenstände anzuerkennen.l Anmerk u n g. 2 Einer von den allgemeinsten Einwürfen, der, wenn er Grund hätte, nicht bloß auf die Darstellung der praktischen Philosophie, sondern der ganzen Ästhetik ginge, ist folgender: es werde eine u n bedingte Beurteilung von Verhältnissen angekündigt, die gleichwohl bedingt sei durch Abstraktion vom Realen, und Reflexion auf die Begriffe, die zu Gliedern der Verhältnisse dienen sollen. - Um die Verwechslung, worauf dieser Einwurf beruht, fühlbar zu machen, darf man nur fragen: ob es denn wohl jemals eine Erkenntnis oder eine Meinung, vom Unbedingten gegeben habe, die nicht auf ähnliche Weise bedingt gewesen sei durch Tausende von Abstraktionen und Reflexionen? Kein Mensch wird geboren mit der Anschauung des Unbedingten; jede wissenschaftliche Darstellung trifft ihre Vorkehrungen, um den Lernenden allmählich auf den rechten Standpunkt zu stellen. Steht er auf diesem Punkte, h a t er ins Auge gefaßt, was man Den Schluß dieses § bildeten in der 1. u. 2. ~usgabe noch folgende Sätze: "Nach allem Bisherigen ist die Ästhetik eine Wissenschaft, die zwar schwer genug zu finden, aber, einmal getunden, nicht mehr schwer sein kann zu fassen. Es bedarf also dazu keiner weitläufigen Vorbereitungen; und wir könnten schon hier abbrechen, wäre es nicht unsere Absicht, auch einen überblick über die Wissenschaft in der Kürze zu vermitteln. Doch kann ein solcher überblick nur historisch gegeben werden, denn hier ist der Ort nicht zu Erläuterungen und Rechtfertigungen." 9 Der Anfang dieser Anmerkung hat in der 2. Ausgabe folgenden Wortlaut: "Auch in dieser zweiten Ausgabe ist nicht Raum zur Beantwortung der mancherlei, grundlosen, und zum Teil offenbar sophistischen Einwürfe, mit welcher man die hier vorgetragene Lehre, - das kurze Resultat eines langen und vielseitigen Forschens, -vielmehr niederzudrücken als mit der, einem Philosophen einzig anständigen Wahrheitsliebe zu prüfen gesucht hat. Das Mindeste, was diejenigen zu tun hatten, und noch haben, die hierüber sprechen wollten, war: genaues Studium der allgemeinen praktischen Philosophie des Verfassers. Eine höhere Forderung 1st: unparteiischer überblick über die mancherlei Systeme, und über die allmähliche Ausbildung sittlicher Grundsätze unter den Menschen. Einer von den allgemeinsten Einwürfen" usw. 1

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Dritter Abschnitt. Einleitung in die Ästhetik.

ihm zeigt: dann erwartet man von ihm eine Entscheidung und Anerkennung, die man ihm nicht mitteilen, und die er aus keinen Prämissen folgern kann; darum heißt sie unbedingt, wiewohl sie im psychologischen Sinne eine Menge von Bedingungen hat.l § 84. 2 Da das Schöne gegenständlich oder objektiv sein soll: so wird jetzt, um es zu genauerer Kenntnis hervorzuheben, nötig, die subjektiven Gemütszustände abzusondern, durch welche es anscheinend Prädikate bekommt, die in die verschiedensten Gattungen des Schönen zugleich eingreifen. Man nennt es z. B. bald prächtig, bald lieblich, bald niedlich; welche Prädikate ebensogut einem Werke der Poesie, als der Plastik, als der Musik zukommen können, wobei deshalb weder für poetische Gedanken, noch für plastische Umrisse, noch für musikalische Töne irgendeine sie seI b s t betreffende Bestimmung gewonnen wird. Und das objektive Schöne und Häßliche in der Poesie zu erkennen, müßten Unterschiede solcher und anderer Gedanken nachgewiesen werden; es müßte also wenigstens von Gedanken überhaupt die Rede sein. Um das objektive Schöne und Häßliche in der Plastik zu erkennen, müßten Unterschiede solcher und anderer Umrisse nachgewiesen werden; es müßte also von Umrissen die Rede sein. Um das Schöne und Häßliche in der Musik zu erkennen, müßten Unterschiede solcher und anderer Töne nachgewiesen werden; es müßte also von Tönen die Rede sein. Nun enthalten die Prädikate prächtig, lieblich, niedlich (und viele ähnliche), nichts von Tönen, Umrissen, Gedanken; sie geben also auch nichts zu erkennen vom objektiven Schönen, weder in der Poesie noch Plastik noch Musik. Wohl aber begünstigen sie die Einbildung: es gebe ein objektives Schönes, welchem Gedanken, Umrisse, Töne gleich zufällig seien ; und dem man sich annähern könne, indem man poetische, plastische, musikalische Eindrücke von ähnlicher Art zugleich empfange, die Gegenstände aber allmählich In der 2. Ausgabe stehen hier noch die Worte: "Aber freilich, der schwärmerische Geist unserer Zeit ignoriert diese Bedingungen, daher solche Einwürfe!" 1 Die folgenden §§ 84-88 (§ 74-79 der 3. Ausgabe) sind erst Zusatz der 3. Ausgabe. 1

1. Kap.

Von den Schwierigkeiten der Ästhetik. § 85.

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schwinden lasse, und nur die erregten Gemütszustände zu verlängern suche.t § 85. jedes Werk der schönen Natur und Kunst erhebt uns über das Gemeine; es unterbricht den gewöhnlichen Lauf des psychischen Mechanismus. Fragt man aber, wie derselbe könne unterbrochen werden: so ist die leichteste Antwort: durch Erregung von Affekten. Diese sind entweder deprimierend oder exzitierend; überdies in beiden Klassen noch äußerst mannigfaltig; sämtlich aber vorübergehend, wodurch sie sich von dem durch sein Objekt festgestellten ästhetischen Urteil unterscheiden. In der Tat nun läßt sich bei den meisten ästhetischen Gegenständen die Spur erkennen, daß ihre Wirkung mit Erregung einer Art von Affekten begann; so ist die Poesie nach den Seiten des Tragischen und des Heiteren, oft Komischen, auseinandergetreten, indem sie entweder deprimierend oder exzitierend ins Gemüt eingreift. Nicht sicherer kann der ästhetische Gegenstand eingreifen, als indem er affiziert; nicht besser kann der Affekt endigen, und von ihm das Gemüt sich reinigen, als durch Obergang in das zurückbleibende ästhetische Urteil. Die Einteilung aber ist noch nicht voJiständig; das Gemeine des gewöhnlichen Gedankenlaufes muß nicht gerade durch den Affekt unterbrochen werden; sondern zwischen Depression und Exzitation steht der ruhige Ernst. Und es gibt ästhetische Gegenstände, welche den Umweg, durch Affekte zu wirken, entweder ganz oder doch beinahe verschmähen. Die ernste Tugend, - das ernste Gewölbe, der ernste Choral, die dorische Säule, selbst die reine, in strengem Zusammenhange fortfließende Erzählung, und die stille Landschaft beginnen ihre Wirkung, wo sie den empfänglichen Menschen antreffen, geradezu beim ästhetischen Urteil; welches alsdann vieJieicht seinerseits Affekte veranlaßt, aber auch wieder sinken läßt und selbst beruhigt; ohne übrigens durch sie charakterisiert zu sein. Solches Verhältnis darf man nur nicht überaJI verlangen; die Kunst würde auf In der 3. Ausgabe stehen hier noch die Worte: "Das ist der Weg zur mystischen Anschauung! Wenn sie bekennt, das Nichts angeschaut zu haben, so hat sie beinahe recht. Wahr dagegen ist folgendes:" 1

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Dritter Abschnitt. Einleitung in die Ästhetik.

diesem Wege den Menschen wie er ist, allzuselten berühren können. § 86. Sucht man nun die Prinzipien der Ästhetik, das heißt, die einfachsten ursprünglichen Bestimmungen dessen, was an Objekten als solchen unwillkürlich gefällt oder mißfällt: so kann ein doppelter Fehler begegnen; indem erstlieh wegen zu weit getriebener Abstraktion die Gegend überschritten wird, wo die Prinzipien liegen; zweitens wegen mangelnder Abstraktion von dem, was man beiseite setzen sollte, die ästhetischen Urteile mit Erregungen von Lust und Unlust verwechselt oder doch vermischt werden. 1. Das allgemeine Kennzeichen des Ästhetischen, daß es als objektiv unwillkürlich gefällt oder mißfällt, findet sich an so verschiedenen Gegenständen, daß, wenn man von aller dieser Verschiedenheit abstrahiert, nichts Objektives übrig bleibt. Man hat also in der Höhe dieser Abstraktion kein Objekt mehr, woran ein ästhetisches Urteil etwas zu bestimmen anträfe; das heißt, man kann in dem Inhalte des Begriffs vom Ästhetischen die Prinzipien nicht finden, sondern man muß in den Umfang des Begriffs hinabsteigen, um sie .zu suchen. 2. Dagegen wirken alle ästhetischen Gegenstände bei günstiger Gemütslage auf den Gemütszustand. Hat man nun vom Subjektiven nicht abstrahiert: so wird man in den Erregungen die Prinzipien der Ästhetik suchen; und sie deshalb verfehlen. § 87. Um diesen unrechten Weg desto sicherer zu vermeiden, mögen die Prädikate, welche von der Erregung hergenommen sind, etwas ,ausführlicher als vorhin, betrachtet werden. 1. Man fängt nach Kant gewöhnlich damit an, das Schöne vom Erhabenen zu unterscheiden. Man sieht also das Schöne im engeren Sinne als eine Art an, zu welcher das Ästhetische der Gattungsbegriff sein würde. Dies Schöne im engeren Sinne soll durch seine form gefallen, die in der Begrenzung bestehe; das Erhabene dagegen auch an formlosen Gegenständen zu .finden sein, welche auf die Vorstellung des Unbegrenzten führen. Zum erstem. gehören die vier kantischen Bestimmungen (nach Qualität, Quantität, Relation, Modalität), daß erstlieh das Schöne ohne (subjektives) Interesse, zweitens als gemeingültig, obgleich

1. Kap. Von den Schwierigkeiten der Ästhetik. § 87.

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ohne ursprüngliche logische Quantität des ästhetischen Urteils, drittens als ob es zweckmäßig geformt wäre, jedoch ohne Vorstellung eines bestimmten Zwecks, viertens als Gegenstand eines notwendigen Wohlgefallens zu betrachten sei. Zum zweiten gehört die Einteilung des Erhabenen in das mathematisch und dynamisch Erhabene. Hierbei wird aber sogleich eingeräumt, daß mit der Auffassung des Erhabenen eine Gemütsbewegung verbunden sei; wie natürlich, indem dasselbe uns über das Gemeine hinwegsetzt. 2. Verwandt mit jenen beiden Arten des Ästhetischen soll sein •: a) Das Hübsche, welches schöner sein könnte. b) Das Reizende, worin eine Aufregung zu Lustgefühlen liegt. Damit hängt die, nicht allgemein richtige 1 Behauptung zusammen: es sei das Schöne in Bewegung. c) Das Anmutige, welches dem vorigen koordiniert werden kann, wenn man es als Verbindung des eigentlichen Angenehmen (§ 82) mit dem Schönen betrachtet, während die Lust im Reizenden vielmehr auf Regungen des Begehrens zurückzuführen ist. d) Das Niedliche; oder das Schöne im Kleinen (worin es intensiver wird). e) Das Schmückende, welches einen von ihm unterschiedenen Gegenstand verziert. f) Das Große, welches neben dem ähHiichen Kleinen gefällt. Es braucht darum noch nicht, gleich dem Erhabenen, über das Gemeine hinwegzusetzen; tut es dies, so heißt es kolossal. g) Das Edle, welches groß, und zugleich sehr regelmäßig schön ist. h) Das Feierliche, mit Ausruhen vom Gemeinen verbundene. i) Das Prächtige, worin das Schöne zugleich starke Sinneseindrücke macht. Ist es erhaben, so geht es in das Majestätische über. k) Das Pathetische, welches nicht sowohl selbst groß ist, als vielmehr Größe verkündet und fühlbar machen soll. Verfehlt es diese Wirkung, so wird es schwülstig. • Krugs Ästhetik, § 31 usf.

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Dritter Abschnitt. Einleitung in die Ästhetik.

I) Das Rührende, was Gefühle der Anhänglichkeit und Teilnahme weckt. Es wird sentimental, wenn es all· gemeine Reflexionen über das Los der empfindenden Wesen in sich aufnimmt. m) Das Wunderbare, was durch Abweichung vom Gewohnten zu unbeantwortlichen Fragen lebhaft anreizt. Die Begriffe des Tragischen und Komischen gehören nicht in diese Reihe, sondern zur Kunstlehre. Schreck und Lachen sind Affekte, die an sich mit dem Schönen nicht zusammenhängen; ihre Benutzung ist Sache der Kunst; und kann, ohne die letztere in Betracht zu ziehen, nicht verstanden werden. Besonders aber ist zu bemerken, daß in dieser ganzen Reihe dasjenige, welches, gleichviel ob im großen oder im kleinen, erheben, erheitern, rühren, - überhaupt erregen soll, als schon vorhanden angenommen, jedoch keineswegs nach g e wies e n wird. So lange es nun unbekannt bleibt, läßt sich hieran die Kunstlehre nicht unmittelbar anknüpfen; und noch viel weniger die Sittenlehre. 1 § 88. Wir setzen jetzt zwar die ganze Reihe der Erregungen, da sie für das objektive Schöne nur subjektive Beziehungen abgibt, einstweilen beiseite; jedoch ist noch der Standpunkt in Betracht zu ziehen, welchen der Anschauende des Ästhetischen sich selbst zuschreibt. Anfangs war er ergriffen, mithin passiv. Besinnt er sich nun, daß ihm der Künstler nicht etwa (gleich dem Redner, welcher in notwendigen Angelegenheiten auf Entschluß dringt), Gewalt angetan hatte, - daß überhaupt das Schöne und Häßliche selbst im weitesten Sinne, wo es das Gute und Schlechte unter sich befaßt, ihm, dem bIo ß e n Zuschauer, nichts verheißt noch droht: so fühlt er sich frei, und befreit von der anfänglichen Aufregung. Dieser § 86 u. 87 sind in der 4. Ausgabe hinzugekommen. Die 3. Ausgabe bringt statt dessen am Anfang ihres § 77 (der dem § 88 der 4. Ausgabe entspricht) nur den in der 4. Ausgabe weggebliebenen Satz: "Man mag nun versuchen, jene Prädikate, und alle ihnen ähnliche, auf die Affekte denen sie angehören, oder selbst auf den Wechsel mehrerer Affekte, die sie erregen, zu beziehen; wir aber setzen jetzt die ganze ... beiseite; und ziehen dagegen den Standpunkt in Betracht, welchen der Anschauende'' usw. 1

1. Kap. Von den Schwierigkeiten der Ästhetik. § 88.

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Freiheit bedient er sich, indem er die Art der Auffassung, oder auch den Gegenstand selbst zu verändern - etwas daran zu rühren und zu rücken unternimmt. Es fragt sich, ob der Gegenstand dabei gewinnt oder verliert. Der klassische Gegenstand würde verlieren. Hierbei übt also derselbe eine neue Gewalt, eine scheinbare Kraft sich zu widersetzen, gegen den Zuschauer aus. Sehr häufig aber gewinnt der Gegenstand bei der Veränderung, und legt Fehler ab. Der Zuschauer wird in jenem Falle Bewunderer; in diesem Kritiker (wobei zu bemerken ist, daß manche Kunstwerke, welche einer neuen Kunst, nämlich des Vortrags, zur völligen Darstellung bedürfen, von der Kritik Aufschub verlangen, indem sie fürs erste noch unbestimmt erscheinen).t Hier nun ist der Ursprung derjenigen Ästhetik, welche auch Kritik des Geschmacks heißt, und deren Unsicherheit zu dem Satze Anlaß gab: man müsse über den Oeschmack nicht streiten. Die Urteile fallen nämlich verschieden aus, wenn ein verschiedenes Licht auf den Gegenstand geworfen, - wenn er mit verschiedentlich geteilter und wechselnder Aufmerksamkeit betrachtet wird. Hiergegen können große und vielfach zusammengesetzte Gegenstände der Natur und Kunst sich niemals ganz sichern; sie rechnen vielmehr oft selbst darauf, der Zuschauer werde vieles hinzudenken, vieles hineinlegen; hiermit überlassen sie manches seiner A p p erze p t i o n, wel:che gar mannigfaltig nach Individualitäten und Stimmungen auszufallen pflegt. überdies haften solche Werke an irgendeinem Stoffe; und in die Kritik mischt sich eine Menge von Fragen, ob der Stoff passend, ob die Vorteile, welche er darbieten konnte, im Kunstwerke benutzt sind. Das alles lenkt ab von der eigentlichen Auffassung des Schönen; und es zeigt sich, wie schwierig es ist, durch das Anschauen der Kunstwerke den Geschmack zu bilden, ohne ihn zu verwirren oder eigensinnig zu machen. Wird die Kritik nicht durch Widerspruch gestört: so 1 In der 3. Ausgabe stehen hier noch die Worte: "Und wenn die Kritik (wie oft geschieht) dahin leuchtet, wo Schatten sein soll, so trifft sie der nämliche Vorwurf, der auf einen schlechten Vortrag fallen würde."

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Dritter Abschnitt. Einleitung in die Ästhetik.

nimmt sie die imperative Form an; und die verschiedenen Vorschriften sucht sie in ein System zu bringen. 1 Der Fehler liegt nun nicht darin, daß überhaupt eine imperative Form gebraucht wird. Diese würde sich der Künstler gern gefallen lassen, und der sittliche Mensch, da er nicht umhin kann zu wollen und zu handeln, m u ß sie sich gefallen lassen, sobald die Kritik von zulänglichen Gründen anhebt-2 Will sie aber unsichere, vielleicht selbst gehaltlose vom eigentlichen Schönen und Guten schon abgelenkte Abstraktionen als Regeln gelten machen, dann sucht solchen Regeln der freie, der geniale Mensch sich zu entziehen. über sie hinaus, sucht er selbst aus dem Kreise der Beispiele, die sie vor Augen hatte, sich zu entfernen; durch Originalität will er nun seinerseits ihr imponieren. Und nicht immer wird der Zweck verfehlt. Sittenund Kunstgeschichte zeigen oft genug den Kampf zwischen 1 In der 3. Ausgabe folgen hier noch die Sätze: "Sie fordert vor allen Dingen Genie; welches im Sittlichen ab so I u t e und u r s p r ü n g I i c h e F r e i h e i t d e s W i II e n s genannt wird. Anstatt aber dem vorhandenen Genie und der erworbenen Freiheit die ersten Grundbestimmungen des Schönen und Guten, samt dem gegenüberstehenden Tadelhaften, mög~ichst vollständig und genau darzubieten, zur Auswahl auszubreiten, hiermit die Produktion zu erleichtern und die Empfänglichkeit zu erhöhen: will sie das Genie und die Freiheit an Regeln binden; in der Meinung, das wahre Genie und die wahre Freiheit trage eigentlia1 schon selbst diese Regeln in sich. Wenn nun das Häßlicbe und das Böse zum Vorschein kommt, so wundert sie sich; erklärt aber dennoch auch diese Produktion aus dem Genie und der Freiheit; als ob es neben dem wahren Genie auch noch ein falsches Genie, neben der wahren Freiheit auch eine falsche Freiheit gäbe." 2 Statt der nächsten Zeilen stehen in der 3. Ausgabe folgende Sätze: "Aber darin liegt der Fehler, daß man sich früher mit Befehlen an die Person wendet, ehe man mit logischer Pünktlichkeit die Musterbegriffe aufgestellt hat, in welchen die Person das objektive Schöne und Gute deutlich erkennen würde. Nicht von Mustern, sondern von Beispielen, nicht vom Einfachen und Klaren, sondern vom Effektvollen, vom Zusammengesetzten, Vieldeutigen, zufällig Gegebenen ist die Kritik ausgegangen; und begehrt nun, unsichere, vielleicht selbst gehaltlose vom eigentlichen Schönen und Guten schon abgelenkte Abstraktionen als Regeln gelten zu machen. Solchen Regeln sucht der freie, der geniale Mensch sich zu entziehen" usw.

2. Kap. Aufzeigung sittlicher Elemente. § 89.

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der Regel samt ihrer Auktorität, und dem Streben, sie zu überspringen und ihre Beispiele zu überbieten. Weil die Kritik befehlen - und zwar allgemein befehlen wollte, ehe sie noch wußte, was zu befehlen ist: darum ist von Tugenden und Lastern, von Pflichten und Übertretungen nach allen Richtungen menschlicher Verhältnisse viel geredet worden, noch ehe die einfachen praktischen Ideen, und deren Unterschiede zulänglich bekannt waren. Aber nicht bloß die Kritiker, sondern auch aie Bewunderer sind zu fürchten, wenn sie ungeachtet der klassischen Ruhe, wodurch echte Künstler ihren Werken das Gepräge der Besonnenheit und Wachsamkeit aufdrücken, doch in das Gemessene und Geschlossene ihre unendliche Sehnsucht nach Seligkeit hineintragen; als wollten sie die Werke sprengen oder durch Auslegung neu schaffen; darauf aber das Hineingetragene als Offenbarungen eines höheren Geistes wieder herausnehmen. In der Tat ist die Schwierigkeit nicht gering, aus vielen Kunstwerken zu lernen, ohne die empfangenen Eindrücke gegenseitig durcheinander zu verfälschen. Wer durch Analyse gegebener Kunstwerke wirklich lernen, und zwar Ästhetik lernen will: der ist weder Bewunderer noch Kritiker, wohl aber gestattet er der Analyse, jeden Faden des Kunstgewebes besonders hervorzuziehen; damit die sämtlichen, oft sehr verschiedenen Verhältnisse ans Licht treten, in welchen das Schöne seinen Sitz hat, und in deren Zusammenwirkung die Kraft des Kunstwerks liegt. Zweites Kapitel.

Aufzeigung sittlicher Elemente. § 89. Alle einfachen Elemente, welche die allgemeine

Ästhetik nachzuweisen hat, können nur Verhältnisse sein, denn das völlig Einfache ist gleichgültig, d. h. weder gefallend noch mißfallend. Die sittlichen Elemente sind gefallende und mißfallende Willensverhältnisse. Es ist aber hier nicht die Rede von dem Willen als einer Seelenkraft (die überall nicht existiert), sondern von einzelnen Akten

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Dritter Abschnitt. Einleitung in die Ästhetik.

des Wollens, und von deren Verhältnissen gegeneinander. Auch kommt es hier nicht auf eine Erkenntnis an, daß solches und anderes Wollen wirklich vor sich gehe, son· dern auf die Begriffe von solchem Wollen, und auf die Beurteilung der Verhältnisse, welche es bilden würde, wenn es wirklich vorhanden wäre. Damit diese Beur· teilung mit voller Bestimmtheit zustande komme: muß aus dem Begriff des Wollens alles Schwankende, also aller Unterschied des flüchtigen und launenhaften Begeh· rens von dem entschlossenen Wollen, fürs erste wegge· lassen werden. § 90. Das erste sittliche Verhältnis, welches sich der wissenschaftlichen Betrachtung darbietet, ist das der Ein· stimmung zwischen dem ,Willen und der über ihn ergehen· den Beurteilung überhaupt. Diese Einstimmung gefällt absolut: ihr Gegenteil mißfällt. Der hieraus erwachsende Musterbegriff der Einstimmung kann mit dem Namen: Idee der inneren Freiheit bezeichnet werden. An m er k u n g.1 D e r Inhalt, dessen die Idee der inneren Freiheit bedarf, liegt in den nachfolgenden vier praktischen Ideen, welche zusammengenommen diejenige Beurteilung ausmachen, womit der ,Wille entweder einstimmt oder nicht. Wer aber fragt, warum denn diejenige Idee voran· steht, die sich auf die nachfolgenden bezieht, der fragt mehr, als worauf die Einleitung antworten kann: er studiere das System selbst. Die Anmerkungen zu § 90, 92-96 sind Zusätze der 2. Ausgabe. Der Anfang der Anmerkung zu § 90 heißt in der 2. Ausgabe so: "Wider die ausdrückliche Forderung des vorigen §, alles, was das w i r k I i c h e Wollen angeht, bt'iseite zu setzen ; und wide~. die Warnung des § 75, fs. d. Anhang, II.) nicht Metaphysik und Asthetik zu vermengen, ist dennoch, - als ob es nötig wäre, der Idee, die auf einem unmittelbaren Urteile ruht, einen r e a I e n Inhalt zu geben, den sie gar nicht einmal aufnehmen kann, eine spätere Stelle dieses Buchs, (vergl. § 136) [unten § 159) gewaltsam hier herbeigezogen worden, die mit einer Beurteilung des Willens in Ansehung seines Werts, nichts gemein hat, sondern die Bedingungen der Möglichkeit betrifft, unter denen, und inwiefern, er diesen, schon bestimmten, Wert erlangen könne. Es lohnt nicht, über ein solches Verfahren mehr hinzuzusetzen, als daß jeder, der gern mißverstehen w i II, es in seiner Macht hat, sich zu verblenden. Der Inhalt" usw. 1

2. Kap. Aufzeigung sittlicher Elemente. § 91.

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Von den historischen Vergleichungen, die sich hier darbieten, ist die mit Platons Erklärung der vier Kardinaltugenden (im 4." B. der Republik) schon im ersten Kapitel der prakt. Philosophie .angedeutet. Die aor:p[a ist die Beurteilung , ö.viJeela und awr:peoavv'f} zusammen die Beschaffenheit des Willens, dtxawavv'f} die Richtigkeit des ganzen Verhältnisses. - Adam Smith's unparteiischer Zuschauer ist eigentlich die Beurteilung, nur nicht rein gedacht, sondern vermengt mit sympathetischen Gefühlen. Kants Allgemeinheit der Gesetzgebung, und gänzliche Abweisung aller materialen Triebfedern, kann gedeutet werden auf die scharfe und richtige Forderung 1, daß die beiden Glieder des hier nachgewiesenen Verhältnisses völlig getrennt, durchaus nicht zusammenfließend, gedacht werden müssen. Die Beurteilung soll unbestochen sein, nichts von den Triebfedern des Willens in sich aufnehmen. Wer hiergegen fehlt, der bildet die Idee nicht rein aus, und bekömmt nur eine schwankende Grundlage für die praktische Philosophie. § 91. Das zweite sittliche Verhältnis ist ein formales; es entsteht, indem ein mannigfaltiges Wollen nach Größenbegriffen verglichen wird. Diese Größenbegriffe sind: Intension; Extension (welches letztere hier soviel bedeutet als Mannigfaltigkeit der von dem Wollen umfaßten Gegenstände); und Konzentration des mannigfaltigen Wollens zu einer Gesamtwirkung, oder die aus der Extension von neuem entspringende Intension. Durchgängig gefällt hier das Größere neben dem Kleineren; eine Art der Beurteilung, welche sich im ganzen Gebiete der Ästhetik wiederfindet. Ein absoluter Maßstab, wonach sich der Beifall oder das entgegenstehende Mißfallen richten könnte, ist nirgends vorhanden. Allein das in der Vergleichung vorkommende Größere dient dem Kleineren zum Maße, wohin es gelangen müsse, um nicht zu mißfallen; und insofern kann man den hervorgehenden Musterbegriff, die Idee der V o 11 k o mm e n h e i t neJJnen. Das Wort Vollkommenheit erhält hier einen bestimmten 1 und vermöge eines ästhetischen Urteils 1 2. Ausgabe: "ist nichts anderes, als die scharfe und richtige Forderung".

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Dritter Abschnitt. Einleitung in die Ästhetik.

gültigen Sinn, während es gemeinhin die Hülle ist, worin sich die Unwissenheit versteckt, was eigentlich das für eine Fülle sei, wohin ein anderes kommen solle? § 92. Das dritte Verhältnis besteht zwischen der Vorstellung von einem fremden Wollen, und dem, entweder ein· stimmenden, oder sich entgegensetzenden, eigenen Wollen. Es ist Befriedigung des fremden Wollens, welche der eigene Wille unmittelbar zu seinem Gegenstande macht. Das so bestimmte Verhältnis ergibt die Idee des Wo h I wo 11 e n s oder übe I wo II e n s. Dasselbe Verhältnis ist ganz und gar ein inneres, und eingeschlossen in der Gesinnung einer einzelnen Person. Es ist unter allen sittlichen Verhältnissen dasjenige, welches am unmittelbarsten und bestimmtesten den Wert oder Unwert der Gesinnung angibt. Völlig fremd ist hier die Frage nach dem Wohlsein, welches aus dem Wohlwollen entspringen könnte; ebenso fremd der Begriff der Passivität, die in der bloßen Mitempfindung liegen würde. Anmerkung. Die Idee des Wohlwollens ist der Hauptgedanke der christlichen Sittenlehre; sie verlangt Liebe. Wer hier die gebietende Form für wesentlich hält; wer das Wohlwollen nicht in seiner Schönheit, das übelwollen nicht in seiner Häßlichkeit vor Augen hat: der wird auf ebenso gezwungene Erklärungen verfallen, als Kant in der Krit. d. prakt. Vem. S. 147 [Werke herausg. v. Hartenstein Bd. IV. S. 195] gegeben hat. § 93. Das vierte Verhältnis, ein bloß mißfallendes, ist das des Streits; zu welchem zwei streitende Personen, und ein Gegenstand des Streits erfordert werden. Im Streite liegt kein übelwollen, denn die beiden Willen sind hier unmittelbar auf den Gegenstand, und nur mittelbar wider einander gerichtet. Die Vermeidung des Streits führt auf die Notwendigkeit des Rechts; welches seiner Materie nach allemal positiv,d. h. aus willkürlicher Feststellung mehrerer einstimmenden Willen entsprungen ist. Hingegen die Gültigkeit und Heiligkeit a1les Rechts beruht auf dem Mißfallen am Streit; und kann nicht ohne sehr gefährliche Verwechslungen der Begriffe auf andere Grundlagen gebaut werden. An m e l'k u n g. Cicero, im ersten Buche von den Oe-

2. Kap. Aufzeigung sittlicher Elemente. § 93.

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setzen sagt sehr schön: 0 m n i um, qua e in h o m in um doctorum disputatione versantur, nihil est praestabilius, quam plane intelligi, nos ad justitiamesse natos, neque opinione, sed nat u r a c o n s t i t u t um e s s e i u s. Er beruft sich darüber auf die Gleichheit der Menschen; auf die Gemeinschaft der Vernunft, und ihres Gesetzes. Und gewiss, wenn sich alle auf den Standpunkt der begierdenfreien Betrachtung stellen, so mißbilligen sie gemeinschaftlich den Streit; sie treffen Verabredung, um ihn zu schlichten und zu vermeiden; und je mehr diese Verabredung geeignet ist, sicheren Frieden zu erhalten, desto v o II kommen er ist das Recht, welches sie gemeinsam erschaffen. So geht aus der menschlichen Natur ein positives Recht hervor. Es ist positiv, weil sie es gemeinschaftlich gesetzt haben; es ist Recht, und als solches heilig, weil es dem Streite vorbeugt; es ist Naturrecht, weil es in der Natur der Menschen lag, daß es mußte gestiftet und anerkannt werden. 1 Wie aber in neuerer Zeit das Naturrecht dazu gelangen konnte, sich als eine besondere Disziplin 1 Das folgende bis zum Schlusse der Anmerkung steht erst in der 4. Ausgabe. Dagegen hatte die Fortsetzung dieser Anmerkung in der 2. Ausgabe folgenden Wortlaut: "Aber wie weit ist davon das neuere sogenannte Naturrecht entfernt, welches untersucht, obwohl diese oder jene einmal (lnerkannte Einrieb· tungen, z. B. die Testamente, auch von Natur schon recht sein würden, wenn man die positive Satzung aufhebe! Wie weit davon entfernt sind Okkupation und Formation, als eingebildete Rechtstitel; wovon jene nichts anders bedeutet, als Drohung des Streits, falls ein andrer das schon Okkupiert!l nehmen würde; diese aber (die Formation) nur unter Voraussetzung der Okkupation erlaubt ist. - Das ganze neuere Naturrecht, welches nicht bloß die Form, sondern auch die Materie des Rechts (die einzelnen Rechtsverhältnisse) bestimmen will, ist eine der Verirrungen des menschlichen Geistes. - Kant hat in seiner Rechtslehre ein sogenanntes "rechtliches Postulat der praktischen Vernunft" aufgestellt, welches wahr sein müßte, wenn ein materiales Naturrecht möglich sein sollte. Es ist aber ganz grundlos; auch hat man, anstatt es anzunehmen, über die Altersschwäche geklagt, die sich in diesem Werke zeige. Die Altersschwäche ist nicht schuld, sondern die Verkehrtheit des Jranzen Unternehmens. Zur historischen Kenntnis sind übngens He n r i c i s Ideen zur Rechtslehre zu empfehlen." Der Schluß dieser Anmerkun~r nach den Worten: "der Okkupation erlaubt ist" stand schon m der 3. Ausgabe nicht mehr.

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Dritter Abschnitt. Einleitung in die Asthetik.

einerseits vom positiven Recht, andererseits auch von der philosophischen Sittenlehre abzusondern: darüber bemerke man vorläufig nur folgendes. 1. Was in bezug auf die Feststellung des Rechts Willkür heißt, das kann in Ansehung der Motive des Wollens sehr notwendig sein. Dies zeigt sich, wenn man in den Umfang der allgemeinen Forderung, den Streit zu vermeiden, hinabsteigt; denn der Begriff des Streits ist sehr verschiedener Determinationen fähig, welche von der Lage der Personen und von den streitigen Gegenständen herrühren können. Der Gegenstand kann unkörperlich sein; so bei dem Recht auf Wahrheit und Ehre; ist er körperlich, so wird er entweder teilbar oder unteilbar sein. Personen können an Naturverhältnisse gebunden sein; dahin gehört das Familienband (worauf schon Aristoteles in bezug auf die Antigone des Sophokles aufmerksam macht). Läßt sich der Streit nur von einer Seite vermeiden, so soll er von dieser vermieden werden; ein Umstand, dem sich mancherlei Fälle mehr oder weniger annähern. Den schon vorhandenen Rechtsverhältnissen gebührt Respekt, welcher auf die Stiftung anderer hinzukommender entscheidenden Einfluß äußert,usw. Auch die andern praktischen Ideen greifen hier ein. 2. Sieht man auf den historischen Ursprung des Naturrechts, so findet man die Bestätigung davon, daß es vom Mißfallen am Streite ausgeht. Das höchst schätzbare Werk des Grotius d e j ur e b e lli e t p a c i s hat vorzugsweise die abgesonderte Ausbildung des Naturrechts veranlaßt. Hier erblickt man das Recht durchweg im Gegensatze des Kriegs, d. h. des Streits nicht sowohl zwischen ausgebildeten Staaten, als vielmehr zwischen Völkern ohne bestimmte Rücksicht auf deren innere gesellschaftliche Einrichtung. Man erblickt einen Naturstand, dessen Begriff sich auf den einzelnen gebildeten Menschen nicht leicht übertragen läßt; denn dieser empfing seine Bildung in der Gesellschaft, und lebt in ihrer Mitte. § 94. Das fünfte Verhältnis, ebenfalls bloß durch ein Mißfallen bezeichnet, entsteht aus absichtlichem Wohl- oder Wehetun, insofern dieses bloß als eine äußere, zur Ausführung gediehene, Handlung, ohne Rücksicht auf den Wert der Gesinnung betrachtet wird. Man erkennt das Ver-

2. Kap. Aufzeigung sittlicher Elemente. § 94.

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hältnis am leichtesten vennöge der daraus entspringenden I d e e d e r V e r g e lt u n g oder der B ill i g k e i t. * Die onvergoltene Tat nämlich (welche unter gewissen näheren Bestimmungen in bloßer Nachlässigkeit bestehen kann), führt den Begriff einer Störung mit sich, die durch die Vergeltung getilgt werde. Hierauf beruhen die Begriffe von Lohn und Strafe, sofern beides verdient ist, und nicht etwa als Mittel zu gewissen Zwecken gebraucht wird. An m er k u n g. Gegen die garize Reihe der hier aufgestellten Ideen ist der Einwurf gemacht worden: Der Beifall und das Mißfallen, wovon hier geredet wird, sei lediglich von 1o g i scher Art! - Wenn jemand beim Zusammenstoßen zweier Körper dasselbe Mißfallen empfindet, wie beim Widerstreite zweier Willen, - oder beim regelmäßigen Wachsen einer Pflanze dasselbe Wohlgefallen, wie bei der Zusammenstimmung des Willens mit der ihm von der Beurteilung gesetzten Regel: so mag ihm dies anheim gestellt sein; ein anderes aber ist es mit der Logik, die er bei diesem logischen Beifall und Mißfallen an den Tag legt. Es ist vollkommen denkbar, daß der Wille von der Beurteilung abweiche, ebensogut als daß eine Pflanze grüne Blätter und rote Blumen habe; und gerade so kann auch gegen die ärgsten Mißverhältnisse der Unvollkommenheit, des übelwollens, des Streits, und der unvergoltenen Taten, die Logik nicpt den mindesten Einspruch machen. Das alles ist von einem Widerstreite der Merkmale in einem Begriffe weit entfernt. Das übelwollen ist ebenso ver s t ä n d 1ich als das Wohlwollen, der Streit ebenso verständlich, ja noch begreiftich er als das Recht usf.l • Nur ganz kurz kann hier erwähnt werden, daß diese Idee sehr häufig mit der vorigen verwechselt wird, obgleich sie davon durchaus verschieden ist. Der Fehler ist alt; schon Aristoteles, indem er (oder der Verf. der rhet. ad Alex. II, 4) vom ~{'!aiOII als e!nem ~~ ay{l~({i~ll _:;prich!, ~echnet, dahin; TOi'~ eve{lyaa,l>

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