Lehrbuch der Sozialpolitik (Springer-Lehrbuch) (German Edition) [10., vollst. überarbeitete Aufl. 2021] 366256257X, 9783662562574

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Lehrbuch der Sozialpolitik (Springer-Lehrbuch) (German Edition) [10., vollst. überarbeitete Aufl. 2021]
 366256257X, 9783662562574

Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Hinweise zur Benutzung
Abkürzungsverzeichnis
Teil I
Einführung
Kapitel 1
Wissenschaftstheoretische Grundlegung
1.1 Definition und Notwendigkeit staatlicher Sozialpolitik
1.1.1 Definition staatlicher Sozialpolitik
1.1.2 Die Notwendigkeit staatlicher Sozialpolitik
1.2 Sozialpolitik als wissenschaftliche Disziplin
1.2.1 Die Aufgaben der Sozialpolitik als Wissenschaft
1.2.2 Definition der Sozialpolitik als Wissenschaft
1.2.3 Zur Stellung der Sozialpolitik im System wissenschaftlicher
Disziplinen
Teil II Geschichte der deutschen staatlichen
Sozialpolitik
Kapitel 2 Die Arbeiterfrage des 19. Jahrhunderts als auslösende Ursache neuzeitlicher staatlicher
Sozialpolitik
2.1 Die Lebensumstände der Arbeiterschaft im 19. Jahrhundert
2.2 Die Entstehung und quantitative Bedeutung des Proletariats
2.3 Die Ursachen der sozialen Frage im 19. Jahrhundert
2.3.1 Systemexogene Faktoren
2.3.1.1 Die vorindustrielle Armut
2.3.1.2 Die Bevölkerungsentwicklung
2.3.1.3 Die Verwirklichung des freiheitlichen Rechtsstaates
2.3.1.4 Die Bauernbefreiung
2.3.1.5 Die Gewerbefreiheit
2.3.2 Systemendogene Faktoren
2.3.2.1 Die Trennung von Kapital und Arbeit
2.3.2.2 Arbeitsmarktverfassung und Arbeitsmarktlage
2.3.2.3 Neue Arbeits- und Lebensformen
2.4 Die sozialpolitischen Aufgaben
2.5 Die Einstellung führender Kreise zur Arbeiterfrage
Kapitel 3
Akteure der sozialpolitischen Entwicklung
3.1 Sozialreformer und Sozialrevolutionäre
3.1.1 Sozialreformer
3.1.2 Sozialrevolutionäre
3.2 Soziale Bewegungen
3.2.1 Überblick
3.2.2 Sozialistische, christliche und liberale Bewegungen und
Parteien
3.2.3 Die Gewerkschaften
3.2.4 Die Genossenschaften
Kapitel 4 Geschichte der sozialpolitischen Gesetzgebung in
Deutschland
4.1 Die Anfänge der Sozialgesetzgebung bis zur Entlassung Bismarcks
(1839 - 1890)
4.1.1 Wirtschaftlicher und politischer Hintergrund
4.1.2 Die Sozialgesetzgebung
4.1.3 Charakteristische Merkmale der staatlichen Sozialpolitik
4.2 Die Sozialgesetzgebung unter Wilhelm II. (1890 - 1918)
4.2.1 Wirtschaftlicher und politischer Hintergrund
4.2.2 Die Sozialgesetzgebung
4.2.3 Charakteristische Merkmale der staatlichen Sozialpolitik
4.3 Die Sozialgesetzgebung in der Weimarer Republik (1918 - 1933)
4.3.1 Wirtschaftlicher und politischer Hintergrund
4.3.2 Die Sozialgesetzgebung
4.3.3 Charakteristische Merkmale der staatlichen Sozialpolitik
4.4 Die Sozialgesetzgebung im Dritten Reich (1933 - 1945)
4.4.1 Politischer und wirtschaftlicher Hintergrund
4.4.2 Die Sozialgesetzgebung
4.4.3 Charakteristische Merkmale der staatlichen Sozialpolitik
4.5 Die Sozialgesetzgebung in der Bundesrepublik Deutschland
(1949 - 2019)
4.5.1 Politischer und wirtschaftlicher Hintergrund
4.5.2 Die Sozialgesetzgebung
4.5.3 Charakteristische Merkmale der staatlichen Sozialpolitik
Teil III Theoretische Grundlegung der staatlichen Sozialpolitik
Kapitel 5 Entwicklungstendenzen und Hauptergebnisse
staatlicher Sozialpolitik
5.1 Entwicklungstendenzen
5.1.1 Von der staatsautoritären, repressiven, schichtspezifischen Schutzpolitik zur Gesellschaftspolitik des demokratischen und
sozialen Rechtsstaates
5.1.2 „Verdichtung“ sozialpolitischer Akte, Verrechtlichung,
Institutionalisierung und Zentralisierung der Sozialpolitik
5.1.3 Die Tendenz gesellschaftlicher Egalisierung
5.1.4 Die Konzentration der Sozialpolitik auf die im Erwerbsleben
tätigen Personen
5.2 Hauptergebnisse der staatlichen Sozialpolitik
Kapitel 6
Grundzüge einer Theorie staatlicher Sozialpolitik
6.1 Grundzüge einer Theorie der Entstehungsbedingungen staatlicher
Sozialpolitik
6.1.1 Funktionalistische Theorien der Sozialpolitik
6.1.2 Ökonomische Theorie des Sozialstaats
6.1.3 Interessen- bzw. machtressourcentheoretische Ansätze der
Sozialpolitik
6.2 Grundzüge einer Theorie der Entwicklungsbedingungen
6.2.1 Das Determinantensystem staatlicher Sozialpolitik
6.2.2 Die Wirkungen alternativer Ausprägungen der
Primärdeterminanten
6.2.3 Die Theorie der Entwicklungsbedingungen staatlicher
Sozialpolitik im Lichte empirischer Analysen
6.3 Anhang: Negativselektion auf Versicherungsmärkten
Teil IV Systematische Darstellung der Bereiche
sozialpolitischen Handelns
Kapitel 7
Arbeitnehmerschutz
7.1 Definition, Notwendigkeit und Ziele
7.2 Einzelbereiche des Arbeitnehmerschutzes
7.2.1 Arbeitszeitschutz
7.2.2 Betriebs- oder Gefahrenschutz
7.2.3 Lohnschutz
7.2.4 Bestandsschutz des Arbeitsverhältnisses
7.3 Sonderschutz für bestimmte Arbeitnehmer
7.4 Träger und Organe
7.5 Entwicklungstendenzen
Kapitel 8
Arbeitsmarktpolitik
8.1 Definition, Notwendigkeit und Ziele
8.2 Die Transformation des freien, unvollkommenen Arbeitsmarktes
in den institutionalisierten, organisierten Markt
8.3 Einzelbereiche der Arbeitsmarktpolitik
8.3.1 Arbeitsmarktausgleichspolitik
8.3.2 Arbeitsmarktordnungspolitik
8.3.2.1 Grundproblematik
8.3.2.2 Lösungsmöglichkeiten
8.3.3 Beschäftigungspolitik
8.4 Träger und Organe
Kapitel 9
Die Mitbestimmung der Arbeitnehmer
9.1 Definition, Notwendigkeit und Ziele
9.2 Ausgestaltung der Betriebs- und Unternehmensverfassung
9.2.1 Die Ausgestaltung der Betriebsverfassung
9.2.2 Die Ausgestaltung der Unternehmensverfassung
9.2.3 Erfahrungen und Kontroversen
9.3 Gesamtwirtschaftliche (überbetriebliche) Mitbestimmung
Kapitel 10
Das System der sozialen Sicherung
10.1 Definition, Notwendigkeit und allgemeine Aufgabe
10.2 Gestaltungsprinzipien und Strukturmerkmale von Systemen
sozialer Sicherung
10.2.1 Kernprinzipien: Versicherung – Versorgung – Fürsorge
10.2.2 Organisationsprinzipien sozialer Sicherung
10.2.3 Arten und Ausgestaltung der Leistungen
10.2.4 Finanzierungsarten und Finanzierungsverfahren
10.2.5 Überblick über das System sozialer Sicherung in der
Bundesrepublik
10.3 Einzelbereiche sozialer Sicherung in der Bundesrepublik
10.3.1 Die gesetzliche Krankenversicherung (GKV)
10.3.2 Die Pflegeversicherung (PV)
10.3.3 Die gesetzliche Unfallversicherung (UV)
10.3.4 Die gesetzliche Rentenversicherung der Arbeiter und der
Angestellten (GRV)
10.3.5 Staatlich geförderte zusätzliche private Altersvorsorge
10.3.6 Die Beamtenversorgung
10.3.7 Sonstige Alterssicherungen
10.3.8 Die Arbeitslosenversicherung (ALV)
10.4 Weiterer Reformbedarf im System sozialer Sicherung
Kapitel 11
Soziale Grundsicherung
11.1 Definition, Notwendigkeit und generelles Ziel
11.2 Empfängergruppen, Prinzipien und Instrumente der sozialen
Grundsicherung
11.2.1 Prinzipien der sozialen Grundsicherung
11.2.2 Grundsicherung für Arbeitsuchende
11.2.3 Sozialhilfe
11.2.4 Soziale Sicherung für Asylbewerber
11.3 Probleme
Kapitel 12
Familienpolitik
12.1 Definition, Notwendigkeit und generelles Ziel
12.1.1 Definition
12.1.2 Notwendigkeit und Ziele staatlicher Familienpolitik
12.2 Instrumente der Familienpolitik
12.2.1 Normen des Familien- und Arbeitsrechts
12.2.2 Monetäre Maßnahmen der Familienpolitik
12.2.2.1 Steuerliche Maßnahmen
12.2.2.2 Familienpolitisch orientierte Transferleistungen
12.2.2.3 Familienpolitische Leistungen im Rahmen der sozialen Sicherung
12.2.3 Familienpolitik im Bereich Wohnen
12.2.4 Ausbildungsförderung
12.2.5 Kinder- und Jugendhilfe
12.2.6 Sonstige familienpolitische Instrumente
12.3 Das Gewicht familienpolitischer Leistungen
12.4 Entwicklungstendenzen und aktuelle Probleme der
Familienpolitik
Kapitel 13
Vermögenspolitik
13.1 Definition, Notwendigkeit und Ziele
13.2 Vermögensbildung und Vermögensverteilung in der
Bundesrepublik Deutschland
13.2.1 Vermögensverteilung und Vermögensbildung seit 1950
13.2.2 Die Ursachen der Vermögensungleichverteilung
13.2.3 Die Vermögenspolitik in der Bundesrepublik
13.2.4 Die Vermögensquellen und die Verteilung der Chancen zum
Vermögenserwerb
13.2.5 Erfolgschancen einer Vermögenspolitik
13.3 Instrumente der Vermögenspolitik
13.3.1 Vermögensbestandspolitik
13.3.2 Vermögensbildungspolitik
13.4 Anhang: Verteilungspolitische Grundlagen der Vermögenspolitik
Kapitel 14
Die Sozialpolitik der Europäischen Union
14.1 Definition, Ziele und Prinzipien Europäischer Sozialpolitik
14.1.1 Definition und Ziele
14.1.2 Prinzipien Europäischer Sozialpolitik
14.2 Instrumente, Träger und Organe Europäischer Sozialpolitik
14.2.1 Träger und Organe
14.2.2 Instrumente supranationaler Sozialpolitik
14.3 Die Entwicklung der Europäischen Sozialpolitik
14.4 Zentrale Probleme einer gemeinsamen Sozialpolitik in der
Europäischen Union
14.4.1 Heterogenität nationalstaatlicher sozialpolitischer Systeme
14.4.2 Koordinierung versus Harmonisierung sozialer
Sicherungssysteme
Teil V Das System der staatlichen Sozialpolitik -
Überblick und Bilanz
Kapitel 15 Finalziele, Prinzipien und Träger der staatlichen
Sozialpolitik im Überblick
15.1 Finalziele
15.2 Prinzipien
15.2.1 Ordnungsprinzipien
15.2.2 Leistungsprinzipien
15.3 Träger und Organe
15.3.1 Nationale Träger und Organe
15.3.2 Supranationale Träger und internationale Organisationen
Kapitel 16
Bilanz der staatlichen Sozialpolitik
16.1 Die Wirkungen staatlicher Sozialpolitik
16.1.1 Wirkungen auf die Lebenslage der Individuen und der
Privathaushalte
16.1.2 Einzelwirtschaftliche Wirkungen auf die Unternehmen
16.1.3 Gesamtwirtschaftliche Effekte
16.1.4 Gesellschaftliche Wirkungen
16.2 Entwicklungstendenzen
16.3 Erfolge
16.3.1 Gesellschaftspolitische Erfolge
16.3.2 Sozialpolitische Erfolge
16.4 Defizite und Fehlentwicklungen
16.4.1 Defizite
16.4.2 Fehlentwicklungen
16.5 Herausforderungen und ungelöste Aufgaben
16.5.1 Die erste Herausforderung: Der demografische Wandel
16.5.2 Die zweite Herausforderung: Der Einflusses der
Globalisierung auf das System sozialer Sicherung
16.5.3 Weitere ungelöste Aufgaben
16.6 Reform, Umbau und Konsolidierung des Sozialstaates
16.6.1 Reichweite sozialpolitischer Reformen
16.6.2 Sozialpolitische Leitbilder
16.6.3 Reformprinzipien
16.6.4 Reformansätze
Literaturverzeichnis
Personenverzeichnis
Sachverzeichnis

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Jörg Althammer Heinz Lampert Maximilian Sommer

Lehrbuch der Sozialpolitik 10. Auflage

Lehrbuch der Sozialpolitik

Jörg Althammer · Heinz Lampert · Maximilian Sommer

Lehrbuch der Sozialpolitik 10., vollständig überarbeitete Auflage

Jörg Althammer Lehrstuhl für Wirtschafts- und Unternehmensethik Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt Ingolstadt, Deutschland

Heinz Lampert Lauf/Pegnitz, Deutschland

Maximilian Sommer Ingolstadt, Deutschland

ISBN 978-3-662-56257-4 ISBN 978-3-662-56258-1  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-56258-1 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 1985, 1991, 1994, 1996, 1998, 2001, 2004, 2007, 2014, 2021 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Lektorat: Margit Schlomski Springer Gabler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

Vorwort

Das vorliegende Lehrbuch ist das Ergebnis langjähriger Beschäftigung mit der Sozialpolitik in Forschung und Lehre. Es stellt – nach einer knapp gehaltenen wissenschaftstheoretischen, wissenschaftsprogrammatischen und wissenschaftssystematischen Grundlegung – im ersten Teil die Geschichte der neuzeitlichen deutschen staatlichen Sozialpolitik in ihren Grundzügen und im zweiten Teil ihre Entwicklungstendenzen, ihre Ergebnisse sowie die Grundzüge einer Theorie staatlicher Sozialpolitik dar. Im dritten Teil werden die sozialpolitischen Einzelbereiche nach Zielen, Instrumenten, Trägern, Wirkungen und aktuellen Problemen abgehandelt. Der vierte Teil enthält einen zusammenfassenden Überblick über das System der staatlichen Sozialpolitik und behandelt die Erfolge und die Reformnotwendigkeit des Sozialstaats. Ein Überblick und die Bilanz staatlicher Sozialpolitik schließen das Lehrbuch ab. Die vorliegende zehnte Auflage wurde gegenüber den früheren Auflagen inhaltlich grundlegend überarbeitet. Der Aufbau des Lehrbuchs und die detaillierte Darstellung der institutionellen Ausgestaltung staatlicher Sozialpolitik wurden beibehalten, alle gesetzlichen Grundlagen und statistischen Angaben wurden jedoch vollständig aktualisiert. Auch die relativ ausführliche Darstellung der Geschichte staatlicher Sozialpolitik wurde übernommen. Im Vergleich zu früheren Auflagen wird nun jedoch stärker auf die sozialwissenschaftliche Theorie Bezug genommen. Damit sollen den Lesern die theoretischen Grundlagen vermittelt werden, die erforderlich sind, um die Wirkungsweise sozialstaatlicher Maßnahmen zu erkennen und sozialpolitische Reformen kritisch zu würdigen. Der Grad der formalen Analyse bewegt sich dabei auf einem Niveau, wie es mittlerweile in jedem sozialwissenschaftlichen Bachelor-Studium vermittelt wird. Im vorliegenden Buch wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit weitgehend auf die gleichzeitige Verwendung weiblicher, männlicher, sowie diverser Sprachformen verzichtet und das generische Maskulinum verwendet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichermaßen für alle Geschlechter. Die Überarbeitung des Manuskripts war im Frühjahr 2020 abgeschlossen. Aufgrund der Corona-Pandemie verzögerte sich jedoch die Fertigstellung des Lehrbuchs um mehrere Monate. Die sozialrechtlichen Regelungen beziehen sich deshalb auf den Rechtsstand des Jahres 2019. Nur in wichtigen Einzelfällen wurde der Rechtsstand auf das Jahr 2020 aktualisiert. Wir bedanken uns bei den Mitarbeitern des Lehrstuhls für Wirtschaftsethik und Sozialpolitik der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, insbesondere bei Herrn Jakob Schäuble und Herrn Valentin Vogt sowie bei Frau Simone Hemm und Herrn Martin Kiesewetter für ihre Assistenz bei der Überarbeitung dieses Lehrbuchs. Ingolstadt im April 2021

Jörg Althammer, Maximilian Sommer v

Inhaltsverzeichnis

Teil I Einführung 1

Wissenschaftstheoretische Grundlegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Definition und Notwendigkeit staatlicher Sozialpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1 Definition staatlicher Sozialpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.2 Die Notwendigkeit staatlicher Sozialpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Sozialpolitik als wissenschaftliche Disziplin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Die Aufgaben der Sozialpolitik als Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2 Definition der Sozialpolitik als Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.3 Zur Stellung der Sozialpolitik im System wissenschaftlicher Disziplinen

3 3 3 4 8 8 13 13

Teil II Geschichte der deutschen staatlichen Sozialpolitik 2

3

Die Arbeiterfrage des 19. Jahrhunderts als auslösende Ursache neuzeitlicher staatlicher Sozialpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Die Lebensumstände der Arbeiterschaft im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Die Entstehung und quantitative Bedeutung des Proletariats . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Die Ursachen der sozialen Frage im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Systemexogene Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Systemendogene Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Die sozialpolitischen Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Die Einstellung führender Kreise zur Arbeiterfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17 17 21 22 22 29 35 36

Akteure der sozialpolitischen Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Sozialreformer und Sozialrevolutionäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Sozialreformer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Sozialrevolutionäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Soziale Bewegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Sozialistische, christliche und liberale Bewegungen und Parteien . . . . . . 3.2.3 Die Gewerkschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4 Die Genossenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39 40 40 47 48 48 48 53 56

vii

viii

4

Inhaltsverzeichnis

Geschichte der sozialpolitischen Gesetzgebung in Deutschland . . . . . . . . . . 4.1 Die Anfänge der Sozialgesetzgebung bis zur Entlassung Bismarcks (1839 - 1890) 4.1.1 Wirtschaftlicher und politischer Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2 Die Sozialgesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3 Charakteristische Merkmale der staatlichen Sozialpolitik . . . . . . . . . . . . 4.2 Die Sozialgesetzgebung unter Wilhelm II. (1890 - 1918) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Wirtschaftlicher und politischer Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Die Sozialgesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3 Charakteristische Merkmale der staatlichen Sozialpolitik . . . . . . . . . . . . 4.3 Die Sozialgesetzgebung in der Weimarer Republik (1918 - 1933) . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Wirtschaftlicher und politischer Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Die Sozialgesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3 Charakteristische Merkmale der staatlichen Sozialpolitik . . . . . . . . . . . . 4.4 Die Sozialgesetzgebung im Dritten Reich (1933 - 1945) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.1 Politischer und wirtschaftlicher Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.2 Die Sozialgesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.3 Charakteristische Merkmale der staatlichen Sozialpolitik . . . . . . . . . . . . 4.5 Die Sozialgesetzgebung in der Bundesrepublik Deutschland (1949 - 2019) . . . . 4.5.1 Politischer und wirtschaftlicher Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.2 Die Sozialgesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.3 Charakteristische Merkmale der staatlichen Sozialpolitik . . . . . . . . . . . .

59 60 60 62 65 66 66 66 69 70 70 73 76 77 77 78 80 81 81 83 96

Teil III Theoretische Grundlegung der staatlichen Sozialpolitik 5

6

Entwicklungstendenzen und Hauptergebnisse staatlicher Sozialpolitik . . . 5.1 Entwicklungstendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1 Von der staatsautoritären, repressiven, schichtspezifischen Schutzpolitik zur Gesellschaftspolitik des demokratischen und sozialen Rechtsstaates 5.1.2 „Verdichtung“ sozialpolitischer Akte, Verrechtlichung, Institutionalisierung und Zentralisierung der Sozialpolitik . . . . . . . . . . . . 5.1.3 Die Tendenz gesellschaftlicher Egalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.4 Die Konzentration der Sozialpolitik auf die im Erwerbsleben tätigen Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Hauptergebnisse der staatlichen Sozialpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

103 103

Grundzüge einer Theorie staatlicher Sozialpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Grundzüge einer Theorie der Entstehungsbedingungen staatlicher Sozialpolitik 6.1.1 Funktionalistische Theorien der Sozialpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.2 Ökonomische Theorie des Sozialstaats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.3 Interessen- bzw. machtressourcentheoretische Ansätze der Sozialpolitik 6.2 Grundzüge einer Theorie der Entwicklungsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.1 Das Determinantensystem staatlicher Sozialpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2 Die Wirkungen alternativer Ausprägungen der Primärdeterminanten . . 6.2.3 Die Theorie der Entwicklungsbedingungen staatlicher Sozialpolitik im Lichte empirischer Analysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Anhang: Negativselektion auf Versicherungsmärkten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

115 115 116 117 121 122 123 129

103 109 110 111 111

131 134

Inhaltsverzeichnis

ix

Teil IV Systematische Darstellung der Bereiche sozialpolitischen Handelns 7

Arbeitnehmerschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Definition, Notwendigkeit und Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Einzelbereiche des Arbeitnehmerschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.1 Arbeitszeitschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.2 Betriebs- oder Gefahrenschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.3 Lohnschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.4 Bestandsschutz des Arbeitsverhältnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Sonderschutz für bestimmte Arbeitnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4 Träger und Organe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5 Entwicklungstendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

143 143 144 144 148 151 152 156 157 158

8

Arbeitsmarktpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Definition, Notwendigkeit und Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Die Transformation des freien, unvollkommenen Arbeitsmarktes in den institutionalisierten, organisierten Markt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3 Einzelbereiche der Arbeitsmarktpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.1 Arbeitsmarktausgleichspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.2 Arbeitsmarktordnungspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.3 Beschäftigungspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4 Träger und Organe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

159 159

Die Mitbestimmung der Arbeitnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1 Definition, Notwendigkeit und Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2 Ausgestaltung der Betriebs- und Unternehmensverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2.1 Die Ausgestaltung der Betriebsverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2.2 Die Ausgestaltung der Unternehmensverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2.3 Erfahrungen und Kontroversen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3 Gesamtwirtschaftliche (überbetriebliche) Mitbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . .

189 189 191 191 197 200 202

10 Das System der sozialen Sicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.1 Definition, Notwendigkeit und allgemeine Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2 Gestaltungsprinzipien und Strukturmerkmale von Systemen sozialer Sicherung 10.2.1 Kernprinzipien: Versicherung – Versorgung – Fürsorge . . . . . . . . . . . . . . 10.2.2 Organisationsprinzipien sozialer Sicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2.3 Arten und Ausgestaltung der Leistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2.4 Finanzierungsarten und Finanzierungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2.5 Überblick über das System sozialer Sicherung in der Bundesrepublik . . 10.3 Einzelbereiche sozialer Sicherung in der Bundesrepublik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3.1 Die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3.2 Die Pflegeversicherung (PV) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3.3 Die gesetzliche Unfallversicherung (UV) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3.4 Die gesetzliche Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten (GRV) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3.5 Staatlich geförderte zusätzliche private Altersvorsorge . . . . . . . . . . . . . . . 10.3.6 Die Beamtenversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

207 207 208 210 211 215 216 219 219 219 232 240

9

161 162 162 172 185 187

242 257 260

x

Inhaltsverzeichnis

10.3.7 Sonstige Alterssicherungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3.8 Die Arbeitslosenversicherung (ALV) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.4 Weiterer Reformbedarf im System sozialer Sicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

261 261 265

11 Soziale Grundsicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.1 Definition, Notwendigkeit und generelles Ziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2 Empfängergruppen, Prinzipien und Instrumente der sozialen Grundsicherung 11.2.1 Prinzipien der sozialen Grundsicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2.2 Grundsicherung für Arbeitsuchende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2.3 Sozialhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2.4 Soziale Sicherung für Asylbewerber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.3 Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

269 269 271 271 273 274 275 276

12 Familienpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.1 Definition, Notwendigkeit und generelles Ziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.1.1 Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.1.2 Notwendigkeit und Ziele staatlicher Familienpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.2 Instrumente der Familienpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.2.1 Normen des Familien- und Arbeitsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.2.2 Monetäre Maßnahmen der Familienpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.2.3 Familienpolitik im Bereich Wohnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.2.4 Ausbildungsförderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.2.5 Kinder- und Jugendhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.2.6 Sonstige familienpolitische Instrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.3 Das Gewicht familienpolitischer Leistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.4 Entwicklungstendenzen und aktuelle Probleme der Familienpolitik . . . . . . . . . .

281 281 281 282 286 286 287 294 295 295 298 299 300

13 Vermögenspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.1 Definition, Notwendigkeit und Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.2 Vermögensbildung und Vermögensverteilung in der Bundesrepublik Deutschland 13.2.1 Vermögensverteilung und Vermögensbildung seit 1950 . . . . . . . . . . . . . . . 13.2.2 Die Ursachen der Vermögensungleichverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.2.3 Die Vermögenspolitik in der Bundesrepublik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.2.4 Die Vermögensquellen und die Verteilung der Chancen zum Vermögenserwerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.2.5 Erfolgschancen einer Vermögenspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.3 Instrumente der Vermögenspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.3.1 Vermögensbestandspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.3.2 Vermögensbildungspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.4 Anhang: Verteilungspolitische Grundlagen der Vermögenspolitik . . . . . . . . . . . .

305 305 307 307 313 316

14 Die Sozialpolitik der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.1 Definition, Ziele und Prinzipien Europäischer Sozialpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.1.1 Definition und Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.1.2 Prinzipien Europäischer Sozialpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.2 Instrumente, Träger und Organe Europäischer Sozialpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . 14.2.1 Träger und Organe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

335 335 335 335 336 336

323 324 325 326 328 332

Inhaltsverzeichnis

14.2.2 Instrumente supranationaler Sozialpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.3 Die Entwicklung der Europäischen Sozialpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.4 Zentrale Probleme einer gemeinsamen Sozialpolitik in der Europäischen Union 14.4.1 Heterogenität nationalstaatlicher sozialpolitischer Systeme . . . . . . . . . . . 14.4.2 Koordinierung versus Harmonisierung sozialer Sicherungssysteme . . . . .

xi

338 341 348 348 351

Teil V Das System der staatlichen Sozialpolitik - Überblick und Bilanz 15 Finalziele, Prinzipien und Träger der staatlichen Sozialpolitik im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.1 Finalziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.2 Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.2.1 Ordnungsprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.2.2 Leistungsprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.3 Träger und Organe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.3.1 Nationale Träger und Organe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.3.2 Supranationale Träger und internationale Organisationen . . . . . . . . . . . .

357 357 359 359 363 364 365 370

16 Bilanz der staatlichen Sozialpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.1 Die Wirkungen staatlicher Sozialpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.1.1 Wirkungen auf die Lebenslage der Individuen und der Privathaushalte 16.1.2 Einzelwirtschaftliche Wirkungen auf die Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . 16.1.3 Gesamtwirtschaftliche Effekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.1.4 Gesellschaftliche Wirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.2 Entwicklungstendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.3 Erfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.3.1 Gesellschaftspolitische Erfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.3.2 Sozialpolitische Erfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.4 Defizite und Fehlentwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.4.1 Defizite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.4.2 Fehlentwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.5 Herausforderungen und ungelöste Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.5.1 Die erste Herausforderung: Der demografische Wandel . . . . . . . . . . . . . . . 16.5.2 Die zweite Herausforderung: Der Einflusses der Globalisierung auf das System sozialer Sicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.5.3 Weitere ungelöste Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.6 Reform, Umbau und Konsolidierung des Sozialstaates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.6.1 Reichweite sozialpolitischer Reformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.6.2 Sozialpolitische Leitbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.6.3 Reformprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.6.4 Reformansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

373 373 373 376 377 384 385 386 386 387 388 388 391 397 398

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

417

Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

441

Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

445

402 405 406 406 408 409 412

Abbildungsverzeichnis

2.1 2.2 2.3

Die Entwicklung der wöchentlichen Bruttoreallöhne in Industrie und Landwirtschaft in Deutschland (1820-1900) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die anomale Reaktion des Arbeitsangebots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Monopson am Arbeitsmarkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19 31 33

3.1

Akteure der sozialpolitischen Entwicklung im 19. Jh. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39

4.1

Indikatoren zur Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung (1950-2018) . . . . . . .

84

6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 7.0

Primäre und sekundäre Determinanten sozialpolitischer Entwicklung . . . . . . . . . Einkommensnutzenfunktion eines risikoaversen Individuums . . . . . . . . . . . . . . . . Versicherungsentscheidung bei zustandsabhängigen Einkommen . . . . . . . . . . . . . Trennendes Versicherungsgleichgewicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Negativselektion auf Versicherungsmärkten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bereiche der Sozialpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

124 135 136 139 139 142

7.1

Angezeigte Arbeitsunfälle absolut und je 1 000 Vollarbeiter (1960-2017) . . . . . .

150

8.1 8.2 8.3 8.4 8.5 8.6

Stilisierter Verlauf der Beveridge-Kurve . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Beveridge-Kurve für Deutschland (1959-2018) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Teilnehmerbestand ausgewählter Instrumente der aktiven Arbeitsmarktpolitik . Lohnpolitischer Verteilungsspielraum und Ausschöpfungsgrad . . . . . . . . . . . . . . . Monopol, Monopson und kompetitives Gleichgewicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Wirkungen eines staatlichen Mindestlohns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

164 165 169 174 178 184

10.1 10.2 10.3 10.4 10.5 10.6

Gestaltungsprinzipien und Finanzierungsformen der Risikovorsorge . . . . . . . . . . Belastung von Mini- und Midijobs mit Sozialversicherungsbeiträgen . . . . . . . . . . Stilisierte Wirkungsweise von Umlage- und Kapitaldeckungsverfahren . . . . . . . . Das System der ambulanten und stationären Gesundheitsversorgung . . . . . . . . . Empfängerinnen und Empfänger von Hilfe zur Pflege (in 1 000) . . . . . . . . . . . . . . Entwicklung des Beitragssatzes und des Rentenniveaus vor Steuern . . . . . . . . . .

209 213 218 224 237 256

11.1 Arbeitsangebotseffekte der sozialen Grundsicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

278

xiii

xiv

Abbildungsverzeichnis

11.2 Arbeitsangebotseffekte einer Transferleistung mit Freibeträgen . . . . . . . . . . . . . .

279

12.1 Armutsgefährdungsquote (in vH) nach Haushaltstyp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.2 Steuerliche Wirkung des Splittingverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.3 Der duale Familienleistungsausgleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

285 289 291

13.1 Lorenzkurve der Vermögensverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.2 Vermögensbildung im Lebenszyklus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.3 Förderung der Vermögensbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

310 314 321

14.1 Zusammenhang von BIP und SLQ in der EU (2017) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

349

15.1 Die allokativen Effekte von Geld- vs. Sachleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.2 Träger und Organe der staatlichen Sozialpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

364 366

16.1 Die Wirkungen des Systems sozialer Sicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

375

Tabellenverzeichnis

2.1 2.2 2.3 3.1

Beschäftigtenstruktur nach Wirtschaftsbereichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erwerbstätige im Deutschen Reich im Jahr 1895 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Verteilung der Bevölkerung im Deutschen Reich und in der Bundesrepublik Deutschland auf Gemeindegrößenklassen (1852-2000) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23 23 25

3.2 3.3

Stimmenanteile und Abgeordnetenmandate der SPD im Deutschen Reichstag (1871-1912) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Mitgliederentwicklung der Gewerkschaften (1869-1919) . . . . . . . . . . . . . . . . . Zeittafel zur Geschichte der sozialen Bewegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

50 55 58

4.1 4.2 4.3

Wirtschaftliche Kennziffern für das Deutsche Reich (1850-1913) . . . . . . . . . . . . . Wirtschaftliche Kennziffern für das Deutsche Reich (1913-1938) . . . . . . . . . . . . . Zeittafel sozialpolitischer Gesetze und Verordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

61 72 96

5.1

Periodisierte Zeittafel grundlegender sozialpolitischer Gesetze . . . . . . . . . . . . . . .

104

6.1

Determinantensysteme staatlicher Sozialpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

130

7.1 7.2

Die Entwicklung der wöchentlichen und jährlichen Arbeitszeit in Deutschland (1860-2017) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kündigungsfristen gem. § 622 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

147 153

8.1 8.2

Mindestlöhne ausgewählter Länder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die gesamtfiskalischen Kosten der Arbeitslosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

183 186

10.1 Die Leistungen des Systems sozialer Sicherung in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . 10.2 Versicherungspflichtgrenzen, Beitragsbemessungsgrenzen und Beitragssätze in der Sozialversicherung seit 1970 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3 Die Leistungsausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung (1950-2015) . . . . . 10.4 Leistungsbezieher der sozialen Pflegeversicherung nach Art und Pflegegrad (2018) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.5 Leistungen der Pflegeversicherung (monatlich in e, 2021) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.6 Rentenartfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

220 221 226 234 234 247

xv

xvi

Tabellenverzeichnis

10.7 Entwicklung der Bundeszuschüsse zur allgemeinen Rentenversicherung . . . . . . . 10.8 Rentenzahlbeträge und Entgeltpunkte nach Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.9 Staatliche Förderung der privaten Altersvorsoge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.10Anspruch auf Arbeitslosengeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

251 254 258 263

11.1 11.2 11.3 11.4

Empfänger von Leistungen der sozialen Grundsicherung 2016 . . . . . . . . . . . . . . . Regelbedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts (2020) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geldleistungen gem. §3a AsylbLG pro Monat in Euro (2021) . . . . . . . . . . . . . . . . Empfänger und Leistungsausgaben nach dem Asylbewerberleistungsgesetz . . . .

270 272 275 276

12.1 12.2 12.3 12.4 12.5 12.6 12.7

Indikatoren des sozialen Wandels der Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Steuerbelastung bei Getrennt- und Zusammenveranlagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Elterngeld und ElterngeldPlus (monatlich) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausbildungsförderung 2020 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Berechnung des Unterhaltsvorschusses (Stand 2019) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ehe- und familienbezogene Maßnahmen (in Mio. e) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Entwicklung des Kindergeldes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

283 290 293 296 298 300 302

Bestandteile des Vermögens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bestandteile des Vermögens (in Mrd. e) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verteilung des Vermögens nach Sektoren (in Mrd. e) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vermögensverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bruttovermögen, Nettovermögen und Verschuldung privater Haushalte in Deutschland 2017 (in e) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.6 Portfoliostruktur der privaten Haushalte in Deutschland (2017) . . . . . . . . . . . . . 13.7 Entwicklung der Verteilung des Nettovermögens pro Person . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.8 Steuersätze der Erbschaft- und Schenkungssteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

306 308 309 310

14.1 Typologie europäischer Sozialstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.2 Synopse alternativer Sozialstaatsarrangements (nach Martin 2015) . . . . . . . . . . .

350 351

15.1 Einrichtungen der Träger der Freien Wohlfahrtspflege in Deutschland 2016 . . . .

368

13.1 13.2 13.3 13.4 13.5

311 312 313 327

16.1 Die Sozialleistungsquote 1871 bis 2017 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 16.2 Markteinkommen und verfügbare Einkommen sowie deren Ungleichverteilung in Deutschland 1991 bis 2011 auf Basis des SOEP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 16.3 Armutsrisikoquoten auf Basis des SOEP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390 16.4 Entwicklung der Sozialleistungsquote im internationalen Vergleich . . . . . . . . . . . 394 16.5 Die Altersstruktur der Bevölkerung in Deutschland von 1871 bis 2060 in Prozent 399

Hinweise zur Benutzung

Zur Zitierweise der Literatur. Auf den Seiten 417 ff. befindet sich ein umfassendes Literaturverzeichnis. Daher kann die im Text, in Fußnoten und am Ende der Kapitel des systematischen Teils angegebene Literatur verkürzt zitiert werden, d. h. unter Angabe des Verfassernamens, des Jahres der Veröffentlichung und – soweit erforderlich – der Seitenzahl. Wenn zwei oder mehrere in einem Jahr veröffentlichte Arbeiten eines Verfassers benutzt worden sind, sind sie durch Kleinbuchstaben kenntlich gemacht (z.B. Nell-Breuning, 1968a). Sehr spezielle Arbeiten insbesondere Personeneinträge im Handwörterbuch der Sozialwissenschaften (HdSW) wurden nicht in das Literaturverzeichnis aufgenommen. Diese Quellen werden in den entsprechenden Fußnoten vollständig zitiert. Zur Zitierweise der Gesetze. Die zitierten Gesetze sind bei der erstmaligen Nennung mit ihrem vollem Titel und dem Tag bzw. dem Jahr der Verabschiedung angegeben (z.B. Betriebsverfassungsgesetz 1972), bei weiteren Nennungen ist für die häufiger angesprochenen Gesetze die amtliche Abkürzung verwendet worden (z.B. BetrVG). Die Erläuterung der Abkürzungen findet sich im Abkürzungsverzeichnis S. xix ff. Bei Gesetzen mit umständlichen Bezeichnungen werden die amtlichen Kurztitel verwendet (z. B. statt „Gesetz zur Dämpfung der Ausgabenentwicklung und zur Strukturverbesserung in der gesetzlichen Krankenversicherung“: Krankenversicherungskostendämpfungsgesetz (KVKG)). Zahlreiche Gesetze werden im Laufe der Jahre geändert. Die in dieser Auflage verwendete Rechtslage bezieht sich auf den Januar 2020 und wird bald überholt sein. Hier ist es die Aufgabe des Lesers, die jeweils geltende neueste Fassung eines Gesetzes heranzuziehen. Eine zuverlässige Quelle hierfür stellt das Internetportal des Bundesjustizministeriums unter http://www.gesetze-im-internet.de dar. Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, die in fortlaufend nummerierten Bänden veröffentlicht werden, werden wie in der rechtswissenschaftlichen Literatur üblich zitiert, z. B. „BVerfGE 35,79“. Dabei gibt die erste Zahl die Bandnummer, die zweite Zahl die Seitenzahl an. Zu den Tabellen. Eine größere Zahl von Tabellen soll langfristige Entwicklungen verdeutlichen. Deshalb werden nur Jahresdurchschnittswerte für 5-Jahres-Perioden oder nur Werte für jedes 5. bzw. 10. Jahr ausgewiesen. Verständlicherweise kann das in den Tabellen enthaltene Zahlenmaterial nicht vollständig, sondern nur in Bezug auf seine wichtigsten Inhalte interpretiert werden, so dass die Vervollständigung der Interpretation dem Leser überlassen bleibt.

xvii

xviii

Hinweise zur Benutzung

Zur Aktualisierung von Daten. Sozialleistungen (Anspruchsvoraussetzungen und Höhe der Leistungen) werden häufig geändert. Bestimmte Regelungen ändern sich jährlich (Versicherungspflichtgrenzen und Beitragsbemessungsgrenzen). Nicht wenige der in diesem Buch angeführten Daten – es sind Daten und Rechtsnormen nach dem Stand vom 1. Jan. 2020 – werden daher bald überholt sein, zumal die Entwicklung den Gesetzgeber im Zusammenhang mit dem unvermeidbaren Umbau des Sozialstaates auch in den nächsten Jahren zu einer Vielzahl von Gesetzesänderungen zwingt. Da aber für die behandelten Sozialleistungsarten die einschlägigen Rechtsquellen und zudem am Ende der Kapitel des systematischen Teils die laufend erscheinenden Materialquellen für die verschiedenen Bereiche angegeben sind, kann der Leser die Daten im Bedarfsfall selbst aktualisieren. Zum Personenverzeichnis. Im Personenverzeichnis sind nicht alle im Buch erwähnten Personen, insbes. nicht alle Verfasser der zitierten Literatur enthalten, sondern nur Personen, die in einem bestimmten Aussagenzusammenhang als Akteure (z.B. Otto von Bismarck oder Ernst Abbe) oder als Urheber eines bestimmten Gedankens (z.B. Hans Achinger oder Oswald von NellBreuning) eine Rolle spielen.

Abkürzungsverzeichnis

Abb. Abs. AEUV AG ALV AN ArbZG Art. AVE

Abbildung Absatz Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union Aktiengesellschaft Arbeitslosenversicherung Arbeitnehmer Arbeitszeitgesetz Artikel Allgemeinverbindlicherklärung

Bd(e). BAföG BDA BetrVG BGB BGBl. BIP BMA BMAS BMFSFJ BMG BRD BT Drs. BVerfG BVerfGE bzw.

Band (Bände) Bundesausbildungsförderungsgesetz Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände Betriebsverfassungsgesetz Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bruttoinlandsprodukt Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung Bundesministerium für Arbeit und Soziales Bundesministerium für Familie, Senioren Frauen und Jugend Bundesministerium für Gesundheit Bundesrepublik Deutschland Bundestagsdrucksache Bundesverfassungsgericht Bundesverfassungsgerichtsentscheidung beziehungsweise

ca.

circa

DDR ders. Dez. DGB d.h.

Deutsche Demokratische Republik derselbe Dezember Deutscher Gewerkschaftsbund das heißt xix

xx

Abkürzungsverzeichnis

DIW DM

Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (Berlin) Deutsche Mark

e EFRE EG ehem. EMFF ELER ESF EStG ESZB EZB EU EVS EWG

Euro Europäischer Fonds für Regionale Entwicklung Europäische Gemeinschaft(en) ehemalig Europäischen Meeres- und Fischereifonds Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums Europäische Sozialfonds Einkommensteuergesetz Europäisches System der Zentralbanken Europäische Zentralbank Europäische Union Einkommens– und Verbrauchsstichprobe Europäische Wirtschaftgemeinschaft

f. ff. FLA

und folgende Seite und mehrere folgende Seiten (bzw. Jahre) Familienlastenausgleich

GewO GG (G)KV (G)RV (G)UV

Gewerbeordnung Grundgesetz (Gesetzliche) Krankenversicherung (Gesetzliche) Rentenversicherung (Gesetzliche) Unfallversicherung

HdSW HdWW Hg.

Handwörterbuch der Sozialwissenschaften Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft Herausgeber

i.d.F. i.e.S. i.J. insbes. i.w.S.

in der Fassung im engeren Sinn im Jahre insbesondere im weiteren Sinn

Jg. Jh.

Jahrgang Jahrhundert

Kap. KF Kn(R)V

Kapitel Kohäsionsfonds Knappschafts(renten-)versicherung

Lit.

Literatur

Abkürzungsverzeichnis

Mio. MitbestG Mrd. mtl.

Million(en) Mitbestimmungsgesetz Milliarde(n) monatlich

Nr. NSDAP NSV

Nummer Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Nationalsozialistische Volkswohlfahrt

o.a. OECD Okt.

oben angeführt Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Oktober

PSA

Personal-Service-Agenturen

rd. RM RVO

rund Reichsmark Reichsversicherungsordnung

S. SE SGB sog. Sp. SPV Stat. BA Stat. Jb.

Seite Europäische Gesellschaft Sozialgesetzbuch sogenannt Spalte Soziale Pflegeversicherung Statistisches Bundesamt Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland Statistisches Taschenbuch Sachverständigenrat (zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung)

Stat. Tb. SVR

TVG

Tarifvertragsgesetz

u.a.

und andere/unter anderem

v.a. vgl. VRG

vor allem vergleiche Vorruhestandsgesetz

WSI

Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut der Gewerkschaften

Z z.B. z.T.

Ziffer zum Beispiel zum Teil

xxi

Teil I

Einführung

Kapitel 1

Wissenschaftstheoretische Grundlegung

1.1 Definition und Notwendigkeit staatlicher Sozialpolitik 1.1.1 Definition staatlicher Sozialpolitik Trotz zahlreicher Versuche Sozialpolitik zu definieren, ist dieser Begriff bis heute umstritten geblieben.1 Das wird aus zwei Gründen vermutlich auch so bleiben. Denn zum einen ist jede Definition eines Politikbereichs immer mit bestimmten Wertungen verbunden. Dies gilt unabhängig davon, dass eine Definition nur eine beschreibende und analytische Funktion hat. Denn es macht einen Unterschied, ob Sozialpolitik als Politik für die Arbeiter oder für wirtschaftlich Schwache definiert wird, ob sie als eine Politik des Ausgleichs gruppenspezifischer wirtschaftlicher Schwäche oder als eine auf die umfassende Verwirklichung von Freiheit und Gerechtigkeit gerichtete Gesellschaftspolitik aufgefasst wird. Zweitens verändern sich die Ziele und Instrumente staatlicher Sozialpolitik in Abhängigkeit vom Wandel sozialer und gesellschaftlicher Strukturen (vgl. dazu Kapitel 2 bis 4 dieses Lehrbuchs). Entsprechend diesem Wandel der Gruppen, auf die sich Sozialpolitik richtet, der Ziele, der Instrumente und der Träger der Sozialpolitik ändert sich auch der Inhalt des Begriffs. Wegen des gesellschaftlichen Wandels haben Definitionen der Sozialpolitik, die aus der Sozialpolitik vergangener oder gegenwärtiger Gesellschaften abgeleitet sind und auf bestimmte soziale Gruppen oder bestimmte Ziele, Instrumente und Träger abstellen, nur eine räumlich und zeitlich begrenzte Gültigkeit. Fast alle Definitionen der Sozialpolitik, die sich auf die industrielle Arbeitswelt des 19. und des frühen 20. Jh. beziehen, sind auf moderne Gesellschaften nicht mehr anwendbar (Lampert, 1980, S. 5). Wenn man die Defizite eines sozialgeschichtlich gebundenen Sozialpolitikbegriffs vermeiden und eine Definition entwickeln will, die sowohl Allgemeingültigkeit beanspruchen kann, als auch frei von normativ wirkenden Inhalten ist, muss man – im Anschluss an van der Borght (1923, S. 1) und Zwiedineck-Südenhorst (1911, S. 38) – von konkreten Zielen, Grundsätzen, Objekten, Mitteln und Trägern der Sozialpolitik abstrahieren und von den raum- und zeitunabhängigen Zielen praktischer Sozialpolitik ausgehen. Es handelt sich um zwei Zielrichtungen, nämlich 1

Zur Interpretation dieser Diskussion und zur einschlägigen Lit. bis 1970 vgl. Kleinhenz 1970. Vgl. auch Frerich 1996, S. 3. ff.

3

© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2021 J. Althammer et al., Lehrbuch der Sozialpolitik, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56258-1_1

4

1 Wissenschaftstheoretische Grundlegung

• erstens um die Verbesserung der wirtschaftlichen Lage und der sozialen Stellung von Personen und sozialen Gruppen, die in einer Gesellschaft absolut oder relativ, d. h. im Vergleich zu anderen, als wirtschaftlich oder sozial schwach gelten, und • zweitens um die Sicherung der wirtschaftlichen Lage für den Fall des Eintritts existenzgefährdender Risiken für jene Personen, die nicht in der Lage sind, eigenverantwortlich Vorsorge für diese Risiken zu treffen. In diesem Sinne lässt sich praktische Sozialpolitik definieren als jenes politische Handeln, das darauf abzielt, • die wirtschaftliche und soziale Stellung von wirtschaftlich oder sozial absolut oder relativ schwachen Gruppen durch den Einsatz geeigneter Mittel im Sinne der in einer Gesellschaft verfolgten gesellschaftlichen und sozialen Grundziele (freie Entfaltung der Persönlichkeit, soziale Sicherheit, soziale Gerechtigkeit, Gleichbehandlung) zu verbessern („Verteilungsfunktion“) und • den Eintritt wirtschaftlicher oder sozialer Schwäche im Zusammenhang mit dem Auftreten existenzgefährdender Risiken zu verhindern („Versicherungsfunktion“). Diese Definition macht deutlich, dass die Sozialpolitik im Wesentlichen zwei Aufgaben hat: die Absicherung gegen existenzgefährdende Risiken einerseits und die Verteilung von Einkommen, Vermögen und sozialen Positionen in einer Gesellschaft andererseits. Sie kann – wenn es um die Sozialpolitik einer bestimmten Epoche oder einer bestimmten Gesellschaftsordnung geht – durch die Konkretisierung der Ziele und Prinzipien, der Objekte, der Träger und der Mittel der jeweiligen Sozialpolitik inhaltlich konkretisiert werden. Im Sozialstaat der Bundesrepublik Deutschland erfolgt die Absicherung des Erwerbseinkommens über die Sozialversicherung. Die Sozialversicherung ist - gemessen an der Höhe der Einkommensleistungen - der quantitativ bedeutsamste Bereich staatlicher Sozialpolitik. Neben der Sozialversicherung umfasst die Sozialpolitik auch Instrumente der Einkommens- und Vermögensumverteilung sowie der Grundsicherung. Schließlich zählen zur Sozialpolitik auch rechtliche Maßnahmen wie der Arbeitnehmerschutz, die Arbeitsmarktpolitik und die Ausgestaltung der Betriebs- und Unternehmensverfassung. Neben der staatlichen Sozialpolitik gibt es die internationale und supranationale Sozialpolitik (vgl. dazu S. 370 ff.) sowie die von den Unternehmen getragene betriebliche Sozialpolitik.

1.1.2 Die Notwendigkeit staatlicher Sozialpolitik Häufig wird die Auffassung vertreten, Sozialpolitik sei ein für kapitalistische Systeme charakteristischer Politikbereich, mit dem Ziel das Wirtschaftssystem für breite Gesellschaftsschichten erträglicher und dadurch überlebensfähig zu machen (Sozialpolitik als „Reparaturbetrieb“ bzw. als „Lazarettstation“ des Kapitalismus). Diese Auffassung ist jedoch wissenschaftlich nicht haltbar. Deshalb soll zunächst die Notwendigkeit staatlicher Sozialpolitik allgemein erörtert werden, bevor die Gründe für die neuzeitliche Sozialpolitik in entwickelten Gesellschaften etwas ausführlicher behandelt wird.

1.1 Definition und Notwendigkeit staatlicher Sozialpolitik

5

Die von zahlreichen Wissenschaftlern2 vertretene Auffassung, die staatliche Sozialpolitik beginne mit den Maßnahmen zur Verbesserung der Lage der Industriearbeiterschaft in den sich industrialisierenden Gesellschaften zu Anfang des 19. Jh. ist nur zu rechtfertigen, wenn man einschränkend von der neuzeitlichen Sozialpolitik spricht. Denn soziale Konflikte, die Anlass für eine Politik des gesellschaftlichen Ausgleichs waren, gab es zu allen Zeiten der Menschheitsgeschichte. Dass es eine staatliche Sozialpolitik lange vor der Entstehung des Kapitalismus gab, ist darauf zurückzuführen, dass eine Politik des sozialen Ausgleichs in allen Gesellschaften notwendig wird, in denen es eine „Soziale Frage“ gibt. In Anlehnung an Ferdinand Tönnies3 lässt sich eine soziale Frage definieren als die Existenz von Unterschieden in den politischen, persönlichen oder wirtschaftlichen Rechten sowie in den Verfügungsmöglichkeiten über wirtschaftliche Güter (Einkommen und Vermögen) zwischen sozialen Gruppen (Schichten, Ständen, Klassen), die als so groß empfunden werden, dass sie • den inneren Frieden und damit die Existenz der Gesellschaft bedrohen oder • von den Trägern politischer Macht als nicht vertretbar angesehen werden. Soziale Fragen und daraus resultierend sozialpolitische Maßnahmen gab es bereits in der Antike. Die sozialen Fragen dieser Staaten hatten ihre Ursache in den starken Klassengegensätzen, die teilweise so ausgeprägt waren, dass sie sich in Aufständen entluden.4 Auch im mittelalterlichen Europa gab es sowohl im landwirtschaftlichen als auch im gewerblichen Bereich soziale Probleme und zahlreiche Maßnahmen staatlicher Sozialpolitik. Nach Friedrich–Wilhelm Henning, der in seiner Geschichte des vorindustriellen Deutschlands auch die sozialpolitischen Einrichtungen und die für bestimmte Perioden charakteristischen Konzepte darstellt, kann spätestens vom 15. Jh. an von einer staatlichen Sozialpolitik in Deutschland gesprochen werden.5 Besonders akut und groß wurde der Bedarf an staatlicher Sozialpolitik jedoch mit Beginn des Industriezeitalters. Die Notwendigkeit zu staatlicher Sozialpolitik im Industriezeitalter ergab sich im Grunde aus der Lösung der sozialen Frage der vorindustriellen Gesellschaft. Diese soziale Frage hatte darin bestanden, dass die persönlichen Freiheitsrechte, die politischen Rechte, die Besitz-, Berufs- und Bildungsrechte zwischen den Klassen bzw. Ständen höchst ungleich verteilt waren. Durch Leibeigenschaft, Erbuntertänigkeit und Zunftzwang bestanden für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung einseitige soziale, wirtschaftliche und persönliche Abhängigkeitsverhältnisse. Diese soziale Frage wurde grundsätzlich gelöst, als im Zuge der allmählichen Verwirklichung der Ideen der Aufklärung und des Liberalismus die Zünfte, die Leibeigenschaft und die Hörigkeit aufgehoben und stattdessen allgemeine Vertragsfreiheit, Freizügigkeit und die Freiheit der Berufs- und Arbeitsplatzwahl eingeführt wurden (vgl. dazu S. 25 f.). Die angeführten Maßnahmen, durch die eine jahrhundertlange politische, rechtliche und wirtschaftliche Abhängigkeit sozialer Gruppen beendet wurde, verursachten im Zusammenwirken mit anderen Faktoren jedoch die Entstehung einer neuen sozialen Frage, der „Arbeiterfrage“. Darunter versteht man die Tatsache, dass eine schnell wachsende Schicht persönlich freier Men2

Z. B. Albrecht 1955, S. 17 ff.; Preller 1970, 1. Halbbd., S. 1. Tönnies 1907, S. 7. 4 Vgl. dazu den Überblick bei Lampert 1980, S. 26 ff. und die ausführlichen Darstellungen bei Frerich/ Frey 1996. 5 Henning 1994, insbes. S. 174, S. 229 ff. und S. 286 ff. Vgl. ferner die Darstellung sozialer Spannungen und sozialpolitischer Maßnahmen in verschiedenen europäischen Ländern im Handbuch der europäischen Wirtschaftsund Sozialgeschichte, Bd. 2 (Kellenbenz 1980, passim) und Bd. 3 (W. Fischer u. a. 1986, passim). 3

6

1 Wissenschaftstheoretische Grundlegung

schen, die eigentums- und besitzlos war und daher zur Sicherung ihres Lebensunterhaltes auf die vertragliche Verwertung ihrer Arbeitskraft angewiesen war, unter menschenunwürdigen wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen am Rande des physischen Existenzminimums lebte. Diese gesellschaftliche Schicht war sozial ausgegrenzt und (im 19. Jh.) politisch ohnmächtig (vgl. dazu S. 27 ff.). Deshalb war für die Arbeiterschaft zunächst die formale persönliche Freiheit mit materialer Unfreiheit verknüpft. Die besitz- und vermögenslosen Arbeiter waren gezwungen, jede sich bietende Arbeitsgelegenheit unabhängig von den Arbeitsbedingungen zu akzeptieren. Des Weiteren war ihre Existenz im Falle von Arbeitslosigkeit oder Erwerbsunfähigkeit bedroht. Die Notwendigkeit zu staatlicher Sozialpolitik ergab sich unmittelbar aus der Schutzlosigkeit der Arbeiter im Falle des Eintritts dieser Risiken. Weitere Gründe waren die gesundheitsschädlichen, extrem langen Arbeitszeiten, die gesundheitsgefährdenden Arbeitsplatzbedingungen, der rücksichtslose Arbeitseinsatz von Kindern, Jugendlichen und Frauen sowie das Wohnungselend. Die soziale Frage als Arbeiterfrage (die sogenannte „klassische“ soziale Frage) wurde in den letzten zwei Jahrhunderten durch den Auf- und Ausbau des Sozialstaats, also des Arbeitnehmerschutzes, der Sozialversicherung und der Arbeitsmarktpolitik, weitgehend gelöst. Dies bedeutet aber nicht, dass eine staatliche Sozialpolitik in hoch entwickelten Gesellschaften überflüssig wäre. Die Notwendigkeit sozialpolitischer Maßnahmen in entwickelten Gesellschaften ist auf vier Gründe zurückzuführen: • Erstens: Zahlreiche Gesellschaftsmitglieder sind überhaupt nicht oder nur sehr begrenzt in der Lage, ihre Existenz durch Arbeitsleistungen und den damit verbundenen Erwerb von Ansprüchen an das System sozialer Sicherung zu sichern. Beispiele für derartige sozial schwache Gruppen sind geistig oder körperlich Behinderte, chronisch Kranke und Personen ohne ausreichende berufliche Qualifikation. • Zweitens: Für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung ist weiterhin das Arbeitseinkommen die wesentliche Existenzgrundlage. Diese Existenzgrundlage wäre bei Eintritt vorübergehender oder dauernder Erwerbsunfähigkeit oder bei Auftreten unplanmäßiger Ausgaben durch Krankheit, Arbeitslosigkeit, Unfall, Invalidität und Alter gefährdet, wenn nicht gesellschaftliche Sicherungseinrichtungen bestünden. • Ein dritter Grund für die Notwendigkeit staatlicher Sozialpolitik auch in hochentwickelten Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften liegt in der Tatsache, dass wirtschaftliche Entwicklung – unabhängig vom Gesellschafts- und Wirtschaftssystem – gleichbedeutend ist mit einem Wandel wirtschaftlicher und sozialer Strukturen. Industrielle Entwicklungsprozesse stellen – wie Joseph Alois Schumpeter treffend formuliert hat – Prozesse „schöpferischer Zerstörung“ dar (Schumpeter 1950, S. 134 ff.). Diese Prozesse sind mit Anpassungslasten verbunden, die sich aus der Entwertung von Sachkapital, dem Marktaustritt von Unternehmen, der Entwertung von Humanvermögen, der Freisetzung von Arbeitskräften sowie den Kosten der räumlichen und beruflichen Mobilität ergeben. Diese Anpassungslasten des wirtschaftlichen Wandels treffen letztlich immer einzelne Gesellschaftsmitglieder und bestimmte soziale Gruppen, wenn auch – je nach Vermögenslage, Einkommensverhältnissen, Bildungsstand und Qualifikation – in unterschiedlichem Ausmaß. Aus der Existenz derartiger Anpassungslasten ergeben sich als sozialpolitische Aufgaben: 1. die Entwicklung sozialer Sicherungssysteme zur Verringerung der individuellen Anpassungslasten sowie

1.1 Definition und Notwendigkeit staatlicher Sozialpolitik

7

2. die Sicherung einer als gerecht angesehenen Verteilung der Anpassungslasten in der Gesellschaft. Die sozial gerechte Verteilung dieses Anpassungskosten ist eine notwendige Voraussetzung für die gesellschaftliche Akzeptanz des Strukturwandels. Sozialpolitik wird somit für moderne Gesellschaften zu einer notwendigen Bedingung wirtschaftlicher Entwicklung, weil sie die Flexibilität und Anpassungsfähigkeit der Wirtschaft erhöht und die soziale Akzeptanz des Strukturwandels sichert; darüber hinaus hat sie erhebliche Effekte auf Wachstum und Stabilität der Wirtschaft (vgl. dazu Kapitel 16, S. 373 ff.). • Ein vierter, staatliche Sozialpolitik begründender Tatbestand liegt in der gesellschaftspolitischen Zielsetzung, die positive Freiheit in der Gesellschaft gleichmäßiger zu verteilen und dadurch den Grad der sozialen Gerechtigkeit zu erhöhen. Dieses Ziel wird durch eine gleichmäßigere Verteilung der Chancen für den Erwerb von Bildung, Einkommen und Vermögen sowie durch eine Verringerung nicht leistungsgebundener Einkommens- und Vermögensunterschiede realisiert. Diese gesellschaftspolitische Zielsetzung hat in Staaten, die sich – wie die Bundesrepublik in den Art. 20 und 28 GG – zum Sozialstaatsprinzip bekennen, hohes Gewicht. Das Sozialstaatsprinzip verpflichtet den Staat, im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung und der wirtschaftlichen Möglichkeiten für alle Gesellschaftsmitglieder die materiellen Voraussetzungen für die Wahrnehmung der Grundrechte auf persönliche (materiale) Freiheit, freie Entfaltung der Persönlichkeit, Freiheit der Berufs- und der Arbeitsplatzwahl, Gleichberechtigung und Chancengleichheit zu schaffen (vgl. dazu Heinig 2012 und Blüm/ Zacher 1989). Die Orientierung der Sozialpolitik am Sozialstaatsprinzip bewirkt in Verbindung mit der permanenten Veränderung der sozialen Verhältnisse, dass ein gesellschaftlicher Bedarf an sozialpolitischen Maßnahmen auch in entwickelten Ökonomien besteht.6 Letztlich liegt die Notwendigkeit zu staatlicher Sozialpolitik darin begründet, dass jede Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung – sei sie feudalistisch, ständestaatlich, liberal, sozialistisch oder sonst wie ausgestaltet – ein System einer bestimmten Verteilung von politischen, persönlichen und wirtschaftlichen Rechten, insbes. von Dispositionsbefugnissen über wirtschaftliche Güter (Boden, Sachkapital, Arbeitsvermögen, Konsumgüter bzw. Kaufkraft) darstellt. Diese teils natürlich, teils rechtlich bedingten Unterschiede in den Dispositionsbefugnissen und Dispositionsmöglichkeiten bewirken Unterschiede in den Möglichkeiten zur freien Entfaltung der Persönlichkeit und in der materialen individuellen Freiheit, die entsprechend den in der Gesellschaft verfolgten Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit beeinflusst werden müssen. Freiheit und Gerechtigkeit sind die beiden Ziele, die in jeder Gesellschaft als oberste Orientierungswerte politischer Gestaltung gelten. Dabei braucht uns an dieser Stelle der Leerformelcharakter dieser Ziele, das Problem ihrer Definition und ihrer Operationalisierbarkeit nicht zu beschäftigen.7 Wesentlich ist, dass ohne eine politische Gestaltung der Gesellschaft Ungleichheiten auftreten, die den gesetzten Zielen von Freiheit und Gerechtigkeit widersprechen.

6 Der Sozialrechtler Hans F. Zacher spricht in diesem Zusammenhang von dem immanenten Gesetz, „daß Sozialpolitik als eine letzte, integrale Konzeption unerfüllbar ist“ und „daß eine durchgreifende Beruhigung der Sozialpolitik nicht eintreten kann“ (Zacher, 1988, S. 157 f.). 7 Vgl. zu den Inhalten der Begriffe Freiheit und Gerechtigkeit Lampert 1990c, 1992 sowie Berlin 1995. Zur Gerechtigkeit siehe u.a. Rawls 1975, Dworkin 1981 und Sen 2001 sowie zusammenfassend Kersting 2000.

8

1 Wissenschaftstheoretische Grundlegung

1.2 Sozialpolitik als wissenschaftliche Disziplin 1.2.1 Die Aufgaben der Sozialpolitik als Wissenschaft a) Erkenntnistheoretische Grundlagen Ebenso problematisch wie die Definition des Gegenstandsbereichs „Sozialpolitik“ ist die Bestimmung der Sozialpolitik als wissenschaftliche Disziplin. Denn die Aufgabe der Wissenschaft ist es, die Realität zu erklären, die komplexe Wirklichkeit durchschaubar zu machen und Lösungen für gesellschaftliche Probleme zu entwickeln. Die Aufgabe der Sozialwissenschaften besteht darin, Erkenntnisse über die gesellschaftliche Wirklichkeit zu gewinnen, die objektiv, d. h. allgemein gültig sind. Diese Zielsetzung setzt eine intersubjektive Überprüfbarkeit der wissenschaftlichen Aussagen voraus. Eine wissenschaftliche Aussage gilt als allgemein gültig, wenn – ausgehend von bestimmten Prämissen und bei Anwendung der Regeln der Logik – die Überprüfung durch verschiedene Personen zu denselben Ergebnissen führt. Das Kriterium der intersubjektiven Überprüfbarkeit schließt normative Aussagen (Werturteile) als unzulässig aus wissenschaftlichen Aussagenzusammenhängen aus. Denn Werturteile sind Aussagen, die bestimmte Sachverhalte aus einem religiösen, ethischen, politischen oder sonstigen Standpunkt positiv oder negativ bewerten. Damit werden normative Aussagen nur von jenen als gültig akzeptiert, die diese Werthaltung teilen. Werturteile könnten somit nur dann Allgemeingültigkeit erlangen, wenn sie von allen Gesellschaftsmitgliedern als verbindliche Normen akzeptiert würden. Dies ist in modernen und pluralen Gesellschaften jedoch nicht mehr möglich. Aus dieser Einsicht folgt die Forderung nach werturteilsfreien wissenschaftlichen Aussagen.8 Diese auf dem Prinzip der Werturteilsfreiheit und dem Kriterium intersubjektiver Überprüfbarkeit wissenschaftlicher Aussagen beruhende Wissenschaftsauffassung wird als „kritischer Rationalismus“ bezeichnet (Popper 2005 und Popper 2003). Der kritische Rationalismus - der auch von den Verfassern dieses Lehrbuchs vertreten wird ist in der wissenschaftlichen Sozialpolitik umstritten. Gegen diese Wissenschaftsauffassung werden i. W. vier Einwände vorgebracht, die jedoch teilweise auf einer fehlerhaften Interpretation des Prinzips der Werturteilsfreiheit zurückzuführen sind. Ein erster Einwand macht geltend, dass eine werturteilsfreie Wissenschaft unmöglich sei, weil schon die Wahl eines Erkenntniszieles und der Untersuchungsmethode eine wertende Entscheidung darstellt. Tatsächlich ist unbestritten, dass im „Vorraum“ wissenschaftlicher Arbeit, in der „Wertbasis“, subjektive Wertungen unvermeidlich sind. Aber diese Wertungen widersprechen nicht dem Postulat nach Werturteilsfreiheit der Wissenschaft, weil die Wertmaßstäbe für die Auswahl der Erkenntnisziele und der Forschungsmethode nicht in die Beantwortung der aufgeworfenen Fragen eingehen. Ein zweiter Einwand lautet, die Forderung nach werturteilsfreier Wissenschaft bedeute einen Verzicht auf Realitätsnähe und auf wissenschaftliche Unterstützung der Politik, weil im Erfahrungsobjekt der Sozialwissenschaften Werthaltungen und Wertungen eine große Rolle spielen. Dazu ist zu sagen, dass der kritische Rationalismus Analysen von Werten, insbesondere von politischen Zielen, keineswegs ausschließt. Aber auch solche Analysen von Werten setzen keine Werturteile innerhalb des wissenschaftlichen Aussagensystems voraus. Denn wenn normativ 8

Vgl. dazu v. a. Weber 1922/1988b sowie Weber 1922/1988c. Vgl. auch Albert 1991.

1.2 Sozialpolitik als wissenschaftliche Disziplin

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Gültiges, wenn Werte und Bewertungen Objekt empirischer Untersuchungen werden, verlieren sie für die Untersuchung ihren normativen Charakter. Das normativ Gültige wird nicht als „gültig“, d. h. nicht als Handlungsanweisung oder als Forderung behandelt, sondern als „seiend“ (Weber 1922/1988a, S. 531). Ein dritter, gewichtiger Einwand stellt darauf ab, dass das Prinzip der Werturteilsfreiheit die Erkenntnismöglichkeiten stark einschränkt, weil vielfältig verursachte Erscheinungen, wie sie im ökonomischen und sozialen Bereich vorherrschen, nicht wertfrei analysiert werden können. Das gilt z.B. besonders für Diagnosen und Prognosen.9 Die exakte Erklärung einer Situation würde die Erfassung aller potenzieller Ursachen und des Gewichtes dieser Ursachen voraussetzen. Eine vollständige Erklärung der Realität ist grundsätzlich nicht möglich. Sozialwissenschaftliche Analysen sind immer theoriegeleitet, so dass aus der Vielzahl möglicher Ursachen bestimmte Wirkungsmechanismen aufgrund theoretischer Vorüberlegungen herausgehoben werden müssen. Aber dadurch beruhen sozialwissenschaftliche Analysen immer auf Selektion und subjektiver Wertung. Eine Lösung dieses Problems liegt im sogenannten „erweiterten“ Wissenschaftsprogramm (Giersch, 1991, S. 46 ff.). Es lässt innerhalb des wissenschaftlichen Aussagensystems Wertungen unter der Voraussetzung zu, dass diese Wertungen in Form von Hypothesen oder persönlichen Bekenntnissen eingeführt und deutlich erkennbar gemacht werden, so dass der Anschein objektiv gültiger Aussagen vermieden wird. Ein vierter Einwand schließlich verweist auf die Gefahr, dass sich der am Prinzip der Werturteilsfreiheit orientierende Wissenschaftler zum wertneutralen Werkzeug jeden politischen Systems machen lasse und seiner staatsbürgerlichen Verantwortung nicht gerecht werden könne. Auf diesen Einwand ist zu erwidern, dass der kritische Rationalismus erstens die freie Entscheidung eines Wissenschaftlers, einem bestimmten System zu dienen oder nicht, nicht in Frage stellt und zweitens keinem Wissenschaftler politisches Engagement verbietet. Der kritische Rationalismus verlangt nur, die Rolle des Wissenschaftlers von der des politisch engagierten Staatsbürgers zu trennen. Damit soll verhindert werden, dass politisches Engagement wissenschaftlich verbrämt wird und dass die Politik mit dem Attribut der wissenschaftlichen Fundierung ausgestattet und somit gegen Kritik immunisiert wird. Ein Sonderstatus des Wissenschaftlers auf der Bühne politischer Entscheidungen ist sachlich nicht zu rechtfertigen, denn die politische Qualifikation eines Wissenschaftlers ist nicht besser und nicht schlechter als die anderer mündiger Bürger. In einer demokratischen Gesellschaftsordnung sollte daher für politische Entscheidungen die Stimme des Wissenschaftlers nicht mehr Gewicht haben als die anderer Staatsbürger.

b) Aufgaben und Probleme der praktischen Sozialpolitik als Determinanten der Aufgaben der wissenschaftlichen Sozialpolitik Um die Hauptaufgaben der wissenschaftlichen Sozialpolitik abzuleiten, gehen wir von den Merkmalen (sozial-)politischen Handelns aus. Politisches Handeln lässt sich definieren (vgl. dazu Kleinhenz 1970, S. 61 ff.) als ein Handeln, das 1. auf Zweckmäßigkeitsüberlegungen beruht und bewusstes, planvolles, zielorientiertes Handeln ist;

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Vgl. dazu die ausführliche Problembehandlung bei Giersch/Borchardt 1962 und Beckerath/Giersch 1963.

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1 Wissenschaftstheoretische Grundlegung

2. getragen wird von Institutionen, die mit öffentlicher Verantwortung und dem Monopol der Anwendung legitimer physischer Gewalt sowie mit dem Recht ausgestattet sind, für die gesamte Gesellschaft verbindliche Entscheidungen hervorzubringen; 3. leitende Tätigkeit im Sinne freier Entscheidung zwischen Handlungsalternativen ist – im Gegensatz zu ausführendem Handeln. Allgemein formuliert ist politisches Handeln darauf gerichtet, eine bestimmte Situation S1 in eine Situation S2 überzuführen. Eine solche Änderung setzt zunächst den Entschluss voraus, etwas zu tun oder – wenn zu erwarten ist, dass sich ein gewünschter Zustand in einem angemessenen Zeitraum von selbst einstellt – zu unterlassen. Dieser Entschluss wiederum muss, da politisches Handeln der Intention nach zweckgerichtetes, planvolles Handeln ist, auf der begründeten Vermutung beruhen, dass eine erstrebte Situation S2 einer tatsächlichen Situation S1 vorzuziehen ist. Dieses Ergebnis bedingt eine genaue Kenntnis von S1 und eine möglichst präzise Vorstellung vom erstrebenswerten Zustand S2 . Von den Merkmalen und Phasen (sozial-)politischen Handelns ausgehend, kann man die Aufgaben der Wissenschaft von der (Sozial-)Politik in folgende Aufgabenbereiche untergliedern: Lageerfassung, Lagebewertung und Diagnose.10

Lageerfassung, Lagebewertung und Diagnose Ausgangspunkt politischen Handelns ist eine Lageerfassung (z. B. der Lebensumstände Alleinerziehender, bestimmter Rentnergruppen oder Arbeitsloser). Der Lageerfassung muss sich eine Lagebeurteilung anschließen, damit entschieden werden kann, ob die Lage verändert werden soll. Der Lagebeurteilung muss eine Ermittlung der Ursachen der als änderungsbedürftig eingeschätzten Situation folgen, um Ansatzpunkte für Maßnahmen zu ermitteln.

Entwicklungsprognose Da sich bestimmte erstrebte Situationen möglicherweise auch ohne politische Eingriffe einstellen können (z. B. eine Verringerung der Arbeitslosigkeit durch einen konjunkturellen Aufschwung) und da zwischen dem Zeitpunkt der Entscheidung zum Handeln und dem Zeitpunkt des Wirksamwerdens von Instrumenten Zeit verstreicht, in der sich wiederum die Lage verändern kann, ist im Anschluss an die Lagebewertung eine Entwicklungsprognose erforderlich. Erforderlich sind vor allem Prognosen der Bevölkerungsentwicklung, der Einkommensentwicklung, der Sozialstruktur und der Konjunktur.

Zielanalyse Da die Änderungsbedürftigkeit von Zuständen nur aufgrund von normativen Vorgaben, von Zielen, festgestellt werden kann, ist die Erfassung und Kenntnis der Ziele der Sozialpolitik besonders bedeutsam.

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Vgl. dazu Streit 2005 sowie Altmann 2007.

1.2 Sozialpolitik als wissenschaftliche Disziplin

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Im Zusammenhang mit der Analyse sozialpolitischer Ziele stellen sich mehrere wissenschaftliche Aufgaben, nämlich: 1. die Abklärung der Entstehung sozialpolitisch wirksamer Zielsetzungen; 2. die Interpretation von Zielen, die, soweit sie abstrakt formuliert sind, inhaltlich konkretisiert werden müssen. Beispiele für interpretationsbedürftige Ziele sind die soziale Gerechtigkeit, die soziale Sicherheit oder der soziale Friede. Die Aufgabe besteht aber nicht darin, Ziele als Vorgabe für die Politik zu definieren, sondern darin, mögliche Zielinhalte aufzudecken und Definitionsvorschläge zu machen; 3. die Operationalisierung und – nach Möglichkeit – Quantifizierung von Zielen; 4. die Analyse der zwischen sozialpolitischen Zielen und der zwischen sozialpolitischen und anderen, z. B. wirtschaftspolitischen, Zielen bestehenden Zielbeziehungen. Ziele können in einer Konflikt-, in einer Komplementaritäts-, aber auch in einer Neutralitätsbeziehung stehen; 5. die Herausarbeitung der in einer bestimmten Gesellschaft verfolgten Zielsysteme und die Überprüfung solcher Zielsysteme auf Konsistenz und Vollständigkeit.

Analyse von Trägersystemen Wenngleich politisches Handeln letztlich staatliches oder staatlich sanktioniertes Handeln ist, müssen die politischen Träger nicht notwendigerweise staatliche Institutionen sein. Entscheidend ist, dass die Träger der Politik fähig sind, ihren Willen notfalls auch gegen den Willen derjenigen durchzusetzen, die durch politische Maßnahmen benachteiligt werden. Einkommens- und Vermögensumverteilungen, die Erhebung von Steuern und Umweltschutzmaßnahmen beispielsweise wären ohne die Möglichkeit, politische Macht auszuüben, nicht durchsetzbar. Die Notwendigkeit der Absicherung politischer Maßnahmen durch die Möglichkeit des Einsatzes von Zwang gilt auch für nichtstaatliche Träger der Sozialpolitik, soweit ihnen der Staat sozialpolitische Befugnisse delegiert hat, wie z.B. den Tarifvertragsparteien. Die Analyse sozialpolitischer Trägersysteme, die in der Regel aus vielen Teilbereichen bestehen, umfasst insbes. folgende Aufgaben: 1. die Analyse der Verteilung sozialpolitischer Entscheidungsbefugnisse auf die Träger politischer Verantwortung unter dem Aspekt der Beteiligung der Gesellschaftsmitglieder am Prozess der sozialpolitischen Willensbildung; 2. die Untersuchung der Rationalität der sozialpolitischen Aufgabenverteilung in Bezug auf die für ausgewogene Entscheidungen erforderlichen Informationen nach Umfang und Vollständigkeit, in Bezug auf die Informationsauswertung, die Qualität der Entscheidungen und die Durchführung der Maßnahmen sowie schließlich in Bezug auf die Kontrolle des Erfolgs sozialpolitischer Maßnahmen; 3. die Analyse von Möglichkeiten und Problemen der Kooperation zwischen Trägern der Sozialpolitik.

Instrumentenentwicklung und Instrumentenanalyse Die Erreichung sozialpolitischer Ziele setzt voraus, dass hierfür geeignete Instrumente verfügbar sind. Dabei ist es wichtig, im Sinne des Rationalprinzips Mittel einzusetzen, die es erlauben, bei

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1 Wissenschaftstheoretische Grundlegung

gegebenem Aufwand das erstrebte Ziel bestmöglich zu realisieren bzw. einen gegebenen Zielerreichungsgrad mit möglichst geringem Aufwand und unter Vermeidung negativer Nebenwirkungen zu erreichen. Daraus ergeben sich folgende Aufgaben: 1. die Entwicklung neuer und die Verbesserung bekannter sozialpolitischer Instrumente. Beispiele für neu entwickelte Instrumente sind die im Jahr 1957 eingeführte dynamische Rente, das 1974 eingeführte Konkursausfallgeld oder die 1994 eingeführte Pflegeversicherung; 2. die Überprüfung von Instrumenten auf ihre Eignung zur Zielerreichung; diese Überprüfung erstreckt sich auf die Mitteleignung unter folgenden Aspekten: Zielkonformität und Nebenwirkungen; die Zeitdauer zwischen Mitteleinsatz und Wirksamwerden des Instruments; die Dosierbarkeit und die Veränderbarkeit des Instruments sowie die Verträglichkeit des Instruments mit dem Gesellschafts- und Wirtschaftssystem (Systemkonformität); 3. die Untersuchung der direkten und indirekten Kosten des Mitteleinsatzes.

Erfolgskontrolle Eine rationale Sozialpolitik setzt eine Erfolgskontrolle voraus. Im Rahmen dieser Erfolgskontrolle muss überprüft werden, in welchem Umfang, mit welchem Aufwand und mit welchen Nebenwirkungen der Einsatz von Instrumenten zum erstrebten Ziel geführt hat. Dies ist zum einen erforderlich, um grundsätzlich festzustellen, ob ein Ziel erreicht worden ist, zum anderen aber auch, um zu prüfen, ob dieses Ziel mit anderen Mitteln besser erreicht werden könnte.

Systemanalysen Die bisher herausgestellten Aufgaben der Sozialpolitik als Wissenschaft beziehen sich auf einzelne Phasen der Politik (Vorbereitungs-, Entscheidungs-, Durchführungs-, Kontrollphase) bzw. auf einzelne Elemente sozialpolitischer Systeme (Träger – Ziele – Mittel). Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen können aber auch gesamte sozialpolitischen Systeme, also das gesamte System von Trägern, Zielen und Instrumenten sein. In diesem Zusammenhang stellen sich folgende Aufgaben: 1. die Darstellung und Analyse realer Systeme (z. B. Darstellung des Systems der Sozialpolitik in der Bundesrepublik); 2. die Darstellung und Analyse von Leitbildern, d. h. von gedachten Systemen der Sozialpolitik (z. B. die Darstellung der Sozialpolitik im Rahmen des Leitbildes der Sozialen Marktwirtschaft); 3. der Vergleich realer sozialpolitischer Systeme (z. B. der Vergleich der Sozialpolitik der Bundesrepublik Deutschland mit der Sozialpolitik der USA); 4. der Vergleich sozialpolitischer Leitbilder; 5. der Vergleich eines realen sozialpolitischen Systems mit seinem Leitbild.

1.2 Sozialpolitik als wissenschaftliche Disziplin

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1.2.2 Definition der Sozialpolitik als Wissenschaft Aufgrund der Überlegungen im vorhergehenden Abschnitt lässt sich die Sozialpolitik als Wissenschaft wie folgt definieren: Sozialpolitik ist die grundsätzlich wissenschaftsautonome und systematische Analyse realer und gedachter Systeme, Systemelemente und Probleme der Sozialpolitik mit dem Ziel, mit Hilfe frei wählbarer wissenschaftlicher Methoden objektive, d. h. intersubjektiver Überprüfung standhaltende Erkenntnisse über praktiziertes sozialpolitisches Handeln und über mögliche Handlungsalternativen zu gewinnen.

1.2.3 Zur Stellung der Sozialpolitik im System wissenschaftlicher Disziplinen Viele Ökonomen betrachten die Sozialpolitik als eine Teildisziplin der Wirtschaftswissenschaft, insbesondere als eine Spezialdisziplin der Wirtschaftspolitik oder der Finanzwissenschaft. Andere sehen die Sozialpolitik in einer sehr engen Beziehung zur Soziologie und der Politikwissenschaft. Das Problem der Einordnung der Sozialpolitik in die Sozialwissenschaften soll hier angesprochen werden, weil diese Einordnung auch Ausdruck von der Einstellung zu den Möglichkeiten und Ansatzpunkten sozialpolitischer Maßnahmen ist und Auswirkungen auf diese Einstellungen hat. Die Beziehungen zwischen Sozialpolitik und Wirtschaftswissenschaft sind besonders eng, weil die Entwicklung der neuzeitlichen Sozialpolitik mit der Industrialisierung zusammenfällt und weil zahlreiche Berührungspunkte und Überschneidungen im Bereich der Ziele und Mittel bestehen. Leopold v. Wiese spricht von der Sozialpolitik als der „Tochter der Nationalökonomie“. Das Ziel, die Lebensumstände sozial schwacher Personengruppen zu verbessern, ist in vielen Fällen durch eine Verbesserung der wirtschaftlichen Lebensbedingungen erreichbar. Dies setzt vielfach eine Veränderung der Wirtschaftsordnung, des Wirtschaftsprozesses und der Wirtschaftsstruktur voraus. Eines der zentralen Ziele der Sozialpolitik, soziale Sicherheit, wird durch Vollbeschäftigung und eine Stabilisierung der Konjunktur angestrebt. Wirtschaftliches Wachstum vergrößert den Umverteilungsspielraum in einer Gesellschaft. Die Realisierung eines anderen sozialpolitischen Hauptzieles, nämlich sozialer Gerechtigkeit, lässt sich durch eine Politik angemessenen und stetigen Wachstums sowie durch eine konsequente Wettbewerbspolitik und der Ausschaltung von Nicht-Leistungseinkommen fördern. Umgekehrt sind bestimmte Ziele der Sozialpolitik auch Ziele der Wirtschaftspolitik: der Schutz der Arbeitskraft aller Arbeitnehmer, das Ziel der Erhaltung der Gesundheit und das Ziel der Verbesserung der beruflichen Qualifikation sind Ziele der Wirtschaftsgrundlagenpolitik. Die auf die Sicherung und Verbesserung der Gesundheit und der Leistungsfähigkeit der Arbeitnehmer gerichtete Sozialpolitik ist gleichzeitig Wachstumspolitik, weil sie auf die Verbesserung der Struktur und der Qualität des Humankapitals und damit auf einen zentralen Wachstumsfaktor zielt. Trotz dieser vielfältigen und engen Verflechtungen zwischen Wirtschaftspolitik und Sozialpolitik wäre es verfehlt, die praktische Sozialpolitik als Teilbereich der Wirtschaftspolitik und die Wissenschaft der Sozialpolitik als eine ausschließlich wirtschaftswissenschaftliche Disziplin aufzufassen. Denn erstens sind Wirtschafts- und Sozialpolitik nur partiell deckungsgleich und zweitens reichen die Methoden der Wirtschaftswissenschaften zu einer vollständigen Erfassung, Analyse und Lösung sozialpolitischer Probleme nicht aus (vgl. dazu Kleinhenz 1970, S. 46 ff.).

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1 Wissenschaftstheoretische Grundlegung

Eine nur partielle Deckungsgleichheit zwischen Wirtschaftspolitik und Sozialpolitik besteht hinsichtlich der Ansatzpunkte der Politik. Während die Wirtschaftspolitik auf die Beeinflussung wirtschaftlicher Größen wie Einkommen und Vermögen zielt, ist die Sozialpolitik zwar auch, aber eben nicht nur auf die Beeinflussung der wirtschaftlichen Lebensbedingungen gerichtet. So stellt die Einführung des Mitbestimmungsrechts der Arbeitnehmer nicht nur eine Verbesserung der Verhandlungsposition auf dem Arbeitsmarkt dar, sondern beabsichtigt auch eine Demokratisierung und verbesserte Möglichkeiten der Partizipation in der Wirtschaft. Die soziale Schwäche geistig oder körperlich Behinderter, Obdachloser und sozial labiler Menschen lässt sich zudem nicht ausschließlich mit wirtschaftlichen Mitteln beheben. Dass wirtschaftswissenschaftliche Methoden zu einer vollständigen Erfassung, Analyse und Lösung sozialpolitischer Probleme nicht ausreichen, sondern dass solche Probleme interdisziplinär angegangen werden müssen, zeigt sich an vielen Fragestellungen. Fragen der Arbeitszeitverkürzung z. B. sind wegen ihrer Auswirkungen auf die Arbeitsproduktivität und die Beschäftigungskosten ein ökonomisches Problem, aufgrund ihrer gesundheitlichen Wirkungen ein medizinisches Problem und aufgrund ihrer Wirkungen auf das Freizeitverhalten eine sozialpädagogische Frage. Für die Familienpolitik sind Ökonomen, Soziologen, Psychologen und Pädagogen sachlich zuständig. Deshalb ist die wissenschaftliche Sozialpolitik auf interdisziplinäre Zusammenarbeit angewiesen. Es wäre insofern verfehlt, sie ausschließlich als wirtschaftswissenschaftliche Disziplin aufzufassen. Umgekehrt darf die Bedeutung der ökonomischen Analyse für die Sozialpolitik auch nicht unterbewertet werden. Sozialpolitische Maßnahmen beanspruchen ökonomische Ressourcen und verändern die Rahmenbedingungen privaten Wirtschaftens. Sie beeinflussen die Bereitschaft der Betroffenen, Arbeit anzubieten und sich eigenverantwortlich gegen bestimmte Risiken abzusichern. Die ökonomische Theorie liefert das Instrumentarium, mit dessen Hilfe diese Effekte sozialpolitischer Maßnahmen analysiert werden können. Wenn in der Sozialpolitik das Realisierbare nicht durch bloßes Wunschdenken erreicht werden soll, muss der Tatsache Rechnung getragen werden, dass auch in entwickelten Gesellschaften ein ökonomisches Problem besteht, d. h. dass die Mittel, die für die Erreichung politischer Ziele zur Verfügung stehen, nach wie vor knapp sind.

Teil II

Geschichte der deutschen staatlichen Sozialpolitik

Kapitel 2

Die Arbeiterfrage des 19. Jahrhunderts als auslösende Ursache neuzeitlicher staatlicher Sozialpolitik

Die Arbeiterfrage des 19. Jh. lässt sich vereinfacht umschreiben als die sozialpolitische Problematik, die sich aus den wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftlichen Lebensumständen der in Deutschland im 19. Jh. entstehenden Schicht der Industriearbeiter ergab.1 Mit den politischen Maßnahmen zur Lösung dieser Problematik begann die Entwicklung der neuzeitlichen staatlichen Sozialpolitik.

2.1 Die Lebensumstände der Arbeiterschaft im 19. Jahrhundert Der persönlich freie, anderen Klassen rechtlich gleichgestellte Arbeiterstand des kapitalistischen Zeitalters ist ein geschichtliches Novum. Es wurde durch die Verwirklichung des freiheitlichen Rechtsstaates (vgl. dazu S. 25 ff.) geschaffen. Denn in der vorkapitalistischen Zeit gab es nur zwei Grundformen der Arbeitsverfassung: „Entweder war der arbeitende Mensch Eigentümer der Produktionsmittel – dann war er frei, oder der arbeitende Mensch war nicht Eigentümer der Produktionsmittel und produzierte für fremden Ertrag – dann war er unfrei“ (Michel 1960, S. 116). Erst das kapitalistische System verknüpfte die Freiheit der Person mit dem Nichteigentum an Produktionsmitteln und der Nichtbeteiligung am Ertrag der Produktion. Damit trat nach Götz Briefs ein völlig neues Moment in die Geschichte, das er als das „Abenteuer des Kapitalismus“ bezeichnete. Dieses Abenteuer besteht darin, dass eine „im Eigentum nicht verwurzelte Schicht, die langsam zur Mehrheit der Erwerbstätigen anwächst, Freiheitsrechte im weitesten Umfang genießt [...] Die Lohnarbeiterschaft des kapitalistischen Zeitalters ist nachweisbar der erste Fall in der Geschichte, wo Freiheit und Eigentum für den größten Teil der erwerbstätigen Bevölkerung auseinanderklaffen. Das ist der Kern des kapitalistischen Abenteuers. Diese Kombination von persönlicher Freiheit und Nichteigentum hat in den Anfängen der kapitalistischen Entwicklung schwere Missstände mit sich gebracht. Die bürgerliche Freiheit war gewiss gegeben, aber umso härter lastete die wirtschaftliche Abhängigkeit.“2 1

Vgl. dazu Tennstedt 1981, S. 47 ff. (für die erste Hälfte des 19. Jh.), S. 113 ff. (für die Jahrhundertmitte) und S. 151 ff. (für das letzte Drittel des 19. Jh.). Eine Übersicht über die einschlägige Lit. findet sich bei Wehler 1976. 2 G. Briefs, Der Sündenfall in das Privateigentum, Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 16.07.1960.

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© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2021 J. Althammer et al., Lehrbuch der Sozialpolitik, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56258-1_2

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2 Die Arbeiterfrage als Ursache staatlicher Sozialpolitik

Wesentliches Merkmal des persönlich freien, mit dem Recht auf Freizügigkeit, freie Berufsund Arbeitsplatzwahl sowie mit dem Recht auf Arbeitsvertragsfreiheit ausgestatteten Arbeiters, des Proletariers,3 war seine Eigentumslosigkeit,4 die ihn zwang, seine Arbeitskraft zur Existenzsicherung der Familie fortlaufend zu veräußern (sog. „Kommodifizierung“). Die Eigentumslosigkeit war auch der Grund dafür, dass die Existenz der Arbeiter bei einem Verlust der Beschäftigung bedroht war, weil soziale Sicherungseinrichtungen fehlten. Der durch die Eigentumslosigkeit bewirkte Zwang zur dauernden Reproduktion des Arbeitsverhältnisses – der das Wesen der Proletarität ausmacht – führte in Verbindung mit der Verfassung und der Lage auf den Arbeitsmärkten sowie in Verbindung mit dem Stand des Arbeitsrechts (vgl. S. 30 ff.) zu folgenden fünf Missständen: 1. Die Arbeitszeiten waren überlang und gesundheitsschädlich. Sie erlaubten keine Freizeit zur Regeneration. Die wöchentliche Arbeitszeit betrug in der deutschen Industrie 1860/70 78 Stunden, 1885/90 72 Stunden und 1900/05 noch 60 Stunden.5 Der Grund für die Länge der täglichen und wöchentlichen Arbeitszeit war ein Arbeitskräfteüberschuss, der wegen der daraus resultierenden niedrigen Löhne die Arbeiter zu maximalen Arbeitszeiten zwang. 2. Nicht nur Männer, sondern auch Frauen und Kinder standen unter Arbeitsangebotszwang, weil das Arbeitseinkommen eines Alleinverdieners i. d. R. zur Sicherung der Existenz der Familie nicht ausreichte. Frauen- und Kinderarbeit sind zwar keine Produkte des Industrialismus, nahmen aber in dieser Zeit an Schärfe zu. Frauen mussten nämlich mit der Entstehung des Fabriksystems zusätzlich zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben als Hausfrau und Mutter einer außerhäusigen Erwerbsarbeit nachgehen, die vorgeschriebenen langen Arbeitszeiten auf sich nehmen und auch zur Nachtarbeit bereit sein. Das Neue an der Kinderarbeit war erstens, dass die Kinder nicht mehr im Schutze der Eltern, sondern unter Anleitung fremder Personen arbeiten mussten, zweitens, dass sie sich der strengen Disziplin der Fabrikarbeit unterwerfen mussten und drittens, dass für sie die gleichen Arbeitsbedingungen galten wie für die Erwachsenen. In der ersten Hälfte des 19. Jh. begannen Kinder gewöhnlich im 8. bis 9. Lebensjahr mit der Arbeit, teilweise aber auch schon früher. Kinder arbeiteten nicht nur in Textil- und anderen Verbrauchsgüterindustrien, sondern auch im Bergbau, wo sie unter Tage als Streckenhüter, aber auch zum Transport der Lore eingesetzt wurden. In Preußen arbeiteten 1850 32 000 Kinder im Alter von 8 bis 10 Jahren täglich 10 bis 14 Stunden in Fabriken. 3. Die wirtschaftlich abhängigen Arbeitnehmer mussten die seinerzeit gegebenen Arbeitsbedingungen und die praktizierte Art und Weise der persönlichen Behandlung durch Arbeitgeber und Vorgesetzte akzeptieren, wenn sie ihre Existenzgrundlage nicht verlieren wollten. Die Umweltverhältnisse am Arbeitsplatz (Licht- und Luftverhältnisse, Lärm, sanitäre Bedingungen) und Gesundheits- sowie Unfallschutzvorrichtungen ließen aufgrund fehlender bau-, gewerbe- und gesundheitspolitischer Vorschriften und aufgrund des Kapitalmangels elementare gesundheitliche Bedürfnisse der Arbeitnehmer in kaum vorstellbarer Weise außer Acht.6 3

Vgl. zum Begriff „Proletarier“ Lampert 1980, S. 38. Zur Einkommensverteilung als Ursache zur Entstehung von Klassengesellschaften und als Ursache der Entstehung sozialer Fragen vgl. Schmoller 1918, passim. Ferner Briefs 1926, insbes. S. 146: „So gliedert die grundsätzliche Verfassung der freien Volkswirtschaft infolge der Tatsache, dass Besitz und Nichtbesitz sich gegenüberstehen, die Gesellschaft in zwei unterschiedliche Schichten, für deren jede die freie Verkehrswirtschaft einen ganz anderen wirtschaftlichen und sozialen Sinn und Inhalt hat.“ 5 Vgl. Hoffmann 1965, S. 213 f. 6 Vgl. dazu Herkner 1922, Bd. 1, S. 23 f. sowie Kuczynski 1962, S. 368 ff. 4

2.1 Die Lebensumstände der Arbeiterschaft im 19. Jahrhundert

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Die persönliche Behandlung der Arbeiter durch ihre Vorgesetzten verstieß häufig gegen die Menschenwürde und ließ die Arbeiter ihre wirtschaftliche Abhängigkeit und die Geringschätzung durch Vorgesetzte spüren (vgl. Ritter/Kocka 1982, S. 144 und S. 161 ff.). 4. Die Arbeitsverträge konnten jederzeit ohne Einhaltung von Kündigungsfristen gelöst werden (sog. employment at will). Die Arbeitnehmer hatten also nicht einmal von einem Tag zum anderen die Gewissheit, ihre Existenz sichern zu können. 5. Die meisten Arbeitseinkommen waren zunächst überwiegend Existenzminimumlöhne, wenngleich die Industrialisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jh. zu einem Anstieg der realen durchschnittlichen Arbeitseinkommen und damit zu Verbesserungen der materiellen Lebensbedingungen der Arbeiterschaft führte. Nach den vorliegenden Quellen7 stiegen die realen Arbeitseinkommen ab etwa 1869 wie in Abb. 2.1 dargestellt.

Quelle: Kuczynski 1962, S. 302.

Abb. 2.1: Die Entwicklung der wöchentlichen Bruttoreallöhne in Industrie und Landwirtschaft in Deutschland (1820-1900) Trotz des Anstiegs der Reallöhne blieb „im Ganzen das Einkommen der Arbeiter aus ihrer Arbeit in bescheidenen und nicht für alle Wechselfälle des auf sich selbst gestellten Arbeiters ausreichenden Grenzen“ (van der Borght 1923, S. 18). Die Frauenlöhne machten etwa die Hälfte bis zwei Drittel der Männerlöhne aus, „wobei fraglich ist, ob die geringere Leistung bei gleicher Art der Tätigkeit oder traditioneller Einfluss die Hauptursache ist; überwiegend ist doch wohl die Ursache, daß den Frauen eine leichtere Tätigkeit zugewiesen wird, sowie daß sie an vielen Stellen sich in größerer Zahl anbieten und außerdem sich dem Lohndruck weniger widersetzen“ (Schmoller 1918, S. 268). Eine spezielle soziale Problematik ergab sich aus bestimmten Lohnzahlungsformen. Manche Arbeitgeber beglichen ihre Lohnschuld mit Zahlungsanweisungen, die 7

Henning 1997, S. 27 f.; Kuczynski 1962, S. 295 ff.; Schmoller 1918, S. 260; Bry 1960, S. 71 f.

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2 Die Arbeiterfrage als Ursache staatlicher Sozialpolitik

die Empfänger selbst bei oft vom Wohnort entfernten Banken oder Handelshäusern einzuziehen hatten. Dabei handelte es sich oftmals um Forderungen des Arbeitgebers, die der Arbeiter dann einzutreiben versuchte. Eine weitere weit verbreitete Form war die Entlohnung nicht in bar, sondern durch Waren aus der eigenen Produktion des Unternehmens (sog. „Trucksystem“). Hermann Korner schreibt im Jahr 1865: „Eine andere Gruppe prellender Arbeitgeber machte ihre Verbindlichkeiten in ’Waarenzahlungen’ ab; sie gaben ihnen Anweisungen auf Spezerei-, Victualien- und andere Kleinhandlungen, in denen sich die Arbeiter statt baaren Geldes mit stickigem Mehl, angefaulten Kartoffeln, krätzigem Kaffee, abgelegenem Speck, ranziger Butter, schadhaften Schuhen und dergleichen mehr segnen mußten [...] Eine dritte Weise der Lohnzahlung bestand darin, daß der Fabrikant einen Teil seiner Zahlung in sogenannten, ’fehlerhaften Fabrikaten’ abmachte, und in Waaren eigener Fabrik, die er nicht alle füglich mit seinem en gros auf die Märkte oder Messen oder auch nicht in Commissionssendungen ins Ausland bringen konnte. Der arme Arbeiter oder seine Frau lief dann damit aller Orten herum, um hier ein seidenes Tuch oder Kleid mit verschwommenem Druck, dort eine Weste oder einen Shawl mit schadhaften Fäden an den Mann zu bringen“ (Körner 1865, S. 389). Die wirtschaftliche und soziale Lage der Arbeitnehmer war vor der Einführung sozialpolitischer Maßnahmen nicht nur durch den Arbeitsangebotszwang und die daraus resultierenden Folgen geprägt, sondern auch durch das Fehlen von Sicherungseinrichtungen im Falle eines vorübergehenden oder dauerhaften Verlustes des Arbeitseinkommens. Zwar gab es zahlreiche kleine, berufs- und branchengebundene lokale Kassen zur Unterstützung von Kranken, Arbeitsunfähigen, Witwen und Waisen. Diese Kassen standen aber nur Mitgliedern mit relativ sicheren und – für die damalige Zeit – hohen Wochenlöhnen offen. Fabrikarbeiter und Tagelöhner konnten die Beiträge nicht aufbringen (Tennstedt 1981, S. 35). Sie waren im Falle der Not auf die kärgliche Armenunterstützung der Gemeinden angewiesen, soweit überhaupt Unterstützung gewährt wurde (Tennstedt 1981, S. 78 ff.). Lebens- und Existenzangst wurden deshalb ständige Begleiter der Arbeiterschaft. Da im 19. und im beginnenden 20. Jh. privates Vermögen oder ein hohes Einkommen eine Voraussetzung für den Erwerb von Bildung und damit für beruflichen, wirtschaftlichen und sozialen Aufstieg waren, war Proletarität erblich. Daran konnte zunächst auch die Einführung der allgemeinen (Volks-) Schulpflicht in Verbindung mit der Unentgeltlichkeit des Schulbesuches und dem Kinderarbeitsverbot nichts ändern. Dennoch kann die Einführung der allgemeinen Schulpflicht (in Preußen im Jahre 1825) in ihrer Bedeutung kaum überschätzt werden: sie beseitigte das Analphabetentum, hob den allgemeinen Bildungsstand und war im Grunde genommen der Anfang vom Ende eines jahrhundertealten Vorrechts der Angehörigen der jeweils führenden Schichten auf Bildung. Ein weiterer Missstand war das Wohnungselend. Die Wohnungsnot in den industriellen Ballungszentren wurde vor allem durch die Binnenmigration vom Land in die Städte verursacht. Auch hier reicht unsere Phantasie kaum aus, um sich die Verhältnisse realistisch vorzustellen.8 Die Überbelegung sanitär und hygienisch unzureichend ausgestatteter Wohnungen zu ständig steigenden Mieten war an der Tagesordnung.9

8

Vgl. dazu Herkner 1922, Bd. 1, S. 49 ff.; van der Borght 1923, S. 386 ff.; Verein für Socialpolitik 1886. In deutschen Großstädten mussten die Arbeiter 15-30 % ihres Einkommens für die Miete aufwenden. Noch 1895 gab es in Berlin 27 471 Einzimmerwohnungen mit sechs und mehr Bewohnern. Im gleichen Jahr wurden in Berlin 79 435 Personen mit einer Schlafstelle gezählt, d. h. Personen, die nur über eine Schlafstelle in einem fremden Haushalt verfügten. Vgl. dazu Herkner 1922, Bd. 1, S. 50. 9

2.2 Die Entstehung und quantitative Bedeutung des Proletariats

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Die Arbeiterschaft musste aber nicht nur mit den beschriebenen materiellen Lebensumständen zurechtkommen, sondern auch die Missachtung durch die bürgerliche Gesellschaft ertragen. Zwar brachte das 19. Jh. „den handarbeitenden Klassen die persönliche Freiheit, die Gleichstellung in Bezug auf Ehe, Eigentum, Freizügigkeit, Berufswahl, Vertragsfreiheit mit den übrigen Klassen“ und schuf „formell und rechtlich, definitiv und allgemein einen freien Arbeiterstand“ (Schmoller 1918, S. 193). De facto aber wurden die Arbeitnehmer als Angehörige einer als minderwertig angesehenen Unterschicht behandelt. Das äußerte sich nicht nur in der Bevormundung der Arbeiter durch die Fabrikanten, die den Arbeitern vorschrieben, wie sie sich in Bezug auf Eheschließung, Kindererziehung, Wareneinkauf, Wirtshausbesuch, Lektüre, politische Betätigung und Vereinsleben zu verhalten hatten, sondern das fand seinen Niederschlag auch in zahlreichen Äußerungen der Angehörigen bürgerlicher Schichten.10 Die fehlende Bereitschaft führender Schichten, die Arbeiterschaft als politisch gleichberechtigte gesellschaftliche Gruppe in die Gesellschaft zu integrieren, kommt durch folgende Faktoren zum Ausdruck: • in der massiven und langanhaltenden Abwehr der wirtschaftlichen und politischen Bestrebungen der Arbeiterklasse durch die Arbeitgeber und deren Interessenverbände,11 • in der Bekämpfung der Selbsthilfebestrebungen der Arbeiterschaft von Seiten des Staates durch Koalitionsverbote (vgl. dazu S. 49 f.), • in der Bekämpfung der politisch-konstitutionellen Arbeiterbewegung durch den Staat (vgl. dazu S. 53 f.) und viertens in der Existenz des Dreiklassenwahlrechtes in Preußen bis zum Jahre 1919.

2.2 Die Entstehung und quantitative Bedeutung des Proletariats Keimzelle der ersten Generation der Industriearbeiterschaft sind die „Deklassierten und Enterbten der Ständeordnung“ (Weddigen 1957, S. 13): entlassene Soldaten, abgedankte Offiziere, verarmte Kleinbauern, die Insassen von Armen- und Waisenhäusern, Landstreicher und Bettler.12 Diese Personengruppe – vor allem die Landstreicher und Bettler, die einen außerordentlich hohen Prozentsatz der Gesamtbevölkerung gebildet haben müssen – wurden durch Polizeiverordnungen zur Arbeit in den Manufakturen gezwungen, die bereits in der zweiten Hälfte des 17. Jh. entstanden. Dies hatte nicht nur den Zweck, diese Menschen durch Arbeit zu „nützlichen“ Mitgliedern der Gesellschaft zu erziehen. Durch diese Maßnahmen sollten auch die Manufakturen, die wegen ihrer Betriebsweise und wegen der an die Arbeitskräfte gestellten Anforderungen unter Arbeitskräftemangel litten, mit Arbeitskräften versorgt werden.13 Zum Teil wurden Manufakturen in den Zucht-, Arbeits-, Armen- und Waisenhäusern betrieben (Michel 1960, S. 55 f.). 10

Vgl. z. B. Krupp (1877), „Ein Wort an meine Angehörigen“ in: Schraepler 1996, S. 99-103 sowie Freiherr v. Stumm-Halberg (1889), „Das System ’Stumm’“, in: Schraepler 1996, S. 104-108. 11 Vgl. dazu Herkner 1922, Bd. 1, S. 427 ff. 12 Vgl. dazu Briefs 1926, S. 182 ff., Fischer 1982 und Tennstedt 1981, S. 25 ff. 13 Im Gegensatz zur Hausindustrie (Verlagssystem), bei der die Produktion dezentralisiert in zahlreichen kleinen, getrennten Werkstätten, der Absatz aber großbetrieblich durch einen Unternehmer (Verleger) erfolgte, waren Manufakturen größere, unter Leitung eines Unternehmers stehende Produktionsstätten, in denen die Arbeit vornehmlich Handarbeit blieb, also im Gegensatz zur Fabrik die Maschinenarbeit noch nicht dominierte.

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2 Die Arbeiterfrage als Ursache staatlicher Sozialpolitik

Eine zweite Quelle der Industriearbeiterschaft waren die Arbeiter der unter der Konkurrenz der Fabrikbetriebe zusammenbrechenden Betriebe der Hausindustrie und des Handwerks. Dritte Quelle war die Landbevölkerung. Der aufgrund steigender Bevölkerungsdichte und aufgrund des Eigentums- bzw. des Erbrechtes vom Bodenbesitz ausgeschlossenen ländlichen Bevölkerung blieb gar keine andere Wahl, als in der ländlichen Hausindustrie zu arbeiten oder in die Städte abzuwandern. Die Abwanderung vom Land wurde durch Unzulänglichkeiten der Bauernbefreiung verstärkt (vgl. dazu S. 27 f.). Die für die Entwicklung der Industriearbeiterschaft entscheidende Quelle war jedoch die Bevölkerungsexplosion im 19. Jh. (vgl. dazu S. 23 ff.). Die Zahl der Industriearbeiter und ihr Anteil an der erwerbstätigen Bevölkerung waren Mitte des 19. Jh. noch vergleichsweise gering. Wie Tabelle 2.1 zeigt, belief sich zur Jahrhundertmitte der Anteil der in Industrie und Handwerk Beschäftigten bei einer Gesamtbeschäftigtenzahl von rd. 15 Mio. auf 25,2%. Infolgedessen belief sich auch die Zahl der Industriearbeiter auf weniger als ein Viertel der Beschäftigten, also auf weniger als rd. 3,5 Mio. Dagegen waren rd. 50 % der Erwerbstätigen noch in der Landwirtschaft beschäftigt. Erst gegen Ende des Jahrhunderts stieg der Anteil der in Industrie und Handwerk Beschäftigten auf etwas mehr als ein Drittel aller Beschäftigten, nämlich auf rd. 8 Mio., an. Erst nach der Jahrhundertwende übertraf die Zahl der Industriearbeiter die in der Landwirtschaft Beschäftigten. Die soziale Struktur der Erwerbstätigen gegen Ende des vorigen Jahrhunderts lässt sich der Tabelle 2.2 entnehmen. Danach gehörten 1895 zwei Drittel aller Erwerbstätigen oder rd. 12,8 Mio. Menschen zur Arbeiterklasse, nur 3,3% oder rd. 0,6 Mio. waren Angestellte, 28,9% aller Erwerbstätigen oder 5,4 Mio. waren Selbständige. Bei der Darstellung der Lebensumstände der Arbeiterschaft und bei der Darstellung der Herkunft des Proletariats sind wir bereits auf einige Ursachen der Arbeiterfrage gestoßen, wie z. B. die Verwirklichung des freiheitlichen Rechtsstaates, die Verfassung und Lage der Arbeitsmärkte und die Bevölkerungsentwicklung. Diese und andere Hauptursachen der sozialen Frage als Arbeiterfrage sollen im folgenden Abschnitt systematisch dargestellt und in ihrer Bedeutung skizziert werden.

2.3 Die Ursachen der sozialen Frage im 19. Jahrhundert 2.3.1 Systemexogene Faktoren 2.3.1.1 Die vorindustrielle Armut Wenngleich die soziale Frage in ihrer spezifischen Ausprägung als Arbeiterfrage ein Produkt des industriellen Zeitalters ist, so darf doch nicht verkannt werden, dass die Lebenslage großer Teile der Bevölkerung im vorigen Jahrhundert „der letzte Ausläufer der alten, vorindustriellen Armut“ war. Für die Jahrhundertwende vor der Industrialisierung lässt sich eine derart weit verbreitete Armut nachweisen, dass es völlig falsch wäre, die soziale Frage des 19. Jh. ausschließlich als ein Ergebnis der industriellen Revolution anzusehen (Fischer 1982, S. 56). Vielmehr hat gerade die industrielle Produktionsweise die Voraussetzungen dafür geschaffen, Armut als Massenerscheinung zum Verschwinden zu bringen und Wohlstand für breite Bevölkerungsschichten zu ermöglichen. Allerdings gibt es auch – wie zu zeigen sein wird – wirtschaftssystemspezifische

2.3 Die Ursachen der sozialen Frage im 19. Jahrhundert

23

Tabelle 2.1: Die Struktur der Gesamtbeschäftigung nach Wirtschaftsbereichen 1849-1925 Periode

Land- und Forstwirtschaft, Fischerei

Bergbau und Salinen, Industrie und Handwerk

Dienstleistungen einschl. häusl. Dienste und Verteidigung

Beschäftigte insgesamt

in %

in %

in %

in 1.000

(1)

(2)

(3)

(4)

(5)

1848/58 1861/71 1872/79 1880/84 1885/89 1890/94 1895/99 1900/04 1905/09 1910/13 1925

54,6 50,9 49,1 48,2 45,5 42,6 40,0 38,0 35,8 35,1 31,5

25,2 27,6 29,1 29,8 32,3 34,2 35,7 36,8 37,7 37,9 40,1

20,2 21,5 21,8 22,0 22,2 23,2 24,3 25,2 26,5 27,0 28,4

15.126 16.450 19.416 19.992 21.302 22.651 24.277 26.043 28.047 30.243 31.033

Quelle: Hoffmann 1965, S. 35.

Tabelle 2.2: Die Erwerbstätigen (ohne häusliche Dienste, Verwaltung und freie Berufe) im Deutschen Reich nach Sektoren und der Stellung im Beruf im Jahr 1895 Sektor

Erwerbstätige in 1 000 (1)

Landwirtschaft, Forstwirtschaft, Fischerei Industrie einschl. Bergbau Baugewerbe und Handwerk Handel und Verkehr einschl. Gaststätten Zusammen

Von den Erwerbstätigen waren in Prozent Selbständige Angestellte Arbeiter

(2)

(3)

(4)

(5)

8 293

31,0

1,2

67,8

8 281

24,9

3,2

71,9

2 339

36,1

11,2

52,7

18 913

28,9

3,3

67,8

Quelle: Hohorst/Kocka/Ritter 1978, S. 66 und S. 69.

Bedingungen, welche die soziale Frage als Arbeiterfrage verursachten und zunächst Armut und Not breiter Schichten verschärften.

2.3.1.2 Die Bevölkerungsentwicklung Eine wesentliche Ursache für die Entstehung der Arbeiterfrage war die massive Bevölkerungszunahme in Europa im 18. und 19. Jh. Die Bevölkerung Europas belief sich nach Schätzungen um 1750 auf etwa 150 Mio. Einwohner, um 1800 auf etwa 175, um 1850 auf etwa 265 und um 1900

24

2 Die Arbeiterfrage als Ursache staatlicher Sozialpolitik

auf etwa 400 Mio. Personen (Albrecht 1955, S. 19). Wenn diese Schätzungen zutreffen, wuchs die Bevölkerung in der zweiten Hälfte des 18. Jh. um rd. 15 % und in der ersten sowie in der zweiten Hälfte des 19. Jh. um jeweils rd. 50 %. Im Deutschen Reich wuchs die Bevölkerung von 24,8 Mio. 1816 auf 36,1 Mio. i.J. 1855, also um 45,6 %, und bis 1910 auf 64,5 Mio., also um 78,7 %.14 Das Bevölkerungswachstum ist auf eine anhaltend hohe Geburtenrate bei einer deutlich verringerten Sterblichkeit als Folge des medizinischen Fortschritts zurückzuführen. Als Ursache werden jedoch auch politische Maßnahmen, nämlich die Bauernbefreiung und die Aufhebung des Zunftzwanges, angesehen. Denn beide Ereignisse führten zur Aufhebung von Ehehindernissen und damit zu früheren und zahlreicheren Eheschließungen. Vor der Bauernbefreiung war für die abhängigen Bauern die Zustimmung des Gutsherrn Voraussetzung für eine Ehe. Und in den Zunftordnungen vieler Städte war geregelt, dass der Nachweis eines den Familienunterhalt gewährleistenden Einkommens als Voraussetzung für eine Heirat zu erbringen war. Aber auch die mit der bäuerlichen Befreiung erfolgende Entlassung der Landarbeiter aus der Fürsorgepflicht der Gutsherren hat zur Bevölkerungsvermehrung beigetragen, da nach dem Wegfall dieser Fürsorgeverpflichtung die auf sich selbst gestellten Landarbeiter darauf angewiesen waren, zu ihrer Alterssicherung Kinder aufziehen (Engels/Sablotny/Zickler 1974, S. 17). Nach wie vor noch unzureichend erforscht ist der Zusammenhang zwischen Bevölkerungswachstum und Industrialisierung. Ob und inwieweit die einsetzende wirtschaftliche Entwicklung das Bevölkerungswachstum mit verursacht hat oder ob die Bevölkerungsentwicklung die wirtschaftliche Entwicklung stimuliert hat, ist schwer zu beurteilen. Sicher ist nur, dass der Ende des 18. Jh. einsetzende Bevölkerungszuwachs ohne das hohe wirtschaftliche Wachstum nicht hätte anhalten können, weil erst die neuen Produktionsmethoden der deutlich gestiegenen Bevölkerung eine Lebensgrundlage gaben. Ähnliche Prozesse lassen sich heute in vielen Schwellenländern beobachten. Auch hier fallen die wirtschaftliche Anlaufperiode (die Phase des take-off im Sinne der wirtschaftlichen Phasentheorie von W. W. Rostow) und ein deutliches Bevölkerungswachstum zusammen. Neben der Bevölkerungsentwicklung waren auch die Binnenwanderung und die Verstädterung Ursachen für die Entstehung der sozialen Frage. Beide Prozesse zogen sowohl das städtische Wohnungselend als auch eine soziale Entwurzelung breiter Bevölkerungskreise nach sich. Über die Verteilung der Bevölkerung nach Gemeindegrößenklassen und damit indirekt über die Binnenwanderung informiert Tabelle 2.3. Zwischen 1871 und 1925 änderte sich das Verhältnis zwischen Land- und Stadtbevölkerung grundlegend. 1871 lebten noch 3/4 der Bevölkerung in Landgemeinden und Landstädten (Städte bis zu 5 000 Einwohner), die städtische Bevölkerung machte nur 1/4 der Gesamtbevölkerung aus. Schon 1925 lebten weniger als die Hälfte der Bevölkerung in Landgemeinden, ein größerer Teil in der Stadt, wobei vor allem der Anteil der Bevölkerung in Städten mit über 100 000 Einwohnern stieg. Dieser Verstädterungsprozess setzte sich – wie sich an der Tabelle ablesen lässt – bis in die Gegenwart fort, wobei aber seit 1950 vor allem der Anteil der Bevölkerung in Kleinund Mittelstädten wuchs. Dieser Verstädterungsprozess erhöhte den Wohnraumbedarf in den Städten außerordentlich und führte zu einem starken Anstieg der Mietpreise. Der Verstädterungsprozess war gleichzeitig überwiegend ein Prozess der Binnenwanderung, die in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts einsetzte. Bis zum Ersten Weltkrieg war diese Binnenwanderung im Wesentlichen eine Ost-West-Wanderung. Ost- und Westpreußen, Pommern, 14

Quelle: Statistisches Bundesamt 1972, S. 90.

2.3 Die Ursachen der sozialen Frage im 19. Jahrhundert

25

Tabelle 2.3: Die Verteilung der Bevölkerung im Deutschen Reich und in der Bundesrepublik Deutschland auf Gemeindegrößenklassen (1852-2000) Jahr

Anteil der Gesamtbevölkerung in Gemeinden mit ... Einwohnern weniger als 2.000 2.000 (ländliche bis 5.000 Bevölkerung) (Landstädte)

5.000 20.000 100.000 bis 20.000 bis 100.000 u. mehr (Kleinstädte) (Mittelstädte) (Großstädte)

(1)

(2)

(3)

(4)

(5)

(6)

1852 1871 1900 1925 1950 1970 2000a 2017

67,3 63,9 46,2 35,6 28,9 18,4 7,5

13,1 12,4 11,5 10,8 13,6 11,2 9,7

11,0 11,2 13,4 13,1 16,0 19,1 25,3 26,1

6,0 7,7 11,8 13,7 14,2 18,7 26,5 27,7

2,6 4,8 17,1 26,8 27,3 32,6 30,8 32,0

14,3

a

Aufgrund der Gemeindegebietsreformen in einigen Bundesländern nach 1970 sind die Werte für 2000 nur bedingt mit denen der Vorjahre vergleichbar. Quelle: Hoffmann 1965, S. 178; Stat. Jb. 1971, S. 69; Stat. Jb. 2002, S. 56. Destatis: Genesis Tabelle 12211-0101

Schlesier und Polen wanderten in den Berliner Raum und in das Ruhrgebiet. Diese Wanderung hatte eindeutig wirtschaftliche Ursachen. Das Ziel der Migranten war es, ihre Existenz zu sichern und ihre wirtschaftliche Situation zu verbessern. Teilweise wurde die Migration auch durch Anwerbungen von Unternehmungen, vor allem des Bergbaus, gefördert. Neben dem Prozess der Binnenwanderung lief ein beachtlicher Auswanderungsprozess ab, der sich zu 90% auf Nordamerika richtete. 1851 bis 1900 wanderten 4,4 Mio. Deutsche nach Übersee aus (Stolper/Borchardt/Häuser 1966, S. 26 f.). Die skizzierten Wanderungsbewegungen setzten persönliche Freiheit und Freizügigkeit voraus. Beide Grundrechte, die für uns heute selbstverständlich sind, wurden im Zuge der Durchsetzung des freiheitlichen Rechtsstaates verwirklicht.

2.3.1.3 Die Verwirklichung des freiheitlichen Rechtsstaates Die Verwirklichung des freiheitlichen Rechtsstaates ist die große historische Leistung des politischen Liberalismus (Schnabel 1964, S. 138). Der Liberalismus führte zur Einführung von Freiheitsrechten und – gemäß der Lehre von John Locke (1632 – 1704) und Charles de Montesquieu (1689 – 1755) – zur Durchsetzung der Gewaltenteilung, d. h. zur Trennung zwischen gesetzgebender, verwaltender und richterlicher Gewalt. Der Grundrechtskatalog des Liberalismus, der „durch fast alle Verfassungen der Welt getragen worden ist, wo immer man einen Rechtsstaat errichten wollte“ (Schnabel 1964, S. 166), umfasste:15 • die Freiheit und Unverletzlichkeit der Person, • den Schutz vor willkürlicher Verhaftung, 15

Eine Ausnahme stellt die Bismarcksche Reichsverfassung dar, die auf einen Grundrechtskatalog verzichtete.

26

• • • • •

2 Die Arbeiterfrage als Ursache staatlicher Sozialpolitik

Sicherheit des Eigentums, Religions-, Vereins-, Versammlungs-, Rede- und Pressefreiheit, die Gleichheit der Staatsbürger vor dem Gesetz, den Zugang zu allen Ämtern nach Maßgabe der Befähigung und das Petitions-, Wahl- und Stimmrecht.

Der wirtschaftliche Liberalismus führte auch in Deutschland zur Durchsetzung von Freiheitsrechten. In Preußen wurde 1807 die Bauernbefreiung eingeleitet, 1808 in den preußischen Städten erstmals ein fast allgemeines,16 gleiches, direktes und geheimes Wahlrecht für Männer und 1810 die Gewerbefreiheit eingeführt. 1842 wurde preußischen Staatsbürgern die nahezu uneingeschränkte Niederlassungsfreiheit eingeräumt. 1869 wurde das Koalitionsverbot aufgehoben. Während für die Wahl zum preußischen Abgeordnetenhaus von 1849 bis 1918 das Dreiklassenwahlrecht galt,17 wurde 1871 für die Wahlen zum Reichstag das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht eingeführt. Trotz retardierender Momente,18 die die Entwicklung Deutschlands zum freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaat verzögerten, bleibt festzuhalten, dass – wie im Einzelnen noch zu zeigen sein wird – die Entwicklung im 19. Jh. in den Industriegesellschaften erstmals in der Menschheitsgeschichte persönliche Freiheit für alle und Gleichheit aller vor dem Gesetz unabhängig von Stand und Besitz gebracht hat. Diese durch die französische Revolution beschleunigte Entwicklung bedeutete den endgültigen Zusammenbruch der jahrhundertealten Feudalordnung und des monarchistischen Ständestaates.19 Allerdings blieben die persönliche Freiheit – „verstanden als Recht jedes Einzelnen, seine Beziehungen zu seinen Mitmenschen auf der Basis freiwilliger und individueller Verträge zu regeln“ (Lütge 1966, S. 415) – und die Rechtsgleichheit vielfach rein formale Rechte ohne materiales Gehalt. Dadurch wurde der wirtschaftliche Liberalismus zu einer Ursache der sozialen Frage des 19. Jahrhunderts. Mit der alten Ordnung zerbrachen auch ihre Arbeits- und Lebensformen sowie ihre sozialen Sicherungseinrichtungen. Für die Mehrheit der Bevölkerung blieb zunächst persönliche Freiheit noch mit wirtschaftlicher Unfreiheit, die formale Gleichheit der Rechte mit gravierenden Ungleichheiten in den faktischen Möglichkeiten persönlicher wirtschaftlicher Entfaltung verbunden. Zudem wurden bestimmte Befreiungsakte, wie z. B. die Bauernbefreiung, nur halbherzig durchgeführt. Nachdem ein volles Jahrtausend lang in Europa die Autorität durch erbliche Monarchien und dann die Autorität der Verwaltungstätigkeit der absoluten Monarchie geherrscht hatte, wurde im 19. Jh. „die Freiheit Grundnorm gesellschaftlichen Verhaltens“, aber nicht die Freiheit einzelner bevorzugter Stände, sondern „die Freiheit des Individuums in Verbindung mit der Rechtsgleichheit“ (Schnabel 1964, Bd. 6, S. 9 f.).

16

Die Wahlberechtigung setzte Immobilienvermögen oder ein Jahreseinkommen von mehr als 200 Talern voraus. 17 Das Dreiklassenwahlrecht bedeutet, dass die Wähler ein nach ihrer Steuerleistung unterschiedliches Stimmengewicht hatten. Das Dreiklassenwahlrecht ist eine Form des Zensuswahlrechts. 18 Vgl. zu den restaurativen Tendenzen nach den Freiheitskriegen der Jahre 1776 bis 1815 und zu konservativen Bewegungen Schnabel 1964, Bd. 3, S. 26 ff. und S. 34 ff. 19 Vgl. zur Rolle der französischen Revolution für die Entwicklung des sozialen Rechtsstaates und der Sozialpolitik Lampert 1989b und Acemoğlu/Robinson/Rullkötter 2013, Kap. 10 sowie die dort angegebene Lit.

2.3 Die Ursachen der sozialen Frage im 19. Jahrhundert

27

2.3.1.4 Die Bauernbefreiung Die in den deutschen Ländern zwischen 1765 und 1850 schrittweise vollzogene Bauernbefreiung20 hat eine bestimmte soziale Frage gelöst. Durch sie wurden die strengen wirtschaftlichen, sozialen und persönlichen Abhängigkeiten unfreier und leibeigener Bauern aufgehoben. Die Bindungen der Bauern vor der Bauernbefreiung waren rechtlicher und wirtschaftlicher Art. Die personenrechtlichen Bindungen bestanden • in persönlicher Unfreiheit bis hin zur Beschränkung der Freizügigkeit, • in Beschränkungen der Verfügungsgewalt der Bauern über den Boden und • in Hoheitsrechten, die – wie die Polizeigewalt und die Patrimonialgerichtsbarkeit – oft nicht vom Landesherrn, sondern von Inhabern grund– und leibherrlicher Rechte ausgeübt wurden. Die wirtschaftlichen Verpflichtungen bestanden darin, dass die Bauern Naturalleistungen (Getreide, tierische Produkte usw.) und Hand-, Spann- und Baudienste zu erbringen sowie Gesindezwangsdienst zu leisten hatten.21 Eine wesentliche sozialpolitische Konsequenz des Feudalsystems war die soziale Immobilität der Bauern. Diese Immobilität ergab sich aus der eingeschränkten Freizügigkeit sowie aus den eingeschränkten Möglichkeiten, Bildung zu erwerben und einen Beruf zu ergreifen. Außerdem wurden die Einkommen der Landbevölkerung aufgrund der umfangreichen Verpflichtungen zu Naturalabgaben und Dienstleistungen stark eingeschränkt. Im Bereich der im Nordosten und Osten Deutschlands herrschenden Gutsherrschaft, bei der der Gutsherr auf seinem Territorium auch einen Teil landesherrlicher Hoheitsrechte ausüben konnte, entsprach „die Lage der erbuntertänigen Bauern faktisch (wenn auch nicht im Rechtssinn) der von Sklaven“ (Borchardt 1972, S. 32). Unter der „Bauernbefreiung“ versteht man jene Maßnahmen, „die die Absicht verfolgten, alle überkommenen grund-, guts-, leib-, gerichts- und schutzherrlichen Bindungen sowie alle Beschränkungen der wirtschaftlichen und rechtlichen Verfügungsfreiheit herrschaftlicher Instanzen [...] zu beseitigen“ (Lütge 1956, S. 658). Die Bauernbefreiung vollendete die Auflösung des tausendjährigen Feudalsystems und einer tausendjährigen Agrarverfassung. Aufgrund von Unvollkommenheiten in der Durchführung wurde die Bauernbefreiung jedoch zu einer der Ursachen der Arbeiterfrage. Im Rahmen dieses Lehrbuchs kann nicht auf die einzelnen Schritte der Bauernbefreiung, auf ihren zeitlichen Ablauf und auf Unterschiede zwischen den deutschen Ländern eingegangen werden. Festgehalten sei nur, dass in Preußen der entscheidende Schritt zur Bauernbefreiung durch das Edikt vom 09.10.1807 getan wurde, das die Untertänigkeit der bäuerlichen Bevölkerung unter die Gutsherren aufhob. Die Frage der Entschädigung der Gutsherren für die wegfallenden Hand- und Spanndienste und für die entfallenden Naturalabgaben blieb zunächst offen und wurde nach Abschluss der Befreiungskriege nur unzureichend gelöst. Insofern gelang die Befreiung der Bauernschaft nur teilweise. Viele der aus der Leibeigenschaft entlassenen Bauern mussten sich übermäßig verschulden und die gewonnene persönliche Freiheit mit wirtschaftlicher und sozialer Verelendung erkaufen. Die hohe Verschuldung der Landbevölkerung und das Fehlen von bäuerlichen Kreditorganisationen führten zum sog. „Bauernlegen“. Darunter versteht man den 20

Zur Bauernbefreiung allgemein vgl. Lütge 1956, Bd. 1, S. 658 ff. und Schnabel 1964, Bd. 2, S. 89 ff. und 1964, Bd. 4, S. 106 ff. 21 Gesindezwang bedeutete, dass die Bauernkinder Arbeiten im Betrieb oder im Haushalt des Grundherren erbringen mussten.

28

2 Die Arbeiterfrage als Ursache staatlicher Sozialpolitik

Aufkauf landwirtschaftlicher Flächen von nicht konkurrenzfähigen und überschuldeten Bauern durch Guts- und Großgrundbesitzer. Dieser Prozess wurde durch eine Agrarkrise zu Beginn des 19. Jh. verstärkt.22 Die aus ihren traditionellen Bindungen und Ordnungen geworfene Bevölkerung war mit der Entlassung aus dem persönlichen Abhängigkeitsverhältnis auch aus der Fürsorgepflicht des Dienstherrn entlassen worden. An die Stelle der Sorgepflicht durch den Dienstherrn trat die persönliche Selbstverantwortung. Die einzige Ressource, über die die befreiten und „gelegten“ Bauern zur Erfüllung dieser Sorgepflicht verfügten, war der Einsatz ihrer Arbeitskraft in der industriellen Produktion. Dass die Bauernfrage die eigentliche soziale Frage jener Zeit darstellt, macht u. a. der Vortrag des Vorsitzenden des „Centralvereins für das Wohl der arbeitenden Klassen“, Wilhelm Lette, aus dem Jahre 1857 deutlich. Lette bezeichnete in diesem Vortrag als Volksklassen, die sich ohne einen ihre Existenz vollständig sichernden Besitz hauptsächlich durch die Anwendung ihrer körperlichen Kräfte ernähren, in erster Linie die Landarbeiter, in zweiter Linie die gewerblichen Arbeiter, worunter er Dienstboten, Wäscherinnen, Näherinnen, Handwerksgehilfen verstand, und erst in dritter Linie die eigentlichen Fabrikarbeiter, die sich nach Lette überall im Aufstieg befinden und einen höheren Verdienst bei geringerer Arbeitszeit als früher erreichten.23 Als Auswirkungen der Bauernbefreiung sind – abgesehen von den bereits erwähnten – festzuhalten: • die Schaffung der Voraussetzungen für einen Anstieg der landwirtschaftlichen Produktion, • eine starke Differenzierung der bäuerlichen Gruppen, die auf die unterschiedlichen Ausgangsbedingungen und auf unterschiedliches Leistungsvermögen der Bauern zurückzuführen ist, und schließlich • die Freisetzung zahlreicher Arbeitskräfte durch die Entstehung bzw. Vergrößerung der ländlichen Arbeiterschaft. Aus den Reihen dieser freigesetzten Arbeitskräfte rekrutierte sich die Fabrikarbeiterschaft, v. a. die Gruppe der ungelernten Arbeiter.

2.3.1.5 Die Gewerbefreiheit Unter Gewerbefreiheit24 versteht man das für jedermann gegebene Recht, bei Erfüllung bestimmter sachlicher Voraussetzungen jeden Produktionszweig in jedem Umfang mit jeder Produktionstechnik eröffnen und betreiben zu können. Wie die Bauernbefreiung, so war auch die Einführung der Gewerbefreiheit sowohl ein Ergebnis der Durchsetzung des Freiheitsgedankens als auch ein Produkt wirtschaftlicher Zweckmäßigkeitsüberlegungen. Den endgültigen Durchbruch der Gewerbefreiheit in Preußen brachte das Gewerbesteueredikt vom 28.10.1810: das Recht der Ausübung jeden Gewerbes wurde lediglich an die Lösung eines Gewerbescheines gebunden, Zulassungsregelungen wurden nur für wenige Berufe (z. B. Ärzte, Apotheker, Gastwirte) beibehalten. 22

Vgl. zu diesen negativen Folgen der Bauernbefreiung Schnabel 1964, Bd. 4, S. 106 ff. und Lütge 1966, S. 439 ff. 23 Zitiert nach Achinger 1979, S. 11. 24 Vgl. dazu Henning 1997, S. 59 ff.; Lütge 1966, S. 445.

2.3 Die Ursachen der sozialen Frage im 19. Jahrhundert

29

Die Bedeutung der Einführung mehr oder minder beschränkter Gewerbefreiheit liegt in der endgültigen Überwindung der Zunftordnung und dem damit verbundenen wirtschaftlichen Wachstum durch dynamischen Wettbewerb. Die Aufhebung des Zunftwesens, das die wirtschaftliche Entwicklung vom Mittelalter bis in das 19. Jh. beherrscht hatte, bedeutete im Einzelnen: 1. die Aufhebung von Beschränkungen der Zahl der Handwerksbetriebe, der Gesellen und der Lehrlinge und damit die Aufhebung von Produktionsbeschränkungen, die vorher bei gegebener stationärer Technik im Wege der Beschränkung der Einsatzmengen des Faktors Arbeit möglich waren; 2. die Aufhebung der Bindung der Gewerbetreibenden an die von der Zunft genehmigten Produktionstechniken; 3. die Aufhebung der Beschränkungen hinsichtlich des Rohstoffbezuges, der Absatzwege und der Absatzmethoden; 4. die Herstellung gleicher formaler wirtschaftlicher Rechte für alle. Mit dem Abbau der Zunftbeschränkungen konnten traditionelle Technologien, wie sie für eine stationäre Wirtschaft charakteristisch sind, durch rationellere Produktionsverfahren ersetzt werden. Der Innovationswettbewerb mobilisierte wirtschaftliche Fähigkeiten und Begabungen und induzierte ein dynamisches Wirtschaftswachstum. Nur dadurch war es möglich, die schnell wachsende Bevölkerung mit wirtschaftlichen Gütern zu versorgen. Dieser dynamische Wettbewerb war jedoch auch von negativen Effekten begleitet. Zahlreiche Gesellen nutzten die Chance, sich wirtschaftlich zu verselbständigen. Die Zunahme der Klein- und Alleinmeister führte in einigen Gewerben zu einer ruinösen Konkurrenz, wodurch das Industrieproletariat weiter vergrößert wurde. Betroffen waren vor allem das Schumacher- und Schneiderhandwerk sowie die Wollweber. Von einer Proletarisierung des gesamten Handwerks als Folge der Einführung der Gewerbefreiheit kann jedoch nicht die Rede sein.25 Die Wettbewerbslage von Teilen des Handwerks verschlechterte sich, als mit der ab 1870 beschleunigten Industrialisierung die Überlegenheit der Großbetriebe aufgrund der neuen Produktionstechniken und der Massenfertigung mehr und mehr zur Geltung kam. Größere Teile der Handwerksmeister und Handwerksgesellen wurden gezwungen, Industriearbeiter zu werden. Während die abgewanderten Bauernsöhne und Landarbeiter das Hauptkontingent der ungelernten Industriearbeiter stellten, rekrutierte sich aus dem Handwerk die Facharbeiterschaft der Industrie.

2.3.2 Systemendogene Faktoren 2.3.2.1 Die Trennung von Kapital und Arbeit Für ein kapitalistisches System ist charakteristisch, dass die Eigentumsrechte an den Produktionsmitteln bei privaten Eigentümern liegen und dass diese durch Arbeitsverträge Arbeitskräfte in ihren Dienst stellen. Den Kapitaleignern oder ihren Vertretern steht nicht nur die vollständige Dispositionsbefugnis über das Kapital und (im Rahmen der Arbeitsverträge) über die Arbeitskräfte zu, sondern auch das alleinige Verfügungsrecht über die Arbeitsprodukte und den damit 25

Borchardt 1972, S. 51. Vgl. auch die ausführlichen Darstellungen der Expansions- und Schrumpfungstendenzen in einzelnen Gewerbezweigen bei Bechtel 1956, S. 216 bis 230.

30

2 Die Arbeiterfrage als Ursache staatlicher Sozialpolitik

erzielten Ertrag. Diese Trennung von Kapital und Arbeit erwies sich als eine Mitursache der sozialen Frage. Denn der Arbeitnehmer war zwar ein formal freier und gleichberechtigter Verhandlungspartner des Arbeitgebers und besaß die Freiheit der Berufs- und Arbeitsplatzwahl sowie die Arbeitsvertragsfreiheit. De facto hatte er aber auf den Arbeitsmärkten des 19. Jh. die eindeutig unterlegene Verhandlungsposition. Er hatte das Recht, „jeden Preis für seine Arbeitskraft zu verlangen, den er im freien Spiel von Angebot und Nachfrage am ’Arbeitsmarkt’ durchsetzen konnte. Er besaß“, wie Walter Weddigen treffend formuliert, „alle nur erdenklichen Freiheiten, einschließlich derjenigen, zu hungern und zu verhungern, wenn er seine Arbeitskraft am Arbeitsmarkt nicht oder nur zu unzureichenden Preisen absetzen konnte, oder wenn ihm diese seine Arbeitskraft infolge von Alter oder Krankheit verloren ging.“ (Weddigen 1957, S. 14). Die Tatsache, dass das Kapital in den ersten Jahrzehnten der industriellen Entwicklung der Engpassfaktor war, während unqualifizierte Arbeitskräfte im Überfluss vorhanden waren, bewirkte im Zusammenhang mit der Trennung von Kapital und Arbeit, dass im ersten Jahrhundert der Industrialisierung primär Kapitalinteressen berücksichtigt wurden, während die Interessen der Arbeitnehmer – wie z.B. das Interesse an erträglichen Arbeitszeiten, an nicht gesundheitsgefährdenden Arbeitsplatzbedingungen, an existenzsichernden Löhnen, an menschenwürdiger Behandlung – vernachlässigt wurden. Diese Interessen wurden erst in dem Maße durchsetzbar, in dem die politischen Organisationen der Arbeitnehmer die gesetzlichen Grundlagen wirtschaftlicher Tätigkeit in den Parlamenten mit beeinflussen konnten und in dem diese Gesetzgebung wirtschaftlich durch Wachstum abgesichert werden konnte. So ist die bürgerliche Rechtsordnung des 19. Jh. in Verbindung mit der Arbeitsmarktverfassung und Arbeitsmarktlage jener Zeit eine wesentliche Ursache für die Entstehung der Arbeiterfrage.

2.3.2.2 Arbeitsmarktverfassung und Arbeitsmarktlage Die Arbeitsmärkte waren bis zur Anerkennung der Tarifautonomie und der Einführung staatlicher Arbeitsmarktpolitik, durch die die Märkte transparenter und die Arbeitskräfte mobiler gemacht wurden, hochgradig unvollkommen und unorganisiert. Die in den Anfangsphasen der Industrialisierung in Deutschland, d. h. bis 1870/1880 gezahlten niedrigen Löhne26 , die bei extrem langen, über 60 Wochenstunden liegenden Arbeitszeiten erarbeitet werden mussten, sind auf mehrere Faktoren zurückzuführen: 1. Auf die Tatsache, dass auf zahlreichen Arbeitsmärkten das Arbeitsangebot stärker zunahm als die Nachfrage nach Arbeit. Verlässliche Quellen über die Arbeitslosigkeit vor 1895 existieren zwar nicht.27 Das Wachstum der Beschäftigtenzahlen im Vergleich zum Bevölkerungswachstum, die bis 1860 stark steigenden Zahlen der Auswanderung sowie statistische Angaben

26

Die Beschäftigung zu existenzminimalen Löhnen betraf die Mehrzahl der ungelernten Arbeitskräfte. Für Facharbeiter wird für das 19. Jh. allerdings Angebotsknappheit festgestellt (Schnabel 1964, Bd. 6, S. 69 ff.). Diese wird auch dadurch belegt, dass zahlreiche Industriebetriebe ausländische Ingenieure, Meister, Vorarbeiter und Facharbeiter eingestellt hatten und die erforderlichen Fachkräfte im Betrieb ausbildeten. Daher waren die Facharbeiterlöhne – verglichen mit den Löhnen der angelernten und ungelernten Industriearbeiter, der Tagelöhner und der Landarbeiter – „enorm hoch“ (Herkner 1922, Bd. 1, S. 443 f.). 27 Vgl. zur Arbeitslosigkeit in der 2. Hälfte des 19. Jh. Kuczynski 1962, S. 253 ff.; Borchardt 1976, S. 248 f. sowie S. 270 f.

2.3 Die Ursachen der sozialen Frage im 19. Jahrhundert

31

über Beschäftigung und Arbeitslosigkeit in einzelnen Wirtschaftszweigen deuten jedoch auf erhebliche Arbeitsangebotsüberschüsse hin.28 2. Der zunehmende Einsatz von Maschinen setzte zunächst Arbeitskräfte frei, die nur begrenzt Arbeit finden konnten: einmal wegen mangelnder Kenntnisse und Fähigkeiten und zum anderen wegen des hohen Imports ausländischer, vor allem englischer, aber auch belgischer und französischer Investitionsgüter und wegen des Einsatzes ausländischer Facharbeiter in der Investitionsgüterindustrie. 3. Eine weitere Ursache der niedrigen Löhne lag in der anomalen Reaktion des Arbeitsangebotes auf unorganisierten Arbeitsmärkten. Im Gegensatz zu Gütermärkten, auf denen eine Verringerung des Preises i. d. R. einen Angebotsrückgang induziert, reagiert das Angebot auf den Arbeitsmärkten bei sehr niedrigen Löhnen mit einer Ausweitung der angebotenen Menge (vgl. Abb. 2.2). Wenn sich der Lohnsatz in der Nähe des Existenzminimums (w) befindet, wird der Haushalt bei einem weiteren Lohnrückgang vermehrt Arbeit anbieten, um die Existenz der Familie zu sichern. Sofern dies nicht mehr durch die Arbeit des (männlichen) Alleinverdieners geschehen kann, müssen Frauen und auch Kinder ihre Arbeitskraft anbieten.29 Dies ist eine der Ursachen für die (unfreiwillige) Frauenerwerbstätigkeit und die Kinderarbeit im 19. Jahrhundert. w L

S

w

L

Abb. 2.2: Die anomale Reaktion des Arbeitsangebots

4. Da die Arbeitsmärkte unorganisiert waren – gewerkschaftliche Organisation wurde das ganze 19. Jh. hindurch verboten und bekämpft – stand ein atomistisches Arbeitsangebot einer

28

Die Zahl der Beschäftigten nahm 1850 bis 1871 um 0,65 % jahresdurchschnittlich zu (Hoffmann 1965, S. 91), während das Bevölkerungswachstum in den Jahren 1820 bis 1850, das das Arbeitsangebot für die Periode 1850 bis 1871 mitbestimmte, jahresdurchschnittlich zwischen 0,9 und 1,4 % lag (errechnet nach Statistisches Bundesamt 1972, S. 90. 29 Mikroökonomisch formuliert, überwiegt der Einkommenseffekt einer Lohnsatzänderung den Substitutionseffekt.

32

2 Die Arbeiterfrage als Ursache staatlicher Sozialpolitik

begrenzten Anzahl von Unternehmen gegenüber, die Arbeit nachfragten. Dies führte zum Problem der sog. „monopsonistischen Ausbeutung“. Das Monopson am Arbeitsmarkt Unter einem Monopson versteht man eine Marktsituation, bei welcher der Preis für den Nachfrager kein Datum ist, sondern eine Funktion der von ihm nachgefragten Menge. Bezogen auf den Arbeitsmarkt bedeutet das, dass sich das Unternehmen einem mit der Beschäftigungsmenge L steigenden Lohnsatz w(L) konfrontiert sieht. w(L) repräsentiert somit die Inverse der Arbeitsangebotsfunktion und bezeichnet den Lohnsatz, der für eine bestimmte Beschäftigungsmenge L zu bezahlen ist. Ein mit der Lohnhöhe steigendes Arbeitsangebot kann sich ergeben, wenn ein Unternehmen als Alleinnachfrager einer bestimmten Qualifikation von Arbeit auftritt bzw. wenn mehrere Unternehmen einer Branche ein Kollektivmonopson bilden. Weitere Gründe sind die Existenz von Mobilitäts- und Suchkosten am Arbeitsmarkt. Bezeichne R(L) = p · y(L) die Erlöse des Unternehmens, so ergibt sich der Gewinn des Unternehmens in Abhängigkeit von der eingesetzten Beschäftigungsmenge (π(L)) gemäß π(L) = R(L) − w(L) · L.

(2.1)

∂R(L) ∂w(L) ∂π = − w(L) + ·L ∂L ∂L ∂L

(2.2)

Setzt man die Bedingung erster Ordnung

gleich Null, so erhält man als Bedingung für die optimale Faktoreinsatzmenge ∂R(L) ∂w(L) = w(L) + · L. ∂L ∂L

(2.3)

Die linke Seite dieser Gleichung ist das Grenzwertprodukt (GWP) des Faktors Arbeit. Sie gibt an, wie sich die Erlöse des Unternehmens verändern, wenn die Beschäftigungsmenge um eine Einheit erhöht wird. Das Grenzwertprodukt repräsentiert somit den „ökonomischen Wert“ des Faktors Arbeit. Die rechte Seite zeigt die Grenzausgaben (GA) für diesen Faktor. Diese Grenzausgaben setzen sich zusammen aus dem Lohnsatz w, der für jeden neu einzustellenden Arbeitnehmer zu zahlen ist, und dem Lohnanstieg, der allen bereits beschäftigten Arbeitnehmern zugute kommt. Die Grenzausgaben des Faktors Arbeit übersteigen somit die Durchschnittskosten des Faktors. Das Unternehmen wird seine Arbeitsnachfrage so lange ausdehnen bis die Grenzausgaben dem Grenzwertprodukt des Faktors Arbeit entsprechen. Die Optimalitätsbedingung 2.3 lässt ∂L · w ) in eine ökonomisch gut sich unter Verwendung der Lohnelastizität des Arbeitsangebots (εL,w = ∂w L interpretierbare Form umformulieren: ∂R(L) −w ∂L = ε−1 (2.4) L,w w Wie die Gleichung zeigt, ist die Differenz zwischen dem Grenzwertprodukt der Arbeit und dem Marktlohnsatz – die sog. „monopsonistische Ausbeutung“ – indirekt proportional zur Elastizität des Arbeitsangebots: je elastischer das Arbeitsangebot auf Lohnänderungen reagiert, umso geringer fällt die monopsonistische Ausbeutung aus et vice versa. Dieses Ergebnis ist in Abb. 2.3 illustriert.

2.3 Die Ursachen der sozialen Frage im 19. Jahrhundert

33

GWP, GA, w GA

w(L) w'

wk

A

wm

C

GWP m

L

k

L

L

Abb. 2.3: Das Monopson am Arbeitsmarkt Das Arbeitsmarktgleichgewicht bei vollständiger Konkurrenz wird durch die Allokation A repräsentiert. In diesem Fall wird die Beschäftigungsmenge Lk nachgefragt, und der Lohnsatz wk entspricht dem Grenzwertprodukt des Faktors Arbeit. Das Marktgleichgewicht im Monopsonfall wird durch die Allokation C (Cournot’scher Punkt des Monopsonisten) wiedergegeben. Der Monopsonist wird seine Arbeitsnachfrage ausweiten, solange die Kosten für einen zusätzlich eingestellten Arbeitnehmer geringer sind als das Grenzwertprodukt dieses Arbeitnehmers. Seine optimale Beschäftigungsmenge ist somit Lm . Bei dieser Beschäftigung ist ein Marktlohn von wm zu zahlen. Ein Vergleich der kompetitiven Lösung (A) mit der Allokation im Monopson (C) zeigt, dass bei unvollständiger Konkurrenz ein geringerer Marktlohn gezahlt wird (wm < wk ) und weniger Arbeitskräfte beschäftigt werden (Lm < Lk ). Der Arbeitsmarkt ist dennoch „geräumt“, d. h. dass jeder Arbeitnehmer, der bereit ist, zum herrschenden Marktlohnsatz wm seine Arbeitskraft anzubieten, auch eine Beschäftigung findet. Es liegt also keine unfreiwillige Arbeitslosigkeit vor. Bei vollständiger Konkurrenz entspricht der Marktlohnsatz (wk ) dem Grenzwertprodukt des Faktors Arbeit, d.h. die Faktorentlohnung schöpft den Produktionsertrag vollständig aus. Im Monopsonfall ist der Marktlohn niedriger als das Grenzwertpro′ dukt des Faktors Arbeit; diese Differenz zwischen Grenzwertprodukt (w ) und dem Marktlohnsatz (wm ) wird als „monopsonistische Ausbeutung“ bezeichnet. Literatur Die Analyse monopsonistisch verfasster Arbeitsmärkte geht zurück auf Hicks 1932 und Robinson 1969. Eine umfassende Analyse unvollständiger Arbeitsmärkte findet sich bei Manning 2003.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hat sich die Arbeitsmarktlage deutlich entspannt. In den 25 Jahren zwischen 1890 und 1914 lag die Arbeitslosenquote bei den gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmern bei 3 bis 3,5 % mit einer durchschnittlichen Dauer der Arbeitslosigkeit von etwa 14 Tagen. Darüber hinaus waren seinerzeit im Deutschen Reich 2,5 Mio. Ausländer beschäftigt. Praktisch herrschte also Vollbeschäftigung. Die Reallöhne haben sich von 1871 bis 1913 verdoppelt, die meisten Menschen haben also eine fühlbare Wohlstandssteigerung erlebt, wenngleich Armut und Ausbeutung noch immer fühlbar waren (Borchardt 1972, S. 66 f.).

34

2 Die Arbeiterfrage als Ursache staatlicher Sozialpolitik

2.3.2.3 Neue Arbeits- und Lebensformen Mit dem Fabriksystem entstanden neue Arbeits- und Lebensformen, die den Widerstand einer in ihrer ganzen Lebensweise noch industriellen Gesellschaft hervorriefen.30 Die Mehrzahl der Handwerker und der hausindustriellen Kleinmeister wehrte sich gegen eine Produktionsweise, „die alle hergebrachten und durch Jahrhunderte bewährten Erzeugungsmethoden außer Kraft zu setzen drohte“. Daher „rekrutierte sich die erste Generation von Fabrikarbeitern fast ausschließlich aus den am wenigsten angesehenen sozialen Elementen: verarmten Kleinbauern, entlassenen Soldaten, Insassen von Armen- und Waisenhäusern“ (Jantke 1955, S. 21). Die große Mehrzahl der Arbeitskräfte war zur Arbeit in der Fabrik weder bereit noch fähig (Schnabel 1964, Bd. 6, S. 84). Neu im Bereich der Arbeits- und Lebensformen waren: 1. die Trennung von Arbeits- und Lebensraum; 2. die industriellen Produktionstechniken und die damit verbundenen neuen Arbeitsorganisationen; 3. das Fehlen neuzeitlicher sozialer Verbände und ausreichender sozialer Sicherungseinrichtungen; 4. die aus Arbeitnehmersicht negativen Ausprägungen freier Arbeitsverträge. Während in der bäuerlich-handwerklichen Welt Arbeits- und Lebensraum identisch waren und die Familie eine auch lokal konzentrierte wirtschaftliche Gemeinschaft bildete, wurde durch das Fabriksystem der Arbeitsraum vom Lebensraum getrennt und die Familie lokal und beruflich auseinandergerissen. Damit begann ein Prozess der Zerstörung jahrhundertealter Wirtschaftsund Lebensformen, ein Prozess sozialer Desintegration. Die Arbeit in einer Lebensgemeinschaft, in der der Einzelne geborgen war, wurde durch die Arbeit in einem Zweckverband abgelöst, der vertraglich begründet, rein wirtschaftlich bestimmt, unpersönlich und stets von der Auflösung durch Kündigung bedroht war. Anpassungsprobleme entstanden auch durch die industrielle Arbeitsteilung, die abwechslungsreiche handwerkliche Arbeiten durch monotone Tätigkeiten an Produktteilen ersetzte.31 Industrielle Produktionstechnik, Großbetrieb und marktwirtschaftlicher Wettbewerb bedingten eine rationale Arbeitsorganisation und verlangten eine strenge Unterordnung unter die technisch-organisatorischen Anforderungen des Werkvollzugs. Betriebsdisziplin und eine streng hierarchische Gliederung des Betriebes führten zu einer zunächst als fremd empfundenen Anonymisierung des Arbeitsvollzugs. Diese Anonymisierung zeigte sich auch darin, dass sich zwischen den anordnenden, dispositiven Faktor und die ausführende Arbeitskraft der Arbeitszettel, die schriftliche Anweisung, die Kontrolluhr schoben. Die Unternehmensleitung bestimmte über den Einsatz der Arbeitskräfte. Diese Fremdbestimmung der Arbeit und die entpersönlichten Beziehungen im Betrieb wirkten auf die Haltung der Arbeitenden zurück, zumal sich die Organisation des Betriebs von der Spitze der Hierarchie bis zum Werkmeister nach militärischem Vorbild vollzog, wie Götz Briefs gezeigt hat. „Der streng liberale Eigentumsbegriff, der den Betrieb als das erweiterte Haus ansah und die Betriebsbelegschaft nach dem Gesichtspunkt des Herrn-im-Haus dirigierte, verband sich vielfach mit der militärischen Führungs- und Begriffsideologie zu einem 30

Michel 1960, S. 60. Vgl. auch Pollard 1967. Vgl. dazu auch Abbe 2014/1906, S. 27 ff., der als Folge der neuen Produktionsform die Verkümmerung der Freude an der Arbeit, den Verlust der Möglichkeit zu eigener Initiative, vorzeitige Ermüdung durch Eintönigkeit und geistige Abstumpfung beklagt. 31

2.4 Die sozialpolitischen Aufgaben

35

zwar sachlich wirkungsvollen, aber Protesthaltung und seelische Widerstände entfesselnden Betriebsmilitarismus“.32 Zu diesen Belastungen kamen zusätzlich die der Bauernbefreiung und der Auflösung der Zünfte folgende Zerstörung sozialer Verbände und sozialer Sicherungseinrichtungen sowie soziale Umschichtungen hinzu. Arnold Gehlen beschreibt diese Problematik wie folgt: „Die seit Jahrhunderten steigende und mit der Industrialisierung großartig weitergetriebene Komplizierung des sozialen Aufbaues und Gefüges hat eine sehr große Zahl von Menschen nicht nur von der Urproduktion abgeschichtet und zu Städtern gemacht, sie hat sie darüber hinaus in so hochgradig indirekte, verwickelte und überspezialisierte Funktionen hineingenötigt, daß die moralische und geistige Anpassung an diese Situation, man möchte sagen: daß die Erhaltung des sozialen Gleichgewichtes im einzelnen zu einer schwer lösbaren Aufgabe geworden ist“ (Gehlen 1972, S. 39). Die durch die Freiheit der Berufs- und Arbeitsplatzwahl, durch die regionale Freizügigkeit und die Notwendigkeit der Existenzsicherung ausgelöste Binnenwanderung zerriss für viele die familiaren Bindungen. Der damit verbundene Verlust an sozialer Integration wog um so schwerer, da das an den Zielpunkten der Wanderung, nämlich in den Städten, ansässige Proletariat selbst noch keine neuen Lebensformen entwickelt, noch keine Neuorientierung und noch keinen Ersatz für die verlorenen Einrichtungen sozialer Sicherheit gefunden hatte. Zu den neuen, von den Arbeitern negativ empfundenen Arbeits- und Lebensformen gehörte auch der freie Arbeitsvertrag, durch den die Unternehmer die Arbeitskräfte in ihren Dienst stellten. Im 19. Jh. war er ein unentwickeltes Rechtsinstitut, das in Verbindung mit der seinerzeitigen Arbeitsmarktlage (vgl. dazu S. 30) die soziale Lage der Arbeiter verschlechterte. Im Mittelpunkt des bürgerlichen Rechts des 19. Jh. stand der Schutz des Eigentums an Sachen, während das wichtigste Eigentum des Arbeiters, seine Arbeitskraft, rechtlich kaum geschützt war. Da es noch keine kollektiven Arbeitsverträge gab, konnten die Unternehmer die Individualverträge an den Minimalforderungen des Grenzanbieters ausrichten. Der Grundsatz der sozial gerechtfertigten Kündigung war noch nicht entwickelt, das Arbeitsverhältnis war jederzeit und ohne Angabe von Gründen kündbar. Die Arbeitnehmer waren daher von ständiger Unsicherheit bedroht. Die absolute Vertragsfreiheit ermöglichte den Unternehmern auch die Anwendung des Trucksystems (vgl. dazu S. 20). Aufgrund des Überangebotes an Arbeitskräften konnten sich die Unternehmer jeder über die Zahlung von Arbeitsentgelt hinausgehenden sozialen Verpflichtung entziehen.

2.4 Die sozialpolitischen Aufgaben Die mit der Arbeiterfrage gestellten sozialpolitischen Aufgaben ergeben sich unmittelbar aus den im Abschnitt 2.1 dieses Kapitels beschriebenen Lebensumständen der Arbeiter. Im Einzelnen stellten sich folgende Aufgaben (ohne Bewertung ihrer Dringlichkeit): 1. die Schaffung der Voraussetzungen für die Erhaltung und Sicherung der Existenz der eigentumslosen, unter Angebotszwang stehenden Arbeitskräfte durch 32

Briefs 1934, S. 120 f. Zur kapitalistischen Arbeitsorganisation vgl. auch Michel 1960, S. 117 ff. sowie Ritter/ Kocka 1982, S. 140 ff. und die dort auf den Seiten 144 ff. abgedruckten zeitgenössischen Dokumente.

36

2 Die Arbeiterfrage als Ursache staatlicher Sozialpolitik

• die Abschaffung gesundheits- und entwicklungsgefährdender Arbeitsbedingungen, insbes. für Kinder, Jugendliche und Mütter (Arbeitsschutz), • die Verringerung der Unfall- und Gesundheitsgefahren in den Betrieben (Unfallschutz), • die Sicherung pünktlicher und korrekter Lohnzahlung (Lohnschutz), • die Schaffung von Arbeitsmarktbedingungen, die mindestens ein existenzsicherndes Arbeitseinkommen ermöglichen (Arbeitsmarktordnungspolitik), • die Schaffung von Sicherungseinrichtungen gegen die wirtschaftlichen Risiken der Erwerbsunfähigkeit und der Arbeitslosigkeit (soziale Sicherung); 2. die Schaffung einer Arbeits- und Betriebsverfassung, die der Würde des Menschen entspricht und die Berücksichtigung elementarer Interessen der Arbeitnehmer gegenüber den Kapitalinteressen gewährleistet; 3. die Schaffung ausreichenden und sanitären sowie gesundheitlichen Mindestbedingungen genügenden Wohnraumes zu tragbaren Mieten; 4. die soziale und politische Integration der neu entstandenen Schicht der Arbeiter in die Gesellschaft. Die Dringlichkeit der Lösung dieser Aufgaben wurde von verschiedenen gesellschaftlichen Gruppierungen unterschiedlich eingeschätzt. Führende Kreise verschärften die soziale Frage und verzögerten ihre Lösung durch ihre Einstellung zu diesem Problem.

2.5 Die Einstellung führender Kreise zur Arbeiterfrage Zahlreiche zeitgenössische Dokumente belegen, dass viele Staatsmänner, Parlamentarier, Verwaltungsbeamte, Unternehmer und Angehörige des Adels und der Geistlichkeit die in der Arbeiterfrage enthaltene soziale Problematik ignorierten oder ihre Bedeutung unterschätzten. Mehr noch als die Klasse der Unternehmer, die ebenfalls einen langen und hartnäckigen Kampf um die rechtliche und gesellschaftliche Anerkennung in Staat und Gesellschaft hatten ausfechten müssen, musste sich die Arbeiterschaft „in den meisten Staaten lange Zeit hindurch gegen Anschauungen wehren [...], die ihre Wurzel in rechtlich und wirtschaftlich längst verflossenen Zuständen besaßen [...] Und die Staatsgewalt, auf welche die Arbeiter anfangs keinerlei Einfluss besaßen, streckte nur zu oft vor dem Spruche der Gesellschaft die Waffen.“ (Herkner 1922, Bd. 1, S. 115).33 Zum Teil war die Einstellung herrschender Gruppen gegenüber der Arbeiterschaft durch die Auffassung geprägt, die Arbeiterschaft sei eine geistig und politisch unreife, erziehungsbedürftige Klasse, die dem „Brotherrn“ für die Arbeitsgelegenheit zu Dank und über die Arbeit hinaus zu Gehorsam verpflichtet sei,34 die Teilnahme an politischen Entscheidungen aber Sachverständigeren überlassen solle. Zwei gravierenden sozialen Problemen jener Zeit wurde von Aristokraten und Bürgern erzieherische Funktion zugeschrieben: Lange Arbeitszeiten hätten erzieherischen Wert, weil sie die 33

Schmoller schrieb 1874 (wiedergegeben in Schraepler 1996, S. 68): „Die öffentliche Meinung ist der Arbeiterfrage bei uns noch sehr wenig gerecht geworden. Hauptsächlich beeinflußt von der Seite her, welcher die soziale Bewegung zunächst Unannehmlichkeiten für den ruhigen behaglichen Gang des Geschäftslebens macht, ist sie überwiegend voreingenommen gegen den Arbeiterstand.“. 34 Vgl. dazu Abbe 2014/1906, S. 40 ff.; Herkner 1922, Bd. 1, S. 14 ff. und S. 427 ff.

2.5 Die Einstellung führender Kreise zur Arbeiterfrage

37

Arbeiter von Müßiggang und Laster fernhalten. Niedrige Löhne wurden als Mittel zur Stärkung des Arbeitswillens und zur Bekämpfung von Trunksucht und Trägheit angesehen.35 Große Teile der führenden gesellschaftlichen Schichten, vor allem die preußische Aristokratie und das Bildungsbürgertum, lehnten eine staatliche Sozialpolitik weitgehend ab.36 Sie wurde von vielen nur als notwendiges Übel betrachtet, das dem Schutz der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung dienen sollte. Daher war die Sozialpolitik der 50er Jahre des 19. Jh. „nach ihrer inneren Begründung Interessenpolitik der Arrivierten zum Schutze der bestehenden Ordnung vor den Ansprüchen der von unten nachdrängenden Bevölkerungsschichten. Sie wirkte sich zwar materiell zu deren Gunsten aus, findet aber qualitativ und quantitativ ihre Grenze im Schutzbedürfnis der etablierten Ordnungskräfte“ (Volkmann 1968, S. 93 f.). Diese Motivation großer Teile staatlicher Sozialpolitik zeigt sich auch an der Tatsache, dass nicht die Anregung des preußischen Kultusministers Karl von Altenstein i. J. 1818, ein Kinderschutzgesetz zu erlassen, zur Einleitung gesetzgeberischer Initiativen zur Regelung der Kinderarbeit führte, sondern erst ein Bericht des Generalleutnants August Wilhelm von Horn i. J. 1828, der als Folge der Kinderarbeit in den Industriebezirken einen Rückgang der Militärtauglichkeit konstatiert hatte. Wie es in Deutschland erst militärischer Argumentation bedurft hatte, um das Problem der Kinderarbeit einer gesetzlichen Regelung zuzuführen, so wird die Sozialpolitik Bismarcks auch dafür kritisiert, dass sie primär staatspolitisch motiviert und nur Ergänzung einer gegenüber der Arbeiterschaft repressiven Innenpolitik war (vgl. dazu ausführlich S. 49 f. und S. 53 f.). Die deutsche Sozialpolitik trat „als wohlfahrtsstaatlicher Kontrapunkt zur polizeistaatlichen Unterdrückung ins Leben; [...] gewiß hatte sie Wohlfahrt zum Zweck; aber sozusagen nur beiläufig um der Betroffenen, ursächlich und bestimmend nur der konservativen Ordnung des Reiches willen [...]“ (Hentschel 1991, S. 9 f.). Die Umstände, unter denen die deutsche staatliche Sozialpolitik entstand, haben das sozialpolitische Klima auf Jahrzehnte hinaus verschlechtert.37 Denn die Arbeiter mussten den Kampf der führenden Kreise gegen Sozialdemokratie und Gewerkschaften als Klassenkampf empfinden, der von oben gegen sie geführt wurde (Rüstow 1959, S. 13) und dazu dienen sollte, ihnen die politische Gleichstellung, politischen Einfluss, autonome Interessenvertretung, gesellschaftliche Aufwertung zu versagen. Für sie war die sozialpolitische Gesetzgebung das Zuckerbrot zur Peitsche. Dass es auch ganz anders geartete Einstellungen zur sozialen Frage und den Möglichkeiten ihrer Lösung gab, wird das Kapitel 3 zeigen.

35

Michel 1960, S. 60, 92 sowie Jantke 1955, S. 4. „Das Bürgertum hat zeitweise das hier liegende Problem nicht einmal erkannt, viel weniger mit geeigneten Mitteln es zu lösen erstrebt.“ (Briefs 1926, S. 154). Vgl. auch Volkmann 1968, S. 26 f. sowie Von Schönberg (1871), in Schraepler 1996, S. 58-66. 37 Vgl. dazu Rüstow 1959, S. 15: „Dieser Mißbrauch der Sozialpolitik durch Bismarck zu sehr hintergründigen und taktischen Zwecken hat die ganze Einstellung der Arbeiterschaft zur Sozialpolitik vergiftet und wirkt bis heute teils bewußt, teils unbewußt höchst verhängnisvoll nach, nicht zuletzt auch in der klassenkämpferischen Tradition der Gewerkschaften [...]. Es ist ein Ruhmestitel der deutschen Arbeiterschaft und ein Beweis ihres Mutes, ihrer Mannhaftigkeit, ihrer Opferbereitschaft, daß sie darauf nicht hereinfiel, daß sie ihren Gewerkschaften, ihrer Partei treu blieb, was sich dann darin zeigte, daß nach der endlichen Aufhebung des Zuchthausgesetzes im Jahre 1890 der steile Aufschwung der SPD und der Gewerkschaftsbewegung begann.“ 36

Kapitel 3

Akteure der sozialpolitischen Entwicklung

Die folgende Darstellung der zahlreichen Akteure der sozialpolitischen Entwicklung gibt einen Überblick, welche gesellschaftlichen Gruppen die deutsche Sozialpolitik beeinflussten und entwickelten und welche Konzepte, Ideen und Zielsetzungen dabei eine Rolle spielten. Natürlich muss im Rahmen eines Lehrbuches eine solche Darstellung unvollständig bleiben. Insbesondere ist eine abgesicherte Beurteilung des Gewichts einzelner Akteure nicht möglich. Die Akteure der sozialpolitischen Entwicklung lassen sich in Persönlichkeiten und soziale Bewegungen unterteilen. Diese Untergliederung negiert nicht, dass es einen engen Zusammenhang zwischen einzelnen Persönlichkeiten wie z.B. Kolping, Schulze-Delitzsch, Marx und sozialen Bewegungen gab. Einen Überblick über die im Folgenden dargestellten Akteure gibt die Abbildung 3.1

Abb. 3.1: Akteure der sozialpolitischen Entwicklung im 19. Jh.

39

© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2021 J. Althammer et al., Lehrbuch der Sozialpolitik, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56258-1_3

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3 Akteure der sozialpolitischen Entwicklung

3.1 Sozialreformer und Sozialrevolutionäre Unter Sozialreformern werden Persönlichkeiten verstanden, die soziale Änderungen durch Modifikationen der gegebenen Gesellschaftsordnung erstrebten, unter Sozialrevolutionären dagegen jene Personen, die die gegebene Ordnung als untauglich ansahen, die soziale Frage zu lösen und die daher die Ordnung von Grund auf ändern wollten.

3.1.1 Sozialreformer Sozialreformer finden sich in der Gruppe der Unternehmer, bei Vertretern der Kirchen, Hochschullehrern sowie unter Beamten und Parlamentariern.

a) Unternehmer In der ersten Hälfte des 19. Jh. mussten die Unternehmer gegenüber Adel, Grundbesitzern und Beamtenschaft um gesellschaftliche Anerkennung ringen. Sie entstammten i. d. R. nicht den traditionsreichen und vermögenden Adelsfamilien, sondern mussten sich ihre wirtschaftliche und gesellschaftliche Stellung durch Fleiß und Sparsamkeit erarbeiten. Die erste Unternehmergeneration entstammte dem Verlagswesen (Unternehmer, die in Heimarbeit produzieren ließen) oder waren mit bescheidenem Kapital ausgerüstete Kleinmeister, persönlich anspruchslos, vielfach rücksichtslos gegen sich und andere. Gegenüber den Arbeitern akzeptierten sie neben der Pflicht zur Lohnzahlung keine weiteren sozialen Verpflichtungen (Jantke 1955, S. 21). Scharfer Konkurrenzkampf, Kapitalmangel und Absatzschwierigkeiten erschwerten die Entwicklung eines sozialen Unternehmertums. Angesichts der vergleichsweise guten Lage der Industriearbeiter gegenüber den Landarbeitern und den Tagelöhnern schien zahlreichen Unternehmern Sozialpolitik überflüssig (Herkner 1922, Bd. 1, S. 442). Dennoch kennt die deutsche Sozialgeschichte zahlreiche Unternehmerpersönlichkeiten, die sich sehr bald nach der einsetzenden Industrialisierung mit betrieblichen und außerbetrieblichen sozialen Problemen beschäftigten und sozialpolitische Programme verwirklichten. „Es wird [...] kaum eine soziale Reform entdeckt werden können, an deren Zustandekommen nicht auch Arbeitgeber [...] beteiligt gewesen wären“ (Herkner 1922, Bd. 1, S. 454).

3.1 Sozialreformer und Sozialrevolutionäre

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Einen guten Einblick in die sozialpolitischen Aktivitäten von Unternehmern vermitteln die Biographien über Ernst Abbe1 , Robert Bosch2 , Heinrich Freese3 , Wilhelm von Funcke4 , Franz Haniel 5 , Friedrich Harkort 6 , Cornelius Heyl 7 , Alfred Krupp8 , Wilhelm Oechelhäuser 9 , Richard Roesicke10 , Johannes Schuchard 11 , und Freiherr Carl Ferdinand von Stumm-Halberg12 .

1

(1840–1905), Spinnereiarbeitersohn, habilitierter Physiker, begründete mit Schott die Jenaer Glaswerke zur Herstellung optischen Glases und wurde 1875 stiller Gesellschafter der Firma Carl Zeiß. Nach dem Tode von Zeiß errichtete er 1889 die Carl-Zeiß-Stiftung. Er beschäftigte sich u. a. ausführlich mit Problemen des Arbeiterschutzes, der Gewinnbeteiligung der Arbeiter, den Möglichkeiten der Verkürzung des Arbeitstages und den Aufgaben von Arbeiterausschüssen. Vgl. zu Ernst Abbe: Auerbach 2011; Rohr 1940/2018. 2 (1861–1942), Ingenieur und Begründer der Bosch GmbH, führte für seine Arbeiter schon 1906 den AchtStunden-Tag und 1908 den freien Samstagnachmittag ein. Vgl. dazu Heuss 1986. 3 (1853–1944), Holzpflaster- und Jalousiefabrikant, führte in seiner Fabrik 1888 eine Gewinnbeteiligung der Arbeitnehmer und schon 1892 den 8-Stunden-Tag ein. Vgl. auch Freeses sozialpolitische Schriften: Die Gewinnbeteiligung der Angestellten, 1904; Die konstitutionelle Fabrik, 1909; Nationale Bodenreform, 1926. 4 (1820–1896), Mitinhaber der Schraubenfabrik Funcke und Hueck in Hagen, richtete eine Arbeiterunterstützungskasse mit vielseitigen Leistungen ein und baute Belegschaftswohnungen. Vgl. dazu Köllmann 1961: Neue Deutsche Biographie. 5 (1779–1868), Pionier des Ruhrbergbaues, entwickelte das Unterstützungswesen der Gutehoffnungshütte. Vgl. dazu Spethmann 1956. 6 (1793–1880), Begründer der mechanischen Werkstätte Harkort & Co., die u.a. die ersten in Deutschland konstruierten Dampfmaschinen herstellte (das Unternehmen war ein Vorläufer der DEMAG). Seit 1830 war er Mitglied des Westfälischen Provinziallandtages. Er forderte ein Kinderarbeitsverbot, die Festlegung maximaler Arbeitszeiten, den Bau von Arbeitersiedlungen, die Gründung von Kranken- und Invaliditätsversicherungen, die Verbesserung des Schulsystems und die Gründung von Konsumvereinen. Vgl. zu Friedrich Harkort Berger/ Meister 1926 sowie Heuss 1983. 7 (1792–1858), Lederindustrieller in Worms, führte in seiner Firma eine durch die Firma unterstützte Arbeiterkrankenkasse sowie 1858 einen Pensionsfonds für arbeitsunfähig gewordene Werksangehörige ein. Vgl. dazu Kriegbaum 1972. 8 (1812–1887), begründete schon 1836 in seinem Werk eine Betriebskrankenkasse, 1858 eine Arbeiterpensionskasse. 1868 gründete er zur Verbilligung der Lebenshaltung der Arbeiter eine firmeneigene Konsumanstalt. In den Jahren 1863–1874, also in nur 11 Jahren, ließ er 3 277 Werkswohnungen für 16 700 Menschen bauen. Die Werkswohnungen blieben im Eigentum des Unternehmens, sie wurden erheblich unter den ortsüblichen Sätzen an verheiratete Arbeitnehmer vermietet. Für unverheiratete Arbeitnehmer wurden Logier- und Kosthäuser gebaut. In Verbindung mit dem Wohnungsbau wurden eine Reihe von Volksschulgebäuden errichtet und der Gemeinde überlassen. Krupp war bemüht, hohe Löhne zu zahlen und Entlassungen nach Möglichkeit zu vermeiden. Vgl. zu Alfred Krupp: Berdrow 1961, Hauenstein 1983 sowie Köhne-Lindenlaub 1982. 9 (1820–1902), Großindustrieller in Dessau, gründete den Verein der Anhaltlichen Arbeitgeber, der Sozialleistungen über den gesetzlichen Rahmen hinaus anstrebte. Seit 1888 gab er die „Deutsche Arbeiterzeitung“ heraus. Vgl. dazu Geldern 1971. 10 (1845–1903), Linksliberaler im Reichstag und Brauereiindustrieller in Dessau, formulierte als seine sozialpolitischen Grundsätze: „Energische Opposition gegen jede Verschlechterung der Lebenshaltung der minder wohlhabenden Klassen, zielbewußte Fortführung der Sozialreform, volle Gleichberechtigung aller Stände und Klassen, Entlastung der schwächeren und Belastung der stärkeren Schultern auf dem Gebiet des Steuerwesens.“ Vgl. dazu Escher 2003. 11 (1782–1855), Bonner Textilunternehmer, der für ein Kinderarbeitsverbot und gegen das Trucksystem auftrat. Brachte 1837 als Abgeordneter des Rheinischen Provinziallandtages einen Antrag zum Verbot der Kinderarbeit ein, der angenommen wurde. Vgl. dazu Köllmann 1958. 12 (1836–1901), saarländischer Industrieller und freikonservativer Reichstagsabgeordneter. Im norddeutschen Reichstag brachte er 1869 einen Antrag auf Einführung einer allgemeinen Alters- und Invalidenversicherung ein. Im Deutschen Reichstag stellte er die Frage des Arbeiterschutzes, die Arbeiterfrage überhaupt, immer

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3 Akteure der sozialpolitischen Entwicklung

Die sozialpolitischen Konzeptionen der Unternehmer bewegten sich zwischen zwei Polen, die durch Alfred Krupp und Freiherr von Stumm-Halberg einerseits und Ernst Abbe andererseits repräsentiert wurden. Krupp und v. Stumm-Halberg waren Vertreter eines patriarchalischen, antidemokratischautoritären, sozial-feudalistischen Unternehmertums. Sie anerkannten einerseits soziale Verpflichtungen gegenüber der Belegschaft und schufen großzügige soziale Einrichtungen. Andererseits vertraten sie in feudaladeliger Manier einen rigorosen „Herrn-im-Haus“-Standpunkt, verlangten Disziplin und Gehorsam, glaubten das Recht zu haben, ihre „Angehörigen“ auch außerhalb des Betriebes bevormunden zu können und verwehrten den Arbeitnehmern nicht nur betriebliche Mitspracherechte, sondern wollten sie politisch unmündig halten. Um das gewünschte Verhalten zu erzwingen, scheuten sie vor Drohungen und Repressalien, wie z.B. Entlassungen, nicht zurück. Sie bekämpften die Bildung von Arbeitervereinen, die Gewerkschaften und die Arbeiterparteien.13 Demgegenüber war Ernst Abbe – seiner Zeit vorauseilend – Repräsentant einer demokratischen, gemeinschaftsbezogenen, an der Idee des sozialen Rechtsstaates ausgerichteten sozialpolitischen Konzeption. Selbstbestimmungsrechte auch für Arbeiter, Wahrung der Menschenwürde, das Recht auf politische Betätigung der Arbeiter, betriebliche Mitbestimmungsrechte und das Recht auf Gewinnbeteiligung waren für ihn Selbstverständlichkeiten. Entsprechend gestaltete er die Zeiss-Stiftung aus.14

b) Vertreter der Kirchen und christliche Sozialreformer Dass sich Vertreter der christlichen Kirchen mit der sozialen Frage auseinander setzten und sozialreformerische Programme entwickelten, ist naheliegend. Erstens forderten das Gebot der Nächstenliebe und die Idee der sozialen Gerechtigkeit das Engagement der Kirchen. Zweitens waren die Kirchen aus ihrer Aufgabe der Seelsorge heraus aufgerufen, sich mit den Wirkungen der industriellen Revolution und des sozialen Elends auf Lebensgewohnheiten, Familie, Sitte, Moral und Glauben auseinander zu setzen. Schließlich gebot der Selbsterhaltungstrieb den Kirchen sozialpolitische Aktivität. Die der Industrialisierung parallel laufende Ausbreitung antireligiöser sozialistischer Ideen, die Gefahr revolutionärer Entwicklungen und die einsetzende Entfremdung zwischen Arbeiterschaft und Kirchen bedeuteten eine Gefährdung der Existenz der Kirchen als Institution.15 Vor allem die evangelische Kirche war Staatskirche und nach Auffassung und Interessen den staatstragenden Schichten eng verbunden. „Jeder Angriff von irgendeiner Seite auf den bestehenden Staat und die bestehende Gesellschaft mußte von der Kirche als Angriff auf sie selbst empfunden werden. Und in der Tat sah der größte Teil der Theologen und Staatsmänner der ersten Jahrhunderthälfte Staat und Kirche, Gesellschaft und Kirche in einem Schicksalsbündnis vereinigt.“ (Brakelmann 1971, S. 111). Gegenüber den revolutionären Ideen der Aufklärung und wieder zur Diskussion. Er beeinflusste maßgebende Regierungsmitglieder und Kaiser Wilhelm II. im Sinne seiner sozialpolitischen Vorstellungen. Vgl. dazu Hellwig 1936. 13 Vgl. dazu Schraepler 1996, S. 99-108 sowie Herkner 1922, Bd. 1, S. 428. 14 Vgl. dazu das bei Abbe 2014/1906, S. 262 ff. abgedruckte Stiftungs-Statut. 15 Das Gewicht dieses Motivs ist für die sozialpolitischen Aktivitäten der Kirchen als Institution und für die Entstehung christlich-sozialer Bewegungen sehr hoch einzuschätzen. Vgl. dazu Bredendiek 1953, S. 22 sowie Brakelmann 1971, S. 111 ff.

3.1 Sozialreformer und Sozialrevolutionäre

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des Liberalismus entwickelten Theologen und Juristen in der Zeit der Restauration der Jahre 1815 bis 1860 eine christlich-konservative Staatslehre, nach der Revolution von Grund auf moralisch verwerflich, Ausdruck des Unglaubens und des Ungehorsams, eine Emanzipation von der gottgewollten Ordnung und daher sündig sei. Demgegenüber wurde der geschichtlich gewachsene, bewährte, organisch aufgebaute und von einem Fürsten von Gottes Gnaden geleitete Ständestaat als gottgefällig angesehen. Vertreter der evangelischen Kirche appellierten zwar an die Besitzenden, ihren sozialen Verpflichtungen gerecht zu werden und engagierten sich – wie z. B. Johann Hinrich Wichern – intensiv beim Aufbau kirchlicher Hilfswerke. Ihnen war jedoch durch ihre Bindung an die kirchliche Gesellschaftslehre die Möglichkeit genommen, die soziale Lage unvoreingenommen zu diagnostizieren und eine staatliche Sozialpolitik als Therapie zur sozialen Frage einzufordern. Diese Feststellung gilt auch für die sozialpolitisch wohl bedeutendste Persönlichkeit der evangelischen Kirche, Johann Hinrich Wichern (1808 bis 1881),16 den Begründer der „Inneren Mission“. Dieses Sozialwerk stellte Kinderkrippen, Sonntagsschulen, Heime für verwahrloste Kinder, Vereine zur Betreuung Strafentlassener, Armenvereine, Krankenanstalten, Altersheime sowie Heime für körperlich und geistig Behinderte zur Verfügung. Entsprechend der Auffassung, Hauptursache der sozialen Frage sei die Abkehr vom Christentum, erwartete Wichern ihre Lösung von einer sittlichen Erneuerung des Volkes, der Missionierung des Inneren.17 Kein Vertreter der Kirche, aber ein christlicher Sozialreformer war Victor Aimé Huber (1800 - 1869),18 der durch seine Darlegung der Notwendigkeit einer Gesellschaftsreform für die evangelisch-soziale Bewegung den Schritt in die Sozialpolitik vollzog (Brakelmann 1971, S. 150). Lange vor Hermann Schulze-Delitzsch und Friedrich Wilhelm Raiffeisen, nämlich schon 1849, propagierte Huber die Idee der genossenschaftlichen Selbsthilfe sowohl als Instrument zur Verbesserung der ökonomischen Lage der Arbeiterschaft wie auch als Mittel sozialer Integration. 1865 forderte er eine Gewinnbeteiligung der Arbeitnehmer.19 Politisch hielt er jedoch am absoluten Königtum fest. Die politisch-demokratische Arbeiterbewegung lehnte er ab. Herausragende Triebkraft sozialpolitischer Entwicklung im Bereich der katholischen Kirche20 war Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler (1811 - 1877), Bischof von Mainz.21 Er gilt als der Begründer des Sozialkatholizismus und als geistiger Vater zahlreicher christlich-sozialer Vereine 16

Vgl. zu Wichern: Gerhardt 1931 sowie Brakelmann 1971, S. 119 ff. Vgl. dazu Schraepler 1964, S. 33 sowie die Schriften Wicherns: „Die Innere Mission eine christlich-soziale Aufgabe“, wiedergegeben in Schraepler 1964, S. 134-138 und „Die Innere Mission der deutschen evangelischen Kirche, eine Denkschrift an die Deutsche Nation“, wiedergegeben in: Mahling 1902. 18 Vgl. zu Huber: Paulsen 1956; Bredendiek 1953, S. 69 ff.; Brakelmann 1971, S. 141 ff. 19 Der Kern seiner Begründung lautet: „Es verbinden sich zwei Faktoren, einerseits Kapital mit Inbegriff der Unternehmung und Leitung, andererseits die Arbeit zu einer gemeinsamen Produktion, wozu jeder der beiden gleich unentbehrlich ist; und nachdem das Produkt fertig wird, wird der Arbeiter mit seinem Lohn ein für allemal abgefunden, während der Kapitalist nicht bloß die Zinsen seines Kapitals, sondern, wenn er zugleich der leitende Unternehmer ist, auch den ausschließlichen Besitz des ganzen Produktes und den Gewinn seiner Verwertung davonträgt. Man braucht nur einmal die Rechtfertigung dieses Verfahrens ernstlich zu versuchen, um sich zu überzeugen, daß darin keine Spur sittlicher und verständiger Berechtigung oder Billigkeit ist. Diese fordert unbedingt und selbstverständlich, daß erstlich dem Kapital seine Zinsen, zweitens jeder Arbeit ihr Lohn nach ihrem ehrlichen Marktpreise und ihrer praktischen Bedeutung, drittens jeder Arbeit wie dem Kapital ein verhältnismäßiger Anteil an dem gemeinschaftlichen Erzeugnis und seiner Verwertung zugemessen werde.“ (Zitiert nach Brakelmann 1971, S. 147). 20 Zum Einfluss katholischer Persönlichkeiten und des Katholizismus auf die Sozialpolitik vgl. Rauscher 1981, Heitzer 1991 und Hürten 1991. 21 Zu Ketteler vgl. Bredendiek 1953, S. 213 - 283; Jostock 1965, sowie Küppers 2011. 17

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3 Akteure der sozialpolitischen Entwicklung

(Weddigen 1957, S. 22). In einer großen Rede anlässlich des Deutschen Katholikentages in Mainz im Jahre 1848, in sechs im Mainzer Dom im gleichen Jahr gehaltenen Predigten zu den „großen sozialen Fragen der Gegenwart“ und in seiner 1864 erschienenen Schrift „Die Arbeiterfrage und das Christentum“ fanden seine sozialen und sozialpolitischen Auffassungen ihren Niederschlag. Als praktisches Mittel zur Hilfe für den Arbeiterstand empfahl Ketteler christliche Krankenhäuser, Armenhäuser und Invalidenanstalten. Er trat für Lohnerhöhungen, Gewinnbeteiligung, Verkürzung der Arbeitszeit, die Gewährung von Ruhetagen, ein Verbot der Fabrikarbeit schulpflichtiger Kinder und eine Abschaffung der Fabrikarbeit von Müttern ein. In der Gründung von Produktivgenossenschaften, d.h. von Unternehmungen, deren Geschäftsanteile in jeweils gleicher Höhe von den in der Unternehmensführung gleichberechtigten Arbeitern gezeichnet werden, sah er ein Instrument der Verbesserung der Lage des Arbeiterstandes. Er betonte das Koalitionsrecht der Arbeiter und die Pflicht des Staates zur sozialpolitischen Intervention, insbes. die Notwendigkeit einer Arbeiterschutzgesetzgebung, wie auch die Notwendigkeit einer auf dem Subsidiaritätsprinzip beruhenden Selbsthilfe der Arbeiter. Ketteler gab der Zentrumspartei maßgebliche Impulse für ihre im Reichstag vertretene Sozialpolitik. Die deutsche Sozialgesetzgebung der 1880er Jahre erfolgte unter starker Beteiligung seiner Schüler Georg Freiherr von Hertling, Franz Hitze und anderer Zentrumsmitglieder (Bredendiek 1953, S. 233 f.). Durch seine Neuformulierung der katholischen Soziallehre gewann er Bedeutung für die katholisch-soziale Bewegung jener Zeit in ganz Europa. Nicht zuletzt gab er Anregungen, die in die 1891 erschienene Enzyklika „Rerum novarum“ von Leo XIII. eingegangen sind. Mit dieser ersten Sozialenzyklika wurde eine Vielzahl von Stellungnahmen der römischen Kurie zu sozialen Fragen eröffnet.22 Auch Ketteler verkannte zunächst die sozialpolitische Bedeutung des Staates. Zur Lösung der sozialen Frage gebe es nur den Weg, die Arbeiter mit Hilfe der Kirche in den Stand zu versetzen, sich durch Selbsthilfe aus ihrer Lage zu befreien. Die soziale Frage sei „Arbeiterernährungsfrage“ (Schraepler 1996, S. 21) und die Lage der Arbeiter eine Folge des Abfalles vom Christentum.23 Erst in späteren Jahren sprach er sich für eine staatliche Sozialpolitik aus (vgl. Küppers 2011). Als bedeutende Vertreter der katholischen Kirche verdienen Adolf Kolping (1813 - 1865),24 und Franz Hitze (1851 - 1921)25 Erwähnung. Kolping war Kaplan und Begründer der nach ihm benannten Gesellenvereine. Diese Vereine sollten jungen, unverheirateten Handwerksgesellen in der Kolping-Familie ein Heim öffnen und ihnen moralischen Halt, aber auch die Möglichkeit zu beruflicher und persönlicher Weiterbildung geben. Franz Hitze war ebenfalls katholischer Geistlicher und Begründer des Verbands „Arbeiterwohl“ (1880), der ersten praktisch-sozialen 22 Bislang liegen acht Sozialenzykliken der katholischen Kirche vor: „Rerum novarum“ Leo XIII. (1891), „Quadragesimo anno“ Pius XI. (1931), „Mater et magistra“ Johannes XXIII. (1961), „Populorum progressio“ Paul VI. (1967), „Laborem exercens“ (1981), „Sollicitudo rei socialis“ (1987) und „Centesimus annus“ (1991) Johannes Paul II. sowie „Caritas in veritate“ Benedikt XVI. (2009). Vgl. zur Einflussnahme der katholischen Kirche auf die soziale Entwicklung das „Kompendium der Soziallehre der Kirche“, hgg. vom Päpstlichen Rat für Gerechtigkeit und Frieden 2004. 23 „Die von uns bisher besprochenen Ursachen der dermaligen Lage der Arbeiter sowie die Bösartigkeit der aus diesen Ursachen hervorgegangenen Wirkungen und Folgen haben ihren wesentlichen und tiefsten Grund im Abfall vom Geiste des Christentums, der in den letzten Jahrhunderten stattgefunden hat.“ (Ketteler 1864/2013, S. 104). 24 Zu Kolping vgl. Franz 1922 sowie Schnabel 1964, S. 256 ff. und Kolping 1849. 25 Vgl. zu Hitze Müller 1928 sowie Müller 1965, S. 86 ff. sowie folgende Schriften von Hitze: Die soziale Frage und die Bestrebungen zu ihrer Lösung, Paderborn 1877; Kapital und Arbeit und die Reorganisation der Gesellschaft, Paderborn 1880; Die Arbeiterfrage und die Bestrebungen zu ihrer Lösung, Mönchen-Gladbach 1905; Zur Würdigung der deutschen Arbeiter-Sozialpolitik, Mönchen-Gladbach 1913.

3.1 Sozialreformer und Sozialrevolutionäre

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Organisation der deutschen Katholiken. Später (1884 - 1921) wurde er Mitglied der Zentrumsfraktion des Deutschen Reichstages und Professor für Christliche Gesellschaftslehre in Münster. In beiden Funktionen entfaltete er zahlreiche sozialpolitische Aktivitäten.

c) Universitätslehrer Noch ehe sich die soziale Frage in Gestalt der Arbeiterfrage erkennbar als ein Massenproblem darstellte, nämlich bereits 1835 und 1837, machten zwei der katholischen Kirche nahestehende Gelehrte auf die aufziehende soziale Problematik aufmerksam: Franz Xaver von Baader und Franz Joseph Ritter von Buß. Franz Xaver von Baader (1765 - 1841),26 seit 1826 Philosophieprofessor, empfahl, den Proletariern das Recht der Repräsentation in den Ständeversammlungen durch von Priestern wahrgenommene Advokatien einzuräumen. Ein Sozialreformer, der die soziale Frage als Erster vor einem öffentlichen Forum, nämlich 1837 in der Badischen Zweiten Kammer, zur Diskussion gestellt hatte, war der Freiburger Jurist Franz Joseph Ritter von Buß (1803 - 1878).27 Er kam aus ärmlichen Verhältnissen und wurde 1863 geadelt. Er forderte Hilfskassen mit Arbeitgeberbeiträgen für Kranke und Unfallgeschädigte, ein Truckverbot, eine vierteljährliche Kündigungsfrist, eine Beschränkung der Arbeitszeit von Jugendlichen, ein Verbot der Kinderarbeit, ein Verbot der Nachtarbeit sowie der Sonnund Feiertagsarbeit, eine Beschränkung der Arbeitszeit Erwachsener auf 14 Stunden täglich, eine Fabrikaufsicht, Unfallverhütungsvorschriften, die Einsetzung von Fabrikinspektoren, eine fachlich bessere Schulung der Arbeiter und die Einrichtung eines eigenen Arbeits- oder Wirtschaftsministeriums. Buß, Präsident des ersten Deutschen Katholikentages 1848, hat den Klerus zu sozialer Aktivität aufgerufen. Er sah den Fabrikarbeiter als Leibeigenen des Fabrikherrn und der Maschine, dessen politische Stellung er als „trostlos“ bezeichnete. Es ist in diesem Überblick nicht möglich, die Diagnosen und die Therapievorschläge auch nur der bedeutendsten Wissenschaftler wiederzugeben, die sich – wie Johann Carl RodbertusJagetzow (1805 - 1875),28 Lorenz von Stein (1815 - 1890)29 und Albert Schäffle (1831 - 1905)30 – intensiv, überwiegend als Wissenschaftler, aber auch politisch engagiert, mit der sozialen Frage und ihren Lösungsmöglichkeiten auseinander setzten. Eine bedeutende Triebkraft der staatlichen Sozialpolitik wurde der 1872 gegründete „Verein für Socialpolitik“, der unter anderen von Lujo Brentano (1844 - 1931),31 Wilhelm Roscher (1817 - 1894),32 Gustav Schmoller (1838 - 1917),33 Gustav Friedrich von Schönberg (1839 - 1908)34 26

Vgl. zu Baader Sauter 1925 sowie Schnabel 1964, S. 250 ff. und Jantke 1955, S. 56 ff. Vgl. dazu Lange 1955 sowie Schnabel 1964, Bd. 7, S. 252 ff. 28 Vgl. dazu S. Wendt: Rodbertus, Karl, in: HdSW 1956, Bd. 9, S. 21-25 sowie Jantke 1955, S. 81 ff. und Ramm 1972. 29 Vgl. dazu E. v. Beckerath/N. Kloten: v. Stein, Lorenz, in: HdSW 1959, Bd. 10, S. 89-92 sowie Jantke 1955, S. 76-81. 30 Vgl. dazu F. K. Mann: Schäffle, Albert, in: HdSW 1956, Bd. 9, S. 103 f. sowie – zur Bedeutung und den sozialpolitischen Schriften Schäffles – Herkner 1922, Bd. 2, S. 173. 31 Vgl. dazu C. Brinkmann: Brentano, Lujo, in: HdSW 1959, Bd. 2, S. 410 f. 32 Vgl. dazu C. Brinkmann: Roscher, Wilhelm, in: HdSW 1956, Bd. 9, S. 41 ff. 33 Vgl. dazu C. Brinkmann: Schmoller, Gustav, in: HdSW 1956, Bd. 9, S. 135-137. 34 Zu Brentano, Roscher, Schmoller und Schönberg vgl. Müssiggang 1968. 27

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3 Akteure der sozialpolitischen Entwicklung

und Adolph Wagner (1835 - 1917)35 gegründet worden war. Mit seinen Anregungen und jährlichen Kongressen, Enquéten und Veröffentlichungen hat dieser Verein die deutsche Sozialpolitik der Folgezeit wesentlich beeinflusst.36 Gustav Schmoller z.B. kritisierte 1874 in seinem Aufsatz „Die soziale Frage und der Preußische Staat“ in den Preußischen Jahrbüchern die Einstellung der Regierungskreise gegenüber der sozialen Frage, die Politik für die Besitzenden und gegen die Besitzlosen, den Einfluss des Kapitals auf Gesetzgebung und Verwaltung. Er meinte: „[...] den Gefahren der sozialen Zukunft kann nur durch ein Mittel die Spitze abgebrochen werden: dadurch, daß das König- und Beamtentum, daß diese berufensten Vertreter des Staatsgedankens, diese einzig neutralen Elemente im sozialen Klassenkampf, versöhnt mit dem Gedanken des liberalen Staates, ergänzt durch die besten Elemente des Parlamentarismus, entschlossen und sicher die Initiative zu einer großen sozialen Reformgesetzgebung ergreifen und an diesem Gedanken ein oder zwei Menschenalter hindurch unverrückt festhalten [...]“ (Schraepler 1996, S. 70 f.). Welche sozialpolitische Triebkraft das von Schmoller als berufenster Vertreter des Staatsgedankens apostrophierte Beamtentum darstellte, wurde bereits angesprochen. Die Mehrzahl der Beamten und der Parlamentarier stand der sozialen Frage verständnislos gegenüber und sperrte sich gegen soziale Reformen. Dennoch gab es einige, die – als Ausnahmen die Regel bestätigend – die Zeichen der Zeit erkannten und Reformvorschläge unterbreiteten.

d) Beamte und Parlamentarier Der erste preußische Beamte, der scharfe Kritik an den sozialen Verhältnissen übte und einen bahnbrechenden Vorschlag machte, dürfte der – allerdings einflusslose – Regierungssekretär Ludwig Gall (1794 - 1863)37 gewesen sein. Bereits 1825 veröffentlichte er die Grundgedanken einer Vollbeschäftigungspolitik durch kreditfinanzierte Infrastrukturinvestitionen. Auch im höheren Beamtentum sind verdienstvolle Sozialreformer zu finden, so z.B. der preußische Kultusminister Karl Freiherr von Altenstein (1770 - 1840),38 der sich ebenso wie der preußische Handelsminister August Freiherr von der Heydt (1801 - 1874)39 um die Kinderschutzgesetzgebung und ebenso wie der spätere Handels- und Gewerbeminister Hans Hermann Freiherr von Berlepsch (1843 - 1926)40 um den Arbeiterschutz verdient gemacht hat. Berlepsch begründete auch die „Gesellschaft für Sozialreform“, um sich gegen die Bestrebungen einflussreicher Unternehmer zu wenden, die die sozialpolitische Reformarbeit zum Stillstand bringen wollten.

35

Vgl. dazu R. Stucken: Wagner, Adolph, in: HdSW 1961, Bd. 11, S. 470-472. Boese 1939/2013, S. 3. Zur Wirksamkeit des Vereins vgl. auch Conrad 1906. Bis 1921 gab der Verein 159 Bände sozialwissenschaftlicher Arbeiten heraus. 37 Vgl. Singer 1894 und Zinn 1969. 38 Vgl. dazu Kuhl 1924. Altenstein war 1808 - 1810 preußischer Finanzminister, 1817 - 1838 Kultusminister. Er hat neben der Gründung der Universität Bonn und dem Ausbau der Universitäten Berlin, Breslau und Halle das Verdienst, die Schulpflicht 1825 auf das gesamte Staatsgebiet ausgedehnt und das Volksschulwesen ausgebaut zu haben. 39 Vgl. dazu Bergengruen 1908. Von der Heydt war 1849 - 1862 Minister für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten. 40 Vgl. dazu Trappe 1934. Berlepsch war 1890 - 1896 preußischer Minister für Handel und Gewerbe. 36

3.1 Sozialreformer und Sozialrevolutionäre

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Otto Fürst von Bismarck (1815 - 1898)41 und einer Reihe seiner Mitarbeiter in den Ministerien, die ihn gegen viele Widerstände unterstützten, kommt das Verdienst zu, mit dem Unfallversicherungsgesetz, dem Krankenversicherungsgesetz sowie dem Invaliditäts- und Altersversicherungsgesetz eine systematische staatliche Sozialpolitik eingeleitet zu haben.

3.1.2 Sozialrevolutionäre Die maßgeblichen Persönlichkeiten, die in Deutschland wirksam werdende sozialrevolutionäre Konzepte entwickelten, sind Karl Marx und Friedrich Engels. Vorläufer waren Wilhelm Weitling (1808 - 1871),42 der bedeutendste Vertreter des deutschen Frühsozialismus, und Moses Heß (1812 - 1875).43 Friedrich Engels (1820 - 1895),44 der eine der eindrucksvollsten Schilderungen der Lage der arbeitenden Klasse im vorigen Jahrhundert verfasst hat, und Karl Marx (1818 - 1883)45 wurden zu Begründern des wissenschaftlichen Sozialismus, zu Agitatoren und Organisatoren eines klassenbewussten Proletariats. Sie gewannen mit der schon im kommunistischen Manifest des Jahres 1848 enthaltenen Ideologie großen Einfluss auf die soziale und sozialpolitische Entwicklung. Das Manifest forderte zum Umsturz der Gesellschaft auf: „Das Proletariat, die unterste Schicht der jetzigen Gesellschaft, kann sich nicht erheben, nicht aufrichten, ohne daß der ganze Überbau der Schichten, die die offizielle Gesellschaft bilden, in die Luft gesprengt wird.“ „Der nächste Zweck der Kommunisten ist derselbe wie der aller übrigen proletarischen Parteien: Bildung des Proletariats zur Klasse, Sturz der Bourgeoisie-Herrschaft, Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat.“ Daher war der erste Satz des kommunistischen Manifests „Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus“ für die Bodenbesitzer, die Unternehmer, den Adel, das Bürgertum und die Kirchen keine leere Drohung. In allen Gruppierungen, die etwas von der Marx’schen Ideologie übernommen hatten oder auch nur diesen Verdacht erweckten, wurden Kristallisationskerne einer marxistischen, revolutionären Arbeiterbewegung gesehen. Im Manifest kündigte Marx nicht nur die Abschaffung des bürgerlichen Eigentums an, er prognostizierte auch, dass Deutschland im Mittelpunkt der Revolution stehen werde. „Auf Deutschland richten die Kommunisten ihre Hauptaufmerksamkeit, weil Deutschland am Vorabend einer bürgerlichen Revolution steht [...] Die Kommunisten verschmähen es, ihre Einsichten und Absichten zu verheimlichen. Sie erklären es offen, daß ihre Zwecke nur erreicht werden können durch den gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnungen. Mögen die herrschenden Klassen vor einer kommunistischen Revolution zittern. Die Proletarier haben nichts in ihr zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen.“ In dieser revolutionären Ideologie liegt wohl der Hauptgrund dafür, dass in Deutschland lange Zeit versucht wurde, alle Formen der Arbeiterbewegung zu unterdrücken, dass auch die sozialdemokratische Partei mit dem Sozialistengesetz (vgl. dazu S. 49 f.) bekämpft wurde und dass

41 42 43 44 45

Vgl. zu Bismarck aus den zahlreichen Biographien: Eyck 1941, 3 Bde. sowie Mommsen 1959. Vgl. dazu Th. Ramm: Weitling, Wilhelm, in: HdSW 1961, Bd. 11, S. 603 f. sowie Brakelmann 1971, S. 53 ff. Vgl. dazu Zlocisti 1921 sowie Brakelmann 1971, S. 55. Vgl. dazu G. Stavenhagen: Engels, Friedrich, in: HdSW 1961, Bd. 3, S. 223-227. Vgl. dazu F. Engels/I. Fetscher/H. Peter: Marx, in: HdSW 1961, Bd. 7, S. 185-206.

48

3 Akteure der sozialpolitischen Entwicklung

man den Arbeitern die politische Mündigkeit so lange abstritt. Dennoch ist gerade die Arbeiterbewegung die ausschlaggebende Triebkraft der sozialpolitischen Gesetzgebung geworden.

3.2 Soziale Bewegungen 3.2.1 Überblick Zur ausschlaggebenden Triebkraft der sozialen und sozialpolitischen Entwicklung in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts wurde die Arbeiterbewegung.46 Sie bestand aus zwei Strömungen: 1. aus der politisch-konstitutionellen Arbeiterbewegung, zu deren bedeutendster Organisation die Sozialdemokratische Partei Deutschlands wurde; politisch-konstitutionelle Arbeiterbewegungen zielen primär auf die Erringung politischer Rechte und politischer Mitwirkungsmöglichkeiten; 2. aus den korporativ-solidarischen Zusammenschlüssen der Arbeiter zu Gewerkschaften sowie zu Produktiv- und Konsumgenossenschaften; korporativ-solidarische Zusammenschlüsse zielen primär auf die Verbesserung der wirtschaftlichen Lage der Mitglieder. Während die Organisationen der Sozialistischen Bewegung – die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Deutschlands und die sozialistischen, die sogenannten „freien“ Gewerkschaften – reine Arbeiterbewegungen waren, waren andere Triebkräfte der sozialpolitischen Entwicklung auch, aber nicht nur Arbeiterbewegungen. Insbesondere die christliche soziale Bewegung, die die christlichen Arbeitervereine und die christlichen Gewerkschaften hervorbrachte, fand organisatorischen und finanziellen Rückhalt auch bei anderen sozialen Gruppen, nämlich in der Beamtenschaft, bei Angehörigen des selbständigen Mittelstandes, aber auch bei gläubigen industriellen Arbeitgebern und bei den Kirchen. Die liberale soziale Bewegung – zu denken ist vor allem an die von Friedrich Naumann begründete nationalsoziale Bewegung und an die Gesellschaft für Sozialreform – ist ebenso wenig wie die landwirtschaftliche und gewerbliche Genossenschaftsbewegung Arbeiterbewegung, leistete aber beachtliche Beiträge zur sozialpolitischen Entwicklung.

3.2.2 Sozialistische, christliche und liberale Bewegungen und Parteien Da in den deutschen Bundesstaaten bis 1848 die Bildung politischer Vereine und die Koalitionsbildung verboten waren, konnte sich bis zu diesem Zeitpunkt auf deutschem Boden keine politische Arbeiterbewegung entwickeln. Die seit den 1830er Jahren teils unter dem Einfluss liberaler fortschrittlicher Kreise, teils auf Initiative von Gesellen und Arbeitern entstandenen Arbeitervereine, die katholischen Gesellenvereine und die evangelischen Arbeitervereine waren

46

Vgl. zu den sozialen Bewegungen in Deutschland die Überblicksdarstellungen bei Herkner 1922, Bd. 2 sowie Heimann 1980, S. 139 ff. und Kocka 1983.

3.2 Soziale Bewegungen

49

auf die Vermittlung von Bildung, auf solidarische Selbsthilfe und die Pflege der Geselligkeit ausgerichtet. Sie wurden teilweise zu Vorläufern von Arbeiterparteien und Gewerkschaften.47 Der erste, von Stephan Born (1824 - 1898) 1848 unternommene Versuch, durch Zusammenfassung lokaler Arbeitervereine in der „Allgemeinen Deutschen Arbeiterverbrüderung“ eine eigenständige politische Arbeiterbewegung zu initiieren, scheiterte. Die „Arbeiterverbrüderung“ wurde 1854 durch Bundesgesetz verboten. Nur unpolitische und konfessionelle Arbeitervereine konnten bestehen bleiben. Der Weg zur Gründung von Arbeiterparteien wurde erst frei, als 1861 in Sachsen und 1869 durch die Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes das Koalitionsverbot aufgehoben wurde.

a) Die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands Die 1875 gegründete Sozialistische Arbeiterpartei war von diesem Zeitpunkt an im 19. Jh. die einzige deutsche Arbeiterpartei. Sie geht auf den 1863 unter Führung von Ferdinand Lassalle (1825 - 1864) gegründeten „Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein“ und auf die 1869 von August Bebel (1840 - 1913) und Wilhelm Liebknecht (1826 - 1900) gegründete „Sozialdemokratische Arbeiterpartei“ zurück. Das sog. Gothaer Programm erstrebte die Demokratisierung von Staat und Gesellschaft durch Aufklärungsarbeit und durch Erlangung der Mehrheit im Parlament mit den Mitteln der bürgerlichen Demokratie. Es war daher nicht revolutionär-marxistisch. Sowohl die beiden deutschen Arbeiterparteien als auch ihre Vereinigung kamen überhaupt fast ohne jede Mitwirkung von Marx und Engels zustande (Grebing 1981, S. 65). Die Partei wuchs so stark – sie erreichte bei der Reichstagswahl des Jahres 1877 mit fast 500.000 Stimmen 12 Mandate –, dass Bismarck meinte, die Entwicklung der Partei durch das „Gesetz zur Abwehr der gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ (Sozialistengesetz) bremsen zu müssen. Das vom Reichstag 1878 verabschiedete und mehrmals verlängerte Gesetz blieb bis 1890 in Kraft. „Das Gesetz und insbes. seine Handhabung schossen über das berechtigte Ziel der Unterdrückung gemeingefährlicher Ausschreitungen weit hinaus. Es wurden einfach alle selbständigen Arbeiterorganisationen, politische sowohl wie wirtschaftliche, zerstört, die Presse unterdrückt, das Versammlungsrecht aufs Äußerste beschränkt. Wo der kleine Belagerungszustand eingeführt wurde, wies man die leitenden Persönlichkeiten der Partei aus; zuweilen mit ausgesuchter Härte“ (Herkner 1922, Bd. 1, S. 365). Während der Geltungsdauer des Gesetzes sollen etwa 1 500 Personen zu Gefängnis- und Zuchthausstrafen verurteilt, 900 Personen ausgewiesen und zahlreiche andere zur Emigration gezwungen worden sein. Es wurde das Erscheinen von 155 periodischen und 1 200 nicht periodischen Druckschriften verhindert (Herkner 1922, Bd. 2, S. 366). Das Sozialistengesetz musste bei den Sozialisten eine Enttäuschung hervorrufen, aus der – wie Bebel selbst bekennt – „von Haß und Erbitterung erfüllte Staatsfeindschaft“ wuchs (Grebing 1981, S. 91). Die ihm zugedachte Aufgabe erfüllte es nicht. Tabelle 3.1 zeigt, dass der Stimmenzuwachs der Arbeiterpartei nur bei den Wahlen der Jahre 1878 und 1881 verzögert werden konnte. Ein Vergleich von Stimmenanteil und Mandatsanteil zeigt übrigens, dass in jeder der Wahlperioden der Mandatsanteil – zum Teil ganz erheblich – unter dem Stimmenanteil lag. Diese Benachteiligung der SPD war – wie andererseits die Begünstigung der Deutsch-Konservativen und des Zentrums – sowohl eine Folge des Wahlrechtes als auch eine Folge der Wahlkreiseintei47

Vgl. dazu Grebing 1981, S. 40 ff. sowie Brakelmann 1971, S. 84 ff. und S. 186 ff.

50

3 Akteure der sozialpolitischen Entwicklung

Tabelle 3.1: Stimmenanteile und Abgeordnetenmandate der SPD im Deutschen Reichstag (1871-1912) Jahr 1871 1874 1877 1878a 1881 1884 1887 1890 1893 1898b 1903 1907 1912

Stimmen in 1 000 in %

1 1 2 3 3 4

125 352 493 437 312 550 763 427 787 107 011 259 250

3,0 6,8 9,1 7,6 6,1 9,7 10,1 19,7 23,3 27,2 31,7 28,9 34,8

Mandate absolut in % 2 9 12 9 12 24 11 35 44 56 81 43 110

0,5 2,3 3,0 2,3 3,0 6,0 2,8 8,8 11,1 14,0 20,3 10,8 27,7

Differenz in Prozentpunkten - 2,5 - 4,5 - 6,1 - 5,3 - 3,1 - 3,7 - 7,3 - 10,9 - 12,2 - 13,2 - 11,4 - 18,1 - 7,1

a

Auflösung des Reichstags nach dem Attentat von Dr. Nobeling auf den Kaiser, die in der Erwartung erfolgte, ein neu gewähltes Parlament werde ein Ausnahmegesetz für die Sozialdemokratie annehmen, nachdem eine erste Vorlage der Reichsregierung, unter anderem wegen juristischer Unzulänglichkeiten, mit 251 gegen 57 Stimmen abgelehnt worden war. b Verlängerung der Wahlperiode von 3 auf 5 Jahre. Quelle: Vogel/Nohlen/Schultze 1971, S. 290 ff.

lung in Verbindung mit dem Bevölkerungswachstum und der Verstädterung (vgl. dazu Vogel/ Nohlen/Schultze 1971). Die Diskrepanz zwischen Stimmenanteil und Mandatsanteil hatte zur Folge, dass die SPD, die – an den Wählerstimmen gemessen – bereits 1890 die stärkste Partei war, erst 1912 auch zur stärksten Fraktion des Reichstages wurde. Obwohl die Partei von ihrer wachsenden parlamentarischen Macht vor 1914 nur unzulänglich Gebrauch machte48 , war sie doch allein durch ihre Existenz und ihr Wachstum zu einer Triebkraft der Entwicklung geworden. Bismarck selbst hat die politische Bedeutung der Arbeiterpartei bestätigt, als er am 26.11.1884 im Reichstag erklärte: „[...] wenn es keine Sozialdemokratie gäbe, und wenn nicht eine Menge Leute sich vor ihr fürchteten, würden die mäßigen Fortschritte, die wir überhaupt in der Sozialreform bisher gemacht haben, auch noch nicht existieren und insofern ist die Furcht vor der Sozialdemokratie in Bezug auf denjenigen, der sonst kein Herz für seine armen Mitbürger hat, ein ganz nützliches Element“ (Herkner 1922, Bd. 2, S. 107). Die SPD setzte sich als politische Kraft nicht nur im Reich, sondern auch in den Landtagen durch (Grebing 1981, S. 105) – mit Ausnahme Preußens, in dem bis 1919 nach dem sogenannten Dreiklassenwahlrecht 49 gewählt wurde, dem Prototyp für ein plutokratisches Wahlrecht, das der 48

Sie fürchtete, „durch ’Kompromisseln’ den ’prinzipiellen Standpunkt’ zu verwässern“ (Grebing 1981, S. 105) und durchbrach erstmals 1912 durch eine Koalitionsbildung ihren parlamentarisch-politischen Immobilismus. 49 Nach diesem Wahlrecht wurden die „Urwähler“ innerhalb des Urwahlbezirks nach ihren direkten Staats-, Gemeinde-, Kreis-, Bezirks- und Provinzialsteuern in drei Klassen so eingeteilt, dass jede Klasse ein Drittel der Gesamtsumme dieser Steuern, und zwar die erste die Höchst-, die letzte die Geringst- und die gar nicht Besteuerten umfasst. Die in nicht geheimer(!) Wahl zu wählenden Wahlmänner wurden gleichmäßig auf die

3.2 Soziale Bewegungen

51

direkten Umsetzung sozialökonomischer Macht in politische Macht diente und insbesondere den Grundbesitzern die parlamentarische Überrepräsentation sicherte. Das Wachstum der Mandate der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, das eine Veränderung der sozialen Struktur der Parlamente bewirkte, hatte – in Verbindung mit Änderungen der sozialen Struktur der führenden Persönlichkeiten auch der anderen Parteien50 – weitreichende Konsequenzen für die sozialpolitische Gesetzgebung.

b) Christliche soziale Bewegungen und Parteien ba) Die katholisch-soziale Bewegung und das Zentrum Ihre entscheidende geistige Prägung erhielt die katholisch-soziale Bewegung51 von Männern wie Bischof Ketteler, Franz Brandts, Franz Hitze52 , Ludwig Windthorst (1812 - 1891)53 und Georg Freiherr von Hertling (1843 - 1919).54 Sie brachte die Gesellenvereine Kolpings, die christlichen Arbeitervereine, die christlichen Gewerkschaften (vgl. dazu S. 55), die Zentrumspartei, den „Volksverein für das katholische Deutschland“ und die Caritas hervor. Die Arbeitervereine sollten – ähnlich wie die Gesellenvereine – weder gewerkschaftliche noch politische Aufgaben wahrnehmen, sondern die Mitglieder religiös betreuen und sie – entsprechend den Ordnungsvorstellungen der früheren hierarchisch-patriarchalischen katholischen Soziallehre55 – „von der Klasse zum Stand“ erziehen. Eine Hauptaufgabe der von Geistlichen geführten Vereine war die Immunisierung der Mitglieder gegen das Gedankengut des Sozialismus und die Bekämpfung des Sozialismus, der ja seinerseits dem Christentum den Kampf angesagt hatte.

drei Klassen verteilt. 1849 waren die 3 260 703 Urwähler in Preußen wie folgt aufgeteilt: zur ersten Klasse gehörten 153 808 = 4,72 % der Wähler, zur zweiten Klasse 409 945 = 12,57 %, zur dritten Klasse 2 691 950 = 82,56 % der Wähler; vgl. dazu Furtwängler 1956, S. 47. 1903 konnte die SPD mit 18,79 % der Stimmen keinen Kandidaten ins Abgeordnetenhaus bringen, die Konservativen erreichten mit 19,39 % der Stimmen 32,28 % der Sitze; vgl. dazu Grebing 1981, S. 106. 50 In den beiden letzten Jahrzehnten des 19. Jh. wurden die überwiegend aus (häufig adeligen) Grundbesitzern und Beamten bestehenden Fraktionen im Reichstag und in den Landtagen durch Unternehmer ergänzt. In den Legislaturperioden 1890 bis 1906 lag der Anteil der Unternehmer an den Reichstagsmandaten zwischen 22,8 % (= 90 Mandate) und 27 % (= 107 Mandate). Nach der Jahrhundertwende ging der Unternehmeranteil im Reichstag, in den Landtagen und in den Gemeindeparlamenten stark zurück. 1912 - 1918 belief sich der Unternehmeranteil im Reichstag nur noch auf 17,1 % (= 68 Mandate). Vgl. dazu Jaeger 1967 (1. Kap.: „Unternehmer im Parlament“). 51 Vgl. dazu Ritter 1954, Rauscher/Roos 1977 und Heitzer 1991. 52 Vgl. zu Ketteler und Hitze S. 43. 53 Vgl. dazu Seiters 1965, S. 61 ff. 54 Hertling, seit 1882 Professor für Staatswissenschaften in München, war ab 1876 Referent der Zentrumspartei für die soziale Frage im Reichstag, 1909 - 1912 Fraktionsvorsitzender des Zentrums, 1912 - 1917 Bayerischer Ministerpräsident und 1917 - 1918 Reichskanzler und Preußischer Ministerpräsident. Er war außerdem Mitbegründer und erster Präsident der „Görres-Gesellschaft zur Pflege der katholischen Wissenschaft“. Vgl. dazu Becker 1981. 55 Vgl. zur katholischen Soziallehre Nell-Breuning 1985, Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden (Hg.), Kompendium der Soziallehre der Kirche, Freiburg u.a. 2006 sowie Rauscher et al. 2008.

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3 Akteure der sozialpolitischen Entwicklung

Die Zentrumspartei,56 die zwischen 1874 und 1912 Mandatsanteile in Höhe von 22,9 bis 26,7 % erreichte, entfaltete beachtliche sozialpolitische Aktivitäten. Erwähnung verdient, dass das Zentrum das Sozialistengesetz abgelehnt hat.

bb) Die evangelisch-soziale Bewegung Maßgebliche Träger der evangelisch-sozialen Bewegung waren Johann Hinrich Wichern, Victor Aimé Huber, Rudolf Todt (1839 - 1887) und Adolf Stöcker (1835 - 1909).57 Die evangelisch-soziale Bewegung hat ihren Niederschlag in der Inneren Mission, in evangelischen Arbeitervereinen und im „Evangelisch-sozialen Kongreß“ gefunden. Heinrich Herkner sieht eines der großen Verdienste der evangelisch-sozialen Bewegung darin, den konservativen Kreisen in Deutschland die Bismarck’schen Reformen annehmbar gemacht zu haben (Herkner, 1922, S. 111, Bd. 2). Die Bewegung, die soziale Reformen auf der Grundlage der bestehenden Gesellschaftsordnung erstrebte, eine eigene politische Interessenvertretung der Arbeiterschaft ablehnte, Treue gegenüber Kaiser und Reich forderte, die Pflege eines freundschaftlichen Verhältnisses zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern auf ihre Fahnen geschrieben hatte und darüber hinaus den katholischen und sozialdemokratischen Einfluss auf die Arbeiter und Handwerker abwehren sollte (Grebing 1981, S. 86), fand bei den Arbeitern nicht viel Anklang. Noch weniger Anklang bei den Arbeitern fand die von Adolf Stöcker, Hofprediger von Kaiser Wilhelm I., 1878 gegründete „Christlich-soziale Arbeiterpartei“.58 Größeren Erfolg hatte Stöcker mit dem 1890 gegründeten „Evangelisch-sozialen Kongreß“, der zwischen 1890 und 1941 auf seinen Versammlungen zentrale und aktuelle sozialpolitische Fragen behandelte, zu einem Forum des Gespräches zwischen Theologen, Volkswirten, Juristen, Soziologen und Sozialpolitikern wurde und wesentliche sozialpolitische Anregungen gab.59

c) Die liberale soziale Bewegung Der Sozial-Liberalismus, wissenschaftlich in England durch John St. Mill, in Deutschland durch viele Mitglieder des Vereins für Socialpolitik, wie z.B. Lujo Brentano, Wilhelm Lexis, Karl Bücher und Gustav Schmoller vertreten, fand seinen politisch profiliertesten Vertreter auf deut-

56

Vgl. dazu Grebing 1981, S. 76 ff., Ritter 1954, S. 108 ff. und Beckel 1965. Vgl. zu Wichern und Huber die Literaturangaben S. 43, zu Todt Brakelmann 1971, S. 250 ff., zu Stöcker ebenfalls Brakelmann 1971, S. 162 ff. 58 Die Gründe dafür machen die Einleitungssätze des Parteiprogramms erkennbar: „Die christlich-soziale Arbeiterpartei steht auf dem Boden des christlichen Glaubens und der Liebe zu König und Vaterland. Sie verwirft die gegenwärtige Sozialdemokratie als unpraktisch, unchristlich und unpatriotisch. Sie erstrebt eine friedliche Organisation der Arbeiter, um in Gemeinschaft mit den anderen Faktoren des Staatslebens die notwendigen praktischen Erfolge anzubahnen. Sie verfolgt als Ziel die Verringerung der Kluft zwischen reich und arm und die Herbeiführung einer größeren ökonomischen Sicherheit“. Zitiert nach Brakelmann 1971, S. 167. 59 Vgl. dazu Kretschmar 1972. Teilnehmer an den Kongressen waren u.a. Hans Freiherr von Berlepsch, Bernhard Harms, Arthur Graf von Posadowsky. Eine führende Rolle im Kongreß spielten u.a. Adolf Damaschke, Theodor Heuß, Ludwig Heyde, Hans Luther, Friedrich Naumann, Gustav Schmoller, Ernst Troeltsch, Adolph Wagner, Max Weber und Leopold von Wiese. 57

3.2 Soziale Bewegungen

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schem Boden vor dem ersten Weltkrieg in Friedrich Naumann (1860 - 1919).60 Naumann trat konsequent für die Belange der Arbeiter ein. Er erkannte, dass die Arbeiter nicht Objekt der sozialen Bemühungen sein wollten, sondern handelndes Subjekt, und verlor die Überzeugung, dass Kirche und Christentum einen entscheidenden Beitrag zur Lösung der sozialen Frage leisten könnten. Unter dem Einfluss Max Webers kam er zu der Auffassung, dass nationale Macht nach außen eine Voraussetzung für soziale Reformen ist. Industrialisierung und eine vom Kaisertum geführte Machtpolitik sollten mit sozialen Reformen einhergehen. Er meinte: „Wir brauchen einen Sozialismus, der sich dadurch regierungsfähig erweist, daß er dem Vaterland ein starkes Heer und eine große Schlachtflotte gewährt“ (Herkner 1922, Bd. 2, S. 185). „Wer innere Politik treiben will, muß erst Volk, Vaterland und Grenzen sichern, der muß für nationale Macht sorgen“ (Brakelmann 1971, S. 184). Als der von Naumann 1896 begründete National-soziale Verein bei den Reichstagswahlen 1903 nur einen einzigen Kandidaten in den Reichstag brachte, löste sich die Partei auf und schloss sich der „Freisinnigen Vereinigung“ an. Trotz geringer Bedeutung als Triebkraft der sozialen Entwicklung verdient die Gruppe der sozial-liberalen Bodenreformer als Element der liberalen sozialen Bewegung Erwähnung, weil sie sich auf ein bedeutendes konstitutives Merkmal der Proletarität und auf ein zentrales Problem sozialer Gerechtigkeit konzentrierte: auf die Eigentumslosigkeit breiter Schichten bzw. die Ungleichverteilung von Grund und Boden. Während Franz Oppenheimer (1864 - 1943) in seiner Klassenmonopoltheorie der Verteilung die verteilungspolitische Bedeutung des Bodenmonopols herausgestellt hatte,61 wurde Adolf Damaschke (1865 - 1935) durch die Wiederbegründung des „Bundes deutscher Bodenreformer“ und durch sein Eintreten für eine Verbesserung der Wohnverhältnisse, für die Erhaltung und Erweiterung des Gemeindegrundbesitzes, für die Einführung von Bodenwertzuwachssteuern, für eine zweckmäßige Ausgestaltung der Bauordnungen und für eine planmäßige Kolonisation zur führenden Gestalt der deutschen Bodenreformbewegung (vgl. dazu Damaschke 1922).

3.2.3 Die Gewerkschaften Neben der Arbeiterpartei wurden die freien und die christlichen Gewerkschaften zum zweiten bedeutenden Element der Arbeiterbewegung und zu einer nicht minder wirksamen Triebkraft der Entwicklung.62 Gewerkschaften werden von Götz Briefs zutreffend definiert als „die freie, der Absicht nach dauernde, im Innenverhältnis solidarische, nach außen kartellarische Interessenverbindung auf abhängiges Einkommen gestellter Sozialgruppen“ (Briefs 1965, S. 545). In Deutschland entstanden vier weltanschaulich unterschiedliche gewerkschaftliche Gruppierungen, nämlich die sozialistischen oder freien Gewerkschaften, die christlichen Gewerkschaften, die Hirsch-Duncker’schen und die sogenannten „gelben“ Gewerkschaften. Die Entstehungsbedingungen der Gewerkschaften waren im Deutschen Reich kaum günstiger als die der Arbeiterparteien. Bis 1869 waren fast in allen deutschen Staaten Verabredungen der 60 61 62

Vgl. zu Naumann Brakelmann 1971, S. 175 ff. und Heuss/Milatz 1968. Vgl. dazu Oppenheimer 1922 sowie E. Preiser: Oppenheimer, Franz, in: HdSW, Bd. 8, S. 102-104. Vgl. zu den Gewerkschaften Limmer 1996 und Niedenhoff/Pege 1997.

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3 Akteure der sozialpolitischen Entwicklung

Arbeiter mit dem Ziel eines gemeinsamen Vorgehens beim Abschluss von Arbeitsverträgen mit schweren Freiheitsstrafen bedroht worden. Erst nachdem 1861 in Sachsen, 1867 im Norddeutschen Bund und 1869 in der Gewerbeordnung, die 1872 Reichsrecht wurde, das Koalitionsverbot aufgehoben63 und eine halbherzige Anerkennung der Koalitionsfreiheit Gesetz geworden war,64 waren die rechtlichen Voraussetzungen für die Entstehung von Gewerkschaften geschaffen.65 Über die Periode des Sozialistengesetzes66 (1878 - 1890) retteten sich die Gewerkschaften durch die Gründung von Ortsvereinen und durch die Beschränkung auf die Erörterung beruflicher Fragen (Bechtel 1956, S. 314). Nachdem die Gewerkschaften trotz der rechtlichen Garantie der Koalitionsfreiheit weiter um ihre Anerkennung kämpfen mussten,67 brachte die Ablösung der Monarchie durch die Weimarer Republik die endgültige Anerkennung der Gewerkschaften. 1918 waren in einem Abkommen zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften68 die Gewerkschaften von den Arbeitgebern „als berufene Vertreter der Arbeiterschaft“ und als Tarifvertragspartei anerkannt worden. Volle Anerkennung als legitimierte Vertreter der Arbeitnehmerschaft sowie eine Festigung ihrer Stellung in Staat und Wirtschaft erreichten die Gewerkschaften durch die Art. 159 und 169 der Weimarer Verfassung, die Tarifvertragsordnung vom 23.12.1918, die Schlichtungsverordnung vom 23.12.1918 und das Betriebsrätegesetz vom 4.2.1920. Die Mitgliederentwicklung der Gewerkschaften ist in Tabelle 3.2 dargestellt. Wenngleich die sozialistischen Gewerkschaften – programmatisch – marxistisch-klassenkämpferisch eingestellt waren und die gleiche ideologische Basis hatten wie die sozialdemo63

§ 152 GewO lautete: „Alle Verbote und Strafbestimmungen gegen Gewerbetreibende, gewerbliche Gehilfen, Gesellen oder Fabrikarbeiter wegen Verabredungen und Vereinigungen zum Behufe der Erlangung günstiger Lohn- und Arbeitsbedingungen, insbes. mittels Einstellung der Arbeit oder Entlassung der Arbeiter, werden aufgehoben. Jedem Teilnehmer steht der Rücktritt von solchen Vereinigungen und Verabredungen frei, und es findet aus letzterem weder Klage noch Einrede statt.“ 64 Halbherzig war die Anerkennung, weil § 153 GewO zwar eine Strafe für den Fall vorsah, dass jemand einen anderen nötigte, sich einer Koalition anzuschließen oder ihn hindern wollte, von einer Koalition zurückzutreten, nicht aber andererseits auch die Verhinderung des Beitritts zu einer Koalition oder die Nötigung, aus einer Koalition auszutreten, unter Strafe stellte. § 153 lautete: „Wer andere durch Anwendung körperlichen Zwanges, durch Drohungen, durch Ehrenverletzung oder durch Verrufserklärung bestimmt oder zu bestimmen versucht, an solchen Verabredungen (§ 152) teilzunehmen, oder ihnen Folge zu leisten, oder andere durch gleiche Mittel hindert oder zu hindern versucht, von solchen Verabredungen zurückzutreten, wird mit Gefängnis bis zu drei Monaten bestraft, sofern nach dem Allgemeinen Strafgesetz nicht eine härtere Strafe eintritt.“ 65 Zur Entwicklung der Koalitionsfreiheit vgl. Hueck/Nipperdey 1970 sowie Hentschel 1991. 66 Das Sozialistengesetz galt zwar nicht unmittelbar für Gewerkschaften, aber das preußische Obertribunalgericht hatte Gewerkschaften in die Kategorie politischer Vereine eingeordnet. Die Zentralverbände wurden daher aufgelöst, ihre Zeitungen verboten. Vgl. dazu Furtwängler 1956, S. 15. Dass die sozialistischen Gewerkschaften durch das Sozialistengesetz betroffen wurden, war allein schon eine Folge der Tatsache, dass viele Führungspersönlichkeiten der Partei auch Gewerkschaftsmitglieder mit führenden Funktionen waren. 67 Vgl. dazu Brakelmann 1971, S. 100 sowie den Versuch, die gewerkschaftliche Wirksamkeit durch die sogenannte „Zuchthausvorlage“ zu beschneiden. Ein Gesetzentwurf der Reichsregierung vom 26. Mai 1899 hatte den von Wilhelm II. angekündigten Zweck, jeden, „er möge sein, was er will und heißen, wie er will, der einen deutschen Arbeiter, der willig wäre, seine Arbeit zu vollführen, daran zu verhindern versucht oder gar zu einem Streik anreizt“, mit Zuchthaus bis zu drei Jahren, im Falle der Rädelsführerschaft sogar mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren zu bestrafen. Der Reichstag hat die Vorlage abgelehnt. Vgl. dazu Herkner 1922, Bd. 2, S. 228 f. 68 In der turbulenten Umbruchzeit des Jahres 1918 schlossen die Spitzenverbände der Arbeitgeber und der Gewerkschaften am 15.11.1918 ein Abkommen, in dem sie sich zu einer „Zentralarbeitsgemeinschaft“ zusammenschlossen. Dieser Zentralarbeitsgemeinschaft und damit auch den Gewerkschaften ist es zu verdanken, dass die Revolution im Deutschen Reich die Grundlagen der Wirtschaft und die Grundlagen der weiteren wirtschaftlichen Entwicklung nicht zerstörte.

3.2 Soziale Bewegungen

55

kratische Arbeiterpartei, so waren die Gewerkschaften doch betont auf ihre Unabhängigkeit bedacht, lehnten jede Bevormundung durch die Partei ab und schätzten die Erringung der vollen Anerkennung als Tarifvertragspartei höher ein als das Festhalten am Klassenkampfgedanken (Bechtel 1956, S. 314). Die christlichen Gewerkschaften verstanden sich als antisozialistische Verbände. Sie lehnten den Klassenkampfgedanken ab, betonten die Partnerschaft zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern und wollten den Streik nur als letztes Mittel der Auseinandersetzung einsetzen. Trotz ihrer antisozialistischen Einstellung wurden aber auch die christlichen Gewerkschaften von den Unternehmern so schroff abgelehnt wie die freien Gewerkschaften (Bechtel 1956, S. 315). Tabelle 3.2: Die Mitgliederentwicklung der Gewerkschaften (1869-1919) Jahr

Freie Gewerkschaften

Christliche Gewerkschaften

HirschDuncker’sche Gewerkschaften

(1)

(2)

(3)

(4)

1869 1872 1878 1887 1890 1895 1900 1905 1910 1913 1918 1919

1 2 2 2 7

47 19 56 95 294 255 680 344 017 548 866 337

192 695 275 106 551 521 427 803 298 763 012 477

5 76 191 316 341 538 1 000

500a 744 690 115 735 559 770

30 18 16 53 62 66 91 116 122 106 113 189

000 803 525 691 643 759 661 143 571 618 792 831

a 1894 gegründet. Quelle: Hohorst/Kocka/Ritter 1978, S. 135 f.

Qualitativ und quantitativ eine ganz andere Rolle als die freien und die christlichen Gewerkschaften spielten die liberalen Gewerkschaften, zu denen die Hirsch-Dunker’schen und die „gelben“ Gewerkschaften zu zählen sind. Die Hirsch-Dunker’schen Gewerkschaften verzichteten auf den Streik, waren auf die Harmonie der Interessen des Kapitals und der Arbeit bedacht und wollten zu allmählicher friedlicher Verbesserung der Lebenshaltung der Arbeiter beitragen. Die gelben oder wirtschaftsfriedlichen Gewerkschaften waren im Einvernehmen mit den Arbeitgebern gegründete betriebsgebundene Gewerkvereine. Ihre Bedeutung war noch geringer als die der Hirsch-Dunker’schen Gewerkschaften. Die sozialistischen und die christlichen Gewerkschaften wirkten in dreifacher Weise als Triebkraft der sozialen und sozialpolitischen Entwicklung: 1. durch ihre Organisations- und Integrationsleistung, die darin bestand, dem geistig und politisch orientierungs- und führungslosem Proletariat die Grundlage zur Solidarisierung, zur Selbsthilfe und zur Artikulation sowie zur Durchsetzung ihrer wirtschafts- und sozialpolitischen Interessen geschaffen zu haben;

56

3 Akteure der sozialpolitischen Entwicklung

2. durch zahlreiche Selbsthilfemaßnahmen, die letztlich politisch stabilisierend wirkten und Vorbild für staatliche sozialpolitische Maßnahmen wurden;69 3. durch arbeitsmarktpolitische und allgemeinpolitische Aktivitäten. Die arbeitsmarktpolitisch bedeutsamste Leistung der Gewerkschaften liegt in der Durchsetzung ihrer Anerkennung als Tarifvertragspartei und damit in der Ergänzung und Abstützung des individuellen Arbeitsvertragsrechtes durch das kollektive Arbeitsvertragsrecht (vgl. dazu S. 175 ff.) sowie in der Transformation der Arbeitsmärkte (vgl. dazu S. 161).

3.2.4 Die Genossenschaften Zu einem bedeutenden Instrument der solidarischen Selbsthilfe und zu einem wirksamen Teil der sozialen Bewegung wurden auch die neuzeitlichen Genossenschaften70 , die in Deutschland um die Mitte des vorigen Jahrhunderts entstanden und sich in der zweiten Jahrhunderthälfte entfalteten. Vor allem die Konsumgenossenschaften, weniger dagegen die Produktivgenossenschaften und die Wohnungsbaugenossenschaften, wurden neben der politischen und der gewerkschaftlichen Organisationsform zur dritten Form proletarischer Massenorganisationen. Sie waren aber nicht nur Instrument solidarischer Selbsthilfe für die Arbeiter, sondern in Gestalt gewerblicher und ländlicher Waren- und Kreditgenossenschaften auch Mittel zur Verbesserung der durch den verschärften Wettbewerb, industrielle Produktionsweisen und Strukturwandel beeinträchtigten wirtschaftlichen Lage von Handwerkern, Händlern und Landwirten. In Deutschland wurden Hermann Schulze-Delitzsch (1808 – 1883)71 als Begründer der gewerblichen Genossenschaften und der Kreditgenossenschaften, Friedrich Wilhelm Raiffeisen (1818 1888)72 , Victor Aimé Huber (vgl. dazu S. 43) und zahlreiche andere Persönlichkeiten Träger der Genossenschaftsbewegung. 69

Die Selbsthilfemaßnahmen der Gewerkschaften umfassten vor allem folgende Leistungen für ihre Mitglieder:

a. die Zahlung von Reisegeld und Umzugsunterstützung, wenn eine Reise oder Übersiedlung durch Arbeitslosigkeit, Streik oder Maßregelung von Arbeitnehmern durch den Arbeitgeber verursacht war; b. die Zahlung von Erwerbslosenunterstützung, die in der Regel vom achten Tag der Arbeitslosigkeit an unter der Voraussetzung der Arbeitswilligkeit gewährt wurde; c. die Zahlung von Krankenbeihilfen und von Sterbegeld; d. Unterstützung bei von den Gewerkschaften anerkannten Arbeitsniederlegungen und bei Aussperrungen sowie Bezahlung von Gemaßregelten–Unterstützung; e. die Gewährung von unentgeltlichem Rechtsschutz; f. die unentgeltliche Gewährung von Bildungsmitteln und Bildungsmöglichkeiten. 70

Vgl. dazu die folgende allgemeinere Genossenschaftsliteratur: Albrecht 1965, Faust 1977, Grünfeld/ Hildebrand 1929 sowie Zerche/Schultz 2000. 71 Schulze-Delitzsch hatte sich als Abgeordneter der Preußischen Nationalversammlung seit 1848 auf Handwerker- und Arbeiterfragen spezialisiert. Er gründete 1849 in Delitzsch außer einer Kranken- und Sterbekasse eine Assoziation der Schuhmacher und der Tischler als Rohstoffbezugs-„Assoziationen“ und 1856 einen „Vorschußverein“, die erste Kreditgenossenschaft Deutschlands. Vgl. zu Schulze-Delitzsch Heuss 1956 sowie ders.: Schulze-Delitzsch, in: HdSW 1956, Bd. 9, S. 149 f. 72 Raiffeisen ist der Begründer der deutschen landwirtschaftlichen Genossenschaften und hat, ähnlich wie Schulze-Delitzsch, Kreditgenossenschaften initiiert. Vgl. zu Raiffeisen: Th. Sonnemann: Raiffeisen, Friedrich Wilhelm, in: HdSW 1964, Bd. 8, S. 668-670.

3.2 Soziale Bewegungen

57

Genossenschaften lassen sich definieren als freiwillig zustandegekommene, offene Personenvereinigungen, die durch personelle, auf dem Gleichheitsgrundsatz73 und auf dem Grundsatz solidarischer Selbsthilfe beruhende Kooperation durch die Errichtung und den Betrieb eines gemeinsamen Geschäftsbetriebes das Ziel verfolgen, die Mitglieder vor allem wirtschaftlich zu fördern. Da dieses Ziel, die wirtschaftliche und soziale Lage wirtschaftlich abhängiger und bedrohter Schichten auch ein von der staatlichen Sozialpolitik verfolgtes Ziel ist, sind Genossenschaften Träger sozialpolitischer Aktivitäten. Konsumgenossenschaften, an denen sich in erster Linie Arbeiter beteiligten, entstanden erst in den 1880er Jahren. 1903 waren im Hamburger Zentralverband deutscher Konsumvereine 666 Genossenschaften mit 1 597 Verteilungsstellen und 573 000 Mitgliedern zusammengeschlossen. 1928 waren in dem genannten Verband 1 024 Genossenschaften mit 9 605 Verteilungsstellen und 2 870 000 Mitgliedern verbunden. Dazu kamen noch 276 Genossenschaften mit 2 212 Verteilungsstellen und 790 000 Mitgliedern, die im Kölner Reichsverband deutscher Konsumvereine zusammengeschlossen waren (Albrecht 1965, S. 53 f.). Ziele der Konsumgenossenschaften waren seinerzeit • die Erhöhung der Realeinkommen der Arbeiter durch das aufgrund des Großeinkaufs preiswerte Gütersortiment, • der Schutz der Arbeiter vor qualitativ und preislich unzulänglichen Einzelhandelsangeboten, • die Erziehung der Mitglieder zu wirtschaftlicher Haushaltsführung durch strikte Einhaltung des Prinzips der Barzahlung und • die Vermeidung von Ausbeutung der Arbeiter durch Einzelhändler, die die aus der Zahlungsunfähigkeit der Arbeiter resultierende Notwendigkeit zum Kauf auf Kredit oft ausnützten und hohe Zinsen verlangten. Die Produktivgenossenschaften haben in Deutschland kaum Bedeutung erlangen können, weil sie „innere“ Widersprüche nicht überwinden konnten. Produktivgenossenschaften sind Genossenschaften, in denen die Arbeitskräfte in Personalunion Arbeiter und Unternehmer sind. In dieser Identität von Mitgliedern als Eigenkapitalgeber und Unternehmer einerseits und Arbeitskraft andererseits liegt die zentrale Schwäche dieses Genossenschaftstyps.74 Erfolgreicher als die Produktivgenossenschaften entwickelten sich die Anfang der 1870er Jahre entstandenen Arbeiter-Wohnungsgenossenschaften, die das Ziel hatten, die Wohnungsnot (vgl. dazu S. 20 f.) zu mildern. Mit Hilfe der von den Arbeitern erworbenen genossenschaftlichen Geschäftsanteile bauten die Wohnungsgenossenschaften Häuser, die im Eigentum der Genossenschaft blieben und zu günstigen Mieten an die Mitglieder vermietet wurden. Der Erfolg der Baugenossenschaften wurde dadurch gefördert, dass nach der Verabschiedung des Alters- und Invalidenversicherungsgesetzes i. J. 1889 Mittel der Alters- und Invalidenversicherung im genossenschaftlichen Wohnungsbau angelegt werden konnten. Nicht zuletzt deswegen stieg die Zahl der Wohnungsgenossenschaften von 60 i. J. 1890 auf 361 i. J. 1900 und auf 764 i. J. 1908.

73

In der Generalversammlung der eingetragenen Genossenschaft gilt das Prinzip „Ein Mann – Eine Stimme“, d. h. dass ein Mitglied unabhängig von der wirtschaftlichen Größe seines Betriebes eine Stimme hat. 74 Vgl. dazu die Kritik der Produktivgenossenschaft durch Oppenheimer 1965, S. 953 f.

58

3 Akteure der sozialpolitischen Entwicklung

Tabelle 3.3: Zeittafel zur Geschichte der sozialen Bewegungen 1833 1845 1845 1847

Gründung des Rauen Hauses in Hamburg-Horn durch Johann Heinrich Wichern Friedrich Engels veröffentlicht „Die Lage der arbeitenden Klassen in England“ Kolping gründet katholische Gesellenvereine Kolping wird Präses des Gesellenvereins in Elberfeld (1850 „Rheinischer Gesellenbund“) 1848 Wichern: Gründung der „Inneren Mission“ 1848 Karl Marx veröffentlicht das „Kommunistische Manifest“ 1848 Wilhelm Emanuel von Kettelers Predigten in Mainz über soziale Fragen 1849 Adolf Kolping gründet in Köln katholischen Gesellenverein 1849 Schulze-Delitzsch gründet Genossenschaften 1860 ff. Gründung christlich-sozialer Arbeitervereine (katholisch) 1863 Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins unter maßgeblicher Mitwirkung von August Bebel und Karl Liebknecht in Eisenach (Eisenacher) 1870 Gründung des Zentrums; in ihm wirkten als katholische Sozialpolitiker Georg von Hertling und Franz Hitze 1872 Gründung des Vereins für Socialpolitik (Kathedersozialisten) 1873 Abschluss des 1. Tarifvertrags (Buchdruckertarif) 1875 Vereinigung der „Lassalleaner“ und „Eisenacher“ zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands in Gotha (Gothaer Programm) 1877 Gründung des „Zentralvereins für Sozialreform“ durch Rudolf Todt, Rudolf Meyer, Adolf Stöcker und Adolph Wagner 1878 Gründung der Christlich-Sozialen Arbeiterpartei durch Adolf Stöcker in Berlin 1884 Papst Leo XIII. empfiehlt Gründung katholischer Arbeitervereine 1890 Gründung des „Gesamtverbandes Evangelischer Arbeitervereine Deutschlands“ in Berlin 1891 Sozialenzyklika Leos XIII. „Rerum novarum“ 1893 Gründung des Deutschnationalen Handlungsgehilfenverbandes 1894 Gründung der christlichen Gewerkschaften 1896 National-sozialer Verein (Friedrich Naumann) 1899 Gründung der evangelischen Frauenhilfe und des deutsch-evangelischen Frauenbundes 1899 Gründung des Gesamtverbandes christlicher Gewerkschaften 1901 Gründung der „Gesellschaft für Sozialreform“ durch christliche Sozialpolitiker 1918 Zentralarbeitsgemeinschaft zwischen Unternehmern und Arbeitnehmern

Kapitel 4

Geschichte der sozialpolitischen Gesetzgebung in Deutschland

Die folgende Darstellung der Geschichte staatlicher Sozialpolitik1 verfolgt drei Ziele. Sie soll erstens einen Einblick in die sozialen Zustände vermitteln, die sozialpolitisch verändert werden mussten, zweitens Entwicklungslinien und Konzeptionen der Sozialpolitik erkennen lassen und drittens durch die Darstellung der wesentlichen Ziele und Instrumente der Sozialpolitik eine systematische Darstellung der Bereiche sozialpolitischen Handelns vorbereiten. In einer solchen Darstellung sind nicht nur Sozialgesetze, sondern auch sozialpolitisch relevante Gesetze zu berücksichtigen, die – wie z.B. das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen – zwar nicht primär die Lösung sozialpolitischer Probleme zum Ziele haben, aber doch ihrer sozialpolitischen Wirkungen wegen bedeutsam sind. Eine Geschichte der sozialpolitischen Gesetzgebung, die Wert auf Geschlossenheit und Vollständigkeit legt, müsste für die Zeit vor der Gründung des Deutschen Reichs 1871 auf die sozialpolitische Gesetzgebung der deutschen Länder (u.a. Preußen, Bayern, Sachsen, Baden, Württemberg, Hessen) eingehen. Da aber die Entwicklung in diesen Ländern hinsichtlich der wesentlichen Inhalte übereinstimmend verlief, kann das bis zur Reichsgründung in der Sozialgesetzgebung besonders aktive Preußen als repräsentativer Teil Deutschlands behandelt werden. Die deutsche Geschichte der Sozialpolitik lässt sich in folgende Epochen einteilen, die durch markante Ereignisse voneinander abgrenzbar sind und deren Sozialpolitik charakteristische Merkmale aufweist:2 1. die Zeit von den Anfängen staatlicher Sozialpolitik bis zur Entlassung Bismarcks (1839 1890); 2. die Zeit von der Entlassung Bismarcks bis zum Ende des Ersten Weltkriegs (1890 - 1918); 1

Zur Geschichte staatlicher Sozialpolitik vgl. Henning 1995; Gladen 1974; Tennstedt 1981; Hentschel 1991 und die einschlägigen Kapitel der „Deutsche(n) Gesellschaftsgeschichte“ von Wehler 2009, Dritter Band (1849 - 1914) und Vierter Band (1914 - 1949). Vgl. zur Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland insbes. auch Bd. 1 (Von der vorindustriellen Zeit bis zum Ende des Dritten Reiches), Bd. 2 (Deutsche Demokratische Republik) und Bd. 3 (Bundesrepublik bis zur Herstellung der Deutschen Einheit) von Frerich 1996. Ähnlich wie in diesem Lehrbuch werden in der ausführlicheren und detaillierteren Darstellung in Frerich/Frey 1996 das jeweilige politisch-administrative System sowie die jeweiligen gesamtwirtschaftlichen und gesamtgesellschaftlichen Zusammenhänge berücksichtigt. Vgl. zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik von 1867 - 1914 auch die Quellensammlung von Born 1976 und zur Geschichte der Sozialpolitik in der Bundesrepublik: Die große Buchreihe des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (2011): Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945 (11 Bände). 2 Vgl. dazu auch Hockerts 2010.

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© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2021 J. Althammer et al., Lehrbuch der Sozialpolitik, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56258-1_4

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4 Geschichte der sozialpolitischen Gesetzgebung in Deutschland

3. die Zeit der Weimarer Republik (1919 - 1932); 4. die Zeit des Dritten Reiches (1933 - 1945); 5. die Zeit seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland. Für jede dieser Perioden werden im Folgenden zunächst die wirtschaftlichen und politischen Bedingungen verdeutlicht, die die Sozialpolitik beeinflussten, dann wird die Sozialgesetzgebung beschrieben und anschließend werden die Merkmale herausgestellt, die die Sozialpolitik charakterisierten.

4.1 Die Anfänge der Sozialgesetzgebung bis zur Entlassung Bismarcks (1839 - 1890) 4.1.1 Wirtschaftlicher und politischer Hintergrund Das halbe Jahrhundert zwischen 1839 und 1890 umfasst die von Friedrich-Wilhelm Henning (1995, S. 111 und S. 203) in die Jahre 1835 bis 1873 gelegte „erste Industrialisierungsphase“ und einen Teil der bis 1914 reichenden Phase des „Ausbaues der Industrie“. Tabelle 4.1 zeigt ausgewählte volkswirtschaftliche Indikatoren für diesen Zeitraum. Dieses halbe Jahrhundert ist gekennzeichnet durch: 1. den Übergang von der handarbeitsorientierten zur maschinenorientierten Tätigkeit und den Ausbau des Eisenbahnwesens, des Straßennetzes und der Binnenschifffahrtsstraßen. Dies schlug sich in Nettoinvestitionsquoten nieder, die zwischen 7 und 12 % und nach 1870 durchgängig über 10 % lagen; 2. die Zunahme der Beschäftigten von rd. 15 Mio. auf rd. 21 Mio. bei gleichzeitigem Wandel der Beschäftigtenstruktur, nämlich einer Abnahme der in der Landwirtschaft Beschäftigten und einer Zunahme der in der Industrie Beschäftigten; 3. Wachstumsraten des realen Sozialproduktes, die im Fünfjahresdurchschnitt zwischen 0,8 und 4,1 % lagen und zu einer Verdoppelung des realen Sozialproduktes im betrachteten Zeitraum führten.

10 11 13 15 18 21 21 25 29 35 30 45 50

762 597 931 508 676 132 958 661 596 895 070 495 215

1,6 4,0 2,3 4,1 2,6 0,8 3,4 3,1 4,3 1,8 3,3 2,1

7.9 6,7 11,0 9,5 10,9 11,1 10,3 11,8 12,7 15,0 13,5 15,0 15,5

45,2 44,3 44,9 42,4 37,9 36,7 36,2 35,3 32,2 30,8 29,0 26,0 23,4

21,2 22,7 23,8 26,8 31,7 32,8 32,5 34,1 36,8 38,5 39,8 41,9 44,6

33,6 33,0 31,3 30,8 30,4 30,5 31,3 30,6 31,0 30,7 31,2 32,1 32,0

54,6 49,1 48,2 45,5 42,6 40,0 38,0 35,8 35,1

15 126 19 416c 19 992 21 302 22 651 24 277 26 043 28 047 30 243

29,1 29,8 32,3 34,2 35,7 36,8 37,7 37,9

25,2

Nettosozial- Jahresdurch- Nettoinvesti- Anteil einzelner Sektoren am NSP Beschäftigte produkt in schnittliche tionsquote Preisen von Wachstums1913 in Mio. rate RM Primärer Sekundärer Tertiärer absolut in Primärer Sekundärer 1.000 Sektor Sektor Sektorb Sektor Sektora

b

Bergbau und Salinen, Industrie und Handwerk. Verkehr, Handel, Banken, Versicherungen, Gaststätten, häusliche Dienste, sonstige Dienstleistungen, Verteidigung, Wohnungen. c 1878/79 Quelle: Hoffmann 1965, S. 33, S. 35, S. 104 und S. 105.

a

1850/54 1855/59 1860/64 1865/69 1870/74 1875/79 1880/84 1885/89 1890/94 1895/99 1900/04 1905/09 1910/13

Periode

Tabelle 4.1: Reales Nettosozialprodukt, Nettoinvestitionsquote, Wertschöpfungs- und Beschäftigtenstruktur im Deutschen Reich 1850 bis 1913 (Jahresdurchschnittswerte)

4.1 Die Anfänge der Sozialgesetzgebung bis zur Entlassung Bismarcks (1839 - 1890) 61

62

4 Geschichte der sozialpolitischen Gesetzgebung in Deutschland

Die wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Entwicklung staatlicher Sozialpolitik waren also nicht ungünstig. Vor der Reichsgründung gab es trotz der 1848 erfolgenden Entstehung politischer Parteien bis zum Jahre 1863 keine Arbeiterpartei. In den Parlamenten bzw. den Ständevertretungen der Länder dominierten noch die Adeligen, die Großgrundbesitzer und die Beamten. Selbst Kaufleute, Gewerbetreibende und Industrielle waren schwach vertreten (Jaeger 1967, S. 26 ff.). Die politischen Voraussetzungen für die Entwicklung staatlicher Sozialpolitik waren also ungünstig.

4.1.2 Die Sozialgesetzgebung Während der ersten Industrialisierungsphase lässt sich eine eindeutige Konzentration der sozialpolitischen Aktivität des Staates auf Maßnahmen des Arbeitnehmerschutzes feststellen. In weitgehender Entsprechung zu der in den Jahren 1802 bis 1847 in England entwickelten Arbeiterschutzgesetzgebung begann auch die deutsche Sozialpolitik mit einem Arbeitnehmerschutzgesetz, nämlich mit dem am 09.03.1839 erlassenen preußischen Regulativ über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in Fabriken.3 Es wurde 1853 verbessert.4 Wie bereits erwähnt (vgl. S. 36), lag ein wesentlicher Anstoß zu diesem ersten deutschen sozialpolitischen Gesetz im Rückgang der Wehrtauglichkeit der aufgrund der Fabrikarbeit gesundheitsgeschädigten Jugendlichen. Eine sachliche Ausweitung des auf den Kinder- und Jugendschutz beschränkten Arbeitnehmerschutzes hin zu einem allgemeinen Schutz der Arbeitnehmer vor Gefahren, die aus der Arbeitsausübung erwachsen, brachte die Preußische allgemeine Gewerbeordnung vom 17.01.1845. Sie verpflichtete die Gewerbetreibenden zur Rücksichtnahme auf Gesundheit und Sittlichkeit der Beschäftigten. Mit der Ergänzung der Gewerbeordnung durch ein Truckverbot für Fabrikarbeiter, d.h. ein Verbot der Entlohnung der Arbeiter durch Waren anstelle von Barlöhnen, begann 1849 der Lohnschutz.5 Die wesentlichen Vorschriften der von den deutschen Ländern entwickelten Arbeitsschutzgesetzgebung wurden in die Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund vom 21.07.1869 aufgenommen und später Reichsrecht. Die Novellierung dieser Gewerbeordnung6 brachte erstmals einen besonderen Arbeitsschutz für Frauen, der die Beschäftigung von Frauen in Bergwerken und an Arbeitsplätzen mit schwersten Arbeitsbedingungen verbot und einen bescheidenen Mutterschutz enthielt. 3

Das für alle Bergwerke, Fabriken, Poch- und Hüttenwerke geltende Gesetz verbot die Beschäftigung von Kindern unter 9 Jahren, verlangte für beschäftigte Jugendliche den Nachweis einer dreijährigen Schulausbildung, begrenzte die Arbeitszeit Jugendlicher unter 16 Jahren auf 10 Stunden täglich unter Einschluss einer eineinhalbstündigen Pause und verbot die Beschäftigung Jugendlicher zwischen 21 Uhr und 5 Uhr sowie an Sonn- und Feiertagen. 4 Das Gesetz, betreffend einige Abänderungen des Regulativs vom 09.03.1839 über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in den Fabriken (Gesetz über Fabrikinspektoren) vom 16.05.1853 erhöhte das Mindestalter für Kinderarbeit von 9 auf 12 Jahre, setzte die Arbeitszeit von Kindern zwischen 12 und 14 Jahren auf täglich 6 Stunden fest und sah – entsprechend der Erfahrung, dass ohne Gewerbeaufsicht die Durchführung des Arbeiterschutzes unzulänglich bleiben musste – eine fakultative staatliche Gewerbeaufsicht vor, die 1878 durch das Gesetz zur Abänderung der Gewerbeordnung vom 17.07.1878 obligatorisch gemacht wurde. 5 Verordnung, betreffend die Errichtung von Gewerberäthen und verschiedene Abänderungen der Allgemeinen Gewerbeordnung vom 09.02.1849. 6 Gesetz zur Abänderung der Gewerbeordnung vom 17.07.1878.

4.1 Die Anfänge der Sozialgesetzgebung bis zur Entlassung Bismarcks (1839 - 1890)

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Während sich der Bereich des Arbeitnehmerschutzes in der ersten Hälfte des 19. Jh. erkennbar entwickelte, gab es bis in die 1880er Jahre kaum nennenswerte Maßnahmen im Bereich der Armenfürsorge und der sozialen Sicherung. Vor der Industrialisierung und in der ersten Industrialisierungsphase wurden die dringlichsten Lebensbedürfnisse durch die kommunale oder kirchliche Armenfürsorge sichergestellt. Die Armenfürsorge richtete sich an Personen, die keinen Arbeitsvertrag, kein Eigentum und keine Familie hatten. Die Unterstützungen waren so niedrig, „daß die Bevölkerung in ihrem Bestreben, für sich selbst zu sorgen, nicht lässig wird. Von diesem Gesichtspunkte aus darf die Lage des Unterstützten nicht über das Niveau des ärmsten selbständigen Arbeiters erhoben werden“ (Tennstedt 1981, S. 87 f.). Die Leistungen der Armenpflege, für die die Gemeinden zuständig waren, waren aber nicht nur aus sozialpädagogischen Überlegungen gering gehalten, sondern vor allem, weil die Gemeinden finanziell überfordert waren. Das Gesetz über die Verpflichtung zur Armenpflege vom 31.12.1842, das in Verbindung mit dem Gesetz über die Aufnahme neu anziehender Personen vom gleichen Tag eine Versorgungspflicht der Ortsarmenverbände nicht mehr erst nach Ablauf einer mehrjährigen Wartefrist vom Zeitpunkt des Zuzuges an, sondern schon unmittelbar mit der Begründung eines neuen Wohnsitzes eintreten ließ, musste wegen der eingetretenen Überforderungen der Gemeinden wieder eingeschränkt werden. Daher wurde 1855 die öffentliche Pflicht zur Armenpflege von einem einjährigen Aufenthalt am neuen Wohnort abhängig gemacht. Eine Sicherung der Arbeiter vor den wirtschaftlichen Folgen einer Krankheit hatte man in der Gewerbeordnung von 1845 dadurch zu erreichen versucht, dass die Gemeinden durch ein Statut jeden am Ort beschäftigten Handwerksgesellen oder -gehilfen zum Eintritt in eine bestehende Ortskasse zwingen und beitragspflichtig machen konnten (Claßen 1962, S. 68 ff.). Damit war der Anfang für die neuzeitliche Zwangsversicherung gemacht. Fabrikarbeiter konnten diesen Hilfskassen beitreten. Eine entscheidende Neuerung brachte die Verordnung vom 09.02.1849 zur Änderung der Gewerbeordnung. Sie machte es möglich, durch Ortsstatuten auch die Arbeitgeber zu Zuschüssen bis zur halben Höhe der Arbeitnehmerbeiträge zu verpflichten. Die den Gemeinden eröffneten Möglichkeiten wurden kaum genutzt. Auch die Verbesserung der gesetzlichen Grundlagen für die Bildung von Hilfskassen führte zu keiner nennenswerten Sicherung der Arbeiter gegen Notfälle (vgl. Peters 1978). Als sozialpolitisch relevante Gesetzesnormen ragen in der bis in die 1870er Jahre reichenden industriellen Aufbauphase hervor: der in der preußischen Gewerbeordnung von 1845 verankerte Grundsatz der Gewerbefreiheit, die Einführung der Niederlassungsfreiheit in Preußen 1842 und die Einführung des allgemeinen, direkten und geheimen Wahlrechts durch Bismarck in die Verfassung des Norddeutschen Bundes von 1867, das dann in die Reichsverfassung übernommen wurde. Die Bedeutung der Einführung des allgemeinen, direkten und geheimen Wahlrechtes für die Entwicklung der Sozialpolitik ist kaum zu überschätzen. Denn damit war nicht nur eine erste Anerkennung demokratischer Prinzipien auch in Deutschland verbunden. Sie schuf vielmehr die Möglichkeit für die sozialistischen Parteien, ihre sozialpolitischen Ziele auf parlamentarischem Weg zu verfolgen und sie durch die Sozialgesetzgebung schrittweise zu verwirklichen. Die Erstarkung der Arbeiterbewegung war auch einer der Hauptgründe für den Aufbau von Sozialversicherungseinrichtungen in den 1880er Jahren – neben der gewachsenen Einsicht in die Notwendigkeit der Verbesserung der sozialen Lage der Arbeiter. Die Sozialversicherungsgesetzgebung war in der „Kaiserlichen Botschaft“ von Kaiser Wilhelm I. vom 17.11.1881 angekündigt worden. Sie ging aus von der Überzeugung, „daß die Heilung der sozialen Schäden nicht aus-

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4 Geschichte der sozialpolitischen Gesetzgebung in Deutschland

schließlich im Wege der Repression sozialdemokratischer Ausschreitungen, sondern gleichmäßig auf dem der positiven Förderung des Wohles der Arbeiter zu suchen sein werde“. Den inneren Zusammenhang zwischen der Sozialversicherungsgesetzgebung und dem Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie („Sozialistengesetz“) aus dem Jahre 1878 bestätigt nicht nur die Kaiserliche Botschaft von 1881, sondern auch die Reichstagsrede Bismarcks vom 15.03.1884: „Bei Einbringung des Sozialistengesetzes hat die Regierung [...] Versprechungen gegeben dahin, daß als Korollär dieses Sozialistengesetzes die ernsthafte Bemühung für eine Besserung des Schicksals der Arbeiter Hand in Hand mit demselben gehen sollte. Das ist meines Erachtens das Komplement für das Sozialistengesetz.“ Die drei Säulen der Sozialversicherung wurden geschaffen durch: 1. das Gesetz, betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter vom 15.06.1883; 2. das Unfallversicherungsgesetz vom 06.07.1884; 3. das Gesetz, betreffend die Invaliditäts- und Alterssicherung vom 22.07.1889.7 Das Krankenversicherungsgesetz unterwarf die gegen Lohn und Gehalt beschäftigten Personen in Industrie, Handwerk, Handel, Binnenschifffahrt und bestimmten Dienstleistungsbetrieben bis zu einer bestimmten Einkommensgrenze einer Versicherungspflicht. Die Beiträge – maximal auf 6 % des Arbeitsverdienstes beschränkt – wurden zu 2/3 von den Arbeitern, zu 1/3 von den Arbeitgebern aufgebracht. Als Mindestleistungen waren freie ärztliche Behandlung, unentgeltliche Versorgung mit Arzneimitteln, Krankengeld vom dritten Tag der Erkrankung an in Höhe von mindestens 50 % des beitragspflichtigen Lohnes bis zu maximal 13 Wochen und Wöchnerinnenunterstützung während mindestens 4 Wochen nach der Niederkunft vorgesehen. Die Einbeziehung von Familienangehörigen war nicht obligatorisch, durch Statut der einzelnen Kassen aber möglich. Das Unfallversicherungsgesetz, im Wesentlichen zunächst auf Industriebetriebe beschränkt, führte ebenfalls eine Versicherungspflicht ein. Es zwang die Unternehmer, auf ihre Kosten ihre Arbeiter und die Angestellten mit weniger als 2 000 Reichsmark Jahreseinkommen in selbstverwalteten Berufsgenossenschaften gegen Unfälle zu versichern. Die für einzelne Gewerbezweige zuständigen Berufsgenossenschaften hatten den im Betrieb verunglückten Versicherten oder ihren Hinterbliebenen nach Ablauf der gesetzlichen Krankenfürsorge eine verdienstbezogene Rente zu gewähren. Die Berufsgenossenschaften erhielten die Befugnis, Vorschriften zur Verhütung von Unfällen zu erlassen. Das Invaliditäts- und Alterssicherungsgesetz machte alle Arbeiter vom 16. Lebensjahr an versicherungspflichtig. Die Mittel der Versicherung wurden durch einen Reichszuschuss und durch gleich hohe Beiträge der Arbeitgeber und der Versicherten aufgebracht. Ein Rentenanspruch entstand entweder, wenn der Versicherte erwerbsunfähig wurde8 und fünf Beitragsjahre zurückgelegt hatte oder wenn er das 70. Lebensjahr vollendet und dreißig Beitragsjahre zurückgelegt hatte. Witwen- und Waisenrenten gab es seinerzeit noch nicht. Die Leistungen der Kranken-, Invaliditäts- und Alterssicherung waren zwar – gemessen an den vorhergehenden Zuständen – ein bedeutender Fortschritt, aber in vielen Fällen zur Existenzsicherung bei weitem nicht ausreichend. 7

Vgl. zum sozialgeschichtlichen Hintergrund dieser Sozialversicherungsgesetzgebung Tennstedt 1981 S. 169 187 und Wehler 2009. 8 Als erwerbsunfähig galt ein Arbeitnehmer, wenn er nicht mehr als 1/6 dessen verdienen konnte, was ein vergleichbarer Arbeitnehmer verdiente.

4.1 Die Anfänge der Sozialgesetzgebung bis zur Entlassung Bismarcks (1839 - 1890)

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4.1.3 Charakteristische Merkmale der staatlichen Sozialpolitik Die staatliche Sozialpolitik der Jahre 1839 - 1890 trägt folgende fünf charakteristische Merkmale: sie war 1. 2. 3. 4. 5.

quantitativ bescheiden, prioritätengerecht, Arbeiterpolitik, Schutzpolitik und repressiv-staatsautoritär.

Quantitativ bescheiden war sie, weil sie nur geringe Teile der abhängig Beschäftigten erfasste. So erstreckte sich der Arbeitnehmerschutz und die Sozialversicherung nicht auf alle Schutzbedürftigen, sondern nur auf die Arbeiter. Darüber hinaus waren die Geldleistungen gering (Hentschel 1991, S. 12). Als prioritätengerecht kann sie bezeichnet werden, weil die Arbeitnehmerschutzpolitik auf den Schutz der wichtigsten Existenzgrundlage des Arbeiters, seine Arbeitskraft, gerichtet war. Dieser Arbeitnehmerschutz konzentrierte sich zunächst auf die schwächste Gruppe, nämlich die Kinder und Jugendlichen. Erst nachdem ein bestimmtes Schutzniveau erreicht war, setzten Einkommensersatzleistungen bei vorübergehendem oder dauerndem Verlust der Arbeitskraft ein. Arbeiterpolitik war sie, weil sie nicht auf die Hebung der Lebenslage der schwächsten Berufsgruppen gerichtet war, sondern auf Berg-, Hütten- und Fabrikarbeiter, d. h. die gehobenen Arbeiterschichten. Die schwächste Gruppe der Proletarier blieb ohne jede Unterstützung allein auf die Armenpflege angewiesen. Schutzpolitik war sie in einem zweifachen Sinn, nämlich einmal im Sinne des Existenzschutzes sozial Schwacher, zum anderen aber im Sinne des prophylaktischen Schutzes der Gesellschaftsordnung durch eine Politik sozialer Befriedung.9 Repressiv-staatsautoritär war die Sozialpolitik dieser Zeit, weil sie „wohlfahrtsstaatlicher Kontrapunkt zur polizeistaatlichen Unterdrückung“ der Arbeiterschaft (Hentschel 1991, S. 9 f.), „Komplement für das Sozialistengesetz“10 war. Die maßgeblich von Bismarck konzipierte Sozialversicherungspolitik, die international Anerkennung und Nachahmung fand, hatte neben ihrer Funktion, die Existenz der Arbeiter im Falle von Krankheit, Unfall, Invalidität und Alter zu sichern auch die Aufgabe, die Gesellschafts- und Staatsordnung aufrecht zu erhalten. Dies sollte einerseits durch die Integration der Arbeiterschaft in Staat und Gesellschaft geschehen, andererseits durch die Bekämpfung der Bestrebungen der Arbeiterschaft zur Organisation in Selbsthilfeeinrichtungen und in politischen Parteien. Daher war für die Arbeiterschaft die Sozialversicherung das „Zuckerbrot zur Peitsche“ (Rüstow 1959, S. 11). Nach Alexander Rüstow war die Förderung des Wohles der Arbeiter zwar ernst gemeint, „aber in jenem patriarchalischen, 9

„Die Sozialpolitik der 1950er Jahre ist eine Politik der Furcht, ’die nicht aus dem Bestreben hervorgeht, den Armen zu helfen, sondern sie von sich abzuhalten, sich gegen die Anforderungen der Armen möglichst zu schützen und sich von der Gefahr zu befreien, die uns durch das Anwachsen des Proletariats in den Städten mehr und mehr entgegentritt’. Sie ist nach ihrer inneren Begründung Interessenpolitik der Arrivierten zum Schutze der bestehenden Ordnung vor den Ansprüchen der von unten nachdrängenden Bevölkerungsschichten. Sie wirkt sich zwar materiell zu deren Gunsten aus, findet aber qualitativ und quantitativ ihre Grenze im Schutzbedürfnis der etablierten Ordnungskräfte.“ Volkmann 1968, S. 94 f. 10 Bismarck in seiner Reichstagsrede vom 15.03.1884.

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4 Geschichte der sozialpolitischen Gesetzgebung in Deutschland

paternalistischen Sinn, in dem sich auch der ostelbische Gutsherr für das Wohl seiner Kätner verantwortlich fühlte, unter der selbstverständlichen Voraussetzung, daß diese in gottgewollter Weise seine Autorität untertänig und dankbar anerkannten. Gerade gegen diese Zumutung, sich demütig in die Rolle der überlagerten und beherrschten Unterschicht zu finden – gerade dagegen revoltierte der mannhafte Stolz und das Selbstbewußtsein der deutschen Arbeiterschaft.“ (Rüstow 1959, S. 11).

4.2 Die Sozialgesetzgebung unter Wilhelm II. (1890 - 1918) 4.2.1 Wirtschaftlicher und politischer Hintergrund In den 25 Jahren zwischen dem Regierungsantritt Wilhelm II. 1888 und dem Beginn des Ersten Weltkrieges wurde der industrielle Aufbau fortgesetzt. Die Nettoinvestitionsquote erreichte mit Werten zwischen 12,7 und 15,5 % ein höheres Niveau als je zuvor (vgl. Tabelle 4.1, Sp. 4). Aufgrund jahresdurchschnittlicher Wachstumsraten des realen Sozialprodukts von 3 % stieg das reale Nettosozialprodukt von rd. 29 auf rd. 50 Mrd. RM (Tabelle 4.1 Sp. 2 und 3). Die Zahl der Beschäftigten stieg von rd. 22,6 Mio. auf rd. 30,2 Mio. Der Rückgang des landwirtschaftlichen Sektors und die Zunahme des industriellen Sektors setzten sich fort. Bei einer jährlichen Wachstumsrate der Beschäftigten von 1,38 % zwischen 1879 und 1913 waren die Arbeitseinkommen insgesamt um 3,48 % pro Jahr gewachsen, das durchschnittliche Arbeitseinkommen um jährlich 2 % (Hoffmann 1965, S. 91). Alles in allem waren damit sehr günstige ökonomische Voraussetzungen für die Entwicklung der Sozialpolitik gegeben. Die politische Landschaft hat sich zwischen 1890 und 1918 gründlich verändert. Das Sozialistengesetz lief nach 12jähriger Geltungsdauer am 01.10.1890 aus. Die Sozialdemokratische Partei erreichte bei den Reichstagswahlen 1890 19,7 % aller Stimmen, 1912 34,8 % aller Stimmen und 27,7 % aller Reichstagsmandate. Sie war damit nach Stimmen- und Mandatszahl stärkste Partei geworden (vgl. Tab. 3.1, S. 50). Der Einfluss der vor 1890 führenden Nationalliberalen Partei und der Konservativen Parteien ging zurück. 1890 ging Bismarcks Reichstagsmehrheit verloren. Die Spitzenverbände der freien und der christlichen Gewerkschaften, die 1895 zusammen nur 261.021 Mitglieder aufwiesen, verbuchten 1913 2.890.498 Mitglieder (vgl. Tab. 3.2, S. 55). In diesen Zahlen deutet sich an, dass die politische Emanzipation der Arbeiterschaft letztlich nicht mehr aufzuhalten war, wenngleich es auch in den Jahren nach 1890 nicht an Versuchen fehlte, der Arbeiterschaft auf dem Weg zur selbstverantwortlichen, gleichberechtigten Sozialpartei Steine in den Weg zu legen (vgl. dazu S. 69).

4.2.2 Die Sozialgesetzgebung Wilhelm II. hielt im Gegensatz zu Wilhelm I. eine mit der Unterdrückung der Arbeiterschaft gekoppelte Sozialpolitik für verfehlt. Er wollte den Arbeitern Beweise guten Willens geben und ihr Vertrauen zur Monarchie zurückgewinnen und richtete sein Augenmerk auf die Weiterentwicklung des Arbeitnehmerschutzes, der in der Phase der Entwicklung der Sozialversicherungsgesetze vernachlässigt worden war. Bismarck, enttäuscht vom politischen Ergebnis seiner sozi-

4.2 Die Sozialgesetzgebung unter Wilhelm II. (1890 - 1918)

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alpolitischen Arbeit und überzeugt, dass weitere finanzielle Belastungen der Industrie durch die Sozialpolitik gefährlich seien,11 stemmte sich – erfolglos – gegen die neue Politik. Die sozialpolitischen Gegensätze zwischen Kaiser und Kanzler waren nicht der entscheidende, aber ein mitbestimmender Grund für die Entlassung Bismarcks im Jahre 1890. Die Absichten Wilhelm II. finden sich in zwei programmatischen Erlassen vom 04.02.1890. Im ersten Erlass wurde die Einberufung einer internationalen Arbeitsschutzkonferenz angekündigt, die die Arbeitnehmerschutzpolitik Deutschlands, Frankreichs, Englands, Belgiens und der Schweiz koordinieren sollte. Der Grund für diesen Versuch, die Sozialpolitik wichtiger Industrienationen zu harmonisieren, war die Befürchtung, dass die internationale Konkurrenzfähigkeit der deutschen Wirtschaft durch die mit Arbeitsschutzmaßnahmen verbundene Kostenbelastung beeinträchtigt ist. Die im März 1890 abgehaltene Konferenz blieb jedoch ohne konkretes Ergebnis. Im zweiten Erlass wurde neben dem Ausbau der Arbeiterversicherungsgesetzgebung der Ausbau des Arbeitnehmerschutzes und die Einführung von bestimmten Mitspracherechten der Arbeiter in den Betrieben angekündigt. Die dem Erlass folgende Novellierung der GewO12 brachte folgende Regelungen: 1. eine 24-stündige Sonntagsruhe für die Industrie; 2. ein volles Beschäftigungsverbot für schulpflichtige Kinder, den 10-Stunden-Arbeitstag für jugendliche Arbeiter und den 11-stündigen Arbeitstag für Frauen; 3. ein Verbot der Nachtarbeit für Jugendliche und für Frauen; 4. eine Verschärfung des Truckverbots; 5. einen Wöchnerinnenschutz; 6. eine Verpflichtung der Betriebe zum Erlass von Arbeitsordnungen; 7. die Möglichkeit, in Fabrikbetrieben Arbeiterausschüsse zu bilden, die bei der Festsetzung der Arbeitsbedingungen gehört werden sollten. Im Jahre 1900 wurde die GewO erneut novelliert,13 vor allem zugunsten der Beschäftigten im Einzelhandel durch Festlegung des Ladenschlusses auf 19.00 Uhr. Ein Kinderschutzgesetz 14 verbot 1903 die Kinderarbeit in einigen Gewerben gänzlich und begrenzte sie in anderen zeitlich. Eine erneute Novellierung der Gewerbeordnung15 begrenzte die tägliche Arbeitszeit für Frauen auf 10 Stunden und verbesserte den Arbeitszeitschutz für Jugendliche. Der Arbeitnehmerschutz für Heimarbeiter wurde mit dem Hausarbeitsgesetz vom 20.12.1911 eingeleitet. Auch die Sozialversicherung wurde weiterentwickelt und ausgebaut. Neben der Zusammenfassung der einzelnen Versicherungsgesetze zu einem einheitlichen Gesetzeswerk in der Reichsversicherungsordnung (RVO) vom 19.07.1911 ist vor allem die Einführung einer Sozialversicherung für Angestellte16 gegen Alter, Erwerbsunfähigkeit und Hinterbliebenenschaft zu erwähnen. In 11

Bismarck kleidete das Problem in die bis in die Gegenwart immer wieder gestellte, wenn auch jeweils anders formulierte Frage: „Wo ist die Grenzlinie, bis an welche man die Industrie belasten kann, ohne dem Arbeiter die Henne zu schlachten, die ihm die goldenen Eier legte?“ (zitiert nach Syrup/Scheuble/Neuloh 1957, S. 80). 12 Gesetz, betreffend Abänderung der GewO (Arbeiterschutzgesetz) vom 01.06.1891. 13 Gesetz, betreffend Abänderung der GewO vom 30.06.1900. 14 Gesetz, betreffend Kinderarbeit in gewerblichen Betrieben vom 30.03.1903. 15 Gesetz, betreffend die Abänderung der GewO vom 18.12.1908. 16 Versicherungsgesetz für Angestellte vom 20.12.1911.

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4 Geschichte der sozialpolitischen Gesetzgebung in Deutschland

ihr wurden Angestellte mit einem Jahresgehalt zwischen 2.000 und 5.000 Mark pflichtversichert. Durch die Einführung der Angestelltenversicherung wurde offenkundig, dass neben den Arbeitern eine weitere große schutzbedürftige Gruppe der Bevölkerung zum Schutzobjekt der staatlichen Sozialpolitik geworden war. Im Gegensatz zu den Angestelltenwitwen erhielten Arbeiterwitwen die 1911 als neue Leistung eingeführte Witwenrente nur, wenn sie erwerbsunfähig waren. 1916 wurden – eine Folge des Krieges – die Hinterbliebenenrenten erhöht, die Altersrentenbezugsgrenze wurde auf 65 Jahre herabgesetzt. Die Einbeziehung der Angestellten in den Wirkungsbereich der Sozialpolitik deutete sich bereits im Jahr 1904 mit dem Kaufmannsgerichtsgesetz 17 an. Bis zu diesem Zeitpunkt existierte mit den Gewerbegerichten18 nur für Streitigkeiten zwischen Arbeitgebern und Arbeitern eine verbilligte und formfreie Gerichtsbarkeit unter paritätischer Besetzung mit Arbeitgeber- und Arbeitervertretern. Schon vorher war der Kodifikation des BGB i. J. 1896, das den Arbeitsvertrag neu regelte und die wesentliche Quelle für das Recht der Arbeitsverträge wurde, 1897 das Handelsgesetzbuch mit entsprechenden arbeitsvertragsrechtlichen Regelungen für Angestellte gefolgt. Für die Weiterentwicklung der Sozialpolitik einschneidende Bedeutung gewann das sogenannte Hilfsdienstgesetz 19 aus dem Jahre 1916, das für alle männlichen Deutschen vom 17. bis zum 60. Lebensjahr eine Dienstpflicht in Betrieben vorsah, deren Produktion kriegswichtig war. Mit dem Hilfsdienstgesetz wurden zwei Bereiche staatlicher Sozialpolitik erschlossen: die gesetzliche Ausgestaltung der Betriebsverfassung und die Ausgestaltung des Arbeitsvertragsrechtes. Während nämlich die Novelle der GewO i. J. 1891 Arbeiterausschüsse fakultativ eingeführt hatte und 1900 bzw. 1905 Arbeiterausschüsse nur für Bergbaubetriebe obligatorisch wurden, wurden durch das Hilfsdienstgesetz Arbeiter- und Angestelltenausschüsse in allen Hilfsdienstbetrieben mit mindestens 50 Beschäftigten obligatorisch gemacht. Die Aufgabe dieser Ausschüsse bestand darin, den Betriebsfrieden zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern zu wahren und dem Unternehmer Anträge, Wünsche und Beschwerden in Bezug auf Betriebseinrichtungen, Lohn- und Arbeitsfragen zu unterbreiten. In Bezug auf die Ausgestaltung des Arbeitsvertragsrechts brachte das Hilfsdienstgesetz einen entscheidenden Durchbruch: es enthielt nicht nur eine Anerkennung der Koalitionsfreiheit, sondern eine gewandelte Einstellung des Gesetzgebers zu den Organisationen der Arbeitgeber und der Gewerkschaften. Es sah nämlich vor, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer paritätisch vertreten sein sollten: 1. in den Ausschüssen, die über die Frage der Kriegswichtigkeit eines Betriebes zu entscheiden hatten; 2. in der beim Kriegsamt errichteten Zentralstelle, bei der Beschwerden gegen die Entscheidungen dieser Ausschüsse vorzubringen waren; 3. in den Ausschüssen, die Hilfsdienstpflichtige zum Hilfsdienst heranziehen konnten; 4. in den Ausschüssen, die bei Verweigerung der Zustimmung zum Austritt aus einer kriegswichtigen Arbeitsstelle durch den Arbeitgeber diese Zustimmung erteilen konnten. Diese Anerkennung der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen trug einer Entwicklung Rechnung, die sich nach Aufhebung des Sozialistengesetzes beschleunigt vollzogen hatte. 17 18 19

Gesetz, betreffend die Kaufmannsgerichte vom 06.07.1904. Gesetz, betreffend die Gewerbegerichte vom 29.06.1890. Gesetz über den vaterländischen Hilfsdienst vom 05.12.1916.

4.2 Die Sozialgesetzgebung unter Wilhelm II. (1890 - 1918)

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Die stürmische Entwicklung der Gewerkschaften (vgl. dazu S. 55) beantworteten die Arbeitgeber mit der Bildung von Arbeitgeberverbänden, die sich 1913 in der „Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände“ zusammenschlossen. Die endgültige Anerkennung der Gewerkschaften als eine den Arbeitgebern gleichberechtigte, vollwertige Arbeitsmarktpartei bahnte sich dann an, als Arbeitgebervereinigungen und Gewerkschaften i. J. 1918 eine „Zentralarbeitsgemeinschaft“ ins Leben riefen. Sie traf Vereinbarungen über die Anerkennung der Gewerkschaften und über den Abschluss von Tarifverträgen, die Gewährleistung der Koalitionsfreiheit, Vereinbarungen über die Schlichtung von Arbeitsstreitigkeiten, über die paritätische Verwaltung der Arbeitsvermittlung, über die Errichtung von Arbeiterausschüssen und über die Wiedereingliederung der Kriegsheimkehrer.

4.2.3 Charakteristische Merkmale der staatlichen Sozialpolitik Zur Charakterisierung der Sozialpolitik unter Kaiser Wilhelm II. trennt man zweckmäßigerweise zwischen der Zeit vor dem Weltkrieg und den Jahren des Krieges. Für die Jahre 1890 - 1913 lassen sich vier Schwerpunkte staatlicher Aktivität erkennen: 1. der Ausbau der Arbeitnehmerschutzpolitik; 2. der Ausbau der Sozialversicherung für Arbeiter und die Einbeziehung der Angestellten in die Sozialversicherung; 3. erste Ansätze einer Arbeitsgerichtsbarkeit; 4. die Schaffung der rechtlichen Voraussetzungen für die freiwillige Bildung von Arbeitnehmerausschüssen. In den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg reichte der Einfluss industrieller und konservativer monarchistischer Kreise noch aus, um den Gesetzgeber vor Eingriffen in die Betriebsverfassung und von der Herstellung uneingeschränkter Koalitionsfreiheit abzuhalten. Noch gegen Ende des Jahrhunderts wurde versucht, durch die sogenannte Umsturzvorlage von 1894,20 durch die Preußische Vereinsnovelle von 189721 und durch die Zuchthausvorlage von 189922 die Entwicklung der Gewerkschaften zu wirksamen Vertretungen der Interessen einer politisch mündigen Arbeiterschaft abzustoppen und der Arbeiterschaft die wirtschaftliche und soziale 20

Nach dieser Umsturzvorlage sollte mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren bestraft werden, wer durch Androhung eines Verbrechens den öffentlichen Frieden störte in der Absicht, einen gewaltsamen Umsturz herbeizuführen oder wer auf einen Umsturz gerichtete Bestrebungen förderte. Dieselbe Strafe sollte denjenigen treffen, der in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise die Religion, die Monarchie, die Ehe, die Familie oder das Eigentum durch beschimpfende Äußerungen öffentlich angriff. Der Reichstag lehnte die Vorlage am 11.05.1895 ab. 21 Die Preußische Vereinsnovelle, auch als „Kleines Sozialistengesetz“ bezeichnet, wurde 1897 im Preußischen Abgeordnetenhaus eingebracht. Nach ihr sollte die Polizei das Recht erhalten, Vereine und Versammlungen aufzulösen, wenn in ihnen „anarchistische oder sozialdemokratische, auf den Umsturz der bestehenden Staatsoder Gesellschaftsordnung gerichtete Bestrebungen in einer die öffentliche Sicherheit, insbes. die Sicherheit des Staates gefährdenden Weise“ zutage traten. Die Vorlage wurde vom Abgeordnetenhaus abgelehnt. 22 Der „Gesetzentwurf zum Schutz des gewerblichen Arbeitsverhältnisses“ sah für „Agitatoren von Streiks, die eine Gefährdung der Sicherheit des Reiches oder eine Gefahr für Menschenleben oder für das Eigentum mit sich brachten“, Zuchthausstrafen vor. Die Vorlage wurde am 20.11.1899 im Reichstag abgelehnt. Vgl. zur Zuchthausvorlage auch S. 54.

70

4 Geschichte der sozialpolitischen Gesetzgebung in Deutschland

Gleichberechtigung vorzuenthalten. „In einer Politik der ’inneren Reichsgründung’ mit stark repressiven Zügen werden die ’vaterlandslosen Gesellen’ unter Aufrechterhaltung politischer und sozialer Ungleichheit negativ integriert, die Härten des den ’Volkswohlstand’ hervorbringenden kapitalistischen Systems abgemildert und die Existenz dieses kapitalistischen Systems und der bürgerlichen Gesellschaft stabilisiert“ (Tennstedt 1981, S. 137). Diese repressive Sozialpolitik wurde durch den Ersten Weltkrieg beendet: Die Sicherung der kriegswichtigen Produktion und der Funktionsfähigkeit einer leistungsfähigen Volkswirtschaft während des Krieges schienen nur möglich, wenn den Arbeitnehmern obligatorische betriebliche Mitspracherechte eingeräumt und wenn die Gewerkschaften als Arbeitnehmervertretungen voll anerkannt wurden. Mit dieser Entwicklung wurde am Ende dieser Periode deutscher Sozialpolitik der Weg zu einer sozialpolitisch orientierten Ausgestaltung der Betriebsverfassung und zur betrieblichen, von Arbeitgebern und Arbeitnehmern mitgetragenen Sozialpolitik frei. Mit der Anerkennung der Gewerkschaften als einer den Arbeitgebern gleichberechtigten Organisation wurde das Primat der staatlichen Sozialpolitik gebrochen und die Demokratisierung der Sozialpolitik vorbereitet, die in der Weimarer Republik konsequent fortgesetzt wurde.

4.3 Die Sozialgesetzgebung in der Weimarer Republik (1918 - 1933) 4.3.1 Wirtschaftlicher und politischer Hintergrund Ökonomisch lässt sich die Zeit der Weimarer Republik in drei Phasen unterteilen: in die unmittelbare Nachkriegsperiode von 1919 - 1923, in die „Goldenen 20er Jahre“ 1924 - 1928 und in die Zeit der Weltwirtschaftskrise von 1929 - 1933.23 Die Jahre 1919 - 1923 waren durch eine fortschreitende galoppierende Inflation, durch ein hohes Niveau der Arbeitslosigkeit und durch eine nur allmähliche Erholung der deutschen Wirtschaft von den Kriegsfolgen geprägt. Die Arbeitslosigkeit war eine Folge der Rückkehr deutscher Soldaten auf die Arbeitsmärkte, des Wegfalles der Rüstungsproduktion, des Zeitbedarfes der Umstellung der Produktionsstruktur auf eine Friedenswirtschaft und eines nur geringen Wirtschaftswachstums. Die zunächst auf 226 Mrd. Goldmark festgelegten Reparationslasten und andere Auflagen des Versailler Vertrages, z.B. die Abtretung Elsaß-Lothringens, der Saar und Oberschlesiens,24 sowie die Abtretung von 90 % der deutschen Handelsflotte und andere Sachleistungen lähmten die wirtschaftliche Entwicklung ebenso wie der fortschreitende Währungsverfall. Die an der Entwicklung der Lebenshaltungskosten gemessene Geldentwertung betrug gegenüber dem jeweiligen Vorjahr 1919: 70 %, 1920: 244 %, 1921: 65 %, 1922: 2420 % und 1923: 1,8 Mio. %. Eine der gravierendsten sozialen Folgen der Inflation war die Enteignung der Geldvermögensbesitzer, vor allem der Inhaber von staatlichen Schuldtiteln, der eine Begünstigung der Sachwertbesitzer und der Schuldner gegenüberstand. Größter Inflationsgewinner war der Staat, der sich seiner Schuldenlast billig entledigen konnte. 23

Vgl. dazu Henning 1997, S. 51 ff.; Hardach 1993, S. 23 ff. und Wehler 2008. Diese Gebietsabtretungen bedeuteten einen Verlust von 13 % des Vorkriegsterritoriums, 10 % der Bevölkerung, 15 % der landwirtschaftlichen Fläche, 75 % der Eisenerzvorkommen, 44 % der Produktionskapazität von Roheisen, 38 % der Produktionskapazität von Stahl und 26 % der Produktionskapazität der Kohle (Hardach 1993, S. 24). 24

4.3 Die Sozialgesetzgebung in der Weimarer Republik (1918 - 1933)

71

Nach der Stabilisierung der Reichsmark im Oktober 1923 setzte ein von relativ hohen Investitionsquoten getragenes Wachstum ein, das die Arbeitslosigkeit gegenüber den unmittelbaren Nachkriegsjahren zurückgehen und die realen durchschnittlichen Arbeitseinkommen bis 1930 stetig ansteigen ließ (vgl. dazu Tabelle 4.2). Die wirtschaftliche Erholung hielt jedoch nicht lange an: in der Zeit der Weltwirtschaftskrise von 1929 - 1932/33 stieg die Arbeitslosigkeit von Jahr zu Jahr. Das reale Nettosozialprodukt und die realen jährlichen Arbeitseinkommen sanken beträchtlich (vgl. Tab. 4.2, Sp. 4, 5 und 10). Betrachtet man die Gesamtperiode, dann kann man feststellen, dass die ökonomischen Voraussetzungen für eine Weiterentwicklung der staatlichen Sozialpolitik denkbar ungünstig waren. Denn das Niveau der wirtschaftlichen Aktivität des Jahres 1913 wurde nur in den Jahren 1927 und 1928 leicht übertroffen, in allen anderen Jahren lag es – zum Teil beachtlich – darunter. Ungünstig waren auch die politischen Begleitumstände der Sozialpolitik: die Novemberrevolution des Jahres 1918, Generalstreiks, Annexionsversuche seitens Polens und Estlands, ein vom Spartakusbund 1919 entfachter Aufstand, der Kapp-Putsch des Jahres 1920, kommunistische Aufstände im gleichen Jahr im Ruhrgebiet, in Bayern, in Sachsen und in Thüringen, die Besetzung des Ruhrgebietes durch Frankreich im Januar 1923 und erneute kommunistische Aufstände in Sachsen, Thüringen und Hamburg im November 1923 sowie Hitlers Marsch auf die Feldherrnhalle erschütterten die Republik. Eine starke Parteienvielfalt mit Gruppierungen, von denen keine stark genug war, um sichere Mehrheiten zu bilden, verhinderte partei- und regierungspolitische Stabilität: in den 14 Jahren von 1919 bis 1933 lösten sich 14 Kabinette ab (vgl. dazu v.a. Bracher 1984). Während die wirtschaftliche, die außenpolitische und die innenpolitische Konstellation kein günstiger Boden für die Weiterentwicklung der Sozialpolitik waren, gab es einen für eine Neuorientierung der staatlichen Sozialpolitik entscheidenden Faktor: den Zusammenbruch der Monarchie und ihre Ersetzung durch die parlamentarische Demokratie. Diese Ersetzung einer autoritäraristokratischen durch eine demokratisch-republikanische Staatsverfassung brachte einen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel. Die politisch-gesellschaftliche Elite mit Kaiser und Fürsten verschwand; Adel und Offizierskorps büßten ihre führende gesellschaftliche Stellung ein. Die maßgeblichen Führungspersönlichkeiten der Parteien, Funktionäre der Gewerkschaften, der Arbeitgeber und anderer großer Verbände sowie Großindustrielle gewannen Einfluss auf die Gesetzgebung. Die im 19. Jh. dominierenden Parteien (die Konservativen, die Nationalliberalen und das Zentrum) verloren an Gewicht.

31 262 32 592 33 734

30 891 29,709 31 820 32 387 32 121 30 338 27 969 25 967 26 540 28 684 29 939

30 104

(3)

in 1.000

1 593 912 430

2 1 1 1 3 4 5 4 2 2

910 650 010 350 353 892 076 520 575 804 718 151

(4)

in 1.000

Arbeitslose

46 46 53 53 51 49 43 41 47 52 58 60 66 74 82

897 587 108 950 694 289 913 760 375 102 658 361a 434a 053a 078a

52 440

(5)

- 0,7 14,0 1,6 - 4,2 - 4,7 -10,9 - 4,9 13,4 10,0 12,6 10,1 11,5 10,8

(6)

11,5 7,1 15,2 12,8 6,9 5,7 - 3,1 - 1,6 4,9 6,2 9,9

15,6

(7)

1 782 1 845 1 917

1 393 1 754 1,790 1 939 2 093 2 229 2 208 1 998 1 677 1 594 1 678 1 731

1 210

(8)

NettoDurchschn. Nettosozial- Wachstumsrate produkt zu des Nettosozi- investitions- jährl. Arbeitsalprodukts quote einkommen in Preisen von Industrie u. 1913 Handwerk in Mio. RM in % in RM

120,9 121,6 123,7

140,7 140,5 148,0 151,1 151,9 144,9 131,0 117,7 115,4 117,6 119,8

100,0

(9)

Preisindex für den privaten Verbrauch

247 274 310 385 467 524 525 452 381 427 445 1 474 1 517 1 550

1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1

1 210

(10)

in RM

Reales durchschnittl. jährl. Arbeitseinkommen

a Volkseinkommen in Kaufkraft von 1938; vgl. dazu Statistisches Handbuch von Deutschland 1928-1944, München 1949, S. 600. Quellen: Spalten (2), (3), (5), (7), (8) und (9): W.G. Hofmann 1965, S. 174, S. 205 f., S. 828, S. 471 u. S. 601. Spalte (4): Kroll 1958, S. 33 u. S. 109, sowie für die Jahre ab 1933 Stat. Handbuch von Deutschland 1928-1944, 1949, S. 484. Spalten (6) u. (10): eigene Berechnungen.

67 349 67 831 68 558

1936 1937 1938

978 900 307 697 166 630 023 393 739 084 423 716 027 409 871

66 61 62 62 63 63 64 64 64 65 65 65 66 66 66

(2)

in 1.000

mittlere Beschäftigte Bevölkerung ohne Verteidigung

1913 1922 1923 1924 1925 1926 1927 1928 1929 1930 1931 1932 1933 1934 1935

(1)

Jahr

Tabelle 4.2: Wirtschaftliche Kennziffern für das Deutsche Reich (1913-1938)

72 4 Geschichte der sozialpolitischen Gesetzgebung in Deutschland

4.3 Die Sozialgesetzgebung in der Weimarer Republik (1918 - 1933)

73

4.3.2 Die Sozialgesetzgebung Nach dem Rücktritt von Kaiser und Kanzler am 09.11.1918 und vor Verabschiedung der Weimarer Verfassung am 11.08.1919 lag die Staatsgewalt in Händen eines „Rat(es) der Volksbeauftragten“. Dieser Rat setzte alle durch Verordnungen während des Krieges eingeschränkten Arbeiterschutzgesetze wieder in Kraft,25 leitete mit einer Verordnung über Erwerbslosenfürsorge vom 13.11.1918 die Übertragung der Arbeitslosenfürsorge von den Gemeinden auf das Reich ein, ordnete die Einführung des Acht-Stunden-Arbeitstages26 an, baute den öffentlichen Nachweis von Arbeitsgelegenheiten aus27 und sicherte durch Verordnung28 nicht nur die gesetzliche Anerkennung der Tarifautonomie der Sozialpartner, sondern machte die vereinbarten Tarife „unabdingbar“ und ermöglichte eine Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen. Weitere Aktivitäten brachten eine Ausdehnung des Arbeitnehmerschutzes für besondere Gruppen, nämlich für Schwerbeschädigte,29 stellten die Landarbeiter rechtlich den übrigen Arbeitnehmern gleich30 und stellten im Handel die totale Sonntagsruhe her.31 Die Weimarer Verfassung vom 11.08.1919 leitete mit ihren gesellschafts- und sozialpolitischen Leitsätzen eine Ära sozialstaatlicher und demokratischer Sozialpolitik ein. In Art. 109 wurde die Gleichheit aller vor dem Gesetz deklariert, öffentlich-rechtliche Privilegien durch Geburt oder Stand wurden aufgehoben, Adelsbezeichnungen wurde nur noch der Rang von Namensteilen zuerkannt. In Art. 151 wurde der Grundsatz der sozialen Gerechtigkeit und der Gewährleistung der Menschenwürde proklamiert.32 Durch Art. 157 wurde der Arbeitnehmerschutz als besondere Aufgabe des Reiches bestimmt, durch Art. 159 die Koalitionsfreiheit gesichert. Darüber hinausgehend wurde das Prinzip der gleichberechtigten wirtschaftlichen Mitbestimmung in Art. 165 verankert. Als besondere sozialpolitische Aufgaben wurden die Erhaltung der Gesundheit und der Arbeitsfähigkeit, der Mutterschutz (Art. 119), der Jugendschutz (Art. 122) und die Schaffung eines umfassenden Versicherungswesens „unter maßgebender Mitwirkung der Versicherten“ (Art. 161) sowie die Förderung und der Schutz des selbständigen Mittelstandes (Art. 164), der durch die Kriegs- und Inflationsfolgen zu einer wirtschaftlich und sozial gefährdeten Schicht geworden war, herausgehoben. Weitere besondere sozialpolitische Anliegen waren die Gleichstellung unehelicher mit ehelichen Kindern (Art. 121) und die Beseitigung finanzieller Bildungsbarrieren für Kinder aus wirtschaftlich schwachen Familien (Art. 146). Die tatsächlichen Aktivitäten des Gesetzgebers waren an dieser Verfassungsprogrammatik orientiert.

25

Verordnung über Arbeiterschutz vom 12.11.1918. Anordnung über die Regelung der Arbeitszeit gewerblicher Arbeiter vom 23.11.1918. 27 Anordnung über Arbeitsnachweise vom 09.12.1918. 28 Verordnung über Tarifverträge, Arbeiter- und Angestelltenausschüsse und Schlichtung von Arbeitsstreitigkeiten vom 23.12.1918. 29 Verordnung über Beschäftigung Schwerbeschädigter vom 09.01.1919 und weitere auf die Schwerbeschädigten bezogene Verordnungen. 30 Verordnung, betreffend eine vorläufige Landarbeitsordnung vom 24.01.1919. 31 Verordnung über Sonntagsruhe im Handelsgewerbe und in Apotheken vom 05.02.1919. 32 Art. 151 lautet: „Die Ordnung des Wirtschaftslebens muß den Grundsätzen der Gerechtigkeit mit dem Ziele der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle entsprechen. In diesen Grenzen ist die wirtschaftliche Freiheit des einzelnen zu sichern.“ 26

74

4 Geschichte der sozialpolitischen Gesetzgebung in Deutschland

Der Arbeitnehmerschutz wurde – abgesehen von der Einführung des Acht-Stunden-Arbeitstages 1918 – durch den Schutz Schwerbeschädigter,33 durch zahlreiche Schutzverordnungen für besonders gefährdete Arbeitnehmer, durch die Weiterentwicklung des Mutterschutzes34 in Form eines Beschäftigungsverbotes sechs Wochen vor und sechs Wochen nach der Niederkunft und in Form eines besonderen Kündigungsschutzes in dieser Zeit, durch ein Kündigungsschutzgesetz für Angestellte35 und schließlich durch die Einführung von Mitwirkungsrechten der Betriebsräte bei Kündigungen36 ausgebaut. Im Bereich der Sozialversicherung ist die Schaffung einer reichseinheitlichen Sozialversicherung für Bergleute anstelle von 110 Knappschaftsvereinen durch das Reichsknappschaftsgesetz vom 23.06.1923 zu nennen. Die Knappschaftsversicherung (KnV) ist die Invaliden-, Alters- und Krankenversicherung für Bergleute. Da einerseits die Vermögensbestände der Rentenversicherungen (RV), der Unfallversicherung (UV) und der Krankenversicherung (KV) durch die Inflation in Nichts zerronnen waren, andererseits durch die Kriegs- und Nachkriegszeit die Ansprüche gestiegen waren, konnte die Sozialversicherung diesen Ansprüchen zunächst nur auf niedrigstem Niveau und nur mit Hilfe von Reichszuschüssen genügen. Erst ab 1924 konnte „das stehengebliebene, rechtlich–institutionelle Gebäude allmählich wieder mit seinen hergebrachten Prinzipien“ erfüllt werden (Hentschel 1991). Mit der Weltwirtschaftskrise geriet das System erneut in größte finanzielle Bedrängnis. Daher blieb für eine Weiterentwicklung des Systems sozialer Sicherung kein Raum. Nur die relativ ungefährdete UV wurde 1925 gründlich umgestaltet, nachdem kurz vorher der Versicherungsschutz auf gewerbliche Berufskrankheiten und Wegeunfälle ausgedehnt worden war.37 Neu erschlossen und konsequent entwickelt wurde die Arbeitsmarktpolitik. Die durch die Zentralarbeitsgemeinschaft der Arbeitgeberverbände und der Gewerkschaften bejahte, durch Verordnung vom 23.11.1918 erfolgte gesetzliche Anerkennung der Tarifautonomie machte kollektivvertragliche Vereinbarungen zur Grundlage für die Gestaltung der Arbeitsverhältnisse und delegierte die Zuständigkeit für die Lohnpolitik an die Tarifvertragsparteien. Gleichzeitig wurde das öffentliche Arbeitsnachweiswesen ausgebaut,38 ein Reichsamt für Arbeitsvermittlung errichtet39 und im Arbeitsnachweisgesetz vom 22.07.1922 auch die Berufsberatung zur staatlichen Aufgabe gemacht. 1927 wurden die Aufgaben der Berufsberatung, der Arbeitsvermittlung und der Arbeitslosenversicherung im Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung vom 16.07.1927 zusammengefasst und der Reichsanstalt für Arbeit übertragen. Damit war die Umwandlung des Arbeitsmarktes vom freien, unorganisierten Arbeitsmarkt monopsonistischer bzw. oligopsonistischer Prägung in den durch Staat und Gewerkschaften gebundenen, organisierten Arbeitsmarkt in der Form des bilateralen Monopols bzw. Oligopols vollzogen (vgl. dazu S. 161 f.). 33

Das Gesetz über die Beschäftigung Schwerbeschädigter vom 12.01.1923 versuchte vor allem Arbeitsplätze für Schwerbeschädigte sicherzustellen. 34 Gesetz über die Beschäftigung vor und nach der Niederkunft vom 16.06.1927 und Gesetz zur Abänderung des Gesetzes über die Beschäftigung vor und nach der Niederkunft vom 29.10.1927. 35 Gesetz über den Kündigungsschutz für Angestellte vom 09.07.1926. 36 Betriebsrätegesetz vom 04.02.1920. 37 Zweites Gesetz über Änderungen in der Unfallversicherung vom 14.07.1925 sowie Verordnung über Ausdehnung der Unfallversicherung auf gewerbliche Berufskrankheiten vom 12.05.1925. 38 Anordnung über Arbeitsnachweise vom 09.12.1918 und Verordnung über die Pflicht der Arbeitgeber zur Anmeldung eines Bedarfs an Arbeitskräften vom 17.02.1919. 39 Verordnung über die Errichtung eines Reichsamtes für Arbeitsvermittlung vom 05.05.1920.

4.3 Die Sozialgesetzgebung in der Weimarer Republik (1918 - 1933)

75

Als problematisch erwies sich die Möglichkeit der Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen40 in Verbindung mit der Schlichtungsverordnung vom 30.10.1923, die als Übergangsmaßnahme gedacht war. Da sie im Falle der Nichteinigung der Tarifpartner eine staatliche Zwangsschlichtung vorsah und diese Einigung immer häufiger nicht erzielt wurde, waren 1928 und 1929 mehr als die Hälfte aller Industriearbeiterlöhne durch Schiedssprüche fixiert worden (vgl. zu dieser Problematik Hentschel 1991). 1926 wurde durch das Arbeitsgerichtsgesetz vom 23.12.1926 für Arbeitsstreitigkeiten eine eigene, dreistufige Gerichtsbarkeit (Arbeitsgerichte – Landesarbeitsgerichte – Reichsarbeitsgericht) geschaffen. Auch in der Betriebsverfassungspolitik erzielte die Weimarer Republik Durchbrüche. Entsprechend dem Auftrag des Art. 165 der Verfassung wurde am 04.02.1920 das Betriebsrätegesetz verkündet, nach dem in Betrieben mit mindestens 20 Arbeitnehmern Betriebsräte zu errichten waren. Die Betriebsräte hatten die Aufgabe, „die gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber gegenüber wahrzunehmen“ und „den Arbeitgeber in der Erfüllung der Betriebszwecke zu unterstützen“. Im einzelnen hatte der Betriebsrat u.a. auf die Abstellung von Beschwerden des Arbeiter- und Angestelltenrates hinzuwirken, an der Bekämpfung der Unfall- und Gesundheitsgefahren im Betrieb, bei der Verwaltung betrieblicher Sozialeinrichtungen, bei der Festsetzung der Lohnsätze, der Einführung neuer Entlohnungsmethoden und bei Kündigungen mitzuwirken. In Bezug auf die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in allgemeinen wirtschaftlichen und sozialen Angelegenheiten waren geringere Fortschritte erzielt worden.41 Neben der Arbeitsmarktpolitik und der Betriebsverfassungspolitik wurde als weiteres sozialpolitisches Handlungsfeld entsprechend Art. 155 der Weimarer Verfassung die Wohnungspolitik erschlossen. „Reich, Länder und Gemeinden errichteten moderne Wohnbauten, die das Aussehen der deutschen Städte veränderten“ (Stolper/Borchardt/Häuser 1966, S. 120). Der Staat stellte neben den billigen ersten Hypotheken der Bausparkassen, Versicherungsanstalten und staatlichen Hypothekenbanken beträchtliche zweite Hypotheken zu sehr niedrigen Zinssätzen zur Verfügung.42 Im Zuge der Zentralisierung sozialpolitischer Aktivitäten von den Gemeinden und den Ländern auf den Zentralstaat, die sich schon in der Vereinheitlichung des Versicherungswesens, des Arbeitsnachweiswesens und der Erwerbslosenfürsorge gezeigt hatte, wurde auch die Armenpflege zu einer einheitlichen sozialen Fürsorge ausgebaut; es wurden Grundsätze über Voraussetzungen, Art und Maß der öffentlichen Fürsorge entwickelt.43 Dem Bereich der Fürsorge zuzurechnen ist auch das 1922 verabschiedete Reichsjugendwohlfahrtsgesetz,44 das die Jugendhilfe begründete, d.h. alle planmäßigen sozialpädagogischen Hilfen für Kinder und Jugendliche (Er-

40

Gesetz über die Erklärung der allgemeinen Verbindlichkeit von Tarifverträgen vom 23.01.1923. 1920 wurde ein Reichswirtschaftsrat gebildet. Er bestand aus 326 Mitgliedern, in der Mehrzahl Arbeitgeberund Arbeitnehmervertreter. 30 Mitglieder waren Vertreter der Verbraucher, 12 waren Wirtschaftssachverständige und weitere 12 waren von der Reichsregierung zu benennende Personen. Der Rat hatte sozial- und wirtschaftspolitische Gesetzentwürfe zu begutachten und ein Recht der Vorlage sozial- und wirtschaftspolitischer Gesetzentwürfe. Der (1934 aufgelöste) Reichswirtschaftsrat blieb allerdings bedeutungslos. 42 Vgl. zur Wohnungsbauleistung 1925-1939 Lampert 1980, S. 146. 43 Verordnung über die Fürsorgepflicht vom 13.02.1924 und Grundsätze über Voraussetzung, Art und Maß öffentlicher Fürsorgeleistungen vom 04.12.1924. 44 Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt vom 09.07.1922. 41

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4 Geschichte der sozialpolitischen Gesetzgebung in Deutschland

ziehungshilfe, Jugendförderung, Jugendschutz, Jugendgerichtshilfe) (vgl. dazu Jordan/Maykus/ Stuckstätte 2012). Die Weltwirtschaftskrise der Jahre 1929 - 1933 brachte die Einrichtungen der sozialen Sicherung in eine schwer zu bewältigende Krise. Erschwerungen der Anspruchsvoraussetzungen, zeitliche und quantitative Leistungskürzungen bis hin zur Wiedereinführung des Bedürftigkeitsprinzips waren nicht vermeidbar.45 Die Weltwirtschaftskrise ließ die fundamentale Bedeutung der ökonomischen Absicherung von Sozialleistungsansprüchen, die sozialpolitische Bedeutung wirtschaftlichen Wachstums und das politische Gewicht einer geordneten wirtschaftlichen Entwicklung erkennen. Wenngleich die wirtschaftliche Entwicklung nur eine von mehreren Determinanten der politischen Entwicklung ist, so ist doch der Zusammenhang zwischen der Weltwirtschaftskrise und dem Nationalsozialismus unübersehbar.46 Bei Beginn der Krise 1928 hatten die Nationalsozialisten 12 Reichstagsmandate, 1930 waren es 107, im Juli 1932 bereits 230. Analysen der Ergebnisse der letzten Reichstagswahlen zeigen, dass sich die Wählerschaft der NSDAP aus Teilen des konservativ und national ausgerichteten Bürgertums, aus Teilen des ehemals liberal orientierten Bürgertums, der selbständigen Landwirte und des sonstigen selbständigen Mittelstandes, aus Teilen des unselbständigen Mittelstandes und aus jenen Teilen der Arbeiterschaft rekrutierte, die unter der Arbeitslosigkeit besonders zu leiden hatten, wie Jugendliche und Langzeitarbeitslose (vgl. dazu Henning 1997, S. 135).

4.3.3 Charakteristische Merkmale der staatlichen Sozialpolitik Die staatliche Sozialpolitik in der Weimarer Republik ist zum einen charakterisiert durch den in der Verfassung angekündigten Ausbau der „klassischen“ Bereiche staatlicher Sozialpolitik: Der Arbeitnehmerschutz wird nach seiner Art (Mutterschutz, Schwerbeschädigtenschutz, Kündigungsschutz) und nach seinem Umfang, vor allem in Bezug auf die Arbeitszeit, weiterentwickelt, das System der sozialen Sicherung wurde durch eine Ausweitung des Unfallschutzes, durch die KnRV und durch die Einführung der Arbeitslosenversicherung ergänzt. Zum anderen wurden neue Bereiche der Sozialpolitik erschlossen: erstens die Arbeitsmarktpolitik, zweitens die Betriebsverfassungspolitik und drittens die Wohnungspolitik. Die Arbeitsmarktpolitik ist durch die „gesetzlich-institutionelle Grundlegung des modernen Arbeitsrechts“ (Hentschel 1991, S. 55) und die Aufwertung der Sozialpartner zu Trägern der Arbeitsmarkt- und der betrieblichen Sozialpolitik geprägt. Damit wird nicht nur das Prinzip staatlicher patriarchalischer Fürsorge verdrängt und das staatsautoritäre Prinzip durch das Prinzip der Selbstverwaltung sozialer Angelegenheiten ergänzt, vielmehr vollzieht sich in der Weimarer Republik „der Aufstieg der deutschen Arbeiterklasse vom Objekt sozialpolitischer Fürsorge zur selbstverantwortlichen Sozialpartei“ (Weddigen 1957, S. 29). Die staatliche Sozialpolitik wurde in Bezug auf ihre Inhalte und in Bezug auf das System der Träger und der Organe der Sozialpolitik demokratisiert. 45

Vgl. zu Einzelheiten Hentschel 1991. Vgl. zur Bedeutung der Weltwirtschaftskrise für die politische Entwicklung, insbes. Mason 1993 sowie Bracher 1984, der zeigt, dass auch gegensätzliche sozialpolitische Auffassungen über die Krisenbewältigung zur politischen Krise der Weimarer Republik beitrugen. Ebenso Teppe 1977, S. 203 ff. 46

4.4 Die Sozialgesetzgebung im Dritten Reich (1933 - 1945)

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4.4 Die Sozialgesetzgebung im Dritten Reich (1933 - 1945) 4.4.1 Politischer und wirtschaftlicher Hintergrund Die politischen Grundlagen der Sozialpolitik des Dritten Reiches47 wurden durch die Übernahme der politischen Macht durch die Nationalsozialisten, die Überwindung der Weltwirtschaftskrise und die Ersetzung der parlamentarischen Demokratie durch den totalitären Einparteien- und Führerstaat geprägt.48 Am 30.01.1933 war Adolf Hitler zum Reichskanzler berufen worden. Schon am 24. März wurde vom Reichstag das Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich – das sogenannte Ermächtigungsgesetz – verabschiedet. Nach diesem verfassungsändernden Gesetz konnte die Reichsregierung Gesetze außerhalb des in der Verfassung vorgesehenen Gesetzgebungsverfahrens verabschieden und Gesetze mit einem von der Verfassung abweichenden Inhalt erlassen. Jede Einflussnahme des Parlaments auf die Gesetzgebung war damit ausgeschlossen. Der Weg zum autoritären, totalitären Führerstaat war bereitet. Entscheidend für die Zustimmung breiter Kreise zur nationalsozialistischen Politik und für die wirtschaftlichen Erfolge war die Überwindung der Weltwirtschaftskrise. Aus der Tatsache, dass es unter dem neuen Regime gelang, die Zahl von sechs Mio. Arbeitslosen im Januar 1933 um zwei Mio. auf vier Mio. im Dez. 1933 zu verringern und von Jahr zu Jahr weiter zu senken, sowie aus der Tatsache, dass die Arbeitslosenquote im Jahr 1938 in Deutschland 1,3 % betrug, in den USA aber 18,9 %, in Kanada 11,4 %, in den Niederlanden 9,9 %, in Belgien 8,7 % und in Großbritannien 8,1 % (Hardach 1993, S. 69 und S. 73 f.), erklärt sich zu einem guten Teil die Zustimmung breiter Volkskreise zum Dritten Reich und seinem Führer. Man mag eine besondere Ironie der Geschichte darin sehen, dass die Nationalsozialisten wirtschaftspolitische Früchte jener Republik ernteten, der sie das Grab bereitet hatten. Denn die wirtschaftspolitische Konzeption und die Instrumente zur Krisenüberwindung durch eine aktive Arbeitsmarktpolitik waren noch in der Weimarer Republik geschaffen worden.49 Während in den Arbeitsbeschaffungsprogrammen i. J. 1933 die Ausgaben für zivile Zwecke gegenüber den Militärausgaben noch im Vordergrund standen, überstiegen 1934 die Militärausgaben bereits die zivilen Arbeitsbeschaffungsausgaben. Für die Gesamtperiode 1932 bis Sept. 1939 wurden für zivile Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen etwa 7 bis 8 Mrd. RM aufgewendet (Eisenbahnen 1 Mrd., Wohnungsbau 2,5 Mrd., Autobahnbau 2,5 bis 3 Mrd., landeskulturelle Maßnahmen 1,5 Mrd. RM), für militärische Zwecke allein zwischen dem 1. April und dem 31.08.1939 rd. 60 Mrd. RM, also mehr als das Siebenfache (Henning 1997, S. 153). Durch die schnelle Überwindung der Krise hatte das Dritte Reich eine für die Entwicklung der staatlichen Sozialpolitik günstige Ausgangsposition. Der ständige Rückgang der Arbeitslosigkeit war mit Wachstumsraten des realen Sozialproduktes verbunden, die über 10 % lagen (vgl. dazu Tab. 4.2).

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Vgl. dazu Hardach 1993, S. 65 ff.; Mason 1993 und Wehler 2008 sowie die stark ideologische, aber für das politische Selbstverständnis faschistischer Sozialpolitik hochinformative Arbeit des damaligen Reichsarbeitsministers Seldte 1939. 48 Vgl. dazu insbes. Erbe 1958 sowie Zollitsch 2011. 49 Vgl. dazu die ausführlichen Darstellungen bei Kroll 1958 sowie die übersichtliche Sammlung einschlägiger Originaldokumente der Krisenüberwindungsvorschläge bei Bombach/Ramser 1976.

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4 Geschichte der sozialpolitischen Gesetzgebung in Deutschland

Von 1935 bis 1938 stieg das Nettosozialprodukt real um 36 % auf 82 Mrd. RM an. Obwohl die Finanzierung der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und der Rüstungsausgaben durch Geldschöpfung nach Erreichen des Vollbeschäftigungsniveaus 1936 inflatorisch hätte wirken müssen, stiegen die durchschnittlichen Arbeitseinkommen nicht nur nominal, sondern auch real im Gesamtzeitraum 1933 - 1938 um 12 % an, weil im November 1936 ein allgemeiner Preisstopp verfügt worden war, der die Vergrößerung des Geldvolumens nicht sichtbar werden ließ.

4.4.2 Die Sozialgesetzgebung Die nationalsozialistische Sozialpolitik wurde in allen Teilen konsequent auf das politische System und seine Zielsetzungen ausgerichtet. Die Sozialversicherung50 wurde schon 1934 umgestaltet.51 Im Zuge einer Reform, die unter anderem das Ziel der Beseitigung der Nachteile der Zersplitterung des Versicherungssystems verfolgte, wurde die Selbstverwaltung erheblich eingeschränkt bzw. aufgelöst und das „Führerprinzip“ eingeführt: Die Versicherungseinrichtungen erhielten nunmehr einen von der Staatsführung bestimmten Leiter. Das Versicherungsprinzip wurde aufgeweicht, Mittel der Sozialversicherungen wurden zweckentfremdet und später sogar dem Wehraufbau zugeführt. Selbst das Ausnahmerecht der Nationalsozialisten gegen Minderheiten und die Vorschriften über die Rassengesetzgebung fanden Eingang in das Sozialversicherungssystem. Die Leistungen der Sozialversicherung wurden an gesundheitspolitischen und bevölkerungspolitischen Zielen orientiert und in einigen Punkten verbessert. In allen Versicherungszweigen wurden gesundheitspolitische Maßnahmen verstärkt und die Ausgaben für Gesundheitsfürsorge und Unfallverhütung beträchtlich erhöht. Bevölkerungspolitisch orientiert waren wesentliche Verbesserungen in der Wochenhilfe52 und eine Abstufung der Versicherungsleistungen im Rahmen der Familienhilfe nach der Kinderzahl. Eine neue Entwicklung wurde dadurch eingeleitet, dass die Versicherungspflicht auch auf bestimmte Selbständige ausgedehnt wurde (Künstler, Hausgewerbetreibende, selbständige Lehrer und Erzieher), das Recht zur freiwilligen Versicherung in der Invaliden- und Angestelltenversicherung auf alle nichtversicherungspflichtigen Deutschen unter 40 Jahre im In- und Ausland ausgedehnt und 1938 eine eigene Versicherung für selbständige Handwerker gegen die Risiken des Alters, der Invalidität und der Hinterbliebenenschaft geschaffen wurde.53 Der Arbeitnehmerschutz wurde durch Verordnungen zum Gesundheitsschutz,54 durch die Entwicklung von Unfallverhütungsvorschriften, durch das Gesetz über Lohnschutz in der Heimarbeit vom 08.06.1933 und durch das Heimarbeitsgesetz von 1934, das die Sicherung des Entgelts der Heimarbeit zum Ziele hatte,55 und durch das Jugendschutzgesetz,56 das die Schutzvorschriften für Jugendliche auf das 15. bis 18. Lebensjahr ausdehnte, erweitert. 50

Vgl. zur Sozialversicherung im Dritten Reich die systematische und präzise Darstellung von Teppe 1977. Gesetz über den Aufbau der Sozialversicherung vom 05.07.1934. 52 Gesetz über Wochenhilfe und Genesendenfürsorge in der Krankenversicherung vom 28.06.1935. 53 Gesetz über die Altersversorgung für das Handwerk vom 21.12.1938. 54 Vgl. dazu Gesetz über die Unterkunft bei Bauten vom 23.12.1934, Verordnung über den Schutz der jugendlichen Arbeiter und Arbeiterinnen im Steinkohlenbergbau, in Walz- und Hammerwerken und in der Glasindustrie vom 12.03.1935 oder Verordnung für Arbeiten in Druckluft vom 29.05.1935. 55 Gesetz über die Heimarbeit vom 23.03.1934. 56 Gesetz über Kinderarbeit und über die Arbeitszeit der Jugendlichen (Jugendschutzgesetz) vom 30.04.1938. 51

4.4 Die Sozialgesetzgebung im Dritten Reich (1933 - 1945)

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Die gravierendsten, für das totalitäre System typischsten Änderungen erfolgten im Bereich der Arbeitsmärkte und der Arbeitsmarktpolitik, für den sich eine totale Demontage aller demokratischen Einrichtungen feststellen lässt. Schon am 02.05.1933 wurden die Gewerkschaftshäuser des Allgemeinen Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes durch die Nationalsozialistische Betriebszellen-Organisation (NSBO) besetzt, die Gewerkschaften als freie Arbeitnehmerorganisationen aufgelöst und ihr Vermögen beschlagnahmt. An die Stelle der Gewerkschaften und der Arbeitgeberverbände trat die „Deutsche Arbeitsfront“.57 Mit einer Reihe von Gesetzen,58 vor allem aber mit dem Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit vom 20.01.1934, wurden die Koalitionsfreiheit, die Tarifautonomie, das Streikrecht und das Betriebsrätegesetz von 1920 abgeschafft. Die Lohn- und Arbeitsbedingungen wurden durch sogenannte „Reichstreuhänder der Arbeit“, die ihre Weisungen vom Reichsarbeitsminister erhielten, in rechtsverbindlichen „Tarifordnungen“ festgesetzt. Grundlegende Rechte der Arbeitnehmer wurden nicht nur außerhalb der Betriebe, sondern auch in den Betrieben abgebaut. Den Reichstreuhändern wurde auch die Aufgabe übertragen, „für die Erhaltung des Arbeitsfriedens zu sorgen“ und die Bildung sowie die Geschäftsführung der sogenannten „Vertrauensräte“ zu überwachen. Diese Vertrauensräte – sie bestanden aus dem „Betriebsführer“ und „Vertrauensmännern“ aus der „Gefolgschaft“ – kamen nicht durch Wahl, sondern durch Ernennung von Seiten der Deutschen Arbeitsfront zustande. Sie konnten Entscheidungen des „Betriebsführers“ aufheben und in Streitfällen Entscheidungen treffen. Ihre Hauptaufgabe bestand darin, „das gegenseitige Vertrauen innerhalb der Belegschaft zu vertiefen“, auf den Arbeitsfrieden hinzuwirken und Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeitsleistung und zur Durchführung des Arbeitsschutzes zu beraten (vgl. Mason 1993.). Der außerbetriebliche Abbau von Arbeitnehmergrundrechten – nämlich der Freiheit der Arbeitsplatzwahl und der Freizügigkeit – wurde mit dem Gesetz zur Regelung des Arbeitseinsatzes vom 15.05.1934 fortgesetzt und konsequent bis zur vollen Dienstverpflichtung in der Verordnung über den Arbeitseinsatz vom 25.03.1939 fortgeführt.59 Damit hatte sich der Staat die Möglichkeit totaler staatlicher Planung des Arbeitskräftepotenzials geschaffen. Die völlige Aufhebung der Freizügigkeit brachte dann die Verordnung über die Beschränkung des Arbeitsplatzwechsels vom 01.09.1939. Es machte die Lösung und Begründung von Arbeitsverhältnissen von der Zustimmung des Arbeitsamtes abhängig. Besonders aussagekräftig in Bezug auf Charakter und Funktion der Sozialpolitik des Dritten Reiches sind die Entwicklung der Wohlfahrtspflege und der Familienpolitik. Entsprechend 57

Zur Geschichte und zu den Aufgaben der Deutschen Arbeitsfront (DAF) sowie ihrer Freizeitorganisation „Kraft durch Freude (KdF)“ vgl. Mason 1993 58 Gesetz über Treuhänder der Arbeit vom 19.05.1933, Gesetz über die Übertragung von Restaufgaben der Schlichter auf die Treuhänder der Arbeit vom 20.07.1933, Gesetz zur Änderung des Gesetzes über Betriebsvertretungen und über wirtschaftliche Vereinigungen vom 25.09.1933. 59 Etappen auf diesem Weg waren folgende Gesetze bzw. Verordnungen: Das erwähnte Gesetz zur Regelung des Arbeitseinsatzes vom 15.05.1934, das die Abwanderung aus der Landwirtschaft verbot; die Verordnung über die Verteilung von Arbeitskräften vom 10.08.1934, die der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung Befugnisse zur Verteilung von Arbeitskräften in Mangelberufen übertrug; die Anordnung über den Einsatz gelernter Metallarbeiter vom 29.12.1934, die die Abwerbung von Facharbeitern innerhalb der Metallindustrie verbot; das Gesetz über die Einführung des Arbeitsbuches vom 26.02.1935, das der „zweckentsprechenden Verteilung der Arbeitskräfte in der deutschen Wirtschaft“ dienen sollte; das Gesetz über Arbeitsvermittlung, Berufsberatung und Lehrstellenvermittlung vom 05.11.1935, das der Reichsanstalt das Monopol für die Arbeitsvermittlung übertrug; die Verordnung zur Durchführung des Vierjahresplanes vom 18.10.1936; die Verordnung zur Sicherstellung des Kräftebedarfs für Aufgaben von besonderer staatspolitischer Bedeutung vom 22.06.1938, die im Zusammenhang mit dem Bau des Westwalles die Möglichkeit schuf, Arbeitskräfte für 6 Monate an jedem beliebigen Ort des Reiches zu verpflichten.

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nationalsozialistischer Weltanschauung erhielten nur jene Personen Fürsorgeleistungen, die bedürftig und der Hilfe „würdig“ waren, d.h. die sich für die „Volksgemeinschaft“ einsetzten und ein wertvolles und nützliches Glied dieser darstellten. Rassenhygienische, bevölkerungspolitische und staatspolitische Gesichtspunkte bestimmten Art und Umfang der Fürsorgeleistungen, die auf niedrigem Niveau gehalten wurden. In der freien Wohlfahrtspflege spielte die nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) die Rolle der zuständigen obersten Stelle der NSDAP für alle Fragen der Wohlfahrt und der Fürsorge. Sie sollte den Hilfeempfänger „über die materielle Hilfe hinaus in seinem inneren seelischen Verhalten beeinflussen und unter Benutzung nationalsozialistischer Motive [...] aus ihm ein nützliches, leistungswilliges Glied des Volksganzen machen“ (Althaus 1935, S. 53). Schon im Juli 1934 wurde das Deutsche Rote Kreuz, die Caritas, die Innere Mission und die NSV zu einer „Reichsarbeitsgemeinschaft der freien Wohlfahrtspflege Deutschlands“ zusammengeschlossen mit dem Ziel, die gesamte Wohlfahrtspflege durch die NSV im Sinne des Nationalsozialismus kontrollieren zu können. Die Wohlfahrtsarbeit der konfessionellen Verbände wurde erschwert, die Sammlungsmöglichkeiten des Roten Kreuzes, der Caritas und der Inneren Mission wurden zugunsten eines Sammlungsmonopols der NSV und des Mütterhilfswerkes durch das Sammlungsgesetz vom 05.11.1934 rigoros beschränkt. Entsprechend der Dominanz der rassistisch orientierten Bevölkerungspolitik im Nationalsozialismus spielte die Familienpolitik eine besondere Rolle. Sie umfasste u.a. folgende Maßnahmen:60 1. erheblich größere Steuerermäßigungen als vorher entsprechend der Kinderzahl;61 2. Beihilfen, und zwar a. einmalige Kinderbeihilfen an Familien mit vier und mehr Kindern unter 16 Jahren in Höhe von 100 RM pro Kind bei Bedürftigkeit;62 b. laufende Kinderbeihilfen an Familien mit fünf und mehr Kindern unter 16 Jahren in Höhe von monatlich 10 RM pro Kind;63 diese laufenden Beihilfen wurden im Laufe der Jahre nach Höhe und Anspruchsvoraussetzungen mehrmals verbessert; c. Ausstattungsbeihilfen für Hausgehilfinnen in kinderreichen Familien.64

4.4.3 Charakteristische Merkmale der staatlichen Sozialpolitik Vor dem Dritten Reich gab es keine Periode deutscher Geschichte, in der die staatliche Sozialpolitik so konsequent konform zum weltanschaulichen und staatspolitischen System entwickelt wurde wie im Nationalsozialismus. Diese hohe Systemkonformität wird weniger ausgeprägt sichtbar im Bereich des Arbeitnehmerschutzes, der generell, insbes. aber in Bezug auf Jugendliche und Mütter, weiter ausgebaut wurde. Bereits deutlicher wird die Systemkonformität in der Sozialversicherung, die zu einem Instrument der Systemstabilisierung, der Abschöpfung von Mas60

Vgl. zur Konzeption und Realität der nationalsozialistischen Familienpolitik besonders Mühlfeld/ Schönweiss 1989. 61 Einkommensteuergesetz vom 16.10.1934. 62 Verordnung über die Gewährung von Kinderbeihilfen an kinderreiche Familien vom 15.09.1935. 63 Dritte Durchführungsbestimmung zur Verordnung über die Gewährung von Kinderbeihilfen an kinderreiche Familien vom 24.03.1936. 64 Verordnung über eine Ausstattungsbeihilfe für Hausgehilfinnen vom 12.05.1941.

4.5 Die Sozialgesetzgebung in der Bundesrepublik Deutschland (1949 - 2019)

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senkaufkraft und der Mobilisierung des Arbeitskräftepotentials gemacht wurde (Teppe 1977, S. 249 f.). Ganz klar tritt die Ausgestaltung der Sozialpolitik entsprechend nationalsozialistischer Ideologie in der Arbeitsmarktordnung und in der Arbeitsmarktpolitik, in der Betriebsverfassungspolitik, in der Familienpolitik und im Bereich der Wohlfahrtsfürsorge hervor. Das Arbeitsvertragsrecht und das Koalitionsrecht wurden grundlegend umgestaltet. Durch die Auflösung der Gewerkschaften, die Aufhebung der Koalitionsfreiheit und des Streikrechtes sowie durch die Einführung der staatlichen Festsetzung von Arbeitsbedingungen durch die Treuhänder der Arbeit wurden im Grunde die patriarchalischen Verhältnisse einer vergangenen Epoche restauriert, nur dass jetzt die Autorität der Unternehmer und einer kaiserlichen Reichsregierung durch die diktatorische Anordnung des nationalsozialistischen Staates und durch das nationalsozialistische Führerprinzip ersetzt war. Die individuellen Grundrechte der Freiheit der Arbeitsplatzwahl, der Freizügigkeit und der Niederlassungsfreiheit wurden beseitigt, die Reichsanstalt wurde zu einer staatlich gelenkten Arbeitseinsatzverwaltung umfunktioniert. Die politische Entmündigung der Arbeiterschaft auf dem Arbeitsmarkt wurde durch eine politische Entmündigung in den Betrieben ergänzt. Entsprechend der Führer-Gefolgschaftsideologie wurden die von der Belegschaft gewählten freien Betriebsräte durch ernannte, der nationalsozialistischen Partei verpflichtete „Vertrauensräte“ ersetzt, für betriebsdemokratische Ideen blieb kein Raum. Die humanitäre, auf dem Gedanken der Barmherzigkeit, der christlichen Nächstenliebe, der ethisch motivierten Hilfsbereitschaft für den Mitmenschen beruhende Motivation der Wohlfahrtspflege wurde durch rassistische und staatspolitisch orientierte Zweckrationalität ersetzt: „Wir gehen nicht von dem einzelnen Menschen aus, wir vertreten nicht die Anschauung, man muß die Hungernden speisen, die Durstigen tränken und die Nackten bekleiden – das sind für uns keine Motive. Unsere Motive sind ganz anderer Art. Sie lassen sich am lapidarsten in dem Satz zusammenfassen: Wir müssen ein gesundes Volk besitzen, um uns in der Welt durchsetzen zu können“ (Joseph Goebbels, zitiert nach Scheur 1967, S. 191). Im Dritten Reich wurde die Sozialpolitik entfremdet, missbraucht und enthumanisiert. Sie diente nicht mehr primär den Schwachen. Sie wurde auf „Volksgenossen“ beschränkt und zum Erziehungs- und Disziplinierungsinstrument gemacht.

4.5 Die Sozialgesetzgebung in der Bundesrepublik Deutschland (1949 - 2019) 4.5.1 Politischer und wirtschaftlicher Hintergrund Die staatliche Sozialpolitik in der Bundesrepublik ist durch fünf Perioden gekennzeichnet, die sich sowohl wirtschaftlich wie politisch erheblich unterscheiden.65 In den ersten beiden Perioden (1949-53 und 1954-76) wurden die Wirtschaft, das Arbeitsrecht und das System Sozialer Sicherung wieder aufgebaut und ein umfassender Sozialstaat entwickelt. Die folgenden Jahrzehnte 65

Vgl. dazu die ausführliche Darstellung von Hentschel 1991, Alber 1989 und Blüm/Zacher 1989. Vgl. ferner die historische Darstellung der Sozialpolitik in der Bundesrepublik für die Jahre 1974 bis 2004 in Butterwegge 2012, S. 115 ff. und die vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung und vom Bundesarchiv herausgegebene elfbändige „Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945“.

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4 Geschichte der sozialpolitischen Gesetzgebung in Deutschland

sind von dem Versuch gekennzeichnet, dieses System an geänderte politische, wirtschaftliche und demografische Rahmenbedingungen anzupassen. Die politischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen der ersten Nachkriegsjahre waren für eine Entwicklung der Sozialpolitik – vor allem gemessen an den sozialpolitischen Aufgaben der unmittelbaren Nachkriegszeit – unvorstellbar ungünstig. Nach dem Ende des zweiten Weltkriegs verfolgten die alliierten Siegermächte, die alle gesetzgebende, richterliche und exekutive Gewalt übernommen hatten, im viergeteilten Deutschland zunächst eine Politik der Vergeltung, der Zerschlagung des deutschen Wirtschaftspotenzials und der permanenten militärischen, politischen und wirtschaftlichen Paralysierung Deutschlands. Die wirtschaftliche Ausgangslage erschien trostlos: etwa 20% der gewerblichen Bauten und des gewerblichen Inventars, 20-25% der Wohnungen und 40% der Infrastruktur waren durch Kriegszerstörungen verlorengegangen. 25% der Fläche des ehem. Dt. Reichs von 1937 mussten abgetreten werden. Deutschland hatte dreieinhalb Mio. Kriegstote zu beklagen, 40% der Bevölkerung gehörten als Witwen oder Waisen, als Kriegsbeschädigte, Flüchtlinge oder Vertriebene zu den unmittelbaren Kriegsopfern. Mit dieser Ausgangslage waren auch die dringendsten sozialpolitischen Aufgaben gegeben: die Versorgung der Kriegshinterbliebenen und der Kriegsbeschädigten, die Lösung der Wohnungsnot, die Beseitigung des Elends der Flüchtlinge und der Heimatvertriebenen. Bis 1947 waren 10 Mio. Flüchtlinge und Vertriebene in das Gebiet der späteren Bundesrepublik eingeströmt. Zu alledem kam eine weit verbreitete Unterernährung. 1946 betrug das Sozialprodukt etwa 40% des Sozialproduktes von 1938 bei einer etwa gleich großen Bevölkerung. Wie Abb. 4.1 zeigt, wuchs das reale Bruttosozialprodukt von 1950 bis 1970 mit außergewöhnlich hohen, wenn auch trendmäßig sinkenden Wachstumsraten. Es stieg von 1950 - 1960 um 164 % und von 1960 - 1970 um 76 % an. Die Nettorealverdienste der Arbeitnehmer sind 1950 - 1970 auf das 3,4-fache gestiegen. Nach Überwindung der Nachkriegsarbeitslosigkeit herrschte ab Ende der 1950er Jahre Vollbeschäftigung. Die ökonomischen Voraussetzungen für die Sozialpolitik waren in dieser Phase also sehr günstig. Dagegen verschlechterten sich die ökonomischen Grundlagen der Sozialpolitik ab Mitte der 1970er Jahre, als sich das wirtschaftliche Wachstum abschwächte und eine hohe und dauerhafte Arbeitslosigkeit entstand. Diese Arbeitslosigkeit stieg nach der Wiedervereinigung Deutschlands nochmals sprunghaft an. Im Jahr 2006 erreichte die Arbeitslosigkeit mit 4,9 Mio. Personen und einer Arbeitslosenquote von 11,7 % ihren Höhepunkt. Seitdem ist die Arbeitslosigkeit deutlich rückläufig; sie beträgt aktuell (2018) 2,3 Mio. Personen bzw. 5,2 % der zivilen Erwerbspersonen. Der Anstieg der Bruttolöhne und Gehälter liegt seit Mitte der 1990er Jahre bis zum Ausbruch der Finanzkrise 2008 erkennbar unter dem Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts, die Nettorealverdienste je Arbeitnehmer sind in diesem Zeitraum nahezu konstant geblieben. Die steigende Arbeitslosigkeit, steigende Sozialausgaben, eine zunehmende Staatsverschuldung sowie die absehbare demografische Entwicklung ließen ab Anfang der 1980er Jahre die Forderung nach einer „Wende“ in der Sozialpolitik entstehen. In der Folgezeit wurden mehrere Versuche unternommen, die Sozialausgaben zu stabilisieren und soziale Leistungen einzuschränken. Tief greifende Reformen fanden in der Rentenversicherung in den Jahren 1992, 2002 und 2004 statt. Im Bereich der Arbeitsmarktpolitik erfolgten Deregulierungsmaßnahmen Mitte der 1990er Jahre und im Rahmen der sog. „Hartz-Reformen“ in den Jahren 2003 bis 2005. Die sozialpolitischen Reformen, die in den Jahren 2002 bis 2005 umgesetzt wurden, werden unter dem Stichwort „Agenda 2010“ zusammengefasst.

4.5 Die Sozialgesetzgebung in der Bundesrepublik Deutschland (1949 - 2019)

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Im Gegensatz zur Weimarer Republik waren die politischen Rahmenbedingungen in der Bundesrepublik Deutschland ausgesprochen stabil; diese hohe partei- und regierungspolitische Stabilität ist auch der staatlichen Sozialpolitik zugute gekommen.

4.5.2 Die Sozialgesetzgebung 1. Phase: Die Periode des Aufbaues einer neuen Sozialordnung (1949 bis 1953) Im Gegensatz zur Weimarer Verfassung enthält das Grundgesetz vom 08.05.1949 nur wenige Normen zur Wirtschafts- und Sozialordnung. Ausdrücklich sind nur sozialpolitisch relevante Grundrechte enthalten, nämlich das Recht auf Schutz der Menschenwürde (Art. 1), das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2), der allgemeine Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1), der Grundsatz der Gleichberechtigung von Mann und Frau (Art. 3 Abs. 2) und das Gleichbehandlungsgebot (Art. 3 Abs. 3), das Recht auf Versammlungsfreiheit (Art. 8) und auf Koalitionsfreiheit (Art. 9), das Recht auf Freizügigkeit (Art. 11) und das Recht der freien Berufsund Arbeitsplatzwahl (Art. 12). Daneben findet sich nur noch das in den Art. 20 und 28 enthaltene Sozialstaatsprinzip als sozialstaatliche Zentralnorm.66 Angesichts der wirtschaftlichen Ausgangslage und der Tatsache, dass wirtschaftliche und soziale Not in den ersten Nachkriegsjahren eine Massenerscheinung waren, räumte die erste deutsche Bundesregierung dem Wiederaufbau der Wirtschaft Priorität ein. Gleichzeitig wurden jedoch zahlreiche sozialpolitische Gesetze erlassen. Nachdem noch vor Gründung der Bundesrepublik unter weitgehendem Rückgriff auf die Gesetzgebung der Weimarer Republik die Sozialversicherungen – GRV, GUV, GKV – und die Kriegsopferversorgung notdürftig wieder aufgebaut waren und durch ein Soforthilfegesetz 67 erste Lastenausgleichsleistungen in Form von Lebensunterhaltshilfe an die Flüchtlinge, an die Vertriebenen und an die durch die Währungsreform Geschädigten gewährt worden waren, wurde mit Hilfe von Exportförderung, Investitionsförderung und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen68 eine Vollbeschäftigungspolitik betrieben, die gleichzeitig wachstums- und sozialpolitische Effekte hatte. Die rasche Verbesserung der wirtschaftlichen Lage und des allgemeinen Versorgungsniveaus wurden die Grundlage für eine nach Umfang und Qualität beeindruckende gesetzgeberische Aktivität des ersten Deutschen Bundestages, der von 1949 bis 1953 amtierte. Durch das Bundesversorgungsgesetz von 195069 war eine neue Basis für eine am Konzept des Schadensausgleichs ausgerichtete Versorgung der Kriegshinterbliebenen und der Kriegsbeschädigten geschaffen worden. Das 1952 verabschiedete Lastenausgleichsgesetz 70 begründete einen neuartigen sozialpolitischen Maßnahmenkomplex. Mit diesem Gesetz sollten die durch Krieg und 66

Art. 20 Abs. 1: „Die Bundesrepublik ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat“; Art. 28 Abs. 1: „Die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern muss den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes entsprechen. [...]“. 67 Gesetz zur Milderung dringender sozialer Notstände (Soforthilfegesetz) vom 08.08.1949. 68 Gesetz über steuerliche Maßnahmen zur Förderung der Ausfuhr vom 28.06.1951, Gesetz über die Investitionshilfe der gewerblichen Wirtschaft vom 07.01.1952 sowie Gesetz über die Finanzierung eines Sofortprogrammes zur Arbeitsbeschaffung im Rechnungsjahr 1951 vom 27.12.1951. 69 Gesetz über die Versorgung der Opfer des Krieges (Bundesversorgungsgesetz) vom 20.12.1950. 70 Gesetz über den Lastenausgleich (Lastenausgleichsgesetz) vom 14.08.1952.

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in %

5

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−5 1950

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2020

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Bevölkerung

Erwerbspersonen

20

Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte

Erwerbstätige Arbeitnehmer 0

in Mio. Personen

60

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Arbeitslosenquote

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1950

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2010

2020

Jahr

Abb. 4.1: Indikatoren zur Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung (1950-2018) Quelle: BMA, Stat. Tb., Tab. 1.1, 2.1, 2.3, 2.6, 2.10

4.5 Die Sozialgesetzgebung in der Bundesrepublik Deutschland (1949 - 2019)

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Kriegsfolgen unterschiedlich verteilten Lasten zwischen den Bürgern ausgeglichen werden. Des Weiteren sollten die Flüchtlinge und Vertriebenen durch den teilweisen Ersatz von Vermögensverlusten und durch die Gewährung von Aufbaudarlehen in die Bundesrepublik eingegliedert werden. Neben diesem großen Aufgabenkomplex der Bewältigung der Kriegsschäden und Kriegsfolgen stand der erste Deutsche Bundestag in Bezug auf die Sozialversicherungspolitik, die Arbeitsmarktpolitik und die Betriebsverfassungspolitik vor einer Reihe ordnungspolitischer Entscheidungen, da das Naziregime eine totalitäre Sozialordnung hinterlassen hatte, die den Verfassungsgrundsätzen des Grundgesetzes fundamental widersprach. Im Zuge der Währungsreform wurden die Ansprüche an die Sozialversicherung – entgegen der allgemeinen Umstellungsrate im Verhältnis von 10:171 – im Verhältnis von 1:1 umgerechnet. Dadurch wurde der Nominalwert der Sozialversicherungsansprüche bei der Währungsumstellung gesichert. Im unmittelbaren Anschluss daran wurden die Sozialversicherungsrenten an die Lohn- und Preisentwicklung angepasst.72 Im Jahr 1950 wurde die paritätisch von Arbeitnehmerund Arbeitgebervertretern ausgeübte Selbstverwaltung in der Sozialversicherung wieder hergestellt.73 Die Gesetzgebung im Bereich der Sozialversicherung knüpfte im Wesentlichen an die Regelungen und Einrichtungen der Weimarer Zeit an. Eine (Teil-)Renaissance erlebten auch die Arbeitsmarktordnung und das Arbeitsvertragsrecht: Schon 194974 hatte die Verwaltung des Vereinigten Wirtschaftsgebietes die Gewerkschaften und die Arbeitgeberverbände in ihre Autonomierechte wieder eingesetzt. Der Bund bestätigte die Tarifautonomie und das Arbeitskampfrecht der Sozialpartner.75 Bereits in den ersten Jahren der Bundesrepublik wurden auch im Bereich der Betriebs- und Unternehmensverfassung grundlegende Reformen umgesetzt: 1951 räumte der Gesetzgeber den Arbeitnehmervertretungen unternehmerische Mitbestimmungsrechte in den Aufsichtsräten und Vorständen der Unternehmen des Bergbaues und der Eisen und Stahl erzeugenden Industrie ein.76 1952 führte er durch das Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) die Mitbestimmung der Arbeitnehmervertreter in persönlichen, wirtschaftlichen und sozialen Angelegenheiten in den Betrieben der Privatwirtschaft ein, 1955 übertrug der Bundesgesetzgeber im Rahmen des Personalvertretungsgesetzes und in Ergänzung der Personalvertretungsgesetze der Bundesländer vergleichbare Rechte auf die Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst. Angesichts der durch Kriegszerstörungen und Bevölkerungszustrom bedingten Wohnungsnot spielte die Wohnungspolitik von Anfang an eine große Rolle. Mit dem 1950 verabschiedeten Wohnungsbaugesetz 77 begann ein Wohnungsbauprogramm, das bis 1953 zum Bau von über zwei Mio. neuen Wohnungen führte. Mit der Wohnungsbaupolitik wurde auch das Ziel der Förderung individueller Vermögensbildung verfolgt. 71

Drittes Gesetz zur Neuordnung des Geldwesens (Umstellungsgesetz) vom 20.06.1948. Gesetz über die Anpassung von Leistungen der Sozialversicherung an das veränderte Lohn- und Preisgefüge und über ihre finanzielle Sicherstellung (Sozialversicherungsanpassungsgesetz) vom 17.06.1949. 73 Gesetz über die Selbstverwaltung und über Änderungen von Vorschriften auf dem Gebiet der Sozialversicherung vom 22.02.1951. 74 Tarifvertragsgesetz i. d. F. vom 09.04.1949. 75 Gesetz zur Änderung des Tarifvertragsgesetzes vom 11.01.1952; Gesetz über die Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen vom 11.01.1952. 76 Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in den Aufsichtsräten und Vorständen der Unternehmen des Bergbaues und der Eisen und Stahl erzeugenden Industrie vom 21.05.1951. 77 Erstes Wohnungsbaugesetz vom 24.04.1950. 72

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4 Geschichte der sozialpolitischen Gesetzgebung in Deutschland

Im Bereich des Arbeitnehmerschutzes wurde vom ersten Deutschen Bundestag der allgemeine Kündigungsschutz78 ebenso weiterentwickelt wie die Maßnahmen zum Schutz bestimmter Arbeitsverhältnisse und bestimmter Personengruppen durch das Heimarbeitsgesetz von 1951, das Mutterschutzgesetz von 195279 und das Schwerbeschädigtengesetz von 1953. Der erste Deutsche Bundestag griff in zahlreichen sozialpolitischen Bereichen auf Einrichtungen und Normen der Weimarer Republik zurück. Dieser Rückgriff erfolgte zum Teil deswegen, weil innerhalb kürzester Zeit brauchbare Regelungen und funktionsfähige soziale Institutionen errichtet werden mussten. Er erfolgte aber auch wegen der weitgehenden Übereinstimmung mit den sozialpolitischen Zielsetzungen einer freiheitlichen, pluralistischen, dem sozialen Rechtsstaat verpflichteten Mehrparteiendemokratie (Prinzip sozialer Selbstverwaltung, Koalitionsfreiheit, Tarifautonomie, Arbeitskampfrecht, betriebsdemokratisches Mitbestimmungsrecht).

2. Phase: Die Periode sozialpolitischer Expansion (1953 bis 1976) Für die Jahre nach 1953 ist eine bemerkenswerte Weiterentwicklung der staatlichen Sozialpolitik festzustellen. Hervorhebenswert sind – abgesehen vom Ausbau des Jugendschutzes,80 des Mutterschutzes81 und der Einführung von Mindesturlaubsregelungen82 – Regelungen in der Sozialversicherung, der Arbeitsmarktpolitik, der Vermögenspolitik, der Bildungspolitik und der Familienpolitik. Aus der Gesetzgebung zur Sozialversicherung ragen a) die Dynamisierung der Rentenleistungen in der Alters-, Invaliditäts- und Unfallversicherung83 sowie in der Kriegsopferversorgung,84 b) die Schaffung einer gesetzlichen Alterssicherung für die Landwirte,85 c) die Ersetzung der starren Altersgrenze in der GRV durch eine flexible Altersgrenze,86 d) die Neuordnung der Alterssicherung für das Handwerk,87 e) die Einbeziehung von Schülern, Studenten und Kindergartenkindern in die GUV88 und f) die schrittweise Verbesserung der wirtschaftlichen Sicherung der Arbeiter im Krankheitsfalle

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Kündigungsschutzgesetz vom 10.08.1951. Gesetz zum Schutz der erwerbstätigen Mutter (Mutterschutzgesetz) vom 24.01.1952. 80 Gesetz zum Schutz der arbeitenden Jugend vom 09.08.1960. 81 Gesetz zur Änderung des Mutterschutzgesetzes und der Reichsversicherungsordnung vom 24.08.1965. 82 Bundesurlaubsgesetz vom 08.01.1963. 83 Arbeiterrentenversicherung-Neuregelungsgesetz vom 23.02.1957; AngestelltenversicherungNeuregelungsgesetz vom 23.02.1957; Gesetz zur Neuregelung der knappschaftlichen Rentenversicherung vom 21.05.1957; Gesetz zur Neuregelung des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung (UnfallversicherungNeuregelungsgesetz) vom 30.04.1963. 84 Gesetz über die Anpassung der Leistungen des Bundesversorgungsgesetzes vom 26.01.1970. 85 Gesetz über eine Altershilfe für Landwirte vom 27.07.1957. 86 Rentenreformgesetz vom 16.10.1972. 87 Gesetz über eine Rentenversicherung der Handwerker (Handwerkerversicherungsgesetz) vom 08.09.1960. 88 Gesetz über Unfallversicherung für Schüler und Studenten sowie Kinder in Kindergärten vom 18.03.1971. 79

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heraus, die schließlich zur Gleichstellung der Arbeiter mit den Angestellten, d. h. zur vollen Lohnfortzahlung für die ersten sechs Wochen nach Eintritt einer Erkrankung, führte.89 Mit dem Arbeitsförderungsgesetz (AFG) vom 25.06.1969 wurde die aktive Arbeitsmarktpolitik in Deutschland institutionalisiert. Das AFG sah Maßnahmen zur individuellen Förderung der beruflichen Ausbildung, Fortbildung und Umschulung vor. Einen Schutz der Arbeitnehmer vor einem Ausfall des Lohnes bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers brachte 1974 das Gesetz über die Einführung eines Konkursausfallgeldes. 1972 wurde das BetrVG,90 und 1974 das Personalvertretungsgesetz 91 novelliert und die Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmer ausgeweitet. 1976 wurde die Mitbestimmung im Unternehmen auf alle Großunternehmen (Unternehmungen mit in der Regel mehr als 2 000 Beschäftigten) ausgedehnt.92 Die in Ansätzen bereits im Wohnungsbauprämiengesetz des Jahres 1952 erkennbare Vermögensförderungspolitik, die das Bausparen durch staatliche Prämien und – auf der Grundlage des Einkommensteuergesetzes – auch durch Steuervergünstigungen förderte, wurde durch verschiedene Gesetze fortgeführt. Zu nennen sind das Sparprämiengesetz vom 05.05.1959, welches das Sparen durch Prämien begünstigte und das Gesetz zur Förderung der Vermögensbildung der Arbeitnehmer vom 12.07.1961, das Vermögensanlagen der Arbeitgeber zugunsten der Arbeitnehmer begünstigte. Aus den bildungspolitischen Maßnahmen ragen neben dem AFG, das auch der Förderung der beruflichen Bildung dient, das Berufsbildungsgesetz von 1969 und das Bundesausbildungsförderungsgesetz 93 von 1971 hervor. Grundlegend neu gestaltet wurde 1961 das Fürsorgewesen durch das Bundessozialhilfegesetz (BSHG) und durch das Gesetz für Jugendwohlfahrt. Beide Gesetze räumten einen Rechtsanspruch auf Hilfeleistung ein, die die Führung eines der Menschenwürde entsprechenden Lebens ermöglichen sollten.94 Die Aufgabe, die finanziellen Lasten von Familien mit Kindern gegenüber Kinderlosen auszugleichen, wurde 1954 mit dem Kindergeldgesetz in Angriff genommen. Das Gesetz räumte allen Arbeitnehmern und allen Selbständigen, die drei oder mehr Kinder hatten, Anspruch auf Kindergeld ein. Mittlerweile wird für jedes Kind Kindergeld gewährt (vgl. S. 291 ff.).

3. Phase: Die Periode der sozialpolitischen Konsolidierung (1976 bis 1989) Mit dem zur Mitte der 1970er Jahre einsetzenden Wachstumseinbruch und der damit zusammenhängenden Beschäftigungskrise begann sich die sozialpolitische Diskussion in Deutschland zu verändern. Bedingt durch den Anstieg der Beitragssätze zur Sozialversicherung und spür89

Gesetz über die Fortzahlung des Arbeitsentgelts im Krankheitsfalle und über Änderungen des Rechts der gesetzlichen Krankenversicherung vom 27.07.1969. 90 Betriebsverfassungsgesetz vom 15.01.1972. 91 Bundespersonalvertretungsgesetz vom 20.03.1974. 92 Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer (Mitbestimmungsgesetz) vom 04.03.1976. 93 Bundesgesetz über individuelle Förderung der Ausbildung vom 26.08.1971. 94 Eine grundlegende Reform des Jugendhilferechts brachte 1990 das Gesetz zur Neuordnung des Kinder– und Jugendhilferechts. Es sieht eine präventive und therapeutisch umfassende, familienunterstützende Förderung der Kinder und Jugendlichen vor. Das BSHG wurde im Jahr 2003 durch die Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) und durch die Sozialhilfe (SGB XII) abgelöst.

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4 Geschichte der sozialpolitischen Gesetzgebung in Deutschland

baren Finanzierungsengpässen in den öffentlichen Haushalten wurde die Forderung nach einer „Wende“ in der Sozialpolitik laut. Die Zunahme der Sozialausgaben war v. a. durch steigende Aufwendungen für die Arbeitsmarktpolitik und durch einen Anstieg der Kosten in der Rentenund Krankenversicherung verursacht. Dementsprechend waren die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und die finanzielle Konsolidierung der Sozialversicherung die Schwerpunkte der sozialpolitischen Aktivitäten in der zweiten Hälfte der 1970er und in den 1980er Jahren. Entgegen dieser allgemeinen Konsolidierungsbemühungen wurde die staatliche Familienpolitik deutlich ausgebaut. Im Bereich der Arbeitsmarktpolitik wurde zunächst noch versucht, den Beschäftigungsgrad durch Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik zu erhöhen. So wurden die Mittel für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und für die Berufsbildung massiv aufgestockt. Diese Politik erwies sich jedoch als ungeeignet, die strukturelle Arbeitslosigkeit wirkungsvoll zu bekämpfen. Das Beschäftigungsförderungsgesetz vom 26.04.1985 stellt den Versuch dar, durch einen Abbau von Regulierungen am Arbeitsmarkt die Beschäftigungschancen von Arbeitslosen zu erhöhen. So wurden die Möglichkeiten zum Abschluss befristeter Beschäftigungsverhältnisse erweitert, die Verpflichtung der Unternehmen zum Abschluss eines Sozialplans bei Betriebsstilllegungen eingeschränkt, die Arbeitnehmerüberlassung gelockert und der Anwendungsbereich des Kündigungsschutzgesetzes beschränkt.95 Mit dem Vorruhestandsgesetz (VRG)96 von 1984 wurde versucht, den Arbeitsmarkt zu entlasten und die Beschäftigungschancen für jüngere Arbeitnehmer zu verbessern. Die Inanspruchnahme dieser Leistung blieb jedoch begrenzt. In der gesetzlichen Krankenversicherung sollten die Kosten durch mehrere Kostendämpfungsgesetze begrenzt werden.97 Diese Maßnahmen konnten die Ausgabendynamik nur kurzfristig unterbrechen, aber nicht nachhaltig begrenzen. In der gesetzlichen Rentenversicherung wurden durch das Rentenreformgesetz (RRG 1992)98 das Ausgabenwachstum abgebremst. Dieses Gesetz sah die Anhebung der vorzeitigen Altersgrenzen für Frauen und Arbeitslose (bislang: 60. Lebensjahr) sowie für langjährige Versicherte (bislang: 63. Lebensjahr) auf das 65. Lebensjahr vor und führte Abschläge bei vorzeitiger Inanspruchnahme der Rente ein. Des Weiteren wurden die Bestandsrenten nicht mehr entsprechend der Entwicklung der Bruttolohn- und Gehaltssumme, sondern gemäß der Entwicklung der Nettolöhne angepasst (sog. „Nettolohnorientierung“ der Rente). Eine quantitative und qualitative Ausweitung der Leistungen erfolgte in der Familienpolitik. Mit dem Hinterbliebenenrenten- und Erziehungszeiten-Gesetz (HEZG)99 kam der Gesetzgeber zum einen der Aufforderung des BVerfG aus dem Jahre 1974 nach, die Ungleichbehandlung von Mann und Frau in der Hinterbliebenenversorgung zu beseitigen. Gleichzeitig führte er als innovative Leistung ein Erziehungsjahr für kindererziehende Mütter bzw. Väter ein, das rentenbegründend und rentensteigernd wirkte. Sofern jedoch während dieser Zeit Rentenansprüche 95

Zu den Inhalten des Beschäftigungsförderungsgesetzes vgl. Löwisch 1985. Vgl. Gesetz zur Erleichterung des Übergangs vom Arbeitsleben in den Ruhestand vom 01.05.1984. 97 Vgl. das Krankenversicherungskostendämpfungsgesetz (KVKG) vom 27.06.1977, das Krankenversicherungskostendämpfungsergänzungsgesetz (KVEG) vom 22.12.1981, das Krankenhausneuordnungsgesetz (KHNG) vom 20.12.1984, die Bundespflegesatzverordnung (BPflV) vom 01.01.1986 sowie das Gesundheitsreformgesetz (GRG) vom 20.12.1988. 98 Gesetz zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung (Rentenreformgesetz 1992) vom 18.12.1989; dieses Gesetz trat in seinen wesentlichen Teilen zum 01.01.1992 in Kraft. 99 Gesetz zur Neuordnung der Hinterbliebenenrenten sowie zur Anerkennung von Kindererziehungszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung vom 11.07.1985. 96

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aus einer eigenständigen Erwerbstätigkeit entstanden, wurden diese auf die Kindererziehungszeiten angerechnet (sog. „Lückenschließungsprinzip“). Diese Maßnahme wurde im gleichen Jahr durch die Zahlung von Erziehungsgeld und die Einführung eines Erziehungsurlaubs (seit 2004: Elternzeit) ergänzt.

4. Phase: Die Periode der Wiedervereinigung (1990 - 2001) Eine wesentliche Zäsur für die Wirtschafts- und Sozialordnung der Bundesrepublik Deutschland stellte die deutsche Wiedervereinigung dar. Mit dem Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion vom 1.7.1990 wurden die sozialpolitischen Institutionen der Bundesrepublik Deutschland auf die Deutsche Demokratische Republik übertragen. Die vollständige Integration erfolgte durch den Beitritt der Länder der DDR zur Bundesrepublik Deutschland zum 3.10.1990.100 Die Übernahme der Wirtschafts- und Sozialordnung der Bundesrepublik Deutschland durch die ehem. DDR hat drei Arten von sozialpolitischem Handlungsbedarf entstehen lassen, nämlich: • durch die Systemtransformation bedingten Handlungsbedarf. Der Aufbau einer funktionsfähigen marktwirtschaftlichen Ordnung erforderte die Beseitigung jener Elemente der Arbeitsund Sozialordnung der DDR, die ein Ergebnis der sozialistischen Planwirtschaft waren und mit den wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Grundzielen der Sozialen Marktwirtschaft unvereinbar sind. Darunter fallen z. B. die Arbeitskräftelenkung, die staatliche Lohnfestsetzung und die massive Subventionierung von Grundnahrungsmitteln, Verkehrs- und Energiepreisen sowie von Mieten.101 Gleichzeitig mussten die für eine freiheitliche Wirtschafts- und Sozialordnung charakteristischen Prinzipien und Institutionen etabliert werden; • durch Übergangsschwierigkeiten bedingten Handlungsbedarf. Dazu gehören vor allem die Substitution der Preissubventionen durch Einkommenssubventionen und Erhöhungen der Arbeitseinkommen und Sozialleistungen, um Realeinkommensverluste zu vermeiden,102 sowie die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit; • durch die Unterschiede im wirtschaftlichen und sozialpolitischen Leistungsniveau bedingten Handlungsbedarf. Er soll im Folgenden skizziert werden.103 Im Arbeitszeitschutz und im Bereich des technischen Arbeitsschutzes stimmten zwar die Zielsetzungen und die Rechtsnormen zwischen der Bundesrepublik und der DDR weitgehend überein. Es gab jedoch erhebliche Abweichungen im Zielerreichungsgrad. So lag die wöchentliche Arbeitszeit in der DDR um etwa 15 % über der westdeutschen Arbeitszeit und der Jahresurlaub

100

Da ein Sozialsystem nicht unmittelbar durch ein anderes ersetzt werden kann, waren zahlreiche Übergangsbestimmungen erforderlich; vgl. hierzu Frerich 1996, Bd. 3, S. 557 ff. Mittlerweile ist der Anpassungsprozess sowohl im Leistungs- wie im Beitragsrecht weitgehend abgeschlossen. 101 Eine ausführliche Beschreibung der Sozialordnung der DDR, ihrer ideologischen Konzeption und der in der DDR praktizierten Sozialpolitik findet sich in den Bänden 8-10 der vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung herausgegebenen Reihe „Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945“ sowie bei Schmidt 2005, S. 125 ff. 102 Rund 30% der Ausgaben des Haushalts der ehem. DDR entfiel auf die Subvention von Güter und Dienstleistungen. 103 Vgl. hierzu Lampert 1990a.

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war um etwa ein Drittel kürzer. Dagegen waren die bezahlten Freistellungen für kinderbetreuende Mütter großzügiger geregelt. Besondere Gefährdungen der Arbeitnehmer ergeben sich aus der unzulänglichen und technisch veralteten Arbeitsplatzausstattung. Einen besonderen Problembereich stellte der Kündigungsschutz dar. Aufgrund des in der Verfassung der DDR verankerten „Rechts auf Arbeit“ war es nicht möglich, Beschäftigten aus betrieblichen Gründen zu kündigen. Diese Beschäftigungsgarantie musste aufgegeben werden, weil sie die Allokationsfunktion des Arbeitsmarktes außer Kraft setzen und eine der wichtigsten Ursachen für die Ineffizienz des sozialistischen Wirtschaftssystems war. Damit wurde die Bevölkerung der ehem. DDR erstmals mit den wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Arbeitslosigkeit konfrontiert. Da die Sozialpolitik der DDR vor allem auf die erwerbsfähige Bevölkerung ausgerichtet war, unterschieden sich die Leistungsniveaus im Bereich der sozialen Sicherung im engeren Sinn erheblich. So stimmten in der Unfallversicherung zwar die Leistungsvoraussetzungen mit dem westdeutschen Recht weitgehend überein, die Leistungshöhe im Falle einer Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit unterschied sich jedoch eklatant. Ebenfalls stark ausgeprägt waren auch die Leistungsunterschiede in der Rentenversicherung. Die Renten in der DDR stellten, soweit es sich nicht um die vom System privilegierten Personengruppen handelte, nur eine Grundversorgung sicher. Sie lagen im Durchschnitt knapp über den Mindestrenten. In der DDR betrug das durchschnittliche Nettoeinkommen von Rentnerhaushalten etwa 1/3 des Nettoeinkommens von Arbeitnehmerhaushalten, in der Bundesrepublik waren es ca. 2/3. Die Anspruchsvoraussetzungen für Hinterbliebenenrenten waren in der DDR ungünstiger als in der Bundesrepublik. Weniger gravierend waren die Unterschiede in den Geldleistungen der Krankenversicherung. Die DDR kannte keine Lohnfortzahlung. Im Krankheitsfall belief sich das Krankengeld auf 70 bis 90 % des Nettoarbeitsentgeltes. Allerdings gab es in der DDR in Bezug auf die medikamentöse und medizinische Versorgung in den Ambulatorien, Polikliniken und Krankenhäusern erhebliche Defizite. Die Sozialhilfe, in der DDR als Sozialfürsorge bezeichnet, spielte in der DDR eine geringere Rolle, weil die Politik der Arbeitsplatzsicherung nur einen geringeren Hilfsbedarf entstehen ließen. Auch in der Wohnungspolitik hatte die DDR gegenüber der Bundesrepublik erhebliche Defizite aufzuweisen. Zwar wurden die extrem niedrigen, staatlich subventionierten Mieten als „sozialistische Errungenschaft“ gefeiert. Allerdings waren sie gleichzeitig ein Grund für die quantitativ und qualitativ deutlich schlechtere Versorgung der ostdeutschen Bevölkerung mit Wohnraum. Während in den bisher angesprochenen Bereichen mehr oder minder große Leistungsvorsprünge der Bundesrepublik zu konstatieren waren, stellte sich die Lage in der Familienpolitik anders dar. Aus verschiedenen Gründen, zu denen produktions- und bevölkerungspolitische Motive zählen, wurden vor allem seit 1972 zahlreiche familienpolitische Instrumente eingesetzt bzw. verbessert. Dazu gehörten z.B. Ehestandskredite, Arbeitszeiterleichterungen für Mütter bzw. Väter, der Mutterschaftsurlaub, die Sicherung der Betreuung der Kinder in Krippen und Kindergärten, Geburtenprämien, stark familien- und kinderzahlorientierte Sozialleistungen und Kindergeld. Bei einem Vergleich der Familienpolitik in beiden Staaten ergibt sich, dass in der DDR die Freistellungen für Mütter großzügiger geregelt waren, dass die Ausstattung mit Kinderbetreuungsplätzen quantitativ besser war und dass die Familienpolitik stärker auf kinderreiche

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Familien ausgerichtet war. Gleichzeitig ist zu berücksichtigen, dass jedoch der Zwang der Mütter zur Erwerbsarbeit in der DDR größer war als in der Bundesrepublik.104 Durch die Systemtransformation wurde die Bevölkerung der ehem. DDR nicht nur mit Änderungen von Teilen des Gesellschaftssystems konfrontiert; vielmehr hat sich das gesamte Rechtssystem (Zivilrecht, Prozessrecht, Familienrecht, Strafrecht usw.), das gesamte Wirtschaftssystem und das gesamte Sozialleistungssystem verändert. Die Bevölkerung musste sich innerhalb kürzester Zeit auf eine völlig andere Wirtschaftsordnung umstellen, das vielfach andere Verhaltensweisen und andere Eigenschaften voraussetzt als das alte System. Selbst bei hoher Bereitschaft der Bevölkerung zur Umstellung und zur Anpassung an das neue System waren Friktionen und Umstellungsschwierigkeiten unvermeidbar. Als das zweifellos größte Problem stellt sich in Ostdeutschland die Arbeitslosigkeit dar. Die Zahl der versicherungspflichtig Beschäftigten ging in Ostdeutschland von 9,8 Mio. im Herbst 1989 auf 5,8 Mio. Personen im Jahr 1992 zurück. Im Jahr 2005 waren 1,6 Mio. Menschen arbeitslos gemeldet; das entsprach einer Arbeitslosenquote von über 22 %. Fast jeder zweite erwerbstätige Ostdeutsche war in seinem Berufsleben mindestens einmal von Arbeitslosigkeit betroffen. Dieser abrupte Anstieg der registrierten Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern ist auf vier Faktoren zurückzuführen.105 Zum einen wurde die in der Planwirtschaft vorhandene verdeckte Arbeitslosigkeit durch den Systemwechsel erstmals offen ausgewiesen. Zweitens entfielen mit dem Zusammenbruch der sozialistischen Systeme die Absatzmärkte zahlreicher ostdeutscher Unternehmen. Der auf die sozialistischen Systeme Mittel- und Osteuropas zugeschnittene Produktionssektor musste in eine wettbewerbsfähige, an marktwirtschaftlichen Erfordernissen ausgerichtete Struktur überführt werden, ein Großteil der Unternehmen musste stillgelegt werden. Drittens waren die meisten Produktionsanlagen Ostdeutschlands technisch veraltet und nicht mehr wettbewerbsfähig. Der Aufbau neuer Produktionskapazitäten unter Einsatz der neuesten Technologien erhöhte zwar die Produktivität der ostdeutschen Beschäftigten, führte jedoch gleichzeitig zu einer technologiebedingten Freisetzung von Arbeitskräften.106 Und schließlich trug auch eine verfehlte Lohnpolitik zu Beginn der Systemtransformation zur Verschärfung der Krise am ostdeutschen Arbeitsmarkt bei. Der Lebensstandard der ostdeutschen Bevölkerung ist nach der Wiedervereinigung schnell gestiegen. Während das Haushaltsnettoeinkommen 1991 nur 54 % des westdeutschen Haushaltsnettoeinkommens erreichte, waren es Ende der 1990er Jahre über 80 %. Dieser schnelle Anstieg der Einkommen in den neuen Bundesländern und die damit verbundene deutliche Verbesserung des Lebensstandards musste jedoch mit Massenentlassungen und einer wachstumshemmenden Beeinträchtigung der Investitionsbereitschaft erkauft werden, weil die Lohnerhöhungen durch die Produktivitätsentwicklung nicht gedeckt waren. Zu den durch die Wiedervereinigung am meisten begünstigten Gruppen in den neuen Bundesländern gehören ohne Zweifel die Rentner. Die Durchschnittsrenten der Männer beliefen sich 1991 auf 56 % der Durchschnittsrente der Rentner in Westdeutschland. Sie stiegen bis 2011 auf 95 % an. Die Durchschnittsrenten der Frauen stiegen im gleichen Zeitraum von 94 % auf 104

Vgl. zur Familienpolitik in der DDR Lampert 1981. Zur Transformation in Ostdeutschland vgl. Sinn/Sinn 1992, Akerlof et al. 1991, Burda/Hunt 2001 sowie Ritter 2007. 106 Die Arbeitsproduktivität Ostdeutschlands stieg von 45 % des Westniveaus im Jahr 1991 auf 80 % im Jahr 1995. Die Lohnstückkosten lagen 1991 um 27 % über den Vergleichswerten in Westdeutschland. Auch diese Differenz hatte sich bis Mitte der 1990er Jahre auf unter 9 % verringert; vgl. Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie 2012. 105

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133 %. Ostdeutsche Rentnerinnen wurden durch die Übertragung des Rentenrechts der früheren Bundesrepublik dadurch begünstigt, dass sie im Vergleich zu den westdeutschen Frauen überwiegend längere Versicherungszeiten aufwiesen. Während sich der durchschnittliche Rentenzahlbetrag für Frauen in den alten Bundesländern Ende 2011 auf 507 e mtl. belief, betrug er in den neuen Bundesländern 709 e. Der durchschnittliche Rentenzahlbetrag für Männer lag in den alten Bundesländern bei 954 e, in den neuen Bundesländern bei 1 008 e.107 Da die Rentner der ehemaligen DDR am längsten in einem ökonomisch nicht leistungsfähigen und politisch unfreien System leben mussten, zu den ökonomisch am meisten benachteiligten Gruppen gehörten und eine geringere Lebenserwartung als die jüngeren Generationen aufwiesen, war es ein politisches Ziel, die Einkommenssituation der Rentnerinnen und Rentner unmittelbar nach der Wiedervereinigung deutlich zu verbessern. Da die Beitragseinnahmen der ostdeutschen Rentenversicherungsträger nicht ausreichten, um die Rentenansprüche in den neuen Bundesländern abzudecken, mussten erhebliche Summen von den westdeutschen Versicherungsträgern an die ostdeutschen transferiert werden. Die kumulierten Defizite der ostdeutschen Rentenversicherungsträger beliefen sich zwischen 1991 und 2003 auf 95 Mrd. e (Deutsche Rentenversicherung Bund 2012, S. 244). Da es über 15 Jahre dauerte, bis in den neuen Bundesländern ein sich selbst tragender Aufschwung in Gang kam, waren erhebliche Transferleistungen für Maßnahmen der Wirtschaftsförderung, für die Arbeitslosenunterstützungen und für die Arbeitsmarktpolitik sowie für andere Sozialleistungen erforderlich. Insgesamt wurden von 1991 bis 1999 von den öffentlichen Haushalten einschl. der Haushalte der Renten- und der Arbeitslosenversicherung für den Aufbau in den neuen Bundesländern netto 710 Mrd. e zur Verfügung gestellt.108 Ein besonderes verteilungspolitisches Problem der Wiedervereinigung ergibt sich aus der Tatsache, dass der für den wirtschaftlichen Aufbau erforderliche Vermögensbildungsprozess massiv durch öffentliche Mittel gefördert wurde. Die kumulierte Inanspruchnahme der Investitionsprämien und Steuererleichterungen machte es möglich, eine Gesamtentlastung bis zu 50 % der Investitionssumme zu erreichen (vgl. dazu Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung 1992, S. 81/83). Gleichzeitig wurden die verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte durch die Finanzierung der für die neuen Bundesländer erforderlichen Transfers mit Hilfe von Sozialversicherungsbeiträgen und einer Anhebung des Mehrwertsteuersatzes eingeschränkt (vgl. dazu Neubäumer 1991). Dadurch reduzierte sich die Sparfähigkeit und damit die Möglichkeit zur Vermögensbildung insbesondere bei den Beziehern geringer Einkommen und den kinderreichen Familien. Diese Art der Investitionsförderung hat tendenziell zu einer Konzentration der Vermögensverteilung beigetragen. Neben dem generellen Ziel der breiten Streuung des Vermögens sprechen in Ostdeutschland drei weitere Gründe für eine spezifische Vermögensverteilungspolitik. Der erste Grund: Durch den Umtausch des über einem bestimmten Grundbetrag liegenden Geldvermögens der Sparer im Verhältnis von 2 Ost-Mark zu 1 DM erlitten viele DDR-Bürger bei der Währungsreform reale Umtauschverluste. Dementsprechend waren nach Art. 25 des Einigungsvertrages vom 31.09.1990 „Möglichkeiten vorzusehen, daß den Sparern zu einem späteren Zeitpunkt für den bei der Umstellung 2:1 reduzierten Betrag ein verbrieftes Anteilrecht am volkseigenen Vermögen eingeräumt werden kann.“ Der zweite Grund: Die Bevölkerung der DDR ist durch Partei und Staat – u. a. durch eine Lohnpolitik, welche die Lohnzuwächse systematisch unter der Wachstumsrate der Arbeitsproduktivität hielt, um die 107 108

Vgl. Deutsche Rentenversicherung Bund 2012, S. 204 f. Kroker/Lichtblau 2000, S. 44.

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staatliche Vermögensakkumulation zu finanzieren – rigoros ausgebeutet worden (vgl. dazu auch Sinn/Sinn 1992, S. 88-91). Daraus ergibt sich ein sozialethisch begründeter Anspruch auf Beteiligung der Bevölkerung am Prozess der Umverteilung und der Neubildung des Vermögens in Ostdeutschland – umso mehr, als das nach 1945 aufgebaute Volksvermögen der DDR seit 1990 mit Hilfe der Treuhandanstalt privatisiert wurde. Der dritte Grund: In marktwirtschaftlichen Ordnungen sind – wie in Kapitel 13 zu zeigen sein wird – die Unternehmensgewinne die entscheidende Quelle der Vermögensbildung. Nicht-Unternehmer haben dagegen – wenn nicht politisch gegengesteuert wird – wesentlich geringere Chancen zur Vermögensbildung als Unternehmer und Unternehmungen. Aus diesen Gründen ist es geboten, insbes. für die neuen Bundesländer eine Politik breiter Streuung des Vermögens zu konzipieren und zu realisieren. Die Instrumente einer Politik breiter Vermögensstreuung werden in Kapitel 15 dargestellt. Neben den sozialpolitischen Herausforderungen der deutschen Wiedervereinigung mussten generelle Strukturprobleme im System sozialer Sicherung und auf dem Arbeitsmarkt angegangen werden. In der gesetzlichen Krankenversicherung wurde mit dem Gesundheitsstrukturgesetz 109 die freie Kassenwahl zum 01.01.1996 beschlossen. Damit wurde das seit Einführung der GKV geltende Zuweisungsprinzip aufgehoben. Dieses Prinzip hatte dazu geführt, dass sich in den Allgemeinen Ortskrankenkassen systematisch die „schlechten Risiken“ sammelten, wodurch das PreisLeistungsverhältnis der Ortskrankenkassen ungünstiger war als das der Betriebs- und Ersatzkassen. Durch das Gesundheitsstrukturgesetz bekamen alle gesetzlich Versicherten die Möglichkeit, ihre Kasse frei zu wählen. Flankiert wurde die freie Kassenwahl durch die Einführung eines Risikostrukturausgleichs (RSA). Ziel dieses Risikostrukturausgleichs ist es, jene Leistungsausgaben zwischen den gesetzlichen Krankenklassen auszugleichen, die auf unterschiedliche Risikomerkmale der Versicherten zurückzuführen sind. Die freie Kassenwahl und der Risikostrukturausgleich waren ausschlaggebend dafür, dass sich die Beitragssatzunterschiede in der GKV deutlich verringert haben. Durch die Einführung der sozialen Pflegeversicherung im Jahr 1995 wurde die Sozialversicherung um eine weitere Säule ergänzt. Durch diese Pflegeversicherung wurde erstmals die gesamte Bevölkerung einer Versicherungspflicht unterworfen. Die Pflegeversicherung ist ebenso wie die GKV und GRV umlagefinanziert. Ihre Leistungen sollen jedoch so bemessen sein, dass sie nur etwa die Hälfte der anfallenen Kosten abdecken; die verbleibenden Kosten müssen vom Pflegebedürftigen getragen werden. Deutliche Veränderungen gab es auch im Bereich der Familienpolitik. Bereits im Jahr 1992 wurden die Kindererziehungszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherungen für Geburten ab 1992 auf drei Jahre heraufgesetzt. Die Bezugsdauer des Erziehungsgeldes wurde schrittweise auf 24 Monate verlängert. Aufgrund eines wegweisenden Urteils des Bundesverfassungsgerichts110 musste der steuerliche Kinderfreibetrag deutlich angehoben werden. Im Zuge der Umsetzung dieses Urteils im Jahr 1996 wurden das Kindergeld und der Kinderfreibetrag im dualen Familienleistungsausgleich zusammengefasst. Seither wird das Kindergeld auf die steuerliche Entlastung des Kinderfreibetrags angerechnet (sog. „Günstigerprüfung“). Aufgrund weiterer Urteile des Bundesverfassungsgerichts wurde der steuerliche Kinderfreibetrag durch einen Erziehungsfreibetrag ergänzt, aus einer Erwerbstätigkeit entstehende Rentenversicherungsansprüche dürfen 109

vgl. Gesetz zur Sicherung und Strukturverbesserung der gesetzlichen Krankenversicherung vom 21.12.1992. Vgl. BVerfGE 82, 60 vom 29.05.1990. Dieses Urteil besagt, dass die existenzminimalen Aufwendungen aller Familienmitglieder steuerfrei zu stellen sind. 110

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nicht mehr auf die Kindererziehungszeiten angerechnet werden (sog. „Honorierungsmodell“) und Kinderlose müssen in der gesetzlichen Pflegeversicherung einen Zuschlag von 0,25 % entrichten.

5. Phase: Die Periode struktureller Reformen (seit 2001) Nachdem sich die wirtschaftliche Lage gegen Ende der 1990er Jahre etwas verbessert hatte, stieg die Arbeitslosigkeit aufgrund des Wachstumseinbruchs im Jahr 2000 (Platzen der „Dot-ComBlase“) und der bis 2005 niedrigen Wachstumsraten wieder deutlich an. Dieser Wachstumseinbruch war der Auslöser für zahlreiche sozialpolitische Reformen, die unter dem Stichwort „Agenda 2010“ zusammengefasst werden. Mit diesen Reformen wollte die Bundesregierung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder den Arbeitsmarkt flexibilisieren, den Gesamtbeitragssatz unter die Marke von 40 % senken und die öffentlichen Haushalte konsolidieren. In der Arbeitsmarktpolitik wurden von der Kommission „Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ unter Vorsitz des damaligen VW-Personalvorstands Dr. Peter Hartz im Jahr 2002 Vorschläge zur Reform des Arbeits- und Sozialrechts vorgelegt. Durch insgesamt vier Maßnahmenbündel (Hartz I - IV) sollten der Arbeitsmarkt dereguliert und die Erwerbsanreize für Arbeitslose gestärkt werden. Die Maßnahmen sahen den verstärkten Einsatz von Zeitarbeitsfirmen, die Förderung von Einzelunternehmen (sog. „Ich-AG’s“) sowie die Ausweitung der geringfügigen Beschäftigung durch Mini- und Midijobs vor. Ein wesentliches Element war die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zur Grundsicherung für Arbeitsuchende. Arbeitslose erhalten nun zunächst Arbeitslosengeld als beitragsfinanzierte Versicherungsleistung. Nach Ablauf der Bezugsdauer wird Arbeitslosengeld II als steuerfinanzierte, bedürftigkeitsgeprüfte Transferleistung gezahlt. Gleichzeitig wurde das System der sozialen Grundsicherung grundlegend umgestaltet. Bis 2005 bezogen alle Personen, deren verfügbare Einkommen das soziokulturelle Existenzminimum unterschritt, Sozialhilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG). Mit der Reform wurde die soziale Grundsicherung genauer auf die unterschiedlichen Bedarfsgruppen ausgerichtet. Erwerbsfähige Bedürftige erhalten nun Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II), während nicht erwerbsfähige Hilfeempfänger Sozialhilfeleistungen gemäß SGB XII beanspruchen können. In diesem neu geschaffenen zwölften Buch des Sozialgesetzbuchs ist auch die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung geregelt, die einen deutlich eingeschränkten Unterhaltsrückgriff auf Eltern und Kinder vorsieht. In der gesetzlichen Rentenversicherung setzte sich die Erkenntnis durch, dass die Finanzierbarkeit des umlagefinanzierten Systems aufgrund der demografischen Entwicklung ab etwa 2020 gefährdet ist. Nach intensiven Diskussionen wurde 2001 das Altersvermögens-Ergänzungsgesetz und das Altersvermögensgesetz verabschiedet. Durch diese Gesetze wurde die umlagefinanzierte gesetzliche Rente durch eine kapitalgedeckte private Rentenversicherung („Riester-Rente“)111 ergänzt (vgl. dazu S. 257 ff.). Dieser Prozess wurde durch das Gesetz zur Sicherung der nachhaltigen Finanzierungsgrundlagen der Rentenversicherung (RV-Nachhaltigkeitsgesetz) 2004 fortgesetzt. Durch dieses Gesetz wurde u. a. in die Formel zur Rentenanpassung ein „Nachhaltigkeitsfaktor“ eingeführt, der Veränderungen des Verhältnisses von Leistungsempfängern und Beitragszahlern berücksichtigt.112 Dieses Reformelement wurde durch die „Kommission für die Nachhaltigkeit der Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme“ (Rürup-Kommission) vorbereitet. 111 112

Benannt nach dem damaligen Arbeitsminister Walter Riester. Vgl. zu Einzelheiten Kapitel 10.

4.5 Die Sozialgesetzgebung in der Bundesrepublik Deutschland (1949 - 2019)

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Durch das Gesetz zur Organisationsreform in der gesetzlichen Rentenversicherung (RVOrgG) vom 09.12.2004 wurde die RV der Arbeiter mit der RV der Angestellten zu einer Organisationseinheit zusammengefasst. In Verbindung mit der Vereinheitlichung des Leistungsrechts in der Sozialversicherung und der freien Kassenwahl für Arbeiter und Angestellte wurde damit die seit 1911 bestehende Trennung zwischen Arbeiter- und Angestelltensozialversicherung aufgehoben und ein einheitliches Sozialversicherungsrecht für alle Arbeitnehmer geschaffen. Eine weitere Strukturreform der gesetzlichen Krankenversicherung erfolgte zum 01.04.2007 durch das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz (GKV-WSG).113 Mit diesem Gesetz wurde die Einrichtung eines Gesundheitsfonds beschlossen. Durch diesen Gesundheitsfonds wurde die Finanzierung der GKV völlig neu gestaltet. Während bislang jede Krankenkasse einen kassenspezifischen Beitragssatz erhoben hatte, wird seit 2009 durch die GKV-Beitragssatzverordnung ein bundesweit einheitlicher Beitragssatz gesetzlich risikoadjustiert festgelegt. Die Beitragszahlungen der Versicherten und der Arbeitgeber sowie der Bundeszuschuss fließen in den Gesundheitsfonds. Die Kassen erhalten Leistungen entsprechend der Anzahl und der Morbidität ihrer Versicherten aus dem Gesundheitsfond. Damit ist der Gesundheitsfonds auch für den Risikostrukturausgleich zwischen den Kassen wichtig. Krankenkassen, deren Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds nicht ausreichen, um ihre Ausgaben abzudecken, müssen einen Zusatzbeitrag erheben. Sofern die Einnahmen die Ausgaben übersteigen, kann der Beitragssatz abgesenkt werden. Dadurch soll in der gesetzlichen Krankenversicherung der Preiswettbewerb gestärkt werden. Um den öffentlichen Haushalt zu konsolidieren, wurde im Jahr 2006 die Eigenheimzulage abgeschafft. Dadurch wurde der Erwerb von Wohneigentum vor allem für Familien mit Kindern erschwert. Eine deutliche Zäsur erfuhr die staatliche Familienpolitik durch das Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz (BEEG) im Jahr 2007 und durch das Kinderförderungsgesetz (KiFöG) im Jahr 2008.114 Das Elterngeld ersetzt das im Jahr 1986 eingeführte Erziehungsgeld. Es ist eine steuerfinanzierte Lohnersatzleistung und wird maximal 14 Monate gewährt. Davon sind zwei Monate vom Partner/von der Partnerin der Hauptbetreuungsperson in Anspruch zu nehmen (sog. „Partnermonate“).115 Durch das Kinderförderungsgesetz erhielten alle Eltern zum 01.08.2013 einen Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz in einer Kindertageseinrichtung. Durch diese Maßnahmen soll die erziehungsbedingte Erwerbsunterbrechung von Eltern verkürzt, die Beteiligung der Väter an der Betreuung und Erziehung der Kinder gestärkt und die Gleichberechtigung von Mann und Frau hergestellt werden. Eine ausführliche Darstellung dieser Instrumente findet sich in Kap. 12. Bedingt durch eine günstige wirtschaftliche Entwicklung und eine deutlich rückläufige Arbeitslosigkeit wurden in den Jahren ab 2013 mehrere Gesetze verabschiedet, die als eine politische Korrektur der „Agenda 2010“ angesehen werden können. So wurde die vorgezogene Altersgrenze für besonders langjährig Versicherte eingeführt. Personen, die 45 versicherungspflichtige Beitragsjahre vorweisen können, haben das Recht, zwei Jahre vor Erreichen der Regelaltersgrenze ohne Abschläge in den Ruhestand zu treten („Rente mit 63“). Verbesserungen gab es auch bei der Erwerbsminderungsrente und bei den Rehabilitationsleistungen. Eine wesentliche Änderung 113

Vgl. Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung vom 26.3.2007. Vgl. Gesetz zum Elterngeld und zur Elternzeit (BEEG) vom 05.12.2006 und Gesetz zur Förderung von Kindern unter drei Jahren in Tageseinrichtungen und in Kindertagespflege (Kinderförderungsgesetz – KiFöG) vom 10.12.2008. 115 Alleinerziehende haben Anspruch auf die gesamte Bezugsdauer von 14 Monaten.

114

96

4 Geschichte der sozialpolitischen Gesetzgebung in Deutschland

vollzog sich 2015 in der Lohnpolitik durch die Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns.116 Ausnahmen sind für Berufseinsteiger und Langzeitarbeitslose vorgesehen.

4.5.3 Charakteristische Merkmale der staatlichen Sozialpolitik Obwohl die außergewöhnliche, weit verbreitete Not der ersten Nachkriegsjahre viele sozialpolitische Aufgaben stellte, war die staatliche Sozialpolitik der jungen Republik nicht primär pragmatisch ausgerichtet, sondern auf die gesellschaftspolitischen Grundentscheidungen des Grundgesetzes (Demokratie, Schutz der Persönlichkeitsrechte und Sozialstaatsprinzip) abgestellt. In den ersten Nachkriegsjahren wurden die nach ihrer Substanz nationalsozialistischen Elemente der Sozialpolitik eines totalitären Führerstaates beseitigt und die Sozialpolitik grundlegend demokratisiert. Mit der Einführung der Koalitionsfreiheit, der Tarifautonomie, des Prinzips der Selbstverwaltung sozialer Angelegenheiten, betriebsdemokratischer Mitbestimmungsregelungen und mit der Wiedereinführung von Wirkungsmöglichkeiten der Verbände der freien Wohlfahrtspflege wurden die Grundlagen für die Sozialpolitik eines demokratisch verfassten sozialen Rechtsstaates gelegt. Der erste Deutsche Bundestag vollbrachte dabei eine quantitativ und qualitativ erstaunliche sozialgesetzgeberische Leistung. Die Entwicklung von 1953 bis Anfang der 1970er Jahre ist gekennzeichnet durch die Weiterentwicklung der Sozialversicherung, vor allem durch die Rentendynamisierung, die Lohnfortzahlung für Arbeiter im Krankheitsfall, die Verstärkung prophylaktischer Maßnahmen und die Verstärkung der Rehabilitation, durch den Ausbau der Arbeitsmarktpolitik, durch eine über zwei Jahrzehnte konsequent betriebene Wohnungsbaupolitik, durch zahlreiche Ansätze zur breiteren Streuung des Vermögens und nicht zuletzt durch die vorwiegend ab 1965 betriebene Entwicklung der Bildungspolitik im Sinne der Herstellung materialer Chancengleichheit. In den 1970er und 1980er Jahren setzte sich trotz veränderter wirtschaftlicher Rahmenbedingungen und trotz hoher Belastungen des Sozialhaushalts durch die Folgen der Massenarbeitslosigkeit die Ausweitung des sozialpolitischen Schutzes nach dem Personenkreis, der Art der abgesicherten Risiken und der Höhe der Leistungen fort. Wenngleich es nicht gelang, einen Anstieg der Sozialleistungen zu verhindern, so gelang es in den 1980er Jahren doch, die Sozialleistungsquote bis zur Wiedervereinigung Deutschlands zu stabilisieren. Nach der Wiedervereinigung bestand die vordringliche Aufgabe staatlicher Sozialpolitik darin, die sozialpolitischen Institutionen der Sozialen Marktwirtschaft auf die neuen Bundesländer zu übertragen und die sozialen Verwerfungen im Zuge der Systemtransformation abzumildern. Gleichzeitig wurden erste tiefgreifende Strukturreformen im System sozialer Sicherung vorgenommen. Diese strukturellen Reformen wurden ab 2000 durch die „Agenda 2010“ fortgesetzt und verstärkt. Für die Reformen in den vergangenen Jahren ist bemerkenswert, dass bei allen Maßnahmen ein besonderer Wert auf die materiale Umsetzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes gelegt wurde.

116

Der gesetzliche Mindestlohn wird alle zwei Jahre auf Vorschlag der Mindestlohnkommission von der Bundesregierung neu festgelegt.

4.5 Die Sozialgesetzgebung in der Bundesrepublik Deutschland (1949 - 2019)

97

Tabelle 4.3: Zeittafel sozialpolitischer Gesetze und Verordnungen Erste Periode: 1839 bis 1890 09. 31. 31. 17. 09. 16.

03. 12. 12. 01. 02. 05.

1839 1842 1842 1845 1849 1853

03. 01. 21. 07. 15. 06. 22.

04. 11. 06. 04. 06. 07. 07.

1854 1867 1869 1876 1883 1884 1889

Regulativ über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in Fabriken (Preußisches Regulativ) Gesetz über die Verpflichtung zur Armenpflege Gesetz über die Aufnahme neu anziehender Personen Allgemeine Gewerbeordnung Verordnung zur Errichtung von Gewerberäten und Gewerbegerichten Gesetz, betreffend einige Abänderungen des Regulativs vom 09.03.1839 über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in Fabriken (Gesetz über Fabrikinspektoren) Gesetz, betreffend die gewerblichen Unterstützungskassen Freizügigkeitsgesetz Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund Gesetz über die eingeschriebenen Hilfskassen Gesetz, betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter Unfallversicherungsgesetz Gesetz, betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung

Zweite Periode: 1890 bis 1918 29. 30. 19. 20. 20. 14. 05. 04.

06. 03. 07. 12. 12. 06. 12. 10.

1890 1903 1911 1911 1911 1916 1916 1918

Gesetz, betreffend die Gewerbegerichte Gesetz, betreffend Kinderarbeit in gewerblichen Betrieben Reichsversicherungsordnung Versicherungsgesetz für Angestellte Hausarbeitsgesetz Verordnung über Arbeitsnachweis Gesetz über den vaterländischen Hilfsdienst Allerhöchster Erlass über die Errichtung des Reichsarbeitsamtes

Dritte Periode: 1918 bis 1933 12. 13. 23. 23.

11. 11. 11. 12.

1918 1918 1918 1918

09. 05. 08. 17. 04. 05. 12. 15. 09. 22. 12. 23. 23. 30. 21. 13. 04. 09.

01. 02. 02. 02. 02. 05. 05. 02. 07. 07. 01. 01. 06. 10. 12. 02. 12. 07.

1919 1919 1919 1919 1920 1920 1920 1922 1922 1922 1923 1923 1923 1923 1923 1924 1924 1926

Verordnung über Arbeiterschutz Verordnung über Erwerbslosenfürsorge Anordnung über die Regelung der Arbeitszeit gewerblicher Arbeiter Verordnung über Tarifverträge, Arbeiter- und Angestelltenausschüsse und Schlichtung von Arbeitsstreitigkeiten Verordnung über Beschäftigung Schwerbeschädigter Verordnung über Sonntagsruhe im Handelsgewerbe und in Apotheken Verordnung über die soziale Kriegsbeschädigten- und Kriegshinterbliebenenfürsorge Verordnung über die Pflicht der Arbeitgeber zur Anmeldung eines Bedarfs an Arbeitskräften Betriebsrätegesetz Verordnung über die Errichtung eines Reichsamts für Arbeitsvermittlung Reichsversorgungsgesetz Gesetz über die Entsendung von Betriebsratsmitgliedern in den Aufsichtsrat Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt Arbeitsnachweisgesetz Gesetz über die Beschäftigung Schwerbeschädigter Gesetz über die Erklärung der allgemeinen Verbindlichkeit von Tarifverträgen Reichsknappschaftsgesetz Verordnung über das Schlichtungswesen Verordnung über die Arbeitszeit Verordnung über die Fürsorgepflicht Grundsätze über Voraussetzung, Art und Maß öffentlicher Fürsorgeleistungen Gesetz über die Fristen für die Kündigung von Angestellten

98

4 Geschichte der sozialpolitischen Gesetzgebung in Deutschland

23. 12. 1926 16. 07. 1926 16. 07. 1926

Arbeitsgerichtsgesetz Gesetz über die Beschäftigung vor und nach der Niederkunft Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung

Vierte Periode: 1933 bis 1945 19. 01. 08. 21. 20. 23. 15. 05. 10. 26. 28. 15. 14. 30. 22.

05. 06. 06. 09. 01. 03. 05. 07. 08. 02. 06. 09. 04. 04. 06.

1933 1933 1933 1933 1934 1934 1934 1934 1934 1935 1935 1935 1938 1938 1938

21. 12. 1938 25. 03. 1939 01. 09. 1939

Gesetz über Treuhänder der Arbeit Gesetz zur Verminderung der Arbeitslosigkeit Gesetz über Lohnschutz in der Heimarbeit Zweites Gesetz zur Verminderung der Arbeitslosigkeit Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit Gesetz über die Heimarbeit Gesetz zur Regelung des Arbeitseinsatzes Gesetz über den Aufbau der Sozialversicherung Verordnung über die Verteilung von Arbeitskräften Gesetz über die Einführung des Arbeitsbuches Gesetz über Wochenhilfe und Genesendenfürsorge in der Krankenversicherung Verordnung über die Gewährung von Kinderbeihilfen an kinderreiche Familien Verordnung über die Anlegung des Vermögens der Träger der Reichsversicherungsordnung Gesetz über Kinderarbeit und über die Arbeitszeit der Jugendlichen (Jugendschutzgesetz) Verordnung zur Sicherstellung des Kräftebedarfs für Aufgaben von besonderer staatspolitischer Bedeutung Gesetz über die Altersversorgung für das deutsche Handwerk Verordnung über den Arbeitseinsatz Verordnung über die Beschränkung des Arbeitsplatzwechsels

Fünfte Periode: 1948 bis 2020 09. 08. 08. 24. 19. 20. 22.

04. 05. 08. 04. 06. 12. 02.

1949 1949 1949 1950 1950 1950 1951

14. 15. 21. 10. 11. 24. 17. 14. 11. 19. 16. 14. 03. 07. 13. 05. 23. 23. 21.

03. 03. 03. 10. 01. 01. 03. 08. 10. 05. 06. 07. 09. 09. 11. 08. 02. 02. 05.

1951 1951 1951 1951 1952 1952 1952 1952 1952 1953 1953 1953 1953 1953 1954 1955 1957 1957 1957

Tarifvertragsgesetz Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland Gesetz zur Milderung dringender sozialer Notstände (Soforthilfegesetz) Erstes Wohnungsbaugesetz Gesetz über Hilfsmaßnahmen für Heimkehrer Gesetz über die Versorgung der Opfer des Krieges (Bundesversorgungsgesetz) Gesetz über die Selbstverwaltung und über Änderungen von Vorschriften auf dem Gebiet der Sozialversicherung Heimarbeitsgesetz Gesetz über Wohneigentum und das Dauerwohnrecht Montanmitbestimmungsgesetz Kündigungsschutzgesetz Gesetz über die Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen Gesetz zum Schutz der erwerbstätigen Mutter (Mutterschutzgesetz) Gesetz über die Gewährung von Prämien für Wohnbausparer Gesetz über den Lastenausgleich (Lastenausgleichsgesetz) Betriebsverfassungsgesetz Bundesvertriebenengesetz Schwerbeschädigtengesetz Bundesevakuiertengesetz Sozialgerichtsgesetz Arbeitsgerichtsgesetz Kindergeldgesetz Personalvertretungsgesetz Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetz Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetz Gesetz zur Neuregelung der knappschaftlichen Rentenversicherung

4.5 Die Sozialgesetzgebung in der Bundesrepublik Deutschland (1949 - 2019) 27. 05. 07. 25. 27. 09. 08. 30. 12. 11. 08. 30. 29. 14. 25. 27. 14. 27. 18. 26. 15. 16. 12. 29. 07. 19. 11. 12. 04. 27.

07. 05. 12. 02. 06. 08. 09. 06. 07. 08. 01. 04. 07. 04. 06. 07. 08. 06. 03. 08. 01. 10. 12. 04. 07. 12. 12. 04. 05. 06.

1957 1959 1959 1960 1960 1960 1960 1961 1961 1961 1963 1963 1963 1964 1969 1969 1969 1970 1971 1971 1972 1972 1973 1974 1974 1974 1975 1976 1976 1977

06. 11. 1978 25. 23. 27. 22. 13. 20. 26. 11.

06. 07. 07. 12. 04. 12. 04. 07.

1979 1979 1981 1983 1984 1984 1985 1985

06. 19. 20. 18. 18. 26. 21. 30. 26. 06. 08. 29. 15.

12. 02. 12. 12. 05. 06. 12. 06. 05. 06. 07. 07. 12.

1985 1987 1988 1989 1990 1990 1992 1993 1994 1994 1994 1994 1995

99

Gesetz über die Altershilfe für Landwirte Sparprämiengesetz Gesetz über Maßnahmen zur Förderung der ganzjährigen Beschäftigung in der Bauwirtschaft Fremdrentengesetz Bundesversorgungsgesetz Gesetz zum Schutz der arbeitenden Jugend Gesetz über eine Rentenversicherung der Handwerker Bundessozialhilfegesetz Gesetz zur Förderung der Vermögensbildung der Arbeitnehmer Gesetz für Jugendwohlfahrt Bundesurlaubsgesetz Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetz Gesetz über Wohnbeihilfen Bundeskindergeldgesetz Arbeitsförderungsgesetz Lohnfortzahlungsgesetz Berufsbildungsgesetz Drittes Vermögensbildungsgesetz (624-DM-Gesetz) Gesetz über Unfallversicherung für Schüler und Studenten sowie Kinder in Kindergärten Bundesausbildungsförderungsgesetz Betriebsverfassungsgesetz Rentenreformgesetz Arbeitssicherheitsgesetz Schwerbehindertengesetz Gesetz über Konkursausfallgeld Betriebsrentengesetz Sozialgesetzbuch (SGB) - Allgemeiner Teil Jugendarbeitsschutzgesetz Mitbestimmungsgesetz Gesetz zur Dämpfung der Ausgabenentwicklung und zur Strukturverbesserung in der gesetzlichen Krankenversicherung Gesetz zur Herabsetzung der flexiblen Altersgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung für Schwerbehinderte Gesetz zur Einführung des Mutterschaftsurlaubs Unterhaltsvorschussgesetz Künstlersozialversicherungsgesetz Gesetz zur Förderung der Vermögensbildung der Arbeitnehmer durch Kapitalbeteiligungen Gesetz zur Erleichterung des Übergangs vom Arbeitsleben in den Ruhestand Gesetz zur Neuordnung der Krankenhausfinanzierung Beschäftigungsförderungsgesetz Gesetz zur Neuordnung der Hinterbliebenenrenten sowie zur Anerkennung von Kindererziehungszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung Gesetz über die Gewährung von Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub Fünftes Vermögensbildungsgesetz Gesundheitsreformgesetz Rentenreformgesetz 1992 Staatsvertrag zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion Gesetz zur Neuordnung des Kinder- und Jugendhilferechts Gesundheitsstrukturgesetz Asylbewerberleistungsgesetz Pflegeversicherungsgesetz Arbeitszeitgesetz Beschäftigungsförderungsgesetz 1994 Gesetz über die Altersicherung von Landwirten Eigenheimzulagengesetz

100 26. 29. 16. 19. 19. 12. 21. 26. 26. 11. 23. 14. 23. 24. 24. 01. 01. 05. 06. 11. 23.

4 Geschichte der sozialpolitischen Gesetzgebung in Deutschland 02. 07. 12. 12. 12. 11. 12. 01. 01. 05. 12. 11. 12. 12. 12. 07. 01. 12. 12. 08. 12.

1996 1996 1997 1998 1998 1999 2000 2001 2001 2001 2002 2003 2003 2003 2003 2004 2005 2006 2011 2014 2016

Arbeitnehmer-Entsendegesetz Gesetz zur Förderung eines gleitenden Übergangs in den Ruhestand Rentenreformgesetz 1999 Gesetz zur Korrektur in der Sozialversicherung und zur Sicherung der Arbeitnehmerrechte Gesetz zur Stärkung der Solidarität in der Gesetzlichen Krankenversicherung Familienfördergesetz Gesetz über Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverträge Altersvermögensergänzungsgesetz Gesetz über eine bedarfsorientierte Grundsicherung Altersvermögensgesetz („Rieser-Rente“) Erstes und zweites Gesetz über moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt (Hartz I und II) Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung Drittes Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt (Hartz III) Viertes Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt (Hartz IV) Gesetz zu Reformen am Arbeitsmarkt Rentenversicherungs-Nachhaltigkeitsgesetz Alterseinkünftegesetz Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz Familienpflegezeitgesetz Mindestlohngesetz Bundesteilhabegesetz

Teil III

Theoretische Grundlegung der staatlichen Sozialpolitik

Vorbemerkungen Die Darstellung der Ursachen der Sozialpolitik, der Triebkräfte der Entwicklung und der Geschichte der sozialpolitischen Gesetzgebung hat bereits Entwicklungstendenzen und Ergebnisse der Sozialpolitik sichtbar werden lassen. Im Folgenden muss es nun um eine theoretische Grundlegung der staatlichen Sozialpolitik gehen. Hierzu werden in Kapitel 5 zuerst die angesprochenen Entwicklungstendenzen und Hauptergebnisse zusammenfassend dargestellt. Wenn man die Entwicklung der Sozialpolitik, die Reihenfolge der Entstehung sozialpolitischer Handlungsbereiche, die treibenden Kräfte der Entwicklung, deren Zielsetzungen und den Ausbau der Sozialpolitik kennengelernt hat, drängt sich eine Reihe von Fragen auf, z. B.: • Wodurch ist diese Entwicklung bestimmt worden? • Wie ist die Reihenfolge der Lösung sozialpolitischer Probleme zu erklären? • Warum wurden die einzelnen sozialpolitischen Bereiche, etwa die Sozialversicherung oder die Arbeitsmarktpolitik, in einer ganz bestimmten Weise und nach bestimmten Prinzipien ausgestaltet? Die Beantwortung dieser und ähnlicher Fragen ist Aufgabe einer Theorie der Sozialpolitik. Die Grundzüge einer solchen Theorie werden in Kapitel 6 dargestellt.

Kapitel 5

Entwicklungstendenzen und Hauptergebnisse staatlicher Sozialpolitik

5.1 Entwicklungstendenzen 5.1.1 Von der staatsautoritären, repressiven, schichtspezifischen Schutzpolitik zur Gesellschaftspolitik des demokratischen und sozialen Rechtsstaates Um deutlich zu machen, welche außerordentlichen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Wandlungen die staatliche Sozialpolitik mitbewirkt hat, ist es sinnvoll, sich zu verdeutlichen, dass diese Politik ursprünglich die Lösung der Arbeiterfrage zum Ziele hatte. Wie im vorhergehenden Kapitel ersichtlich wurde, war die Sozialpolitik von 1839 bis 1880 personell vor allem eine auf Frauen und Kinder und sachlich eine auf den Arbeitszeitschutz, den Lohnschutz und den Gefahren- und Unfallschutz gerichtete Arbeitnehmerschutzpolitik. Wegen ihrer Begrenzung auf bestimmte Arbeitnehmergruppen war sie nur eine partielle und wegen ihrer Beschränkung auf den Schutz der Erwerbsfähigkeit nur eine indirekte Unterhaltssicherungspolitik. Mit der Einführung der Kranken-, Unfall-, Invaliditäts- und Altersversicherung in den 1880er Jahren und dem Ausbau dieser Versicherungseinrichtungen sowie mit dem Ausbau des Arbeitnehmerschutzes in Bezug auf die geschützten Personen und die Art des Schutzes in den Jahren 1890 bis 1918 begann die Sozialpolitik Unterhaltssicherungspolitik in einem umfassenderen Sinn zu werden: neben die indirekte Unterhaltssicherungspolitik trat die Unterhaltssicherungspolitik durch Sozialtransfers. Andere sozialpolitische Handlungsfelder nennenswerten Umfangs gab es nicht (vgl. dazu Tabelle 5.1 S. 104 f.). Diese ihrer Substanz nach staatsautoritäre Politik war gleichzeitig eine mit der Bekämpfung der Arbeiterbewegung verbundene, repressive Sozialpolitik. Bemerkenswert an dieser bis zum ersten Weltkrieg unveränderten Politik ist auch, dass sie sich auf die „gehobenen“ Arbeiterschichten konzentrierte und die eigentliche Schicht der Proletaroiden auf die Armenpflege angewiesen blieb.

103

© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2021 J. Althammer et al., Lehrbuch der Sozialpolitik, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56258-1_5

Arbeitsmarktpolitik

Sozialversicherung

Arbeitnehmerschutz

Sozialpolitischer Bereich 1945-2020

1918: VO über Tarifverträge 1933: G. über Treu1920: VO über die Errichtung händer d. Arbeit eines Reichsamts für 1934: G. z. Ordnung der Arbeitsvermittlung der nation. Arbeit 1923: VO über das Schlichtungs- 1934: G. z. Regelung d. wesen Arbeitseinsatzes

1949: Tarifvertragsgesetz 1952: Gesetz über die Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen 1969: Arbeitsförderungsgesetz 2014: Mindestlohngesetz

1957: Neuregelungsgesetze der Rentenversicherung 1957: Altershilfe für Landwirte 1981: Künstlersozialversicherungsgesetz 1986: Anerkennung von Erziehungsjahren 1994: Pflegeversicherungsgesetz 2002: Altersvermögensgesetz 2004: RV-Nachhaltigkeitsgesetz

1933-1945

1883: Gesetz, betr. die 1911: Reichs- 1923: Reichsknappschaftsgesetz 1934: Gesetz über den Krankenverversicher- 1925: Zweites Gesetz über Aufbau der sicherung der ungsÄnderungen in der SozialverArbeiter ordnung Unfallversicherung sicherung 1884: Unfallversiche1927: Gesetz über Arbeits1938: Gesetz über die rungsgesetz vermittlung und ArbeitsAltersversorgung 1889: Gesetz, betr. die losenversicherung Invaliditäts- und Altersversicherung

1918-1933

1951: Kündigungsschutzgesetz 1952: Mutterschutzgesetz 1960: Gesetz zum Schutz der arbeitenden Jugend 1963: Bundesurlaubsgesetz 1994: Arbeitszeitgesetz

1890-1918

1839: Regulativ über 1891: Arbeiter- 1918: Anordnung über die 1935: Gesetz über die Beschäftigung schutzRegelung der ArbeitsWochenhilfe jugendl. Arbeiter gesetz zeit gewerblicher 1938: Jugendschutzin den Fabriken Arbeiter gesetz 1845: Preußische 1926: Kündigungsschutzgesetz allgemeine GewO für Angestellte 1849: Truckverbot 1927: Gesetz über die 1853: Gesetz über Beschäftigung vor Fabrikinspektoren und nach der Niederkunft

1839-1890

Tabelle 5.1: Periodisierte Zeittafel grundlegender sozialpolitischer Gesetze

104 5 Entwicklungstendenzen und Hauptergebnisse staatlicher Sozialpolitik

1952: Lastenausgleichsgesetz 1959: Sparprämiengesetz 1961: Erstes Gesetz zur Förderung der Vermögensbildung 2002: Altersvermögensgesetz 1969: Berufsbildungsgesetz 1971: BundesausbildungsförderungsG.

Bildungspolitik

1954: Kindergeldgesetz 1979: Mutterschaftsurlaubsgesetz 1985: Erziehungsgeld- und Erziehungsurlaubsgesetz 1999: Familienfördergesetz 2007: Elterngeldgesetz 2011: Familienpflegezeitgesetz

Vermögenspolitik

Familienpolitik

1935: VO über die Gewährung von Kinderbeihilfen an kinderreiche Familien

1950: 1. Wohnungsbaugesetz 1952: Wohnungsbauprämiengesetz 1994: Wohnungsbauförderungsgesetz

1923: Einführung einer Hauszinssteuer zur Wohnungsbauförderung

Wohnungspolitik

Bundessozialhilfegesetz Gesetz für Jugendwohlfahrt Asylbewerberleistungsgesetz Gesetz über eine bedarfsorientierte Grundsicherung

Montanmitbestimmungsgesetz Betriebsverfassungsgesetz Personalvertretungsgesetz Mitbestimmungsgesetz

1945-2020

1961: 1961: 1993: 2001:

1933-1945

1922: Jugendwohlfahrtsgesetz 1924: Grundsätze über öffentliche Fürsorgeleistungen

1918-1933

Fürsorge- und Sozialhilfepolitik

Betriebs- und Unternehmensverfassungspolitik

1916: Hilfsdienstgesetz

1890-1918 1951: 1952: 1955: 1976:

1839-1890 1920: Betriebsrätegesetz 1922: Gesetz über die Entsendung von Betriebsratsmitgliedern in den Aufsichtsrat

Sozialpolitischer Bereich

5.1 Entwicklungstendenzen 105

106

5 Entwicklungstendenzen und Hauptergebnisse staatlicher Sozialpolitik

Festgehalten zu werden verdient auch, dass diese Sozialpolitik bis 1914 auch Schutzpolitik im übertragenen Sinn war: Politik zum Schutz der bestehenden Ordnung und der wohlhabenderen, Güter, Vermögen und Vorrechte besitzenden Schicht vor den Ansprüchen der von unten nachdrängenden Schichten. Der Zusammenbruch der ständestaatlichen Monarchie und die Errichtung der Weimarer Republik machte dann den Weg frei zu einer sozialpolitisch orientierten Ausgestaltung der Betriebsverfassung, zur betrieblichen, von Arbeitgebern und Arbeitnehmern getragenen Sozialpolitik und zur Anerkennung der Gewerkschaften. In dieser Phase erfolgten sozialpolitisch entscheidende Durchbrüche: Neben der Weiterentwicklung der klassischen Bereiche der Sozialpolitik, nämlich des Arbeitnehmerschutzes und der Sozialversicherung, im Sinne einer Verbreiterung der geschützten Personenkreise und der Verbesserung der Leistungen nach Art und Höhe, vollzog sich durch die den Arbeitnehmern eingeräumten betrieblichen Mitbestimmungsrechte und durch die Anerkennung der Gewerkschaften und der Arbeitgebervereinigungen als autonome Tarifvertragsparteien und Träger der Selbstverwaltung der Sozialversicherung der Aufstieg der deutschen Arbeiterschaft zur selbstverantwortlichen Sozialpartei. Außerdem wurde das Prinzip staatlicher patriarchalischer Fürsorge durch das Prinzip einer durch demokratische Willensbildungsprozesse unter Mitwirkung der Betroffenen zustandekommenden Sozialgesetzgebung abgelöst. Schließlich wurde ein für die Lebenslage der Arbeitnehmer entscheidender Bereich zu einem zentralen politischen Aktionsfeld ausgebaut: die Arbeitsmarktpolitik. Auch die Wohnungsbaupolitik wurde als sozialpolitisches Handlungsfeld entwickelt. Der Nationalsozialismus hat die Demokratisierung der staatlichen Sozialpolitik rückgängig gemacht. Aus dieser Zeit ist festzuhalten, dass mit den Handwerkern eine große Gruppe Selbständiger in die Sozialversicherung einbezogen wurde. Besonderes Augenmerk widmeten die Nationalsozialisten ihrer bevölkerungspolitischen Zielsetzungen wegen einem bisher kaum entwickelten Bereich: der Familienpolitik. Die Sozialpolitik der Bundesrepublik knüpfte in vielem an die konzeptionellen, institutionellen und gesetzgeberischen Grundlagen der Sozialpolitik der Weimarer Republik an, setzte die von den Nationalsozialisten entmündigten Arbeitnehmer wieder in ihre Rechte ein und demokratisierte die Betriebsverfassung und die Sozialpolitik. Neben dem Wiederaufbau und der Weiterentwicklung der klassischen Bereiche und der Wiedereinführung einer demokratischen Betriebsverfassung sowie der Wiederaufnahme einer freiheitlichen Arbeitsmarktpolitik wurden die Wohnungsbaupolitik, die Vermögenspolitik und die Bildungspolitik zu Hauptaktionsfeldern. Verfolgt man die Entwicklung der staatlichen Sozialpolitik von 1839 bis zur Gegenwart, dann fällt zunächst als Entwicklungstendenz eine zwar zögernd einsetzende, sich aber dann vor allem nach dem Ersten Weltkrieg beschleunigende Entwicklung auf, in der einzelne Bereiche der Sozialpolitik in einer bestimmten Reihenfolge schrittweise erschlossen wurden: Der Entwicklung des Arbeitnehmerschutzes in der Vor–Bismarck–Ära folgte die Entwicklung der Sozialversicherung in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts. Nach dem Ausbau beider Bereiche unter Wilhelm I. wurden in der Weimarer Republik – ohne dass die klassischen Bereiche vernachlässigt wurden – die Betriebsverfassungspolitik, die Arbeitsmarktpolitik und die Wohnungsbaupolitik entwickelt. In der Zeit des Nationalsozialismus wurde zusätzlich und verstärkt Familienpolitik betrieben. Die Sozialpolitik der Bundesrepublik ist schließlich dadurch gekennzeichnet, dass nach Lösung der dringendsten sozialen Probleme der unmittelbaren Nachkriegszeit, nach der Wiederherstellung der institutionellen Grundlagen sozialer Sicherung und nach dem zügigen Ausbau des Arbeitnehmerschutzes, der Sozialversicherungspolitik und der Wohnungsbaupolitik die sozialpolitischen

5.1 Entwicklungstendenzen

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Akzente seit den 1960er Jahren auf die Bildungspolitik und auf die Vermögenspolitik gelegt werden. Ähnliche Entwicklungslinien lassen sich für fast alle industrialisierten Volkswirtschaften Europas und viele außereuropäische Industriegesellschaften feststellen. Trotz zum Teil großer zeitlicher Unterschiede in der Entwicklung der Sozialpolitik allgemein und bestimmter Bereiche der Sozialpolitik gilt, dass sich ein ähnlicher Umfang sozialpolitischer Intervention in nahezu allen industrialisierten Ländern zeigt. Es ist nachweisbar, dass wohlfahrtsstaatliche Entwicklungen eine unvermeidbare Begleiterscheinung der Industrialisierung sind.1 In allen Ländern wurde zuerst der Arbeitnehmerschutz entwickelt (Winterstein 1988, S. 301). Anschließend wurden in den großen europäischen Industrieländern (Großbritannien, Frankreich, Italien, Deutsches Reich) in den Jahren 1884 - 1906 Unfallversicherungssysteme, zwischen 1883 und 1930 Krankenversicherungssysteme, zwischen 1889 und 1910 Rentenversicherungssysteme und 1914 - 1927 Arbeitslosenversicherungen begründet, wobei die Unfallversicherung in allen genannten Ländern – mit Ausnahme des Deutschen Reiches – zuerst, die Arbeitslosenversicherung zuletzt eingeführt wurde (vgl. dazu Flora/Heidenheimer 1981, S. 59 sowie Alber 1987, S. 48 ff.). Es drängt sich die Frage auf, welche Faktoren die Entstehung und Entwicklung von Systemen staatlicher Sozialpolitik bestimmen. Diese Frage soll im folgenden Kapitel zu beantworten versucht werden. Die skizzierte Entwicklungstendenz der Sozialpolitik von der schichtspezifischen Schutzpolitik zur wohlfahrtsstaatlichen Gesellschaftspolitik besteht im einzelnen aus einer Ausweitung des Schutzes nach der Art, nach dem Umfang und nach Personengruppen. Die Ausweitung des Schutzes nach der Art zeigt sich sehr deutlich im Arbeitnehmerschutz und in der Sozialversicherung. Im Arbeitnehmerschutz folgt dem Arbeitszeitschutz und dem Lohnschutz der Gefahrenschutz und der Schutz des Arbeitsverhältnisses. In der Sozialversicherung folgt der Kranken- und der Unfallversicherung die Alters- und Invalidenversicherung, später folgen die Hinterbliebenen- und die Arbeitslosenversicherung. Auch innerhalb einzelner Maßnahmenkomplexe lässt sich dieselbe Tendenz der Ausweitung des Schutzes nach der Art in zahlreichen Fällen feststellen. Z. B. wurden in der GKV die Familienhilfe 1930 als Regelleistung eingeführt, Früherkennungsuntersuchungen von Krankheiten 1970 in den Leistungskatalog aufgenommen und ab 1974 die Haushaltshilfe2 sowie Krankengeldzahlung bei Freistellung von der Arbeit zur Betreuung eines kranken Kindes gewährt. Für die RV, die UV und die ALV sind ähnliche Entwicklungen feststellbar. Im Rahmen dieser Ausweitung der Leistungen nach ihrer Art innerhalb einzelner sozialpolitischer Bereiche ragen die Ergänzung therapeutischer Maßnahmen durch prophylaktische und die Verstärkung von Maßnahmen zur Wiedereingliederung Kranker oder Behinderter in das Wirtschaftsleben heraus. Beispiele für prophylaktische Maßnahmen sind der vorbeugende Unfallschutz, der gesundheitserhaltende und gesundheitsfördernde Arbeits -zeit- und Urlaubsschutz, gewerbe- und baupolizeiliche Vorschriften, Maßnahmen zur Früherkennung von Krankheiten, Vorsorgekuren und berufliche Fortbildungsmaßnahmen. Die Durchsetzung des Grundsatzes „Vorsorgen ist besser als Heilen“ hat zur Folge, dass vielen Einzelnen Beeinträchtigungen ihres Wohlbefindens und schwere Schicksale, wie sie Unfall, Berufskrankheiten, Arbeitslosigkeit darstellen können, erspart bleiben. Außerdem ist in der Regel eine prophylaktische Sozialpolitik volkswirtschaftlich gesehen billiger als eine therapeutische. Zwar können – kurzfristig betrachtet – die Kosten einer 1

So auch Barr 1992, S. 758. Haushaltshilfe wird bei Krankenhausaufenthalt gewährt, wenn ansonsten die Haushaltsführung in Haushalten mit Kindern unter 12 Jahren oder mit einem behinderten Kind nicht gewährleistet werden kann. 2

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5 Entwicklungstendenzen und Hauptergebnisse staatlicher Sozialpolitik

prophylaktischen Sozialpolitik höher sein. Man denke etwa an die Aufwendungen für unfallverhütende, gesundheitserhaltende Bau- und Maschineninvestitionen, an die Produktionsausfälle und Verdienstausfälle durch Arbeitszeitverkürzungen und Urlaubsverlängerung, an die Kosten der Sozialversicherungen für vorbeugende Krankheitsbehandlung, für Kuren und für berufliche Umschulung. Langfristig gesehen aber bedeutet eine prophylaktische Sozialpolitik die Erhaltung und Förderung eines möglichst großen, gesunden, leistungsfähigen Arbeitskräftepotentials oder mit anderen Worten die Vermeidung bzw. die Minimierung bestimmter Arten der sogenannten sozialen Zusatzkosten.3 Sozial und ökonomisch ähnlich positiv wie die prophylaktische Sozialpolitik ist die auf Eingliederung und Wiedereingliederung behinderter, kranker, in ihrer Berufsfähigkeit beeinträchtigter Personen gerichtete Rehabilitationspolitik zu beurteilen. Der humane Gehalt der Rehabilitationspolitik liegt darin, dass sie sozial schwächeren Personen durch Förderungsmaßnahmen Chancen gibt, im Wirtschafts– und damit auch im Sozialleben eine aktive Rolle zu übernehmen, selbst Einkommen zu erwerben, berufliche und soziale Kontakte zu unterhalten. Gleichzeitig ist die Rehabilitationspolitik bei hohem Beschäftigungsgrad auch die ökonomischere Art der Sozialpolitik, weil sie die Erwerbsquote erhöht und nach erfolgreicher Eingliederung bzw. Wiedereingliederung den Fortfall von Sozialeinkommen bewirkt. Die Tendenz der Ausweitung des sozialpolitischen Schutzes nach dem Umfang ist ebenfalls an zahlreichen Änderungen des Systems sozialer Leistungen feststellbar. Im Laufe der Entwicklung wurden nahezu alle Sachleistungen – z. B. die Arzneimittelversorgung, die Krankenhausbehandlung nach Dauer und Art, die Versorgung mit apparativen medizinischen Leistungen, die Versorgung mit Rehabilitationsleistungen – und die Geldleistungen – wie z.B. das Krankengeld, die Wochenhilfe, die Arbeitslosenunterstützung, die Renten – schrittweise fortlaufend erhöht; es wurden die Bezugsbedingungen verbessert – z.B. durch Herabsetzung des Rentenbezugsalters vom 70. auf das 65. Lebensjahr und durch die Einführung der flexiblen Altersgrenze; es wurde die Bezugsdauer für Leistungen verlängert – z.B. die Zeitdauer der unentgeltlichen Krankenhausbehandlung, die Bezugsdauer von Krankengeld und von Wöchnerinnenhilfe usw. Dabei gewann mehr und mehr der Grundsatz an Bedeutung, im Bereich der Geldleistungen nicht nur Minimumstandards zu sichern, sondern die Leistungen entsprechend der allgemeinen Entwicklung der Einkommen und des Lebensstandards anzuheben, also das Minimumstandardprinzip durch das Lebensstandardprinzip zu ersetzen. Die wesentliche Komponente der Entwicklung der Sozialpolitik von der schichtspezifischen Schutzpolitik zur Gesellschaftspolitik ist die Ausweitung des Schutzes nach Personengruppen. Der ursprünglich auf den Schutz der Kinder, der Jugendlichen und der Frauen in Fabrikbetrieben beschränkte Arbeitnehmerschutz beispielsweise wurde auf alle Arbeitnehmer in allen Wirtschaftszweigen einschließlich der Heimarbeiter ausgedehnt. Die ursprünglich auf die Arbeiter in Industrie und Gewerbe beschränkte Unfallversicherung wurde (1885 bis 1888) auf die Arbeiter in Staatsbetrieben, im Baugewerbe, in der Land- und Forstwirtschaft und auf Seeleute ausgedehnt; in die Sozialversicherung wurden 1911 die Angestellten bis zu einer bestimmten, im Laufe der Zeit immer wieder erhöhten Einkommensgrenze einbezogen, 1938 wurden die Handwerker, 1957 die selbständigen Landwirte „Schutzobjekt“ der Sozialversicherung. Das Verlangen nach sozialer Sicherung geht bis in die Bereiche der Selbständigen, da auch hohe Einkommen 3

Soziale Zusatzkosten sind Schäden und Verluste, die nicht vom Verursacher, sondern von dritten Personen oder der Gesamtheit getragen werden, wie z. B. die privaten und gesellschaftlichen Verluste, die durch Betriebsunfälle, Berufskrankheiten, Frauen- und Kinderarbeit, Arbeitslosigkeit und übermäßige Arbeitsbelastung entstehen.

5.1 Entwicklungstendenzen

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und Vermögen heute keine individuelle Sicherung mehr gewährleisten können, wie zwei Kriege und zwei Inflationen gelehrt haben. Das Gewicht dieser Ausweitung des sozialpolitischen Schutzes nach Personen lässt sich an folgenden Zahlen ablesen: in der GKV waren 1885 (jeweils ohne Familienangehörige) 4,29 Mio. Personen, d. h. 9,1 % der Bevölkerung, versichert, 2018 aber 55,1 Mio. Personen oder 66,4 % der Bevölkerung; die Zahl der beitragsfrei mitversicherten nicht erwerbstätigen Ehefrauen und der Kinder belief sich auf 16,2 Mio., so dass 87,7 % der Bevölkerung Leistungsansprüche gegen die GKV hatten. Die UV zählte 1886 3,8 Mio. Mitglieder oder 8,1 % der Bevölkerung, 2018 dagegen 65,7 Mio., was zusammen mit den unfallversicherten Schülern, Studenten und Kindergartenkindern eine faktisch vollständige Abdeckung der Bevölkerung darstellt. In der Alters- und Invaliditätsversicherung waren 1908 15,2 Mio. Personen oder 24,2 % der Bevölkerung versichert, 2018 dagegen 55,1 Mio. oder 66,6 % der Bevölkerung. In der erst 1996 eingeführten sozialen Pflegeversicherung waren 2018 72,8 Mio. Menschen, d.h. 87,9 % der Bevölkerung, versichert.4 Wegen dieser dargestellten Ausweitung des sozialpolitischen Schutzes nach Art, Umfang und geschützten Personengruppen kann man zutreffend von der Tendenz sprechen, „möglichst alle Risiken möglichst für alle“ (Seidel 1956, S. 534) möglichst umfassend zu decken. Die Entwicklung der Sozialpolitik ist darüber hinaus durch folgende Einzeltendenzen besonders geprägt: 1. die „Verdichtung“ sozialpolitischer Akte, die Verrechtlichung, die Institutionalisierung und die Zentralisierung der Sozialpolitik; 2. eine gesellschaftliche Egalisierung; 3. die Konzentration der Sozialpolitik auf die im Erwerbsleben tätigen Personen.

5.1.2 „Verdichtung“ sozialpolitischer Akte, Verrechtlichung, Institutionalisierung und Zentralisierung der Sozialpolitik Die Darstellung der sozialpolitischen Gesetzgebung hat deutlich werden lassen, dass ein Trend zur „Verdichtung“ sozialpolitischer Akte in dem Sinne zu konstatieren ist, dass die Zahl sozialpolitischer Maßnahmen pro Zeitperiode (bei mindestens durchschnittlich gleichbleibender Bedeutung der einzelnen Akte) steigt. Das gilt sicherlich für die Periode unter Wilhelm II. gegenüber der Vorperiode und für die Weimarer Republik gegenüber der Vorkriegsära. Auch für die Bundesrepublik lässt sich für die im Vergleich zu Weimar gleich lange Periode von 1948 bis 1963 eine solche Verdichtung feststellen. Diese Verdichtung war begleitet von einer Verrechtlichung und Institutionalisierung. In dem Umfang, in dem staatliche Sozialpolitik an die Stelle karitativer und gemeindlicher Hilfe und Fürsorge trat, in dem der Staat durch den Erlass von Verboten und Geboten die Einhaltung von Mindestnormen sozialen Verhaltens erzwang und normierte Sozialleistungen die Regel wurden, setzte ein Prozess der Verrechtlichung ein, der sich im Arbeitnehmerschutzrecht, im Sozialversicherungsrecht, im Arbeitsrecht, im Recht der Betriebs- und Unternehmensverfassung und in der Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit niedergeschlagen hat. Dem großen Vorteil der Normierung der Leistungen und damit der Vorhersehbarkeit der im Risikofall nach Art und Umfang zu erwartenden Leistungen sowie dem Vorteil der Rechtssi4

Quellen: Hohorst/Kocka/Ritter 1978 sowie Statistische Bundesamt

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5 Entwicklungstendenzen und Hauptergebnisse staatlicher Sozialpolitik

cherheit und der Gleichheit der Behandlung steht als Nachteil eine mit dieser Verrechtlichung verbundene „fortschreitende und immer erfolgreichere Entpersönlichung des Hilfsaktes“ gegenüber (Achinger 1979, S. 120). Parallel zur Verrechtlichung läuft ein Prozess der Institutionalisierung in Gestalt der Entwicklung von großen Sozialverwaltungen. Zu ihnen gehören die Gewerbeaufsichtsämter, die Verwaltungen der Sozialversicherungen, die Arbeitsverwaltung, die Arbeits- und Sozialgerichte, die gemeindlichen Sozialreferate, die Gesundheitsverwaltung, aber auch die zahlreichen Funktionäre und hauptberuflichen Mitarbeiter der Wohlfahrtsverbände, der Vereinigungen der Arbeitgeber und nicht zuletzt der Gewerkschaften. Der „private, ehrenamtliche Stil“ der Sozialpolitik ist durch die professionelle Arbeit der Inhaber „sozialpolitischer Vollberufe“, der sozialen Berufsarbeiter, ersetzt worden (Achinger 1979, S. 79). Neben der Verrechtlichung und der Institutionalisierung der Sozialpolitik lässt sich ein Prozess der Zentralisierung erkennen, d.h. ein Prozess der Übertragung sozialpolitischer Aufgaben von den Gemeinden und von Verbänden auf den Zentralstaat. Diese Zentralisierung begann mit dem Aufbau einer reichseinheitlichen Sozialversicherung, sie zeigt sich u.a. in der Vereinheitlichung der KnRV von 1923, in der Errichtung des Reichsamtes für Arbeitsvermittlung im Zusammenhang mit der Zentralisierung des Arbeitsnachweiswesens, in der Zentralisierung der Erwerbslosenfürsorge und in der Entwicklung von reichseinheitlichen Grundsätzen über Voraussetzungen, Art und Maß der öffentlichen Fürsorge in den 20er Jahren. Diese Zentralisierung ist einerseits die notwendige Folge der Verrechtlichung, die den Gesetzgeber des Zentralstaats laufend beansprucht. Im Zusammenhang mit der Normierung von Leistungen, mit dem Gleichheitsgrundsatz und dem Ziel der Vereinheitlichung der Lebensverhältnisse ist diese Zentralisierung gewollt und zu begrüßen. Andererseits aber verhindert sie die weitgehende Anpassung sozialpolitischen Handelns an regionale, ethnische und strukturelle Besonderheiten.

5.1.3 Die Tendenz gesellschaftlicher Egalisierung Als eine Folge der „entfalteten“ Sozialpolitik wird die Tendenz zur gesellschaftlichen Egalisierung angesehen. Darunter versteht man die zunehmende Verringerung von Unterschieden im wirtschaftlichen und sozialen Status verschiedener sozialer Schichten. Diese Tendenz lässt sich an der langfristigen Entwicklung der Einkommensverteilung und anderer Sozialindikatoren in den industrialisierten Volkswirtschaften erkennen (vgl. Flora 1983). Allerdings zeigen Untersuchungen zur Einkommensverteilung von Richard Hauser und Irene Becker 5 , dass sich seit 1973 sowohl die Ungleichheit der Primäreinkommen wie der Sekundäreinkommen erhöht hat. Das Ausmaß der relativen Einkommensarmut6 ist im gleichen Zeitraum erkennbar gestiegen. Die Armutsgefährdungsquote ist zwischen 1991 und 2018 von 11,3 % auf 15,5 % gestiegen (Quelle: Statistisches Bundesamt, vgl. auch Bundeszentrale für Politische Bildung 2011, S. 164 sowie Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2013, S. 461 f.). Ursachen für die in längerfristiger Perspektive nach wie vor nachweisbare Egalisierung der Lebenslagen sind vor allem die erfolgreiche Bekämpfung der Altersarmut durch das System 5

Vgl. Becker/Hauser 2003. Als einkommensarm gilt ein Haushalt, wenn dessen Einkommen weniger als die Hälfte des Medians der Nettoäquivalenzeinkommen seines Landes beträgt. Eine Unterschreitung von 60 % dieses Medians gilt als Armutsgefährdung. 6

5.2 Hauptergebnisse der staatlichen Sozialpolitik

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sozialer Sicherung und die Umverteilungseffekte des Steuer- und Sozialsystems. Hinzu kommt die Institutionalisierung und Transformation der Arbeitsmärkte, die den Gewerkschaften eine nivellierende Lohn- und Gehaltspolitik ermöglicht haben. Eine große Rolle spielte auch die Durchsetzung des Rechtsstaates, insbes. des Gleichheits- und des Gleichbehandlungsgrundsatzes, die eine Angleichung der Startchancen der Gesellschaftsmitglieder durch die Bildungspolitik bewirkte.

5.1.4 Die Konzentration der Sozialpolitik auf die im Erwerbsleben tätigen Personen Die Darstellung der Geschichte der Sozialpolitik hat erkennbar gemacht, dass die staatliche Sozialpolitik von Anbeginn an nicht auf die Verbesserung der Lebenslage der sozial und wirtschaftlich Schwächsten, sondern der Industriearbeiterschaft gerichtet war. Die Sozialgesetzgebung der 50er und 60er Jahre des 19. Jahrhunderts erreichte nur Berg-, Hütten- und Fabrikarbeiter, d.h. die gehobenen Arbeiterschichten, die, mit festem Arbeitsplatz und relativ hohem Lohn, gegenüber der Masse der abhängig Arbeitenden bereits einen gewissen Grad sozialer Sicherheit erreicht hatten. Diese Ausrichtung auf die relativ gut gestellten „Normalbürger“, die im Arbeitsleben stehen, bei gleichzeitiger Vernachlässigung sogenannter „Randgruppenangehöriger“ hat die deutsche Sozialpolitik bis heute nicht verloren. Diese einseitige Ausrichtung besteht darin, dass viele soziale Leistungen an die Mitgliedschaft in den Einrichtungen der sozialen Sicherung gebunden und von der Erfüllung von Wartezeiten, von dem Erwerb der Anwartschaft und von der Höhe des Arbeitseinkommens abhängig sind. Die Sozialleistungen sind um so höher, je höher das Arbeitseinkommen bzw. je länger die Versicherungszeit ist: Folglich ist die soziale Sicherheit des leistungsfähigen Arbeitnehmers mit relativ hohem Arbeitseinkommen relativ hoch, während die Mitglieder anderer sozialer Gruppen keine oder nur verringerte Chancen haben, durch Erwerbsarbeit Ansprüche gegen das System sozialer Sicherung zu erwerben. Zu denken ist dabei an Geringqualifizierte, Personen mit fragmentierter Erwerbsbiographie sowie Personen mit Migrationshintergrund. Ein besonderes Problem stellen Erziehungspersonen dar, die für die Betreuung und Erziehung der Kinder ihre Erwerbstätigkeit für einen längeren Zeitraum unterbrechen.

5.2 Hauptergebnisse der staatlichen Sozialpolitik Die neuzeitliche staatliche Sozialpolitik hat eine Vielzahl von Wirkungen ausgelöst und beachtliche Ergebnisse gezeitigt, die in anderem Zusammenhang noch erläutert werden (vgl. S. 373 ff.). Hier sollen nur zwei säkular bedeutende Ergebnisse skizziert werden: Die Lösung der Arbeiterfrage und die Verwirklichung des Sozialstaates. Durch die neuzeitliche Sozialpolitik wurde die soziale Frage als Arbeiterfrage gelöst, so dass sie als Frage der Existenzsicherheit großer Bevölkerungsteile mittlerweile bedeutungslos geworden ist. Denn die Reallöhne sind in den letzten 130 Jahren auf das 6- bis 7-fache gestiegen – bei einer Reduzierung der Arbeitszeit auf etwa die Hälfte. Die Arbeits- und Sozialeinkommen der neuzeitlichen Industriegesellschaft decken nicht nur den unmittelbaren Lebensbedarf. In den

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5 Entwicklungstendenzen und Hauptergebnisse staatlicher Sozialpolitik

Verfügungsbereich der Arbeitnehmer sind Güter gerückt, die gestern Luxusgüter und privilegierten Schichten vorbehalten waren (vgl. dazu Schumpeter 1946, S. 113 f.). Das kapitalistische System hat aus Luxusgütern von gestern Massengebrauchsgüter von heute gemacht. Auch für die aus dem Arbeitsprozess Ausgeschiedenen ist in der großen Mehrzahl der Fälle die Existenzsicherheit gewährleistet, da alle im Bereich der allgemeinen Sozialpolitik abdeckbaren Risiken so abgesichert sind, dass im ungünstigsten Fall das Existenzminimum gesichert und im günstigeren Fall die Aufrechterhaltung des bisherigen Lebensstandards entsprechend der Entwicklung des allgemeinen Lebensstandards möglich ist. Ein umfassender Jugend-, Unfall-, Mutter- und Arbeitszeitschutz hat soziale Probleme der Kinderarbeit, der Frauenarbeit und der Arbeitszeit gelöst. Durch das BetrVG und die Arbeitsgerichtsbarkeit sowie durch die Verwirklichung der Grundrechte des Menschen ist im Vergleich zu den vergangenen Jahrzehnten eine wesentlich menschenwürdigere Behandlung der Arbeitnehmer sichergestellt. Die Arbeiterschaft ist in die moderne Massengesellschaft integriert. Gleichzeitig hat sich die gesellschaftliche Position der Arbeitnehmer gewandelt. Die politische Willensbildung und Entscheidung ist nicht mehr einer schmalen Führungsschicht vorbehalten, vielmehr hat das allgemeine, freie und geheime Wahlrecht die Arbeitnehmer zu einer politischen Potenz werden lassen, an der keine Partei vorbeigehen kann. Auch Hans Achinger verweist darauf, dass die „Koppelung von Arbeit und Armut, die seit dem Mittelalter gegolten hatte, [...] tatsächlich, nicht zum wenigsten durch die Milderungs- und Behelfsmittel der Sozialpolitik, gelöst worden“ ist (Achinger 1979, S. 73). Durch diese Entwicklung sind – nimmt man die neuzeitliche Bildungspolitik mit ihrem Abbau finanzieller Bildungsschranken hinzu – nahezu alle Proletaritätsmerkmale – einschließlich des Merkmals der Erblichkeit des Proletarierstatus – abgebaut. Lediglich der Abbau der Vermögenslosigkeit lässt – insbes. in Bezug auf die Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivvermögen – noch Wünsche offen (vgl. dazu S. 323). Über die Lösung der Arbeiterfrage hinaus bewirkte die staatliche Sozialpolitik ein zweites Ergebnis: die Beseitigung sozialstaatlicher Defizite der Nationalstaaten des 19. und des frühen 20. Jh. Diese Defizite bestanden nicht nur in dem an anderer Stelle dargestellten Fehlen eines Schutzes der Arbeitskraft, eines Gesundheitsschutzes und von Einrichtungen zur Einkommenssicherung im Risikofall, sondern vor allem auch in Unzulänglichkeiten der gesellschaftspolitischen Leitbilder in Bezug auf zwei Grundziele der jungen Rechtsstaaten, nämlich in Bezug auf die Freiheit und die Gleichheit. Freiheit war im politischen und wirtschaftlichen Liberalismus und ist für manche Liberale auch heute noch die Möglichkeit, im Rahmen der gesetzlichen Schranken nach eigener Entscheidung etwas zu tun oder zu unterlassen.7 Bedauerlicherweise setzt sich dieser Freiheitsbegriff auch in unserem Gesellschaftssystem wieder stärker durch. Dieses Verständnis von Freiheit, das auch als formale Freiheit bezeichnet wird, übersieht, dass die für alle gleiche formale Freiheit je nach der Lebenslage der Träger von Freiheitsrechten unterschiedliche Substanz hat. Für den Eigentümer eines größeren Vermögens und für den Bezieher hoher Einkommen ist formale Freiheit gleichbedeutend mit großer materialer Freiheit, d.h. mit der Fähigkeit, im Rahmen der Gesetze und der individuellen wirtschaftlichen Möglichkeiten selbstgesteckte Ziele zu verwirklichen. Demgegenüber haben vermögenslose Gesellschaftsmitglieder und Bezieher niedriger Einkommen bei gleicher formaler Freiheit engere Spielräume an materialer Freiheit. Gleiche formale Freiheit kann infolgedessen ebenso wie rechtliche Gleichheit mit tatsächlicher Ungleichheit verbunden 7

Vgl. zum Freiheitsbegriff die ausführliche Darstellung bei Lampert 1992a.

5.2 Hauptergebnisse der staatlichen Sozialpolitik

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sein. Daher sind, wenn für alle ein bestimmtes Minimum an materialer Freiheit gesichert werden und extreme Ungleichheiten in den Chancen zur freien Entfaltung der Persönlichkeit verhindert werden sollen, bestimmte Umverteilungen, insbesondere in einem System sozialer Sicherung, unverzichtbar. Freiheit und Sicherheit sowie Freiheit und Gleichheit sind – so gesehen – nicht, wie Friedrich von Hayek meint, konkurrierende, durch eine Konfliktbeziehung charakterisierte, sondern bis zur Erreichung bestimmter Lebensstandardminima für alle komplementäre Güter. Denn die Nutzung formaler, d.h. die materiale Freiheit für alle in einem Mindestumfang, ist gleichbedeutend mit der Verringerung materialer Ungleichheit und einem Mindestmaß an materieller Sicherheit für alle. Deswegen auch sichert der soziale Rechtsstaat der Gegenwart nicht nur rechtliche Freiheit und Gleichheit, sondern versucht, die materiellen Voraussetzungen dafür zu verbessern, dass der Einzelne auch tatsächlich das tun kann, was er tun darf. Inhalt und Wert der Freiheit unterscheiden sich aber nicht nur aufgrund unterschiedlicher Verfügungsmöglichkeiten über wirtschaftliche Güter, sondern auch entsprechend den sonstigen rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Lebensbedingungen. Dies wurde kaum je so drastisch verdeutlicht wie an der Lage der Arbeiter im vorigen Jahrhundert. Die formalrechtlichen Errungenschaften des Liberalismus, vor allem die uneingeschränkte Arbeitsvertragsfreiheit und die an die persönliche Freiheit gebundene individuelle Selbstverantwortung, waren für die Arbeitnehmer zunächst zweifelhafte Fortschritte. Freiheit und Selbstverantwortung waren nämlich für sie verknüpft mit dem Zwang, zur Existenzsicherung Arbeitsleistungen zu verkaufen, waren verbunden mit einem Überangebot an Arbeitskräften, mit einer Konkurrenz um die Arbeitsplätze, die durch das gesetzliche Koalitionsverbot verschärft war, und verbunden mit sozialer Schutzlosigkeit bei Eintritt existenzbedrohender Risiken. Es war die staatliche Sozialpolitik, die diese Bedingungen grundlegend verändert hat und die negativen Auswirkungen einer Freiheit beseitigte, die durch die rechtliche, wirtschaftliche und soziale Gesamtkonstellation beeinträchtigt war. Ähnlich wie der Freiheitsbegriff war auch der Gleichheitsbegriff des Liberalismus aus sozialer Sicht unzureichend definiert. Denn von der Aufklärung bis zum Liberalismus der Nationalstaaten wurde Gleichheit verstanden als Gleichheit der Rechte, als Gleichheit der formalen Freiheit, als gleiches Wahlrecht, als Gewerbefreiheit für alle, als Freiheit der Berufswahl für alle. Offensichtlich ist diese Gleichheit der Rechte im Vergleich zu ständischen, auf rechtlichen Privilegien beruhenden Gesellschaften ein großer Fortschritt. Aus sozialstaatlicher Perspektive jedoch ist sie nur eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die Reduzierung von Ungleichheit. Denn wiederum hat auch dieses Recht unterschiedliche Substanz je nach den wirtschaftlichen und sozialen Startbedingungen der Gesellschaftsmitglieder. Von dem für alle gleichen Recht auf Gewerbefreiheit kann Gebrauch machen, wer das erforderliche Eigenkapital und Zugang zu Fremdkapital hat. Von dem für alle gleichen Recht auf Bildung kann derjenige Gebrauch machen, der selbst oder dessen Familie die Opportunitätskosten persönlicher Bildungsinvestitionen tragen kann. Auch diese Problematik ist durch die Sozialpolitik entschärft worden, denn die mittelstandsorientierte, mit Bürgschaften, Kreditverbilligungen und Beratungshilfen arbeitende, sozial orientierte Wirtschaftspolitik und die individuelle wie auch die institutionelle Förderung der akademischen und der beruflichen Bildung tragen dazu bei, formale Gleichheit dadurch zu einem für viele nutzbaren Recht zu machen, dass faktische Startungleichheiten verringert werden. Sozialstaatliche Defizite treten in einer Gesellschaft jedoch selbst dann auf, wenn das Ziel der Freiheit über die formale Freiheit hinausgehend als Ziel materialer Freiheit in einem Mindestumfang für alle interpretiert wird und wenn das Ziel der Gleichheit über die formale Gleich-

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5 Entwicklungstendenzen und Hauptergebnisse staatlicher Sozialpolitik

heit hinausgehend aufgefasst wird als die Aufgabe der Verringerung faktischer Ungleichheiten. Die entscheidende Ursache für dieses Defizit ist weniger in der unterschiedlichen ökonomischen Grundausstattung der Gesellschaftsmitglieder zu sehen; sie liegt vielmehr in der unterschiedlichen „natürlichen“ Grundausstattung der Individuen, d.h. in der höchst unterschiedlichen und ungleichen Verteilung von Begabungen, Talenten und Fähigkeiten, von Stärken und Schwächen jeder Art: handwerklichen, kaufmännischen, technischen, künstlerischen, intellektuellen, mentalen und psychischen. Diese ungleiche „natürliche“ Grundausstattung wird verstärkt durch die damit gegebenen unterschiedlichen Möglichkeiten zum Erwerb erlernbarer Fähigkeiten und Kenntnisse. Mit diesen Unterschieden im Arbeitsvermögen oder human capital als Quelle des Erwerbs von Arbeitseinkommen und Geldvermögen sind Unterschiede in Bezug auf die Möglichkeiten der Nutzung der Freiheitsrechte, des Rechtes auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und des Rechtes auf Gleichbehandlung vorgeprägt. In diesen Unterschieden im Humanvermögen und in deren ökonomischen Konsequenzen in einer Gesellschaft, die die Einkommen nach dem ökonomischen Wert der Leistung zuteilt, liegt eine weitere Ursache staatlicher Sozialpolitik, ein weiterer Grund für die Notwendigkeit der Sozialpolitik – jedenfalls dann, wenn eine Gesellschaft im Sinne eines bestimmten Maßes an sozialer Gerechtigkeit allen Gesellschaftsmitgliedern den Zugang zu materialer Freiheit und persönlicher Entfaltung sowie ein Mindestmaß an Partizipation im sozialen, kulturellen und politischen Leben ermöglichen will. Auch zur Erreichung dieser Ziele hat die Sozialpolitik maßgeblich beigetragen. Erinnert sei an die Schaffung prinzipiell gleicher Sozialisationschancen von Kleinkindern durch die Bereitstellung ausreichender Plätze in Einrichtungen der vorschulischen Erziehung, an Erziehungsberatung, an Maßnahmen zur Förderung von lernschwachen und lernbehinderten Kindern und Jugendlichen, an die Berufs- und Arbeitsberatung, an Integrationshilfen für Schwerbehinderte und alte Menschen, an therapeutische Einrichtungen für psychisch Kranke und Labile, an die Öffnung der Bildungseinrichtungen für alle gemäß der Begabung und Leistung, an zahlreiche Maßnahmen zur Umverteilung von Lasten, z.B. im Rahmen des Familienlastenausgleiches, und an die Einkommensumverteilung von den wirtschaftlich Leistungsfähigeren zu den Leistungsschwächeren durch ein progressives Steuersystem und durch Sozialtransfers. Die Effekte dieser Maßnahmen bestehen – vorausgesetzt, die Maßnahmen sind zielkonform konzipiert – in einer gleichmäßigeren Verteilung der Spielräume an materialer Freiheit, in einer gleichmäßigeren Verteilung der Chancen zur Teilnahme am wirtschaftlichen, kulturellen, sportlichen und politischen Leben und in einer gleichmäßigeren Verteilung des wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts in der Gesellschaft. In eben diesen Wirkungen liegt nach unserem Urteil das Verdienst der Sozialpolitik der letzten Jahrzehnte in zahlreichen europäischen Staaten, nicht zuletzt in der Bundesrepublik. Diese Politik ist seit langem dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht mehr die Funktion hat, Lazarettstation des Kapitalismus zu sein und das kapitalistische System zu stabilisieren, sondern dass sie zur gesellschaftsgestaltenden Politik geworden ist. Wir haben (S. 102) – bezogen auf die Entwicklung der deutschen staatlichen Sozialpolitik – die Frage aufgeworfen, welche Faktoren die Entstehung und Entwicklung von Systemen staatlicher Sozialpolitik bestimmen. Dies ist im Grunde die Frage nach einer Theorie der Sozialpolitik, die zu erklären vermag, warum und wie sich staatliche Sozialpolitik allgemein und in bestimmten Gesellschaften zu bestimmten Zeiten entwickelt. Die Grundzüge einer solchen Theorie sollen im folgenden Kapitel dargestellt werden.

Kapitel 6

Grundzüge einer Theorie staatlicher Sozialpolitik

6.1 Grundzüge einer Theorie der Entstehungsbedingungen staatlicher Sozialpolitik Häufig wird die Auffassung vertreten, die wissenschaftliche Sozialpolitik sei weitgehend theorielos und beschränke sich auf eine reine Wiedergabe sozialpolitischer Normen und Institutionen.1 Dieser Vorwurf ist nicht haltbar. Die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften stellen zahlreiche theoretische Modelle zur Verfügung, mit deren Hilfe die Notwendigkeit staatlicher Sozialpolitik begründet werden kann (normative Theorie des Sozialstaats) und die dazu beitragen, die Wirkungen sozialpolitischer Maßnahmen zu untersuchen und die Ursachen für die Entwicklung von Sozialstaaten zu analysieren (positive Theorie der Sozialpolitik). Der ökonomischen Theorie kommt dabei insbesondere in der Wirkungsanalyse eine besondere Bedeutung zu.2 Durch ökonomische Evaluationen lässt sich abschätzen, wie Haushalte und Unternehmen auf sozialpolitische Eingriffe des Staates reagieren und welche Nebenwirkungen mit diesen Eingriffen verbunden sind. Die Ökonomik ist aber auch für die Frage nach der Notwendigkeit sozialpolitischen Handelns relevant. Denn die knappen Ressourcen, die für bestimmte sozialpolitische Maßnahmen aufgewendet werden, stehen in einem Konkurrenzverhältnis zu anderen gesellschaftlichen Verwendungsmöglichkeiten. Deshalb ist eine möglichst exakte Erfassung der Kosten staatlicher Sozialpolitik für eine rationale Politikgestaltung unerlässlich. Und schließlich ist das Versagen von Versicherungs-, Güter- und Arbeitsmärkten eine wichtige Begründung für sozialpolitische Eingriffe des Staates. Aus ökonomischer Perspektive wird Sozialpolitik notwendig, sofern - wie im Fall der Arbeitslosenversicherung - keine privaten Märkte zur Absicherung bestimmter Risiken existieren oder wenn der freie Markt hochgradig unvollkommen ist und die Allokationseffizienz durch staatliche Eingriffe verbessert werden kann. In diesen Fällen ist der Sozialstaat „justified not simply by redistributive aims one may (or may not) have, but because it does things which private markets would either do inefficiently, or would not do at all.“ (Barr 1992, S. 754).3 Nicht zuletzt deshalb hat Leopold v. Wiese bereits im Jahr 1910 die Sozialpolitik als die „erwachsene 1

Zum Vorwurf der Theorielosigkeit der Sozialpolitik vgl. Kaufmann 2009 sowie Lampert/Bossert 1987. Zur ökonomischen Theorie der Sozialpolitik vgl. Liefmann-Keil 1961, Knappe/Berthold 1998, Schönig 2001 sowie Breyer/Buchholz 2009. 3 Hans-Werner Sinn spricht in diesem Zusammenhang vom „Selektionsprinzip“ staatlicher Sozialpolitik; vgl. Sinn 1997b. 2

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© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2021 J. Althammer et al., Lehrbuch der Sozialpolitik, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56258-1_6

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6 Grundzüge einer Theorie staatlicher Sozialpolitik

Tochter der Nationalökonomie“ (Wiese 1910, S. 14) bezeichnet. Bei der folgenden Entwicklung der Grundzüge der Sozialpolitik werden wir deshalb der ökonomischen Theorie der Sozialpolitik besondere Aufmerksamkeit schenken. Allerdings wird eine ausschließlich ökonomisch ausgerichtete Theorie der Sozialpolitik dem multidisziplinären Charakter der Sozialpolitik nicht gerecht. Neben der Ökonomie leisten auch die Soziologie, die Politikwissenschaft und die Rechtswissenschaft wesentliche Beiträge zum Verständnis staatlicher Wohlfahrtspolitik. Denn sozialstaatliche Regelungen leiten sich nicht nur aus ökonomischen Zielsetzungen ab, sondern begründen sich auch in der Sicherung des sozialen Friedens, in der Verwirklichung menschlicher Grundrechte und in dem Ziel der Herstellung sozialer Gerechtigkeit. Deshalb ist die Sozialwissenschaft ein unverzichtbarer Bestandteil einer umfassenden Theorie der Sozialpolitik. Die Forderung nach einer (ausschließlich) ökonomischen Theorie der Sozialpolitik stellt eine methodologisch unzulässige disziplinäre Einengung der Sozialpolitik und eine unzulässige Überbetonung ökonomischer Aspekte gegenüber nicht-ökonomischen Zielsetzungen dar. Dieser Hinweis auf die Grenzen einer ökonomischen Theorie der Sozialpolitik schließt aber selbstverständlich die ökonomische Analyse des Sozialstaates nicht aus. Die Aufgaben der wissenschaftlichen Sozialpolitik wurden bereits in der Einführung dargestellt. In diesem Kapitel sollen aus diesem Aufgabenkomplex zwei Fragestellungen herausgegriffen werden, nämlich:4 a) wodurch wird Sozialpolitik notwendig (Theorie der Entstehungsbedingungen staatlicher Sozialpolitik) und b) Wodurch wird die Entwicklung der Sozialpolitik in einer Gesellschaft bestimmt (Theorie der Entwicklungsbedingungen staatlicher Sozialpolitik)? Eine Theorie der Entstehungsbedingungen staatlicher Sozialpolitik muss erklären können, welche gesellschaftlichen Umständen dafür verantwortlich sind, dass der Bedarf an kollektiver Absicherung existenzieller Risiken und an menschengerechten Lebens- und Arbeitsbedingungen durch politisches Handeln und staatliche Institutionen erforderlich wird. Sie sollte dabei allgemeingültig, d. h. raum- und zeitunabhängig sein. Zusätzlich ist es erforderlich, für bestimmte Gesellschaften und für bestimmte historische Epochen speziellere Theorien gleichsam als Unterfälle einer allgemeinen Theorie zu entwickeln, um qualitative oder quantitative Besonderheiten der Sozialpolitik zu erklären.5

6.1.1 Funktionalistische Theorien der Sozialpolitik Nach dem rational-funktionalistischen Ansatz ist der moderne Sozialstaat im Wesentlichen die gesellschaftliche Antwort auf die Herausforderungen moderner Industriegesellschaften. Denn durch die Industrialisierung entstanden neue sozialpolitische Bedarfe, die durch die bestehenden kollektiven Sicherungsverfahren nicht adäquat abgedeckt werden konnten. Die Industriegesellschaft erfordert zum einen ein hohes Maß an regionaler Mobilität. Dadurch wurde die Herausbildung der modernen Kleinfamilie begünstigt (vgl. Wilensky/Lebeaux 1965, S. 81). Durch die 4 Zwei weitere zentrale Fragestellungen, nämlich die Frage nach den Wirkungen der Sozialpolitik und nach den Grenzen der Sozialpolitik werden an anderen Stellen aufgegriffen (S. 373 ff. bzw. S. 388 ff.). 5 Zur Theorie der Entstehung moderner Sozialstaaten vgl. Schmidt et al. 2007 sowie Cousins 2005.

6.1 Theorie der Entstehungsbedingungen staatlicher Sozialpolitik

117

Urbanisierung und die Normierung der Arbeitsverhältnisse durch freie Arbeitsverträge wurden zudem neue soziale Bedarfe geschaffen, die durch die bestehenden Sicherungseinrichtungen wie die Familie oder karitative und kommunale Organisationen nicht mehr effektiv gedeckt werden konnten.6 Gemäß der funktionalistischen Theorie repräsentiert der Sozialstaat ein funktionales Äquivalent zu den tradierten Formen kollektiver Sicherung, welches adäquat zu den Herausforderungen arbeitsteiliger Industriegesellschaften ist. Eine umfassende Theorie staatlicher Sozialpolitik wurde 1911 von Otto von ZwiedineckSüdenhorst vorgelegt. Er weist in seiner grundlegenden Arbeit zur Sozialpolitik darauf hin, dass in modernen, arbeitsteiligen Gesellschaften die Bedingungen für eine menschenwürdige Existenz und für die Chancen zur gesellschaftlichen Teilhabe stark ungleich verteilt sind. Diese Ungleichverteilung ist ausgleichsbedürftig, sofern durch sie entweder der soziale Friede bedroht ist oder allgemein anerkannte Grundsätze sozialer Gerechtigkeit verletzt werden. Hieraus resultiert ein Bedarf an interpersoneller Umverteilung von Rechten, Chancen, Einkommen und Vermögen. Dieser Bedarf kann nur politisch gedeckt werden, da hierzu Eingriffe in bestehende Eigentumsrechte erforderlich sind. Diese Gedanken wurden von Peter Flora und Jens Alber zu einer soziologischen Theorie der Sozialpolitik weiterentwickelt (vgl. Flora/Heidenheimer 1981). Die Autoren zeigen, dass die mit der Arbeitsteilung verbundene Industrialisierung, die Urbanisierung und die Herausbildung der Bürokratie im Zuge der Entstehung der Nationalstaaten strukturell-funktionelle Differenzierungsprozesse mit sich brachten, die – vor allem in Verbindung mit der Entstehung des Lohnarbeitsverhältnisses – sozialpolitischen Bedarf in Bezug auf die Arbeitsbedingungen, die Arbeitsmarktverfassung, die soziale Sicherheit und die Versorgung mit öffentlichen Gütern entstehen ließen. Während Flora und Alber ihren Ansatz auf Durkheims Theorie der funktionalen Differenzierung stützen, begründet der dänische Soziologe Gøsta Esping-Andersen staatliche Sozialpolitik über den Warencharakter menschlicher Arbeit in marktwirtschaftlichen Systemen. Auf freien Märkten wird die menschliche Arbeit kommodifiziert, d. h. die Menschen sind gezwungen, ihre Arbeitskraft zu den gerade herrschenden Marktbedingungen zu veräußern (vom englischen commodity, die Ware). Die Aufgabe der Sozialpolitik besteht darin, diesen Warencharakter der menschlichen Arbeit zu überwinden, Arbeit also zu dekommodifizieren. Sozialpolitik lässt sich damit als eine Politik zur Durchsetzung sozialer Rechte verstehen, die dem Einzelnen unabhängig von den jeweiligen Marktbedingungen zugestanden werden (Esping-Andersen 1989). Der Sozialstaat liefert eine funktionale Ergänzung zum liberalen Rechtsstaat, indem er die formalen Freiheitsrechte um soziale Anspruchs- und Teilhaberechte erweitert.

6.1.2 Ökonomische Theorie des Sozialstaats Die ökonomische Theorie staatlicher Sozialpolitik beschäftigt sich mit der Frage, weshalb der Bedarf an kollektiver Daseinsvorsorge und menschenwürdigen Arbeits- und Lebensbedingungen nicht durch den Marktmechanismus gedeckt werden kann.7 Sie erklärt den Sozialstaat primär 6

Zur Theorie sozialpolitischer Bedarfe und ihrer Deckung vgl. Widmaier 1976 sowie Lampert/Englberger/ Schüle 1991. 7 Zur ökonomischen Theorie der Sozialpolitik vgl. Breyer/Buchholz 2009, Knappe/Berthold 1998 sowie Sinn 1994.

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6 Grundzüge einer Theorie staatlicher Sozialpolitik

über Unvollkommenheiten privater Versicherungs- und Arbeitsmärkte und kann deshalb als ein Teilbereich der rational-funktionalistischen Sozialstaatserklärung angesehen werden. Ausgangspunkt jeder effizienzorientierten Begründung staatlicher Sozialpolitik ist der erste Hauptsatz der Wohlfahrtsökonomie (vgl. Breyer/Buchholz 2009, S. 93). Dieser Satz besagt, dass jede gleichgewichtige Marktallokation privater Güter bei vollständiger Konkurrenz paretooptimal ist. Paretooptimalität bedeutet, dass es nicht möglich ist, durch eine Reallokation der Ressourcen die Wohlfahrt eines Mitglieds der Gesellschaft zu erhöhen, ohne gleichzeitig ein anderes Gesellschaftsmitglied schlechter stellen zu müssen. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass das Paretokriterium die Verteilungsfrage bewusst ausklammert. Eine effizienzorientierte Begründung des Sozialstaats muss somit zeigen, dass 1. die Allokation auf unregulierten Güter-, Faktor- oder Versicherungsmärkten Ineffizienzen aufweist und dass 2. die Allokation auf diesen Märkten durch eine staatliche Intervention verbessert werden kann. Die zentralen Funktionsmängel marktwirtschaftlicher Ordnungen, welche die Notwendigkeit sozialstaatlicher Interventionen aus ökonomischer Sicht begründen können, sind a) die Existenz meritorischer Güter, b) öffentliche Güter und externe Effekte, c) unvollkommene Konkurrenz auf den Güter- oder Faktormärkten, d) die Existenz privatwirtschaftlich nicht versicherbare Risiken sowie e) Informationsasymmetrien.

a) Meritorische Güter Sozialpolitische Eingriffe des Staates werden häufig damit begründet, dass die Individuen aufgrund von Beschränkungen bei der Informationsaufnahme (Perzeption) oder der Informationsverarbeitung (Kognition) bei privaten Entscheidungen gegen ihre eigenen (langfristigen) Interessen verstoßen. Die Entscheidungen der privaten Wirtschaftssubjekte sind somit nur beschränkt rational; es liegt (Zeit-)Inkonsistenz der individuellen Präferenzordnungen vor.8 So wird argumentiert, dass Bedarfe, die in ferner Zukunft liegen oder Risiken, die eine geringe Risikoeintrittswahrscheinlichkeit aufweisen, von den privaten Wirtschaftssubjekten systematisch unterschätzt würden. Ohne staatliche Mindestnormen wie einer Versicherungspflicht läge die Nachfrage nach Versicherungsleistungen somit auf einem ineffizient niedrigen Niveau. Bei Eingriffen aus meritorischen Gründen werden also die am Markt offenbarten Präferenzen der privaten Wirtschaftssubjekte anhand einer politisch gesetzten Präferenzordnung korrigiert. Das Konzept meritorischer Bedarfe ist als normative Grundlage sozialstaatlichen Handelns jedoch umstritten, da es mit der Prämisse bricht, dass nur der Einzelne in der Lage ist, die für ihn adäquaten Entscheidungen zu treffen (normativer Individualismus), und da es die Handlungsautonomie der Person einschränkt. Die Akzeptanz des meritorischen Arguments setzt zumindest die Annahme eines schwachen Paternalismus voraus. Schwacher Paternalismus bedeutet, dass eine Person mit be-

8

Zur Darstellung und Kritik des meritorischen Arguments vgl. Tietzel/Müller 1998.

6.1 Theorie der Entstehungsbedingungen staatlicher Sozialpolitik

119

schränkten Kompetenzen zu einem Handeln veranlasst wird, das ihren Präferenzen unter den Bedingungen vollständiger Information entsprechen würde.9

b) Öffentliche Güter und externe Effekte Unter öffentlichen Gütern versteht man Güter oder Dienstleistungen, bei denen das Ausschlussprinzip entweder generell nicht anwendbar ist oder mit prohibitiv hohen Durchsetzungskosten verbunden wäre. Da niemand vom Konsum dieser Güter ausgeschlossen werden kann, haben die potenziellen Konsumenten keinen Anreiz, ihre wahre Zahlungsbereitschaft für dieses Gut zu offenbaren (sog. Trittbrettfahrerverhalten). Diese Güter bzw. Dienstleistungen werden deshalb auch nicht privat bereitgestellt, obwohl sie einen Nutzenzuwachs stiften, der die marginalen Produktionskosten übersteigt. Im Bereich der Sozialpolitik weisen verteilungspolitische Maßnahmen Merkmale eines öffentlichen Gutes auf. Wenn man realistischerweise unterstellt, dass alle Mitglieder einer Gesellschaft ein Interesse daran haben, dass in der Gesellschaft, in der sie leben, Armut und Not bekämpft wird, dann ist ein bestimmtes Maß an Umverteilung durchaus präferenzadäquat. Sofern nun der Staat die Sicherung eines soziokulturellen Existenzminimums gewährleistet, wird diesem Bedarf Rechnung getragen, und zwar unabhängig davon, ob der Einzelne seinen Beitrag zur Finanzierung dieser verteilungspolitischen Maßnahmen leistet oder nicht. Damit hat aber jeder Nettozahler einen Anreiz, sich seinen Zahlungsverpflichtungen zu entziehen. Eng mit dem Problem öffentlicher Güter ist das Problem externer Effekte verbunden. Externalitäten liegen vor, wenn die Handlung einer Person oder Institution die Nutzen- oder Produktionssphäre einer anderen Person oder Institution beeinflusst, ohne dass hierfür eine Kompensation erfolgt. In diesem Fall führt die freie Marktallokation zu suboptimalen Ergebnissen. Bei positiven externen Effekten, d.h. sofern die Handlungen einen Zusatznutzen bei Dritten hervorrufen, wird zu wenig von diesem Gut bereitgestellt, während sich im Fall sozialer Zusatzkosten ein suboptimal hohes Angebot ergibt. Die Aufgabe der staatlichen Sozialpolitik ist es in diesem Fall, externe Erträge und soziale Zusatzkosten nach dem Verursacherprinzip adäquat zuzurechnen, d.h. zu internalisieren.

c) Marktmacht Die Allokation auf deregulierten Märkten führt nur dann zu paretooptimalen Ergebnissen, wenn der Bedingungskatalog vollständiger Konkurrenz erfüllt ist. Dazu zählt u.a. die Annahme, dass kein Anbieter oder Nachfrager durch seine Mengenentscheidungen den Marktpreis beeinflussen kann, d.h. dass keine Marktmacht vorliegt. Diese Bedingung muss insbesondere auf den Arbeitsmärkten als nicht erfüllt angesehen werden. Aufgrund spezifischer Gegebenheiten des Faktors Arbeit (vgl. Kap. 8.2) liegt zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern ein Machtgefälle vor, das bei einer freien Aushandlung des Arbeitsvertrags zu ineffizienten und verteilungspolitisch unerwünschten Ergebnissen führt. Hier muss der Sozialstaat eingreifen, um das Marktergebnis zu korrigieren. Dies kann entweder durch ordnungspolitische Rahmenbedingungen (Tarifautonomie) oder durch direkte Interventionen (Mindestlohn) erfolgen. 9

Demgegenüber bedeutet „starker Paternalismus“, dass man sich über den bekundeten Willen kompetenter Akteure hinwegsetzt. Zur Unterscheidung zwischen schwachen und starken Paternalismus vgl. Dworkin 2005.

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6 Grundzüge einer Theorie staatlicher Sozialpolitik

d) Privatwirtschaftlich nicht versicherbare Risiken Damit ein Risiko über den Markt versichert werden kann, müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein.10 • Die Risikoeintrittswahrscheinlichkeit muss (deutlich) kleiner als eins sein, d. h. es liegt ein Risiko und keine Situation unter Sicherheit vor. Diese Voraussetzung ist bspw. verletzt, wenn das Risiko bereits eingetreten ist (so z. B. bei der Geburt eines behinderten Kindes) oder wenn der Risikoeintritt mit hoher Wahrscheinlichkeit absehbar ist (Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit bei „pflegenahen“ Jahrgängen). • Die Risikoeintrittswahrscheinlichkeit und die zu erwartende Schadenshöhe müssen hinreichend genau abschätzbar sein, d. h. es darf keine Situation von Unsicherheit vorliegen. Schwierigkeiten bei der Bestimmung der Schadenshöhe werden dafür verantwortlich gemacht, dass sich kein privater Markt für vollständige Abdeckung der Pflegekosten11 herausgebildet hat, obwohl die gesetzliche Pflegeversicherung lediglich einen Teil der anfallenden Pflegekosten übernimmt. • Weiterhin dürfen die individuellen Risiken untereinander nicht positiv korreliert sein. Eine Verletzung dieser Bedingung wird üblicherweise für das Risiko der Arbeitslosigkeit unterstellt. Denn in Rezessionsphasen steigt nicht nur die individuelle, sondern auch die aggregierte Wahrscheinlichkeit, arbeitslos zu werden. • Schließlich müssen die Informationen über Risikoeintrittswahrscheinlichkeiten und die zu erwartende Schadenshöhe zwischen den Vertragsparteien symmetrisch verteilt sein. Eine ungleiche Informationsverteilung kann zu Negativselektion oder zu moral hazard-Verhalten führen (vgl. hierzu Abschnitt 6.1.2). Sofern Nichtversicherbarkeit eines Risikos vorliegt, besteht zwar ein Bedarf an einer kollektiven Versicherung, aber kein privatwirtschaftliches Angebot. In diesen Fällen ist es die Aufgabe der staatlichen Sozialpolitik, diesen Bedarf zu decken.

e) Informationsasymmetrien Die oben dargestellten Bedingungen für das Angebot und die Nachfrage nach Versicherungsleistungen können nun verwendet werden, um die Effekte einer asymmetrischen Informationsverteilung auf die Existenz und die Effizienz privater Versicherungsmärkte abzuleiten. Falls vertragsrelevante Informationen zwischen Anbietern und Nachfragern von Versicherungsleistungen ungleich verteilt sind, kann es zu Negativselektion (adverse selection) und zu opportunistischem Verhalten (moral hazard) kommen. Negativselektion ist auf Informationsasymmetrien vor Vertragsabschluss zurückzuführen. Sofern ein Versicherer nur unzureichend über die Verteilung der Schadenswahrscheinlichkeiten eines Versichertenbestandes informiert ist, kann er den unterschiedlichen Risikoträgern nur eine einheitliche Durchschnittsprämie zuordnen. Damit findet 10

Vgl. Strassl 1988. Im Gegensatz zur Pflegetagegeldversicherung, die im Fall der Pflegebedürftigkeit einen bestimmten EuroBetrag bezahlt, übernimmt die Pflegekostenversicherung einen Teil der tatsächlich anfallenden Kosten. Die Pflegetagegeldversicherung belässt somit das Risiko der Kostenentwicklung in der Pflege beim Versicherten; vgl. Cutler 1993. 11

6.1 Theorie der Entstehungsbedingungen staatlicher Sozialpolitik

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eine ex ante Umverteilung von den Versicherungsnehmern mit geringer individueller Schadenswahrscheinlichkeit (den sog. „guten“ Risiken) zu jenen mit hoher Schadenswahrscheinlichkeit (den „schlechten“ Risiken) statt. Da die kostendeckende Versicherungsprämie unter diesen Umständen die marginale Zahlungsbereitschaft der Träger guter Risiken übersteigt, haben diese einen Anreiz, die Versicherung zu verlassen. Dies kann bis zum Zusammenbruch einer Versicherung führen bzw. ursächlich dafür sein, dass für bestimmte Risiken keine Versicherungslösung zustande kommt. Das Problem der Negativselektion kann gelöst werden, indem der Staat für bestimmte Risiken eine Versicherungspflicht erlässt. Opportunistisches Verhalten (moral hazard) bedeutet, dass ein Vertragspartner leistungsrelevante Vertragsinhalte nach Vertragsabschluss verändern kann, ohne dass dies durch die Vertragsgegenseite überprüfbar ist. Dadurch besteht für den Versicherten ein Anreiz, die Inanspruchnahme von Leistungen nach Art und Umfang auszudehnen. Beispiele für opportunistisches Verhalten sind der Überkonsum von Gesundheitsleistungen und der (versicherungsinduzierte) Verzicht auf präventive und prophylaktische Maßnahmen. Ein spezifisches moral hazard Problem ist die angebotsinduzierte Nachfrage nach ärztlichen Leistungen (vgl. Kap. 10.3.1). Opportunistisches Verhalten liegt ebenfalls vor, wenn Individuen bewusst auf den Abschluss von Versicherungen verzichten, da sie bei Eintritt eines Notfalls durch ein staatliches Mindestsicherungssystem abgesichert sind. Auch um diesen Fall auszuschließen kann es erforderlich sein, eine generelle Versicherungspflicht einzuführen. Funktionalistische (und damit auch die im engeren Sinne ökonomischen) Theorien des Sozialstaats verwenden ein im Wesentlichen konsensuales Modell moderner Gesellschaften. Sie unterstellen eine weitgehende gesellschaftliche Übereinstimmung hinsichtlich der Existenz einer sozialen Frage und bezüglich der adäquaten Mittel zur Bewältigung dieser sozialen Probleme. Funktionalistische Theorien liefern allgemeine Bedingungen für die Notwendigkeit staatlicher Eingriffe in Versicherungs- und Arbeitsmärkte und in die Eigentumsordnung. Sie sind jedoch nicht in der Lage zu erklären, warum verschiedenen Staaten trotz gleichem Industrialisierungsgrad zu unterschiedlichen Zeitpunkten sozialpolitisch aktiv wurden und warum sich die institutionelle Struktur staatlicher Sozialpolitik zwischen den Industriegesellschaften dauerhaft unterscheidet.

6.1.3 Interessen- bzw. machtressourcentheoretische Ansätze der Sozialpolitik Im Unterschied zu den funktionalistischen Modellen erklären machttheoretische Ansätze den Sozialstaat nicht über funktionale Erfordernisse moderner Gesellschaften, sondern durch grundlegende gesellschaftliche Konflikte. Staatliche Sozialpolitik ist das Ergebnis konfligierender politischer und wirtschaftlicher Interessen, die in der Gesellschaft aufeinandertreffen und durch politische Maßnahmen zum Ausgleich gebracht werden müssen. Sozialpolitik ist damit ein Instrument des gesellschaftlichen Interessenausgleichs und der Konfliktregulierung, die institutionelle Struktur des Sozialstaats ergibt sich aus den politischen Machtressourcen organisierter gesellschaftlicher Gruppen.

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6 Grundzüge einer Theorie staatlicher Sozialpolitik

Eine interessentheoretische Begründung für den modernen Sozialstaat finden sich bereits bei Lorenz von Stein (1815-1890).12 Von Stein sah in der Aufhebung des Klassenantagonismus durch ein „Königtum der sozialen Reform“ die einzige Möglichkeit, die monarchistische Ordnung gegen die politischen Bestrebungen der Arbeiterklasse dauerhaft zu stabilisieren. Damit ist das eigentliche Ziel staatlicher Sozialpolitik der Machterhalt politischer Eliten. Im Unterschied zu autoritären Systemen wird die politische Macht in pluralistischen Demokratien nicht streng einseitig ausgeübt, sondern verteilt sich auf unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen und verschiedene politische Akteure. In demokratischen Systemen können diese Gruppen ihre konkurrierenden Interessen in den politischen Prozess einbringen und entsprechend ihres politischen Gewichts geltend machen. Die Durchsetzung gleicher politischer Rechte stellt damit die wesentliche institutionelle Grundlage dar, um die sozialen Bedarfe breiter Bevölkerungsschichten zu artikulieren und durchzusetzen. Alber (1987) identifiziert insbesondere in der Gründung von Arbeiterparteien eine wesentliche Determinante für die Entstehung des Sozialstaats. Gemäß dem machtressourcentheoretischen Ansatz reflektiert der Sozialstaat die politischen Kräfteverhältnisse innerhalb einer Gesellschaft. Nach dieser Theorie haben Länder mit starken Gewerkschaften und einem hohen Stimmenanteil sozialistischer oder sozialdemokratischer Parteien einen umfassenden Sozialstaat, während Länder mit fragmentierter Arbeiterbewegung und geringer politischer Repräsentanz der Arbeitnehmerinteressen nur über einen gering entwickelten Sozialstaat verfügen. Die Machtressourcentheorie liefert damit ein analytisches Instrumentarium, um die Unterschiede in der institutionellen Ausgestaltung staatlicher Sozialpolitik bei vergleichbaren wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zu erklären.13

6.2 Grundzüge einer Theorie der Entwicklungsbedingungen Eine umfassende Theorie des Sozialstaats darf sich nicht auf eine Erklärung zur Notwendigkeit staatlicher Sozialpolitik beschränken, sondern muss auch Aussagen über die Entwicklungstendenzen staatlicher Sozialpolitik bereithalten. Sie muss in der Lage sein, sowohl die Ähnlichkeiten in der Entwicklung verschiedener Sozialstaaten zu erklären, als auch plausible Erklärungen für die nach wie vor existierenden institutionellen Unterschiede zwischen den Sozialpolitiken verschiedener Länder liefern. Fasst man die Literatur zu den Entwicklungsbedingungen staatlicher Sozialpolitik zusammen, so lassen sich drei Faktoren identifizieren, welche Entwicklung der Sozialpolitik bestimmen, nämlich:14 1. die Problemlösungsdringlichkeit. Damit ist zum einen gemeint die Dringlichkeit der Deckung sozialpolitischen Bedarfs im Vergleich zu anderen gesellschaftlichen Bedarfen; zum anderen sind Unterschiede in der Dringlichkeit verschiedenartiger sozialpolitischer Bedarfe gemeint; 2. die Problemlösungsfähigkeit. Darunter wird die Möglichkeit verstanden, über wirtschaftliche Mittel für sozialpolitische Zwecke zu verfügen und geeignete Instrumente, insbes. auch Institutionen, einsetzen zu können; 12

Vgl. Lorenz von Steins „Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage“, und hier insbes. „Band 3: Das Königtum, die Republik und die Souveränität der französischen Gesellschaft seit der Februarrevolution 1848“. Zur theoretischen Verortung dieser Position vgl. Grossekettler 2002. 13 Zum Machressourcenansatz vgl. Korpi 1983 sowie Esping-Andersen 1989. 14 Diese Darstellung der Entwicklungsbedingungen staatlicher Sozialpolitik stützt sich auf Lampert 1990b.

6.2 Grundzüge einer Theorie der Entwicklungsbedingungen

123

3. die Problemlösungsbereitschaft der Träger der politischen Verantwortung. Sie spielt neben der Problemlösungsfähigkeit eine eigenständige Rolle, weil trotz eines bestimmten Grades an Problemlösungsdringlichkeit und des Vorhandenseins wirtschaftlicher Ressourcen politische Entscheidungsspielräume darüber bestehen, ob und in welchem Umfang gehandelt wird. Die Entwicklungsunterschiede der Sozialpolitik zwischen verschiedenen Gesellschaftssystemen und Veränderungen der Sozialpolitik innerhalb eines Systems lassen sich durch unterschiedliche Kombinationen bestimmter qualitativer Ausprägungen dieser drei Determinanten und durch die Veränderung des Gewichtes dieser Determinanten erklären. Diese Theorie lässt sich zu einer anwendungsorientierten, wirklichkeitsnahen Theorie ausbauen, wenn man in einem weiteren Schritt jene Größen erfasst, die als sekundäre Determinanten die Primärdeterminanten nachhaltig beeinflussen und Interdependenzen innerhalb des Determinantensystems begründen. Praktische Sozialpolitik kann dann durch die Erfassung der Ausprägung und des Zusammenwirkens dieser primären und sekundären Bestimmungsgründe der Sozialpolitik erklärt werden.

6.2.1 Das Determinantensystem staatlicher Sozialpolitik In diesem Abschnitt sollen die Elemente des Determinantensystems und die zwischen ihnen bestehenden Beziehungen dargestellt werden (vgl. dazu Abb. 15.2).15 Wir beginnen dabei mit der Primärdeterminante, die als auslösende Ursache staatlicher Sozialpolitik angesehen werden kann, nämlich mit der Existenz eines sozialpolitischen Handlungsbedarfs, dessen Deckung im Vergleich zu anderen Bedarfen eine hohe Dringlichkeit aufweist. Die Bedeutung der Problemlösungsdringlichkeit ist unmittelbar einsichtig. Unterstellt man zunächst eine bestimmte Problemlösungsbereitschaft als gegeben, dann ist es politisch zweckrational, einen Teil der verfügbaren Mittel zur Deckung sozialpolitischer Bedarfe zu verwenden, wenn der gesellschaftliche Grenznutzen dieser Mittelverwendung größer ist als der einer anderen Mittelwidmung. Ein politisches System wird daher bei einer mehr oder minder großen Gefährdung sozialpolitisch relevanter Ziele, wie z.B. des sozialen Friedens, der Sicherung minimaler Existenzbedingungen für alle oder der Erhaltung des Arbeitskräftepotenzials, sozialpolitische Maßnahmen ergreifen. Auch die Entscheidung, welche sozialpolitischen Bedarfe zunächst in bestimmtem Umfang gedeckt, welche sozialpolitischen Handlungsbereiche also zunächst oder verstärkt entwickelt werden, lässt sich mit Hilfe unterschiedlicher Problemlösungsdringlichkeiten der verschiedenen sozialpolitischen Bedarfe erklären. Denn es ist ein Gebot politischer Rationalität, die verfügbaren knappen Mittel dort einzusetzen, wo sie nach dem Urteil der Träger politischer Macht und aus der Sicht des verfolgten Zielsystems den größten Nutzen stiften. Wenn dieses Prinzip angewendet wird, werden die Mittel, die für sozialpolitische Zwecke verfügbar gemacht werden, so eingesetzt, dass die Grenznutzen verschiedener sozialpolitischer Maßnahmen gleich werden (Grundsatz des Ausgleichs der gesellschaftlichen Grenznutzen sozialpolitischen Handelns).

15

In der Abbildung sind die durch Rechtecke gekennzeichneten sekundären Determinanten aus Gründen der Übersichtlichkeit nicht vollständig wiedergegeben.

Sozialpolitische Kreativität

Problembewußtsein der Politik

Problembewußtsein sozial Schwacher

Wirtschaftliche Leistungsfähigkeit

Problemlösungsbereitschaft

Parteien

Gesellschaftliche Organisation

Bürokra e

Verbände

Politisches System

Gesellschaftliches Wertesystem

Wirtschaftssystem

Abb. 6.1: Primäre und sekundäre Determinanten sozialpolitischer Entwicklung

Problemlösungsfähigkeit

Problemlösungsdringlichkeit

Grad der Zielgefährdung

124 6 Grundzüge einer Theorie staatlicher Sozialpolitik

6.2 Grundzüge einer Theorie der Entwicklungsbedingungen

125

Die Problemlösungsdringlichkeit ihrerseits wird durch folgende sekundäre Determinanten beeinflusst: 1. den Grad der Gefährdung der für die Sozialpolitik relevanten Ziele, der wiederum u.a. durch das Wirtschaftssystem beeinflusst wird, weil ein Wirtschaftssystem einen mehr oder minder hohen sozialen Grundgehalt aufweist, der z. B. durch die angewendeten Mechanismen gesamtwirtschaftlicher Koordinierung, durch die Verteilung der wirtschaftspolitischen und wirtschaftlichen Dispositionsbefugnisse in der Gesellschaft, durch die Eigentumsverfassung, die Produktionsverfassung und die Verfassung der Arbeitsmärkte geprägt wird (vgl. Lampert/Englberger/Schüle 1991). Für das Wirtschaftssystem der Sozialen Marktwirtschaft ist es charakteristisch, die Wirtschaftsordnung so auszugestalten, dass soziale Ziele a priori bei der Ausgestaltung der Wirtschaftsordnung berücksichtigt werden; 2. durch das einer Gesellschaft zugrunde liegende Wertesystem.16 In einer Gesellschaft, in der die freie Entfaltung der Persönlichkeit, die Sicherung der Menschenwürde und die soziale Gerechtigkeit einen hohen Stellenwert einnehmen, wird die Dringlichkeit sozialpolitischer Maßnahmen höher eingeschätzt werden als in Gesellschaftssystemen, in denen die genannten Ziele geringere Bedeutung besitzen. Die Sozialpolitik wird quantitativ und qualitativ unterschiedlich entwickelt sein, je nachdem, ob sozialdarwinistische, liberale, religiöse oder sozialistische Wertvorstellungen das Menschen- und Gesellschaftsbild prägen.17 In der Abbildung der Determinanten sozialpolitischer Entwicklung ist unterstellt, dass das durch Religion, Weltanschauung, Ethik und Kultur geprägte Wertesystem nicht nur direkt, sondern auch über das Wirtschaftssystem und über das politische System auf die Problemlösungsdringlichkeit einwirkt; 3. das Problembewusstsein gesellschaftlicher Gruppen in Bezug auf die Änderungsbedürftigkeit und Änderungsmöglichkeit ihrer eigenen Lage. Die Bedeutung dieser Bestimmungsgröße ist daran ablesbar, dass in den Feudalgesellschaften der vorindustriellen Zeit die Angehörigen bestimmter Schichten über Generationen hinweg ihre soziale und wirtschaftliche Position, Hunger und Not, Ausbeutung und Demütigung ertragen haben, während andererseits die im 19. Jh. entstandenen Sozialbewegungen zu der wohl stärksten Triebkraft sozialpolitischer Entwicklung wurden.18 Dieses Problembewusstsein und die Bereitschaft sozialer Gruppen, absolute oder relative Deprivation zu akzeptieren oder auch nicht, hängt sowohl von der vorherrschenden Weltanschauung ab als auch von der Einschätzung der politischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten einer Änderung der Lage, d.h. von der Problemlösungsfähigkeit; 4. das Problembewusstsein der Träger der Politik; dieses Problembewusstsein der politisch Verantwortlichen bestimmt maßgeblich die Einschätzung der sozialpolitischen Problemlösungsdringlichkeit. Dieses Problembewusstsein ist zum einen abhängig vom Problembewusstsein sozial und wirtschaftlich schwacher Gruppen, weil von diesem Problembewusstsein sozialer Gruppen der Grad der Gefährdung des inneren Friedens beeinflusst wird, zum anderen vom 16

Dieses Wertesystem ist seinerseits wieder durch (tertiäre) Determinanten beeinflusst, wie z. B. Einzelpersönlichkeiten – man denke an den Einfluss von Robert Owen, Ernst Abbe, Bischof Ketteler, Johann Hinrich von Wichern und Karl Marx auf das sozialpolitisch relevante Wertesystem –, die Wertvorstellungen gesellschaftlicher Gruppen und Verbände und – nicht zuletzt – die Wissenschaft. 17 Vgl. dazu die Arbeit von Higgins 1981, Kap. 5-7. Zum Einfluss religiöser Werte auf die Ausgestaltung des Sozialstaats vgl. Manow 2007. 18 Für die Entstehung der neuzeitlichen Sozialpolitik in Europa spielte – wie empirische Untersuchungen vielfältig belegen – die soziale Bewegung, vor allem die Arbeiterbewegung, eine herausragende Rolle. Vgl. dazu S. 48 ff. und die dort angegebene Literatur.

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6 Grundzüge einer Theorie staatlicher Sozialpolitik

politischen System, weil es zum einen von ihm abhängt, ob bei fehlendem Problembewusstsein der Träger der Politik und ausbleibenden sozialpolitischen Maßnahmen eine Beeinträchtigung oder ein Verlust der politischen Macht droht oder nicht. Zum anderen bestimmt die Qualität des politischen Systems darüber, welche gesellschaftlichen, sozialen und wirtschaftlichen Interessen sich in welchem Umfang durchsetzen können. Ohne Zweifel haben die Gesellschaftsmitglieder in verbändestaatlich organisierten Mehrparteiendemokratien größeren Einfluss auf die Entwicklung der Sozialpolitik als in autoritär oder diktatorisch regierten Staaten.19 Die Stärke des Einflusses von Verbänden und sozialen Gruppen auf die Träger politischer Verantwortung wiederum wird auch durch den Organisationsgrad und die Stärke von Verbänden beeinflusst.20 Schließlich wird das Problembewusstsein der Politiker durch das gesellschaftliche Wertesystem beeinflusst, weil sie durch dieses System sozialisiert sind und sich mehr oder minder an diesem Wertesystem orientieren.21 Als zweite Primärdeterminante soll die Problemlösungsfähigkeit interpretiert werden. Da sie die materialen Voraussetzungen für die staatlicher Sozialpolitik umfasst, kommt ihr eine ausschlaggebende Bedeutung für die Entwicklung des Sozialstaats zu. Die Problemlösungsfähigkeit wird durch folgende Sekundärdeterminanten beeinflusst: 1. die Höhe des Sozialproduktes. Da sozialpolitische Maßnahmen immer mit Kosten22 verbunden sind ist es unmittelbar einleuchtend, dass die Leistungen des Sozialstaats mit zunehmender wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit steigen. Die positive Korrelation zwischen Pro-KopfEinkommen und Sozialausgaben ist empirisch gut belegt und kann als ein stilisiertes Faktum der empirischen Sozialpolitikforschung gelten.23 Bemerkenswert ist, dass mit zunehmender wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit nicht nur das Niveau der absoluten Sozialausgaben steigt, sondern auch die Sozialleistungsquote, also das Verhältnis der Sozialausgaben zum Bruttoinlandsprodukt, zunimmt. Die Sozialausgaben weisen also die Merkmale eines gesellschaftlich superioren Gutes auf. 2. die Effizienz der sozialpolitischen Institutionen, d. h. ihre Fähigkeit, möglichst optimale sozialpolitische Lösungen zu entwickeln. Diese Kreativität ist wiederum von der gesellschaftlichen Organisation abhängig, d. h. davon, welche Rolle in einer Gesellschaft der Wettbewerb als Instrument der sozialpolitischen Innovation spielt. Die sozialpolitische Innovationsfähigkeit einer Gesellschaft ist zum einen abhängig davon, welche Funktionen die Organisationen des sog. „dritten Sektors“ haben. Unter dem „dritten Sektor“ versteht man den gemeinnützi19

Vgl. dazu Flora/Heidenheimer 1981, S. 43 f., Hockerts 1996 sowie Obinger/Wagschal/Kittel 2003 und die dort angeführte Literatur. 20 Vgl. dazu Wilensky 1981, S. 185 ff., insbes. S. 189 ff., der die Wohlfahrtsstaaten nach korporatistischen Demokratien (z. B. Niederlande, Schweden, Bundesrepublik), Korporatismus ohne volle Partizipation der Arbeitnehmer (Japan, Frankreich) und Ländern mit schwach ausgeprägtem Korporatismus (USA, Kanada) einteilt und mit abnehmender korporatistischer Ausprägung einen abnehmenden sozialpolitischen Konsens in der Gesellschaft konstatiert. 21 Z. B. stellten Flora/Heidenheimer 1981, S. 43 f. fest, dass Länder mit starken protestantischen Staatskirchen sich früher für die öffentliche Wohlfahrt verantwortlich fühlten als religiös gemischte und katholische Länder, in denen private Wohltätigkeit und das Subsidiaritätsprinzip Tradition haben. 22 Dies gilt nicht nur für die monetären Leistungen des Sozialstaats, die im Rahmen des Sozialbudgets ausgewiesen werden. Auch sozialpolitische Regulierungen schränken die Handlungsspielräume der privaten Wirtschaftssubjekte ein und verursachen dadurch Kosten. 23 Vgl. dazu den Überblick über zahlreiche empirische Untersuchungen bei Alber 1979, S. 123 ff., Alber 1987 und Eschbach 2011.

6.2 Grundzüge einer Theorie der Entwicklungsbedingungen

127

ge oder Non-Profit-Organisationen, also Vereine, Verbände und Interessengemeinschaften. Die sozialpolitische Innovationsfähigkeit eines Landes hängt auch davon ab, welches Gewicht die staatliche Bürokratie einnimmt und wie stark die Freiheit von Forschung und Wissenschaft ausgeprägt ist. In wettbewerblich organisierten Gesellschaftssystemen mit föderalistischem Staatsaufbau und selbstverwalteten sozialpolitischen Teilsystemen ist der sozialpolitische Erfindungsreichtum größer als in zentralistisch verwalteten hierarchisch gesteuerten Gesellschaftssystemen.24 Die gesellschaftliche Organisation ihrerseits ist abhängig vom gesellschaftlichen Wertesystem und vom politischen System, die beide Prinzipien für die gesellschaftliche Organisation enthalten (Prinzip der Gewaltenteilung, eines Mehrparteiensystems oder der Subsidiarität). Wenn man die Problemlösungsdringlichkeit und die Problemlösungsfähigkeit als gegeben unterstellt, dann hängt die betriebene staatliche Sozialpolitik von der Problemlösungsbereitschaft der Träger der politischen Macht ab. Auf diese Problemlösungsbereitschaft wirken v.a. folgende drei Sekundärdeterminanten ein: 1. das politische System, das seinerseits durch das gesellschaftliche Wertesystem geprägt wird. Um hier nur die Extreme politischer Systeme vergleichend gegenüberzustellen: in einem autokratischen System können die Träger der politischen Macht relativ autonom über Umfang und Qualität der Sozialpolitik entscheiden, während sie in pluralistischen Mehrparteiendemokratien auf den Wählerwillen und die wahlrelevanten organisierten Gruppen Rücksicht nehmen müssen, um ihr politisches Mandat zu erhalten.25 Selbst innerhalb demokratischer Systeme lassen sich unterschiedliche Einflüsse auf die Sozialpolitik feststellen, je nachdem, welche Parteien in der Regierungsverantwortung stehen.26 Die sozialpolitischen Konzepte liberaler Parteien unterscheiden sich gewöhnlich deutlich von denen sozialistischer und sozialdemokratischer Parteien. Wichtige Komponenten innerhalb des politischen Systems, die auf die Problemlösungsbereitschaft und die Sozialpolitik nach Umfang und Art im Rahmen des sozialpolitischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozesses einwirken, sind die Bürokratie und das Verbändesystem (vgl. Widmaier/Blien 1990). Bürokratien können – je nachdem, welche Typen von Bürokratien dominieren,27 wie groß der auf dem Informationsmonopol und der Sachkenntnis der Bürokraten beruhende Einfluss der Bürokratie auf die Politiker ist, wie die Kompetenzen innerhalb der Ministerialbürokratie gegliedert sind und welchen Einfluss die Verbände auf die Bürokratie haben – innovativ und reformerisch, aber auch retardierend und konservierend wirken;28 2. der Grad der Güterknappheit in der Gesellschaft. Umverteilungsmaßnahmen lassen sich um so leichter bewerkstelligen, je höher das Niveau wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und je höher das wirtschaftliche Wachstum ist. Denn in einer weniger wohlhabenden Gesellschaften trifft die Umverteilung von Rechten, Chancen, Einkommen und Vermögen die Bessergestellten spürbarer als in wohlhabenden Gesellschaften. Der Widerstand der besser gestellten sozialen Schichten transformiert sich in eine entsprechende Problemlösungsbereitschaft der Träger der 24

Vgl. dazu Thiemeyer 1975, S. 540 ff.; Hayek 1971, S. 46 f. und Lampert 1984, S. 52 ff. Vgl. dazu die empirische Überprüfung der einschlägigen Theorie von Stein Rokkan bei Flora/Alber 1981, S. 37 ff. 26 Vgl. dazu Flora/Alber 1981, S. 47 und Hockerts 1980, S. 153 f. 27 Vgl. dazu die Bürokratietypologie bei Downs 1994 sowie Jackson 1982 und Roppel 1979. 28 Es gibt zahlreiche Beispiele aus der deutschen Sozialpolitikgeschichte, die belegen, dass die Ministerialbürokratie innovative Anstöße gab. Vgl. dazu S. 46 f. und die dort zitierte Literatur. 25

128

6 Grundzüge einer Theorie staatlicher Sozialpolitik

politischen Macht – und zwar um so stärker, je größer die Identität zwischen wirtschaftlich besser gestellten Schichten und gesellschaftlich sowie politisch führenden Schichten ist; 3. das Wertesystem der Gesellschaft als eigenständig wirksame Determinante, weil dieses Wertesystem mehr oder weniger ausgeprägt sozialpolitische Ziele enthält.29 Wenn in einer Gesellschaft z.B. eine stark individualistisch geprägte Sozialethik dominiert, wie z. B. in den USA,30 wird die staatliche Problemlösungsbereitschaft geringer sein als dann, wenn eine stärker solidarisch orientierte Sozialethik vorherrscht. Das Wertesystem seinerseits wird beeinflusst durch ethische, religiöse und moralische Wertvorstellungen. Die drei erläuterten Primärdeterminanten sind – jeweils für sich genommen – notwendige Bedingungen für staatliche Sozialpolitik, jedoch nur zusammengenommen hinreichend. Sie sind teilweise positiv miteinander korreliert. So kann man davon ausgehen, dass eine hohe Problemlösungsdringlichkeit die Problemlösungsbereitschaft erhöht, weil eine durch eine starke oder zunehmende Zielverfehlung steigende Problemlösungsdringlichkeit den inneren Frieden und damit Stabilität und Entwicklung der Gesellschaft bedroht. Auch die Problemlösungsfähigkeit dürfte die Problemlösungsbereitschaft erhöhen, weil mit steigender Problemlösungsfähigkeit nicht nur der Möglichkeitsbereich der Sozialpolitik ausgeweitet wird, sondern auch die politischen Kosten und Risiken der Sozialpolitik geringer werden und die Sozialpolitik in Mehrparteiendemokratien sogar politische Erträge, sprich Wählerstimmen, bringt. Bestimmte sekundäre Determinanten beeinflussen mehrere Primärdeterminanten und erhöhen oder verringern den Bedarf an Sozialpolitik durch gleichgerichtete Effekte. Z. B. reduziert ein wirtschaftlich leistungsfähiges Wirtschaftssystem durch eine geringere Gefährdung sozialpolitisch relevanter Ziele, etwa der Sicherung der wirtschaftlichen Existenzen der Gesellschaftsmitglieder, die Problemlösungsdringlichkeit und verstärkt gleichzeitig über seine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit die sozialpolitische Problemlösungsfähigkeit. Weniger leistungsfähige Wirtschaftssysteme dagegen erzeugen einen Bedarf an staatlicher Sozialpolitik und weisen überdies eine geringere Problemlösungsfähigkeit auf. Andere Determinanten können dagegen den Bedarf an Sozialpolitik in entgegengesetzter Richtung beeinflussen. Pluralistische Mehrparteiendemokratien z. B. weisen eine sehr hohe Problemlösungsbereitschaft auf, können aber durch die Kosten sozial- bzw. wohlfahrtsstaatlicher Expansion die Problemlösungsfähigkeit über die Beeinträchtigung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit verringern. Schließlich können sich die Effekte sekundärer Determinanten auf die primären Determinanten auch kompensieren. Z. B. kann die ökonomische Effizienz eines Wirtschaftssystems die sozialpolitische Problemlösungsfähigkeit erhöhen, das politische System dagegen kann sie durch sozialpolitische Fehlentscheidungen beeinträchtigen, ohne dass aber eine absolute Effizienzminderung des Gesamtsystems erkennbar wird. Unterschiede in der staatlichen Sozialpolitik müssen bereits dann auftreten, wenn sich Gesellschaftssysteme nur in Bezug auf die Ausprägung einer Bestimmungsgröße unterscheiden. Da das hier dargestellte Determinantensystem relativ viele Variablen aufweist und infolgedessen zahlreiche Determinantenkonstellationen mit jeweils unterschiedlichen Ausprägungen der Variablen denkbar sind, sind aus dieser Theorie sehr verschiedenartige Entwicklungsbedingungen staatlicher Sozialpolitik ableitbar. Deshalb soll im nächsten Abschnitt veranschaulicht werden, welche 29

Ein Beispiel für die Wirksamkeit dieser Determinante ist der Einfluss der wohlfahrtsstaatlichpatriarchalischen Tradition des Absolutismus in Deutschland schon vor Einführung des sozialstaatlich orientierten Verfassungsstaates. Vgl. dazu Grimm 1983, insbes. S. 53. 30 Vgl. dazu Döring/Hauser 1989; Barr 1992, S. 762 f. und Lampert 2001.

6.2 Grundzüge einer Theorie der Entwicklungsbedingungen

129

Erklärungsmöglichkeiten sich aus unterschiedlichen Kombinationen der Primärdeterminanten ergeben.

6.2.2 Die Wirkungen alternativer Ausprägungen der Primärdeterminanten Im Folgenden werden für jede Primärdeterminante zwei mögliche Ausprägungen, nämlich eine starke und eine schwache, unterstellt. Eine gering ausgeprägte Problemlösungsfähigkeit wird vereinfachend als gleichbedeutend mit einem agrarischen Wirtschaftssystem oder mit einer wirtschaftlich ineffizienten Industriegesellschaft angesehen, eine starke bzw. hohe Problemlösungsfähigkeit als gleichbedeutend mit einem effizienten industriellen bzw. postindustriellen Wirtschaftssystem. Insgesamt ergeben sich 8 Variablenkombinationen, die in Tab. 6.1 wiedergegeben sind. Von ihnen sind für die Zwecke dieser Analyse nur die Fälle 3, 4, 6 und 7 relevant.31 Die Fälle 3 und 4 mit ihrer Kombination von geringer Problemlösungsfähigkeit mit hohem sozialpolitischem Bedarf decken Länder ab, die sich im Übergang zu Industriegesellschaften befinden oder die bereits industrialisiert sind, jedoch wirtschaftlich ineffizient arbeiten.32 Fall 3 trifft für sich industrialisierende Gesellschaften zu, die konstitutionelle Monarchien, ständestaatlich strukturiert oder begrenzt bürgerlich-demokratisch orientiert sind (z.B. Deutsches Reich zwischen 1800 und 1870).33 Fall 4, vom Fall 3 durch eine hohe Problemlösungsbereitschaft unterschieden, trifft für sozialistische Industriegesellschaften mit vergleichsweise geringer wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit zu (z. B. China vor 1990 oder Kuba).

31

In den Fällen 1 und 2 handelt es sich aufgrund jeweils geringer Problemlösungsfähigkeit und niedriger Problemlösungsdringlichkeit um Gesellschaften ohne größere strukturell-funktionelle Differenzierung, also um vorindustrielle Gesellschaften mit nur geringem Bedarf an staatlicher Sozialpolitik. Die Kombination hoher Problemlösungsfähigkeit mit geringer Problemlösungsbereitschaft bei gleichzeitiger niedriger Problemlösungsdringlichkeit (Fall 5) erscheint widersprüchlich, weil bei großer wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit ein geringer sozialpolitischer Bedarf relativ problemlos gedeckt werden kann, also eine niedrige Problemlösungsbereitschaft nicht begründbar ist. Ähnlich inkonsistent ist die Kombination des Falles 8, weil bei hoher sozialpolitischer Handlungsbereitschaft und hoher Problemlösungsfähigkeit die Problemlösungsdringlichkeit nicht hoch sein kann. 32 Diese Fälle decken theoretisch auch Agrargesellschaften mit hohem sozialpolitischem Bedarf ab. Da es aber in dieser Arbeit in erster Linie um die neuzeitliche staatliche Sozialpolitik geht, bleiben diese Fälle außer Betracht. 33 Vgl. dazu auch die von Flora/Heidenheimer 1981, S. 47 formulierten Hypothesen 1 und 2 über den Einfluss politischer Systeme auf die Sozialpolitik. Hypothese 1 lautet: Konstitutionelle Monarchien mit begrenztem Stimmrecht und ständestaatlicher Struktur neigen dazu, relativ undifferenzierte und lokalisierte Systeme der Armenfürsorge in paternalistischer Tradition zu entwickeln. Die sozialen Hilfen beruhen auf Wohltätigkeit, nicht auf Rechtsansprüchen und werden gewöhnlich in nicht monetärer Form und beschränkt auf Arbeitsunfähige gewährt. Hypothese 2 besagt: Bürgerliche Demokratien mit einem nach Besitz, Steuerleistung oder sozialem Status begrenzten Stimmrecht neigen dazu, Interventionen allgemein und öffentliche Hilfen im Besonderen zu beschränken. Sie können Sozialausgaben trotz steigender sozialer Nöte reduzieren. Sie weisen eher undifferenzierte und lokalisierte Hilfssysteme auf, die auf Arbeitsunfähige beschränkt werden. Sie lehnen Zwangsversicherungen ab, unterstützen jedoch freiwillige Sicherungssysteme. Die Empfänger sozialer Leistungen werden als Bürger zweiter Klasse betrachtet.

gering

gering

gering

gering

hoch

hoch

hoch

hoch

1

2

3

4

5

6

7

8

Variablen- Problemkombilösungsfähignation keit

gering

gering

Problemlösungsdringlichkeit

hoch

entwickelte gering Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften hoch

gering

Entwicklungshoch länder bzw. ineffiziente Industriegehoch sellschaften

Agrargesellschaften

Wirtschaftsstufe

ausgeprägt

relativ gering

unbedeutend

hoch

gering

hoch

gering

hoch

gering

hoch

gering

Grad d. strukturell- Problemfunktionellen lösungsDifferenzierung bereitschaft

inkonsistent

parlamentarische Systeme mit sozial akzentuiertem Wertesystem parlamentarische Systeme mit individualistisch akzentuiertem Wertesystem bzw. begrenzt demokratische Systeme

inkonsistent

sozialistische Systeme

autokratische bis liberalistische Systeme

für die Analyse nicht relevant

Bedingungskonstellation ist/gilt für

Tabelle 6.1: Determinantensysteme staatlicher Sozialpolitik



USA, Deutschland 1870-1914

Bundesrepublik Deutschland



VR China (vor 2000)

Deutsches Reich 1800-1870

Statische Volkswirtschaften ohne industriellen Sektor

Historische Beispiele

130 6 Grundzüge einer Theorie staatlicher Sozialpolitik

6.2 Grundzüge einer Theorie der Entwicklungsbedingungen

131

Unter die Fälle 6 und 7 sind entwickelte Industriegesellschaften subsumierbar. Zur Fallgruppe 6 gehören Länder, die – wie die Bundesrepublik – als Mehrparteiendemokratien gleichzeitig ein gesellschaftliches Wertesystem haben, in dem Werte wie Solidarität und gesellschaftliche Teilhabe zu finden sind; sie weisen daher umfassende, obligatorische, auf Rechtsansprüchen beruhende Sicherungssysteme auf.34 In die Fallgruppe 7 gehören Länder, die entweder Mehrparteiendemokratien sind, in ihren Wertesystemen jedoch der individuellen Verantwortung großes Gewicht beimessen (wie z. B. die USA) oder die konstitutionelle Monarchien mit umfassendem Wahlrecht sind, jedoch der Sozialpolitik eher die Funktion der Abwehr weitergehender Partizipationsrechte der Arbeitnehmerschaft und der Sicherung des sozialen Friedens zuweisen als die Funktion, soziale Teilhaberechte durchzusetzen.35

6.2.3 Die Theorie der Entwicklungsbedingungen staatlicher Sozialpolitik im Lichte empirischer Analysen In den vergangenen Jahrzehnten wurden – überwiegend von Soziologen und Politikwissenschaftlern – empirische Untersuchungen vorgelegt, die das Ziel verfolgen, mit Hilfe von statistischen Modellen die Entstehungs- und Entwicklungsbedingungen staatlicher Sozialpolitik herauszuarbeiten und Hypothesen über die Determinanten staatlicher Sozialpolitik zu testen.36 Einen Überblick über diese Arbeiten und ihre wichtigsten Ergebnisse finden sich bei Lampert/Englberger/ Schüle 1991 und Obinger/Kittel 2003. Diese Arbeiten bestätigen ganz überwiegend die Wirksamkeit und das Gewicht der hier abgeleiteten Primär- und Sekundärdeterminanten. Die Wirksamkeit der primären Bestimmungsgründe und die Brauchbarkeit der entwickelten Theorie lassen sich auch an der Entwicklung der Sozialpolitik in Deutschland erkennen. Der Bedarf an Sozialpolitik im 19. Jh. wurde in Kap. 2 ausführlich dargestellt. Die Notwendigkeit, ihn zu decken, ergab sich aus der Gefährdung des sozialen Friedens. Der Einfluss der Problemlösungsbereitschaft, die sehr eng mit der politischen Verfassung zusammenhängt, wird für die deutsche Sozialpolitik sichtbar, wenn man die Sozialpolitik im Kaiserreich, in der Weimarer Republik, im Dritten Reich und in der Bundesrepublik nach dem Umfang, v. a. aber nach dem durch ihre gesellschafts- und sozialpolitischen Zielsetzungen bestimmten Inhalt miteinander vergleicht: Die Sozialpolitik der Monarchie war eine patriarchali34

Diesem Fall entspricht die Hypothese 3 von Flora/Heidenheimer 1981, S. 47 die besagt: Massendemokratien entwickeln umfassende, differenzierte und zentralisierte Wohlfahrtssysteme, die auf sozialen Grundrechten und Zwangsmitgliedschaften beruhen. Ursachen dafür sind die im Vergleich zu Monarchien und bürgerlichen Demokratien entwickelteren Arbeitnehmerorganisationen sowie der Wettbewerb der Parteien um Stimmen. Innerhalb der Massendemokratien können sich aufgrund unterschiedlicher Parteiensysteme und aufgrund von Unterschieden in den Bürokratien beachtliche Unterschiede der Sozialpolitik ergeben. 35 Diesem Fall entspricht die Hypothese 4 von Flora/Heidenheimer 1981, S. 47: Konstitutionelle Monarchien mit umfassendem Wahlrecht neigen eher zur Entwicklung umfassender, differenzierter und zentralisierter Wohlfahrtssysteme, die auf sozialen Grundrechten und Zwangsversicherung beruhen. Diese Systeme sind eine Folge stark paternalistischer und bürokratischer Traditionen. In ihnen gibt es einen relativ starken politischen Druck vonseiten der Arbeiterschaft, der zu Wohlfahrtseinrichtungen führt. Ziel der Sozialpolitik ist vorrangig die Abwehr weitergehender Partizipationsrechte und eine Erhöhung der Loyalität der Arbeiterklasse gegenüber dem autoritären Staat. 36 Vgl. dazu Zöllner 1963, Cutright 1965, S. 537 ff, Pryor 1968, Rimlinger 1971, Kaim-Caudle 1973, Wilensky 1975, Alber 1979, Flora/Heidenheimer 1981, Higgins 1981, Köhler/Zacher 1981 und Barr 1992, S. 758 ff.

132

6 Grundzüge einer Theorie staatlicher Sozialpolitik

sche, staatsautoritäre, teilweise repressive Sozialpolitik. Der entscheidende Durchbruch der Sozialpolitik von der reinen Schutzpolitik zu einer an verfassungsmäßig garantierten Grundrechten ausgerichteten, ausgleichenden Gesellschaftspolitik und die Demokratisierung der Sozialpolitik haben sich in der parlamentarischen Demokratie der Weimarer Republik vollzogen, d. h., als die Arbeiterschaft im obersten Gesetzgebungsorgan stark repräsentiert war. Die Vergewaltigung der Sozialpolitik und ihr Missbrauch entsprechend den Zielen eines totalitären, nach dem Führerprinzip organisierten Systems erfolgte in der Zeit des Nationalsozialismus; die Renaissance einer demokratischen, freiheitlichen, in ihren Intentionen wirklich sozialen Politik fand in der Bundesrepublik statt. Dass Zielrichtung, Qualität und Umfang der Sozialpolitik nachhaltig durch die Problemlösungsfähigkeit beeinflusst werden, zeigt sich ebenfalls deutlich am Beispiel des Deutschen Reiches. Die Abhängigkeit der Funktionsfähigkeit sozialer Sicherungssysteme von der wirtschaftlichen Lage hat nicht nur die Weltwirtschaftskrise eindringlich vor Augen geführt. Die Geschichte der deutschen Sozialpolitik zeigt, dass die Entfaltung der Sozialpolitik in der Phase des Ausbaus der Industriegesellschaft nach der Gründung des Deutschen Reiches einsetzt und dass ihre Ausbauphasen weitgehend mit den Phasen wirtschaftlichen Wachstums und relativ stetiger wirtschaftlicher Entwicklung zusammenfallen. Unter dem Aspekt der Tatsache, dass die ökonomische Leistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft ihre sozialpolitischen Entscheidungsspielräume begrenzt, erscheint die Erschließung des Arbeitnehmerschutzes vor dem Aufbau der Sozialversicherung vor allem aus Sicht der Träger staatlicher Wirtschaftspolitik ökonomisch rational. Denn ein Verbot der Kinderarbeit, Arbeitszeitbeschränkungen und ein Truckverbot sind für den Staat nicht nur kostenneutral; der Arbeitnehmerschutz bringt mittel- und langfristig durch die Verhinderung von Gesundheitsschädigungen auch volkswirtschaftliche Erträge. In ähnlicher Weise werden durch den Unfall- und Gefahrenschutz soziale Kosten dadurch vermieden, dass die Unternehmer als potentielle Schadensverursacher die Kosten für die Schadensverhütung und für eintretende Schäden zu tragen haben und so an einer Schadensvermeidung interessiert sind. Unter ökonomischen Aspekten könnten die Entwicklung der Arbeitsmarktpolitik sowie Änderungen in den Betriebs- und Unternehmensverfassungen vor dem Aufbau von Sozialversicherungssystemen logischer erscheinen, weil Arbeitsmarktpolitik und Betriebsverfassungspolitik „billiger“, d. h. vor allem mit weniger Kosten für den Staat verbunden sind. Möglicherweise hätte sich die Entwicklung auch in der angedeuteten Weise vollzogen, wenn nicht die Sozialpolitik der Monarchie an der Verhinderung der politischen Emanzipation der Arbeiterschaft interessiert gewesen wäre. Sieht man davon ab, dass die Sozialversicherung in Deutschland vor der Arbeitsmarktpolitik und der Betriebsverfassungspolitik entwickelt wurde, dann hat sich die weitere Entwicklung unter Berücksichtigung der ökonomischen Spielräume der Sozialpolitik wieder „logisch“ vollzogen: Bereiche, die – wie die Familienpolitik, die Bildungspolitik und die Politik der Vermögensumverteilung – mit Umverteilungsprozessen, mit hohen finanziellen Aufwendungen und – wenn überhaupt – mit vergleichsweise geringen oder erst langfristig anfallenden volkswirtschaftlichen Erträgen verbunden sind, werden erst ausgebaut, wenn die „billigeren“ Bereiche und jene Bereiche ausgebaut sind, die – wie z.B. die Kinderarbeit, die Ausbeutung der Arbeitskraft durch physische Überlastung oder das Wohnungselend – wegen der Dringlichkeit der zu lösenden Probleme relativ schnell in Angriff genommen werden müssen. Ehe wir diese Determinante der Problemlösungsdringlichkeit näher betrachten, soll die Bestimmungsgröße „Problemlösungsfähigkeit“ sowie ihr Einfluss auf die Problemlösungsbereitschaft noch etwas näher beleuchtet werden.

6.2 Grundzüge einer Theorie der Entwicklungsbedingungen

133

Die Entwicklung im 19. und 20. Jh. lässt einen engen Zusammenhang zwischen dem wirtschaftlichen Leistungsvermögen einer Gesellschaft einerseits und der Verteilung von Rechten und Freiheiten andererseits deutlich werden. Solange das Leistungsvermögen und das wirtschaftliche Wachstum gering waren und daher eine Umverteilung von Rechten durch die Bauernbefreiung, durch die Aufhebung der Zunftordnung, durch die Einführung rechtlicher Gleichheit für alle, durch die Einführung des freien, gleichen und geheimen Wahlrechtes und eine forcierte Sozialpolitik mit starken Beeinträchtigungen der Position der Bessergestellten, der Besitzenden und der Vermögenden verbunden war, wehrten sich diese Schichten gegen diese Entwicklung. Je mehr und je stärker die Leistungsfähigkeit der Gesellschaft stieg, um so geringer wurde der politische Widerstand gegen die sozialpolitische Entwicklung auch im Deutschen Reich. Die Umwälzung der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse durch den Ersten Weltkrieg mag ihren Teil zu dieser veränderten Einstellung beigetragen haben. Das 19. Jh. konnte wahrscheinlich deshalb in Europa zum Jahrhundert des Rechtsstaates, zum Jahrhundert der Einführung persönlicher und politischer Freiheit und zum Jahrhundert beginnender sozialer Rechte für die große Mehrzahl der Menschen werden, weil es gleichzeitig das Jahrhundert der wirtschaftlichen Entwicklung Mitteleuropas war. Es war das Jahrhundert, in dem so viel mehr an Wohlstand für die gesamte Gesellschaft produziert werden konnte, dass dieses Mehr auf alle, insbes. auf die wirtschaftlich schwächsten Schichten in Form sinkender Arbeitszeit, steigender Löhne, zunehmender politischer und sozialer Rechte umverteilt werden konnte. Damit soll nicht gesagt sein, dass die Freiheit und das in einer Gesellschaft verwirklichte Maß an Gerechtigkeit nur eine Folge wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit ist, dass sich nicht auch „arme“ Gesellschaften mit Erfolg um mehr Freiheit, um mehr Rechte für alle bemühen können. Es soll damit gesagt sein: Die Geschichte lehrt, dass in einer Gesellschaft um so mehr materiale Freiheit und Gerechtigkeit verwirklicht werden kann, je wohlhabender sie ist, d. h. über je mehr Mittel zur Verwirklichung von Freiheit und Gerechtigkeit sie verfügt (vgl. hierzu Sen 2001). Die Determinante „Problemlösungsfähigkeit“ ist neben ihrer langfristigen Relevanz auch kurzfristig von Bedeutung, weil auch hochentwickelte Staaten in konjunkturellen Krisen an Problemlösungsfähigkeit verlieren. Beispiele sind die Weltwirtschaftskrise der Jahre 1929-1933 (vgl. dazu v.a. Preller 1978, S. 418-473) und die Phase reduzierten Wachstums und hoher Arbeitslosigkeit der 1980er und 1990er Jahre, in der die Forderung nach einer „Wende“ in der Sozialpolitik laut wurde. Es ist ein nicht auflösbares Dilemma der Sozialpolitik, dass gerade dann, wenn die höchsten Ansprüche an sie gestellt werden – wenn nämlich für Arbeitslose existenzsichernde Transfers von entscheidender Bedeutung werden, wenn Arbeitslosigkeit bekämpft werden muss und wenn Sozialleistungen zur Stabilisierung der Konsumgüternachfrage besonders wichtig sind –, die Erfüllung dieser Ansprüche die öffentlichen Haushalte auf das Äußerste anspannt und eine Rücknahme von Leistungen unausweichlich erscheinen kann. Leistungseinschränkungen des Systems sozialer Sicherung tragen aber auch die Gefahr der Krisenverschärfung in sich. Um so wichtiger ist es, dass sich der Staat Verschuldungsspielräume offen hält, um in Krisensituationen bestimmte Sozialleistungen über Kredite finanzieren und Kürzungen von Leistungen aus konjunkturellen Gründen vermeiden zu können. Auch die Wirksamkeit der Problemlösungsdringlichkeit als Determinante sozialpolitischer Entwicklung ist an der Geschichte der deutschen Sozialpolitik ablesbar. Versetzt man sich – soweit das überhaupt möglich ist – in die Lage des Arbeitnehmers um die Mitte des vorigen Jahrhunderts, dann erscheint zunächst die Sicherung seiner Existenzgrundlage, nämlich seiner Arbeitskraft durch Gesundheits-, Gefahren-, Unfall- und Arbeitszeitschutz als das dringendste

134

6 Grundzüge einer Theorie staatlicher Sozialpolitik

Gebot, weil er andernfalls überhaupt keine Chance der Existenzsicherung hat. Die Sicherung seiner Existenz im Falle vorübergehender oder dauernder Arbeitsunfähigkeit ist in ihrer Dringlichkeit dem Bedürfnis nach dem Schutz der Arbeitskraft nachgeordnet und geht seinem Bedürfnis, betriebliche Mitbestimmungsrechte zu haben, wohl ebenso voraus, wie etwa dem Bedürfnis nach einem Ausgleich von Einkommens- und Vermögensunterschieden. So gesehen scheint die tatsächliche Sozialpolitik die jeweils gravierendsten, dringendsten Probleme gelöst zu haben. Sie hat sich damit am Grundsatz der Erzielung maximalen Nutzens, anders ausgedrückt, am Grundsatz des Ausgleichs des gesellschaftlichen Grenznutzens sozialpolitischen Handelns orientiert.

6.3 Anhang: Negativselektion auf Versicherungsmärkten In Abschnitt 6.1.2 wurde argumentiert, dass ein Grund für die Existenz staatlicher Sozialversicherungen in einem Versagen privater Versicherungsmärkte liegt. Um die Ursachen für dieses Marktversagen zu verdeutlichen und um die Möglichkeiten darzustellen, wie durch die staatliche Sozialpolitik dieses Marktversagen überwunden werden kann, müssen zunächst einige Grundlagen der Versicherungsökonomie erläutert werden. Grundsätzlich liegt eine private Nachfrage nach Versicherungsleistungen vor, wenn die Marktteilnehmer risikoavers sind. Risikoaversion bedeutet, dass das Individuum bei gleichem Erwartungswert eine sichere Auszahlung einer unsicheren Auszahlung gegenüber strikt präferiert. Das Konzept der Risikoaversion wird in der nachfolgenden Abbildung 6.2 grafisch veranschaulicht. Dabei bezeichnet yi eine unsichere Auszahlung, die mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit (πi ) hoch (y1 ) oder niedrig (y2 ) ausfallen kann (π1 + π2 = 1). u(y) repräsentiert den entsprechenden Einkommensnutzen. Der Erwartungswert des Einkommens und der erwartete Einkommensnutzen sind E[y] = π1 y1 + π2 y2 E[u(y)] = π1 u(y1 ) + π2 u(y2 )

(6.1a) (6.1b)

Wie die Abbildung zeigt, ist der erwartete Nutzen der risikobehafteten Auszahlung (E[u(y)]) geringer als der Nutzen der erwarteten Auszahlung (u(E[y])). Diese Bedingung ist für strikt konkave Nutzenfunktionen du(·) d2 u(·) >0 ; < 0. (6.2) dy dy 2 immer erfüllt. Risikoaversion ist also gleichbedeutend mit einem abnehmenden Grenznutzen des Einkommens. Den sicheren Einkommensbetrag (yCE ), der den gleichen Nutzen wie eine unsichere Auszahlung stiftet, bezeichnet man als Sicherheitsäquivalent (certainty equivalent), die Differenz zwischen dem Erwartungswert einer unsicheren Auszahlung und dem Sicherheitsäquivalent ist die Risikoprämie (yRP = E[y] − yCE ). Diese Risikoprämie stellt die individuelle Zahlungsbereitschaft für die Vermeidung eines Risikos dar. Ein risikoaverser Marktteilnehmer wird eine Versicherung nachfragen, sofern der Preis für die Versicherungsleistung geringer ist als die Risikoprämie. Durch den Abschluss eines Versicherungsvertrags kann sich der Haushalt gegen die wirtschaftlichen Folgen eines bestimmten Risikos absichern. Es sei y das Einkommen des Haushalts und L

6.3 Anhang: Negativselektion auf Versicherungsmärkten

135

u(y)

u(y)

u(y1) a u(E[y])

c

E[u(y)]

b

u(y2)

yRP y2

yCE

E[y]

y1

y

Abb. 6.2: Einkommensnutzenfunktion eines risikoaversen Individuums

der wirtschaftliche Schaden bei Eintritt eines Risikos. Bei Nichteintritt (Zustand 1) verfügt der Haushalt über ein Einkommen von y1 , beim Eintritt (Zustand 2) entspricht das Einkommen y2 . Ohne Versicherung ist y1 = y und y2 = y − L. Gegen Bezahlung einer Versicherungsprämie θ leistet ein Versicherungsunternehmen im Schadensfall eine Zahlung in Höhe von q. Die Versicherungsprämie ergibt sich aus dem Produkt von Prämiensatz p (0 < p < 1) und Versicherungssumme q (θ = pq). Die zustandsabhängigen Einkommen sind nach Abschluss einer Versicherung somit durch y1 = y − pq y2 = y − L − pq + q = y − L + (1 − p)q

(6.3a) (6.3b)

gegeben. Eine Erhöhung der Versicherungssumme reduziert das verfügbare Einkommen im Zustand 1, während das Einkommen im Zustand 2 in Höhe der Versicherungsleistung steigt. Durch die Versicherung findet also ein Einkommenstransfer zwischen den beiden Zuständen statt. Aus Gleichung 6.3a erhält man q = (y − y1 )/p. Eingesetzt in Gleichung 6.3b ergibt sich y2 = y − L +

(1 − p) (y − y1 ), p

(6.4)

was als Budgetrestriktion im zustandsabhängigen Einkommensraum interpretiert werden kann. Sie repräsentiert die möglichen zustandsabhängigen Einkommen, welche durch eine Variation der Versicherungssumme realisiert werden können. Die ökonomische Interpretation wird deutlicher, wenn man (6.4) umformt: (1 − p)y1 + py2 = (1 − p)y + p(y − L)

(6.5)

(1−p) und p lassen sich als Preise für eine Geldeinheit in Zustand 1 und Zustand 2 interpretieren.

136

6 Grundzüge einer Theorie staatlicher Sozialpolitik

Durch Differenzieren von (6.4) nach y1 erhält man die Steigung der Budgetgerade dy2 1−p =− . dy1 p

(6.6)

Diese Budgetrestriktion gibt das Verhältnis an, zu dem der Haushalt in der Lage ist, sein Einkommen durch eine Versicherung zwischen den beiden Zuständen zu realloziieren. Eine Versicherung wird als aktuarisch fair bezeichnet, sofern sich durch die Versicherung das erwartete Einkommen des Versicherten nicht verändert. Sei πs die subjektive Wahrscheinlichkeit, die der Versicherte dem Zustand s = 1, 2 zuordnet, so ergibt sich das erwartete Einkommen gemäß: E[y] = π1 [y − pq] + π2 [y − L + (1 − p)q] = y − π2 L − q[p − π2 ]

(6.7)

mit π1 = 1 − π2 . Der Versicherungsvertrag wird das erwartete Einkommen nicht verändern, sofern p = π2 ist. π2 bezeichnet man als den aktuarisch fairen Prämiensatz und π2 q als die faire Versicherungsprämie. y2 B

y1=y2

B'

b

c

a

y-L

y

y1

Abb. 6.3: Versicherungsentscheidung bei zustandsabhängigen Einkommen Abb. 6.3 stellt die Versicherungsentscheidung dar. Punkt a entspricht der Einkommenskombination bei Nichtabschluss einer Versicherung. Hiervon ausgehend hat die Linie B die Steigung −π1 /π2 . Alle zustandsabhängigen Einkommenskombinationen auf dieser Linie haben den gleichen Erwartungswert wie das Einkommen ohne Versicherung (y − π2 L). Wenn man jedoch unterstellt, dass die am Markt angebotene Prämie nicht aktuarisch fair ist (da das Versicherungsunternehmen z. B. Kosten für die Vertragsanbahnung und den Vertrieb abdecken muss),

6.3 Anhang: Negativselektion auf Versicherungsmärkten

137

so muss p > π2 gelten. Die Linie B ′ , die die am Markt realisierbaren Allokationen anzeigt, mit der Steigung −(1 − p)/p weist dadurch eine flachere Steigung auf ((1 − p)/p < π1 /π2 ). Der Versicherungsnehmer wählt jene Versicherungssumme q, die den Erwartungsnutzen U = π1 u(y1 ) + π2 u(y2 ) = π1 u(y − pq) + π2 u[y − L + (1 − p)q]

(6.8)

maximiert. Die Nutzenfunktion u(·) weist die üblichen Eigenschaften auf, d.h. sie ist monoton wachsend und strikt konkav (u′ (y) > 0, u′′ (y) < 0). Der Entscheidungsträger ist also risikoavers. Die optimale Versicherungssumme q ∗ erfüllt die Bedingung erster Ordnung ∂U = −π1 u′ (y − pq ∗ )p + π2 u′ [y − L + (1 − p)q ∗ ](1 − p) = 0 ∂q

(6.9)

Durch Umformung von (6.9) erhält man −

(1 − p) π1 u′ (y1 ) =− π2 u′ (y2 ) p

(6.10)

Die linke Seite von (6.10) ist die Steigung der Indifferenzkurve, die rechte Seite die Steigung der Budgetgerade. Im Haushaltsoptimum ist die Grenzrate der Substitution zwischen den zustandsabhängigen Einkommen somit gleich der Steigung der Budgetgerade. Im Fall aktuarisch fairer Prämien (p = π2 , 1 − p = π1 ) erhält man u′ (y1 ) = u′ (y2 ) und somit y1 = y2 . Der Haushalt wird sich in diesem Fall vollständig gegen das Risiko absichern (Punkt b in Abb. 6.3). Sofern die Versicherungsprämie nicht aktuarisch fair ist (p > π2 ), gilt 1 − p < 1 − π2 = π1 . Deshalb muss u′ (y1 ) < u′ (y2 ) und aufgrund der Konkavität der Nutzenfunktion y1 > y2 gelten. Der Unterschied im verfügbaren Einkommen ergibt sich unter Verwendung von (6.3a) und (6.3b) als y1 − y2 = y − pq ∗ − (y − L + (1 − p)q ∗ ) = y − pq ∗ − y + L − (1 − p)q ∗ = L − q∗

(6.11)

Der Versicherungsnehmer wird somit in diesem Fall keine Vollversicherung nachfragen. In Abb. 6.3 wählt der Haushalt eine Absicherung in Höhe von c.

Asymmetrische Information auf Versicherungsmärkten: Adverse selection Bislang wurde die Versicherungsentscheidung unter der Annahme abgeleitet, dass alle Versicherungsnehmer die gleiche Risikoeintrittswahrscheinlichkeit (π) aufweisen. Diese Annahme wird nun aufgehoben. Um die Darstellung nicht unnötig zu komplizieren, werden im Folgenden aktuarisch faire Prämien unterstellt. Das Problem der Negativselektion (adverse selection) kann auftreten, wenn eine Marktseite (z. B. der Versicherungsnehmer) besser über die Risikoeintrittswahrscheinlichkeit informiert ist als die Marktgegenseite. Um diesen Prozess zu verdeutlichen, werden zwei Gruppen (l, h) unterstellt, die sich ausschließlich hinsichtlich ihrer Risikoeintrittswahrscheinlichkeit unterscheiden: πl < πh . Die Risikoeintrittswahrscheinlichkeit sei exogen gegeben und dem Versicherten bekannt. Der Anteil der Bevölkerung mit niedriger Eintrittswahr-

138

6 Grundzüge einer Theorie staatlicher Sozialpolitik

scheinlichkeit (die „guten“ Risiken, l) sei λ, der Bevölkerungsanteil mit hoher Risikoeintrittswahrscheinlichkeit (die „schlechten“ Risiken, h) 1 − λ. Die Versicherung kennt die Parameter u(·), y, L, πh , πl , λ. Bei vollständiger Information kann die Versicherung für beide Gruppen je einen eigenständigen Versicherungsvertrag (πh , qh ) und (πl , ql ) mit korrespondierender risikoadäquater Prämie pi = πi qi anbieten. Die zustandsabhängigen Einkommen für die i-te Risikogruppe entsprechen somit y 1 = y − p i = y − πi q i y2 = y − L − pi + qi = y − L + (1 − πi )qi

(6.12a) (6.12b)

mit einem Erwartungsnutzen von U i (pi , qi ) = (1 − πi )u(y − pi ) + πi u(y − L − pi + qi )

(6.13)

Im Marktgleichgewicht wird jedem Mitglied der i-ten Risikogruppe ein Versicherungsvertrag angeboten, der (6.13) maximiert. Unter der Nullgewinnannahme (pi = πi qi ) entspricht die erste Ableitung ∂U i = −(1 − πi )u′ (y1 )πi + πi u′ (y2 )(1 − πi ) = 0 (6.14) ∂qi und somit muss für die gleichgewichtige Versicherung y1 = y2 gelten. Beide Risikogruppen wählen also eine Vollabsicherung (qi∗ = L) und erzielen somit ein sicheres Einkommen in Höhe ihres erwarteten Einkommens (y¯i = y − πi L). Bei vollständiger Information liegt ein trennendes Gleichgewicht (separating equilibrium) vor, bei dem die unterschiedlichen Risikogruppen unterschiedliche Versicherungskontrakte wählen (vgl. Abb. 6.4). Beide Gruppen sichern sich vollständig gegen das Risiko ab (qi∗ = L), Versicherte mit hohem Risiko zahlen einen höheren Prämiensatz als Versicherte mit geringem Risiko (ph = πh L > pl = πl L). Es sei nun unterstellt, dass die Information über die Risikoeintrittswahrscheinlichkeit asymmetrisch zwischen Angebots- und Nachfrageseite verteilt ist. Damit ist es dem Versicherungsunternehmen nicht mehr möglich, einen Versicherungsnehmer einer bestimmten Risikogruppe zuzuordnen. Unter diesen Umständen werden auch die Träger hoher Risiken den günstigeren Tarif (pl ) wählen; das trennende Gleichgewicht ist somit nicht mehr realisierbar. Dieser günstige Tarif ist für den Anbieter der Versicherung jedoch nicht mehr kostendeckend, da annahmegemäß pl L < πh L gilt. Da der Anteil der Risiken mit geringer Risikoeintrittswahrscheinlichkeit λ ist, beträgt die durchschnittliche Risikoeintrittswahrscheinlichkeit π ¯ = λπl + (1 − λ)πh

(6.15)

Der Versicherer kann somit nur eine Durchschnittsprämie in Höhe von π ¯ anbieten. Diese Durchschnittsprämie ist für keine der beiden Risikogruppen aktuarisch fair; die „guten“ Risiken werden schlechter gestellt, die „schlechten“ Risiken werden besser gestellt als im trennenden Versicherungsgleichgewicht. ¯ die Steigung −(1 − π In der Abb. 6.5 besitzt die Linie B ¯ )/¯ π . Jeder Kontrakt entlang dieser Linie erfüllt die Nullgewinnbedingung für das gesamte Risikokollektiv. Die „guten“ Risiken würden

6.3 Anhang: Negativselektion auf Versicherungsmärkten

139

y2 Bl

y1=y2

Bh

b

c Il Ih a

y-L

y

y1

Abb. 6.4: Trennendes Versicherungsgleichgewicht y2 Bl

B

Bh

y1=y2

c'

b c'' b'

c d

I 2h I 2l a

y-L

y

Abb. 6.5: Negativselektion auf Versicherungsmärkten

y1

140

6 Grundzüge einer Theorie staatlicher Sozialpolitik

die Allokation b′ wählen, da der durchschnittliche Prämiensatz (¯ p) höher ist als ihre individuelle Risikoeintrittswahrscheinlichkeit (πl ), so dass die Durchschnittsprämie für sie nicht aktuarisch fair ist. Sie fragen somit nur eine Teilversicherung nach. Die „schlechten“ Risiken würden eine Deckungssumme in Höhe von c′ wählen.37 Allerdings wird diese Allokation nicht angeboten, da alle Versicherungsnehmer, die eine Über- oder Vollversicherung nachfragen, durch ihre Entscheidung offenbaren, dass sie zu den „schlechten“ Risiken zählen. Diese erfüllen in c′ jedoch nicht die Nullgewinnbedingung. Die einzige am Markt realisierbare Allokation ist somit b′ . In diesem vereinigenden Gleichgewicht (pooling equilibrium) ist die Wahrscheinlichkeit, ein „gutes“ Risiko zu versichern, gleich λ; die Nullgewinnbedingung ist somit erfüllt. Die „guten“ Risiken realisieren in diesem Punkt ihr Haushaltsoptimum, so dass die Steigung der Indifferenzkurve Il2 der Steigung der Budgetgerade entspricht. Für die Gruppe mit hoher Risikoeintrittswahrscheinlichkeit (Ih2 ) ist das nicht der Fall. Bislang wurde gezeigt, dass die Allokation b′ sein muss, sofern ein vereinigendes Gleichgewicht existiert. Nun soll in einem zweiten Schritt gezeigt werden, dass sich auf kompetitiven Versicherungsmärkten kein vereinigendes Gleichgewicht einstellen wird. Dazu vergleichen wir die Allokation b′ mit der Allokation d. Da d unterhalb der Indifferenzkurve der „schlechten“ Risiken (I h ) liegt, werden diese weiterhin die Allokation b′ präferieren. Die „guten“ Risiken werden sich hingegen für die Allokation d entscheiden, da sie sich durch diesen Versicherungsvertrag besser stellen. Auch die Versicherung wird d anbieten, da diese Allokation unterhalb der Versicherungslinie für die „guten“ Risiken Bl liegt. Auf einem wettbewerblichen Versicherungsmarkt wird sich somit das Angebot d einstellen, das wiederum die „guten“ Risiken aus dem vereinigenden Gleichgewicht b′ attrahiert. Es verbleiben somit nur noch die „schlechten“ Risiken in d. Unter diesen Bedingungen kann d jedoch nicht mehr kostendeckend angeboten werden, so dass dieser Vertrag vom Markt genommen wird. Dieser Prozess lässt sich beliebig oft wiederholen; auf einem Mark mit unterschiedlichen Risiken und asymmetrischer Information stellt sich somit kein langfristig stabiles Gleichgewicht ein. Dieser Prozess der Negativselektion lässt sich nur verhindern, wenn die Haushalte einer Versicherungspflicht in b′ unterworfen werden. Die Einführung einer Versicherungspflicht ist damit wohlfahrtssteigernd und ökonomisch effizient.

37

Beachten Sie, dass in diesem Fall eine Überversicherung (q > L) nachgefragt wird. Da die Versicherungsunternehmen maximal eine Vollversicherung anbieten, wählen die „schlechten“ Risiken die Vollversicherung ′′ c .

Teil IV

Systematische Darstellung der Bereiche sozialpolitischen Handelns

Vorbemerkungen Die staatliche Sozialpolitik umfasst die in Abbildung 7.0 dargestellten Bereiche. Mit Ausnahme der nicht eigentlich sozialpolitischen, jedoch sozialpolitisch relevanten Politikbereiche werden im Folgenden alle diese Bereiche systematisch dargestellt, d.h. diese Handlungsfelder werden definiert, ihre Ziele, Rechtsquellen, Instrumente, Wirkungen, Entwicklungstendenzen und Probleme behandelt. Dabei kann natürlich keine Vollständigkeit erreicht werden. Vielmehr mussten die Verfasser auswählen, was sie für wesentlich und wichtig halten. Für Leser, die in bestimmte Bereiche tiefer eindringen wollen, sind am Ende der Kapitel Überblicke über grundlegende Literatur und über laufende Materialquellen gegeben.

Abb. 7.0: Bereiche der Sozialpolitik Die Darstellung beginnt mit dem für Industriegesellschaften historisch ältesten sozialpolitischen Bereich, dem Arbeitnehmerschutz, und behandelt anschließend die für die Gestaltung der Erwerbsarbeit komplementären Bereiche der Arbeitsmarktpolitik und der Mitbestimmung in den Betrieben und Unternehmungen. Sie wendet sich dann der Beschreibung und Analyse des Systems der sozialen Sicherung im engeren Sinne, der Sozialversicherung, und dem ergänzenden System der sozialen Mindestsicherung zu, und gibt danach einen Überblick über die Familienund die Vermögenspolitik. Die Darstellung der Bereiche der Sozialpolitik wird mit einem Überblick über die Sozialpolitik in der Europäischen Union abgeschlossen.

Kapitel 7

Arbeitnehmerschutz

7.1 Definition, Notwendigkeit und Ziele Unter Arbeitnehmerschutz1 wird die Gesamtheit sozialpolitischer Maßnahmen zum Schutze der abhängig Arbeitenden gegen (materielle und immaterielle) Schädigungen und Gefahren verstanden, die aus der Arbeitsausübung und aus dem Abhängigkeitscharakter des Lohnarbeitsverhältnisses entstehen. Das allgemeine Ziel des Arbeitnehmerschutzes ist es, die Arbeitnehmer vor Gefährdungen zu schützen, die aus dem Arbeitsverhältnis und aus der Arbeit im Betrieb erwachsen. Die Notwendigkeit zur Entwicklung eines Arbeitnehmerschutzrechts ergab sich aus den bereits geschilderten schwerwiegenden Missständen wie Kinderarbeit, extrem lange Arbeitszeiten, gesundheitsgefährdende Arbeitsplatzbedingungen, Unregelmäßigkeiten in der Lohnzahlung und die Möglichkeit uneingeschränkter Kündigung (vgl. S. 17 ff.). Die technischen, wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen der Industriearbeit in der Frühphase der Industrialisierung gefährdeten die Gesundheit, die Leistungsfähigkeit und die Würde der arbeitenden Menschen. Diese Umstände, aber auch die durch die Frauen- und die Kinderarbeit gegebene Gefährdung der Erziehung und Ausbildung von Kindern und Jugendlichen sowie die Beeinträchtigung der Gesundheit durch Kinderarbeit verstießen gegen die Humanität. Auch das ökonomische Ziel der Erhaltung und Förderung eines leistungsfähigen Arbeitskräftepotentials – eine wesentliche Wirtschaftsgrundlage – wurde verletzt. Schließlich wurde gegen politische Ziele, nämlich gegen das Ziel der Sicherung der öffentlichen Gesundheit und gegen das Ziel der Erhaltung des inneren Friedens verstoßen. Aufgrund der noch darzustellenden Entwicklung des Arbeitnehmerschutzes haben bestimmte Ziele wie die Sicherung der Wehrtauglichkeit und die Sicherung der Erziehung und Ausbildung von Kindern und Jugendlichen keine nennenswerte Bedeutung mehr. Dennoch ist eine Weiterentwicklung des Arbeitnehmerschutzes geboten, weil das grundlegende Schutzbedürfnis fortbesteht. Angesichts der Fortschritte in der Produktionstechnik und Änderungen in der Arbeitsorganisation ist der Arbeitnehmerschutz eine permanente Aufgabe. Aufgrund laufend neu entwickelter synthetischer Roh-, Hilfs- und Betriebsstoffe, der Anwendung der Strahlen- und 1

In der Literatur werden für diesen sozialpolitischen Bereich auch die Begriffe „Arbeitsschutz“ und „Arbeiterschutz“ verwendet. Da jedoch nicht die Arbeit und nicht nur die Arbeiter, sondern alle Arbeitnehmer geschützt werden, ist nur die Bezeichnung „Arbeitnehmerschutz“ exakt.

143

© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2021 J. Althammer et al., Lehrbuch der Sozialpolitik, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56258-1_7

144

7 Arbeitnehmerschutz

der Biotechnik in vielen Arbeitsbereichen und angesichts der Tatsache, dass die Mehrzahl aller Arten von Arbeit psychisch oder körperlich belasten, sind die Aufgaben der Sicherung der Gesundheit sowie der Vermeidung von Berufskrankheiten stets aktuell. In den letzten Jahren wurde der Arbeitnehmerschutz in Deutschland vor allem durch die europäische Rechtsetzung fortentwickelt.2 Der Arbeitnehmerschutz lässt sich nach dem Inhalt seiner Regelungen in die Bereiche 1. 2. 3. 4.

Arbeitszeitschutz, Betriebs- oder Gefahren- und Unfallschutz, Lohnschutz und Bestandsschutz des Arbeitsverhältnisses

untergliedern. Bezogen auf den geschützten Personenkreis kann man den Arbeitnehmerschutz in 1. 2. 3. 4.

Kinder- und Jugendarbeitsschutz, Mutterschutz, Schwerbehindertenschutz und Heimarbeiterschutz

einteilen.

7.2 Einzelbereiche des Arbeitnehmerschutzes 7.2.1 Arbeitszeitschutz a) Ziele, Rechtsquellen und Instrumente Ziele des Arbeitszeitschutzes sind erstens der Schutz der Arbeitnehmer vor physischer und psychischer Überforderung, zweitens die Sicherung von jährlichen, wöchentlichen und täglichen Arbeitszeiten, welche die Gesundheit nicht gefährden und der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Arbeitnehmer nicht abträglich sind, sowie drittens die Sicherung ausreichender Freizeit zur Entfaltung der Persönlichkeit und zur Teilnahme am politischen und kulturellen Leben. Der Arbeitszeitschutz dient damit gleichzeitig dem Schutz vor Ausbeutung der Arbeitskraft, dem Gesundheits- und Unfallschutz und dem Schutz der freien Entfaltung der Persönlichkeit. Instrumente des Arbeitszeitschutzes sind öffentlich-rechtliche Verbote3 wie z. B. das Verbot der Sonn- und Feiertagsarbeit (§ 9 ArbZG) und das Verbot der Nachtarbeit von Jugendlichen

2

Vgl. Bücker/Feldhoff/Kohte 1994. Zur Sozialpolitik der Europäischen Union siehe auch Kap. 14. Rechtsquellen des Arbeitszeitschutzes sind in erster Linie das Arbeitszeitgesetz (ArbZG) vom 06.06.1994, zuletzt geändert durch Gesetz vom 11.11.2016; das Jugendarbeitsschutzgesetz (JArbSchG) vom 12.04.1976, zuletzt geändert durch Gesetz vom 10.03.2017; das Mutterschutzgesetz (MuSchG) vom 23.05.2017; das Gesetz über den Ladenschluss (LadSchlG) vom 28.11.1956 i.d.F. vom 2.06.2003, zuletzt geändert durch Gesetz vom 31.08.2015; das Bundesurlaubsgesetz (BUrlG) vom 08.01.1963, zuletzt geändert durch Gesetz vom 20.04.2013 und das Gesetz zum Elterngeld und zur Elternzeit (BEEG) vom 05.12.2006, i.d.F vom 27.01.2015 zuletzt geändert durch Gesetz vom 20.11.2019.

3

7.2 Einzelbereiche des Arbeitnehmerschutzes

145

(§ 14 JArbSchG) sowie öffentlich-rechtliche Gebote, wie insbes. die Festlegung von Höchstarbeitszeiten pro Tag (§ 3 ArbZG) sowie die Festlegung von Mindestruhezeiten (§ 5 ArbZG) und von Mindestruhepausen (§ 4 ArbZG). Die Einhaltung dieser Verbote und Gebote wird durch Aufsicht, Zwang und Strafe bei Verstößen gesichert. Die wichtigsten Arbeitszeitregelungen sind folgende: 1. Die regelmäßige werktägliche Arbeitszeit darf die Dauer von acht Stunden nicht überschreiten;4 sie kann auf bis zu zehn Stunden verlängert werden, wenn innerhalb von sechs Monaten im Durchschnitt acht Stunden werktäglich nicht überschritten werden (§ 3 ArbZG). Für Arbeitnehmer, die unter besonderen Gefahren für die Gesundheit arbeiten, kann die Arbeitszeit durch Rechtsverordnung der Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrats über § 3 ArbZG hinaus beschränkt werden (§ 8 ArbZG). 2. Im Allgemeinen darf an Sonn- und Feiertagen nicht gearbeitet werden (§ 9 ArbZG). Das Gesetz lässt jedoch zahlreiche Ausnahmen zu, die aus Gründen der Sicherheit oder aus wirtschaftlichen und technischen Gründen bedingt sind, z. B. für Arbeiten, die im öffentlichen Interesse liegen (Rettungsdienste, Feuerwehr, Polizei und Krankenhäuser), für die Überwachung von Betriebsanlagen, für eine aus technischen Gründen erforderliche kontinuierliche Produktion oder für die Sicherung der Beschäftigung durch die Genehmigung von Sonn- und Feiertagsarbeit (§ 10 ArbZG). Für die von Sonntagsarbeit betroffenen Arbeitnehmer müssen mindestens 15 Sonntage im Jahr arbeitsfrei bleiben und für jeden auf einen Sonntag fallenden Arbeitstag ist ein Ersatzruhetag zwingend vorgeschrieben (§ 11 ArbZG). 3. Verkaufsstellen dürfen – von wenigen Ausnahmen abgesehen – nur innerhalb der im Ladenschlussgesetz festgelegten Zeiten geöffnet sein.5 4. Sonderregelungen in Bezug auf die Arbeitszeiten bzw. die Öffnungszeiten gelten insbes. für das Verkehrs- und das Gaststättengewerbe, für Energie- und Wasserversorgungsbetriebe, für Krankenpflegeanstalten und Apotheken, für die Schifffahrt, für die Landwirtschaft, den Verkauf von Zeitungen und Zeitschriften und für Verkaufsstellen auf Bahnhöfen und Flughäfen. 5. Besondere Vorschriften bestehen über die Ruhezeiten, d. h. Zeiten, die zwischen zwei Arbeitsschichten liegen müssen, und über die Ruhepausen während der Arbeitszeit (§ 5 ArbZG). 6. Für besondere Arbeitnehmer (insb. Jugendliche und werdende Mütter) besteht ein Sonderschutz, der detailliert im Teil 7.3 besprochen wird. Jedem erwachsenen Arbeitnehmer steht ein jährlicher bezahlter Mindesturlaub von 24 Werktagen zu (§ 3 BUrlG), jugendlichen Arbeitnehmern ein nach Alter abnehmender Mindesturlaub von 30 bis 25 Tagen (§ 19 JArbSchG).

b) Wirkungen Für den geschützten Personenkreis hat der Arbeitszeitschutz Auswirkungen auf die Gesundheit, die Bildungsmöglichkeiten und die Möglichkeiten zur freien Entfaltung der Persönlichkeit. Darüber hinaus beeinflusst er Umfang und Struktur des Arbeitskräfteangebots. 4

Übt der Arbeitnehmer mehrere Tätigkeiten aus, werden die Arbeitszeiten zusammengerechnet. In den Jahren 1996 und 2003 wurde das bis dahin geltende, sehr rigide Ladenschlussgesetz geändert. Nach dem jetzt geltenden Gesetz dürfen Läden grundsätzlich von Montag bis Samstag von 6.00 bis 20.00 Uhr geöffnet sein (§ 3 LadSchlG). 5

146

7 Arbeitnehmerschutz

Das Verbot von Arbeitszeiten, die aufgrund ihrer Dauer oder Lage gesundheitsgefährdend sind, verhindert gesundheitliche Beeinträchtigungen, Frühinvalidität und Unfälle. Volkswirtschaftlich bedeutet dies die Vermeidung von sozialen Zusatzkosten (negativen externen Effekten). Darunter versteht man die Beeinträchtigung von bestimmten Werten (in diesem Fall: der Gesundheit und der Arbeitskraft) durch privatwirtschaftliche Aktivitäten, die aber nicht der Schadensverursacher zu tragen hat, sondern die Arbeitnehmer oder Dritte (z. B. die Sozialversicherung). Der Arbeitszeitschutz sichert zweitens die Regenerationsmöglichkeiten der Arbeitskräfte und damit das individuelle Arbeitsvermögen sowie das betriebliche und volkswirtschaftliche Arbeitskräftepotential. Drittens trägt er zu einer Verlängerung der Lebensdauer und zur Verbesserung des Gesundheitszustands in höheren Lebensphasen bei. Dadurch wird tendenziell das Arbeitskräftepotenzial älterer Arbeitnehmer vergrößert und die Altersstruktur der Bevölkerung verändert. Die Wirkungen auf die persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten bestehen in verbesserten Möglichkeiten der vorberuflichen Bildung und Sozialisation, in Verbesserungen der Weiterbildungsmöglichkeiten während des Erwerbslebens, in der Schaffung der zeitlichen Voraussetzungen für die Entfaltung des Familienlebens und für die Entfaltung der Persönlichkeit durch Teilnahme am politischen und kulturellen Leben. Gesamtgesellschaftlich setzt sich dies in ein höheres Bildungsniveau und in verbesserte Möglichkeiten zur Wahrnehmung der elterlichen Erziehungsaufgabe um. Gesamtwirtschaftlich ist die erwähnte Beeinflussung des Arbeitskräftepotentials von herausragender Bedeutung. Das Verbot der Kinderarbeit, Beschränkungen der Arbeitszeit für Jugendliche und allgemeine Begrenzungen der maximal zulässigen Arbeitszeiten beeinflussen das Volumen und die Struktur des Arbeitsangebotes. Die „Herausnahme“ bestimmter Arbeitnehmergruppen aus der Gruppe der Erwerbspersonen reduziert unter sonst gleichen Umständen das Arbeitskräftevolumen langfristig. Eine Herabsetzung der maximal zulässigen Arbeitszeiten verringert das Gesamtarbeitsangebot auch kurzfristig. Mittel- und langfristig jedoch wirkt dem angebotsreduzierenden Effekt der Arbeitszeitverringerung der Effekt der Vergrößerung des Arbeitskräftepotentials durch die Vermeidung von Unfällen, Krankheiten und Frühinvalidität sowie durch die Verlängerung der durchschnittlichen Lebensdauer entgegen. Die deutliche Reduktion der Arbeitszeit6 (Tabelle 7.1) hat mit dazu beigetragen, dass sich das Arbeitsvolumen7 in den Jahren 1950 bis 1975 trotz zunehmender Zahl der Erwerbstätigen deutlich verringert hat. Diese Verknappung des Arbeitsangebots führt ceteris paribus zu einem Anstieg der Arbeitsentgelte. Seit Mitte der 1970er Jahre ist das gesamtwirtschaftliche Arbeitsvolumen in Deutschland relativ stabil geblieben. Die deutliche Verringerung der durchschnittlichen Arbeitszeiten darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Dauer und die Lage der wöchentlichen Arbeitszeiten stark ungleich verteilt sind.

c) Probleme Im Zusammenhang mit den Arbeitszeitregelungen werden aktuell zwei Probleme diskutiert: die negativen Rückwirkungen eines spezifischen Arbeitszeitschutzes auf den geschützten Personenkreis sowie die Beschäftigungseffekte der Arbeitszeitpolitik. 6

Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Arbeitszeitverkürzung in der Bundesrepublik Deutschland nicht primär durch gesetzliche Vorschriften, sondern vor allem durch tarifvertragliche Regelungen erfolgt. 7 Unter dem Arbeitsvolumen versteht man die tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden aller Erwerbstätigen.

7.2 Einzelbereiche des Arbeitnehmerschutzes

147

Tabelle 7.1: Die Entwicklung der wöchentlichen und jährlichen Arbeitszeit in Deutschland (1860-2017)

Jahr 1860/70 1900/05 1919/23 1939 1950b 1960 1970 1980 1990 2000 2010 2015 2017

Durchschnittlich bezahlte Wochenarbeitszeit in Std. Index 78,0 60,0 48,0 48,5 48,1 44,6 41,5 40,1 38,2 37,4 37,4 35,6

100 77 62 62 62 57 53 51 49 48 48 46

Jahr 1867 1905 1925 1938 1950b 1960 1970 1980 1990 2000 2010 2015 2017

Durchschnittlichea jährliche Arbeitszeit in Std. Index 3 860 3 390 2 910 2 750 2 391 2 102 1 966 1 751 1 552 1 452 1 407 1 368 1 356

100 88 75 71 62 54 51 45 40 38 36 35 35

a

Effektiv geleistete Arbeitsstunden je Erwerbstätigen pro Jahr. 1950-1990 Westdeutschland. Quelle: Bis 1939: Hoffmann 1965, S. 19, 213f; für 1950: BMA, Stat. Tb. 1992, Tab. 4.4, für 1960: BMA, Stat. Tb. 2011, Tab. 4.1. Ab 1970: IAB 2013 bzw. IAB 2018. b

Sofern bestimmte Arbeitnehmergruppen (Jugendliche, ältere Arbeitnehmer, Personen mit Erziehungs- oder Pflegeverpflichtungen) besonderen Schutzmaßnahmen unterliegen, erhöhen sich dadurch die relativen Beschäftigungskosten dieser Personengruppe. Dies kann dazu führen, dass sich diese Regelungen negativ auf die Einstellungschancen und die Möglichkeiten zur Teilnahme an Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen dieser Gruppen auswirken.8 Ein weiterer strittiger Punkt sind die gesamtwirtschaftlichen Effekte einer beschäftigungsorientierten Arbeitszeitpolitik.9 Der Vorschlag, in Zeiten der Unterbeschäftigung die „vorhandene Arbeit auf mehr Köpfe zu verteilen“, wurde bereits während der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre erörtert. In Deutschland wurde diese Diskussion verstärkt in der 1980er Jahren im Zuge der Diskussion um die 35-Stunden-Woche geführt. Aktuell werden Überlegungen zu einer Politik der Arbeitszeitverkürzung im Kontext einer nachhaltigen Wirtschaftsweise und einer planvollen und zielgerichteten Umverteilung des vorhandenen materiellen Wohlstands angestellt.10 Gleichzeitig wird jedoch auch eine Ausweitung der Arbeitszeiten zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft und als Reaktion auf den demographischen Wandel diskutiert. Eine Arbeitszeitverkürzung wird, wenn sie mit einer Reduzierung der Betriebszeit verbunden ist, zunächst zu einer Erhöhung der Kapitalkosten je Produktionseinheit führen. Sofern die 8

Nicht zuletzt aus diesem Grund wurde das Verbot der Nachtarbeit von Arbeiterinnen durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts aufgehoben; vgl. BVerfG, Urteil vom 28.01.1992, 1 BvR 1025/82. 9 Zu den Beschäftigungseffekten der Arbeitszeitverkürzung vgl. Franz 2013, S. 185-189 sowie die dort angegebene Literatur. 10 Vgl. hierzu Pennekamp 2011. Für ihn ist „die Frage nach den sozialen und ökonomischen Folgen einer Arbeitszeitverkürzung [...] zentral für die Möglichkeit von Wohlstand ohne Wachstum“ (Pennekamp 2011, S. 39).

148

7 Arbeitnehmerschutz

Betriebszeiten aufrecht erhalten werden, müssen entweder Überstundenzuschläge gezahlt oder es muss die Beschäftigungsmenge ausgeweitet werden. Dadurch steigen die von der Arbeitszeit weitgehend unabhängigen Lohnnebenkosten (Verwaltungskosten und bestimmte Sozialaufwendungen). Eine weitere Erhöhung der Stückkosten tritt ein, wenn die Arbeitszeitverkürzung mit Lohnausgleich durchgeführt wird. Der Anstieg der Produktionskosten hängt davon ab, ob die Arbeitszeitreduzierung mit einer Zunahme der Arbeitsproduktivität verbunden ist. Eine Erhöhung der Arbeitsproduktivität kann sich aus der Minderbelastung der Arbeitnehmer und der damit verbundenen Vermeidung von Ermüdungserscheinungen und von Ausschussproduktion, aus der Verbesserung des Gesundheitszustandes und aus der Erhöhung der Arbeitszufriedenheit und Leistungsbereitschaft sowie aus einer Reduzierung der Fehlzeiten ergeben. Arbeitszeitverkürzungen können vor allem dann ohne Änderung der Produktionstechnik zu Produktivitätserhöhungen führen, wenn die Arbeitszeiten unter oder bei dem Regenerationsminimum der Arbeitskräfte liegen. Angesichts des weit entwickelten gesetzlichen und tarifvertraglichen Arbeitszeitschutzes sind derart überlange Arbeitszeiten in Deutschland jedoch weitgehend ausgeschlossen. Insgesamt ist also davon auszugehen, dass eine Politik der Arbeitszeitverkürzung die Beschäftigungskosten erhöht und sich damit negativ auf die Nachfrage nach Arbeitskräften auswirkt. Auch die empirische Evidenz spricht nicht dafür, dass sich der Beschäftigungsgrad durch eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit erhöhen lässt (vgl. Hunt 1999).

7.2.2 Betriebs- oder Gefahrenschutz a) Ziele, Rechtsquellen und Instrumente Das Ziel des Betriebs- oder Gefahrenschutzes (auch als Technischer Arbeitsschutz bezeichnet) ist der Schutz des Arbeitnehmers vor den aus den Betriebsanlagen und der Produktionsweise durch Unfälle, Berufskrankheiten und körperliche sowie psychische Belastungen drohenden Gefahren für Leben und Gesundheit.11 Dieses Ziel ist in § 3 des Arbeitsschutzgesetzes kodifiziert, der den sogenannten allgemeinen Betriebsschutz begründet. Die Grundpflichten des Arbeitgebers werden darin wie folgt definiert: „(1) Der Arbeitgeber ist verpflichtet, die erforderlichen Maßnahmen des Arbeitsschutzes unter Berücksichtigung der Umstände zu treffen, die Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten bei der Arbeit beeinflussen. Er hat die Maßnahmen auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen und erforderlichenfalls sich ändernden Gegebenheiten anzupassen. Dabei hat er eine Verbesserung von Sicherheit und Gesundheitsschutz der Beschäftigten anzustreben. (2) Zur Planung und Durchführung der Maßnahmen nach Absatz 1 hat der Arbeitgeber unter Berücksichtigung der Art der Tätigkeiten und der Zahl der Beschäftigten 1. für eine geeignete Organisation zu sorgen und die erforderlichen Mittel bereitzustellen sowie 2. Vorkehrungen zu treffen, dass die Maßnahmen erforderlichenfalls bei allen Tätigkeiten und eingebunden in die betrieblichen Führungsstrukturen beachtet werden und die Beschäftigten ihren Mitwirkungspflichten nachkommen können. 11 Rechtsquellen des Arbeitnehmerschutzes sind in erster Linie das Arbeitsschutzgesetz vom 07.08.1996, zuletzt geändert durch Gesetz vom 20.11.2019 und das Arbeitssicherheitsgesetz vom 12.12.1973, zuletzt geändert durch Gesetz vom 20.04.2013.

7.2 Einzelbereiche des Arbeitnehmerschutzes

149

(3) Kosten für Maßnahmen nach diesem Gesetz darf der Arbeitgeber nicht den Beschäftigten auferlegen.“

Daneben existieren zahlreiche weitere Rechtsquellen, die den Eigenheiten bestimmter Betriebsarten, wie z.B. von chemischen Betrieben, sowie spezifischen Schutzbedürfnissen von Personengruppen, z.B. Jugendlichen, Rechnung tragen. Insofern kann hier von einem besonderen Betriebsschutz gesprochen werden.12 Zum Schutz der Beschäftigten und zum Schutz Dritter dürfen nach § 11 des Gerätesicherheitsgesetzes sogenannte überwachungsbedürftige Anlagen nur mit behördlicher Erlaubnis betrieben werden und müssen regelmäßig durch amtliche oder amtlich anerkannte Sachverständige in Bezug auf die Einhaltung der technischen Mindestnormen überprüft werden. Ein besonderes Gewicht kommt dem Arbeitssicherheitsgesetz zu. Es verpflichtet die Arbeitgeber, im Zusammenwirken mit den Betriebsräten Betriebsärzte und Fachkräfte für Arbeitssicherheit zu bestellen. Unfallverhütungsvorschriften der Unfallversicherungsträger, die vom BMA genehmigt werden müssen, legen die für einzelne Betriebsarten erforderliche Zahl von Ärzten und Fachkräften fest. Zu den Rechtsquellen des Betriebsschutzes sind außerdem auch die von den Berufsgenossenschaften nach § 15 SGB VII zu erlassenden Unfallverhütungsvorschriften zu rechnen, die zum einen bestimmen, welche Einrichtungen, Anordnungen und Maßnahmen die Unternehmer zu treffen haben, um Arbeitsunfälle zu verhindern, und zum andern das von den versicherten Arbeitnehmern zur Verhütung von Unfällen erforderliche Verhalten festlegen. Die Instrumente des Gefahrenschutzes umfassen das Verbot gefährlicher Beschäftigungen für Jugendliche, die Festlegung von Mindestnormen und von Schutzvorrichtungen in Bezug auf die betrieblichen Einrichtungen, die Überwachung der Einhaltung von technischen Auflagen, Schutzbestimmungen und Unfallverhütungsvorschriften durch die Gewerbeaufsichtsämter und durch die Berufsgenossenschaften, den Einsatz von Sicherheitsbeauftragten sowie Geldbußen bei vorsätzlichen oder fahrlässigen Verstößen gegen Vorschriften der GUV. Eine Besonderheit stellt die Beitragsgestaltung der GUV dar. Die Beiträge zur Unfallversicherung werden nicht paritätisch, sondern ausschließlich vom Arbeitgeber aufgebracht. Darüber hinaus orientiert sich die Beitragshöhe nicht nur an der Lohnsumme, sondern auch an der Gefahrenklasse des Betriebs. Dadurch soll für die Arbeitgeber einen Anreiz zur Unfallverhütung gesetzt werden. 1996 wurde die Verordnung zur Umsetzung von EU-Einzelrichtlinien zur Rahmenrichtlinie Arbeitsschutz erlassen. Deren Normen regeln entsprechend den für das nationale Recht verbindlichen EU-Richtlinien zur Benutzung persönlicher Schutzausrüstungen, zur manuellen Handhabung von Lasten, zur Arbeit an Bildschirmgeräten und zur Gestaltung von Arbeitsstätten die Grundpflichten im betrieblichen Arbeitsschutz einheitlich für alle Tätigkeitsbereiche und Beschäftigungsgruppen. Sie schreiben aber nicht im Detail vor, welche Arbeitsschutzmaßnahmen in bestimmten Situationen zu ergreifen sind.

12

Erwähnt seien hier das Gesetz über technische Arbeitsmittel (Gerätesicherheitsgesetz), das durch zahlreiche Verordnungen ergänzt wird, das Gesetz zum Schutz vor gefährlichen Stoffen (Chemikaliengesetz), das Gesetz über die friedliche Verwendung der Kernenergie und den Schutz gegen ihre Gefahren (Atomgesetz), das Gesetz über explosionsgefährliche Stoffe (Sprengstoffgesetz), das Gesetz zur Regelung von Fragen der Gentechnik (Gentechnikgesetz), das Bundesberggesetz und die Arbeitsstättenverordnung, die die an Räume, an Verkehrswege und an Einrichtungen in Gebäuden zu stellenden allgemeinen Anforderungen enthält, insbes. die für Arbeitsräume, Pausen-, Bereitschafts-, Liegeräume und Sanitätsräume geltenden Mindestvorschriften.

150

7 Arbeitnehmerschutz

b) Wirkungen

100

1.0

Arbeitsunfälle (je 1.000 Vollarbeiter)

50 0

0.0

Meldepflichtige Arbeitsunfälle (je 1.000 Vollarbeiter)

250

1.5

150

2.0

200

Arbeitsunfälle (in Mio.)

0.5

Meldepflichtige Arbeitsunfälle (in Mio.)

2.5

3.0

300

Die Hauptwirkung des Gefahrenschutzes lässt sich an der Entwicklung der Zahl der Arbeitsunfälle ablesen. Wie Abbildung 7.1 zeigt, hat die Zahl der meldepflichtigen Arbeitsunfälle in Westdeutschland seit 1962 deutlich abgenommen. Im gesamten Bundesgebiet wurden 2017 955 Tsd. Arbeitsunfälle sowie 80 Tsd. Fälle des Verdachts auf Berufskrankheiten angezeigt. Auch die aussagekräftigere Zahl der meldepflichtigen Arbeitsunfälle je 1 000 Vollarbeiter ist kontinuierlich gesunken und lag im Jahr 2017 mit 22,5 so niedrig wie noch nie.13 Die Ausgaben der UV beliefen sich 2017 auf 14,9 Mrd. e (DGUV 2018, S. 60). Die volkswirtschaftlichen Kosten (für den Produktions- und Freizeitausfall sowie die Verwaltungs- und Rechtsfolgekosten) belaufen sich auf ein Mehrfaches dieser Summe. Für 2017 wird die durch Arbeitsunfähigkeit ausgefallene Bruttowertschöpfung auf 136 Mrd. e veranschlagt.14 Das macht deutlich, dass sich hohe Investitionen im Bereich des Gefahrenschutzes – abgesehen von der unbedingten humanitären Pflicht, die arbeitenden Menschen vor gesundheitlichen Gefährdungen zu schützen – auch wirtschaftlich lohnen.

1960

1970

1980

1990

2000

2010

Jahr

Quelle: Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin 2018. Ab 1991 einschl. der neuen Bundesländer.

Abb. 7.1: Angezeigte Arbeitsunfälle absolut und je 1 000 Vollarbeiter (1960-2017)

13 14

Quelle: Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin 2018, Tab. TM2 und TM8. Quelle: Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin 2019.

7.2 Einzelbereiche des Arbeitnehmerschutzes

151

c) Probleme Die günstige Entwicklung der Unfälle in der Bundesrepublik sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass Unfallschutz und -verhütung weiter ausbaufähig sind. Von den angesprochenen 955 Tsd. meldepflichtigen Arbeitsunfälle in 2017 waren 564 tödlich. Ein permanentes Problem stellen die Berufskrankheiten dar (vgl. Mehrtens/Valentin/Schönberger 2017). Sie werden v.a. durch chemische Stoffe, durch physische Einwirkungen (Druckluft, Wärme, Strahlen), Infektionserreger und andere Ursachen hervorgerufen. Die Liste der anerkannten Berufskrankheiten erfasst nach der Verursachung 80 Arten von Berufskrankheiten.15 Die Entwicklung der Berufskrankheiten bedarf ständiger Beobachtung. Während nämlich bestimmte Berufskrankheiten, z.B. die Silikose, mit Erfolg bekämpft werden, entstehen neue Berufskrankheiten, wie z.B. Lärmschwerhörigkeit oder Hautkrankheiten. Häufigste Berufskrankheit waren schwere Hautkrankheiten, gefolgt von Lärmschwerhörigkeit und Asbestose. Die Praxis der Anerkennung von Krankheiten als beruflich verursachte Schädigungen ist umstritten. So werden in den Ländern der Europäischen Union Krankheiten in unterschiedlichem Maß als berufsbedingt anerkannt (vgl. Elsner 2008). Es gibt eine Vielzahl von Krankheiten, die mit hoher Wahrscheinlichkeit berufliche Ursachen haben, ohne dass sie in Deutschland in die Liste der Berufskrankheiten aufgenommen worden sind.

7.2.3 Lohnschutz Ziel des Lohnschutzes ist die Sicherung pünktlicher und korrekter Auszahlung der Arbeitsentgelte. Er ist aber als Teil des Arbeitnehmerschutzes relativ unterentwickelt, weil er gleichzeitig Bestandteil des Arbeitsvertragsschutzes ist und weil der Arbeitsvertrag überwiegend durch das kollektive Arbeitsrecht geschützt wird. Zum Lohnschutz gehören das Truckverbot (§ 107 der GewO), die Sicherung von Teilen des Arbeitseinkommens vor Pfändungen (§§ 850 a und 850 b ZPO) und vor einer Aufrechnung durch den Arbeitgeber (§ 394 BGB) sowie der besondere Schutz von Lohnforderungen im Insolvenzfall. Danach sind Lohnforderungen, die nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstehen sowie Ansprüche aus einem Sozialplan vorrangig zu tilgende Masseverbindlichkeiten. Zu nennen ist ferner das Insolvenzgeld (vor Inkrafttreten der Insolvenzordnung: Konkursausfallgeld). Nach § 165 SGB III haben Arbeitnehmer, die bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens für die letzten dem Insolvenzereignis vorausgehenden drei Monate des Arbeitsverhältnisses noch Anspruch auf Arbeitsentgelt haben, Anspruch auf Zahlung von Insolvenzgeld in Höhe des rückständigen Nettoverdienstes und auf die entsprechenden Sozialversicherungsbeiträge. Der Anspruch besteht gegen die Bundesagentur für Arbeit. Die Bundesagentur wiederum belastet im Rahmen der Insolvenzgeldumlage (§ 358 SGB III) die Arbeitgeber mit den Kosten des Insolvenzgelds.

15

Stand gem. der Vierten Verordnung zur Änderung der Berufskrankheiten-Verordnung vom 10.07.2017.

152

7 Arbeitnehmerschutz

7.2.4 Bestandsschutz des Arbeitsverhältnisses a) Ziele, Rechtsquellen und Instrumente Ziel des Bestandsschutzes des Arbeitsverhältnisses ist es, den Arbeitnehmer vor einer ungerechtfertigten und kurzfristigen Auflösung des Arbeitsverhältnisses zu schützen (at will employment). Zentrale Rechtsgrundlage des Bestandsschutzes ist das Kündigungsschutzgesetz.16 Es gilt nicht für außerordentliche Kündigungen, d.h. für fristlose Kündigungen aus wichtigem Grund nach § 626 BGB. Nach dem Kündigungsschutzgesetz ist das Kündigungsrecht der Arbeitgeber insbes. wie folgt eingeschränkt: 1. Die Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines Arbeitnehmers, der in einem Betrieb mit mehr als zehn Arbeitnehmern ohne Unterbrechung länger als sechs Monate beschäftigt war, ist nur wirksam, wenn sie durch bestimmte Gründe sozial gerechtfertigt ist. Eine Kündigung gilt nach § 1 KSchG nur dann als sozial gerechtfertigt, wenn • sie durch Gründe bedingt ist, die in der Person des Arbeitnehmers liegen, wie z.B. Krankheit, mangelnde Eignung, Nachlassen der Arbeitsfähigkeit oder im Verhalten, z.B. in Pflichtverletzungen; • sie durch dringende betriebliche Erfordernisse bedingt ist, wie z.B. durch Auftragsmangel, Änderungen von Produktionsmethoden und Freisetzungen durch Rationalisierung. Bei der Auswahl der zu kündigenden Arbeitnehmer sind die Dauer der Betriebszugehörigkeit, das Lebensalter, die Unterhaltspflichten und eine Schwerbehinderung des Arbeitnehmers zu berücksichtigen (sog. „Sozialauswahl“). Die Beweispflicht dafür, dass eine ordentliche Kündigung sozial gerechtfertigt ist, liegt beim Arbeitgeber. 2. Ein Arbeitnehmer, der eine Kündigung für sozial ungerechtfertigt hält, kann beim Betriebsrat Einspruch einlegen. Wenn der Betriebsrat diesen Einspruch für begründet hält, ist er verpflichtet, eine Verständigung mit dem Arbeitgeber herbeizuführen (§ 3 KSchG). Der Arbeitnehmer kann darüber hinaus das Arbeitsgericht anrufen (§ 4 KSchG). Stellt das Gericht fest, dass das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung nicht aufgelöst ist, dass dem Arbeitnehmer aber eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nicht zuzumuten ist, dann hat das Gericht das Arbeitsverhältnis auf Antrag des Arbeitnehmers aufzulösen und den Arbeitgeber zur Zahlung einer Abfindung zu verurteilen (§ 9 KSchG). 3. Der Arbeitgeber ist verpflichtet, dem Arbeitsamt unter Beifügung der Stellungnahme des Betriebsrates schriftlich Anzeige zu erstatten, bevor er • in Betrieben mit in der Regel mehr als 20 und weniger als 60 Arbeitnehmern mehr als 5 Arbeitnehmer, • in Betrieben mit in der Regel mindestens 60 und weniger als 500 Arbeitnehmern 10 % der im Betrieb regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmer oder aber mehr als 25 Arbeitnehmer, • in Betrieben mit in der Regel mindestens 500 Arbeitnehmern mindestens 30 Arbeitnehmer

16

Kündigungsschutzgesetz (KSchG) von 1951 i.d.F. vom 25.08.1969 zuletzt geändert durch Gesetz vom 17.07.2017.

7.2 Einzelbereiche des Arbeitnehmerschutzes

153

innerhalb von 30 Kalendertagen entlässt (§ 17 KSchG). Solche „Massenkündigungen“ werden vor Ablauf eines Monats nach Eingang der Anzeige nur mit Zustimmung des Arbeitsamtes rechtswirksam. Das Arbeitsamt kann bestimmen, dass die Entlassungen nicht vor Ablauf von längstens zwei Monaten nach Eingang der Anzeige wirksam werden (§ 18 KSchG). Dadurch kann der Eintritt von Arbeitslosigkeit verlangsamt werden und das Arbeitsamt Zeit zur Vorbereitung von Maßnahmen gewinnen. 4. Die Kündigung eines Mitglieds eines Betriebsrates, einer Jugendvertretung oder einer Personalvertretung (in öffentlichen Unternehmen) ist unzulässig, wenn nicht Gründe vorliegen, die den Arbeitgeber ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist zu einer Kündigung berechtigen würden (§ 15 KSchG). Während ihrer Amtszeit und bis zu einem Jahr nach deren Beendigung kann der genannten Personengruppe nicht ordentlich gekündigt werden. Mit diesen Rechtsvorschriften soll den Betriebs- und Personalräten die für die Ausübung ihres Amtes nötige Unabhängigkeit gesichert werden und ausgeschlossen werden, dass der Arbeitgeber ihm unbequem erscheinende Betriebsratsmitglieder entlässt. 5. Besondere Kündigungsschutzbestimmungen gelten auch für Schwerbehinderte (§§ 85 ff. SGB IX), für werdende Mütter, denen während der gesamten Schwangerschaft und bis zum Ablauf von vier Monaten nach der Entbindung nicht gekündigt werden darf (§ 9 MuSchG) sowie für Erziehungspersonen, denen während der Elternzeit nicht gekündigt werden darf (§ 18 BEEG). Ein besonderer Schutz der Arbeitnehmer vor Entlassungen liegt darin, dass der Betriebsrat nach § 102 BetrVG vor jeder Kündigung zu hören ist und in bestimmten Fällen der Kündigung widersprechen kann. Die Fristen für ordentliche Kündigungen sind in § 622 BGB geregelt. Grundsätzlich kann das Arbeitsverhältnis mit einer Frist von vier Wochen zum 15. eines Monats oder zum Monatsende gekündigt werden (Grundkündigungsfrist).17 Innerhalb einer Probezeit von maximal 6 Monaten gilt eine auf 2 Wochen verkürzte Kündigungsfrist. Bei Arbeitnehmern, die mindestens zwei Jahre in einem Betrieb oder Unternehmen beschäftigt waren, steigen die Kündigungsfristen mit der Beschäftigungsdauer (siehe Tabelle 7.2). Dabei werden Beschäftigungszeiten, die vor der Vollendung des 25. Lebensjahres liegen, nicht berücksichtigt. Tabelle 7.2: Kündigungsfristen gem. § 622 BGB Beschäftigungsdauer

Kündigungsfrist

Beschäftigungsdauer

Kündigungsfrist

2 Jahre 5 Jahre 8 Jahre 10 Jahre

1 Monat 2 Monate 3 Monate 4 Monate

12 Jahre 15 Jahre 20 Jahre

5 Monate 6 Monate 7 Monate

Auf tarifvertraglicher Ebene können Regelungen getroffen werden, die günstiger sind als die gesetzlichen Mindestkündigungsfristen. Dabei wäre es unzulässig, Kündigungsfristen zu vereinbaren, die für die Arbeitnehmer länger sind als für den Arbeitgeber. Einzelvertraglich können nach § 622 Abs. 5 BGB kürzere Kündigungsfristen nur vereinbart werden, wenn 17

Arbeitgeber, die regelmäßig nicht mehr als 20 Arbeitnehmer beschäftigen, können mit Einverständnis des Arbeitnehmers eine kürzere Kündigungsfrist vereinbaren.

154

7 Arbeitnehmerschutz

• Arbeitnehmer nur zur Aushilfe nicht länger als 3 Monate beschäftigt werden oder • sich bei einem Arbeitgeber regelmäßig nicht mehr als 20 Arbeitnehmer ohne Auszubildende und geringfügig Beschäftigte in einem Arbeitsverhältnis befinden. Hierbei darf eine Kündigungsfrist von vier Wochen nicht unterschritten werden.

b) Wirkungen Für die geschützten Arbeitnehmer besteht die Hauptwirkung des Kündigungsschutzes im Schutz vor einer willkürlicher und kurzfristigen Entlassung. Der Ausbau des Bestandsschutzes des Arbeitsverhältnisses hat für den Arbeitsmarkt bedeutende Konsequenzen, die sich weniger aus den Kündigungsfristen ergeben als vielmehr aus dem Recht der Mitbestimmung des Betriebsrates bei Kündigungen nach § 102 BetrVG. Danach kann der Betriebsrat einer ordentlichen Kündigung widersprechen, wenn der zu kündigende Arbeitnehmer an einem anderen Arbeitsplatz im Betrieb oder in einem anderen Betrieb des Unternehmens weiterbeschäftigt werden kann oder wenn die Weiterbeschäftigung nach zumutbaren Umschulungs- und Fortbildungsmaßnahmen möglich ist (§ 102 Abs. 3 Z. 3 und 4 BetrVG), sowie aus dem Recht des Betriebsrates, zu verlangen, dass Arbeitsplätze, die besetzt werden sollen, vor ihrer Besetzung innerhalb des Betriebes ausgeschrieben werden (§ 93 BetrVG). Aus diesem starken Bestandsschutz können sich folgende Sekundärwirkungen ergeben: 1. Die optimale Allokation des Faktors Arbeit wird beeinträchtigt, wenn ein Beschäftigter nicht durch eine bessere, betriebsexterne Arbeitskraft ersetzt werden kann. 2. Es können sich weitgehend isolierte „interne“ Arbeitsmärkte herausbilden, weil frei werdende Plätze zunächst auf Verlangen der Betriebsräte durch innerbetriebliche Ausschreibung besetzt werden müssen. Dadurch wird die Segmentierung der Arbeitnehmer in Beschäftigte („Insider“) und Arbeitsuchende („Outsider“) zusätzlich verstärkt. Negative Effekte eines Bestandsschutzes des Arbeitsverhältnisses sind zu erwarten, wenn zwischen konkurrierenden Arbeitnehmergruppen verschiedener Qualifikation Unterschiede im Bestandsschutz existieren, die größer sind als die Unterschiede in der Arbeitsproduktivität. Wenn z.B. der Bestandsschutz der Arbeitsverhältnisse weiblicher Arbeitnehmer den Bestandsschutz der Arbeitsverhältnisse männlicher Arbeitnehmer wesentlich übersteigt, werden bei der Besetzung offener Stellen männliche Arbeitnehmer bevorzugt. Wenn die Entlassung älterer Arbeitnehmer im Vergleich zu jüngeren wesentlich erschwert wird, werden älter werdende Arbeitnehmer „rechtzeitig“, d.h. vor dem Erreichen bestimmter Altersgrenzen, freigesetzt. Unterschiede beim Kündigungsschutz können auf diese Weise zur Diskriminierung von bestimmten Arbeitnehmergruppen führen.

7.2 Einzelbereiche des Arbeitnehmerschutzes

155

Kündigungsschutz und Beschäftigung Die hohe und lang anhaltende Arbeitslosigkeit in den Jahren 1980 bis 2010 rückte die institutionellen Rigiditäten des deutschen Arbeitsmarktes in das Zentrum der beschäftigungspolitischen Diskussion. Der Arbeitnehmerschutz und hier insbesondere der Bestandsschutz des Arbeitsverhältnisses werden häufig als beschäftigungshemmende Einstellungsbarriere betrachtet, die für das hohe Niveau der strukturell verfestigten Arbeitslosigkeit mit verantwortlich gemacht wird. Deshalb forderten zahlreiche Arbeitsmarktökonomen, den Bestandsschutz des Arbeitsverhältnisses zu reformieren. Der Gesetzgeber kam dieser Forderung zumindest teilweise durch das Beschäftigungsförderungsgesetz von 1985, durch das arbeitsrechtliche Beschäftigungsförderungsgesetz von 1996 und durch das „Gesetz zu Reformen am Arbeitsmarkt“ vom 24.12.2003 nach. Durch diese Reformen wurde die Möglichkeit des Abschlusses befristeter Arbeitsverträge deutlich ausgeweitet, die Sozialauswahl bei betriebsbedingten Kündigungen konkretisiert und der Schwellenwert für die Anwendung des Kündigungsschutzgesetzes von 6 auf 11 Arbeitnehmer angehoben. Wie die Literatur zu diesem Thema zeigt, sind die Wirkungen des Bestandsschutzes auf den Beschäftigungsgrad einer Volkswirtschaft theoretisch unbestimmt (vgl. Jahn 2002 sowie die dort angegebene Literatur). Bestandsschutzkosten verringern zwar die Zahl der Neueinstellungen im Aufschwung, reduzieren aber gleichzeitig die Zahl der Entlassungen in der Abschwungphase. Der Kündigungsschutz reduziert somit die Volatilität der Arbeitsnachfrage. Wie sich der Kündigungsschutz langfristig auf das Niveau der Beschäftigung auswirkt, ist ohne genauere Kenntnis des Lohnbildungsprozesses und weiterer, den Beschäftigungsgrad beeinflussender institutioneller Faktoren nicht eindeutig bestimmbar. Empirische Untersuchungen zu den Beschäftigungswirkungen des Bestandsschutzes zeigen, dass die bisherigen Deregulierungsmaßnahmen keine signifikanten Arbeitsmarkteffekte zeitigen konnten (Althammer 2001, Bielenski/Kohler/Schreiber-Kittl 1994, Bonin 2004). Auch die OECD (1999) kommt in einer international vergleichenden Studie zu dem Ergebnis, dass die Rigidität der Bestandsschutzbestimmungen, also die Dauer des Kündigungsschutzes und die Höhe der Abfindungszahlungen, keinen statistisch nachweisbaren Effekt auf das Beschäftigungsniveau aufweist. Allerdings ändert sich mit der Rigidität des Bestandsschutzes die Struktur der Arbeitslosen und der Beschäftigten: Volkswirtschaften mit rigidem Bestandsschutz weisen in der Regel eine höhere Langzeitarbeitslosenquote und einen höheren Anteil befristeter Beschäftigungsverhältnisse auf. Ein rigider Bestandschutz wirkt also nicht notwendigerweise beschäftigungsfeindlich, führt jedoch u. U. zu einer Segmentierung des Arbeitsmarktes. Literatur Bielenski/Kohler/Schreiber-Kittl 1994; Jahn 2002; Bonin 2004; OECD 1999; OECD 2013.

c) Die Problematik eines „Rechts auf Arbeit“ Es ist keine Frage, dass angesichts der existenzsichernden Bedeutung der Möglichkeit ununterbrochenen Arbeitseinkommenserwerbs für die Mehrheit der Gesellschaftsmitglieder dem Bestandsschutz des Arbeitsverhältnisses eine zentrale sozialpolitische Bedeutung zukommt.18 Es ist allerdings unmöglich, einen vollständigen Bestandsschutz im Sinne der Sicherung eines bestimmten Arbeitsverhältnisses in einem bestimmten Betrieb mit einer bestimmten beruflichen Tätigkeit zu verwirklichen. Denn eine der wesentlichen Ursachen für das Versagen der Planwirtschaft war u. a. der Versuch, ein umfassendes Recht auf Arbeit zu verwirklichen. Die Vermeidung von offen ausgewiesener Arbeitslosigkeit wurde jedoch mit erheblichen Wohlfahrtsverlusten für die gesamte Bevölkerung erkauft. Die bestmögliche Überwindung der Knappheit, d. h. anders ausgedrückt die bei gegebener wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit maximale Erreichung gesellschaftlicher Ziele, setzt eine optimale Allokation der Produktionsfaktoren Boden, Kapital und 18

So auch Zöllner/Loritz/Hergenröder 2015, S. 339. Vgl. zu diesem Problemkreis und zur Geschichte des Rechts auf Arbeit auch Rath 1974 (mit Lit.).

156

7 Arbeitnehmerschutz

Arbeit voraus. Die Struktur der Beschäftigung muss daher sektoral, beruflich und regional so an die Veränderungen der Produktionsstruktur angepasst werden können, dass hohes Wachstum, hohe gesamtwirtschaftliche Produktivität und Vollbeschäftigung erreicht werden können. Die Lösung der Problematik eines „Rechts auf Arbeit“ kann in einem marktwirtschaftlichen System nur in der Weise gesucht werden, dass die Träger der Wirtschafts- und Sozialpolitik 1. den Arbeitnehmern Kündigungsfristen sichern, die ausreichend erscheinen, um eine echte Chance zu bieten, dass die Arbeitnehmer sich wirtschaftlich auf die Auflösung des Arbeitsverhältnisses einstellen und die Arbeitsplatzsuche einleiten können; 2. im Falle der Arbeitslosigkeit einen bestimmten Teil des Arbeitseinkommensausfalls ersetzen; 3. arbeitslosen Arbeitnehmern Umschulungs- und Fortbildungsmöglichkeiten anbieten; 4. einen leistungsfähigen Beratungs- und Arbeitsvermittlungsdienst anbieten; 5. die Bereitschaft Arbeitsloser zu beruflicher und regionaler Mobilität fördern; 6. gezielte Maßnahmen zur Förderung der Beschäftigung für Arbeitnehmer mit Vermittlungshemmnissen bereitstellen; 7. eine konsequente Vollbeschäftigungspolitik betreiben.

7.3 Sonderschutz für bestimmte Arbeitnehmer Die Darstellung der Einzelbereiche des Arbeitnehmerschutzes hat bereits erkennen lassen, dass es vor allem im Bereich des Arbeitszeitschutzes und des Kündigungsschutzes Sonderregelungen für bestimmte Gruppen gibt, mit denen spezifischen Schutzbedürfnissen bestimmter Personengruppen Rechnung getragen wird. Die wichtigsten dieser Regelungen sind im Folgenden skizziert. 1. Kinder und Jugendliche unter 15 Jahren dürfen nicht beschäftigt werden. Für Jugendliche sind bestimmte, ihre Gesundheit gefährdende Arbeiten sowie Nacht- und Sonntagsarbeit verboten. Es gelten besondere Arbeitszeitregelungen (vgl. JSchG). 2. Für Mütter sind bestimmte Arbeiten und Nachtarbeit verboten (§§ 4 und 8 MuSchG). Mütter dürfen sechs Wochen vor der Entbindung und acht Wochen nach der Entbindung nicht beschäftigt werden (§§ 3 und 6 MuSchG). Außerdem haben Mütter und Väter Anspruch auf Elternzeit bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres des Kindes.19 Während der Elternzeit ist eine Kündigung durch den Arbeitgeber unzulässig (§ 18 BEEG). 3. Um Schwerbehinderten eine für ihre soziale Integration und für ihre Persönlichkeitsentfaltung wichtige Beschäftigungschance zu geben, hat der Gesetzgeber bereits im Jahr 1953 ein Schwerbehindertengesetz verabschiedet, dessen Regelungen inzwischen im neunten Buch des SGB (Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen) enthalten sind. Danach ist privaten und öffentlichen Arbeitgebern, die über mindestens 16 Arbeitsplätze verfügen die Verpflichtung auferlegt, 5 % der Arbeitsplätze mit Schwerbehinderten20 zu besetzen (§ 71 SGB IX) oder eine Ausgleichsabgabe zu entrichten (§ 77). Diese Ausgleichsabgabe beträgt zwischen 19

Mit Einverständnis des Arbeitgebers kann ein Jahr der Elternzeit zwischen dem 3. und 8. Geburtstag des Kindes genommen werden (§ 15 Abs. 2 des BEEG). 20 Als Schwerbehinderte sind Personen zu verstehen, deren Leistungsfähigkeit nicht nur vorübergehend um wenigstens 50 % vom alterstypischen Zustand abweicht oder die – bei mindestens 30 %igem Behinderungsgrad – wegen Vermittlungsproblemen vom Arbeitsamt auf Antrag den Schwerbehinderten gleichgestellt werden (§ 2 Abs. 3 SGB IX).

7.4 Träger und Organe

157

105 und 260 e je unbesetztem Behindertenarbeitsplatz und wird der Finanzierung von Rehabilitationsaufgaben zugeführt. Schwerbehinderte müssen nach ihren Fähigkeiten und Kenntnissen beschäftigt werden und ihre Arbeitsplätze sind mit den erforderlichen technischen Arbeitshilfen zu versehen (§ 81). Weitere Maßnahmen zu Gunsten Schwerbehinderter sind das Erfordernis der Zustimmung des zuständigen Integrationsamtes, falls dem Schwerbehinderten gekündigt werden soll (§ 85), besondere Kündigungsfristen (§§ 86 und 91) sowie ein Anspruch auf einen Zusatzurlaub von fünf Tagen (§ 125). 4. Einen besonderen Schutz gibt das Heimarbeitsgesetz vom 14.03.1951, zuletzt geändert am 20.11.2019, Heimarbeitern.21 Das Gesetz verpflichtet die Auftraggeber, die Vergabe von Heimarbeit anzuzeigen, Listen über die Beschäftigung zu führen und die Entgeltverzeichnisse sowie die Vertragsbedingungen auszulegen. Neben dem Gefahrenschutz enthält das Heimarbeitergesetz einen Entgelt- und einen Kündigungsschutz.

7.4 Träger und Organe Neben den für die Arbeitnehmerschutzgesetzgebung zuständigen Trägern, nämlich Bundestag und Bundesrat, ist die Bundesregierung bzw. sind die Landesregierungen Träger des Arbeitnehmerschutzes, weil sie – bei einem Verzicht des BMA auf entsprechende Aktivitäten – besondere Vorschriften zur Durchführung des allgemeinen Gefahrenschutzes im Verordnungswege erlassen können. Als staatliche Organe für die Überwachung der Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften des allgemeinen Gefahrenschutzes, des Jugendarbeitsschutzes, des Mutterschutzes sowie des Arbeitszeitschutzes sind die Gewerbeaufsichtsbehörden zuständig. Die 1971 gegründete Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin in Dortmund hat u.a. die Aufgabe, die Unfallforschung zu fördern und zu koordinieren. Besonders unterstützt wird die staatliche Gewerbeaufsicht durch die Träger der gesetzlichen Unfallversicherung (Berufsgenossenschaften). Die Berufsgenossenschaften sind, da sie mit dem Recht ausgestattet sind, für ihre Gewerbebereiche Unfallverhütungsvorschriften zu erlassen, Träger des Gefahrenschutzes. Da sie zudem Überwachungsaufgaben in Bezug auf die Einhaltung der Unfallverhütungsvorschriften haben und an der prophylaktischen Unfallverhütung mitwirken, sind sie auch Organe des Gefahrenschutzes. Schließlich sind als bedeutende nichtstaatliche Organe des Arbeitnehmerschutzes die Betriebsund Personalräte zu erwähnen. Den Betriebsräten obliegt nach § 80 Abs. 1 BetrVG die Aufgabe, über die Durchführung der zugunsten der Arbeitnehmer geltenden Gesetze, Verordnungen und Unfallverhütungsvorschriften zu wachen; sie haben nach § 87 BetrVG Mitbestimmungsrechte in Bezug auf Regelungen über die Verhütung von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten; Mitbestimmungsrechte haben sie ferner in Bezug auf Regelungen über den Gesundheitsschutz. Die Mitbestimmungsrechte bei Kündigungen nach § 102 BetrVG wurden bereits erwähnt. Organ des Arbeitnehmerschutzes sind nach dem Arbeitssicherheitsgesetz auch die nach diesem Gesetz zu

21

Heimarbeiter, im Arbeitsrecht als „arbeitnehmerähnliche Personen“ bezeichnet, verrichten ihre Tätigkeit i. d. R. in der eigenen Wohnung. Der Arbeitgeber stellt die Produktionsmittel zur Verfügung und erwirbt auch das Eigentum am hergestellten Produkt. Der Heimarbeitnehmer unterliegt jedoch nicht dem Direktionsrecht des Arbeitgebers, d. h. er entscheidet selbständig über seine Arbeitszeit. Als moderne Form der Heimarbeit kann auch die computergestützte sog. Telearbeit angesehen werden.

158

7 Arbeitnehmerschutz

bestellenden Sicherheitsfachkräfte; diese haben an der Durchführung und Kontrolle betrieblicher Sicherheitsvorschriften und -verordnungen mitzuwirken.

7.5 Entwicklungstendenzen Im Bereich des Arbeitnehmerschutzes lassen sich folgende Entwicklungstendenzen feststellen: 1. die Tendenz vom speziellen zum generellen Arbeitnehmerschutz in personeller und sachlicher Hinsicht: der zunächst auf spezielle Arbeitergruppen, insbes. Jugendliche und Frauen, beschränkte Schutz wurde auf alle Arbeiter und dann auf alle Arbeitnehmer ausgedehnt und vom Arbeitszeit- und Lohnschutz über den Gesundheitsschutz hin zum Schutz des Bestandes der Arbeitsverhältnisse ausgeweitet; 2. die Verkürzung des Arbeitslebens durch Heraufsetzung des Berufseintrittsalters und Herabsetzung des Rentenbezugsalters sowie durch die Erhöhung der Zahl der Feiertage und durch die Verlängerung des Jahresurlaubs; 3. die Verstärkung der Gesundheits- und Gefahrenprophylaxe. Der sozialpolitisch motivierte Arbeitnehmerschutz ist durch seine Wirkungen auf das Arbeitskräftepotential zu einem wichtigen Sektor der Wirtschaftsgrundlagenpolitik geworden.

Literatur 1. Monografien und Aufsätze Albrecht 1955 (Lit. bis 1955) – Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2017a – Dütz/ Thüsing 2017 – Löwisch/Caspers/Klumpp 2017 – Zöllner/Loritz/Hergenröder 2015

2. Laufende Materialquellen und Periodika Arbeit. Zeitschrift für Arbeitsforschung, Arbeitsgestaltung und Arbeitspolitik, Stuttgart 1992 ff. Arbeit und Sozialrecht, Stuttgart 1952 ff. Bundesarbeitsblatt, Bonn 1949 ff. Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht München 1984 ff. Recht der Arbeit. Zeitschrift für die Wissenschaft und Praxis des gesamten Arbeitsrechts, München 1948 ff. Zeitschrift für Arbeitsrecht, Köln 1970 ff. Zeitschrift für Arbeitsrecht und Sozialrecht, Wien 1966 ff. Zeitschrift für Arbeitswissenschaft, Stuttgart 1947 ff. Zentralblatt für Arbeitsmedizin, Arbeitsschutz und Ergonomie, Darmstadt 1950 ff.

Kapitel 8

Arbeitsmarktpolitik

8.1 Definition, Notwendigkeit und Ziele Die Arbeitsmarktpolitik lässt sich definieren als die Gesamtheit der Maßnahmen, die das Ziel verfolgen, den Arbeitsmarkt so zu beeinflussen, dass für alle Arbeitsfähigen und Arbeitswilligen eine ununterbrochene, ihren Neigungen und Fähigkeiten entsprechende Beschäftigung zu bestmöglichen Bedingungen gesichert wird. Die Arbeitsmarktpolitik umfasst nach dieser Definition die Arbeitsmarktausgleichspolitik, die Arbeitsmarktordnungspolitik und die Beschäftigungspolitik. In der Literatur wird darüber hinaus auch zwischen „aktiver“ und „passiver“ Arbeitsmarktpolitik unterschieden. Die „aktive“ Arbeitsmarktpolitik umfasst dabei alle Maßnahmen, die das Ziel verfolgen, Erwerbslose in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Die Instrumente entsprechen den Maßnahmen der Arbeitsmarktausgleichspolitik. Ziel der „passiven“ Arbeitsmarktpolitik ist es, die wirtschaftlichen Folgen der Arbeitslosigkeit für die Betroffenen durch Geldleistungen abzumildern. Diese monetären Leistungen werden in den Kapiteln 10 (Arbeitslosenversicherung) und 11 (Grundsicherung für Arbeitsuchende) behandelt. Die Notwendigkeit einer Arbeitsmarktpolitik ergibt sich aus der Unvollkommenheit der Arbeitsmärkte und aus der Tatsache, dass die Bedingungen der marktmäßigen Verwertung der Arbeitskraft für die Lebenslage der unselbständig Erwerbstätigen von ausschlaggebender Bedeutung sind. Denn mit den Beschäftigungsmöglichkeiten und den Beschäftigungsbedingungen wird entschieden über • die Höhe und Stetigkeit des Arbeitseinkommens; • die Höhe und Regelmäßigkeit der Beitragsleistungen der Arbeitnehmer zum System der sozialen Sicherung und damit über das durch eigene Leistung erworbene Anspruchsvolumen gegenüber der Sozialversicherung; • die Beitragseinnahmen des Sozialhaushalts, d.h. über das ökonomische Fundament des Systems sozialer Sicherung; • den Umfang der Ausgaben für Arbeitslose, für ihre Familien und für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit; • die Höhe des Sozialproduktes und d.h. über jene Größe, die Grundlage für die realwirtschaftliche Absicherung jeder sozialpolitischen Maßnahme ist; • den realen Gehalt des Rechtes auf freie Arbeitsplatz- und Berufswahl, der in hohem Maße vom Beschäftigungsgrad abhängt;

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© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2021 J. Althammer et al., Lehrbuch der Sozialpolitik, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56258-1_8

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8 Arbeitsmarktpolitik

• die faktischen Möglichkeiten der Berufs- und Arbeitsausübung und damit über die faktischen Möglichkeiten der freien Entfaltung der Persönlichkeit im Erwerbsleben. Aus diesen Gründen kommt der Arbeitsmarktpolitik für die Qualität staatlicher Sozialpolitik eine Schlüsselrolle zu. Das bereits definierte Ziel der Arbeitsmarktpolitik ist eine Konsequenz aus Art. 2 (Grundrecht der freien Entfaltung der Persönlichkeit), Art. 12 (Freiheit der Berufs- und Arbeitsplatzwahl), Art. 20 und Art. 28 (Sozialstaatsprinzip) des GG. Es ist aber auch im Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft von 1967 (§ 1) und im dritten Buch des SGB verankert.1 Die Arbeitsmarktpolitik umfasst folgende Aufgaben:2 1. Kurzfristig sind Umfang und Struktur der Arbeitsnachfrage und des Arbeitskräfteangebots gegeben. Hier stellt sich die Aufgabe, die vorhandenen Arbeitsplätze mit den geeignetsten Arbeitskräften zu besetzen (optimale Allokation des Faktors Arbeit). Die Beseitigung sog. „friktioneller mismatch-Arbeitslosigkeit“ ist eine Aufgabe der Arbeitsmarktausgleichspolitik, insbes. der Arbeitsmarktvermittlung und Berufsberatung. 2. Bei konjunkturell bedingten Ungleichgewichten des Gesamtarbeitsmarktes ergibt sich die Notwendigkeit einer am Vollbeschäftigungsziel orientierten Wirtschaftspolitik. Dies ist die Aufgabe der Beschäftigungspolitik. 3. Bei langfristigen Ungleichgewichten zwischen der Struktur der Arbeitsnachfrage und des Arbeitskräfteangebots stellt sich die Aufgabe, die Qualifikationsstruktur des Arbeitskräftepotenzials an die Erfordernisse der Arbeitsnachfrage anzupassen. Die Bekämpfung sog. „struktureller mismatch-Arbeitslosigkeit“ ist ebenfalls Aufgabe der Arbeitsmarktausgleichspolitik, insbes. der Aus- und Weiterbildung sowie der Umschulung. 4. Da die Arbeitsmarktpolitik neben einem hohen Beschäftigungsgrad auch bestmögliche Beschäftigungsbedingungen (Löhne, Arbeitszeiten etc.) gewährleisten soll, müssen Instrumente gefunden werden, die beide Ziele nach Möglichkeit simultan erreichen. Dies ist vor allem Aufgabe des Lohnbildungsprozesses, der in freiheitlichen Wirtschaftssystemen im Wesentlichen Gegenstand der Arbeitsmarktordnungspolitik ist. Grundsätzliche Alternativen sind • die Festlegung der Beschäftigungsbedingungen durch den freien Arbeitsvertrag, • kollektivvertragliche Vereinbarungen zwischen den Tarifvertragsparteien (Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände) oder • gesetzliche Regelungen (z. B. gesetzlicher Vorgaben über Mindestarbeitsbedingungen). Wie bereits in der Einleitung erwähnt, sind Beschränkungen der individuellen Vertragsfreiheit in einer marktwirtschaftlichen Ordnung stets rechtfertigungsbedürftig. Deshalb müssen zunächst 1

§ 1 Abs. 1 SGB III lautet: „Die Arbeitsförderung soll dem Entstehen von Arbeitslosigkeit entgegenwirken, die Dauer der Arbeitslosigkeit verkürzen und den Ausgleich von Angebot und Nachfrage auf dem Ausbildungsund Arbeitsmarkt unterstützen. Dabei ist insbesondere durch die Verbesserung der individuellen Beschäftigungsfähigkeit Langzeitarbeitslosigkeit zu vermeiden. [...] Die Arbeitsförderung soll dazu beitragen, dass ein hoher Beschäftigungsstand erreicht und die Beschäftigungsstruktur ständig verbessert wird. Sie ist so auszurichten, dass sie der beschäftigungspolitischen Zielsetzung der Sozial-, Wirtschafts- und Finanzpolitik der Bundesregierung entspricht.“. Damit sind die beschäftigungspolitischen Ziele deutlich zurückhaltender formuliert als in der Vorgängerregelung, dem Arbeitsförderungsgesetz (AFG) vom 25.06.1969. 2 Vgl. zu den Zielen der Arbeitsmarktpolitik Bogedan/Bothfeld/Sesselmeier 2012 sowie Lampert/Englberger/ Schüle 1991.

8.2 Die Transformation des freien Arbeitsmarkts

161

die Gründe aufgezeigt werden, welche eine staatliche Regulierung der Arbeitsbeziehungen und der Vertragsverhältnisse zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern erforderlich machen.

8.2 Die Transformation des freien, unvollkommenen Arbeitsmarktes in den institutionalisierten, organisierten Markt Die Arbeitsmarktpolitik geht von der Annahme aus, dass der freie Arbeitsmarkt die o. a. gesellschaftlichen Ziele nicht erreichen kann und deshalb staatlicher Regulierung bedarf. Der Arbeitsmarkt gilt als ein typisch unvollkommener Markt, d. h. er ist durch folgende Eigenheiten gekennzeichnet: 1. Er besteht aus einer Vielzahl von Teilmärkten, die fachlich-beruflich, personell und räumlich differenziert sind. Die fachlich-berufliche Differenzierung wird durch Qualifikationsunterschiede der Arbeitskräfte innerhalb bestimmter Berufe und durch persönliche Unterschiede (Geschlecht, Alter, Familienstand der Arbeitskräfte) verstärkt. Die Segmentierung der Elementararbeitsmärkte, die durch die Heterogenität der Arbeitskräfte verursacht ist, wird noch dadurch verstärkt, dass der Arbeitsmarkt kein Punktmarkt ist, sondern in eine große Zahl regionaler und lokaler Arbeitsmärkte untergliedert ist. Diese Teilarbeitsmärkte stehen – je nach den räumlichen Entfernungen zwischen den Märkten, den Mobilitätskosten und der regionalen Mobilitätsbereitschaft der Arbeitnehmer – mehr oder minder unverbunden nebeneinander. 2. Die Unvollkommenheit der Arbeitsmärkte wird durch eine mangelhafte Markttransparenz verstärkt. In dem Maße, in dem Arbeitnehmern die Lage auf den für ihre Entscheidungen relevanten Arbeitsmärkten in Bezug auf Beschäftigungsgrad, Arbeitseinkommen, freiwillige Sozialleistungen etc. nicht oder nur unzulänglich bekannt ist, ist die Interdependenz zwischen den Arbeitsmärkten eingeschränkt. Dieser hohe Grad an Unvollkommenheit, der die Entstehung von Ungleichgewichten auf einzelnen Arbeitsmärkten begünstigt und die Beseitigung struktureller Ungleichgewichte erschwert, war auf den freien und unorganisierten Arbeitsmärkten mit einer für die Arbeitnehmer nachteiligen Arbeitsmarktform verbunden: Eine hohe Zahl von Arbeitskräften (ein „atomisiertes“ Arbeitsangebot) konkurrierte um die von einem oder von wenigen Arbeitgebern angebotenen Arbeitsplätze bzw. reagierte „anomal“ (vgl. dazu S. 31 ff.). Mit der Aufhebung der Koalitionsverbote für Arbeitnehmer und der Anerkennung der Gewerkschaften und der Arbeitgebervereinigungen als Tarifvertragsparteien begann die Transformation der freien, unvollkommenen Arbeitsmärkte in organisierte und institutionalisierte Märkte. Die Transformation der Arbeitsmärkte bestand aber nicht nur in dieser staatlich sanktionierten, von den Gewerkschaften und den Arbeitgeberverbänden realisierten Marktformenänderung, sondern auch in Verbesserungen der Marktverfassung. Mit der Zahlung von Arbeitslosenunterstützung, Reisegeld und Umzugsunterstützung für Mitglieder und mit der Einrichtung von Arbeitsvermittlungsstellen als Konkurrenz zu gewerbsmäßigen, gebührenpflichtigen Stellenvermittlungen übernahmen die Gewerkschaften die Rolle von Vorläufern staatlicher Arbeitsmarktpolitik. Die Arbeitsmärkte wurden dann von Seiten des Staates durch die Einrichtung von Arbeitsämtern institutionalisiert. Die nach dem Ersten Weltkrieg aufgebaute reichseinheitliche Arbeitsverwaltung mit ihren zahlreichen Arbeitsämtern wurde zu einer Institution ausgebaut,

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8 Arbeitsmarktpolitik

die die Aufgaben der Erhöhung der Markttransparenz, der Berufsberatung, der Arbeitsvermittlung, der Förderung der räumlichen und der beruflichen Mobilität der Arbeitskräfte, kurz, die Aufgaben der Arbeitsmarktausgleichspolitik, zu erfüllen hatte. Der hohe Grad an Unvollkommenheit der Arbeitsmärkte und die sich daraus für die Funktionsfähigkeit der Märkte ergebenden Probleme haben sich nicht nur in den Aufgaben niedergeschlagen, die in der folgenden Darstellung der Arbeitsmarktausgleichspolitik zu behandeln sind, sondern auch in der speziellen Aufgabe der Bundesagentur für Arbeit, Markttransparenz zu schaffen: „Die Bundesagentur hat Lage und Entwicklung der Beschäftigung und des Arbeitsmarktes im Allgemeinen und nach Berufen, Wirtschaftszweigen und Regionen sowie die Wirkungen der aktiven Arbeitsförderung zu beobachten, zu untersuchen und auszuwerten, indem sie 1. Statistiken erstellt, 2. Arbeitsmarkt- und Berufsforschung betreibt und 3. Bericht erstattet“ (§ 280 SGB III). Dieser Forschungsauftrag wird vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) wahrgenommen.3

8.3 Einzelbereiche der Arbeitsmarktpolitik 8.3.1 Arbeitsmarktausgleichspolitik Aus den Unvollkommenheiten der unorganisierten Arbeitsmärkte ergibt sich die Notwendigkeit, den Marktausgleich durch die Instrumente staatlicher Arbeitsmarktpolitik zu verbessern. Hierzu zählen • • • •

die die die die

Arbeitsvermittlung und die Berufsberatung; Mobilitäts- und Ausbildungsförderung; Arbeitsplatzerhaltungs- und Arbeitsplatzbeschaffungspolitik; Arbeitsmarktpolitik für Arbeitsuchende mit Vermittlungshemmnissen.

a) Arbeitsvermittlung und Berufsberatung Die Arbeitsvermittlung ist der klassische Bereich der Arbeitsmarktausgleichspolitik. Sie hat die Aufgabe, Arbeitssuchende mit Arbeit anbietenden Arbeitgebern zusammenzuführen (§ 35 SGB III). Da sich eine ausschließlich gewerbsmäßige Arbeitsvermittlung sowie die gemeinnützige und die kommunale Stellenvermittlung sowie die Stellenvermittlung durch Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften als unzureichend erwiesen haben,4 wurde durch das Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) vom 16.07.1927 die staatliche Arbeitsver3

Das IAB ist Teil der Bundesagentur, aber räumlich, organisatorisch und personell vom Verwaltungsbereich der Bundesagentur getrennt (§ 282 SGB III). 4 Die Unzulänglichkeit der gemeinnützigen und der kommunalen Stellenvermittlung lag in der lokalen bzw. regionalen Begrenztheit sowie in der schmalen Informationsbasis der Vermittler begründet. Die Probleme der Arbeitsvermittlung durch Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände resultierten insbes. aus Konflikten zwischen den Interessen dieser Organisationen als Interessenverband und der Aufgabe neutraler Vermittlung: Die arbeitgebernahen Vermittlungsstellen präferierten bei der Vermittlung „loyale“, arbeitskampfunwillige Arbeitskräfte, die Gewerkschaften präferierten Gewerkschaftsmitglieder und streikwillige Arbeitnehmer. Vgl. dazu Albrecht 1955, S. 178 ff. und Preller 1970, S. 40 ff. (1. Halbbd.).

8.3 Einzelbereiche der Arbeitsmarktpolitik

163

mittlung eingerichtet. Ab 1931 besaßen die Arbeitsämter ein Vermittlungsmonopol, das 1994 gelockert5 und mit dem Gesetz zur Reform der Arbeitsverwaltung und der Arbeitsvermittlung vom 27.03.2002 abgeschafft wurde. Eine Sonderform der Arbeitsvermittlung ist die gewerbsmäßige Arbeitnehmerüberlassung (Leih- bzw. Zeitarbeit). Dabei werden Arbeitnehmer zeitlich befristet an ein anderes Unternehmen ausgeliehen. Bei der Arbeitnehmerüberlassung fallen also Arbeitsvertrag und Arbeitsleistung auseinander: der Arbeitsvertrag besteht zwischen dem arbeitgebenden Unternehmen (dem Verleiher) und dem Arbeitnehmer, die Arbeitsleistung wird für das entleihende Unternehmen erbracht. Die Arbeitnehmerüberlassung ist durch das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz geregelt.6 Die gewerbliche Arbeitnehmerüberlassung ist erlaubnispflichtig. Leiharbeitnehmer genießen gegenüber dem Verleiher die gleichen Schutzrechte wie regulär Beschäftigte. Die Arbeitnehmerüberlassung wurde durch das „Erste Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ („Hartz I“) vom 01.01.2003 auch von der staatlichen Arbeitsvermittlung eingesetzt (vgl. hierzu S. 170). Über sog. „Personal-Service-Agenturen“ (PSA) konnten Arbeitslose an gewerbliche Zeitarbeitsunternehmen vermittelt werden, die diese Arbeitnehmer anschließend weiterverliehen. Dabei wurde den Personal-Service-Agenturen für die Dauer der Beschäftigung eines vormals Arbeitslosen eine tägliche Fallpauschale sowie eine Prämie für jede erfolgreiche Vermittlung ausgezahlt. Ziel dieser Arbeitnehmerüberlassung war es, den Unternehmen die Möglichkeit zu geben, Arbeitnehmer relativ kostengünstig und risikofrei kennenzulernen und über „Klebe- und Brückeneffekte“7 die Beschäftigungschancen der Arbeitslosen zu erhöhen. Aufgrund von Interessenkonflikten zwischen PSA und öffentlicher Arbeitsvermittlung8 , der geringen Nachfrage und den ausbleibenden Vermittlungserfolgen9 wurde diese Form der Arbeitsvermittlung im Jahr 2008 wieder abgeschafft. Bei der öffentlichen Arbeitsvermittlung sind folgende Grundsätze zu beachten: 1. die Unentgeltlichkeit der Vermittlung; allerdings kann das Arbeitsamt von Arbeitgebern für eine Vermittlung mit überdurchschnittlich hohen Aufwendungen Gebühren erheben (§ 42 SGB III); 2. die Unparteilichkeit, d. h. dass die Agentur für Arbeit Einschränkungen, die der Arbeitgeber hinsichtlich Geschlecht, Alter, ethnischer Herkunft, Religionszugehörigkeit oder Weltanschauung sowie Partei- oder Verbandszugehörigkeit vornimmt nur berücksichtigen darf, wenn diese Einschränkungen für die auszuübende Tätigkeit unerlässlich nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz zulässig sind (§ 36 Abs. 2 SGB III); 3. die Gesetzmäßigkeit der Vermittlung: das Arbeitsamt darf nicht vermitteln, wenn ein Ausbildungs- oder Arbeitsverhältnis begründet werden soll, das gegen ein Gesetz oder die guten Sitten verstößt. In einem durch einen Arbeitskampf unmittelbar betroffenen Bereich darf es 5

Diese Lockerung wurde notwendig, da das Vermittlungsmonopol gegen Europäisches Recht verstieß; vgl. EuGH, Urteil vom 23.04.1991, C-41/90. 6 Vgl. Gesetz zur Regelung der Arbeitnehmerüberlassung (Arbeitnehmerüberlassungsgesetz - AÜG) vom 07.08.1972, zuletzt geändert am 15.08.2019. 7 „Klebeeffekt“ bedeutet, dass der Arbeitslose eine dauerhafte Anstellung bei der Zeitarbeitsfirma findet, „Brückeneffekt“, dass der Arbeitslose in das entleihende Unternehmen übernommen wird. 8 Dieser Interessenkonflikt resultiert daraus, dass die PSA in Konkurrenz zu den gewinnorientierten Zeitarbeitsfirmen tritt und deshalb an gut qualifizierten und leicht vermittelbaren Arbeitnehmern interessiert ist. Das Ziel einer öffentlichen Arbeitsvermittlung muss es aber sein, vor allem Arbeitnehmer mit Vermittlungshemmnissen in den Arbeitsmarkt zu integrieren. 9 Vgl. Bernhard 2008 sowie die Ausführungen zu den Hartz-Reformen auf Seite 170.

164

8 Arbeitsmarktpolitik

nur dann vermitteln, wenn der Arbeitsuchende und der Arbeitgeber dies trotz eines Hinweises auf den Arbeitskampf verlangen (§ 36 Abs. 1 SGB III). Die Effizienz der staatlichen Arbeitsvermittlung hängt entscheidend vom Einschaltungsgrad der Arbeitsämter ab, der wiederum durch die Meldung offener Stellen von Seiten der Arbeitgeber einerseits und durch die Beanspruchung der Leistungen der Arbeitsämter durch die Arbeitsplatzsuchenden andererseits bestimmt wird. Die Einschaltung der staatlichen Arbeitsvermittlung in den Stellenbesetzungsprozess wird mit zwei Indikatoren gemessen: die Meldequote und den Einschaltungsgrad. Die Meldequote ist eine Bestandsgröße und gibt das Verhältnis der von den Arbeitgebern gemeldeten offenen Stellen an allen unbesetzten Arbeitsstellen an.10 Der Einschaltungsgrad ist eine Stromgröße und misst den Anteil der Abgänge von gemeldeten Arbeitsstellen an allen begonnenen sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen. Die Meldequote lag in den letzten Jahren zwischen 40-55 % mit einem Einschaltungsgrad um 20 %.11 Ein Indikator zur Messung der Matchingeffizienz am Arbeitsmarkt ist die Beveridge-Kurve. Sie bildet grafisch das Verhältnis zwischen Vakanzquote (v), das ist die Relation von offenen Stellen zur Anzahl der Erwerbspersonen, und der Arbeitslosenquote (u), also des Anteils der registrierten Arbeitslosen an allen Erwerbspersonen, ab. Die Beveridge-Kurve verläuft im v-uDiagramm fallend und i. d. R. konvex. Ein stilisierter Verlauf der Beveridge-Kurve ist in der Abbildung 8.1 wiedergegeben. Vakanzquote (v)

u=v

a1

v1

v2,3

a3

a2 BC1

BC2

u3

u1

u2

Arbeitslosenquote (u)

Abb. 8.1: Stilisierter Verlauf der Beveridge-Kurve

10

Das gesamtwirtschaftliche Stellenangebot wird im Rahmen einer Repräsentativbefragung durch das IAB ermittelt. 11 Vgl. Bundesagentur für Arbeit (2017): Analyse der gemeldeten Arbeitsstellen sowie IAB-Stellenerhebung (www.iab.de/stellenerhebung).

8.3 Einzelbereiche der Arbeitsmarktpolitik

165

4 2

2011−2018

1960−1974

2005−2010 1975−1982

0

Vakanzquote

6

8

Ein Punkt auf der Winkelhalbierenden zeigt an, dass der Arbeitsmarkt im Aggregat ausgeglichen ist: die Zahl der Arbeitsuchenden ist genauso groß wie die Zahl der unbesetzten Stellen. In diesem Fall ist die registrierte Arbeitslosigkeit ausschließlich auf strukturelle Unterschiede zwischen Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage zurückzuführen. Der Abstand von der Winkelhalbierenden gibt den Umfang der niveaubedingten Arbeitslosigkeit an. Eine Bewegung entlang der Beveridge-Kurve nach rechts unten (von a1 nach a2 ) indiziert eine Zunahme der niveaubedingten Arbeitslosigkeit bei gegebener Matching-Effizienz. In diesem Fall steigt die Arbeitslosigkeit (von u1 auf u2 ), während gleichzeitig die Zahl der offenen Stellen abnimmt (von v1 auf v2,3 ). Eine Verschiebung der Beveridge-Kurve nach innen (von BC1 auf BC2 ) zeigt eine Verbesserung der Effizienz des Matching-Prozesses an. In diesem Fall sinkt die Arbeitslosigkeit bei gegebener Zahl der offenen Stellen. Ein Problem bei der empirischen Bestimmung der Beveridge-Kurve ist die geringe Meldequote der offenen Stellen. Würde man für die Berechnung der Vakanzen nur die amtlich registrierten offenen Stellen verwenden, so würde man die Vakanzquote deutlich unterschätzen. Deshalb wird die Zahl der Vakanzen um die (geschätzte) Meldequote korrigiert. Das Verhältnis zwischen der korrigierten Vakanzquote und der Arbeitslosenquote für die Jahre 1960 bis 2012 ist in der Abbildung 8.2 wiedergegeben.

0

2

4

6

8

10

12

Arbeitslosenquote

Quelle: Arbeitsmarktstatistik der Bundesagentur für Arbeit: Statistik der Arbeitslosen und gemeldeten Stellen, 2019; eigene Berechnungen.

Abb. 8.2: Die Beveridge-Kurve für Deutschland (1959-2018) Diese Abbildung macht folgendes deutlich:

166

8 Arbeitsmarktpolitik

1. Die Arbeitslosigkeit in Deutschland ist ganz überwiegend niveau-, nicht mismatch-bedingt. Mit nur wenigen Ausnahmen ist der Abstand der Punkte im u-v-Diagramm von der Winkelhalbierenden größer als der Abstand der Winkelhalbierenden von der Ordinate (v-Achse). 2. Die konjunkturellen Abschwungphasen sind mit steigenden Arbeitslosenquoten und sinkenden Vakanzquoten verbunden. 3. Es gibt Anzeichen dafür, dass sich die Beveridge-Kurve seit 2005 nach innen verschoben hat. Dies wäre ein Indiz für eine verbesserte Matching-Effizienz am Arbeitsmarkt.12 Mit der Arbeitsvermittlung eng verbunden ist die Beratung. Zum Beratungsangebot gehört zum einen die Berufsberatung (§ 30 SGB III). Sie umfasst Auskunft und Rat zur Berufswahl, zur beruflichen Entwicklung und zum Berufswechsel. Ein weiterer Bereich ist die Arbeitsmarktberatung (§ 34 SGB III). Sie soll dazu beitragen, die Arbeitgeber bei der Besetzung von Ausbildungsund Arbeitsstellen zu unterstützen. Die Berufsberatung hat die Aufgabe, den Informationsstand der Auszubildenden bei der Entscheidung über die Ausbildungs- und Berufswahl zu erhöhen. Ein Problem der Beratung ist die hohe Unsicherheit über die Entwicklung auf den Teilarbeitsmärkten. Denn mit zunehmender Prognosedauer nimmt die Zuverlässigkeit der Stellenbedarfsprognosen ab. Deswegen gilt Berufsberatung nicht mehr als eine einmalige Aufgabe am Scheideweg zwischen allgemeinem und beruflichem Bildungsweg, sondern als wiederkehrende, kontinuierlich den Bildungs- und Berufsweg begleitende Orientierungshilfe, die auch die Berufslaufbahn- und die Berufswechselberatung einschließt.

b) Ausbildungsförderung und Mobilitätsförderung Die Ausbildungsförderung, verstanden als Förderung der beruflichen Ausbildung (§§ 59 bis 76 SGB III) und der beruflichen Weiterbildung (§§ 77 bis 95 SGB III), folgt „zum einen aus der Überlegung, dass das gesamte Arbeitspotential im Zuge der technischen und sozialen Entwicklung generell einer steten Höherqualifizierung bedarf und andererseits aus der Überlegung, dass der Zusammenhang zwischen Wachstum und Strukturwandel es mit sich bringt, dass für die gesamte Aktivitätsdauer eines Berufstätigen nicht mehr mit der Werterhaltung einmal gewonnener formaler Qualifikation gerechnet werden kann“ (Mertens/Kühl 1988, S. 287). Auszubildende haben einen Anspruch auf Berufsausbildungshilfe, wenn sie • außerhalb des Elternhauses wohnen oder die Ausbildungsstätte von der elterlichen Wohnung aus nicht in angemessener Zeit erreichen können, • die Bildungsmaßnahme zur Vorbereitung auf eine Berufsausbildung oder zur beruflichen Eingliederung erforderlich ist und • wenn die Leistungen des Auszubildenden erwarten lassen, dass er das Ziel der Maßnahme erreicht (§§ 59 bis 64 SGB III). Die Hilfe soll den Bedarf für den Lebensunterhalt, die Fahrkosten und die Lehrgangskosten abdecken (§§ 65 bis 69 SGB III), wobei das Einkommen des Auszubildenden, seines Ehegatten und seiner Eltern anzurechnen ist. Die individuellen Förderungsmaßnahmen zur beruflichen Weiterbildung, die die berufliche Umschulung einschließt, sind Kann-Leistungen (§ 81 SGB III).13 Die Förderungsleistungen um12

Vgl. hierzu Klinger/Rothe 2012 und Klinger/Weber 2012. Voraussetzung ist, dass a) die Weiterbildung notwendig ist, um einen Arbeitslosen beruflich einzugliedern, eine drohende Arbeitslosigkeit abzuwenden oder die Weiterbildung wegen fehlenden Berufsabschlusses als 13

8.3 Einzelbereiche der Arbeitsmarktpolitik

167

fassen die Lehrgangskosten, Fahrkosten, die Kosten für auswärtige Unterbringung und Verpflegung und die Kosten für die Betreuung von Kindern (§ 83 ff. SGB III). Anstelle einer direkten Förderung einer Maßnahme kann die Agentur für Arbeit auch einen „Bildungsgutschein“ ausgeben, der zeitlich und regional sowie auf bestimmte Bildungsziele begrenzt sein kann. Der Arbeitnehmer kann diesen Gutschein bei einem zugelassenen Bildungsträger seiner Wahl einlösen. Die Bildungsträger müssen ein System der Qualitätssicherung anwenden und nachweisen. Die Agentur für Arbeit verfügt über umfangreiche Informations-, Kontrollund Sanktionsrechte (§ 81 Abs. 4 SGB III).

c) Arbeitsförderung und Maßnahmen zur Aktivierung Die Maßnahmen der Arbeitsförderung zielen darauf ab, strukturelle Arbeitsmarktungleichgewichte zu verhindern bzw. abzubauen. Die wesentlichen Maßnahmen zur Erhaltung von Arbeitsplätzen sind die Zahlung von Kurzarbeitergeld (§§ 95 ff. SGB III) sowie – als Sonderform – das Saison-Kurzarbeitergeld (§§ 101-109 SGB III). Kurzarbeitergeld wird bei vorübergehendem Arbeitsausfall gewährt, wenn zu erwarten ist, dass durch das Kurzarbeitergeld den Arbeitnehmern die Arbeitsplätze und den Betrieben die eingearbeiteten Arbeitskräfte erhalten werden können. Das Kurzarbeitergeld beträgt für Arbeitnehmer mit mindestens einem Kind 67 %, für die übrigen Arbeitnehmer 60 % der Nettoentgeltdifferenz im Anspruchszeitraum (§ 105 SGB III) und wird im bis zu maximal zwölf Monaten für die Ausfallstunden gewährt (§ 104 SGB III). Kurzarbeitergeld wird gezahlt, wenn der Arbeitsausfall erheblich ist. Ein erheblicher Arbeitsausfall liegt vor, wenn • der Arbeitsausfall auf wirtschaftlichen Ursachen einschließlich betrieblicher Strukturveränderungen oder auf einem unabwendbaren Ereignis beruht, • der Arbeitsausfall unvermeidbar und vorübergehend ist und • mindestens ein Drittel der im Betrieb Beschäftigten von einem Verdienstausfall von mindestens 10 % betroffen ist (§ 96 SGB III). Ziel der Regelung ist es, einen temporären Arbeitsmangel gleichmäßig auf die Beschäftigten zu verteilen. Dadurch soll bei einem kurzfristigen Absatzrückgang eine „Hortung“ von Arbeitskräften gefördert werden, um die bei einer Kündigung und anschließenden Wiedereinstellung anfallenden Fluktuationskosten (labour turnover costs) zu vermeiden. Dieses Ziel wurde insbesondere während der Rezession 2008/2009 verfolgt, als die Zahl der Kurzarbeiter im zweiten Quartal 2009 auf mehr als 1,4 Mio. Personen anstieg. 2010 lag diese Zahl wieder bei weniger als 250 000 Personen. Anspruch auf Saison-Kurzarbeitergeld haben Beschäftigte während der „Schlechtwetterzeit“ (1. Dezember bis 31. März), die im Baugewerbe oder in einer anderen saisonabhängigen Branche beschäftigt sind. Ziel des Saison-Kurzarbeitergeldes ist die Vermeidung von saisonaler Arbeitslosigkeit. Die Arbeitsaufnahme wird auch dadurch gefördert, dass Arbeitslose bei Tätigkeiten und Maßnahmen, die zur Verbesserung ihrer Eingliederungsaussichten beitragen (Trainingsmaßnahmen), befristet Arbeitslosengeld I oder II erhalten und Lehrgangskosten erstattet werden (§ 48 ff. SGB III). notwendig anerkannt ist, b) eine Beratung durch die Agentur für Arbeit erfolgt ist und c) die Maßnahme und der Träger der Maßnahme für die Weiterbildungsförderung zugelassen sind.

168

8 Arbeitsmarktpolitik

Ein in der Vergangenheit wichtiges Instrument der Arbeitsmarktpolitik waren die Maßnahmen zur Arbeitsbeschaffung.14 Dahinter stand die Überlegung, dass es ökonomisch sinnvoller sei, statt der Arbeitslosenunterstützung Ausgaben zur Beschaffung von Arbeitsplätzen zu finanzieren. Das Hauptinstrument der Arbeitsbeschaffung war die Zahlung von Zuschüssen an die Träger von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Voraussetzung für die Leistung von Zuschüssen war, dass es sich um Arbeiten handelte, die im öffentlichen Interesse lagen und ohne diese Förderung nicht, nicht in demselben Umfang oder erst zu einem späteren Zeitpunkt durchgeführt worden wären. Aufgrund der geringen Effizienz der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen wurden diese Instrumente durch das Gesetz zur Verbesserung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt vom 20.12.2011 mit Wirkung zum 01.04.2012 gestrichen (Wegfall des sechsten Kapitels SGB III). Als einziges Instrument der Beschäftigung schaffenden Maßnahmen existieren mittlerweile nur noch die Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung gem. § 16d SGB II, besser bekannt als „Ein-Euro-Jobs“.

d) Arbeitsmarktpolitik für Arbeitsuchende mit Vermittlungshemmnissen Als Arbeitnehmer mit Vermittlungshemnissen bezeichnet man Arbeitslose, die aufgrund persönlicher Merkmale besondere Schwierigkeiten haben, sich in den Arbeitsmarkt einzugliedern. Dazu zählen ältere Arbeitnehmer, Langzeitarbeitslose, Geringqualifizierte sowie Jugendliche ohne abgeschlossene Berufsausbildung. Eine besondere Gruppe stellen Behinderte und Schwerbeschädigte dar, die schwer zu vermitteln sind, für deren Lebenslage aber die Möglichkeit der Integration in die Arbeitswelt und damit in die Gesellschaft besonders bedeutsam ist. Im Rahmen des Bundesteilhabegesetzes wird dafür zur Zeit die gesetzliche Grundlage im SGB stark reformiert. Hierbei ist das Ziel die Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen stufenweise aus dem Sozialhilferecht (SGB XII) zu lösen und in eines Teil 2 des SGB IX zu überführen. Während die ersten zwei von vier Reformstufen schon 2017 und 2018 in Kraft getreten sind, sind die weiteren für 2020 und 2023 geplant. Auf die Verbesserung der beruflichen Chancen von Jugendlichen und Menschen mit Behinderung ist eine ganze Reihe von Maßnahmen gerichtet.15 Zu nennen sind insbes.: 1. die Maßnahmen zur Teilhabe behinderter Menschen am Arbeitsleben (7. Abschnitt SBG III; §§ 112-128 SGB III). Behinderte haben u. a. Anspruch auf Übernahme der Kosten für eine berufsqualifizierende Maßnahme sowie monetäre Leistungen in Höhe des Arbeitslosengeldes für die Dauer dieser Maßnahme (Übergangsgeld), 2. die berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahmen (§ 51 SGB III). Zielgruppe dieser Maßnahmen sind junge Menschen ohne Schulabschluss oder Ausbildungsstelle sowie Jugendliche mit Migrationshintergrund. Gefördert werden der nachträgliche Erwerb eines Hauptschulabschlusses, Betriebspraktika sowie berufliche Grundfertigkeiten, 3. die Berufsausbildungsbeihilfe (§§ 56-72 SGB III). Jugendliche, die Leistungen nach dem Berufsausbildungsförderungsgesetz erhalten und während ihrer Berufsausbildung extern untergebracht sind, erhalten Leistungen zur Deckung des Lebensunterhalts sowie für Fahrtkosten. 14

Diese Maßnahmen wurden früher als „produktive Erwerbslosenfürsorge“, „wertschaffende Arbeitslosenhilfe“ oder „Notstandsprogramm“ bezeichnet. 15 Bis 2013 erhielten Arbeitnehmer, die das 50. Lebensjahr vollendet und ihre Arbeitslosigkeit durch Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit beenden hatten, einen Zuschuss zum Arbeitsentgelt (sog. „Entgeltsicherung für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer“ (§ 417 SGB III).

8.3 Einzelbereiche der Arbeitsmarktpolitik

169

Millionen

Die Entwicklung ausgewählter Instrumente der aktiven Arbeitsmarktpolitik seit 2000 ist in der Abbildung 8.3 wiedergegeben.

Ak vierung und beru iche Eingliederung 1,5 Berufswahl und Berufsausbildung Beru iche Weiterbildung 1,25

Aufnahme einer Erwerbstä gkeit besondere Maßnahmen zur Teilhabe von Menschen mit Behinderungen Beschäigung schaffende Maßnahmen

1

0,75

0,5

0,25

0 2001

2002

2003

2004

2005

2006

2007

2008

2009

2010

2011

2012

2013

2014

2015

2016

2017

Quelle: Bundesagentur für Arbeit (Hrsg.): Arbeitsmarkt in Deutschland - Zeitreihen bis 2017, Tabelle 10.1; eigene Berechnungen.

Abb. 8.3: Teilnehmerbestand ausgewählter Instrumente der aktiven Arbeitsmarktpolitik Diese Abbildung macht folgendes deutlich: • Durch die Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik wurden im vergangenen Jahrzehnt im Durchschnitt über 800 000 Personen gefördert. Dadurch wurde der Arbeitsmarkt erkennbar entlastet. • Mit der Verbesserung der Beschäftigungssituation ab 2009 ist die Zahl der durch Maßnahmen Geförderten ebenfalls rückläufig. • Die Struktur der Maßnahmen hat sich erkennbar verändert. Die Beschäftigung schaffenden Maßnahmen und die Maßnahmen zur Förderung der Selbständigkeit wurden zunächst ausgeweitet, sind jedoch seit 2009 absolut und relativ rückläufig. Rückläufig sind auch die Maßnahmen zur Qualifizierung.

170

8 Arbeitsmarktpolitik

e) Wirksamkeit der Maßnahmen Die Wirksamkeit der Maßnahmen aktiver Arbeitsmarktpolitik ist seit langem umstritten.16 Die möglichen Effekte der aktiven Arbeitsmarktpolitik lassen sich in die direkten Wirkungen auf den Teilnehmer der Maßnahme und die indirekten Wirkungen auf Dritte unterteilen. Eine direkte Wirkung ist zunächst der temporäre Beschäftigungseffekte der Maßnahme. Durch die Übernahme in ein gefördertes Beschäftigungsverhältnis wird der Arbeitnehmer zumindest für die Dauer der Maßnahme in den Arbeitsmarkt integriert und zählt somit nicht mehr als arbeitslos. Des Weiteren kann sich durch die Maßnahme die Produktivität der Arbeitsuchenden erhöhen, so dass ihre Wiedereingliederungschancen in den ersten Arbeitsmarkt steigen. Empirische Untersuchungen haben jedoch gezeigt, dass sich die Vermittlungschancen des geförderten Personenkreises auch verschlechtern können, da die Geförderten während der Maßnahme eigene Suchanstrengungen unterlassen (lock in Effekt) und die Teilnahme an einer staatlich geförderten Maßnahme von potentiellen Arbeitgebern als negatives Signal interpretiert wird. Die indirekten Wirkungen lassen sich unterscheiden in • Mitnahmeeffekte. Unter einem Mitnahmeeffekt versteht man die Tatsache, dass ein bestimmte Vermittlungsergebnis auch ohne staatliche Förderung zustande gekommen wäre; • Substitutionseffekte. Darunter versteht man die Verdrängung ungeförderter Arbeitnehmer durch Beschäftigte, die eine staatliche Förderung erhalten; • Verdrängungseffekte. Diese entstehen, wenn Unternehmen, die subventionierte Arbeitnehmer beschäftigen, hierdurch einen Kostenvorteil erhalten und ihren Marktanteil zu Lasten der Unternehmen mit regulär beschäftigten Arbeitnehmern ausweiten können; • Aufkommenseffekte. Diese Effekte beziehen sich auf die Finanzierung der Maßnahmen durch Steuern und Sozialabgaben. Die Erhöhung dieser Abgaben kann den gesamtwirtschaftlichen Beschäftigungsgrad negativ beeinflussen. Die empirische Evidenz zeigt, dass die Effektivität der Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik in hohem Maße von dem jeweiligen Instrument abhängt.17 So weisen Maßnahmen zur Unterstützung bei der Arbeitssuche sehr positive Ergebnisse auf, wobei diese Maßnahmen auch relativ kostengünstig sind. Fortbildungs- und Qualifikationsmaßnahmen zeigen langfristig positive Effekte, wobei erfolgreiche Maßnahmen sehr kostenintensiv sind. Durchgängig negative Effekte zeigen Beschäftigungsprogramme im öffentlichen Dienst. Die „Hartz“-Reformen am Arbeitsmarkt Die Instrumente der aktiven und passiven Arbeitsmarktpolitik wurden in den Jahren 2003 bis 2005 durch die vier „Gesetze für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ („Hartz I-IV“) grundlegend umgestaltet. Im August 2002 legte die von der Bundesregierung nach der öffentlichen Diskussion um fehlerhafte Vermittlungsstatistiken der Bundesanstalt für Arbeit einberufene Kommission „Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ unter Leitung des damaligen VW-Personalvorstands, Peter Hartz, ihren Bericht mit Vorschlägen zum Abbau der Arbeitslosigkeit und zur Umstrukturierung der ehem. Bundesanstalt für Arbeit vor. Der erste Schritt zur Umsetzung der Kommissionsvorschläge erfolgte bereits zum 01.11.2002 (unterhalb der Gesetzesebene) mit dem Start des Programms „Kapital für Arbeit“, mit dem der Kommissionsvorschlag

16

Zur Kritik an der Effizienz arbeitsmarktpolitischer Instrumente vgl. bereits Votteler 1984 und Lampert/ Englberger/Schüle 1991, Kap. I. sowie Hagen/Steiner 2000. 17 Eine Synopse der empirischen Evidenz findet sich bei Kluve 2013.

8.3 Einzelbereiche der Arbeitsmarktpolitik

171

des „Job-Floaters“ umgesetzt wurde. Sofern ein Unternehmen einen Arbeitslosen dauerhaft einstellt, erhält es einen Förderkredit von bis zu 100 000 e über eine Laufzeit von bis zu zehn Jahren, der so ausgestaltet ist, dass das Unternehmen dadurch eigenkapitalähnliche Mittel zu günstigen Konditionen erhält. Dieses Programm wurde jedoch kaum angenommen und Ende 2004 eingestellt. Am 01.01.2003 trat das Erste Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt (Hartz I) in Kraft. Kernstück des Gesetzes war die flächendeckende Einrichtung von sog. „Personal-Service-Agenturen“ (PSA), die die Aufgaben der Arbeitnehmerüberlassung, Qualifizierung und Weiterbildung von Arbeitslosen übernehmen. Jedes Arbeitsamt war angehalten, über einen Vertrag mit einem bereits am Markt tätigen Verleiher eine Personal-Service-Agentur einrichten. Nur wenn solche Verträge nicht zustande kommen, konnte sich das Arbeitsamt an einem Verleihunternehmen beteiligen oder im Ausnahmefall selbst eine Personal-Service-Agentur gründen. Die Agentur verleiht Arbeitslose an Unternehmen mit dem Ziel, diese in ein unbefristetes Beschäftigungsverhältnis zu vermitteln. Ausleihefreie Zeiten sollen zur Qualifizierung und Weiterbildung genutzt werden. Des Weiteren wurden mit dem Wegfall der Dynamisierungen von Sozialleistungen, der Verschärfungen bei den Sperrzeiten und den Zumutbarkeitsregelungen Änderungen im Bereich der passiven Arbeitsmarktpolitik vorgenommen. Zentrales Element des zweiten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt (Hartz II) vom 30.12.2002 war die Neuregelung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse, die am 01.04.2003 in Kraft getreten ist („Mini-“ und „Midijobs“). Die für die Beschäftigten abgaben- und steuerfreie Verdienstgrenze wurde von 325 e auf 400 e (seit 2019: 450 e) angehoben („Minijob“). Diese Beschäftigungsverhältnisse unterliegen einer pauschalen Abgaben- und Steuerbelastung in Höhe von 30 %, die vom Arbeitgeber zu entrichten sind. Minijobs in Privathaushalten sind nur mit 12 % belastet und können vom privaten Arbeitgeber bis zu 510 e steuerlich abgesetzt werden. Im gewerblichen wie im Haushaltsbereich muss der Arbeitgeber zusätzlich 1,6 % an die gesetzlichen Unfallversicherungsträger abführen. Diese Regelungen gelten auch für geringfügig Nebenbeschäftigte. Neu ist auch die Gleitzone zwischen 400 e bis 800 e („Midijob“), in der die Sozialabgaben stufenweise für den Arbeitnehmer bis zum hälftigen Satz ansteigen (seit 2019: 450,01 e - 1300 e). Ein zweites Element war das Instrument der „Ich-AGs“ bzw. „Familien-AGs“. Darunter sind Existenzgründungszuschüsse zu verstehen, welche eine Selbständigkeit von Arbeitslosen fördern sollen. Sofern das Einkommen aus selbständiger Tätigkeit bestimmte Grenzen nicht überstieg, erhielten Arbeitslose, die ein Einzelunternehmen gründeten, einen degressiven Existenzgründungszuschuss für die Dauer von drei Jahren. Alternativ konnte für die Existenzgründung aus der Arbeitslosigkeit auch Überbrückungsgeld für sechs Monate in Höhe des Arbeitslosengeldes in Anspruch genommen werden. Diese Regelungen sind am 31.06.2006 ausgelaufen und wurden zum 01.08.2006 durch den Gründungszuschuss ersetzt, der die vorangegangenen Regelungen zusammenführt. Schließlich wurden Arbeits- und Sozialämter zu sog. „Job-Centern“ zusammengefasst. Dazu bilden Kommunen und Arbeitsagenturen sog. „Arbeitsgemeinschaften (ARGEn)“, die das Job-Center einrichten. Dieses Job-Center ist zuständig für die Anwendung des SGB II, also für die Auszahlung der Transferleistungen und die Vermittlung der Arbeitsuchenden in den Arbeitsmarkt. Durch das dritte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt (Hartz III) wurde die Bundesanstalt für Arbeit zur Bundesagentur für Arbeit umstrukturiert; die Landesarbeitsämter wurden zu Regionaldirektionen, die Arbeitsämter zu Agenturen für Arbeit. Kernstück des vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt (Hartz IV) war die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe für erwerbsfähige Hilfebedürftige und ihre Angehörigen zur „Grundsicherung für Arbeitssuchende“ im SGB II. Die Geldleistung schließt an das Arbeitslosengeld an (Arbeitslosengeld II). Die Leitungsgewährung ist mit einem Fallmanagement durch die Arbeitsagentur verbunden, das über eine Eingliederungsvereinbarung, die Leistungen und Eigenbemühungen festlegt, schnelle Vermittlung in Arbeit garantieren soll. Zuverdienstmöglichkeiten sollen Anreize zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit setzen; bei mangelnder Eigeninitiative und Ablehnung zumutbarer Erwerbstätigkeit oder einer Eingliederungsmaßnahme werden die Leistungen spürbar gekürzt. Der Leistungsbezieher ist verpflichtet, jede zumutbare Arbeit anzunehmen (die Regelungen zur Zumutbarkeit finden sich im § 10 SGB II). Eine Tätigkeit gilt nicht allein deshalb als unzumutbar, weil sie nicht der Ausbildung oder der früheren Tätigkeit des Arbeitsuchenden entspricht. Ein weiteres Element im Rahmen der „Hartz IV“-Regelungen sind die „Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung“, besser bekannt als „Ein-Euro-Jobs“.18 Ziel dieser Maßnahme ist es, Langzeitarbeitslose an eine reguläre Beschäftigung heranzuführen. Dabei handelt es sich um staatlich bezuschusste Arbeitsgele-

172

8 Arbeitsmarktpolitik

genheiten, die im öffentlichen Interesse liegen. Der Leistungsempfänger erhält neben den Grundsicherungsleistungen eine Entschädigung für den entstandenen Mehraufwand. Diese öffentlich geförderten Beschäftigungsmöglichkeiten dürfen nur angeboten werden, wenn sie keine regulären Arbeitsplätze gefährden. Die „Hartz-Reformen“ wurden einer umfangreichen empirischen Evaluation unterzogen. Diese Studien zeigen, dass die Instrumente nur in beschränktem Umfang dazu beigetragen haben, die Situation auf dem deutschen Arbeitsmarkt zu verbessern. Das Arbeitsministerium fasst die Evaluationsergebnisse wie folgt zusammen: • „Quasi-marktlich organisierte Vermittlungsdienstleistungen verbessern die Chancen der Geförderten auf eine Integration in den Arbeitsmarkt nicht generell, sondern instrumentenspezifisch nur für bestimmte Gruppen von Arbeitsuchenden. • Die Förderung der beruflichen Weiterbildung und auch die ehemaligen nichtbetrieblichen Trainingsmaßnahmen leisten einen Beitrag zur Eingliederung der Geförderten in den Arbeitsmarkt, wobei die Wirkungen mit Zeitverzögerung auftreten und teils nicht sehr stark ausgeprägt sind. • Betriebsnahe Instrumente der aktiven Arbeitsmarktpolitik, die auf die direkte Eingliederung in den ersten Arbeitsmarkt setzen, wie Eingliederungszuschüsse, Gründungsförderung oder die ehemaligen betrieblichen Trainingsmaßnahmen, gehören zu den Maßnahmen, die die Chancen der Teilnehmenden auf eine Integration in Erwerbsarbeit auch nach Ablauf der Förderung erhöhen – und das teilweise beträchtlich. Allerdings besteht bei ihnen ein Mitnahme- und Substitutionsrisiko. • Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen schaden der Tendenz nach eher den Integrationschancen der Geförderten. Es gibt nur ganz wenige – in der Regel arbeitsmarktferne – Teilnehmergruppen, auf die dies nicht zutrifft. Für die neuen, im Jahre 2005 eingeführten Arbeitsgelegenheiten hingegen sind die Evaluationsergebnisse verhalten positiv.“ Insbesondere wird kritisiert, dass die öffentlich geförderte Beschäftigung das Beschäftigungsproblem teilweise noch verschärft, da während der Förderphase eine eigenständige Suche der Arbeitslosen unterbleibt und private Anbieter auf dem Markt verdrängt werden. Literatur Zu den Ergebnissen der Evaluation der Arbeitsmarktreformen vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2011 sowie Heyer et al. 2012. Zu den Gründen für den Beschäftigungszuwachs in Deutschland seit 2006 vgl. Dustmann et al. 2014.

8.3.2 Arbeitsmarktordnungspolitik 8.3.2.1 Grundproblematik Die grundsätzliche Notwendigkeit einer ordnungspolitischen Ausgestaltung der Arbeitsmärkte wurde bereits angesprochen.19 Aufgrund von Marktunvollkommenheiten kann die freie Aushandlung von Löhnen und Arbeitsbedingungen dazu führen, dass der Faktor Arbeit unterhalb des ökonomischen Werts der Faktorleistung (dem Grenzerlösprodukt der Arbeit) entlohnt wird. Diese Differenz (die sog. „monopsonistische Ausbeutung“) ist dabei umso höher, je unelastischer das Arbeitsangebot auf Lohnänderungen reagiert. 19

Vgl. dazu die Abschnitte „Trennung von Kapital und Arbeit“, S. 29 und „Arbeitsmarktverfassung und Arbeitsmarktlage“, S. 30 ff. sowie „Die Transformation des freien, unvollkommenen Arbeitsmarktes in den institutionalisierten, organisierten Markt“, S. 161 f. Vgl. dazu und zum Folgenden auch Franz 2013, Kap. 7. sowie Boeri/van Ours 2013.

8.3 Einzelbereiche der Arbeitsmarktpolitik

173

Ein weiteres Problem ist die Zurechnung des ökonomischen Gewinns auf die an der Produktion beteiligten Produktionsfaktoren. In einer kapitalistischen Unternehmensverfassung steht die Dispositionsbefugnis über die Unternehmenspolitik, den Faktoreinsatz und die Verwendung des erwirtschafteten Gewinns ausschließlich den Unternehmenseigentümern (shareholder) zu. Die Leistung des Faktors Arbeit gilt mit der Zahlung des vertraglich vereinbarten Entgeltes als abgegolten – unabhängig von dem erst später bei der wirtschaftlichen Verwertung des Arbeitsproduktes feststellbaren ökonomischen Wert der Arbeitsleistung. Die Dispositionsbefugnis der Unternehmenseigentümer über den ökonomischen Gewinn wird damit begründet, dass die Eigenkapitalgeber im Fall des wirtschaftlichen Misserfolgs auch die ökonomischen Verluste zu tragen hätten (Prinzip der Einheit von Risiko, Kontrolle und Gewinn). Dieses Argument ist jedoch ökonomisch nicht haltbar, da neben den Kapitaleignern auch die Arbeitnehmer ein unternehmerisches Risiko tragen. Denn im Fall eines Auftrags- oder Gewinnrückgangs müssen die Beschäftigten Einkommensverluste in Kauf nehmen oder sie sind von Arbeitslosigkeit betroffen. In beiden Fällen erleiden sie einen Verlust ihres Humanvermögens. (vgl. hierzu Kapitel 13). Und schließlich gibt es auch keine Möglichkeit, das optimale Lohnniveau oder den optimalen Lohnerhöhungsspielraum mit wissenschaftlichen Methoden zu bestimmen. Denn dazu müsste eine empirisch gehaltvolle und realitätsnahe Theorie existieren, die den am Produktionsprozess beteiligten Faktoren Arbeit, Kapital und Unternehmerleistung ihren jeweiligen Anteil am Produktionsertrag, insbes. am technischen Fortschritt, zurechnet. Diese Aufgabe kann die ökonomische Theorie jedoch nicht leisten. Es wurde zwar immer wieder versucht, Leitlinien für eine beschäftigungskonforme Lohnpolitik zu formulieren.20 Im Kern handelt es sich dabei um Varianten der sog. „produktivitätsorientierten Lohnpolitik“. Darunter versteht man die wirtschaftspolitische Forderung, wonach sich die Erhöhung der Nominallöhne an der Steigerung der gesamtwirtschaftlichen Arbeitsproduktivität orientieren soll. Die theoretische Grundlage dieser Lohnleitlinie ist die einzelwirtschaftliche Gewinnmaximierungsbedingung. Sei p der Produktpreis, Y (L) das von der Beschäftigungsmenge L abhängige Produktionsvolumen und w der Lohnsatz, so lautet die Optimierungsvorschrift für das Unternehmen bei vollständiger Konkurrenz auf den Güter- und Faktormärkten G = p · Y (L) − w · L.

(8.1)

∂Y ∂G =p· −w =0 ∂L ∂L

(8.2)

Aus der Bedingung erster Ordnung

erhält man als Optimalitätsbedingung ∂Y w = . ∂L p

(8.3)

Ein gewinnmaximierendes Unternehmen wird seine Nachfrage nach Arbeitskräften solange ausdehnen, bis der Reallohn ( wp ) dem Grenzwertprodukt des Faktors Arbeit ( ∂Y ∂L ) entspricht. Somit gibt der Zuwachs der Arbeitsproduktivität den Spielraum für beschäftigungsneutrale Lohnerhöhungen an. 20

Zur Diskussion um beschäftigungsorientierte Lohnleitlinien vgl. Wansleben 1986, Althammer 1994 sowie Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung 2008, S. 463 ff.

174

8 Arbeitsmarktpolitik

Die Ansätze zur Bestimmung einer Lohnleitlinie sind jedoch in der Literatur äußerst umstritten. Denn alle Parameter, die für die Höhe des Beschäftigungsgrads ausschlaggebend sind, wie die Arbeitsproduktivität, das inländische Preisniveau, die Kapitalkosten oder die terms of trade sind gesamtwirtschaftlich keine gegebenen Größen, sondern verändern sich nicht zuletzt aufgrund der Lohnpolitik. Insofern ist es nicht möglich, eine wissenschaftlich fundierte Prognose für eine stabilitätskonforme Lohnpolitik abzugeben. Es lässt sich lediglich ex post bestimmen, in welchem Umfang die Lohnpolitik den Verteilungsspielraum in der Vergangenheit ausgeschöpft hat. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung weist in seinen Jahresgutachten den lohnpolitischen Verteilungsspielraum und dessen Ausschöpfungsgrad durch die Lohnpolitik aus (vgl. Abb. 8.4). Dabei stellt ein positiver Wert für den Ausschöpfungsgrad eine Überbeanspruchung des Verteilungsspielraums dar, ein negativer Wert zeigt an, dass die Lohnforderungen hinter dem Verteilungsspielraum zurückgeblieben sind. 5.0

Arbeitsproduktivität

2.5

0.0

−2.5 2000

2005

2010

2015

Jahr Inflation

Arbeitsproduktivität

Nominallöhne

Quelle: Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 2017/18, S. 125.

Abb. 8.4: Lohnpolitischer Verteilungsspielraum und Ausschöpfungsgrad Die Abbildung macht folgendes deutlich:

8.3 Einzelbereiche der Arbeitsmarktpolitik

175

• Die Lohnpolitik hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten am Verteilungsspielraum orientiert. Im längerfristigen Vergleich hat sich die Über- und die Unterbeanspruchung des Verteilungsspielraums weitgehend ausgeglichen. • Die Tarifpolitik folgt der wirtschaftlichen Entwicklung mit einer zeitlichen Verzögerung. • Insbesondere in Phasen hoher wirtschaftlicher Volatilität weicht der Ausschöpfungsgrad deutlich vom Verteilungsspielraum ab. Und schließlich impliziert eine produktivitätsorientierte Lohnpolitik die Konstanz der funktionalen Einkommensverteilung. Dies geht bereits aus der Definitionsgleichung für die Lohnquote – das ist der Anteil der Lohnsumme am nominalen Bruttoinlandsprodukt – hervor. Bezeichne LS = w · L die Lohnsumme, ferner P das gesamtwirtschaftlichen Preisniveau und Y r das reale bzw. Y n das nominale Güterangebot, so gilt: LS w·L = Yn P ·Yr

(8.4)

Die durchschnittliche Arbeitsproduktivität (qL ) ist das Verhältnis zwischen realem Güteranger bot und Beschäftigungsmenge: qL = YL . Somit gilt für die Lohnquote w/P LS = . Yn qL

(8.5)

Wenn sich der Reallohn (w/P ) entsprechend der Arbeitsproduktivität (qL ) entwickelt, so bleiben die Beschäftigungsmenge und die Lohnquote konstant.

8.3.2.2 Lösungsmöglichkeiten Wenn man den freien Marktmechanismus als unzulänglich erachtet, um die allokativen und verteilungspolitischen Probleme auf dem Arbeitsmarkt zu lösen, so kommen als Preisbildungsmechanismen noch in Frage: 1. kollektive Verhandlungen zwischen tariflich gebundenen Arbeitnehmern und Arbeitgebern, d. h. die Tarifautonomie; 2. die Ausweitung der tarifvertraglichen Normen auf tariflich nicht gebundene Arbeitnehmer und Unternehmen (Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen); 3. die staatliche Festsetzung von Mindestlöhnen.

a) Tarifautonomie Die Tarifautonomie lässt sich definieren als das Recht der Arbeitsmarktparteien, unbeeinflusst von Dritten, insbes. vom Staat, Arbeitsvertragsbedingungen zu vereinbaren, die als Mindestarbeitsbedingungen für alle dem Vertrag unterliegenden Arbeitnehmer und Arbeitgeber zwingend sind. Die Tarifautonomie entspricht nicht nur dem Ziel der Selbstverwaltung in sozialen Angelegenheiten, sondern auch dem Ziel, einen optimal erscheinenden Entscheidungsmechanismus zur Lösung des Konfliktes über die Verteilung des Produktionsertrages auf die an der Produk-

176

8 Arbeitsmarktpolitik

tion beteiligten Faktoren Arbeit und Kapital und zur Festlegung sonstiger Arbeitsbedingungen bereitzustellen. Als optimal wird hier ein Entscheidungsmechanismus bezeichnet, der 1. eine als gerecht angesehene Verteilung des Produktionsertrages ermöglicht, 2. die Erreichung gesamtwirtschaftlicher Ziele (Wachstum, Vollbeschäftigung, Preisniveaustabilität, außenwirtschaftliches Gleichgewicht) nicht gefährdet, 3. den sozialen Frieden aufrecht erhält und 4. einer pluralistischen, freiheitlichen und sozialen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung adäquat ist. Die Tarifautonomie ist im Tarifvertragsgesetz 21 rechtlich geregelt (vgl. zu diesem umfassenden Rechtskomplex Däubler 2016, Zöllner/Loritz/Hergenröder 2015 und Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2017a). Von grundsätzlicher Bedeutung für das Tarifvertragsrecht ist Art. 9 Abs. 3 des GG, der mit dem Grundrecht der Koalitionsfreiheit eine „Einrichtungsgarantie für das Tarifvertragssystem“ enthält. Die Tarifautonomie ist also grundgesetzlich geschützt, ihre ersatzlose Aufhebung wäre verfassungswidrig.22 Tariffähige Parteien können nach § 2 TVG einerseits die Gewerkschaften und deren Spitzenorganisationen, andererseits die Arbeitgebervereinigungen und ihre Spitzenorganisationen, aber auch einzelne Arbeitgeber sein (sog. „Haustarifvertrag“). Tarifverträge bestehen aus einem normativen und einem schuldrechtlichen Teil. Die zwischen den tariffähigen Parteien vereinbarten und im Tarifvertrag niedergelegten Normen gelten unmittelbar und zwingend für alle Arbeitnehmer, die unter den zeitlichen (Laufdauer), räumlichen (Gebiet), betrieblichen (Industriezweig), fachlichen (Beruf) und persönlichen (Arbeiter, Angestellte) Geltungsbereich eines Tarifvertrages fallen. Die unmittelbare Geltung bedeutet, dass die Normen die Arbeitsverhältnisse gesetzesgleich gestalten, ohne dass diese Normen in den individuellen Arbeitsverträgen rezipiert werden müssen. Die zwingende Geltung bedeutet, dass ungünstigere Regelungen in den individuellen Arbeitsverträgen unwirksam sind, es sei denn, der Tarifvertrag lässt den Abschluss ergänzender oder konkretisierender Vereinbarungen zu (sog. „Öffnungsklauseln“). Für die Arbeitnehmer günstigere Arbeitsbedingungen dürfen hingegen vereinbart werden (Günstigkeitsprinzip). Bei der Beurteilung, ob bestimmte Regelungen für den Arbeitnehmer günstiger sind, ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts allein auf den Inhalt der zu vergleichenden Normen abzustellen. So wäre es bspw. unzulässig, eine untertarifliche Entlohnung im Gegenzug zu einer Beschäftigungsgarantie zu vereinbaren. Diese Auslegung des Günstigkeitsprinzips wird jedoch von Ökonomen kritisiert (vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung 2003, Tz. 674.). Der schuldrechtliche Teil eines Tarifvertrages enthält die Durchführungspflicht, die den Parteien gebietet, zur Vertragserfüllung auf ihre Mitglieder einzuwirken, und die so genannte Friedenspflicht, die es den Tarifvertragsparteien verbietet, während der Laufzeit des Vertrages im Hinblick auf eine im Vertrag normativ geregelte Angelegenheit einen Arbeitskampf vorzubereiten, einzuleiten oder durchzuführen (relative Friedenspflicht). Arbeitskämpfe, die sich nicht gegen den laufenden Tarifvertrag richten, sind zugelassen, es sei denn, dass sie durch Tarifvertrag ausgeschlossen sind, dass also eine absolute Friedenspflicht vereinbart worden ist. Die normativen Regelungen in Tarifverträgen können sich erstrecken auf: 21

Tarifvertragsgesetz (TVG) vom 09.04.1949 i. d. F. vom 25.08.1969, zuletzt geändert am 18.12.2018. Inwieweit der Gesetzgeber befugt ist, in Einzelbereiche tarifvertraglicher Regelungen einzugreifen, ist in der rechtswissenschaftlichen Literatur umstritten; vgl. hierzu Däubler 2016, S. 50 ff. 22

8.3 Einzelbereiche der Arbeitsmarktpolitik

177

1. Inhaltsnormen, also z.B. auf Normen über Löhne, Gratifikationen, Arbeitszeit, Urlaub, Urlaubsgeld, Lohnsysteme, die Einbehaltung der Gewerkschaftsbeiträge usw.; 2. Abschlussnormen, z.B. Gebote, Verbote und Formvorschriften über den Abschluss von Arbeitsverträgen; 3. Beendigungsnormen, die sich auf Form und Fristen von Kündigungen beziehen; 4. Betriebsnormen, die sich auf den betrieblichen Gefahren- und Gesundheitsschutz, auf betriebliche Wohlfahrtseinrichtungen und betriebsverfassungsrechtliche Fragen beziehen, die nicht im Betriebsverfassungsgesetz geregelt sind; 5. Normen über gemeinsame Einrichtungen, z. B. über Lohnausgleichs- oder Zusatzversorgungskassen. Die Normsetzungsbefugnisse der Tarifvertragsparteien sind nicht unbegrenzt: Grundgesetzwidrige Normen sowie Normen, die gegen zwingendes staatliches Recht verstoßen, sind ebenso nichtig wie Normen, die in die Privatsphäre von Arbeitnehmern und Arbeitgebern eingreifen. Rechtlich (nicht notwendigerweise faktisch) unwirksam sind auch sog. „Effektivklauseln“, durch die Tarifverbesserungen auf bisherige Effektivbedingungen aufgestockt werden sollen, und – nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts unzulässige – Differenzierungsklauseln, durch die Gewerkschaftsmitglieder bevorzugt behandelt werden sollen. Insbesondere die Gewerkschaften haben Interesse an einer unterschiedlichen Behandlung von gewerkschaftlich organisierten und nicht organisierten Arbeitnehmern, um das so genannte „Trittbrettfahrerproblem“ zu lösen. Dieses „free rider-Problem“ ergibt sich daraus, dass bei einem Differenzierungsverbot nicht organisierte Arbeitnehmer in Bezug auf die Arbeitsbedingungen organisierten Arbeitnehmern gleichgestellt werden, ohne aber an den Kosten der Organisation und damit an den Kosten für die Herbeiführung eines Tarifvertrags beteiligt zu sein. Ökonomisch gesehen tragen die Normen des Tarifvertrags also den Charakter eines öffentlichen Gutes, da Nichtorganisierte nicht von den tariflichen Leistungen ausgeschlossen werden können. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad ist in den vergangenen Jahrzehnten deutlich gesunken. Während sich der Anteil der Gewerkschaftsmitglieder an allen Beschäftigten im Jahr 1980 in Westdeutschland bei 32,7 % lag, betrug er 2012 nur noch 20,6 % (vgl. Schnabel 2005, Anders/Biebeler/Lesch 2015). Die Faktoren für diesen Mitgliederschwund liegen u. a. in einer veränderten Branchenstruktur der Beschäftigten, insbes. in der Zunahme des tertiären Sektors sowie einer zunehmenden Heterogenität der Beschäftigungsverhältnisse. Der Einfluss von Gewerkschaften auf Lohnhöhe und Beschäftigung Eine zentrale arbeitsmarktpolitische Kontroverse dreht sich um die Frage, ob eine der Ursachen für die hohe und lang anhaltende Arbeitslosigkeit in Deutschland die gewerkschaftliche Lohnpolitik ist. Die Argumente, die für bzw. gegen diese Einschätzung sprechen, sollen hier kurz skizziert werden. Ein Zusammenschluss der Arbeitnehmer zu Gewerkschaften führt zu einer Monopolisierung des Angebots auf den Arbeitsmärkten. Durch diese Kartellierung des Arbeitsangebots erhalten die Arbeitnehmervertretungen einen gewissen Lohnsetzungsspielraum. Um zu analysieren, wie sich dieser gewerkschaftliche Lohnsetzungsspielraum auf die Allokation am Arbeitsmarkt auswirkt, sei unterstellt, dass die Gewerkschaft folgende Zielfunktion maximiert: U G (wG , L) = Lu(wG ) + (L − L)u(ω) (8.6) Dabei ist L die Anzahl der beschäftigten Gewerkschaftsmitglieder und L das gesamte Arbeitskräftepotenzial. L − L gibt somit die Zahl der nicht im gewerkschaftlichen Sektor beschäftigten Arbeitnehmer an. u(·) repräsentiert den Nutzen eines Arbeitnehmers, wG ist der Lohnsatz bei kollektiver Lohnbildung und ω der

178

8 Arbeitsmarktpolitik

Lohnsatz auf dem unorganisierten Arbeitsmarkt. u(wG ) − u(ω) repräsentiert also die Nutzendifferenz, die ein beschäftigtes Gewerkschaftsmitglied aus der kollektiven Lohnverhandlung zieht. Das totale Differential der gewerkschaftlichen Zielfunktion 8.6 liefert die gewerkschaftlichen Indifferenzkurven [ ] ∂u dU G = L dwG + u(wG ) − u(ω) dL = 0 (8.7) ∂wG bzw. u(wG ) − u(ω) ∂wG (8.8) =− ∂u ∂L L ∂w G G

∂L w Erweitert man die Optimalitätsbedingung 8.8 um wLG und berücksichtigt, dass ∂w die Elastizität der G L Arbeitsnachfrage in Bezug auf Änderungen des Lohnsatzes (εL,w ) angibt, so wird deutlich, dass der von den Gewerkschaften zu setzende Lohn so gewählt wird, dass die Elastizität des Nutzenzuwachses eines Gewerkschaftsmitglieds aufgrund der gewerkschaftlichen Lohnerhöhung gerade der Elastizität der Arbeitsnachfrage entspricht: ∂uG w ∂w G −ϵL,w = (8.9) u(wG ) − u(w)

Dieses Ergebnis ist in der Abb. 8.5 wiedergegeben. Eine Gewerkschaft, die den Nutzen ihrer Mitglieder maximiert, wird jenen Lohnsatz wählen, bei dem die Steigung der gewerkschaftlichen Indifferenzkurve (I G ) – also die gewerkschaftliche Grenzrate der Substitution zwischen Lohnhöhe und Beschäftigung – gerade der Steigung der Arbeitsnachfragekurve entspricht. Dies ist in der Abbildung beim Lohnsatz wG der Fall. Zu diesem Lohnsatz fragen die Unternehmen eine Beschäftigungsmenge in Höhe von LG nach. Als weitere Ergebnisse sind das kompetitive Gleichgewicht (wk , Lk ) und die Allokation im Monopson (wm , Lm ) abgetragen (vgl. hierzu S. 33). Wie die Abbildung zeigt, sind die allokativen Wirkungen gewerkschaftlicher Lohnverhandlungen entscheidend von der unterstellten Referenzsituation abhängig. Geht man davon aus, dass die Arbeitsmärkte sehr funktionsfähig sind, d.h. verwendet man das kompetitive Gleichgewicht als Referenzmaßstab, so ist eine gewerkschaftliche Lohnbildung stets mit Beschäftigungseinbußen und Wohlfahrtsverlusten verbunden. Unterstellt man hingegen unvollständigen Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt, so dass die Situation auf dem unorganisierten Arbeitsmarkt eher durch die monopsonistische Lösung charakterisiert wird, so lässt sich dieses Ergebnis nicht mehr aufrecht erhalten. Solange der gewerkschaftliche Lohn – wie in Abb. 8.5 eingezeichnet – unterhalb von w′ liegt, steigen durch die gewerkschaftliche Lohnbildung Löhne und Beschäftigung. GWP, GA, w

GA IG w(L)

w' wG wk wm

GWP m

L

G

L

k

L

L

Abb. 8.5: Monopol, Monopson und kompetitives Gleichgewicht

8.3 Einzelbereiche der Arbeitsmarktpolitik

179

Literatur Eine umfassende Darstellung der ökonomischen Analyse gewerkschaftlichen Handelns findet sich bei Booth 1996 sowie bei Boeri/van Ours 2013, Kap. 3.

Die Auffassungen über die Wirkungen der Tarifautonomie auf die Arbeitnehmereinkommen und die Gesamtwirtschaft sind geteilt. Das hängt teilweise mit dem Stand unserer Erkenntnisse zusammen, teilweise mit unterschiedlichen Beurteilungen der Ergebnisse gewerkschaftlichen Handelns. Nicht haltbar ist die Auffassung, wonach die Tarifvertragsparteien nicht in der Lage seien, die Reallöhne über jenes Niveau anzuheben, das sich auf einem freien Markt bilden würde (vgl. hierzu Hayek 1971, S. 344 und S. 355). Denn die Gewerkschaften beeinflussen ja die Arbeitsangebotsmenge und damit notwendigerweise auch das Lohnniveau. Unumstritten sind dabei folgende Wirkungen: 1. Da Tariflöhne Mindestlöhne sind und gegen Lohnsenkungen wie eine Sperrklinke wirken, können sie einen Unterbietungswettbewerb der Arbeitnehmer und damit die anomale Angebotsreaktion ausschalten (vgl. S. 31f.). Des Weiteren reduzieren sie die monopsonistische Ausbeutung (vgl. S. 32 f.). 2. Die Tarifautonomie ermöglicht es den Gewerkschaften, mit Hilfe ihrer verhandlungserfahrenen, sachlich kompetenten Berufsfunktionäre, denen durch die Verhandlungsmacht der Organisation und durch die Möglichkeit des Einsatzes des Streiks der Rücken gestärkt ist, die Arbeitsbedingungen mindestens in dem Maß zu verbessern, in dem die gesamtwirtschaftliche Produktivität zunimmt. Anders ausgedrückt: die Tarifautonomie erlaubt die Sicherung des Status quo der funktionalen Einkommensverteilung. 3. Sie erlaubt es, bei der Lohnfestsetzung für die Arbeitnehmer verschiedener Regionen, verschiedener Branchen, verschiedenen Geschlechts und verschiedener Qualifikation in bestimmtem Umfang soziale Aspekte zur Geltung zu bringen, also die Lohn- und Gehaltsstruktur nach sozialen Gesichtspunkten zu modifizieren. Dadurch steigt aber auch die Gefahr lohnstrukturbedingter Arbeitslosigkeit. Nach allen vorliegenden theoretischen und empirischen Erkenntnissen ist es nicht möglich, den Anteil der Lohneinkommen am Sozialprodukt (die Lohnquote) mit Hilfe der Nominallohnpolitik zu beeinflussen.23 Denn Nominallohnsteigerungen, die über dem Produktivitätsfortschritt liegen, werden bei einer expansiven Geldpolitik auf die Preise überwälzt. Damit erhöhen sich die Realeinkommen allenfalls im Umfang des Wachstums des realen Sozialprodukts. Im Falle einer restriktiven Geldpolitik wird eine expansive Lohnpolitik zunächst die Kapitaleinkommen reduzieren, so dass die Lohnquote kurzfristig steigt. Dieser Gewinnrückgang führt jedoch mittelfristig zu einem Rückgang der Investitionen und damit auch der Beschäftigung; es entsteht lohnniveaubedingte Arbeitslosigkeit. Dieser Beschäftigungsrückgang führt wiederum dazu, dass mittelfristig die Lohnquote auf das ursprüngliche Niveau sinkt. Auch die Tatsache, dass die Löhne nicht nur Produktionskosten, sondern auch kaufkräftige Nachfrage darstellen („Kaufkrafttheorie des Lohns“), ändert nichts an diesem Zusammenhang. Denn für das Kaufkraftargument ist nicht nur die Entwicklung der Arbeitnehmereinkommen, sondern die Veränderung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage relevant. Und hier kann eine expansive Lohnpolitik zu gegenläufigen Effekten führen. Denn diese Lohnsteigerung trifft nicht nur Inländer, sondern auch die 23

Zu den Voraussetzungen einer Lohnquotenerhöhung vgl. Külp 1994, S. 149 ff. und die dort auf S. 172 ff. angegebene Lit.

180

8 Arbeitsmarktpolitik

Exportgüterindustrie und reduziert damit die Nachfrage aus dem Ausland. Zweitens fließt ein Teil der Lohnerhöhungen in die private Ersparnis und wird somit nicht kreislaufwirksam. Und drittens kann sich eine expansive Lohnpolitik negativ auf die Investitionsneigung und damit auf die Investitionsgüternachfrage auswirken. Das Dilemma, nicht gleichzeitig eine stabilitätsorientierte und eine am Umverteilungsziel orientierte Lohnpolitik betreiben zu können, erscheint lösbar, wenn folgenden Tatsachen Rechnung getragen wird: 1. Durch Tariflohnpolitik ist eine nennenswerte Umverteilung nicht erreichbar. 2. Versuche, dies zu tun, führen zu Inflation oder/und Arbeitslosigkeit. 3. Die Forderung nach einer stabilitätskonformen Tariflohnpolitik läuft auf die Forderung hinaus, den Status quo der Verteilung aufrechtzuerhalten. 4. Eine solche Forderung ist sachlich nicht zu rechtfertigen und wissenschaftlich nicht zu begründen. 5. Ob eine bestimmte Lohnpolitik gesamtwirtschaftliche Ziele beeinträchtigt, ist erst ex post, d. h. nach Abschluss einer Wirtschaftsperiode, feststellbar. Angesichts dieser Fakten erscheint eine Einkommensumverteilung dann erreichbar, wenn die Lohnpolitik gleichzeitig als „Ex-ante-Lohnpolitik“ und als „Ex-post-Lohnpolitik“ betrieben wird. Der Ex-ante-Lohnpolitik kommt die Aufgabe zu, zu Beginn der Wirtschaftsperiode das frei disponible, reale Arbeitseinkommen durch Lohnabschlüsse zu sichern, die durch eine zurückhaltende Orientierung an der voraussichtlichen Produktivitäts- und Lebenshaltungskostenentwicklung gekennzeichnet sind. Diese vorsichtige Lohnpolitik kann dann für die abgelaufene Wirtschaftsperiode entsprechend der wirtschaftlichen Entwicklung durch Ertragsbeteiligungen bei gleichzeitiger vermögenswirksamer Anlage der Gewinnanteile korrigiert werden. Eine solche Strategie würde die Arbeitsmarktparteien von dem Druck befreien, Lohnpolitik uno actu als gesamtwirtschaftlich orientierte Lohnpolitik und als Umverteilungspolitik konzipieren zu müssen. Sie würde die Beschäftigung und die Geldwertstabilität weit weniger gefährden als die bisher betriebene Lohnpolitik. Sie würde sehr wahrscheinlich die Finanzierung der für ein stetiges Wachstum erforderlichen Investitionsquote nicht beeinträchtigen und nicht nur die Einkommens, sondern auch die Vermögensverteilung verbessern.24 Die wesentlichen Instrumente der Tarifvertragspolitik sind die Verhandlungen, die Schlichtung und der Arbeitskampf. Sie können hier nicht dargestellt werden.25

b) Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen Die Tarifautonomie bedeutet im Grunde die Festlegung von Mindestarbeitsbedingungen, insbes. von Mindestlöhnen, durch die Sozialpartner. Sie macht, soweit Unternehmen als Tarifvertragsparteien unter den Geltungsbereich von Tarifverträgen fallen, eine staatliche Mindestlohnpolitik überflüssig. Allerdings können die Tarifbestimmungen durch „Außenseiter“, d.ḣ. durch nicht tarifgebundene Arbeitnehmer und Arbeitgeber, unterschritten werden. Insofern können die Wirkungen der Tarifautonomie durch Lohnunterbietung von Seiten nicht organisierter Arbeitneh24

Vgl. Kap. 13 sowie die dort angegebene Literatur. Vgl. zu den kollektiven Vertragsverhandlungen Zerche/Schönig/Klingenberger 2000, S. 61 ff. und Sesselmeier/Funk/Waas 2010; zu Schlichtung und Arbeitskampf Hromadka/Maschmann 2010 sowie Lampert 1980, S. 308 ff. (Lit.). 25

8.3 Einzelbereiche der Arbeitsmarktpolitik

181

mer und durch Preisunterbietung von Seiten nicht tarifgebundener Unternehmen beeinträchtigt werden. Deshalb hat der Gesetzgeber in der Bundesrepublik Deutschland die Möglichkeit der Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) von Tarifverträgen geschaffen (§ 5 Abs. 1 TVG). Danach kann das Bundesministerium für Arbeit und Soziales einen Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklären, wenn • eine Tarifvertragspartei die Allgemeinverbindlicherklärung beantragt, • ein paritätisch aus Vertretern der Spitzenorganisationen26 der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer besetzter Tarifausschusses dem zustimmt und • ein öffentliches Interesse an der Allgemeinverbindlicherklärung besteht.27 Die Allgemeinverbindlicherklärung bedeutet, dass der Tarifvertrag ganz oder teilweise auch auf nicht organisierte Arbeitgeber und Arbeitnehmer ausgedehnt wird, wenn diese unter den Geltungsbereich des Tarifvertrages fallen. Eine besondere Form der Allgemeinverbindlicherklärung stellt das Arbeitnehmerentsendegesetz 28 dar. Dieses Gesetz diente ursprünglich dazu, die inländische Bauwirtschaft vor Lohnunterbietungskonkurrenz aus dem Ausland zu schützen. Im Unterschied zum Tarifvertragsgesetz können tarifvertragliche Bestimmungen nach dem Arbeitnehmerentsendegesetz auch ohne Zustimmung der paritätischen Kommission und des Bundesrats allein aufgrund des gemeinsamen Antrags der Tarifvertragsparteien der betroffenen Branche vom Arbeitsministerium für allgemeinverbindlich erklärt werden (§ 7 Abs. 1 AEntG). Allerdings ist das AEntG auf bestimmte, in § 4 AEntG genannte Branchen beschränkt. In der tarifpolitischen Praxis kommt der Allgemeinverbindlicherklärung nur eine begrenzte Bedeutung zu. Nach dem Verzeichnis der für allgemein verbindlich erklärten Tarifverträge des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales wurden von den über 73 000 gültigen Tarifverträgen nur 443 für allgemein verbindlich erklärt (Stand 01.07.2017). Für die im AEntG genannten Branchen ist die Allgemeinverbindlicherklärung jedoch von großer Bedeutung.

c) Staatliche Mindestlohnpolitik Ein staatlicher Mindestlohn ist eine von der Politik gesetzte Lohnuntergrenze, die weder durch Individualarbeitsvertrag noch durch kollektivvertragliche Regelungen unterschritten werden darf. Gesetzliche Mindestlöhne können entweder für einzelne Branchen oder für die gesamte Wirtschaft festgelegt werden. Weiterhin lassen sich gesetzliche Mindestlöhne dahingehend unterscheiden, ob sie für alle Arbeitnehmer gelten oder ob bestimmte Arbeitnehmergruppen wie z. B. Jugendliche, ältere Beschäftigte oder Langzeitarbeitslose hiervon ausgenommen sind. In der Bundesrepublik Deutschland war die Lohnfindung primär die Aufgabe der Tarifvertragsparteien. Die staatlichen Eingriffe beschränkten sich auf die Gewährleistung und die Durchsetzung der Tarifautonomie und die Allgemeinverbindlicherklärung von tarifvertraglichen 26

Die Spitzenorganisation der Arbeitnehmer ist der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB), die der Arbeitgeber die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA). 27 Bis 2014 war darüber hinaus erforderlich, dass der Tarifbindungsgrad in der betreffenden Branche mindestens 50 % beträgt. Dieses Quorum entfällt durch das Gesetz zur Stärkung der Tarifautonomie (Tarifautonomiestärkungsgesetz) und wird durch eine Konkretisierung des öffentlichen Interesses ersetzt. 28 Gesetz über zwingende Arbeitsbedingungen für grenzüberschreitend entsandte und für regelmäßig im Inland beschäftigte Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen (Arbeitnehmer-Entsendegesetz - AEntG) vom 20.04.2009, zul. geändert am 22.11.2019.

182

8 Arbeitsmarktpolitik

Regelungen.29 Mit dem Gesetz zur Regelung eines allgemeinen Mindestlohns (Mindestlohngesetz - MiLoG) wurde ab 2015 auch in Deutschland ein flächendeckender, staatlich festgelegter Mindestlohn wirksam, dessen Höhe alle zwei Jahre angepasst wird. Vorschläge zur Anpassung werden von der Mindestlohnkommission vorgelegt, die neben einem Vorsitzenden aus jeweils drei Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern sowie zwei nicht stimmberechtigten beratenden Mitgliedern aus dem Bereich der Wissenschaft besteht. Mit der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns verfolgt die Politik mehrere Ziele: • Der Mindestlohn soll verhindern, dass die Arbeitsentgelte unter ein existenzsicherndes Niveau sinken. Insbesondere in Branchen mit geringer Tarifbindung und einer entsprechend geringen Verhandlungsmacht der Gewerkschaften ist nicht auszuschließen, dass die Arbeitsentgelte auch bei einer Vollzeitbeschäftigung nicht ausreichen, um das soziokulturelle Existenzminimum abzudecken. In diesen Fällen soll der Mindestlohn eine effektive Lohnuntergrenze gewährleisten. • Des Weiteren soll die Anhebung der Löhne mit dazu beitragen, die Beschäftigung von niedrig entlohnten ausländischen Arbeitnehmern unattraktiv zu machen (Bekämpfung von „Lohndumping“). • Ein gesetzlicher Mindestlohn kann in den Fällen, in denen die gewerkschaftliche Lohnpolitik nicht greift, eine Entlohnung der Arbeitnehmer unterhalb des Grenzerlösprodukts des Faktors Arbeit verringern oder unterbinden. • Schließlich soll der Mindestlohn auch dazu beitragen, Mitnahmeeffekte bei der sozialen Grundsicherung zu verhindern. es wird befürchtet, dass Arbeitnehmer eine gering entlohnte Tätigkeit auch deshalb akzeptieren, da sie ihr Arbeitseinkommen durch Leistungen aus der sozialen Grundsicherung aufbessern können. Zahlreiche OECD-Staaten und die meisten Länder der Europäischen Union verfügen über einen Mindestlohn. Allerdings sind die Unterschiede in der Höhe der Mindestlöhne und der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaften ausgesprochen groß. Außerdem fällt die institutionelle Ausgestaltung der Regelungen sehr unterschiedlich aus. Einen ersten Eindruck über die Bedeutung des Mindestlohns für den Arbeitsmarkt liefert der Kaitz-Index. Er setzt den Mindestlohn ins Verhältnis zum Medianlohn einer Volkswirtschaft. Die Ergebnisse finden sich in der Tabelle 8.1. Gleichzeitig werden die stündlichen Mindestlöhne in US-Dollar und Kaufkraftstandards (KKS) angegeben. Die Länder sind nach diesen Werten geordnet. Wie die Tabelle 8.1 zeigt, weisen die relativen Mindestlöhne eine hohe Varianz auf. Gleiches gilt für den Mindestlohn in Kaufkraftparitäten. Der Kaitz-Index im Jahr 2017 innerhalb der OECD Staaten zwischen 34 % (USA) und 74 % (Türkei) und innerhalb der EU zwischen 41 % (Estland/Tschechien) und 62 % (Frankreich) liegt. Auch die Entwicklung im Vergleich zum Jahr 2000 verläuft in der EU uneinheitlich: so ist der Kaitz-Index in Irland massiv gesunken, während er insbesondere in den osteuropäischen Staaten sowie Portugal zugenommen hat. Kritiker des Mindestlohns befürchten, dass die gesetzliche Lohnuntergrenze Arbeitsplätze vernichtet. Davon wären insbesondere gering qualifizierte Arbeitnehmer und Jugendliche in der 29

Dennoch existiert in Deutschland bereits seit 1952 ein Mindestarbeitsbedingungsgesetz. Dieses Gesetz – das seit seiner Verabschiedung im Jahr 1952 noch nie zur Anwendung kam – wurde im Jahr 2009 umfassend reformiert. Der Geltungsbereich des Gesetzes beschränkt sich auf Branchen, in denen die Tarifbindung unter 50 % liegt. In diesem Fall muss ein paritätisch besetzter Hauptausschuss soziale Verwerfungen in einer Branche feststellen und die Festsetzung von Mindestlöhnen empfehlen. Diese Empfehlung bedarf der Zustimmung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Bis 2013 wurde auch von dieser modifizierten Fassung des Mindestarbeitsbedingungsgesetzes noch kein Gebrauch gemacht.

8.3 Einzelbereiche der Arbeitsmarktpolitik

183

Tabelle 8.1: Mindestlöhne ausgewählter Länder Mindestlohn im Verhältnis zum Medianlohn (in %) 2000 2018 Differenz Slovakai Lettland Litauen Estland Tschechien Ungarn Griechenland Portugal Türkei Poland Israel Korea Spanien Slovenien USA Japan Vereinigtes Königreich Irland Niederlande Belgien Deutschland Australien Frankreich Luxemburg

42 36 50 34 32 36 47 46 46 40 29 36 36 32 41 67 52 53 58 62 52

49 50 51 43 42 52 48 61 71 53 59 59 41 59 33 42 54 48 47 46 46 54 62 54

Monatlich 2018 (USD, KKS)

7 14 1 9 10 16 1 15 25 13 30 5 -3 10 13 -19 -5 -7 -4 0 2

3,43 4,30 4,78 4,61 5,17 5,05 4,98 5,76 6,05 6,34 6,77 7,93 6,85 7,32 7,25 9,64 9,62 10,44 10,38 10,87 12,14 11,49 11,82

Quelle: OECD Statistics (stats.oecd.org); eigene Berechnungen.

Berufseintrittsphase betroffen. Des Weiteren werden Verdrängungseffekte auf den Produktmärkten befürchtet, da Großunternehmen bei einem gestiegenen Lohndruck kleine und mittelständische Unternehmen verdrängen könnten. Und schließlich wird befürchtet, dass ein gesetzlicher Mindestlohn die Schwarzarbeit fördert. So wurden auch in Deutschland die Effekte eines gesetzlichen Mindestlohns auf die Beschäftigung überwiegend kritisch eingeschätzt.30 Dabei wurde vor allem auf negative Erfahrungen bei der Einführung eines Mindestlohns im Postwesen und in der Baubranche verwiesen (vgl. Möller et al. 2011). Die Wirkungen eines gesetzlichen Mindestlohns auf die Allokation am Arbeitsmarkt ist von mehreren Faktoren abhängig. Ein wesentlicher Faktor ist die Verfassung des Arbeitsmarkts. Wie der linke Teil der Abbildung 8.6 zeigt, ist unter den Bedingungen vollständiger Konkurrenz ein gesetzlicher Mindestlohn oberhalb des Marktlohns (w ¯ > w K ) stets mit einem Beschäftigungsrückgang verbunden (in der Abbildung die Strecke Lw¯ LK ). Bei monopsonistisch verfassten Arbeitsmärkten verändert sich die Situation (vgl. Abbildung 8.6b). Sofern der Mindestlohn zwischen dem monopsonistischen Marktlohn und dem quasi-kompetitiven Lohn liegt (wM < w ¯ ≤ wK ), nimmt die Beschäftigungsmenge entsprechend der Arbeitsangebotsfunkti30

Vgl. zusammenfassend Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung 2013, Tz. 515 ff. sowie Althammer/Sommer/Kühn 2012, Kap. 4.1 und die dort jeweils angegebene Literatur.

184

8 Arbeitsmarktpolitik

on (LS ) zu. Erst wenn der Mindestlohn wK übersteigt, verringert sich die Arbeitsnachfrage entsprechend der Funktion des Grenzerlösprodukts des Faktors Arbeit (LD ). Die Beschäftigungsmenge ist jedoch weiterhin höher als die Arbeitsnachfrage auf dem unregulierten Markt, sofern der gesetzliche Mindestlohn das Grenzerlösprodukt des Faktors Arbeit bei LM nicht übersteigt (w ¯ ≤ w′ ). Für die allokativen und verteilungspolitischen Effekte ist somit die Höhe des gesetzlichen Mindestlohns von entscheidender Bedeutung (siehe Tabelle 8.1). w

LS w wK

LD

Lw

L

LK

(a) Vollständige Konkurrenz w

GA

LS w' w wK

wM LD

LM Lw

LK

L

(b) Monopson auf dem Arbeitsmarkt

Abb. 8.6: Die Wirkungen eines staatlichen Mindestlohns Schließlich hängen die Beschäftigungseffekte des Mindestlohns auch von der institutionellen Ausgestaltung dieser Regelung ab. So sehen die meisten Mindestlohngesetze Ausnahmeregeln für bestimmte Problemgruppen auf dem Arbeitsmarkt wie Jugendliche oder Langzeitarbeitslose

8.3 Einzelbereiche der Arbeitsmarktpolitik

185

vor. Z.B. wird in Frankreich der relativ hohe Mindestlohn von einer staatlichen Lohnsubvention für die Unternehmen flankiert. Aufgrund der Vielzahl der relevanten Einflussfaktoren und der unterschiedlichen Ausgestaltung der staatlichen Mindestlohngesetzgebung fällt es schwer, allgemeingültige Aussagen über die Effekte eines staatlichen Mindestlohns zu treffen. Wie die empirische Evidenz zeigt, ist mit der Einführung i. d. R. eine Kompression der Lohnverteilung verbunden. Dafür sind zwei Faktoren ausschlaggebend. Zum einen werden keine Löhne unterhalb des Mindestlohns gezahlt, d. h. die Lohnverteilung wird am unteren Ende „abgeschnitten“. Zum anderen ist feststellbar, dass Löhne, die geringfügig über dem Mindestlohn liegen, nach der Einführung bzw. Erhöhung des Mindestlohns angehoben werden. Dies geschieht, um die Lohnstruktur im unteren Entgeltbereich nicht allzu stark zu nivellieren. Der Mindestlohn entfaltet also spill over-Effekte auf die unteren Entgeltbereiche. Mittlerweile liegen zahlreiche empirische Untersuchungen zu den einkommens- und beschäftigungspolitischen Effekten des gesetzlichen Mindestlohns vor.31 . Von der Einführung des Mindestlohns waren 4 Mio. Personen oder 11% aller Beschäftigten betroffen, in Ostdeutschland mit 21% der Beschäftigten anteilsmäßig deutlich mehr als in Westdeutschland mit ca. 9%. Die Stundenlöhne für Geringverdiener sind durch die Einführung des Mindestlohns deutlich um 14% gestiegen. Dieser Anstieg der Stundenlöhne hat sich jedoch nur sehr begrenzt in höheren Monatsentgelten niedergeschlagen, da vielfach die wöchentliche Arbeitszeit reduziert wurde. Beschäftigungspolitisch hat sich durch die Einführung des Mindestlohns die Anzahl der Minijobs spürbar verringert, die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten hat sich hingegen kaum verändert. Aufgrund der weitgehenden Konstanz der Monatslöhne gehen von dem gesetzlichen Mindestlohn auch keine erkennbaren Verteilungswirkungen aus; so hat sich weder die Zahl der armutsgefährdeten Personen noch die Zahl der auf Personen, die auf Leistungen der sozialen Grundsicherung angewiesen sind, durch die Einführung des Mindestlohns spürbar verringert.

8.3.3 Beschäftigungspolitik Seit der Weltwirtschaftskrise der Jahre 1929 bis 1932, die in Europa und den USA Millionen von Arbeitslosen erzeugt hat – im Deutschen Reich waren im Februar 1932 mit 6,1 Mio. Menschen ein Drittel der Erwerbspersonen arbeitslos –, gehört das Ziel der Vollbeschäftigung zu den vorrangigsten wirtschaftspolitischen Zielen. Seinerzeit wurde deutlich: 1. dass es nur eine Sicherung gegen Arbeitslosigkeit geben kann, nämlich eine konsequente Vollbeschäftigungspolitik; 2. dass das soziale Sicherungsnetz bei anhaltender Massenarbeitslosigkeit reißt; 3. dass starke Beschäftigungseinbrüche politische Umbrüche einleiten (vgl. dazu Hardach 1993 sowie Bracher 1984). Die hohe Arbeitslosigkeit von 1975-2010 hat außerdem deutlich gemacht, dass einer Volkswirtschaft durch die Arbeitslosigkeit neben den durch die Unterbeschäftigung von Produktionsfaktoren entstehenden Wohlfahrtsverlusten erhebliche zusätzliche ökonomische Kosten entstehen. Die gesamtfiskalischen Kosten der Arbeitslosigkeit – also die Ausgaben für Sozialleistungen sowie die Mindereinnahmen an Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen – betragen im Durchschnitt 31

Einen Überblick liefert Bruttel 2019.

186

8 Arbeitsmarktpolitik

jährlich etwa 18-20 Tsd. e je Arbeitslosen Arbeitslosen und belaufen sich allein im Jahr 2015 auf geschätzt 56 e Mrd. (vgl. Tabelle 8.2). Tabelle 8.2: Die gesamtfiskalischen Kosten der Arbeitslosigkeit

Registrierte Arbeitslose Kosten pro Arbeitslosen Gesamtfiskalische Kosten insgesamt davon Versicherungsleistung Sozialleistung Mindereinnahmen Steuern Mindereinnahmen Sozialbeiträge

2005

2010

2015

in Tsd. in Tsd. e/Jahr in Mrd. e

4 861 18,0 87,7

3 245 18,5 60,2

2 795 20,0 56,0

% % % %

25,3 28,0 18,5 28,2

23,2 33,5 17,1 26,1

20,2 34,8 16,7 28,3

Quelle: IAB 2017, S. 4.

In Deutschland ist die Vollbeschäftigung im Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft aus dem Jahre 1967 als wirtschaftspolitisches Ziel verankert.32 Vollbeschäftigungspolitik zielt als die Summe aller Maßnahmen der Träger der Wirtschafts- und Sozialpolitik darauf ab, einen hohen Beschäftigungsstand zu sichern, d. h. allen Arbeitsfähigen und Arbeitswilligen eine Beschäftigungsmöglichkeit zu bieten. Als Nebenbedingungen sind dabei zu berücksichtigen: 1. das Recht der Arbeitnehmer auf die freie Berufs- und Arbeitsplatzwahl, 2. das Recht der Unternehmer, die Beschäftigungsmenge den betrieblichen Erfordernissen anzupassen (right to manage), 3. die Vermeidung unterwertiger Beschäftigung, d. h. insbes., dass die Arbeitnehmer entsprechend ihren Qualifikationen beschäftigt werden und die Bedingungen des Arbeitsplatzes, der Arbeitsorganisation und der Arbeitsumwelt menschengerecht ausgestaltet werden sollen (Humanisierung der Arbeit). Die Instrumente der Vollbeschäftigungspolitik sind zahlreich und komplex. Daher kann hier nur ein grober Überblick gegeben werden. Zu den Mitteln der Vollbeschäftigungspolitik gehören Instrumente der Finanzpolitik, der Geldpolitik, der Währungs- und der Außenwirtschaftspolitik und der Strukturpolitik.33 Mit Mitteln der Finanzpolitik, und zwar der Ausgabenpolitik (Nachfrage des Staates und der Gebietskörperschaften nach Arbeitskräften und Investitionsgütern sowie Transferleistungen wie Sozialleistungen und Subventionen) wie auch der Einnahmepolitik (Steuersätze und staatliche Kreditaufnahme) wird über die Gestaltung der öffentlichen Haushalte die Absicht verfolgt, die Komponenten der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage (privater Konsum, staatlicher

32

§ 1 Satz 2 dieses Gesetzes lautet: „Die Maßnahmen sind so zu treffen, daß sie im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung gleichzeitig zur Stabilität des Preisniveaus, zu einem hohen Beschäftigungsstand und außenwirtschaftlichem Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem Wirtschaftswachstum beitragen.“. 33 Zur Wirkungsweise der Geld- und Fiskalpolitik vgl. Felderer/Homburg 2005, insbes. Kap. 6, zur Strukturpolitik Peters 1996 und zur Außenwirtschaftspolitik Borchert 2001.

8.4 Träger und Organe

187

Konsum, private Investitionen, staatliche Investitionen) so zu beeinflussen, dass Abweichungen der Nachfrage vom Vollbeschäftigungsniveau möglichst gering ausfallen. Die Geldpolitik, die die gesamtwirtschaftliche Nachfrage nicht direkt beeinflussen kann, ist ein Instrument der Vollbeschäftigungspolitik, das über eine Steuerung der Geldmenge, des Zinsniveaus und der Zinsstruktur den finanziellen Rahmen absteckt, innerhalb dessen die Wirtschaftssubjekte ihre beschäftigungsrelevanten Entscheidungen treffen. Die Außenwirtschaftspolitik hat im Rahmen der Vollbeschäftigungspolitik die Aufgabe, die Vollbeschäftigung währungspolitisch und durch Beeinflussung der Exportbedingungen abzusichern. Die Strukturpolitik soll schließlich den für die Sicherung wirtschaftlichen Wachstums bei Vollbeschäftigung erforderlichen technologischen, sektoralen und Arbeitskräftestrukturwandel fördern. Die in der Bundesrepublik praktizierten Instrumente der Beschäftigungspolitik müssen sich selbstverständlich im Rahmen der Wirtschaftsordnung halten. Sie sind daher im Wesentlichen Instrumente der Globalsteuerung, nicht Instrumente einzelwirtschaftlicher Steuerung. Durch den Eintritt Deutschlands in die Europäische Währungsunion haben sich die Spielräume für die nationale Beschäftigungspolitik im Rahmen der Globalsteuerung verengt, da eine autonome Geld- und Währungspolitik nicht mehr möglich ist. Entscheidungen hierüber werden durch die Europäische Zentralbank für den gesamten Währungsraum getroffen. Zudem müssen die Regeln des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes beachtet werden, die auch der nationalen Finanzpolitik Grenzen setzen. In Phasen hoher Beschäftigung befinden sich die Gewerkschaften in einer besonders günstigen Verhandlungsposition. Deshalb sind Zeiten der Vollbeschäftigung i. d. R. Zeiten deutlich steigender Arbeitseinkommen. Aus dieser Stärkung der gewerkschaftlichen Verhandlungsmacht ergibt sich für die Vollbeschäftigungspolitik ein zentrales Problem. Denn eine erfolgreiche Beschäftigungspolitik kann mit dazu beitragen, dass sich die gewerkschaftlichen Lohnforderungen nicht an der Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Produktivität orientieren. In diesem Fall gefährdet die Beschäftigungspolitik langfristig die übrigen stabilitätspolitischen Ziele.

8.4 Träger und Organe Oberste Träger der Arbeitsmarktpolitik sind die Gesetzgebungsorgane des Bundes und der Länder und – im Rahmen der gesetzlich geregelten Zuständigkeiten – die Bundesregierung bzw. die Länderregierungen. Von ihrer Kompetenz machen die Gesetzgebungsorgane des Bundes v. a. im Bereich der Ordnungspolitik – durch die Ausgestaltung der Arbeitsmarktverfassung und der lohnpolitischen Zuständigkeiten im Tarifvertragsgesetz, im SGB III und im Mindestlohngesetz Gebrauch. Vollzugsorgane, aber auch Träger von Entscheidungen im Bereich der Beschäftigungspolitik sind die Bundesregierung und die Gebietskörperschaften. Ein wesentlicher Träger war früher auch die Bundesbank mit ihrer Zuständigkeit für den Einsatz geld- und kreditpolitischer Instrumente zur Sicherung eines hohen Beschäftigungsstandes. Heute legt das Europäische System der Zentralbanken (ESZB) autonom die Bedingungen für die Geldpolitik im europäischen Währungsraum fest. Gemäß der Satzung der ESZB ist es das vorrangige Ziel der Europäischen Zentralbank, Preisniveaustabilität zu gewährleisten.34 In diesem Rahmen unterstützt das ESZB die allgemeine Wirtschaftspolitik der Europäischen Union. 34

Vgl. Art. 2 der Satzung des ESZB und der EZB sowie Art. 282 Abs. 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV).

188

8 Arbeitsmarktpolitik

Träger der Arbeitsmarktpolitik sind • das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, das für die Arbeitsmarktpolitik federführend ist und die Arbeitsmarktpolitik mit anderen Ressorts, den Arbeitsministerien der Bundesländer und den anderen Gebietskörperschaften abstimmt, • die Bundesagentur für Arbeit, die als Selbstverwaltungskörperschaft des öffentlichen Rechts unter der Rechtsaufsicht, aber ohne die fachliche Weisungsbefugnis des Bundesministeriums für Arbeit für den Vollzug des SGB III, d. h. im Wesentlichen für die Arbeitsförderungspolitik, zuständig ist. Die Bundesagentur für Arbeit umfasst neben der Hauptstelle 10 Regionaldirektionen und 156 regionale Agenturen für Arbeit. Sie werden durch paritätisch mit Vertretern der Arbeitnehmer, der Arbeitgeber und der öffentlichen Körperschaften, insbes. der Gemeinden, besetzte Selbstverwaltungsorgane verwaltet. Träger der Arbeitsmarktpolitik sind schließlich auch die Arbeitgebervereinigungen und die Gewerkschaften, die im Rahmen der Tarifautonomie durch ihre tarifvertraglichen Vereinbarungen, vor allem durch ihre lohn- und arbeitszeitpolitischen Entscheidungen, die Bedingungen auf den Arbeitsmärkten und damit Angebot und Nachfrage auf den Arbeitsmärkten maßgeblich beeinflussen.

Literatur 1. Monographien und Aufsätze Bothfeld/Sesselmeier/Bogedan 2012 – Franz 2013 – Lampert/Englberger/Schüle 1991 – Schmidt 2001

2. Laufende Materialquellen und Periodika Bundesagentur für Arbeit, Amtliche Nachrichten der Bundesanstalt für Arbeit, Nürnberg 1953 ff. Gewerkschaftliche Monatshefte, Köln 1950 ff. Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit (IAB): Beiträge zur Arbeitsmarkt- und Berufsforschung Forschungsdokumentation zur Arbeitsmarkt- und Berufsforschung Materialien aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung International Labour Organisation, International Labour Review, Genf 1921 ff. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten (http://www.sachverstaendigenrat-wirtschaft.de) Stat. BA, Fachserie 1, Reihe 4.3: Streiks und Aussperrungen Stat. BA, Fachserie 16, Reihe 4: Tariflöhne und Tarifgehälter U.S. Department of Labor, Monthly Labor Review, Washington 1915 ff. WSI-Mitteilungen, Köln 1948 ff.

Kapitel 9

Die Mitbestimmung der Arbeitnehmer

9.1 Definition, Notwendigkeit und Ziele Mitbestimmung bedeutet im allgemeinen Wortsinn, dass bestimmte Entscheidungen nur durch die Mitwirkung von zwei oder mehr Personen oder Gruppen zustande kommen. In engerem Sinne ist mit Mitbestimmung gemeint, dass die von bestimmten Entscheidungen betroffenen Personen oder Personengruppen an derartigen Entscheidungen mitwirken. Die wesentliche Bedeutung einer Mitbestimmung allgemein liegt darin, dass „Herrschafts- oder Leitungsbefugnisse (= Entscheidungsmacht) [...] nicht einseitig, sondern unter Mitwirkung der von ihrem Vollzug Betroffenen ausgeübt werden [sollen]“ (Zöllner/Loritz/Hergenröder 2015, S. 601). Der Wesensgehalt, die Funktion einer Mitbestimmung der Arbeitnehmer, liegt in der Aufhebung einseitig ausgeübter Herrschafts- oder Leitungsbefugnisse durch die Beteiligung der von Entscheidungen Betroffenen mit dem Ziel, bei diesen Entscheidungen die Interessen der Betroffenen zu berücksichtigen, zumindest aber eine Verletzung dieser Interessen auszuschließen. Eine solche Mitbestimmung im Sinne der Mitwirkung an Entscheidungen, die die Arbeitnehmer in ihrer Rolle als Arbeitnehmer betreffen, wurde bisher auf der betrieblichen, der Unternehmensund der gesamtwirtschaftlichen Ebene entwickelt.1 Die betriebliche Mitbestimmung ist das Recht der Arbeitnehmer eines Betriebs, an den sie betreffenden betrieblichen Entscheidungen, z. B. über die Betriebsordnung, das Lohnsystem, über Umstufungen, Versetzungen und Urlaubsregelungen, über Betriebsverlagerungen und Betriebsstilllegungen in bestimmter Weise beteiligt zu werden und diese Entscheidungen zu beeinflussen bzw. an ihnen mitzuwirken. Die Mitbestimmung im Unternehmen ist das Recht der Arbeitnehmer bzw. ihrer Vertreter, an Entscheidungen der leitenden Unternehmensorgane mitzuwirken.2 Die gesamtwirtschaftliche (überbetriebliche) Mitbestimmung ist das Recht der Arbeitnehmer bzw. ihrer Vertreter, an wirtschaftlichen, sozialen sowie wirtschafts- und sozialpolitischen Entscheidungen mitzuwirken, die außerhalb von Betrieben und Unternehmungen getroffen werden,

1

Zur Geschichte der Mitbestimmung vgl. Teuteberg 1961, Abelshauser 1999 sowie Lampert 1980 passim. Unter einer „Unternehmung“ versteht man eine einem oder mehreren Betrieben übergeordnete wirtschaftliche, finanzielle und rechtliche Einheit, unter „Betrieb“ eine organisatorisch-technische Einheit zur Produktion von Gütern und Leistungen. 2

189

© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2021 J. Althammer et al., Lehrbuch der Sozialpolitik, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56258-1_9

190

9 Mitbestimmung der Arbeitnehmer

aber die Arbeitnehmer unmittelbar betreffen, wie z. B. Entscheidungen der Verwaltung der Sozialversicherungen, der Arbeitsverwaltung oder der arbeitsrechtlichen Rechtspflege. Die Notwendigkeit einer Mitbestimmung im Betrieb und im Unternehmen ergibt sich aus spezifischen Merkmalen der Betriebe und der auf Privateigentum beruhenden Unternehmen. Wie bereits (S. 34 f.) dargestellt, ist in den arbeitsteilig organisierten Betrieben eine Einordnung der Arbeitskräfte in die betriebliche Hierarchie, in die Arbeitsorganisation und -disziplin, in die Gesamtheit betrieblicher Regelungen nötig. Diese überwiegend von der Betriebsleitung getroffenen Regelungen berühren unmittelbar elementare Arbeitnehmerinteressen, z. B. das Interesse 1. an der Erhaltung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und der Gesundheit, d. h. das Interesse an entsprechenden Arbeitszeiten, an ausreichenden Ruhe- und Erholungspausen, an akzeptablen Arbeitsgeschwindigkeiten sowie an Unfall- und Gesundheitsschutzmaßnahmen; 2. an menschenwürdiger Behandlung, d. h. das Interesse an der Respektierung der Persönlichkeit durch die Vorgesetzten; 3. an Gleichbehandlung im Vergleich zu Arbeitskollegen; 4. an einer von Willkür freien Behandlung; 5. an leistungsgerechter Entlohnung und 6. an der Sicherheit des Arbeitsplatzes. Da diese Interessen nur zum Teil durch den Arbeitnehmerschutz gewahrt werden können und Arbeitnehmerschutzmaßnahmen überdies den Nachteil haben, generelle Regeln zu sein, die betrieblichen Eigenheiten und Notwendigkeiten nicht ausreichend Rechnung tragen können, ist eine betriebliche Mitbestimmung unverzichtbar, wenn in einer Gesellschaft das Ziel sozialer Gerechtigkeit verfolgt wird. Die Forderung nach Mitbestimmung der Arbeitnehmer in den Unternehmungen ist mit der Forderung nach betrieblicher Mitbestimmung auf das Engste verknüpft, weil zahlreiche unternehmerische Entscheidungen in den Betrieb hineinwirken und Arbeitnehmerinteressen unmittelbar berühren, so dass es konsequent erscheint, zur Wahrung dieser Interessen die Mitwirkungsrechte im Betrieb durch Mitwirkungsrechte im Unternehmen zu ergänzen. Die Hauptbegründung für die Forderung nach Unternehmensmitbestimmung im Sinne institutioneller Teilhabe der Arbeitnehmer an den unternehmerischen Planungen und Entscheidungen durch die Entsendung von Vertretern in das für die Bestellung und Kontrolle der Unternehmensleitung entscheidende Organ (Aufsichtsrat) setzt an einer Kritik der auf Privateigentum an Produktionsmitteln beruhenden Unternehmensverfassung an. Diese Verfassung ist dadurch charakterisiert, dass den Kapitaleigentümern das Recht der Bestellung der Unternehmensleitung, das Recht der alleinigen Disposition über das Unternehmen und über den Einsatz der Produktionsfaktoren und auch das Recht der alleinigen Disposition über den Produktionsertrag zusteht. Diese Unternehmensverfassung, die die Berücksichtigung der Interessen der Arbeitnehmer in die Hände der Kapitaleigner und der Unternehmensleitung legt und damit das wirtschaftliche und soziale Schicksal der Arbeitnehmer den Kapitalinteressen unterordnet, ist ein Produkt der Rechtsordnung und keine Naturgegebenheit. Das hat vor allem Oswald v. Nell-Breuning, vor ihm aber auch schon Götz Briefs, herausgearbeitet (vgl. Nell-Breuning 1968b, S. 54 f., 137 sowie Briefs 1926, S. 146 f.). Neben diesem wesentlichen Ziel der Unternehmensmitbestimmung, eine sozial orientierte Unternehmenspolitik abzusichern und zu fördern, wird zur Begründung der Mitbestimmung im Unternehmen darauf verwiesen, dass Kapital und Arbeit für das Unternehmen gleich unentbehrlich sind, so dass es ungerechtfertigt erscheint, den Kapitaleignern ungleich mehr Verfügungsrechte

9.2 Ausgestaltung der Betriebs- und Unternehmensverfassung

191

einzuräumen, zumal die Arbeitnehmer das Risiko des Arbeitsplatzverlustes zu tragen haben. Der Idee der rechtlichen und wirtschaftlichen Gleichberechtigung zwischen Anteilseignern und Arbeitnehmern entspricht eine paritätische oder nahezu paritätische Besetzung des Aufsichtsrates. Neben diesen zentralen Zielen der institutionellen Absicherung einer sozial orientierten Unternehmenspolitik sowie der Herstellung der Gleichberechtigung und der Gleichrangigkeit der Kapitaleigner und der Arbeitnehmer in Bezug auf die Bestellung und Kontrolle der Unternehmensleitung werden als Ziele der Mitbestimmung im Unternehmen die Demokratisierung der Wirtschaft, die Kontrolle von Unternehmensmacht und die Sicherung der Würde der Person und ihrer freien Entfaltung genannt. Das Ziel der Demokratisierung, verstanden als die Notwendigkeit der Legitimation der zur Machtausübung berechtigten Leitung von Großunternehmungen durch Mitwirkung der Arbeitnehmer bei der Bestellung, Abberufung und Kontrolle der Unternehmensleitung, ist im Grunde mit dem Ziel der Herstellung der Gleichberechtigung von Kapital und Arbeit identisch. Ob die Mitbestimmung im Unternehmen geeignet ist, einen Beitrag zur Wahrung der Menschenwürde und ihrer Entfaltung zu leisten und Unternehmensmacht zu kontrollieren, soll hier offen bleiben (vgl. zu diesen Fragen Kommission zur Modernisierung der deutschen Unternehmensmitbestimmung 2006). Die Notwendigkeit der überbetrieblichen Mitbestimmung wurde und wird damit begründet, dass den durch öffentlich-rechtliche Regelungen der Arbeitsbedingungen, insbes. des Arbeitnehmerschutzes, betroffenen Arbeitnehmern bei der Verabschiedung solcher Regelungen wenigstens Beratungsrechte eingeräumt werden sollten und dass angesichts der Bedeutung wirtschafts- und sozialpolitischer Entscheidungen der Parlamente für Beschäftigung und Einkommen, d. h. auch für die Lebenslage der Arbeitnehmerschaft, eine Beratung der Gesetzgebungsorgane sinnvoll erscheint.

9.2 Ausgestaltung der Betriebs- und Unternehmensverfassung 9.2.1 Die Ausgestaltung der Betriebsverfassung 1952 wurde das erste Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) der Bundesrepublik verabschiedet, dem 1955 das für die Öffentliche Verwaltung des Bundes geltende Personalvertretungsgesetz (PersVG) folgte. Das BetrVG wurde 1972, das PersVG des Bundes 1974 neu kodifiziert. Für die Öffentliche Verwaltung der Länder gibt es eigene Personalvertretungsgesetze.

a) Grundzüge des Betriebsverfassungsgesetzes Nach dem Betriebsverfassungsgesetz 3 sind in allen Privatbetrieben mit fünf und mehr ständigen wahlberechtigten Arbeitnehmern4 , von denen drei wählbar sind, in geheimer und unmittelbarer 3 Vgl. Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) i. d. F. vom 25.09.2001, zuletzt geändert durch Gesetz vom 18.12.2018. Siehe hierzu auch die Kommentare von Fitting et al. 2018 sowie Wiese/Kreutz/Raab 2018. 4 Nicht als Arbeitnehmer im Sinne des BetrVG gelten leitende Angestellte.

192

9 Mitbestimmung der Arbeitnehmer

Wahl Betriebsräte zu wählen. Die Anzahl der Betriebsratsmitglieder variiert mit der Betriebsgröße (§ 9 BetrVG). In Betrieben mit mindestens fünf Jugendlichen oder Auszubildenden werden von den jugendlichen Arbeitnehmern und Auszubildenden besondere Jugend- und Auszubildendenvertreter gewählt (§ 60 ff.). Das BetrVG findet keine Anwendung auf Kleinbetriebe mit weniger als fünf Beschäftigten und auf Religionsgemeinschaften sowie deren karitative und erzieherische Einrichtungen (§ 118 Abs. 2). Auf sog. Tendenzbetriebe5 findet das BetrVG nur eine eingeschränkte Anwendung (§ 118 Abs. 1). Der Betriebsrat ist Repräsentationsorgan der Belegschaft und nimmt die Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte in sozialen, personellen und wirtschaftlichen Angelegenheiten wahr. Um eine wirksame Vertretung der Arbeitnehmerinteressen zu ermöglichen, sind die Betriebsräte besonders geschützt: durch Arbeitsentgeltgarantien, durch das Recht auf Freistellung von der Arbeit zur Wahrnehmung ihrer Funktionen und zur Teilnahme an Bildungs- und Schulungsveranstaltungen (§ 37) sowie durch einen besonderen Kündigungsschutz (§ 103 BetrVG und § 15 KSchG). Der Betriebsrat ist als ein prinzipiell von den Gewerkschaften unabhängiges Organ des Betriebs konzipiert6 (§ 2 Abs. 1 BetrVG). Er ist verpflichtet, die Interessen der Gesamtbelegschaft zu vertreten, und gehalten, darüber zu wachen, dass jede unterschiedliche Behandlung von Personen wegen ihrer Abstammung, Religion, Nationalität, Herkunft, politischen und gewerkschaftlichen Betätigung oder wegen ihres Geschlechts unterbleibt (§ 75 BetrVG). Die Generalklausel des Gesetzes, nämlich § 2 Abs. 1 BetrVG, fordert: „Arbeitgeber und Betriebsrat arbeiten [...] vertrauensvoll [...] zum Wohl der Arbeitnehmer und des Betriebs zusammen.“ Diesem Gedanken der auf Vertrauen und Kooperation beruhenden Betriebspartnerschaft entsprechen die Grundsätze der Friedenspflicht und des Arbeitskampfverbotes (vgl. § 74 Abs. 2). Die in § 2 BetrVG statuierte Eigenständigkeit des Betriebsrates als gewerkschaftsunabhängiges, betriebliches Organ findet eine sinnvolle Ergänzung in dem in § 2 Abs. 2 festgelegten Zugangsrecht der Gewerkschaften zu den Betrieben. Von den im Gesetz enthaltenen Rechten der im Betrieb vertretenen Gewerkschaften (§§ 14 Abs. 5, 16 Abs. 2, 17 Abs. 2 und 3, 19 Abs. 2, 23 Abs. 1 und 3, 43 Abs. 4 und 46) sind insbesondere das Recht der Wahlanfechtung (§ 19 Abs. 2) und das Recht der Beantragung des Ausschlusses eines Betriebsratsmitgliedes bei grober Pflichtverletzung (§ 23 Abs. 1) durch das Arbeitsgericht hervorzuheben. Sowohl die Gewerkschaften als auch die Arbeitgebervereinigungen haben für den Betriebsrat bzw. den Arbeitgeber Hilfs- und Schutzfunktionen und daher bestimmte Teilnahmerechte an Betriebsversammlungen (§ 46) und an Betriebsratssitzungen (§ 29 Abs. 4 und § 31). Die Rechte der Arbeitnehmer und ihrer Vertretungsorgane umfassen 1. Rechte des einzelnen Arbeitnehmers, 2. Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte des Betriebsrates bei der Berufsbildung sowie 3. Mitbestimmungsrechte des Betriebsrates a. in sozialen, b. in personellen und c. in wirtschaftlichen Angelegenheiten. Im BetrVG sind sechs verschiedene Qualitäten von Mitbestimmungsrechten enthalten, nämlich: 5

Tendenzbetriebe sind Betriebe, die unmittelbar und überwiegend politischen, koalitionspolitischen, konfessionellen, karitativen, erzieherischen, wissenschaftlichen oder künstlerischen Bestimmungen oder Zwecken der Berichterstattung oder Meinungsäußerung (Presse, Rundfunk, Film) dienen. 6 Allerdings bestehen zwischen Betriebsräten und Gewerkschaften enge personelle Verflechtungen: rund 80 % der Betriebsräte sind Gewerkschaftsmitglieder.

9.2 Ausgestaltung der Betriebs- und Unternehmensverfassung

193

I. Mitwirkungs- und Mitspracherechte, und zwar 1. Informationsrechte, die die Basis für die Wahrung der individuellen und der Mitspracherechte des Betriebsrates sind (z. B. §§ 80 Abs. 2, 90, 92, 99 Abs. 1, 106, 110 und 111); 2. Anhörungsrechte, die sicherstellen, dass der Arbeitgeber vor bestimmten Entscheidungen den Betriebsrat hört (z. B. § 102 Abs. 1); 3. Beratungsrechte, die den Arbeitgeber zwingen, von sich aus den Betriebsrat zur Beratung hinzuzuziehen und sich auf Einwendungen des Betriebsrates einzustellen (z. B. §§ 89, 90, 92, 96, 97 und 111); 4. Initiativ- und Vorschlagsrechte, die den Betriebsrat berechtigen, vom Arbeitgeber bestimmte Handlungen oder Unterlassungen zu verlangen (z. B. §§ 89, 91, 92 Abs. 2, 93, 96, 98 und 104); II. Mitbestimmungsrechte, und zwar 5. Einspruchsrechte, die den Arbeitgeber daran hindern, bestimmte Entscheidungen gegen den Willen des Betriebsrates zu treffen (z. B. §§ 98 Abs. 2, 99 Abs. 2 und 102 Abs. 3); 6. Zustimmungsrechte des Betriebsrates (z. B. § 77 Abs. 2, 87, 91, 94, 95, 98, 103 und 112). Nach den §§ 81 bis 86 hat jeder einzelne Arbeitnehmer folgende (Mitwirkungs- und Beschwerde-) Rechte, zu deren Wahrnehmung er ein Mitglied des Betriebsrats beratend hinzuziehen kann: 1. das Recht auf Unterrichtung durch den Arbeitgeber über seine Aufgabe und Verantwortung, über die Art seiner Tätigkeit, über Unfall- und Gesundheitsgefahren, über Maßnahmen und Einrichtungen zur Abwendung dieser Gefahren sowie über Veränderungen in seinem Arbeitsbereich und die damit verbundenen Ausbildungsmaßnahmen (§ 81); 2. das Recht auf Anhörung in betrieblichen Angelegenheiten, die seine Person betreffen, das Recht auf Stellungnahme zu den betreffenden Maßnahmen des Arbeitgebers und das Recht, Vorschläge für die Gestaltung des Arbeitsplatzes und des Arbeitsablaufes zu machen (§ 82 Abs. 1); 3. das Recht auf Erläuterung der Berechnung und Zusammensetzung seines Arbeitsentgeltes und auf Erörterung der Beurteilung seiner Leistungen sowie der Möglichkeiten seiner beruflichen Entwicklung im Betrieb (§ 82 Abs. 2); 4. das Recht auf Einsicht in seine Personalakten (§ 83); 5. das Recht auf Beschwerde, wenn er sich vom Arbeitgeber oder von Arbeitnehmern des Betriebs benachteiligt oder ungerecht behandelt oder in sonstiger Weise beeinträchtigt fühlt (§ 84). Der Betriebsrat hat bei Beschwerden von Arbeitnehmern, die er für berechtigt erachtet, auf Abhilfe hinzuwirken und im Falle der Nichteinigung mit dem Arbeitgeber die sogenannte Einigungsstelle anzurufen. Der Spruch dieser Einigungsstelle, die paritätisch mit betriebsfremden Personen und einem neutralen Vorsitzenden besetzt ist (§ 76), ersetzt die Einigung zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat (§ 85). Der Wahrung der Rechte einzelner Arbeitnehmer dient auch § 90, nach dem der Arbeitgeber den Betriebsrat über die Planung von Neu-, Um- und Erweiterungsbauten, von technischen Anlagen, Arbeitsverfahren, Arbeitsabläufen und Arbeitsplätzen rechtzeitig zu unterrichten und mit ihm zu beraten hat. Kommt eine Einigung über angemessene Maßnahmen zur Abwendung, Milderung oder zum Ausgleich von Belastungen nicht zu Stande, so entscheidet wiederum die Einigungsstelle (§ 91).

194

9 Mitbestimmung der Arbeitnehmer

In Bezug auf die Berufsbildung verpflichtet der Gesetzgeber den Arbeitgeber und den Betriebsrat, im Rahmen der betrieblichen Personalplanung die Berufsbildung der Arbeitnehmer zu fördern (§ 96). Vom Arbeitgeber wird verlangt, mit dem Betriebsrat über Einrichtungen zur Berufsbildung, über die Einführung betrieblicher Berufsbildungsmaßnahmen und über die Teilnahme von Belegschaftsmitgliedern an außerbetrieblichen Berufsbildungsmaßnahmen zu beraten (§ 97). Ferner werden dem Betriebsrat bei der Durchführung von betrieblichen Berufsbildungsmaßnahmen Mitbestimmungsrechte eingeräumt (§ 98), insbes. in Bezug auf die mit der Durchführung der Berufsbildung betrauten Personen (Widerspruchsrecht und Recht auf Verlangen der Abberufung) und in Bezug auf die Teilnehmer an Berufsbildungsmaßnahmen (Vorschlagsrecht). Das Recht der Mitbestimmung in sozialen Angelegenheiten (§ 87) umfasst im Einzelnen: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13.

Fragen der Betriebsordnung und des Verhaltens der Arbeitnehmer im Betrieb; die Festlegung der täglichen Arbeitszeiten und der Pausen; die Verteilung der Arbeitszeit auf die einzelnen Wochentage; die vorübergehende Verkürzung oder Verlängerung der betriebsüblichen Arbeitszeit; die Aufstellung allgemeiner Urlaubsgrundsätze sowie die Festlegung der zeitlichen Lage des Urlaubes; die Einführung und Anwendung von technischen Einrichtungen, die dazu bestimmt sind, das Verhalten oder die Leistung der Arbeitnehmer zu überwachen; Regelungen über die Verhütung von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten sowie über den Gesundheitsschutz; die Form, die Ausgestaltung und die Verwaltung von sozialen Einrichtungen; die Zuweisung und die Kündigung von Werkswohnungen; die Festsetzung der Akkord- und Prämiensätze sowie vergleichbarer leistungsbezogener Entgelte; die Aufstellung von Entlohnungsgrundsätzen und die Einführung neuer Entlohnungsmethoden; Grundsätze über das betriebliche Vorschlagswesen; Grundsätze über die Durchführung von Gruppenarbeit.

Die Vorschriften über die Mitbestimmung in personellen Angelegenheiten enthalten Bestimmungen über allgemeine personelle Angelegenheiten und über die Mitbestimmung bei personellen Einzelmaßnahmen. Nach den Bestimmungen über allgemeine personelle Angelegenheiten (§§ 92 bis 98) hat der Betriebsrat in Bezug auf die Personalplanung, insbes. die sich daraus ergebenden personellen Maßnahmen, das Recht auf Information und das Recht auf Beratung mit dem Arbeitgeber über die erforderlichen Maßnahmen und über die Vermeidung von Härten. Hinsichtlich der Einführung einer Personalplanung und ihrer Durchführung hat der Betriebsrat ein Vorschlagsrecht. Er kann verlangen, dass zu besetzende Arbeitsplätze innerhalb des Betriebs ausgeschrieben werden. Durch diese Vorschrift werden aber die Chancen betriebsexterner Arbeitnehmer auf Einstellung erheblich verringert, d. h. die Arbeitsmarktsegmentierung wird verstärkt. Personalfragebogen bedürfen ebenso wie der Erlass von Richtlinien über die Personalauswahl bei Einstellungen, Versetzungen, Umgruppierungen und Kündigungen der Zustimmung des Betriebsrates. Die Mitbestimmungsrechte bei personellen Einzelmaßnahmen (§§ 99 bis 103) gelten für Unternehmen mit mehr als 20 Arbeitnehmern. Der Arbeitgeber hat den Betriebsrat vor jeder Einstellung, Eingruppierung, Umgruppierung und Versetzung zu unterrichten, ihm die einschlägigen Unterlagen vorzulegen und die Zustimmung des Betriebsrates einzuholen. In bestimmten Fällen

9.2 Ausgestaltung der Betriebs- und Unternehmensverfassung

195

kann der Betriebsrat seine Zustimmung verweigern. Der Betriebsrat ist vor jeder Kündigung zu hören. Bei Vorliegen bestimmter Tatbestände kann der Betriebsrat einer ordentlichen Kündigung widersprechen. Ein solcher Widerspruch kann zwar eine Kündigung nicht verhindern; er ist jedoch für die Erfolgsaussichten eines Kündigungsschutzprozesses von Bedeutung (vgl. § 102 Abs. 4 und 5). Die Mitbestimmungsrechte in wirtschaftlichen Angelegenheiten (§§ 106 bis 113) gelten für Unternehmen mit mehr als 100 Arbeitnehmern. In solchen Unternehmen ist vom Betriebsrat ein aus Betriebsangehörigen bestehender „Wirtschaftsausschuss“ zu bilden, der vom Unternehmer rechtzeitig und umfassend über alle Vorgänge zu unterrichten ist, die die Interessen der Arbeitnehmer wesentlich berühren können. Hierzu zählen insbes. die wirtschaftliche und finanzielle Lage des Unternehmens, das Produktions- und Investitionsprogramm, die Produktions- und Absatzlage, Rationalisierungsvorhaben, Fabrikations- und Arbeitsmethoden, die Einschränkung oder Stilllegung von Betrieben oder Betriebsteilen, die Verlegung oder der Zusammenschluss von Betrieben sowie die Änderung der betrieblichen Organisation oder des Betriebszweckes. Für den Fall von Betriebsänderungen – das sind Einschränkungen, Stilllegungen, Verlegungen und Zusammenschlüsse von Betrieben, Änderungen der Betriebsorganisation und die Einführung neuer Arbeitsmethoden und Fertigungsverfahren –, die wesentliche Nachteile für die Belegschaft zur Folge haben können, ist die Pflicht zur Unterrichtung des Betriebsrates und zur Beratung mit dem Betriebsrat besonders unterstrichen worden (§ 111). Der Gesetzgeber verlangt in den genannten Fällen die Herbeiführung eines Interessenausgleichs und die Aufstellung eines Sozialplanes7 (§ 112). Im Falle des Nichtzustandekommens eines Interessenausgleichs und einer Nichteinigung über einen Sozialplan können der Unternehmer oder der Betriebsrat den Präsidenten der Regionaldirektion für Arbeit um Vermittlung ersuchen oder die „Einigungsstelle“ anrufen (§ 112 Abs. 2 bis 4).8 Die Einigungsstelle hat sich um die Herbeiführung einer gütlichen Einigung zu bemühen und muss, wenn eine Vermittlung misslingt, einen Sozialplan aufstellen, wobei sowohl die sozialen Belange der betroffenen Arbeitnehmer zu berücksichtigen sind als auch die Vertretbarkeit der Entscheidung für das Unternehmen zu beachten ist (§ 112 Abs. 5). Das BetrVG aus dem Jahre 1952 wurde in den Jahren 1972 und 2001 neu gefasst. Die Neukodifikation des BetrVG aus dem Jahre 1972 brachte für die Arbeitnehmer erheblich erweiterte Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte. Eine Reihe von individuellen Mitbestimmungsrechten wurde neu aufgenommen, die Mitbestimmungsrechte des Betriebsrates wurden vor allem im sozialen und personellen Bereich erheblich ausgebaut, der Schutz der Mitglieder des Betriebsrates wurde verstärkt, die Stellung der Gewerkschaft innerhalb der Betriebsverfassung wurde präzisiert. Durch die Novellierung des BetrVG im Jahre 2001 wurde die bis dahin bestehende Unterscheidung zwischen Arbeitern und Angestellten abgeschafft, in Betrieben mit mehr als 100 Arbeitnehmern die Möglichkeit zur Delegation von Betriebsratsaufgaben auf Arbeitsgruppen geschaffen (§ 28a BetrVG) sowie der Aufgabenkatalog des Betriebsrats um den betrieblichen Umweltschutz, die Beschäftigungssicherung und die Förderung der Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit erweitert (§ 80 BetrVG).

7

Vgl. zu den Funktionen und Wirkungen von Sozialplänen Schellhaaß 1989 (Lit.). Wenn eine geplante Betriebsänderung allein in der Entlassung von Arbeitnehmern besteht, kann die Einigungsstelle nur dann entscheiden, wenn die Entlassungen bestimmte Größenordnungen überschreiten (§ 112a Abs. 1) oder wenn ein Unternehmen mindestens vier Jahre bestanden hat (§ 112a Abs. 2). 8

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9 Mitbestimmung der Arbeitnehmer

b) Die Personalvertretungsgesetze Das 1974 novellierte Bundespersonalvertretungsgesetz 9 aus dem Jahre 1955 und die Personalvertretungsgesetze der Länder erfüllen für die Angehörigen der Dienststellen und der Betriebe des Bundes, der Länder und der Gemeinden die Funktionen, die das BetrVG für die Arbeitnehmer in Privatbetrieben erfüllt. Die Notwendigkeit einer besonderen Regelung für die Betriebsverfassung im Bereich der Öffentlichen Dienste ergibt sich in erster Linie daraus, dass eine gleichberechtigte Mitbestimmung der Personalvertretung bei der Einstellung, Beförderung und Entlassung im Öffentlichen Dienst mit dem Prinzip des demokratischen Rechtsstaates und den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums nicht zu vereinbaren ist, da die Personalhoheit bezüglich der Beamten wesentlicher Teil der Regierungsgewalt ist und Personalentscheidungen über Beamtenverhältnisse der Regierung vorbehalten bleiben müssen. Ein weiterer Grund für die Sonderregelung ist in der Tatsache zu sehen, dass sich Mitwirkungsrechte in wirtschaftlichen Angelegenheiten für den Öffentlichen Dienst erübrigen, da die öffentliche Verwaltung – anders als Privatbetriebe – nicht Element von Märkten und nicht auf wirtschaftliche Zwecke ausgerichtet ist, sondern auf die Erfüllung öffentlicher Interessen. Da der Bund für die Landes- und Gemeindebeamten keine Gesetzgebungskompetenz hat, gilt das Bundespersonalvertretungsgesetz nur für die Dienststellen und Betriebe des Bundes sowie für die bundesunmittelbaren juristischen Personen des öffentlichen Rechts. Jedoch entsprechen die Personalvertretungsgesetze der Länder und Gemeinden nach Aufbau und materiellem Gehalt weitgehend den bundesrechtlichen Regelungen. Das für die Mitbestimmung in der öffentlichen Verwaltung entscheidende Organ ist der Personalrat, der – wie die Betriebsräte – in geheimer und unmittelbarer Wahl gewählt wird. Nach Aufgaben und Rechtsstellung unterscheiden sich der Personalrat und seine Mitglieder nicht prinzipiell vom Betriebsrat. Auch die Personalräte haben – wenn es zur ordnungsgemäßen Durchführung ihrer Aufgaben erforderlich ist – Anspruch auf Befreiung von den Dienstgeschäften ohne Minderung der Dienstbezüge, sind für die Teilnahme an Schulungs- und Bildungsveranstaltungen freizustellen und genießen einen besonderen Kündigungsschutz. Die Gruppen der Beamten, der Angestellten und der Arbeiter sind ihrem Anteil an der Belegschaft entsprechend im Personalrat vertreten und werden daher jeweils nur von den Angehörigen ihrer Gruppe gewählt. In Angelegenheiten, die nur die Angehörigen einer Gruppe betreffen, beschließen nur die Vertreter dieser Gruppe im Personalrat. Die Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte in sozialen und in personellen Angelegenheiten entsprechen im Grundsatz den entsprechenden Regelungen im BetrVG und sind lediglich aufgrund der Besonderheiten des Öffentlichen Dienstes modifiziert. Insbes. hinsichtlich der Beamten einerseits und der Arbeiter und Angestellten andererseits sind die Mitwirkungsmöglichkeiten des Personalrates unterschiedlich geregelt (vgl. dazu die §§ 75 f. des Bundespersonalvertretungsgesetzes). Im Gegensatz zur Möglichkeit der Erweiterung der Beteiligungsrechte des Betriebsrates durch Tarifvertrag oder Betriebsvereinbarung (nach §§ 86 und 88 BetrVG) können die Beteiligungsrechte des Personalrates nicht erweitert werden.

9 Vgl. Bundespersonalvertretungsgesetz (BPersVG) vom 15. März 1974, zul. geändert am 17. Juli 2017 sowie den Kommentar von Ilbertz 2015.

9.2 Ausgestaltung der Betriebs- und Unternehmensverfassung

197

c) Der Europäische Betriebsrat Der Europäische Betriebsrat ist die betriebliche Arbeitnehmervertretung in Unternehmen, die innerhalb der Europäischen Union grenzüberschreitend tätig sind. Rechtliche Grundlage des Europäischen Betriebsrats (EBR) ist die Europäische Betriebsratsrichtlinie vom 22.09.1994, die am 06.05.2009 novelliert wurde.10 Diese Richtlinie wurde durch das Gesetz über Europäische Betriebsräte (EBRG) in nationales Recht umgesetzt.11 Ein Unternehmen gilt innerhalb der Europäischen Union als grenzüberschreitend tätig, sofern das Unternehmen mindestens 1 000 Arbeitnehmer beschäftigt und hiervon mindestens 150 Beschäftigte in zwei Mitgliedsstaaten tätig sind. In diesen Fällen ist ein Europäischer Betriebsrat zu bilden. Die Struktur und die Arbeitsweise des EBR sind in der Richtlinie nicht näher geregelt; sie unterliegen der nationalen Gesetzgebung. In gemeinschaftsweit operierenden Unternehmen ist zunächst ein länderübergreifend zusammengesetztes Besonderes Verhandlungsgremium (BVG) aus Arbeitnehmervertretern zu bilden (Art. 5 der Richtlinie 2009/38/EG). Die Aufgabe des Besonderen Verhandlungsgremiums besteht darin, mit der zentralen Unternehmensleitung Vereinbarungen über Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in grenzübergreifenden Angelegenheiten zu treffen, die erhebliche Auswirkungen auf die Beschäftigten haben (Europäischer Betriebsrat „kraft Vereinbarung“). Kommt eine Einigung hierüber nicht zustande, erlangt - gleichsam als als subsidiäre Norm - die Einrichtung eines Europäischen Betriebsrats kraft Gesetz (Vierter Teil EBRG) Geltung. Danach ist ein Gremium von Arbeitnehmervertretern zu bilden, das regelmäßig über die Entwicklung der Geschäftslage und die Perspektiven des Unternehmens zu unterrichten und anzuhören ist. Über außergewöhnliche Entscheidungen wie die Verlegung oder Stilllegung von Betrieben oder Massenentlassungen sind die Arbeitnehmervertreter rechtzeitig zu informieren. Der Europäische Betriebsrat ist der Versuch, das System der Arbeitsbeziehungen in der Europäischen Union unter Wahrung nationaler Besonderheiten zu vereinheitlichen. Er ist jedoch kein Betriebsrat im Sinn der deutschen Betriebsverfassung, da ihm die Widerspruchs- und Mitbestimmungsrechte fehlen.

9.2.2 Die Ausgestaltung der Unternehmensverfassung a) Das Montanmitbestimmungsgesetz Das am 21.05.1951 verabschiedete Gesetz über die Montanmitbestimmung12 sieht für die Unternehmen des Bergbaus und der Eisen und Stahl erzeugenden Industrie, die in der Form einer Aktiengesellschaft, einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung oder einer bergrechtlichen Gewerkschaft mit eigener Rechtspersönlichkeit betrieben werden und mehr als 1 000 Arbeitnehmer beschäftigen, eine paritätische Besetzung der Aufsichtsräte vor (§ 4 MontanMitbestG). 10

Vgl. Richtlinie 94/45/EG des Rates vom 22.09.1994 sowie Richtlinie 2009/38/EG des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 06.05.2009. 11 Vgl. Gesetz über Europäische Betriebsräte (Europäische Betriebsräte-Gesetz - EBRG) vom 28.10.1996 i. d. F. vom 07.12.2011 zul. geändert am 17.07.2017. 12 Vgl. Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in den Aufsichtsräten und Vorständen der Unternehmen des Bergbaus und der Eisen und Stahl erzeugenden Industrie (MontanMitbestG) vom 21.05.1951, zuletzt geändert am 24.04.2015. Zur Mitbestimmung vgl. den Kommentar von Fitting et al. 2011.

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9 Mitbestimmung der Arbeitnehmer

In diesen Unternehmen werden von den in der Regel 11 (im Ausnahmefall 15 oder 21) Aufsichtsratsmitgliedern 5 (bzw. 7 oder 10) von den Anteilseignern, 5 (bzw. 7 oder 10) von den Arbeitnehmern entsandt (§§ 1, 4, 9). Das 11. (bzw. 15. oder 21.) „neutrale“ Mitglied muss der Hauptversammlung der Anteilseigner mit der Mehrheit der Stimmen des Aufsichtsrats vorgeschlagen werden; dabei müssen je drei Vertreter der Anteilseigner und der Arbeitnehmer ihre Zustimmung geben (§ 8). Unter den von den Arbeitnehmern in den Aufsichtsrat entsandten Vertretern müssen sich zwei Arbeitnehmer befinden, die in einem Betrieb des Unternehmens tätig sind. Die von den Arbeitnehmern entsandten Vertreter werden dem Wahlorgan durch die Betriebsräte der Betriebe des Unternehmens nach Beratung mit den im Betrieb vertretenen Gewerkschaften vorgeschlagen (§ 6). In den Vorstand des Unternehmens ist als gleichberechtigtes Mitglied ein „Arbeitsdirektor“ zu entsenden, der nicht gegen die Stimmen der Vertreter der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat bestellt oder abberufen werden kann (§ 13). In Konzernunternehmungen, die ein der Montanmitbestimmung unterliegendes Unternehmen beherrschen, gilt nach dem Montanmitbestimmungsergänzungsgesetz13 die gleiche paritätische Besetzung des Aufsichtsrates, sofern entweder mindestens ein Fünftel des Konzernumsatzes im Montanbereich erzielt wird oder wenn im Montanbereich des Konzerns mindestens ein Fünftel der Arbeitnehmer beschäftigt sind. Durch dieses Mitbestimmungsgesetz partizipieren die Vertreter der Arbeitnehmer an allen Entscheidungs- und Kontrollrechten, die einem Aufsichtsrat zustehen. Dazu gehören insbes. die Bestellung der Vorstandsmitglieder (§ 84 Aktiengesetz), die Beratung und Überwachung der Geschäftsführung des Vorstandes, die mit umfassenden Einsichts- und Kontrollbefugnissen verbunden sind (§ 111 AktG), sowie die Prüfung des Jahresabschlusses, des Vorschlags für die Gewinnverteilung und des Geschäftsberichtes (§ 171 AktG).

b) Das Mitbestimmungsgesetz Das Mitbestimmungsgesetz 14 gilt für alle Unternehmen, die in der Rechtsform einer Aktiengesellschaft, einer Kommanditgesellschaft auf Aktien, einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung, einer bergrechtlichen Gewerkschaft mit eigener Rechtspersönlichkeit und einer Genossenschaft betrieben werden und mehr als 2 000 Arbeitnehmer beschäftigen. Der Geltungsbereich des Mitbestimmungsgesetzes erstreckt sich nicht auf Unternehmen aus dem Montanbereich – diese unterliegen der Montanmitbestimmung – und auf sog. „Tendenzunternehmen“ im Sinne des § 118 des BetrVG. Die Aufsichtsräte der mitbestimmten Unternehmen werden paritätisch mit Vertretern der Anteilseigner und der Arbeitnehmer – je nach Unternehmensgröße je 6, 8 oder 10 Vertreter der jeweiligen Seite – besetzt. Je nach Größe des Aufsichtsrates müssen 4, 6 oder 7 Sitze mit Arbeitnehmern des Unternehmens besetzt sein (§ 7 MitbestG), wobei mindestens ein leitender Angestellter vertreten sein muss (§ 15 Abs. 1). Die restlichen Mitglieder der Arbeitnehmervertretung sind Vertreter der Gewerkschaften (§ 7 Abs. 2).

13

Vgl. Gesetz zur Ergänzung des Gesetzes über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in den Aufsichtsräten und Vorständen der Unternehmen des Bergbaus und der Eisen und Stahl erzeugenden Industrie vom 07.08.1956, zuletzt geändert am 24.04.2015. 14 Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer (Mitbestimmungsgesetz - MitbestG) vom 04.05.1976, zuletzt geändert am 24.04.2015. Vgl. dazu die Kommentare von Fitting et al. 2011 und Raiser/Veil/Jacobs 2015.

9.2 Ausgestaltung der Betriebs- und Unternehmensverfassung

199

Der Aufsichtsratsvorsitzende und sein Stellvertreter werden vom Aufsichtsrat mit Zweidrittelmehrheit gewählt. Wird bei der Wahl des Vorsitzenden oder seines Stellvertreters die erforderliche Mehrheit nicht erreicht, dann wählen die Vertreter der Anteilseigner den Aufsichtsratsvorsitzenden und die Vertreter der Arbeitnehmer den Stellvertreter jeweils mit der Mehrheit der abgegebenen Stimmen (§ 27). Für den Fall, dass im Aufsichtsrat wegen Stimmengleichheit eine Abstimmung wiederholt wird und sich dabei erneut Stimmengleichheit ergibt, erhält der Aufsichtsratsvorsitzende zwei Stimmen (§ 29 Abs. 2). Die Zusammensetzung der Aufsichtsräte und die Stimmrechtsregelung ist nicht voll paritätisch, da die Anteilseigner den Aufsichtsratsvorsitzenden bestimmen und nach Pattsituationen der Aufsichtsratsvorsitzende zwei Stimmen hat (sog. „Quasi-Parität“). Bei der Beurteilung dieser Konstruktion ist jedoch zu bedenken, dass es eine absolute Parität im Aufsichtsrat nicht geben kann, wenn nicht die Funktionsfähigkeit des Unternehmens gefährdet werden soll. Faktisch dürfte das rechtliche Übergewicht der Anteilseigner nicht so stark ins Gewicht fallen, weil nach aller Erfahrung die Einigung zwischen den beiden Blöcken von beiden Seiten erstrebt wird.15 Für den Vorstand wird als gleichberechtigtes Mitglied ein Arbeitsdirektor bestellt, der primär für Personal- und Sozialfragen zuständig ist. Im Gegensatz zum Montanmitbestimmungsgesetz haben die Vertreter der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat bei der Bestellung des Arbeitsdirektors kein Vetorecht; die Annahme, dass der Aufsichtsrat einen Arbeitsdirektor nicht gegen den Willen der Arbeitnehmervertreter bestellt, ist jedoch – auch nach den Erfahrungen mit dem Mitbestimmungsergänzungsgesetz von 1956 – berechtigt.

c) Das Drittelbeteiligungsgesetz Kapitalgesellschaften mit mehr als 500 Beschäftigten unterliegen den Mitbestimmungsregelungen des Drittelbeteiligungsgesetzes.16 Dieses Gesetz sieht vor, dass der Aufsichtsrat des Unternehmens zu einem Drittel mit Vertretern der Arbeitnehmer und zu zwei Dritteln mit Vertretern der Anteilseigner besetzt werden muss (§ 4 DrittelbG). Bildung und Zusammensetzung des Aufsichtsrats sind je nach Rechtsform unterschiedlich geregelt. Bei mehr als drei Arbeitnehmervertretern können auch unternehmensexterne Gewerkschaftsvertreter in den Aufsichtsrat gewählt werden.

d) Die Unternehmensmitbestimmung in der Europäischen Gesellschaft (SE) Seit 2004 können Unternehmen, die ihren Sitz in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union haben, neben den nationalen Gesellschaftsformen auch die Rechtsform der Europäischen Gesellschaft (Societas Europaea, SE) wählen. Die Europäische Gesellschaft (auch: Europäische Aktiengesellschaft) ist eine Kapitalgesellschaft europäischen Rechts. Rechtliche Grundlagen der SE sind die „Verordnung über das Statut der Europäischen Gesellschaft“ sowie die Richtlinie zur

15

Vgl. Mitbestimmungskommission 1970, S. 62. Gesetz über die Drittelbeteiligung der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat (Drittelbeteiligungsgesetz - DrittelbG) vom 18.05.2004, zuletzt geändert am 24.04.2015. Das Drittelbeteiligungsgesetz ersetzt die Unternehmensmitbestimmung nach dem BetrVG. 16

200

9 Mitbestimmung der Arbeitnehmer

Ergänzung dieses Status hinsichtlich der Beteiligung der Arbeitnehmer.17 Diese wurden 2004 durch das Gesetz zur Einführung der Europäischen Gesellschaft - SEEG in nationales Recht umgesetzt. Dieses Gesetz untergliedert sich in einen gesellschaftsrechtlichen Teil (SEAG) und einen mitbestimmungsrechtlichen Teil (SEBG).18 Die Regelungen des Betriebsverfassungsgesetzes finden auf die SE uneingeschränkt Anwendung (§ 47 SEBG). Hinsichtlich der Unternehmensverfassung sind sowohl das monistische wie das dualistische System möglich. Beim dualistischen System (two-tier system) findet eine explizite Trennung von Geschäftsführung (Vorstand) und Kontrolle (Aufsichtsrat) statt. Im monistischen System (one-tier system) gibt es keine klare Trennung zwischen Leitung und Kontrolle. Beide Funktionen werden von demselben Organ (board of directors) wahrgenommen. Grundsätzlich gilt, dass eine SE wie eine Aktiengesellschaft nationalen Rechts behandelt wird (EG-VO 2157/2001, Titel 1, Art. 10). Im Fall der Gründung einer SE durch Umwandlung bleiben die Regelungen der Mitbestimmung erhalten, die in der Gesellschaft vor der Umwandlung bestanden haben (§ 35 Abs. 1 SEBG). Am 31.12.2017 gab es 2943 SEs in Europa. Davon sind nur 526 „normale“ SEs, d. h. mit einer tatsächlich operativ tätigen Gesellschaft ab fünf Arbeitnehmern. Hiervon liegen 289 (55%) in Deutschland. 186 weisen eine dualistische und 103 eine monistische Struktur auf (Hans-BöcklerStiftung 2018).

9.2.3 Erfahrungen und Kontroversen Die Diskussion um die Mitbestimmung wird nach wie vor sehr kontrovers geführt. Ein Beleg für die weiterhin erheblichen Auffassungsunterschiede im Hinblick auf die Unternehmensmitbestimmung ist der gescheiterte Versuch, eine Kommission mit der Aufgabe zu betrauen, das deutsche Mitbestimmungsrecht zu modernisieren und an europäische Erfordernisse anzupassen. Diese im Jahr 2005 unter Vorsitz von Kurt Biedenkopf eingerichtete sog. „Zweite BiedenkopfKommission“19 sah sich nicht in der Lage, eine gemeinsame Stellungnahme abzugeben. Der Endbericht der Kommission besteht aus dem Bericht der wissenschaftlichen Mitglieder der Kommission sowie den Stellungnahmen der Vertreter der Unternehmen und der Arbeitnehmer. Diskutiert wurden und werden 1. die Frage der Vereinbarkeit der Mitbestimmung mit der Eigentumsgarantie (Art. 14 GG) und der Tarifautonomie (Art. 9 III GG), 2. die Frage der Zusammensetzung der Arbeitnehmervertreter aus Mitarbeitern des Unternehmens und unternehmensfremden Gewerkschaftsvertretern, 17

Vgl. Verordnung (EG) Nr. 2157/2001 des Rates vom 08.10.2001 über das Statut der Europäischen Gesellschaft (SE) sowie Richtlinie 2001/86/EG des Rates vom 08.10.2001 zur Ergänzung des Status der Europäischen Gesellschaft hinsichtlich der Beteiligung der Arbeitnehmer. 18 Vgl. Gesetz zur Ausführung der Verordnung (EG) Nr. 2157/2001 des Rates vom 08.10.2001 über das Statut der Europäischen Gesellschaft (SE) (SE-Ausführungsgesetz - SEAG) vom 22.12.2004 zuletzt geändert am 12.12.2019 sowie Gesetz über die Beteiligung der Arbeitnehmer in einer Europäischen Gesellschaft (SEBeteiligungsgesetz - SEBG) vom 22.12.2004. 19 Kurt Biedenkopf wurde bereits im Jahr 1968 von der damaligen Bundesregierung mit der Leitung der „Sachverständigenkommission zur Auswertung der bisherigen Erfahrungen bei der Mitbestimmung (Mitbestimmungskommission)“ beauftragt.

9.2 Ausgestaltung der Betriebs- und Unternehmensverfassung

201

3. die Wirkungen der Mitbestimmung auf den Marktwert der Unternehmen sowie 4. die Wirkung der Mitbestimmung auf die Ansiedlung ausländischer Unternehmen und den Investitionsstandort Deutschland. Zu dem ersten Fragenkomplex hat das BVerfG bereits in seinem einschlägigen Urteil im Jahr 1978 Stellung genommen.20 Das BVerfG hat seinerzeit entschieden, dass das Gesetz nicht gegen die Eigentumsgarantie verstößt, weil sich die Begrenzung der Verfügungsrechte der Eigentümer in den Grenzen einer verfassungsrechtlich zulässigen Sozialbindung hält und das Gesetz den Arbeitnehmern keine volle Parität einräumt. Ein weiteres Problem betrifft die für die Tarifautonomie konstitutiven Prinzipien der Gegnerfreiheit, der Gegnerunabhängigkeit und der Waffengleichheit der Tarifparteien. Kritiker der Unternehmensmitbestimmung sehen diese Prinzipien nicht mehr als gewährleistet, wenn Personen, die von den Gewerkschaften abhängig oder beeinflussbar sind, in den entscheidenden Unternehmensorganen vertreten sind. Hierzu führte das Bundesverfassungsgericht aus, dass ein Einfluss der Arbeitnehmerseite oder der Gewerkschaften auf die Koalitionen der Arbeitgeber zwar nicht auszuschließen sei. Diese mögliche Einschränkung greife aber nicht in den Kernbereich von Art. 9 Abs. 3 ein, da die Angehörigen der Vertretungsorgane auf die Interessen der Unternehmen verpflichtet seien, etwaige persönliche oder Interessenkonflikte also zugunsten der Unternehmensinteressen entscheiden müssten. Nach den Einsichten der Mitbestimmungskommission wird das Problem auch erstens dadurch entschärft, dass die Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsräten sich im Bewusstsein des Konfliktes zwischen Mitbestimmung und tarifvertraglichen Regelungen der Arbeitsbedingungen bemühten, durch die klare Wahrung der Zuständigkeitsverteilung solche Konflikte zu vermeiden und zweitens dadurch, dass von den Gewerkschaften die den Arbeitsdirektoren durch ihre Mitgliedschaft in der Tarifkommission zugewiesene Rolle als Vertreter der Unternehmen voll anerkannt worden ist (Mitbestimmungskommission 1970, S. 82-84). Inwieweit sich die Mitbestimmung im Betrieb und im Unternehmen auf Produktivität, Rentabilität und den Marktwert des mitbestimmten Unternehmens auswirkt, ist sowohl theoretisch wie empirisch ungeklärt. So besteht einerseits die Gefahr, dass durch die Mitbestimmung der Arbeitnehmer die Anpassungsfähigkeit der Unternehmen an Änderungen der Marktverhältnisse, der Faktorpreisrelationen und der Technologie beeinträchtigt wird. Darüber hinaus wird kritisiert, dass durch die Mitbestimmung im Sinne der rent-seeking Theorie eine Umverteilung der Kapitalrendite erfolgt, so dass die Investitionsrendite und damit die Investitionsneigung sinken. Andererseits können Mitbestimmungsorgane aber auch produktivitätssteigernde Wirkungen entfalten. Nach dem collective-voice-Ansatz haben Vertretungsorgane die Aufgabe, Informationen über die Präferenzen der Beschäftigten zu bündeln und Kritik an den Arbeitsbedingungen zum Ausdruck bringen. Dadurch steigt die Arbeitszufriedenheit und die Motivation der Beschäftigten. Zusätzlich verringert sich die Fluktuationsrate im Unternehmen, so dass Investitionen in betriebsspezifisches Humankapital rentabel werden.21 Schließlich haben die Belegschaftsvertreter gerade in jüngster Zeit in zahlreichen Fällen sog. „Standortvereinbarungen zur Beschäftigungssicherung“ zugestimmt bzw. diese nachhaltig mitgestaltet. Standortvereinbarungen werden von beiden Seiten freiwillig eingegangen und zählen 20

Unternehmen und Arbeitgeberverbände hatten gegen das MitbestG von 1976 Klage eingereicht mit der Begründung, das Gesetz verletze Art. 14 Abs. 1 GG und Art. 9 Abs. 3 GG, weil die Präsenz der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat die Verfügungsrechte der Kapitaleigner erheblich einschränke und die Gegnerfreiheit und Gegnerunabhängigkeit der Arbeitgeberkoalition nicht mehr gewährleiste (vgl. BVerfGE 50, 290). 21 Vgl. hierzu Freeman 1976 und Freeman/Lazear 1995.

202

9 Mitbestimmung der Arbeitnehmer

nicht zum Katalog der erzwingbaren Mitbestimmungsrechte. Gegenstände dieser Vereinbarungen sind die Investitionspläne des Unternehmens, Anpassungen der Belegschaftsgröße und bestimmte Aspekte der Entlohnung. Allerdings beschränken sich Standortvereinbarungen zumeist auf passive Maßnahmen zur Sicherung bereits bestehender Beschäftigungsverhältnisse. Die empirischen Befunde zu den Effekten der betrieblichen Mitbestimmung auf Produktivität, Lohnentwicklung und Betriebsergebnis fallen ebenfalls uneinheitlich aus.22 Studien, die lediglich die Existenz eines Betriebsrats zur Erklärung der Produktivität oder Rentabilität eines Unternehmens berücksichtigen, gelangen i. d. R. zu einem negativen Ergebnis. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass Arbeitnehmer insbesondere in wirtschaftlich schwierigen Situationen ein Interesse an betrieblicher Mitbestimmung haben. Betriebsräte werden somit häufig in Phasen der betrieblichen Umstrukturierung oder bei einem drohenden Personalabbau eingerichtet. Sofern über dieses Endogenitätsproblem korrigiert wird und weitere Determinanten wie die Unternehmensgröße und die Tarifbindung des Unternehmens berücksichtigt werden, ergibt sich ein positiver Effekt auf die Arbeitsproduktivität und die Profitabilität des Unternehmens. Darüber hinaus lässt sich feststellen, dass Unternehmen mit betrieblicher Mitbestimmung eine geringere Spreizung der innerbetrieblichen Lohnstruktur und ein höheres Maß an Umweltinvestitionen sowie familienfreundlichen Maßnahmen aufweisen. Zu den Effekten der Unternehmensmitbestimmung auf den Marktwert des Unternehmens existieren bislang nur wenige empirische Untersuchungen, die ebenfalls zu einem uneinheitlichen Ergebnis tendieren. Die wissenschaftlichen Mitglieder der „Kommission zur Modernisierung der deutschen Unternehmensmitbestimmung“ konnten jedoch keine Belege dafür finden, dass „mitbestimmte deutsche Unternehmen auf den internationalen Kapitalmärkten einen ’Mitbestimmungsabschlag’ hinnehmen müssten“ (Kommission zur Modernisierung der deutschen Unternehmensmitbestimmung 2006, S. 19). Neben den ökonomischen Argumenten um die Mitbestimmung ist zu berücksichtigen, dass sich die Mitbestimmung als ein geeignetes Instrument erwiesen hat, das Extrem einer kapitalistischen bzw. einer ausschließlich am shareholder value orientierten Unternehmensverfassung zu meiden und in einer eigenständigen Unternehmenskultur aufzuheben. „Eine von der rechtlichen und wirtschaftlichen Gleichberechtigung zwischen Anteilseignern und Arbeitnehmern im Unternehmen ausgehende Ordnung verlässt den Gedankenkreis des Kapitalismus und schreitet zu einem neuen Gestaltungsprinzip fort, das [...] zwischen Kapitalismus und Sozialismus steht, wenn man so will, eine gegenüber beiden neutrale, dritte Alternative bildet“ (Raiser 1973, S. 66).

9.3 Gesamtwirtschaftliche (überbetriebliche) Mitbestimmung Forderungen nach überbetrieblicher Mitbestimmung und entsprechende Einrichtungen haben in Deutschland eine lange Geschichte.23 In der Bundesrepublik sind mehrere Formen überbetrieblicher Mitbestimmung verwirklicht, nämlich erstens in den Einrichtungen der sozialen Sicherung, zweitens in der Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit, drittens im Bereich der berufsständischen Selbstverwaltung und viertens im politischen Willensbildungsprozess.

22 23

Vgl. die Synopse der empirischen Evidenz bei Jirjahn 2006 sowie die dort angegebene Literatur. Vgl. dazu Meinhold 1988 (Lit.).

9.3 Gesamtwirtschaftliche (überbetriebliche) Mitbestimmung

203

Im Bereich der Einrichtungen der Sozialversicherung wirken die Arbeitnehmervertreter an der Selbstverwaltung der sozialen Einrichtungen durch ihre Vertretung in den Organen der Sozialversicherungsträger mit. Die Organe der Träger der RV, der KV und der UV setzen sich je zur Hälfte aus Vertretern der Arbeitnehmer und Vertretern der Arbeitgeber zusammen.24 In den Organen der Bundesagentur für Arbeit und der Arbeitsagenturen sind die Arbeitnehmer ebenfalls vertreten. Sie stellen dort neben den Arbeitgebern und den Vertretern öffentlicher Körperschaften 1/3 der Mitglieder. Die Arbeitnehmervertreter werden von den Gewerkschaften vorgeschlagen. In der Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit haben die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer Mitwirkungsrechte, weil die Beisitzer sowohl der Gerichte für Arbeitssachen auf allen Ebenen (Arbeitsgerichte – Landesarbeitsgerichte – Bundesarbeitsgericht)25 als auch der Kammern für Angelegenheiten der Sozialversicherung und der Arbeitslosenversicherung bei den Sozialgerichten auf allen Ebenen (Sozialgerichte – Landessozialgerichte – Bundessozialgericht)26 paritätisch aus Arbeitnehmern und Arbeitgebern zusammengesetzt sind. Bei der Benennung der Vorsitzenden der Arbeitsgerichte und der Berufsrichter der Sozialgerichte haben die Gewerkschaften das Recht der Teilnahme an der Beratung in einem drittelparitätisch aus Gewerkschaften, Arbeitgebervertretern und Vertretern der Gerichtsbarkeit zusammengesetzten Ausschuss.27 Auch in berufsständischen Selbstverwaltungsorganen sind Arbeitnehmer vertreten: Die Hauptversammlungen der Handwerkskammern sowie der Landwirtschaftskammern sind zu 1/3 mit Gesellen bzw. Landarbeitern besetzt. In den Berufsbildungsausschüssen der Industrie- und Handelskammern, die für die Lehrabschlussprüfungen zuständig sind, haben die Gewerkschaften als Arbeitnehmervertreter paritätisches Mitentscheidungsrecht. Schließlich sind die Gewerkschaften und die Arbeitgeber neben weiteren gesellschaftlichen Gruppen auch in den Rundfunkräten der öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten vertreten. Sonderformen berufsständischer Selbstverwaltung kennen der Stadtstaat Bremen und das Saarland. Dort gibt es selbständige, von den Gewerkschaften unabhängige Arbeitnehmerkammern, die die Aufgabe haben, die Interessen von Arbeitern und Angestellten durch die Erstellung von Gutachten zu vertreten. Im politischen Willensbildungsprozess besteht zwar keine Mitbestimmung der Arbeitnehmerund der Arbeitgebervereinigungen, aber eine verstärkte Möglichkeit der Mitwirkung. Denn die Vertreter der Arbeitnehmerschaft sowie der Arbeitgeber und Unternehmerschaft können nicht nur – wie auch andere Gruppen – mit Hilfe ihrer Verbände am Willensbildungsprozess teilnehmen, sondern sie werden auch vom Gesetzgeber regelmäßig im Zusammenhang mit Gesetzgebungsvorhaben gehört. Spezifische Formen der überbetrieblichen Mitbestimmung stellten die „Konzertierte Aktion“ und das „Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit“ dar. 24

Ausnahmen sind: Die Bahnversicherungsanstalt und die Betriebskrankenkassen, in deren Organen nur ein Arbeitgebervertreter sitzt, der jedoch über 50 % aller Stimmen verfügt; die Bundesknappschaft, in deren Organen die Arbeitnehmer 2/3, die Arbeitgeber 1/3 der Mitglieder stellen; die Ersatz(kranken)kassen, die ausschließlich von Arbeitnehmervertretern verwaltet werden; die landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften mit je 1/3 Arbeitnehmervertretern, Arbeitgebervertretern und Vertretern solcher Selbständigen, die keine fremden Arbeitskräfte beschäftigen. 25 Vgl. §§ 6, 16, 20, 23, 35, 41 und 45 des Arbeitsgerichtsgesetzes v. 03.09.1953 i. d. F. vom 02.07.1979, zuletzt geändert durch Gesetz vom 12.12.2019. 26 Vgl. §§ 3, 12, 14, 33, 38, 41 und 46 des Sozialgerichtsgesetzes v. 03.09.1953 i. d. F. vom 23.09.1975, zuletzt geändert durch Gesetz vom 12.12.2019. 27 Vgl. §§ 18 und 36 Arbeitsgerichtsgesetz und § 11 Sozialgerichtsgesetz.

204

9 Mitbestimmung der Arbeitnehmer

Die „Konzertierte Aktion“ wurde 1967 begründet und tagte mehrmals (in der Regel zweimal) jährlich unter der Federführung und Leitung des Bundeswirtschaftsministers. Neben dem Bundeswirtschaftsminister als Vorsitzendem, dem Bundesfinanzminister, einem Vertreter der Bundesbank und Mitgliedern des Sachverständigenrates nahmen v.a. 9 bis 10 Gewerkschaftsvertreter und eine etwa gleiche Zahl von Arbeitgeber- und Unternehmensvertretern teil. Ziel der Sitzungen war es, die beteiligten Verbandsvertreter für ein aufeinander abgestimmtes (konzertiertes) Verhalten zur makroökonomischen Nachfragesteuerung zu gewinnen. Aus Protest gegen die Arbeitgeberklage gegen das MitbestG nahmen die Gewerkschaften seit 1977 nicht mehr an der Aktion teil und brachten sie dadurch zum Scheitern. Sie war ein ordnungspolitisch sehr umstrittenes Instrument der Mitbestimmung und ein letztlich untaugliches Instrument der Einkommenspolitik. Trotz der insgesamt enttäuschenden Bilanz der „Konzertierten Aktion“ unternahm die Bundesregierung im Jahr 1998 mit dem „Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit“ einen erneuten Anlauf, um die Wirtschafts- und Sozialpolitik zwischen Bundesregierung einerseits und den Tarifvertragsparteien andererseits zu koordinieren. Ziel des Bündnisses für Arbeit war es, mit Unterstützung aller gesellschaftlichen Gruppen Reform- und Beschäftigungspotenziale zu identifizieren, einen breiten Konsens für strukurelle Reformen herzustellen und die lang anhaltende und strukturell verfestigte Massenarbeitslosigkeit abzubauen. Unter Leitung des Kanzleramtes traten Vertreter der Fachministerien sowie von Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften in Spitzengesprächen zusammen, um gemeinsam wirtschafts-, arbeitsmarkt- und sozialpolitische Reformvorhaben konzeptionell auszuarbeiten und umzusetzen. Inhaltlich wurden diese Spitzengespräche durch insgesamt neun Arbeitsgruppen und eine Gruppe unabhängiger wissenschaftlicher Berater („Benchmarking-Gruppe“) unterstützt. Auch dieser Versuch einer gesamtwirtschaftlich koordinierten Wirtschafts- und Sozialpolitik blieb letztlich erfolglos, da die wirtschaftspolitischen Vorstellungen der Beteiligten zu stark divergierten und die Tarifpolitik nicht Gegenstand der Konsensgespräche war.28 Die überbetriebliche Mitbestimmung ist ordnungspolitisch unbedenklich, solange sie darauf abzielt, durch beratende, kontrollierende und mitentscheidende Mitwirkung von Vertretern bestimmter sozialer Gruppen in Organen der Wirtschafts- und Sozialpolitik und -verwaltung sicherzustellen, dass die allgemein anerkannten Interessen dieser Gruppe bei der Aufgabenwahrnehmung durch diese Organe gebührend und entsprechend den Absichten des Gesetzgebers berücksichtigt werden. In diesem Fall entspricht sie dem Grundsatz der möglichst weitgehenden Selbstverwaltung sozialer Angelegenheiten, bezieht soziale Gruppen in die soziale Verantwortung ein, sichert den sozialen Frieden und ist rational im Sinne der Dezentralisierung von Kontrollund Entscheidungsbefugnissen und der Nutzung des überlegenen Informationsstandes, der Problemkenntnis und der Sachkenntnis der Delegierten mitbestimmender Gruppen. Kommt dazu, dass – wie in den Organen der Sozialversicherung, der Arbeitsverwaltung und der Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit – die Vertreter divergierender Interessen Mitbestimmungsrechte haben, so dass die Gefahr der Durchsetzung gruppenegoistischer Ziele auf Kosten des Gemeinwohls nicht besteht, und dass es sich um die Mitwirkung von Gruppenvertretern im Bereich der wirtschaftsund sozialpolitischen Exekutive handelt, dann ist überbetriebliche Mitbestimmung wirtschaftsordnungspolitisch nicht nur als unbedenklich, sondern – für pluralistische Mehrparteiendemokratien – als systemverbessernd anzusehen.29 28

Vgl. zur Konzertierten Aktion Hardes 1974 sowie Hoppmann/Dürr 1971. Zum „Bündnis für Arbeit“ vgl. Engelhard/Fehl/Geue 1998. 29 Vgl. zur Bedeutung und zum Gewicht der Selbstverwaltung Lampert 1984.

9.3 Gesamtwirtschaftliche (überbetriebliche) Mitbestimmung

205

Problematischer sind Formen der überbetrieblichen Mitbestimmung, wenn es sich nicht um die Mitbestimmung von sozialen oder/und beruflichen Gruppen auf der Ebene des Vollzuges, sondern der Konzipierung und Entscheidung der Wirtschafts- und Sozialpolitik handelt, also im legislativen Bereich. Diese Art überbetriebliche Mitbestimmung birgt drei Problemkomplexe in sich:30 1. Das im Grunde unlösbare Problem einer legitimen und funktionenadäquaten Zusammensetzung solcher Vertretungsorgane. Solche Organe müssten ja ein – mehr oder minder getreues – Abbild der wirtschaftlichen und sozialen Struktur der Gesellschaft sein. Die Aufteilung der Sitze auf Arbeitnehmer und Arbeitgeber, auf Vertreter der verschiedenen wirtschaftlichen Sektoren und auf Beamte, Konsumenten, noch nicht und nicht mehr am Wirtschaftsleben Beteiligte würde – wie auch immer sie vorgenommen wird – bedeuten, dass – in völligem Gegensatz zu Parlamenten, deren Vertreter in allgemeinen, freien, gleichen und geheimen Wahlen bestimmt werden – das Gewicht, mit dem bestimmte Interessen in diesem Organ zum Zuge kommen können, vorgegeben wird. Dies ist – im Sinne der plebiszitären Demokratie, des Grundsatzes der Chancengleichheit, des Parteienstaates, der Idee der Zuteilung politischer Macht auf Zeit und der Möglichkeit der Schaffung von Mehrheiten im politischen Wettbewerb – undemokratisch. 2. Es besteht die Gefahr, dass sich in solchen Organen ganz überwiegend die Interessen bestimmter beruflicher oder sozialer Gruppen durchsetzen, dass sich also die Entscheidungen eines solchen Organs nicht am gesamtgesellschaftlichen, am Gemeinwohl, sondern am Wohl der stärksten Gruppe orientieren. 3. Durch die Möglichkeit der institutionalisierten Einflussnahme auf die staatliche Wirtschaftsund Sozialpolitik werden wirtschaftliche und soziale Machtgruppen gefestigt. Wenn die Möglichkeit der Einflussnahme auf den Gesetzgebungsprozess durch quasi-parlamentarische Institutionen mit einem Mehrparteienparlament kombiniert ist, dessen Vertreter sich mehrheitlich der Gruppe der Arbeitnehmer verpflichtet wissen, wenn ferner die Arbeitnehmerrechte in Betrieb und Unternehmung weitgehend abgesichert sind, die Sozialpartner im Feld der Lohnpolitik autonom sind, und wenn schließlich der Staat die Verantwortung für einen hohen Beschäftigungsgrad übernimmt, stellt sich das Problem der Kumulierung und Potenzierung gewerkschaftlicher Macht.31 Angesichts der mit der überbetrieblichen Mitbestimmung im Bereich der Legislative verbundenen Problematik ist es aus ordnungspolitischer Sicht dringend geboten, die Tätigkeit dieser Organe auf beratende, begutachtende und allenfalls durchführende Aufgaben zu beschränken.

Literatur 1. Monographien und Aufsätze Abelshauser 1999 – Bertelsmann Stiftung/Hans-Böckler-Stiftung 1998 – Nell-Breuning 1968b – Dütz/Thüsing 2017 – Ilbertz/Widmaier/Sommer 2015 30 31

Vgl. dazu Meinhold 1988. Vgl. dazu Institut der Deutschen Wirtschaft Köln 1974 und Weisser 1974.

206

9 Mitbestimmung der Arbeitnehmer

2. Laufende Materialquellen und Periodika Arbeitsrecht im Betrieb – Zeitschrift für Betriebsratsmitglieder, Köln 1980 ff. Die Mitbestimmung (vorm.: Das Mitbestimmungsgespräch), Düsseldorf 1955 ff. Die Personalvertretung, Berlin 1958 ff.

Kapitel 10

Das System der sozialen Sicherung

10.1 Definition, Notwendigkeit und allgemeine Aufgabe Unter dem System der sozialen Sicherung im engeren Sinne versteht man die Summe aller Maßnahmen, die das Ziel verfolgen, die Gesellschaftsmitglieder gegen die Risiken zu schützen, die verbunden sind mit 1. dem vorübergehenden oder dauerhaften, durch Krankheit, Unfall, Alter oder Arbeitslosigkeit bedingten Verlust von Arbeitseinkommen, 2. dem Tod des Ernährers (des Ehepartners oder der Eltern) und 3. unplanmäßigen Ausgaben im Falle von Krankheit, Mutterschaft, Unfall oder Tod. Die Mehrzahl aller Systeme der sozialen Sicherung i. e. S. weist – von Land zu Land institutionell unterschiedlich organisiert – folgende Bestandteile auf:1 • • • • •

eine eine eine eine eine

Erwerbsunfähigkeitsversicherung, Alters- und Hinterbliebenenversicherung, Unfallversicherung, Krankenversicherung und Arbeitslosenversicherung.

Zum System der sozialen Sicherung im weiteren Sinne gehören neben den eben skizzierten Elementen noch die soziale Grundsicherung und weitere Transferleistungen (Wohngeld, Kindergeld, Ausbildungsförderung). Die Notwendigkeit einer staatlich organisierten Absicherung gegen die o.g. Risiken ergibt sich aus folgenden Tatsachen: 1. Die überwiegende Zahl der Gesellschaftsmitglieder ist zur Existenzsicherung auf die Verwertung ihrer Arbeitskraft angewiesen. Daher ist ein vorübergehender oder dauerhafter Verlust der Arbeitsfähigkeit unmittelbar existenzgefährdend. 2. Die Zweigenerationenfamilie der modernen Industriegesellschaft ist zu klein, um ihre Mitglieder gegen die genannten Risiken sichern zu können. 1

Diese Systeme werden häufig auch als Sozialversicherungssysteme bezeichnet; diese Bezeichnung ist jedoch missverständlich, soweit nicht alle Teile des Systems auf dem Versicherungsprinzip beruhen.

207

© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2021 J. Althammer et al., Lehrbuch der Sozialpolitik, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56258-1_10

208

10 Das System der sozialen Sicherung

3. Aufgrund der großen Zahl Sicherungsbedürftiger sind kirchliche, karitative und kommunale Wohlfahrtseinrichtungen nicht in der Lage, ausreichenden Schutz zu bieten. 4. Gegen bestimmte Risiken werden keine bzw. keine vollständigen privaten Versicherungen angeboten, wie z. B. gegen das Risiko der Arbeitslosigkeit oder der nicht-antizipierten Inflation; außerdem sind Versicherungsmärkte hochgradig unvollkommen und intransparent, so dass sie vielfach keinen effizienten Schutz bieten.2 5. Eine private Risikovorsorge ist für viele nicht möglich, weil Privatversicherung bestimmte Risiken ausschließen können oder die nach dem Äquivalenzprinzip berechneten Versicherungsprämien ihre wirtschaftliche Leistungsfähigkeit übersteigen. Daher bleibt zur Deckung des Bedarfs an Risikovorsorge nur die Bildung von staatlich regulierten Kollektiven.3 Durch die politische Regulierung dieser Versicherungskollektive lässt sich nicht nur der Risikoeintritt versicherungsmathematisch kalkulieren, sondern es lassen sich auch gleichzeitig verteilungspolitische Ziele realisieren.

10.2 Gestaltungsprinzipien und Strukturmerkmale von Systemen sozialer Sicherung Im Zuge der wirtschaftlichen Entwicklung haben alle Industriegesellschaften soziale Sicherungssysteme aufgebaut, die sich hinsichtlich ihrer Organisation, den Gestaltungsprinzipien, dem Umfang der Leistungen und der Finanzierungsmethode mehr oder weniger stark unterscheiden.4 Daher soll vor der Darstellung der Grundzüge sozialer Sicherung in Deutschland ein allgemeiner Überblick über die Gestaltungsprinzipien und die Strukturmerkmale von sozialen Sicherungssystemen gegeben werden (vgl. dazu auch Abbildung 10.1).

2

Vgl. dazu Barr 2012, S. 749 ff. Vgl. dazu und zu den theoretischen Grundlagen staatlicher Versicherungssysteme Rolf/Spahn/Wagner 1988 sowie Schmähl 1985. 4 Zur Ausgestaltung der sozialen Sicherungssysteme innerhalb der Europäischen Union vgl. Palme et al. 2009 sowie das Mutual Information System on Social Protection (MISSOC) der Europäischen Kommission (http: //www.missoc.org). 3

Finanzierung

Varianten der Grundformen

Grundsätzliche Formen

Privatversicherung

Fürsorgeprinzip

Abb. 10.1: Gestaltungsprinzipien und Finanzierungsformen der Risikovorsorge

Allgemeine Deckungsmittel (überwiegend Steuern)

Versorgungsprinzip

Gesetzlich verfügt und staatlich (Sozialprinzip)

Solidaritätsorientiertes Versicherungsprinzip

Überwiegend einkommensabhängige Beiträge (entsprechend dem sozialpolitisch modifizierten Äquivalenzprinzip)

Beitritt zur Sozialversicherung

Risikoorientierte Prämien (entsprechend dem versicherungstechnischen Äquivalenzprinzip)

Sparen

Freiwillig und individuell (Individualprinzip)

Risikovorsorge

10.2 Gestaltungsprinzipien und Strukturmerkmale von Systemen sozialer Sicherung 209

210

10 Das System der sozialen Sicherung

10.2.1 Kernprinzipien: Versicherung – Versorgung – Fürsorge Systeme sozialer Sicherung können nach dem Versicherungs-, dem Versorgungs-, dem Fürsorgeprinzip oder nach Mischformen aus den drei Prinzipien aufgebaut werden. In den realisierten Sicherungssystemen dominieren die Mischformen.5

a) Das Versicherungsprinzip Das Versicherungsprinzip beruht auf dem statistischen Gesetz der „großen Zahlen“, d. h. dass der im Einzelfall nicht vorhersehbare Risikoeintritt und die nicht vorher bestimmbare Ausgabenhöhe für eine größere Zahl der von gleichartigen Risiken Betroffenen zu kalkulierbaren Größen werden. Im Falle der Privatversicherung werden die Versicherungsprämien nach dem Prinzip der versicherungstechnischen Individualäquivalenz berechnet. Die Prämien orientieren sich dabei ausschließlich am sog. „Erwartungsschaden“, also am Produkt aus der Risikoeintrittswahrscheinlichkeit und der erwarteten Schadenshöhe. Obwohl die PV streng am Prinzip der Individualäqivalenz ausgerichtet ist, d.h. obwohl keine Umverteilung im eigentlichen Sinn stattfindet, generiert die PV sozialpolitisch positive Effekte. Denn durch die Vermeidung bzw. Reduzierung der wirtschaftlichen Folgen beim Eintritt bestimmter Risiken werden die Versicherten von Angst und Sorge befreit und ihre wirtschaftliche Lage vor Instabilitäten geschützt. Durch die freiwillige Bildung von Versichertengemeinschaften und durch die Verteilung der Schadenssumme auf die große Zahl der Versicherten entfällt für die Versicherten die Notwendigkeit, private Rückstellungen zu bilden. Das Sozialversicherungsprinzip ist ein in zweifacher Weise nach dem Grundsatz der Solidarität (vgl. dazu S. 359) modifiziertes Individualversicherungsprinzip: die Beiträge zur Sozialversicherung sind nicht an individuellen Risikowahrscheinlichkeiten orientiert und auch die Versicherungsleistungen sind nicht streng beitragsbezogen. So sind z. B. die Beiträge zur Sozialversicherung nicht abhängig vom Alter des Versicherten, d. h. ältere Versicherte zahlen unter sonst gleichen Bedingungen denselben Beitrag wie Jüngere. Darüber hinaus sind in der sozialen Kranken- und Pflegeversicherung nicht erwerbstätige Familienmitglieder beitragsfrei mitversichert. Eine Folge des Solidaritätsprinzips ist es auch, dass die Sozialversicherung im Gegensatz zur Privatversicherung für die Pflichtversicherten weder Risiko- noch Leistungsausschlüsse kennt. Es werden also auch die von besonderen Risiken bedrohten Menschen ohne zusätzliche Beitragsleistungen versichert. Neben der relativen Beitragsäquivalenz der Leistungen ist es ein weiteres Merkmal des Sozialversicherungsprinzips, dass die Leistungen wie bei der Privatversicherung auf einem Rechtsanspruch beruhen und nach Art und Höhe normiert sind. Im Vordergrund steht das Ziel der Lebensstandardsicherung. Die auf dem Versicherungsprinzip basierenden Systeme sozialer Sicherung werden auch als Systeme vom „Bismarck-Typ“ bezeichnet. Beitragsfinanzierte Sozialversicherungssysteme sind v. a. in Kontinentaleuropa verbreitet.

5

Zu diesen Prinzipien vgl. Esping-Andersen 1989, Hase 2000, S. 10-37, Pestieau 2006 sowie Rohwer 2008.

10.2 Gestaltungsprinzipien und Strukturmerkmale von Systemen sozialer Sicherung

211

b) Das Versorgungsprinzip Bei Anwendung des Versorgungsprinzips entstehen Leistungsansprüche nicht aufgrund von Beitragszahlungen, sondern aufgrund anderer Voraussetzungen (Staatangehörigkeit, Dienstleistungen als Beamte, Wehrdienst). Auf diese Versorgungsleistungen besteht ebenfalls ein Rechtsanspruch. Sie sind nach Art und Höhe normiert, Finanzierungsquelle sind jedoch nicht Beiträge sondern Steuereinnahmen. Im Vordergrund steht die Absicherung eines bestimmten Mindestbedarfs. Auf dem Versorgungsprinzip basierende soziale Sicherungssysteme werden auch als Systeme vom „Beveridge-Typ“6 bezeichnet. Sie finden sich insbesondere in den skandinavischen Ländern.

c) Das Fürsorgeprinzip Im Falle des Fürsorgeprinzips werden bei Eintritt eines Schadensfalles oder einer Notlage öffentliche Sach- oder Geldleistungen ohne vorherige Beitragsleistungen des Betroffenen, jedoch nach einer Prüfung der Bedürftigkeit, gewährt. In Deutschland besteht auf diese Leistungen ein Rechtsanspruch „dem Grunde nach“, aber kein Anspruch auf Hilfe bestimmter Art und in bestimmter Höhe. Vielmehr werden die Leistungen von den zuständigen Behörden entsprechend den Besonderheiten des Einzelfalls festgesetzt. Für entwickelte Sozialstaaten wird das Fürsorgeprinzip wegen der Unbestimmtheit der Leistungen, wegen der Notwendigkeit der Bedürftigkeitsprüfung und wegen des Fremdhilfecharakters der Leistungen überwiegend als ein unzulängliches Prinzip sozialer Sicherung angesehen. In Deutschland findet es seine Anwendung im Bereich der sozialen Grundsicherung.

10.2.2 Organisationsprinzipien sozialer Sicherung a) Freiwillige Versicherung oder Pflichtversicherung Versicherungssysteme können auf freiwilliger Basis oder aufgrund einer Versicherungspflicht entstehen. Auf Freiwilligkeit kann gebaut werden, wenn • ein privater Versicherungsschutz ohne Risikoausschlüsse angeboten wird, • keine Negativselektion (adverse selection) auf dem Versicherungsmarkt stattfindet und • die von einem Risiko bedrohten Personen eigeninitiativ ausreichende Versicherungsverträge abschließen. Da eine oder mehrere dieser Bedingungen bei den typischen „Standardrisiken“ (Unfall, Krankheit, Alter und Arbeitslosigkeit) nicht erfüllt sind, beruhen fast alle Systeme sozialer Sicherung auf der Versicherungspflicht, ergänzt um einen Kontrahierungszwang seitens der Versicherer. Eine Versicherungspflicht ist außerdem immer dann nötig, wenn innerhalb des Systems sozialer Sicherung verteilungspolitische Ziele verfolgt werden. 6

Baron William Beveridge (1879-1963) war britischer Ökonom und Politiker der liberalen Partei Englands. Er lieferte mit seinem Bericht „Social Insurance and Allied Services“ (dem sog. Beveridge-Report) die Grundlagen für den Aufbau des britischen Gesundheitswesens.

212

10 Das System der sozialen Sicherung

Mittlere Lösungen zwischen freiwilliger Mitgliedschaft und Zwangsmitgliedschaft sind die Verpflichtung bestimmter Personenkreise zur Mitgliedschaft in Zwangsversicherungen bis zur Abdeckung eines bestimmten Sicherungsniveaus oder die Verpflichtung bestimmter Personenkreise zum Abschluss einer Sozial- oder Privatversicherung eigener Wahl in bestimmter Höhe.7 In der Sozialversicherung des Deutschen Reiches bzw. der Bundesrepublik gab es in der GRV und in der ALV bis 1969 Versicherungspflichtgrenzen für Angestellte, weil der Gesetzgeber davon ausging, dass Angestellte mit höherem Einkommen in der Lage sind, sich gegen die Standardrisiken privat abzusichern. In der GKV und der sozialen Pflegeversicherung gibt es nach wie vor Versicherungspflichtgrenzen, die an die Entwicklung des Durchschnittseinkommens der Versicherten angepasst werden (vgl. dazu Tab. 10.2). Sonderregelungen zur Sozialversicherungspflicht und zur Beitragsbemessung existieren für geringfügig Beschäftigte (§ 8 Abs. 1 Nr. 1 SGB IV) und für Beschäftigte im sog. „Übergangsbereich“ (§ 20 Abs. 2 SGB IV). Sonderregelungen der Sozialversicherung für Mini- und Midijobs Grundsätzlich sind in Deutschland alle Arbeitnehmer sowie Bezieher von Arbeitslosengeld I oder II versicherungspflichtig. Sonderregelungen bestehen jedoch für geringfügig Beschäftigte sowie für Beschäftigte im sog. „Übergangsbereich“. Geringfügig Beschäftigte sind zum einen geringfügig entlohnt Beschäftigte und zum anderen Beschäftigte, deren Beschäftigungsverhältnis auf längstens zwei Monate begrenzt ist (kurzfristig Beschäftigte). Kurzfristig Beschäftigte sind in der Sozialversicherung grundsätzlich nicht versicherungspflichtig (§ 8 Abs. 1 Satz 1 SGB IV). Eine geringfügig entlohnte Beschäftigung liegt vor, wenn das regelmäßige Arbeitsentgelt nicht höher liegt als 450 e mtl. (sog. „Minijobs“). Geringfügig entlohnt Beschäftigte unterliegen nicht der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Arbeitslosen- und Pflegeversicherung. Für geringfügig entlohnt Beschäftigte, die in der GKV versichert sind, entrichtet der Arbeitgeber pauschal 13 % des Arbeitsentgelts zur Sozialversicherung. In der gesetzlichen Rentenversicherung sind geringfügig entlohnt Beschäftigte hingegen pflichtversichert. Der Arbeitgeber zahlt hier Beiträge in Höhe von 15 % des Arbeitsentgelts an die Rentenversicherung, der Arbeitnehmer trägt die Differenz zwischen dem Arbeitgeberbeitrag und dem Gesamtbeitragssatz zur GRV. Die Beschäftigten haben jedoch die Möglichkeit, sich von der Versicherungspflicht in der GRV befreien zu lassen (sog. „opt out“-Regelung). Beschäftigte mit einem Arbeitsentgelt im Übergangsbereich zwischen 450 e und 1300 e (sog. „Midijobs“) sind in allen Zweigen der Sozialversicherung versicherungspflichtig. Der Arbeitgeber zahlt für das gesamte Arbeitsentgelt grundsätzlich den vollen Arbeitgeberanteil, derzeit also 19,875 %. Der Arbeitnehmeranteil steigt in diesem Einkommensbereich von etwa 15 % auf den vollen Arbeitnehmeranteil an (sog. „Progressionszone“). Dazu wird ein reduziertes beitragspflichtiges Arbeitsentgelt (Bemessungsentgelt) zugrunde gelegt. Das Bemessungsentgelt (BE) berechnet sich nach folgender Formel: (

BE = F × 450 +

1300 450 − ×F 1300 − 450 1300 − 450

)

× (AE − 450).

(10.1)

AE ist das Arbeitsentgelt und F ist der Faktor, der sich ergibt, wenn die Pauschalabgabe bei geringfügiger Beschäftigung (30 %) durch den durchschnittlichen Gesamtsozialversicherungsbeitrag (2020: 39,75 %) divi30 = 0, 7547. Die Formel für die diert wird (ehemals „Gleitzonenfaktor“). Für 2020 beträgt F folglich 39,75 Berechnung des Bemessungsentgelts lässt sich zusammenfassen zu BE = 1, 129865 · AE − 168, 8242. Der Beitrag zur Sozialversicherung ergibt sich aus dem Produkt von Bemessungsentgelt und regulärem Beitragssatz. Der Arbeitgeber zahlt die Hälfte des regulären Beitrags, der Arbeitnehmer die Differenz zwischen dem Gesamtbeitrag und dem Arbeitgeberbeitrag. Die Sozialversicherungsbeiträge für Mini- und Midijobs sind in der Abbildung 10.2 wiedergegeben.

7

Solche Fälle sind die Alterssicherungen der freien Berufe in der Bundesrepublik Deutschland.

213

40

10.2 Gestaltungsprinzipien und Strukturmerkmale von Systemen sozialer Sicherung

30 20

AG−Beitrag

AN−Beitrag

10

Sozialversicherungsbeträge (in %)

Gesamtbeitrag

Midijob

0

Minijob

0

200

400

600

800

1000

1200

1400

Bruttomonatseinkommen (in Euro)

Abb. 10.2: Belastung von Mini- und Midijobs mit Sozialversicherungsbeiträgen Beispiel: Ein Arbeitnehmer bezieht ein Bruttoarbeitseinkommen in Höhe von 600 e monatlich, die beitragspflichtige Einnahme beträgt in diesem Fall 1, 129865 · 600 − 168, 8242 =509,09 e. Der Gesamtbeitrag zur Sozialversicherung beläuft sich demnach auf 509,09 e · 39,75 % = 202,36 e. Der Arbeitgeber zahlt die Hälfte des Gesamtsozialversicherungsbeitrags bezogen auf das versicherungspflichtige Arbeitsentgelt, also 600 · 0, 19875 =119,25 e. Der Arbeitnehmeranteil zur Sozialversicherung ist die Differenz zwischen 202,36 e und 119,25 e, somit 83,11 e. Die sozialversicherungsrechtlichen Regelungen zu den Mini- und Midijobs stellen eine Lohnsubvention für niedrig entlohnte Arbeitnehmer dar. Ziel dieser Regelung ist es, dem Anreiz für die Aufnahme einer gering entlohnten Beschäftigung zu erhöhen und damit Arbeitslose in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren. Mini- und Midijobs sollen eine „Brücke“ aus der Arbeitslosigkeit in ein Normalarbeitsverhältnis darstellen. Die Zahl der nicht regulär sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ist durch diese Maßnahmen deutlich gestiegen. Kritiker dieser Regelungen sehen darin die Gefahr einer zunehmenden Prekarisierung der Beschäftigungsverhältnisse, zumal nicht ausgeschlossen werden kann, dass reguläre Arbeitsverhältnisse durch geringfügige Beschäftigungsverhältnisse substituiert werden. Empirische Studien stellen bislang keine beschäftigungsfördernde Effekte der Minijob-Regelungen fest (vgl. Caliendo/Wrohlich 2010 sowie Freier/Steiner 2008). Demgegenüber gibt es Hinweise darauf, dass in bestimmten Branchen eine substitutive Beziehung zwischen Minijobs und regulärer Beschäftigung besteht (Hohendanner/Stegmaier 2012). Literatur Caliendo/Wrohlich 2010; Freier/Steiner 2008, Hohendanner/Stegmaier 2012.

214

10 Das System der sozialen Sicherung

b) Mehrgliedrige oder Einheitsversicherung Mehrgliedrige Sicherungssysteme können – wie das der Bundesrepublik – nach Versicherungsarten oder nach sozialen Gruppen (berufsständisch) differenziert sein. Einheitsversicherungen – wie die der ehem. DDR – umfassen hingegen alle Personen und decken alle Standardrisiken ab. Die Nachteile mehrgliedriger Systeme sind die organisatorische Zersplitterung und die Überschneidung der Zuständigkeiten, die Unübersichtlichkeit des Systems und die Gefährdung ihrer Leistungsfähigkeit bei einer Änderung der Beschäftigtenstruktur. Darüber hinaus können soziale Ungerechtigkeiten auftreten, sofern diese Systeme nicht vollständig harmonisiert sind, d. h. sofern gleiche Beitragszahlungen unter sonst gleichen Bedingungen zu unterschiedlichen Leistungsansprüchen führen. Die Vorteile mehrgliedriger Systeme liegen in der Erleichterung der Selbstverwaltung durch die Versicherten und in der Möglichkeit, durch differenzierte Leistungsangebote den unterschiedlichen Bedürfnissen verschiedener Berufsgruppen Rechnung zu tragen.

c) Wettbewerb der Versicherungen oder Versicherungsmonopole Der Vorteil eines Versicherungsmonopols liegt darin, dass Betriebsgrößeneffekte (economies of scale) ausgenutzt werden können (Kotsch 1991). Mit solchen Monopolen ist aber wegen des fehlenden Wettbewerbs die Gefahr von Innovationsverlusten, des Fehlens von Rationalisierungsanreizen, die Gefahr von Bürokratisierung und die Gefahr unzulänglicher Behandlung und Beratung der Versicherten verbunden. In Deutschland existieren im Bereich der Renten- und Arbeitslosenversicherung Versicherungsmonopole, in der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung seit der Einführung der freien Kassenwahl 1996 Wettbewerb zwischen den gesetzlichen Versicherern.

d) Privatrechtliche, öffentlich-rechtliche oder staatliche Organisationen Einrichtungen der sozialen Sicherung können – wie z. B. Krankenkassen in den Niederlanden – privatrechtliche oder – wie das Gesundheitswesen in Großbritannien – staatliche Organisationen sein (Wille et al. 2012). Die international dominierende organisationsrechtliche Form ist jedoch die öffentlich-rechtliche Organisation, in der Bundesrepublik Deutschland die Körperschaft des öffentlichen Rechts. Diese Rechtsform eignet sich besonders, um die Erfüllung der diesen Organisationen gesetzlich übertragenen hoheitlichen Aufgaben mit dem Prinzip der Selbstverwaltung zu vereinbaren. Denn dadurch wird es möglich, die Initiative und Sachkenntnis sozialer Gruppen sowie die Interessen dieser Gruppen zur Geltung zu bringen. Dass die Aufgaben im öffentlichen Interesse erfüllt werden, sichert die durch besondere Behörden erfolgende staatliche Aufsicht der Versicherungsträger (Versicherungsämter, Landesarbeitsministerien, Innenministerien, BMG).

10.2 Gestaltungsprinzipien und Strukturmerkmale von Systemen sozialer Sicherung

215

10.2.3 Arten und Ausgestaltung der Leistungen a) Arten der Leistungen Bei den Leistungsarten unterscheidet man zwischen Geld- und Sachleistungen. Geldleistungen sind monetäre Zahlungen, die bei Eintritt eines Risikos von den Trägern der Sozialpolitik gewährt werden. Die Höhe der Geldleistungen ist in den meisten Sicherungssystemen von den geleisteten Beiträgen abhängig. Da sich die Beiträge wiederum am versicherungspflichtigen Einkommen orientieren, spricht man von einer Einkommens- und Beitragsbezogenheit der Geldleistungen. Sachleistungen sind Güter- und Dienstleistungen, die unentgeltlich oder verbilligt zur Verfügung gestellt werden. Zu den Sachleistungen zählen bspw. die unentgeltliche ärztliche oder zahnärtzliche Versorgung, unentgeltlicher Krankenhausaufenthalt oder die Versorgung mit medizinischen Heil- und Hilfsmitteln. Zu den Sachleistungen – streng genommen müsste man deshalb von Sach- und Dienstleistungen sprechen – werden auch alle Pflegeleistungen gezählt. Da ein vorrangiges Ziel sozialer Sicherungssysteme der Ausgleich von Einkommensausfall ist (Lohnersatzfunktion von Sozialeinkommen), dominierten in den Jahren des Aufbaues des sozialen Sicherungssystems (auch in der GKV) die Geldleistungen. Im Laufe der Zeit ist der Anteil der Sachleistungen aber deutlich gestiegen. In Sicherungssystemen, die nicht auf dem Fürsorgeprinzip beruhen, dominieren die gesetzlich normierten oder „Regel“-Leistungen, auf die nach Art und Höhe ein Rechtsanspruch besteht. Bei Ermessens- oder „Kann“-Leistungen entscheiden die zuständigen Organe über die Leistungsgewährung.8 Zusatzleistungen schließlich sind gesetzlich zugelassene, satzungsmäßig verankerte Leistungen.

b) Ausgestaltung der Leistungen In Bezug auf die Ausgestaltung der Geldleistungen wird unterschieden zwischen • bedarfsorientierten und beitragsorientierten Leistungen sowie • konstanten bzw. diskretionär angepassten und dynamisierten Leistungen. Bedarfsorientierte Leistungen sind Leistungen, die unabhängig von der Beitragszahlung an den Bedürfnissen des Empfängers ausgerichtet sind, wie z. B. die Sachleistungen der gesetzlichen Krankenversicherung. Leistungsorientierte Geldleistungen orientieren sich an den entrichteten Beiträgen, also am beitragspflichtigen Arbeitseinkommen. Im Gegensatz zu konstanten oder diskretionär, d. h. unregelmäßig angepassten Leistungen werden dynamisierte Leistungen durch feste Anpassungsregeln an die Entwicklung des Preisniveaus, der Arbeitseinkommen oder des Lebensstandards angepasst. Ein speziell in Deutschland aktuelles Problem der Leistungsgestaltung hängt mit der Organisation des Sicherungssystems zusammen. Wenn ein Sicherungssystem nach dem Kausalprinzip aufgebaut ist, also entsprechend seiner Organisation nach Schadensursachen eine Unfall-, eine Kranken-, eine Berufs-, Erwerbsunfähigkeits-, Alters- und Hinterbliebenenrentenversicherung und eine Kriegsopferversorgung kennt, sind die Leistungen in vielen Fällen bei völlig überein-

8

„Kann“-Leistungen sind z. B. ergänzende Leistungen zur Rehabilitation wie etwa die Förderung von Behindertensport oder Kuren für Kinder.

216

10 Das System der sozialen Sicherung

stimmenden Lebenslagen der Betroffenen unterschiedlich,9 da die einzelnen Sozialleistungen auf unterschiedlichen gesetzlichen Grundlagen beruhen.10 Demgegenüber zielt ein am Finalprinzip orientiertes Sicherungssystem unabhängig von der Schadensursache auf die bestmögliche Behebung des Schadens ab und richtet daher die gewährten Leistungen ausschließlich an diesem sozialpolitischen Ziel aus.

10.2.4 Finanzierungsarten und Finanzierungsverfahren a) Finanzierungsarten Für die Systeme sozialer Sicherung kommen die folgenden Finanzierungen in Frage: • Beiträge der Versicherten, • Beiträge der Arbeitgeber, • Steuermittel. Eine Finanzierung durch Beiträge entspricht dem Versicherungsprinzip und ermöglicht eine Koppelung der Leistungen an die Beitragszahlungen der Versicherten. Theoretisch wie politisch umstritten ist der Arbeitgeberbeitrag zur Sozialversicherung. Das Ziel des Arbeitgeberbeitrag ist es, die Unternehmen an der Finanzierung des Sozialstaats zu beteiligen. Allerdings stellen die Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung Arbeitskosten dar und verteuern damit den Faktor Arbeit. Aus ökonomischer Sicht ist deshalb strittig, in welchem Umfang die Unternehmen tatsächlich durch den Arbeitgeberbeitrag belastet werden. Während in der ökonomischen Theorie überwiegend davon ausgegangen wird, dass die Unternehmen den Arbeitgeberbeitrag vollständig auf den Faktor Arbeit überwälzen können zeigen empirische Untersuchungen, dass zumindest kurz- bis mittelfristig eine Erhöhung des Arbeitgeberbeitrags nicht vollständig auf die Löhne abgewälzt werden kann (vgl. Neumann 2014). Politisch ist der Arbeitgeberbeitrag umstritten, da ein Anstieg der Beitragssätze unmittelbar die Arbeitskosten erhöht und damit die Beschäftigung im Inland verteuert. Eine Finanzierung der sozialen Sicherung durch Steuermittel entspricht der Auffassung, dass die soziale Sicherheit eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist und deshalb von allen Steuerpflichtigen gemäß ihrer steuerlichen Leistungsfähigkeit finanziert werden soll. Dieses Argument greift jedoch nur bei einer Finanzierung der Sozialleistungen über progressive Einkommensteuern. In dem Maße, in dem der Sozialstaat durch Verbrauchsteuern finanziert wird sind die Verteilungswirkungen schwer abschätzbar, da die Besteuerung des Verbrauchs Bezieher geringer Einkünfte relativ stärker belastet und damit degressiv wirkt.

9

Vgl. zu dieser Problematik Brück 1981. So erhält z. B. die Witwe eines bei einem Arbeitsunfall tödlich verunglückten Arbeitnehmers unter sonst völlig übereinstimmenden Umständen eine andere Rente als die Witwe eines „normal“ verstorbenen Arbeitnehmers; ein erwerbsgeminderter Arbeitnehmer erhält bei einem bestimmten Grad unfallbedingter Erwerbsbeschränkung andere Geldleistungen als ein im gleichen Grad erwerbsgeminderter Kriegsversehrter. 10

10.2 Gestaltungsprinzipien und Strukturmerkmale von Systemen sozialer Sicherung

217

b) Finanzierungsverfahren Sofern das Sicherungssystem – wie die Kranken-, die Pflege- oder die Alterssicherung – altersabhängige Risiken abgedeckt, kann die Finanzierung entweder durch das Kapitaldeckungs- oder durch das Umlageverfahren erfolgen. Im Kapitaldeckungsverfahren wird aus den Beiträgen der Versicherten ein Kapitalstock aufgebaut, dessen Höhe zuzüglich der Zinserträge die erwarteten Versicherungsansprüche abdeckt (sog. Anwartschaftsdeckungsverfahren). Eine Variante ist das Abschnittsdeckungsverfahren, das die Anwartschaftsdeckung für einen bestimmten Zeitraum vorsieht. Im Umlageverfahren werden die Beiträge demgegenüber nicht angespart, sondern so bemessen, dass die Beitragseinnahmen einer Periode ausreichen, die in dieser Periode fälligen Leistungsansprüche abzudecken. Damit ist das Umlageverfahren in hohem Maße von der demografischen Entwicklung einer Gesellschaft abhängig. Aufgrund des demografischen Wandels, der für die Jahre ab 2030 einen deutlich steigenden Anteil älterer Menschen an der Gesamtbevölkerung erwarten lässt, werden stark steigende Beitragssätze zum System sozialer Sicherung prognostiziert, und ein Umstieg vom derzeit praktizierten Umlageverfahren auf das Kapitaldeckungsverfahren empfohlen. Gegen eine vollständige Kapitalfundierung der Sozialversicherung spricht zum einen die Anfälligkeit des Kapitaldeckungsverfahrens gegen wirtschaftliche Risiken, insbes. gegen das Risiko der nicht-antizipierten Inflation.11 Des Weiteren ist auch das Kapitaldeckungsverfahren nicht immun gegen demografische Änderungen: bei einem Rückgang der Bevölkerung reduziert sich nämlich auch die Nachfrage nach Wertpapieren, so dass die Kapitalanteile mit einem Abschlag verkauft werden müssen; der Wert des Vermögens sinkt also.12 Schließlich bleibt als Unsicherheitsfaktor die Ungewissheit über die durch Kapitalanlage erzielbaren Erträge. Ein weiteres Problem ergibt sich aus der Tatsache, dass die „Umstiegsgeneration“ eine Doppelbelastung zu tragen hat: sie muss ihren Kapitalstock aufbauen und gleichzeitig für die laufenden Anwartschaften des Umlageverfahrens aufkommen. Wie die umfangreiche Literatur zu diesem Thema gezeigt hat, ist es zumindest in einem auf dem Äquivalenzprinzip basierenden System sozialer Sicherung nicht möglich, diese Doppelbelastung einer Generation zu vermeiden.13

11

Die deutsche Rentenversicherung wurde ursprünglich durch das Kapitaldeckungsverfahren finanziert. Im Lauf der deutschen Geschichte wurde der Kapitalstock der Rentenversicherung zweimal – durch die Hyperinflation 1923 und durch die Währungsreform 1948 – fast vollständig vernichtet, so dass die Leistungen durch ein Umlageverfahren finanziert werden mussten. Im Jahr 1969 wurde dieser Umstieg in der GRV auch formal vollzogen. 12 Dieses Argument gilt streng genommen nur für geschlossene Volkswirtschaften. Da aber alle industrialisierten Volkswirtschaften mit vergleichbaren demografischen Problemen konfrontiert sind, ist diese Annahme realistisch. 13 Vgl. Breyer 1989 sowie Fenge 1997.

218

10 Das System der sozialen Sicherung

Kapitaldeckungs- vs. Umlageverfahren Die grundsätzliche Funktionsweise des Kapitaldeckungs- und des Umlageverfahrens ist am Beispiel der Alterssicherung in Abbildung 10.3 wiedergegeben.

Phase

Zeit A1

B1

C1

D1

E1

A2

B2

C2

D2

A3

B3

C3

Erwerbstätigkeit

Ruhestand

Abb. 10.3: Stilisierte Wirkungsweise von Umlage- und Kapitaldeckungsverfahren Dabei wird vereinfachend unterstellt, dass jede Generation (A,B,...) drei Phasen durchläuft: zwei Perioden der Erwerbstätigkeit und eine Ruhestandsperiode. Im Kapitaldeckungsvefahren wird während den Erwerbsphasen (A1 , A2 ) ein Kapitalstock aufgebaut, der in der Ruhestandsphase (A3 ) aufgebraucht wird. Demgegenüber finanzieren im Umlageverfahren die erwerbstätigen Kohorten (C1 , B2 ) den Alterskonsum der Ruhestandsgeneration (A3 ). Bereits aus dieser sehr vereinfachten Darstellung des Kapitaldeckungs- und des Umlageverfahrens gehen die spezifischen Vor- und Nachteile der beiden Finanzierungsverfahren hervor. Zunächst ist festzuhalten, dass beide Verfahren keinen Schutz gegen unerwartete Ausgabenerhöhung in der Ruhestandsphase bieten. Von einer nicht-antizipierten Verlängerung der Lebenserwartung oder einem kostensteigernden medizinisch-technischen Fortschritt – also einem unerwarteten Anstieg der Ausgaben in A3 – sind beide Verfahren in gleicher Weise betroffen. Während jedoch im Umlageverfahren die hieraus resultierenden wirtschaftlichen Belastungen auf drei Generationen verteilt werden können, muss im Kapitaldeckungsverfahren die jeweilige Ruhestandsgeneration diese Belastung allein tragen. Der Vorteil des Kapitaldeckungsverfahrens zeigt sich in der generationenübergreifenden Perspektive. Denn für die Finanzierung im Umlageverfahren ist es von entscheidender Bedeutung, wie stark die erwerbstätigen Generationen (C1 , B2 ) besetzt sind. Demgegenüber leistet im Kapitaldeckungsverfahren jede Generation für sich selbst Daseinsvorsorge; die quantitative Besetzung der Nachfolgegeneration ist – im Idealfall – für die Finanzierung irrelevant. Dieser Vorteil besteht jedoch nur, wenn ein Sicherungssystems neu eingeführt wird. Sofern ein bereits existierendes Umlageverfahren durch ein kapitalfundiertes System abgelöst werden soll, trägt die „Umstiegsgeneration“ eine Doppelbelastung: sie muss zum einen die laufenden Ansprüche aus dem Umlageverfahren bedienen und zum anderen einen Kapitalstock aufbauen, um eigene Rentenanwartschaften aufzubauen. Gleiches gilt – in abgeschwächter Form – auch für den Umstieg auf ein Teilkapitaldeckungsverfahren. Und schließlich gilt dieser Vorteil des Kapitaldeckungsverfahrens nur unter der Annahme, dass die demografische Entwicklung keinen Einfluss auf die Rendite des Kapitaldeckungsverfahrens hat. In welchem Umfang der Kapitalmarkt auf demografische Änderungen reagiert (sog. „asset-melt-down Hypothese“), ist in der Literatur umstritten. Literatur Einen guten Überblick über die Wirkungsweise der alternativen Finanzierungsverfahren liefern Homburg 1988 sowie Fenge 1997. Zur asset melt down Hypothese siehe Fehr/Jokisch 2006.

10.3 Einzelbereiche sozialer Sicherung in der Bundesrepublik

219

10.2.5 Überblick über das System sozialer Sicherung in der Bundesrepublik Die Ausgaben der Bereiche des Systems sozialer Sicherung sind in Tabelle 10.1 absolut und in Relation zum BIP resp. zum Sozialbudget14 dargestellt. Bezogen auf das Sozialbudget beliefen sich die Ausgaben der Krankenversicherung 2015 auf 22,5 %, der Unfallversicherung auf 1,5 %, der Rentenversicherung auf 30,3 %, der Pflegeversicherung auf 3,3 %, der Beamtenversorgung (= Systeme des öffentlichen Dienstes) auf 7,8 %, und der Grundsicherung für Arbeitsuchende auf 4,5 %. Auf diese Systemteile, die im Folgenden dargestellt werden, entfallen einschließlich der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall (4,5 %) 72,9 % des Sozialbudgets.

10.3 Einzelbereiche sozialer Sicherung in der Bundesrepublik 10.3.1 Die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) a) Kreis der Versicherten In der GKV15 sind alle Arbeitnehmer versicherungspflichtig, deren regelmäßiges Bruttoarbeitsentgelt unterhalb der Versicherungspflichtgrenze liegt. Diese Versicherungspflichtgrenze wird entsprechend der Lohnentwicklung angepasst (§6 VI SGB V). 2020 beträgt die Versicherungspflichtgrenze der GKV 62 550 e. Arbeitnehmer, deren regelmäßiges Arbeitsentgelt diese Versicherungspflichtgrenze übersteigt, haben die Möglichkeit, sich privat gegen das Krankheitsrisiko abzusichern; sie müssen jedoch zumindest eine nach Art und Umfang zur GKV äquivalente Versicherung abschließen.16 In der GKV sind auch Rentner versichert, wenn sie bestimmte Versicherungszeiten in der GKV als Arbeitnehmer zurückgelegt haben. Versicherungspflichtig sind auch Arbeitslose, Bezieher von Leistungen der sozialen Grundsicherung sowie Personen, die keinen anderweitigen Anspruch auf Absicherung im Krankheitsfall haben. Damit sind alle Personen, die ihren regelmäßigen Aufenthalt in Deutschland haben, grundsätzlich gegen das Gesundheitsrisiko abgesichert. 2018 waren in der GKV 27,8 Mio. Arbeitnehmer und 16,6 Mio. Rentner pflichtversichert, 6,1 Mio. Personen waren freiwillig versichert. Unter Einbeziehung von rd. 16,2 Mio. mitversicherten Familienangehörigen und unter Berücksichtigung der landwirtschaftlichen Unternehmer, Auszubildenden sowie Arbeitslosengeldempfängern sind das insgesamt 72,8 Mio. Personen; dies entspricht etwa 87,9 % der Bevölkerung.17

14

Das jährlich erstellte Sozialbudget stellt die Sozialleistungen nach Institutionen, Funktionen, Arten und Finanzierung dar. 15 Gesetzliche Grundlage der GKV ist im Wesentlichen das SGB V. 16 Eine Rückkehr in die GKV ist jedoch nur möglich, sofern das 55. Lebensjahr noch nicht vollendet wurde (§ 6 IIIa SGB V). 17 Quelle: BMG (2019): Gesetzliche Krankenversicherung. Mitglieder, mitversicherte Angehörige und Krankenstand. Jahresdurchschnitt 2018.

220

10 Das System der sozialen Sicherung

Tabelle 10.1: Die Leistungen des Systems sozialer Sicherung in Deutschland 2015 Leistungena nach Institutionen in Mrd. Euro 1 Sozialversicherungssysteme Rentenversicherung Krankenversicherung Pflegeversicherung Unfallversicherung Arbeitslosenversicherung

in % des BIP

in % d. Sozialbudgets

539,8 281,8 209,6 30,8 14,0 32,1

17,7 9,3 6,9 1,0 0,5 1,1

58,0 30,3 22,5 3,3 1,5 3,4

2 Sondersysteme Alterssicherung der Landwirte Versorgungswerke Private Altersvorsorge Private Krankenversicherung Private Pflegeversicherung

59,8 2,8 16,8 14,5 23,7 2,0

2,0 0,1 0,6 0,5 0,8 0,1

6,4 0,3 1,8 1,6 2,5 0,2

3 Systeme des öffentlichen Dienstes Pensionen Familienzuschläge Beihilfen

72,8 54,5 3,5 14,9

2,4 1,8 0,1 0,5

7,8 5,8 0,4 1,6

4 Arbeitgeberleistungen Entgeltzahlung im Krankheitsfall Betriebliche Altersversorgung Zusatzversorgung sonstige Arbeitgeberleistungen

96,9 42,2 35,3 18,0 1,3

3,2 1,4 1,2 0,6 0,0

10,4 4,5 3,8 1,9 0,1

2,7

0,1

0,3

168,8 43,2 6,8 42,2 0,7 2,4 36,6 36,3 0,7

5,5 1,4 0,2 1,4 0,0 0,1 1,2 1,2 0,0

18,1 4,6 0,7 4,5 0,1 0,3 3,9 3,9 0,1

931,3

30,6

100

5 Entschädigungssystemeb 6 Förder- und Fürsorgesysteme Kindergeld und Familienleistungsausgleich Erziehungsgeld/Elterngeld Grundsicherung für Arbeitsuchende Arbeitslosenhilfe/sonst. Arbeitsförderung Ausbildungs- und Aufstiegsförderung Sozialhilfe Kinder- und Jugendhilfe Wohngeld Sozialbudget a

Konsolidiert. Im Wesentlichen Kriegsopferversorgung. Quelle: BMAS, Sozialbericht 2017, Tab. III-1 (T 11).; eigene Berechnungen b

10.3 Einzelbereiche sozialer Sicherung in der Bundesrepublik

221

Tabelle 10.2: Versicherungspflichtgrenzen, Beitragsbemessungsgrenzen (in e je Monat) und Beitragssätze in der Sozialversicherung seit 1970 Jahr

GKV Beitragsbemessungsgrenze West

1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010 2015 2020 2021

614 1 074 1 611 2 071 2 416 2 991 3 298

Ost

GPflV Beitragssatz in % (∅ aller Kassen) West

12,8 12,8

Vers.pflichtund Beitragsbemessungsgrenze wie in der GKV 1,0 1,7 1,7 1,95 2,35 3,05 3,05

13,6 13,8 14,9 15,5 15,7 15,9

3 525 3 750 4 125 4 687,5 4 837,5

GRV Beitragsbemessungsgrenze West

Ost

1970 1975 1980 1985

920 1 432 2 147 2 761

1990

3 221

1 738

1995 2000 2005 2010 2015 2020 2021

3 988 4 397 5 200 5 500 6 050 6 900 7 100

3 272 3 630 4 400 4 650 5 200 6 450 6 700

Beitragssatz in %

Ost

8,2 10,4 11,4 11,8 12,6 13,2

1 304 2 454 2 723

Beitragsbemessungsgrenze

ALV Beitragssatz in %

West

Ost

17,0 18,0 18,0 19,2

Beitragsbemessungsgrenze West

Ost

920 1 432 2 147 2 761

18,7

17,7 18,6 19,3 19,5 19,9 18,7 18,6 18,6

Beitragssatz in %

West

Ost

1,3 2,0 3,0 4,4

3 221

1 738

3 988 4 397 5 200 5 500 6 050 6 900 7 100

3 272 3 630 4 400 4 650 5 200 6 450 6 700

4,3

6,8 6,5 6,5 6,5 2,8 3,0 2,4 2,4

222

10 Das System der sozialen Sicherung

b) Aufgaben und Leistungen Aufgabe der GKV ist die Aufrechterhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit der Versicherten. Dazu dienen 1. Leistungen zur Krankheitsverhütung durch gruppen- und individualprophylaktische Maßnahmen für Kinder und Jugendliche sowie Vorsorgekuren; 2. Leistungen zur Früherkennung von Krankheiten durch Gesundheitsuntersuchungen; 3. Leistungen zur Behandlung von Krankheiten, insbesondere a. die weitgehend unentgeltliche, ambulante Versorgung durch die zur Behandlung von GKVPatienten zugelassenen Ärzte und Zahnärzte. Der Patient hat das Recht der freien Arztwahl. Die erstattungsfähigen Leistungen müssen nach dem jeweiligen Stand der Medizin zweckmäßig und ausreichend sein und dürfen keine Leistungen umfassen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind; b. nahezu unentgeltliche stationäre Versorgung. Für den Krankenhausaufenthalt hat der Versicherte für längstens 28 Tage innerhalb eines Kalenderjahres pro Tag 10 e Selbstbeteiligung zu entrichten; c. eingeschränkt unentgeltliche Versorgung mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln.18 Für Arznei- und Hilfsmittel sind durch die Spitzenverbände der Krankenkassen Festbeträge festgesetzt; 4. medizinische Leistungen zur Rehabilitation. Zu den Maßnahmen gehören auch ambulante und stationäre Rehabilitationskuren. Bei stationären Kuren haben die Versicherten pro Tag einen Eigenbeitrag von 10 e täglich für maximal 28 Tage zu leisten; 5. Einkommenshilfen in Form von Krankengeld. Da die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall während der ersten sechs Wochen durch den Arbeitgeber erfolgt, wird Krankengeld erst von der 7. Woche einer Krankheit an fällig. Es beträgt 70 % des regelmäßigen Entgeltes bis zur Beitragsbemessungsgrenze und wird wegen derselben Krankheit für höchstens 78 Wochen innerhalb von 3 Jahren gezahlt; 6. Mutterschaftshilfe und Mutterschaftsgeld. Die Mutterschaftshilfe umfasst volle ärztliche Betreuung und Beratung der werdenden und stillenden Mutter, ärztliche Hilfe bei der Entbindung, Behandlung im Krankenhaus, Arzneimittelversorgung und gegebenenfalls häusliche Pflege und Haushaltshilfe. Versicherte Frauen, die sechs Wochen vor bis acht Wochen nach der Geburt in einem Arbeitsverhältnis stehen, erhalten für diese Zeit Mutterschaftsgeld in Höhe des um die gesetzlichen Abzüge geminderten durchschnittlichen Arbeitsentgelts bis zu maximal 13 e täglich. Übersteigt das Arbeitsentgelt diesen Betrag, so wird dieser Differenzbetrag vom Arbeitgeber gezahlt. Das Mutterschaftsgeld kann sich mit dem Elterngeld überschneiden, das nach dem Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz (vgl. dazu S. 292 f.) maximal für die ersten 14 Lebensmonate eines Kindes gezahlt wird. In diesem Fall wird das Mutterschaftsgeld auf das Elterngeld angerechnet. Für die Leistungen der GKV ist i. d. R. eine Selbstbeteiligung von 10 %, mindestens 5 e und höchstens 10 e vorgesehen. Kinder und Jugendliche sind von der Zuzahlung vollständig befreit. Ebenso befreit sind Versicherte, sofern die Summe der Zuzahlungen die Belastungsgrenze 18

Für Kinder bis zum Alter von 12 Jahren und bei besonders schwerwiegenden Erkrankungen können auch verschreibungsfreie Arzneimittel eingesetzt werden.

10.3 Einzelbereiche sozialer Sicherung in der Bundesrepublik

223

übersteigt. Diese Belastungsgrenze beträgt grundsätzlich 2 % (1 % bei chronisch Erkrankten) des Bruttojahreseinkommens.19

c) Organisation und Finanzierung Die Organisation des gesetzlichen Gesundheitswesens ist – stark vereinfacht – in der Abbildung 10.4 wiedergegeben. Träger der GKV sind die gesetzlichen Krankenkassen.20 Die Kassen sind organisatorisch selbständig und für den Ausgleich von Einnahmen und Ausgaben verantwortlich. Gemeinsame Interessen der gesetzlichen Krankenkassen werden durch den GKVSpitzenverband vertreten. Die Entscheidungen dieses Spitzenverbandes sind für alle gesetzlichen Kassen verbindlich. Die zur Kassenpraxis zugelassenen Ärzte sind in den Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) zusammengeschlossen, die Vertragszahnärzte in den Kassenzahnärztlichen Vereinigungen (KZV). Der Spitzenverband auf Bundesverband ist die Kassenärztliche bzw. Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung (KBV/KBZV). Die Krankenkassen schließen mit den Kassenärztlichen Vereinigungen Kollektivverträge ab, in denen die Gesamtvergütung festgelegt ist. Diese Gesamtvergütung wird von den Kassenärztlichen Vereinigungen nach einem Vergütungsschlüssel, der mit den Verbänden der Krankenkassen vereinbart ist, auf die niedergelassenen Ärzte aufgeteilt. Im Gegenzug verpflichten sich die Kassenärztlichen Vereinigungen zur Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung. Die Kassenärztliche sowie Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung, der GKV-Spitzenverband und die Deutsche Krankenhausgesellschaft bilden den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) als Spitzenorganisation der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen. Der G-BA untersucht die medizinische Notwendigkeit, den therapeutischen Nutzen und die Wirtschaftlichkeit von medizinischen Leistungen und legt den Leistungskatalog der GKV sowie Standards zur Leistungserbringung fest. Er wird in seiner Arbeit vom Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) wissenschaftlich unterstützt. Die GKV finanziert sich aus Zuweisungen des Gesundheitsfonds und ggf. Zusatzbeiträgen. Die Finanzierung des Gesundheitsfonds erfolgt aus 1. Beiträgen der Versicherten (Arbeitnehmer, Rentner und sonstige Versicherte), der Arbeitgeber und der Rentenversicherung sowie 2. einem aus Steuermitteln finanzierten Bundeszuschuss. Die Krankenkassen erhalten aus dem Gesundheitsfonds eine einheitliche Grundpauschale je Versicherten sowie alters-, geschlechts- und risikoadjustierte Zuschläge (morbiditätsorientierter Risikostrukturausgleich). Über den Gesundheitsfonds werden Unterschiede in den beitragspflichtigen Einnahmen und der Morbiditätsstruktur der Versicherten zwischen den Kassen ausgeglichen. Das Ziel dieses Risikostrukturausgleiches ist es, gleiche Wettbewerbsbedingungen zwischen den Krankenkassen herzustellen. 19

Das Bruttojahreseinkommen des Haushalts wird um Freibeträge in Höhe von 15 % für den ersten Haushaltsangehörigen und 10 % für jeden weiteren Angehörigen bereinigt. 20 Zu den gesetzlichen Krankenkassen zählen Ortskrankenkassen, Betriebskrankenkassen, Innungskrankenkassen, landwirtschaftliche Krankenkassen, Ersatzkassen sowie die Seekrankenkasse und die Bundesknappschaft. Die Reformen im Gesundheitswesen haben in den vergangenen Jahren zu einer deutlichen Konzentration bei den gesetzlichen Krankenkassen geführt. 1970 gab es noch über 1 800 gesetzliche Krankenkassen, 2018 sind es noch 110.

Abb. 10.4: Das System der ambulanten und stationären Gesundheitsversorgung

224 10 Das System der sozialen Sicherung

10.3 Einzelbereiche sozialer Sicherung in der Bundesrepublik

225

Die Hauptfinanzierungsquelle des Gesundheitsfonds sind die Beitragszahlungen. Ca 94 % werden durch Beiträge, etwa 6 % durch den Bundeszuschuss abgedeckt.21 Der Beitragssatz zur GKV ist seit Inkrafttreten des Gesundheitsfonds im Jahr 2009 für alle Krankenkassen einheitlich. Der allgemeine Beitragssatz22 zur GKV beträgt (2019) 14,6 % der beitragspflichtigen Einnahmen der Mitglieder. Obergrenze für die Beitragsleistung ist die Beitragsbemessungsgrenze in der GKV. Sofern die Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds nicht ausreichen, um die Gesamtausgaben einer Kasse abzudecken, muss die Versicherung Zusatzbeiträge erheben. Dieser Zusatzbeitrag unterscheidet sich von Kasse zu Kasse und lag in der Vergangenheit zwischen 0,3 und 1,7 %. Übersteigen die Zuweisungen aus dem Fonds die Ausgaben der Versicherung, kann die Kasse ihren Mitgliedern gezahlte Beiträge zurückerstatten. Durch diese kassenindividuellen Zusatzbeiträge soll ein Preiswettbewerb zwischen den Kassen hergestellt werden.

d) Die Ausgabenentwicklung als zentrales Problem Die GKV ist in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder reformiert worden.23 Der wesentliche Grund hierfür ist die starke Zunahme der Ausgaben.24 Aus den Zahlen der Tabelle 10.3 geht hervor, dass sich die Leistungsausgaben zwischen 1970 und 1990 in Westdeutschland mehr als verfünffacht haben, und seit 1991 in Gesamtdeutschland noch einmal um das Zweieinhalbfache gestiegen sind. Diese Steigerungsraten gehen weit über die Zuwächse der versicherungspflichtigen Arbeitsentgelte und des Bruttoinlandsprodukts hinaus. Diese Ausgabenentwicklung konnte nur mit Hilfe steigender Beitragssätze in Verbindung mit steigenden Beitragsbemessungsgrenzen finanziert werden (vgl. Tabelle 10.2). 1970 belief sich Beitragssatz zur GKV auf 8,2 %, die monatliche Beitragsbemessungsgrenze auf 613,55 e. 2019 betrug der allgemeine Beitragssatz zur GKV 14,6 %, die Beitragsbemessungsgrenze 4 537,50 e. Diese Ausgabenentwicklung ist auf mehrere Faktoren zurückzuführen, die man in exogene und endogene Ursachen untergliedern kann. Exogene Ursachen sind jene Gründe, die unabhängig von der konkreten Ausgestaltung des Systems der sozialen Krankenversicherung auftreten, während die endogenen Ursachen durch spezifische Organisationsmerkmale der GKV bedingt sind (sog. „Steuerungsmängel“ im System der GKV). Zu den systemexogenen Ursachen zählen 1. ein gestiegenes Gesundheitsbewusstsein in der Bevölkerung und die Bereitschaft, bei steigenden Einkommen die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen überproportional auszuweiten; 2. ein im Wesentlichen kostensteigernder medizinisch-technischer Fortschritt, der die Möglichkeiten der Diagnose und der Therapie von Erkrankungen deutlich verbessert, sowie 3. der demografische Wandel. 21

Datenquelle: Bundesversicherungsamt: Jährliche Rechnungsergebnisse des Gesundheitsfonds 2016-2018. Für freiwillig versicherte Selbständige und für Bezieher von ALG II existiert seit dem 01.01.2011 ein ermäßigter Beitragssatz; er beträgt 2019 14,0 %. Für Studierende beträgt der Beitragssatz 70 % des allgemeinen Satzes, bezogen auf den BAföG-Bedarfssatz. Für geringfügig entlohnt Beschäftigte (Minijobs) hat der Arbeitgeber einen Beitragssatz von 13 % (5 % für Beschäftigte in Privathaushalten) zu entrichten. 23 Vgl. zu dieser Reformdiskussion insbes. Oberender/Zerth/Engelmann 2017 sowie die dort angegebene Literatur. 24 Dieses Ausgabenwachstum ist international zu beobachten und führt in allen entwickelten Gesellschaften zu hohen Anteilen der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt. 22

226

10 Das System der sozialen Sicherung

Tabelle 10.3: Die Leistungsausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung (1950-2015) Jahr Leistungs- AusgabenVon den Ausgaben entfielen ausgaben index Ärztliche Zahnärzt- Arzneien, insges.a 1970=100 Behandliche Be- Heilmittel in Mio. e 1991=100 lung handlung Zahnersatz

in Prozent auf Kranken- Krankenhausbegeld handlung

1950 1955 1960 1965 1970 1975 1980 1985 1990

1 2 4 7 12 29 43 55 68

073 083 584 625 194 742 949 580 635

9 17 38 62 100 244 360 456 562

21,8 23,9 20,9 21,4 22,9 19,4 17,9 18,1 18,1

5,2 5,6 5,2 6,4 7,2 7,1 6,4 6,0 6,0

20,9 20,3 17,6 18,7 24,0 26,9 28,9 28,4 26,1

20,9 17,4 17,5 19,8 25,2 30,1 29,6 32,2 34,2

22,4 23,0 30,0 24,8 10,3 8,0 7,7 5,9 6,6

1991b 1995 2000 2005 2010 2015

77 97 105 134 164 202

529 294 050 850 960 050

100 126 135 174 213 261

17,6 17,2 17,6 16,3 16,4 17,3

6,0 5,9 6,0 5,6 5,0 5,0

25,4 22,6 24,1 22,9 23,0 21,9

33,4 35,0 35,0 35,9 35,2 34,8

7,5 8,0 5,7 4,4 4,7 5,6

a

Einschl. der in der Tabelle nicht ausgewiesenen „sonstigen Leistungen“. Daher addieren sich die Prozentangaben nicht zu 100 %. b Ab 1991 Gesamtdeutschland. Quelle: BMA, Stat. Tb. 1950-1990 und BMAS, Stat. Tb. 2011, Tab. 8.6., BMG, Kennzahlen der GKV, 2017

Die zunehmende Nachfrage nach Gesundheitsleistungen bei steigenden Einkommen und der kostensteigernde Effekt des medizinisch-technischen Fortschritts sind empirisch gut belegt.25 Dabei muss jedoch berücksichtigt werden, dass der medizinisch-technische Fortschritt auch die Qualität der Gesundheitsleistungen deutlich verbessert. Inwieweit sich die demografische Entwicklung auf die Finanzierung der GKV auswirkt, ist in der Literatur umstritten (vgl. Felder 2012). Nach der sog. Medikalisierungsthese steigen die Gesundheitsausgaben mit höherem Lebensalter an, da die Morbidität, also die Erkrankungshäufigkeit in einer Bevölkerungsgruppe, mit steigendem Lebensalter zunimmt. Bei steigender Lebenserwartung werden die Gesundheitsleistungen somit nicht nur für einen längeren Zeitraum, sondern auch in steigendem Umfang in Anspruch genommen. Gemäß der Kompressionsthese fallen die höchsten Gesundheitsausgaben für eine Person hingegen erst ein bis zwei Jahre vor dem Todeszeitpunkt an (death related costs Hypothese). Eine steigende Lebenserwartung würde somit das Alters-Ausgabenprofil nicht ansteigen lassen, sondern vielmehr zeitlich verschieben. Neuere empirische Evidenzen unterstützen tendenziell die Kompressionsthese (vgl. Breyer/Costa-Font/Felder 2010 sowie Buchner/ Wasem 2000; zur Medikalisierungsthese siehe Zweifel/Felder/Meiers 1999 und Niehaus 2006).

25

Vgl. Breyer 2000 sowie Fetzer 2006.

10.3 Einzelbereiche sozialer Sicherung in der Bundesrepublik

227

e) Das System der GKV und seine Steuerungsmängel Die wesentlichen Steuerungsmängel im System der GKV ergeben sich aus der Organisation des Gesundheitswesens, die in Abbildung 10.4 – auf das Wesentliche verkürzt – dargestellt ist. In diesem System erwerben die Versicherten durch ihre Beitragsleistung an die Krankenkasse (1) einen Anspruch auf weitgehend unentgeltliche ärztliche und medikamentöse Versorgung, Krankenhausbehandlung, Leistungen für ihre Familienmitglieder und Barleistungen. Gegenüber dem Arzt wird dieser Anspruch durch die Versichertenkarte (2), gegenüber dem Krankenhaus durch einen Einweisungsschein, gegenüber der Apotheke durch das Rezept nachgewiesen (4). Die Nachfrage der Versicherten nach Gesundheitsgütern ist daher nicht durch Preise reguliert, d. h. die Nachfrage nach medizinischen Leistungen wird weder durch die Zahlungsfähigkeit noch durch die Zahlungsbereitschaft der Versicherten eingeschränkt. Der Verzicht auf die Nachfragesteuerung durch Unterschiede in der Zahlungsfähigkeit ist sozialpolitisch gewollt: niemand soll von den Leistungen des Gesundheitssystems wegen zu geringer Kaufkraft ausgeschlossen werden. Die Preisunabhängigkeit der Nachfrage hat aber auch zur Folge, dass die Versicherten die Nachfrage nach medizinischen Leistungen bis zur „Sättigungsmenge“ ausweiten und die Nachfrage preisunelastisch reagiert. Damit führen Kostensteigerungen im Gesundheitswesen nicht zu einer Einschränkung der nachgefragten Menge, sondern werden vollständig auf die Preise überwälzt. Dieser erste Steuerungsmangel wird durch einen zweiten verstärkt. Er liegt darin, dass die Ärzte nicht nur das Leistungsangebot, sondern die Nachfrage bestimmen und dass sie dabei ebenfalls kaum auf die Ausgaben zu achten haben (sog. „angebotsinduzierte Nachfrage“). Da dem Patient die medizinischen Fachkenntnisse fehlen, kann er sein Bedürfnis nach Gesundheit nicht in Nachfrage nach bestimmten Leistungen umsetzen. Dies müssen die Ärzte tun. Gesundheit lässt sich somit als „Vertrauensgut“ charakterisieren, bei dem die Informationen über Art und Umfang der medizinisch notwendigen und wirtschaftlich vertretbaren Leistungen ausschließlich beim Leistungserbringer – also dem Arzt – liegen. Bei diesen Entscheidungen über ärztliche Dienst- und Sachleistungen (3) sowie über die Verordnung von Medikamenten, Krankenhauseinweisungen (4) usw. spielen Preise wiederum keine ausgabenkontrollierende Rolle. Eher das Gegenteil ist der Fall: die Ärzte beeinflussen durch diese Entscheidungen ihr eigenes Einkommen.26 Wenn man realistischerweise davon ausgeht, dass Ärzte ihre Tätigkeit mit einer Einkommenserzielungsabsicht betreiben, so schlägt sich eine steigende Ärztedichte in einer Erhöhung der Gesundheitsausgaben nieder. Dieser Effekt ist empirisch gut dokumentiert (vgl. Breyer 1984) und lässt sich folgendermaßen begründen: Das Einkommen eines Arztes ergibt sich aus der Differenz zwischen Umsatz und Kosten: E = U − K. Der Umsatz wird bestimmt durch: 1. 2. 3. 4.

die Zahl der Kassenpatienten (k); die durchschnittliche Zahl der Besuche eines Patienten beim Arzt (z); die Zahl der jedem Patienten pro Besuch erbrachten Leistungen (l); das Einzelleistungshonorar (h).

Daher gilt: U = k · z · l · h. 26

„Die Entscheidung über Wahl und Art der Behandlung und der für sie anzuwendenden Mittel (Einzelleistungen) ist es, die dem Arzt den Schlüssel zum Geldschrank der Kasse in die Hand gibt“ (Preller 1970, 2. Halbbd., S. 353).

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10 Das System der sozialen Sicherung

k ist die Existenzgrundlage fast aller frei praktizierenden Ärzte, da fast 90 % der Bevölkerung in der GKV versichert sind. k ist zum einen durch die Qualität der ärztlichen Leistung beeinflussbar; dieser Qualitätswettbewerb ist wirtschafts- und sozialpolitisch erwünscht und stellt ein wesentliches Argument für die freie Arztwahl dar. k kann jedoch auch durch die Erbringung medizinisch nicht notwendiger oder unwirtschaftlicher Leistungen, bspw. sog. „Gefälligkeitsleistungen“, erhöht werden. Die Zahl der pro Patient und Besuch erbrachten Leistungen (l) lässt sich steigern, indem verstärkt Labor- und gerätemedizinische Leistungen eingesetzt werden, die auch von Hilfskräften erbracht werden können. Außer k und l kann der Arzt auch z beeinflussen, indem er den Patienten mehrfach einbestellt, also die Behandlung „stückelt“. Eine vom einzelnen Arzt nicht beeinflussbare Größe ist h, die Einzelleistungsvergütung. Sie hängt v. a. davon ab, wie die sog. „Gesamtvergütung“ (6) auf die einer Kassenärztlichen Vereinigung angehörenden Ärzte verteilt wird. Aufgrund dieser Gesamtvergütung wird die Ärzteschaft verpflichtet, die Kassenmitglieder unentgeltlich zu versorgen (5). Diese Gesamtvergütung wird von den Kassenärztlichen Vereinigungen entsprechend den zur Abrechnung vorgelegten Einzelleistungsnachweisen der Ärzte (7) auf die Ärzte verteilt. Nach den gegenwärtig geltenden Normen des § 85 SGB V wird die Höhe der Gesamtvergütung zwischen den Landesverbänden der Krankenkassen und den Kassenärztlichen Vereinigungen festgelegt. Diese Gesamtvergütung setzt sich aus der morbiditätsbedingten Gesamtvergütung (MGV) und der Vergütung für bestimmten Leistungen, die als Einzelleistungen honoriert werden, zusammen. Die Aufteilung der Gesamtvergütung auf die behandelnden Ärzte (Honorarverteilung) erfolgt durch die Kassenärztlichen Vereinigungen. Grundlage hierfür ist der Einheitliche Bewertungsmaßstab (EBM), der die verschiedenen ärztlichen Leistungen durch die Vergabe von Punktwerten zueinander in Verbindung setzt. Die Vergütung des einzelnen Arztes ergibt sich dann als Produkt aus der Zahl seiner nachweisbaren Leistungspunkte und dem Wert eines einzelnen Leistungspunktes. Für den Fall, dass die von einem Arzt erbrachten Leistungen ein bestimmtes Regelleistungsvolumen übersteigen, kann im Vertrag über die Gesamtvergütung vorgesehen werden, dass der Punktwert mit zunehmender Leistungsmenge der einzelnen Praxis sinkt („Abstaffelung“ nach § 87 SGB V). Ein dritter Steuerungsmangel des Systems, der eng mit dem zweiten verbunden ist, liegt im Arzneimittelbereich (11). Zwar wurde die kostenfreie Abgabe von Arzneimitteln durch ein System von Festbeträgen und Zuzahlungen ersetzt. Dadurch wurde das Interesse der Versicherten an einer preisgünstigen Versorgung mit Arzneimitteln gestärkt. Trotz dieser Neuregelung und trotz der zunehmenden Verordnung von (im Vergleich zu Originalarzneimitteln) billigeren Nachahmerprodukten (Generika) sind im Arzneimittelbereich erhebliche Preissteigerungen zu verzeichnen. Ein Grund hierfür sind die hohen Kosten für patentgeschützte Medikamente.27 Steuerungsdefizite waren auch im Krankenhausbereich zu finden, dessen Kosten – wie Tabelle 10.3 zeigt – seit 1970 stärker gestiegen sind als die Kosten im ambulanten Bereich. Zu nennen sind hier die „duale“ Krankenhausfinanzierung und die Anwendung des Kostendeckungsprinzips durch voll pauschalierte, tagesgleiche Pflegesätze. „Duale Finanzierung“ bedeutet, dass die Investitionskosten der Krankenhäuser von den Bundesländern, die laufenden Betriebskosten durch die Krankenkassen finanziert werden. Tagesgleicher Pflegesatz bedeutet, dass derselbe Pflegesatz für jeden Tag des stationären Aufenthalts gezahlt wird, unabhängig davon, dass die Kosten in den ersten Tagen einer Behandlung, in denen diagnostiziert und intensiv therapiert wird, 27

Bei patentgeschützten Medikamenten kann der Hersteller im ersten Jahr nach der Marktzulassung den Preis frei bestimmen. Anschließend vereinbart der Hersteller mit der GKV einen Erstattungsbetrag der sich am Zusatznutzen des Patienten bemisst.

10.3 Einzelbereiche sozialer Sicherung in der Bundesrepublik

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wesentlich höher sind als in der Nachbehandlungs- und Rekonvaleszenzphase. Diese Form der Pflegesatzbemessung hat ökonomisch negative Steuerungswirkungen, da sie Anreize zur künstlichen Verlängerung der Verweildauer im stationären Sektor bietet (vgl. dazu Beratergruppe 1983, S. 125 f.). Durch das Fallpauschalengesetz (FPG)28 wurde die Vergütung des stationären Sektors zum im Jahr 2003 vollständig auf ein System von Fallpauschalen umgestellt. Eine Fallpauschale ist ein Pauschbetrag, mit dem alle Leistungen eines Behandlungsfalls abschließend honoriert werden. Grundlage für die Fallpauschalen sind diagnoseorientierte Fallgruppen (Diagnosis Related Groups (DRG’s)), in denen stationäre Behandlungsfälle anhand bestimmter Kriterien zusammengefasst werden.

f) Reformoptionen und Reformgesetzgebung seit 1989 Das System der gesetzlichen Krankenversicherung wurde in den vergangenen Jahrzehnten mit zunehmender Eingriffshäufigkeit und -intensität reformiert. Die zahlreichen in der Diskussion befindlichen und z. T. bereits umgesetzten Reformvorschläge lassen sich in nachfrageseitige, angebotsseitige und marktstrukturelle Änderungen untergliedern. Nachfrageseitige Reformmaßnahmen zielen darauf ab, die Inanspruchnahme des Gesundheitswesens durch die Patienten auf das medizinisch notwendige Maß zu beschränken und die Preiselastizität der Nachfrage nach Gesundheitsgütern zu erhöhen. Instrumente sind zum einen Ausschlüsse bestimmter Therapien aus dem Katalog der erstattungsfähigen Leistungen und zum anderen Selbstbeteiligungen. So wurden bereits im Jahr 1988 durch das Gesundheitsreformgesetz (GRG)29 sog. „Bagatellarzneimittel“ und das Sterbegeld aus dem Leistungskatalog der GKV gestrichen. Seit dem GKV-Modernisierungsgesetz (GMG)30 sind die Fahrtkosten, Sehhilfen und sowie alle nicht verschreibungspflichtigen Medikamente nicht mehr erstattungsfähig. Des Weiteren sind in allen Bereichen des Gesundheitswesens Zuzahlungen zu leisten. Bei Arzneimitteln beträgt die Zuzahlung zehn Prozent, jedoch mindestens 5 e und höchstens 10 e. Für Heilmittel und häusliche Krankenpflege beträgt die Zuzahlung ebenfalls zehn Prozent zuzüglich 10 e je Verordnung.31 Im stationären Sektor belaufen sich die Zuzahlungen auf 10 e pro Tag für maximal 28 Tage. Die Summe der vom Versicherten zu leistenden Zuzahlungen ist jedoch gemäß § 62 SGB V) auf 2 % (1 % bei chronisch Kranken) des Bruttojahreseinkommens begrenzt (Belastungsgrenze). Eine besondere Form der Selbstbeteiligung ist die Festsetzung von Festbeträgen für Arzneimittel. Diese Festbeträge stellen eine Obergrenze für die Erstattung von Arzneimitteln durch die Krankenkassen dar. Die Bemessung der Festbeträge erfolgt durch ein zweistufiges Verfahren: zunächst werden durch den „Gemeinsamen Bundesausschuss“ Gruppen von wirkstoffgleichen oder therapeutisch vergleichbaren Arzneimitteln ermittelt. Auf dieser Grundlage legt der GKV-Spitzenverband die Beträge fest, bis zu deren Höhe die Krankenkassen die Kosten für den betreffenden Wirkstoff übernehmen (Festbetrag). Wird vom Patienten ein teureres Präparat gewählt, so ist die Differenz zwischen Festbetrag und Marktpreis vom Versicherten zu zahlen. Die 28

Gesetz zur Einführung des diagnose-orientierten Fallpauschalensystems für Krankenhäuser vom 23.04.2002. Gesetz zur Strukturreform im Gesundheitswesen vom 25.11.1988. 30 Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung vom 14.11.2003. 31 Bis 2012 war im ambulanten Bereich eine sog. Praxisgebühr von 10 e pro Quartal bei der ersten Inanspruchnahme eines Arztes zu entrichten. 29

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10 Das System der sozialen Sicherung

Festbeträge sind so festzusetzen, dass sie eine ausreichende, zweckmäßige, wirtschaftliche und qualitativ hochwertige Versorgung gewährleisten. Sofern ein Medikament um 30 % unterhalb des Festbetrags liegt, kann es von der Zuzahlung befreit werden. Bürgerversicherung und Gesundheitsprämie Eine immer wieder aufgeworfene Diskussion betrifft die künftige Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung. Um bei weiterhin steigenden Leistungsausgaben den Anstieg der Lohnnebenkosten abzubremsen bzw. die Finanzierung der GKV vollständig vom Beschäftigungsverhältnis abzukoppeln, werden die Einführung einer Bürgerversicherung einerseits und die Umstellung der lohnbezogenen Beiträge auf eine einkommensunabhängige Gesundheitsprämie andererseits diskutiert. Die Bürgerversicherung sieht eine Ausweitung der Finanzierungsgrundlage der GKV in zweifacher Hinsicht vor. Zum einen wären in diesem Modell alle Personen in der GKV versicherungspflichtig, also auch Beamte, Selbständige und Arbeitnehmer mit einem Einkommen oberhalb der Versicherungspflichtgrenze. Zum anderen sollen alle Einkunftsarten – also neben den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit auch Einkünfte aus selbständiger Tätigkeit sowie alle Kapitaleinkünfte – der Versicherungspflicht unterworfen werden. Die private Krankenversicherung wäre in diesem Modell keine Vollversicherung mehr, sondern hätte lediglich ergänzenden Charakter. Befürworter dieses Modells versprechen sich hiervon eine spürbare Absenkung des notwendigen Beitragssatzes und eine Stärkung des Ziels sozialer Gerechtigkeit, da der Solidarausgleich auf alle Personengruppen und alle Einkunftsarten ausgeweitet wird. Kritiker dieses Modells weisen darauf hin, dass dieses Modell keine Lösung für die demografisch bedingten Herausforderungen bietet und die massive Einschränkung des Betätigungsfeldes für private Krankenversicherungsunternehmen verfassungsrechtlich problematisch wäre. Bei einer Gesundheitsprämie hat jeder erwachsene Versicherungspflichtige unabhängig von seinem Einkommen einen Pauschalbetrag zu entrichten; diese Pauschale kann auch eine Alterungsrückstellung beinhalten. Der Arbeitgeberbeitrag wird dem Arbeitnehmer als steuerpflichtiges Arbeitseinkommen ausbezahlt. Diese Prämie ist nicht vollständig risikoadäquat, da die Prämie unabhängig von Risikostrukturmerkmalen wie Alter, Geschlecht und Vorerkrankungen festgesetzt wird. Außerdem sollen Kinder beitragsfrei mitversichert bleiben. Ein Einkommensausgleich findet jedoch nicht mehr in der GKV statt, sondern erfolgt durch steuerfinanzierte Transferleistungen. Befürworter dieses Modells versprechen sich hiervon eine Stärkung des Versicherungsprinzips, eine Entlastung des Risikostrukturausgleichs, positive Beschäftigungseffekte, eine Abmilderung des demografisch bedingten Beitragsanstiegs sowie eine erhöhte Zielgenauigkeit der aus der GVK auszugliedernden Umverteilungskomponente. Kritiker halten dem entgegen, dass die zu erwartenden Beschäftigungseffekte höchst unsicher sind und dass bei fehlender Alterungsrückstellung die Prämien demografisch bedingt ebenso stark ansteigen wie die lohnbezogenen Beitragssätze. In diesem Zusammenhang wird besonders kritisiert, dass nicht sichergestellt ist, wie die Subventionierung der Gesundheitsprämien für Bezieher niedriger Einkommen an die zu erwartende Dynamik dieser Prämien angepasst wird (vgl. Greß 2003). Grundsätzlich ist festzuhalten, dass die Bürgerversicherung und die Gesundheitsprämie keine sich gegenseitig ausschließenden Alternativen darstellen (vgl. das Modell der „Bürgerprämie“ von Leinert/Grabka/ Wagner 2004). Es ist jedoch auch festzuhalten, dass es durch Reformen auf der Einnahmenseite nicht gelingen wird, den Anstieg des Beitragssatzes bzw. der Prämie nachhaltig abzumildern, wenn nicht gleichzeitig weitergehende Reformen auf der Angebotsseite angegangen werden. Literatur Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung 2003 – Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung 2003 – Pfaff et al. 2003 – Greß 2003 – Leinert/Grabka/Wagner 2004

Eine spezifische Selbstbeteiligungsregelung besteht beim Zahnersatz. Der Versicherte hat Anspruch auf einen sog. „befundorientierten Festzuschuss“, der mindestens 50 % der medizinisch notwendigen Versorgung abdeckt. Dieser Festzuschuss kann um bis zu 30 % erhöht werden, wenn der Versicherte eine regelmäßige Zahnprophylaxe nachweisen kann. Dadurch soll der Eigenverantwortung des Versicherten Rechnung getragen werden.

10.3 Einzelbereiche sozialer Sicherung in der Bundesrepublik

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Die Beeinflussung der Angebotsseite des Gesundheitswesens erfolgt über die Leistungsvergütung im ambulanten und stationären Sektor, über die Budgetierung der Leistungen und über die Beeinflussung der Zahl der Leistungsanbieter. Budgetierung der Leistungen32 bedeutet, dass zwischen den Verbänden der Krankenkassen und der Kassenärztlichen Vereinigungen Obergrenzen für die von den Vertragsärzten veranlassten Ausgaben für Arznei- und Heilmittel vereinbart werden (§ 84 SGB V). Bei der Vereinbarung über die Gesamtvergütung muss der Grundsatz der Beitragssatzstabilität beachtet werden (§ 71 SGB V). Die Mengensteuerung im ambulanten Sektor erfolgt i. d. R. über sog. „Arztgruppenbezogene Regelleistungsvolumina“. Das Regelleistungsvolumen ist ein Grenzwert, bis zu dem die in Punkten ausgedrückten erbrachten Leistungen mit einem festen Punktwert vergütet werden. Mehrleistungen werden mit einem abgestaffelten Punktwert vergütet. Dadurch soll verhindert werden, dass die Ärzte bei einem mit einer Leistungsausweitung verbundenen Absinken des Punktwertes versuchen, die Honorarausfälle durch weitere Mengenausweitungen zu kompensieren (sog. „Hamsterrad-Effekt“). Gegen eine solche Budgetierung, die gleichbedeutend ist mit einer einnahmenorientierten Ausgabenpolitik, wird eingewendet, dass sie nicht aus gesundheitspolitischen Zielen und aus dem Bedarf an Leistungen abgeleitet ist. Sie verfestige die Angebots-, Leistungs- und Verteilungsstrukturen im GKV-System. Dagegen verweisen Befürworter des Budgetierungskonzepts darauf, dass auf eine solche Politik solange nicht verzichtet werden kann, bis Reformen der Ärztehonorierung, der Vergütung der Krankenhausleistungen sowie der Preisbildungsprozesse auf den Märkten gesundheitswirksamer Güter und Leistungen eine langfristig finanzierbare und mit anderen Zielen der Wirtschafts- und Sozialpolitik kompatible Ausgabenentwicklung gewährleisten (vgl. zu dieser Diskussion Henke 1991 und Oberender 1989). Eine Steuerung der Zahl ambulanter Leistungsanbieter erfolgt durch Marktzugangskontrollen. Seit 1999 erfolgt die Zulassung zur Kassenarztpraxis aufgrund gesetzlich festzulegender Verhältniszahlen, die wiederum an Bedarfsplänen orientiert werden. Diese werden von den Kassenärztlichen Vereinigungen im Einvernehmen mit den Kassenverbänden und den zuständigen Landesbehörden aufgestellt. Über die Zulassung haben Zulassungsausschüsse zu entscheiden, die aus Vertretern der Ärzte und der Krankenkassen bestehen (§§ 96 bis 104 SGB V). Im Falle einer eingetretenen Überversorgung sind Zulassungsbeschränkungen anzuordnen. Mit diesen Bestimmungen ist es möglich, die Zahl der Leistungsanbieter und damit die Zahl derjenigen zu begrenzen, die ganz überwiegend die Nachfrage nach Gesundheitsgütern und -leistungen bestimmen (vgl. dazu auch S. 227 ff.). Eine wesentliche Veränderung der Struktur des Versicherungsmarktes ergab sich mit dem Gesundheitsstrukturgesetz 33 durch die Einführung der freien Kassenwahl der gesetzlich Versicherten. Seit dem 01.01.1996 haben alle gesetzlich Versicherten die Möglichkeit, einer Ersatzkasse beizutreten. Weiterhin wurden alle Kassenarten der GKV den Regelungen des Kassenarztrechts unterworfen, so dass die bisherige Sonderstellung der Ersatzkassen beim Abschluss von Verträgen mit den Kassenärztlichen Vereinigungen entfiel. Dadurch wurde die seit 1911 bestehende Trennung zwischen Arbeiter- und Angestelltenversicherung aufgehoben. Dieses Recht auf freie Kassenwahl wurde durch einen kassenartenübergreifenden Risikostrukturausgleich (RSA) ergänzt (§ 266 f. SGB V). Durch diesen Risikostrukturausgleich sollen Unterschiede zwischen den 32 33

Die Budgetierung war ein Element des Gesundheitsreformgesetzes (GRG) aus dem Jahr 1988. Gesetz zur Sicherung und Strukturverbesserung der gesetzlichen Krankenversicherung vom 21.12.1992.

232

10 Das System der sozialen Sicherung

Kassen im beitragspflichtigen Einkommen der Mitglieder (Grundlohn), in der Zahl der mitversicherten Familienmitglieder, bei den alters- und geschlechtsbedingten Risikofaktoren sowie in Bezug auf Invalidität ausgeglichen werden. Ausgabenunterschiede, die nicht auf diese Parameter zurückzuführen sind, sind nicht ausgleichsfähig. Dieser Risikostrukturausgleich findet seit 2009 durch den Gesundheitsfonds statt.34 In diesen Fonds werden die Beiträge von Arbeitnehmern und Arbeitgebern auf der Grundlage eines vom BMG festgesetzten, bundeseinheitlichen Beitragssatzes eingezahlt. Darüber hinaus fließen die Bundeszuschüsse in diesen Fonds.35 Die Kassen erhalten aus dem Gesundheitsfonds eine Grundpauschale für jeden Versicherten sowie alters-, geschlechts- und risikoadjustierte Zuschläge zur Abdeckung der standardisierten Leistungsausgaben (morbiditätsorientierter Risikostrukturausgleich). Des Weiteren erhalten die Krankenkassen Zuweisungen zur Deckung von Verwaltungsausgaben und Satzungsleistungen. Sofern die Zuweisungen des Fonds die tatsächlichen Ausgaben einer Kasse übersteigen, werden die zuviel gezahlten Beiträge an die Versicherten rückerstattet. Führen die pauschalen Zuweisungen hingegen zu einer Unterdeckung, ist ein Zusatzbeitrag zu erheben. Dieser Zusatzbeitrag, der ursprünglich nur von der versicherten Person zu zahlen war, wird seit 01.01.2019 wieder paritätisch finanziert. Sofern eine Kasse den Zusatzbeitrag erhöht, besteht für den Versicherten ein Sonderkündigungsrecht. Durch diese Finanzierungsreform sollen die Kassen veranlasst werden, ihre Leistungen möglichst kostengünstig zu erbringen. Eine Veränderung der Anbieterstruktur stellen auch die Angebote der „Integrierten Versorgung“ dar. Ziel der integrierten Versorgung ist es, die strenge Abgrenzung der einzelnen Versorgungsbereiche, insbesondere die Trennung von ambulanter und stationärer Versorgung, durch Kooperation unterschiedlicher Leistungserbringer zu überwinden. Beispiele integrierter Gesundheitsversorgung sind die Vernetzung von Allgemein- und Fachärzten in Arztnetzen sowie die Verknüpfung ambulanter und stationärer Versorgung in Gesundheitszentren. Die Vergütung erfolgt außerhalb der Zuständigkeit der Kassenärztlichen Vereinigungen durch direkte Verträge zwischen den Anbietern und den gesetzlichen Krankenkassen.

10.3.2 Die Pflegeversicherung (PV) a) Organisation und Kreis der Versicherten Die Pflegeversicherung ist der jüngste Zweig der Sozialversicherung in Deutschland. Sie wurde – nach langer und kontroverser Diskussion – im Jahr 1995 eingeführt. Die gesetzliche Grundlage der Pflegeversicherung ist das elfte Buch des Sozialgesetzbuchs.36 Dieses Gesetz verpflichtet die gesamte Bevölkerung, sich gegen das Risiko der Pflegebedürftigkeit abzusichern. In der sozialen Pflegeversicherung (SPV) sind die Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung versicherungspflichtig, also alle Arbeitnehmer mit einem regelmäßigen Arbeitsentgelt unterhalb der Versicherungspflichtgrenze in der GKV (2020 bundeseinheitlich 5 212,50 e monatlich). Die soziale Pflegeversicherung ist eine eigenständige soziale Sicherungseinrichtung. Träger sind die 34

Gesetzliche Grundlage ist das Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-WSG) vom 26.03.2007. 35 Die Bundeszuschüsse dienen zur Abdeckung der sog. „versicherungsfremden Leistungen“ wie der beitragsfreien Mitversicherung von Kindern und Ehegatten oder Leistungen für Schwangerschaft und Mutterschaft. 36 Vgl. SGB XI (Soziale Pflegeversicherung) vom 26.05.1994, zuletzt geändert durch Gesetz vom 14.12.2019.

10.3 Einzelbereiche sozialer Sicherung in der Bundesrepublik

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Pflegekassen, die unter dem Dach der gesetzlichen Krankenkassen geführt werden (§ 46 SGB XI). Versicherungspflichtig sind auch Arbeitslose, die Leistungen nach dem SGB III oder SGB II beziehen, Rentner, Rehabilitanden, Behinderte und Studenten (§ 20 f. SGB XI). Nicht erwerbstätige Ehegatten und Kinder sind beitragsfrei mitversichert (§ 25 SGB XI). Privat Krankenversicherte und Beamte sind zum Nachweis einer nach Art und Umfang gleichwertigen privaten Pflegeversicherung verpflichtet (§ 23 SGB XI). Freiwillig Versicherte der GKV sind grundsätzlich in der sozialen Pflegeversicherung pflichtversichert (§ 23 Abs. 3 SGB XI). Sie können sich jedoch von der Versicherungspflicht befreien lassen, wenn sie nachweisen, dass sie bei einem privaten Versicherungsunternehmen eine nach Art und Umfang gleichwertige Pflegeversicherung abgeschlossen haben (§ 22 SGB XI). 2018 waren ca. 72,8 Mio. Personen in der sozialen Pflegeversicherung und 9,3 Mio. Personen in der privaten Pflege-Pflichtversicherung versichert. Pflegebedürftige werden nach dem Grad ihrer Pflegebedürftigkeit einem vom fünf Pflegegraden zugeordnet. Die Einstufung hängt davon ab, wie selbstständig der Antragsteller ist und erfolgt durch ein Punktesystem, mit dem das Ausmaß körperlicher, psychischer und kognitiver Beeinträchtigung festgestellt wird. Dieses Einstufungsverfahren findet seit 01.01.2017 Anwendung. Die Pflegegrade 1 bis 5 lösen die einstigen Pflegestufen 1, 2 und 3 ab. Pflegestufe 1 ist in etwa vergleichbar mit Pflegegrad 2, Pflegestufe 2 wird durch die Pflegegrade 3 und 4 abgedeckt, Pflegestufe 3 und Härtefälle durch die Pflegegrade 4 und 5. Im Gegensatz zu den Pflegestufen werden bei den Pflegegraden auch Demenzerkrankungen berücksichtigt. Die Einstufung erfolgt für gesetzlich Versicherte durch den medizinischen Dienst der Krankenkassen, für Privatversicherte durch den medizinischen Dienst der privaten Kassen (MEDICPROOF). Beide Organisationen beurteilen anhand identischer Richtlinien. Im Jahr 2018 waren in Deutschland ca. 3,9 Mio. Menschen pflegebedürftig, d. h. sie waren ohne fremde Hilfe nicht mehr fähig, die alltäglichen Verrichtungen selbständig zu erbringen. Davon erhielten 3,7 Mio. Personen Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung und ca. 211 Tsd. Personen Leistungen aus der privaten Pflegeversicherung. Von diesen Pflegebedürftigen wurden in privaten Haushalten 3,1 Mio. gepflegt, in Pflegeheimen 830 Tsd. (vgl. Tabelle 10.4). Die Wahrscheinlichkeit, stationär pflegebedürftig zu werden, ist im hohen Maße von der Schwere der Pflegebedürftigkeit abhängig. So wurden von den ca. 1,91 Mio. Pflegebedürftigen (sozialen Pflegeversicherung) der Grade 1 und 2 90,4% ambulant und 9,6% stationär gepflegt; von den 0,75 Mio. Pflegebedürftigen der Grade 4 und 5 befanden sich 54% in ambulanter und 46% in stationärer Pflege. Das Risiko der Pflegebedürftigkeit ist in hohem Maße vom Alter abhängig. So waren zum Jahresende 2018 1,3 % der unter 60-Jährigen pflegebedürftig, in der Gruppe der 60-80-Jährigen waren es 7 % und in der Altersgruppe der über 80-Jährigen 37,1 %. Die Quote der stationär Gepflegten an der Gesamtbevölkerung beträgt bei den unter-60-Jährigen 0,1 %, bei den 60-90-Jährigen 2,5 % und bei den über-90-Jährigen 28 %.37 Mit zunehmendem Alter steigt also die Wahrscheinlichkeit, pflegebedürftig zu werden, der Grad der Pflegebedürftigkeit und die Wahrscheinlichkeit einer stationären Pflege.

c) Aufgaben und Leistungen Die gesetzliche Pflegeversicherung wird durch folgende Grundsätze bestimmt:

37

Quelle: Statistisches Bundesamt (2018): Pflegestatistik 2017, Tab. 1.2; eigene Berechnungen.

234

10 Das System der sozialen Sicherung

Tabelle 10.4: Leistungsbezieher der sozialen Pflegeversicherung nach Art und Pflegegrad (2018)

Zahl der Personen (in Tsd.) davon (in %) Pflegegrad I Pflegegrad II Pflegegrad III Pflegegrad IV Pflegegrad V

Insgesamt

ambulant

stationär

3 685

2 905

780

9,5 42,4 27,9 14,1 6,2

11,8 47,6 26,6 10,1 3,8

0,6 22,8 32,8 28,7 15,1

Quelle: BMG (2019): Zahlen und Fakten zur Pflegeversicherung.

1. Maßnahmen der Prävention und der Rehabilitation zur Vermeidung von Pflegebedürftigkeit haben Vorrang vor Pflegeleistungen (§ 5 SGB XI); 2. häusliche Pflege hat Vorrang vor stationärer Pflege (§ 3 SGB XI); 3. die Pflegebedürftigen haben die freie Wahl zwischen ambulanter und stationärer Versorgung. Wenn jedoch eine stationäre Pflege nicht erforderlich ist, hat der Pflegebedürftige grundsätzlich nur Anspruch auf die ihm bei häuslicher Pflege zustehende Sachleistung (§ 42 Abs. 1 SGB XI). Im stationären Bereich haben die Pflegebedürftigen freie Wahl unter den zugelassenen Pflegeeinrichtungen (§ 2 Abs. 2 SGB XI). Des Weiteren ist die gesetzliche Pflegeversicherung als „Teilkaskoversicherung“ konzipiert, d. h. sie soll nur einen bestimmten Anteil der entstehenden Kosten übernehmen. Die restlichen Kosten müssen entweder durch eine private Zusatzversicherung oder den Einsatz des eigenen Vermögens abgedeckt werden. Sofern die Summe dieser Leistungen nicht ausreicht, um den Pflegebedarf abzudecken, ist der Pflegebedürftige auf die Leistungen der sozialen Grundsicherung (Hilfe zur Pflege) angewiesen. Die Höhe der Leistungen aus der Pflegeversicherung ist vom Pflegegrad und von der Art der erbrachten Pflege (häuslich/ambulant/stationär) abhängig. Über die Höhe der Leistungen informiert die Tabelle 10.5. Tabelle 10.5: Leistungen der Pflegeversicherung (monatlich in e, 2021) I Häusliche Pflege Pflegegeld Pflegesachleistung Teilstationäre Pflegea Vollstationäre Pflege

0 0 0 125

Pflegegrad II III IV

V

316 545 728 901 689 1 298 1 612 1 995 689 1 298 1 612 1 995 770 1 262 1 775 2 005

a

Bei den Angaben zur teilstationären Pflege handelt es sich um monatliche Höchstsätze. Quelle: BMG (2021), Pflegeleistungen zum Nachschlagen.

Eine Kombination von Teilen der Geld- und der Sachleistungen ist möglich (§ 38 SGB XI). Zu den Sachleistungen gehört auch die Bereitstellung erforderlicher Pflegehilfsmittel (Pflegebetten, Rollstühle, Hebegeräte usw.). Pflegebedürftige in häuslicher Pflege mit erheblichem allgemeinen

10.3 Einzelbereiche sozialer Sicherung in der Bundesrepublik

235

Betreuungsbedarf38 haben einen zusätzlichen Anspruch in Höhe von 1 200 e jährlich (Grundbetrag). Dieser Betrag kann in Abhängigkeit von der persönlichen Pflegesituation auf 2 400 e erhöht werden (erhöhter Betrag). Diese Leistung ist zweckgebunden zur Entlastung der pflegenden Angehörigen einzusetzen. Die Leistungen der Pflegeversicherung sind mittlerweile dynamisiert.39 Der Gesetzgeber ist verpflichtet, alle drei Jahre die Höhe der Leistungen zu überprüfen und sie an die allgemeine Preisentwicklung anzupassen (§ 30 SGB XI). Dabei ist jedoch das Ziel der Beitragssatzstabilität zu beachten. Die Pflegeversicherung umfasst auch Leistungen für Pflegepersonen. Häusliche Pflegepersonen sind in der gesetzlichen Rentenversicherung versichert, sofern die pflegebedürftige Person mindestens einen Pflegegrad von 2 aufweist und mindestens 10 Std. pro Woche häusliche Pflegeleistungen erbracht werden. Die Höhe der Rentenbeiträge, die von der Pflegeversicherung gezahlt werden, richtet sich nach der Höhe des Pflegegrads und nach der Art der bezogenen Leistung (Geld- oder Sachleistung). Des Weiteren wird pflegenden Angehörigen und ehrenamtlichen Pflegekräften die Teilnahme an Pflegekursen erstattet. Die Arbeitslosenversicherung stellt Leistungen zur Verfügung, um den Pflegepersonen die Rückkehr in das Erwerbsleben nach Beendigung einer häuslichen Pflege zu erleichtern. Um die Leistungsfähigkeit des Pflegesektors zu gewährleisten, haben die Pflegekassen einen Sicherstellungsauftrag erhalten (§ 69 SGB XI). Sie sind damit verpflichtet, durch Versorgungsverträge und Vergütungsvereinbarungen mit Pflegeheimen, Sozialstationen und ambulanten Pflegediensten die pflegerische Versorgung der Versicherten zu gewährleisten. Zur Pflege dürfen nur Einrichtungen zugelassen werden, die eine leistungsfähige und wirtschaftliche Versorgung der Pflegebedürftigen gewährleisten. Die Qualitätsprüfung erfolgt durch den medizinischen Dienst der Krankenversicherung (§§ 112 ff. SGB XI). Die gesetzliche Pflegeversicherung soll nur einen Teil des Pflegerisikos absichern. Um einen vollständigen Schutz gegen das Risiko der Pflegebedürftigkeit zu erhalten, muss die gesetzliche Leistung durch eine private Vorsorge ergänzt werden. Um die Bereitschaft zu einer privaten Vorsorge zu erhöhen, wird der Abschluss einer privaten Pflegezusatzversicherung staatlich bezuschusst („Pflege-Bahr“).40 Der Versicherte erhält einen monatlichen Zuschuss in Höhe von fünf Euro, sofern er eine Pflegetagesgeldversicherung mit einem monatlichen Eigenbeitrag in Höhe von mindestens zehn Euro abschließt. Die Beiträge werden grundsätzlich nach den Prinzipien der Privatversicherung bemessen, d. h. sie sind abhängig vom Alter des Versicherten und vom Versicherungsumfang. Die private Pflegeversicherung muss dabei die Anforderungen nach § 110 SGB XI erfüllen, insbesondere • dürfen die Beiträge nicht nach dem Geschlecht differieren (sog. „Unisex-Tarife“) und es • besteht Kontrahierungszwang, d. h. kein Versicherungsnehmer darf aufgrund einer Vorerkrankung abgelehnt werden. Im Fall des Pflege-Bahr gilt zusätzlich, dass die Verträge 38

Zielpersonen dieser Regelung sind v. a. Demenzkranke, die Tag und Nacht von den pflegenden Angehörigen beaufsichtigt werden müssen. 39 Eine Dynamisierung der Leistungen war zunächst nicht vorgesehen. Die Sätze wurden in unregelmäßigen Abständen diskretionär angehoben. Dies wurde erst durch das erste Gesetz zur Stärkung der pflegerischen Versorgung und zur Änderung weiterer Vorschriften (Erstes Pflegestärkungsgesetz - PSG I) vom 01.01.2015 geändert. 40 Gesetzliche Grundlage ist das Gesetz zur Neuausrichtung der Pflegeversicherung (Pflege-NeuausrichtungsGesetz PNG) vom 23.10.2012.

236

10 Das System der sozialen Sicherung

• im Fall des Bezugs von Grundsicherungsleistungen maximal 3 Jahre ruhen können und • eine Mindestleistung in Höhe von 600 e in Pflegegrad V vorsehen. Die private Pflegezusatzversicherung orientiert sich somit nicht streng am Prinzip der Individualäquivalenz. Die Beiträge und Leistungen sind vielmehr nach sozialen Gesichtspunkten modifiziert. Neben der Prämienbegünstigung sind die Beiträge zur gesetzlichen Pflegeversicherung zusätzlich als Sonderausgabe steuerlich absetzbar (§ 10 EStG).

d) Finanzierung Die Finanzierung der sozialen Pflegeversicherung erfolgt durch Beiträge, die zur Hälfte von Arbeitnehmern und Arbeitgebern aufgebracht werden. Der Beitragssatz zur Pflegeversicherung beträgt derzeit (2021) 3,05 % des Arbeitseinkommens bis zu der für die GKV geltenden Beitragsbemessungsgrenze.41 Der Beitragssatz wird durch den Gesetzgeber festgelegt. Nicht erwerbstätige Ehegatten und Kinder sind in der SPV beitragsfrei mitversichert, Rentner müssen jedoch den vollen Beitragssatz zur Pflegeversicherung entrichten. Den gesamten Beitrag für die Bezieher von Arbeitslosengeld, Eingliederungshilfe, Unterhaltsgeld und Altersübergangsgeld leistet die Bundesagentur für Arbeit, die Beiträge für Rehabilitanden der Rehabilitationsträger, die Beiträge für Behinderte in Einrichtungen der Träger der Einrichtung und für Empfänger sonstiger Sozialleistungen zum Lebensunterhalt der zuständige Leistungsträger. Um die Beiträge auch bei steigenden Pflegezahlen zu stabilisieren, wurde im Jahr 2015 ein kapitalgedecktes Sondervermögen („Pflegevorsorgefonds“) eingerichtet. In diesem Fonds werden bis 2035 jährlich 0,1 Prozentpunkte des Beitragssatzes zur SPV eingezahlt. Dies entspricht aktuell 1,4 Mrd. Euro (Quelle: BMG: Finanzierung der Pflegeversicherung). Ab dem Jahr 2035 kann dieser Fonds gem. § 136 SGB XI zur Stabilisierung des Beitragssatzes der SPV eingesetzt werden („Entnahmephase“).

e) Probleme, Erfahrungen und Kontroversen Wohl kaum eine sozialpolitische Maßnahme der vergangenen Jahrzehnte war so umstritten wie die Einführung der gesetzlichen Pflegeversicherung.42 Dabei stand die Notwendigkeit, das Risiko der Pflegebedürftigkeit eigenständig abzusichern, seit langem außer Frage. Bereits seit der Veröffentlichung des vom Kuratorium Deutsche Altershilfe herausgegebenen „Gutachtens über die stationäre Behandlung von Krankheiten im Alter und über die Kostenübernahme durch die gesetzlichen Krankenkassen“ (Köln 1974) war die unzureichende Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit bekannt. Aber es dauerte noch über zwei Jahrzehnte, bis die Sozialversicherung zum 01.01.1995 mit dem „Gesetz zur sozialen Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit (Pflegeversicherungsgesetz - PflegeVG)“ um die sog. „fünfte Säule“ ergänzt wurde. 41

Kinderlose über 23 Jahre zahlen einen Zuschlag zum Beitragssatz in Höhe von 0,25 Punkten (SGB XI, § 55). Mit dieser Regelung kommt der Gesetzgeber dem „Pflegeversicherungsurteil“ des BVerfG vom 03.04.2001 nach. In diesem Urteil hatte es das BVerfG als mit der Verfassung für unvereinbar erklärt, dass Kinderlose in der Pflegeversicherung den gleichen Beitragssatz zu zahlen haben wie Kindererziehende, da kinderlose Versicherte von der Erziehungsleistung der kindererziehenden Versicherten profitieren. 42 Zur Diskussion um die Notwendigkeit und die Wirkungen einer gesetzlichen Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit vgl. Thiede 1990, Meier 1998, Eisen/Mager 1999 sowie Rothgang 2009

10.3 Einzelbereiche sozialer Sicherung in der Bundesrepublik

237

Früheres Bundesgebiet

Deutschland

400

Einführung der gesetzlichen PV

0

200

in 1000 Personen

600

800

Vor Einführung der Pflegeversicherung waren viele Pflegebedürftige nicht in der Lage, die hohen Pflegekosten selbst aufzubringen und deshalb auf die Sozialhilfe angewiesen. 1991 z. B. erhielten 655.000 Personen, das waren ca. 60 % der Pflegebedürftigen, „Hilfe zur Pflege“. Von den 450.000 stationär Pflegebedürftigen waren rund 70 % auf Leistungen der Sozialhilfe angewiesen. Angesichts der hohen Kosten bei vollstationärer Pflege ist dies nicht verwunderlich. Die Tatsache, dass ein Großteil der Pflegebedürftigen zu Sozialhilfeempfängern wurden, wurde als ein sozialstaatlich nicht akzeptabler Zustand angesehen. Hinzu kommt, dass vor allem die Kommunen als Träger der Sozialhilfeleistungen mit den steigenden Ausgaben für die Hilfe zur Pflege belastet wurden. Die Übernahme dieser Kosten durch die PV stellte somit auch eine deutliche Entlastung der kommunalen Haushalte dar. Wie die Abbildung 10.5 zeigt, ist die Zahl der auf Sozialhilfe angewiesenen Pflegebedürftigen durch die Einführung der gesetzlichen Pflegeversicherung deutlich gesunken. Allerdings nimmt die Hilfebedürftigkeit in den letzten Jahren wieder erkennbar zu. Ursache dafür sind die steigende Anzahl der Pflegebedürftigen und die unzureichende Anpassung der Leistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung an die gestiegenen Kosten.

1970

1980

1990

2000

2010

2020

Jahr

Abb. 10.5: Empfängerinnen und Empfänger von Hilfe zur Pflege (in 1 000) Besonders umstritten war die Finanzierung der PV nach dem Umlageverfahren. Angesichts der demografischen Entwicklung sprachen sich mehrere wissenschaftliche Beratungsgremien43 sowie zahlreiche Wirtschaftswissenschaftler für ein Kapitaldeckungsverfahren aus (vgl. dazu S. 218). Von der Kapitalfundierung der PV erwartete man sich eine partielle Entkoppelung der Finanzierung von der demografischen Entwicklung sowie eine höhere Rendite auf die eingezahlten 43

So Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung 1992, Tz. 357 ff., Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen 1990, S. 102 ff. und der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Finanzen in einer Stellungnahme vom Dezember 1990.

238

10 Das System der sozialen Sicherung

Beiträge. Von den Befürwortern des Umlageverfahrens wurde darauf hingewiesen, dass das Kapitaldeckungsverfahren keine Lösung für das Problem der sog. „pflegenahen Jahrgänge“ bietet. Damit hätte die jüngere Generation bei Anwendung des Kapitaldeckungsverfahrens eine Doppelbelastung zu tragen. Denn diese Generation müsste während der Übergangsphase einen Kapitalstock aufbauen und gleichzeitig die Leistungen für die derzeit Pflegebedürftigen finanzieren. Außerdem ist das Kapitaldeckungsverfahren zur Abdeckung des Pflegerisikos nur bedingt geeignet. So sind die künftigen Pflegekosten, die für Jahrzehnte im Voraus in die Prämienberechnung einfließen müssten, nicht zuverlässig kalkulierbar (Cutler 1993). Bei nicht-antizipierten Kostensteigerungen im Pflegesektor besteht somit die Gefahr, dass das angesparte Kapital nicht ausreicht, um die Kosten im Pflegefall vollständig abzudecken. Dieser Unsicherheit des Kostenrisikos kann das Umlageverfahren aufgrund seiner größeren Flexibilität besser Rechnung tragen als das Kapitaldeckungsverfahren. Ein weiterer Diskussionspunkt betraf die Organisationsform der Versicherung. Als mögliche Alternativen wurden diskutiert: 1. eine (freiwillige oder obligatorische) private Pflegeversicherung; 2. ein Pflegeleistungsgesetz, dessen Leistungen steuerfinanziert sind; 3. eine Pflegeversicherung auf der Basis einer Sozialversicherung. Eine freiwillige private Versicherung schied aus, weil von dieser Möglichkeit nur unzureichend Gebrauch gemacht wurde, obwohl die Versicherungsprämien als Sonderausgaben steuerlich geltend gemacht werden konnten. Denn zum einen werden weit in der Zukunft liegende Bedürfnisse i. d. R. unterschätzt (Minderschätzung zukünftigen Bedarfs). Zum anderen kann es für Personen mit geringem Einkommen und Vermögen sinnvoll sein, auf den Abschluss einer Versicherung zu verzichten. Denn sie erhalten ja durch die Hilfe zur Pflege äquivalente Leistungen, ohne dafür Beiträge entrichten zu müssen. Das Modell einer privaten Pflichtversicherung („Haftpflichtmodell“) wurde verworfen, da es keine Absicherung für die mindestens 1,5 Mio. bereits Pflegebedürftigen und die sog. „pflegenahen Jahrgänge“ ermöglicht hätte. Da ein steuerfinanziertes Leistungsgesetz ebenfalls auf dem Umlageverfahren beruht, ist es in gleichem Maße vom demografischen Wandel betroffen wie eine beitragsfinanzierte Sozialversicherung. Darüber hinaus hätte ein solches Gesetz organisatorisch mit dem auf dem Prinzip der Eigenverantwortung und der sozialen Selbstverwaltung beruhenden System sozialer Sicherung gebrochen. Neben der Frage des Finanzierungsverfahrens und der Organisation wurde auch der 50 %ige Arbeitgeberanteil zur Pflegeversicherung, also die paritätische Finanzierung, kritisch diskutiert. Es wurde argumentiert, dass ein Arbeitgeberbeitrag zur Pflegeversicherung sachlich nicht zu begründen sei, da es keine Beziehung zwischen dem Arbeitsverhältnis und der Pflegebedürftigkeit gebe. Außerdem sei es angesichts des erreichten Wohlstandsniveaus den Arbeitnehmern zuzumuten, eigenverantwortlich Daseinsvorsorge zu betreiben. Die Befürworter der paritätischen Finanzierung verwiesen auf die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers für den Arbeitnehmer, die aus dem Arbeitsverhältnis erwächst. Diese Fürsorgepflicht ist durch mehrere Urteile des Bundesverfassungsgerichts im Grundsatz bestätigt (z. B. BVerfGE 11, 105; 14, 312; 75, 108). Aus diesen Gründen entschied sich der Gesetzgeber im Jahr 1994 für die Einführung einer auf dem Umlageverfahren basierenden und über paritätische Beiträge44 finanzierten sozialen Pflege44

Um die Gesamtabgabenbelastung der Unternehmen durch die Einführung dieser neuen Sozialversicherung nicht zu erhöhen, wurde als Kompensation für den Arbeitgeberbeitrag zur Pflegeversicherung ein arbeitsfreier

10.3 Einzelbereiche sozialer Sicherung in der Bundesrepublik

239

versicherung. Das Gesetz beruht im Wesentlichen auf einem Vorschlag des damaligen Bundesarbeitsministers Norbert Blüm. Es machte die Pflegeversicherung neben der Unfall-, der Kranken-, der Renten- und der Arbeitslosenversicherung zur fünften Säule des deutschen Sozialversicherungssystems, die weitgehend den für die ersten vier Säulen geltenden Konstruktionsprinzipien entspricht (vgl. dazu Abschnitt c). Eine weitere Kontroverse betraf die Anreizwirkungen dieser neuen Versicherung (moral hazard-Verhalten). Es wurde befürchtet, dass die Einführung einer gesetzlichen Pflegeversicherung zu einer Substitution von häuslicher Pflege durch stationäre Pflegeleistungen führen würde (sog. „Heimsog-“ oder „Hospitalisierungs-Effekt“; vgl. Häcker/Raffelhüschen 2007). Diese Vermutung hat sich bislang nicht bestätigt. Durch die Leistungen der Pflegeversicherung konnte sich vielmehr ein differenziertes Angebot an ambulanten Pflegediensten herausbilden, das für die Aufrechterhaltung der häuslichen Pflege unabdingbar ist. Insofern war die Einführung der gesetzlichen Pflegeversicherung für die häusliche Pflege nicht abträglich, sondern hat diese im Gegenteil eher gestärkt.

f) Entwicklung Die umlagefinanzerte Pflegeversicherung steht vor erheblichen Herausforderungen. Diese ergeben sich neben den allgemeinen Belastungen des demografischen Wandels insbesondere aus der Tatsache, dass der Anteil der Hochbetagten45 in der Gesellschaft stark ansteigt. Durch die deutliche Zunahme der Lebenserwartung wird sich die Prävalenz der Pflegebedürftigkeit erhöhen und werden sich die Krankheitsbilder verändern. In welchem Umfang sich dieser Anstieg der Lebenserwartung in höheren Beiträgen zur Pflegeversicherung niederschlägt, hängt von mehreren Faktoren ab. Ein wesentlicher Faktor ist die Frage, ob die gewonnenen Lebensjahre durch den medizinisch-technischen Fortschritt und aufgrund verbesserter Arbeits- und Lebensbedingungen „gesunde“ Jahre sind. In diesem Fall würde der durchschnittliche Schweregrad der Pflegebedürftigkeit in jeder Altersgruppe sinken. Des Weiteren hängt die Entwicklung der Pflegekosten davon ab, in welchem Umfang informelle und ambulante Pflegekräfte zur Verfügung stehen, um eine häusliche Pflege zu gewährleisten. Und schließlich hängt die zukünftige Höhe des Beitragssatzes zur Pflegeversicherung von der Entwicklung der Kosten und der Produktivität im Pflegebereich ab. Für die Höhe der künftigen Versicherungsbeiträge sind also wirtschaftliche, demografische und soziale Aspekte gleichermaßen ausschlaggebend. Um die soziale Pflegeversicherung an die Herausforderungen des demografischen Wandels anzupassen, wurde die Pflegeversicherung ab 2015 in mehreren Stufen reformiert. Durch das Pflegestärkungsgesetz wurden zunächst die Geld- und Sachleistungen zum 01.01.2015 an die Kostenentwicklung angepasst. Des Weiteren wurde der Beitragssatz um 0,1 Prozentpunkt erhöht. Die zusätzlichen Mittel – für 2015 ca. 1,2 Mrd. e – werden in einen Sonderfonds (Pflegevorsorgefonds) eingezahlt, der von der Deutschen Bundesbank verwaltet wird. Dadurch soll verhindert werden, dass das im Pflegevorsorgefonds angesparte Kapital aus politischen Gründen Feiertag (der Buß- und Bettag) gestrichen. Lediglich im Bundesland Sachsen wurde die Pflegeversicherung bei ihrer Einführung nicht paritätisch finanziert; der Beitrag zur Pflegeversicherung musste hier in voller Höhe von den Arbeitnehmern entrichtet werden. Deshalb ist der Buß- und Bettag dort weiterhin arbeitsfrei. Die späteren Erhöhungen des Beitragssatzes wurden jedoch wieder paritätisch vollzogen. Der Arbeitnehmeranteil beträgt in Sachsen derzeit (2017) 1,775 %, der Arbeitgeberanteil 0,525 % (0,775 % für Kinderlose). 45 Unter „Hochbetagten“ versteht man die über 80-Jährigen.

240

10 Das System der sozialen Sicherung

zweckentfremdet wird. Bis zum Jahr 2035 soll so ein Kapitalstock aufgebaut werden, der dann über einen Zeitraum von 20 Jahren abgeschmolzen wird, um einen demografiebedingten Anstieg des Beitragssatzes zu vermeiden.

10.3.3 Die gesetzliche Unfallversicherung (UV) Aufgabe der gesetzlichen Unfallversicherung (UV)46 ist es, die Unternehmen bei Arbeitsunfällen vor der direkten Inanspruchnahme durch den Arbeitnehmer zu schützen. Sie übernimmt bei Arbeitsunfällen oder anerkannten Berufskrankheiten der Arbeitnehmer die Haftung des Arbeitgebers (Prinzip der Haftungsersetzung).

a) Kreis der Versicherten In der gesetzlichen UV sind zahlreiche Personengruppen versichert. Dazu gehören v.a.: 1. alle aufgrund eines Arbeits-, Dienst- oder Lehrverhältnisses Beschäftigten ohne Rücksicht auf die Höhe ihres Arbeitseinkommens; 2. Heimarbeiter; 3. Arbeitslose; 4. Hausgewerbetreibende, Schausteller, Artisten und landwirtschaftliche Unternehmer; 5. Kinder während des Besuchs von Kinderkrippen, Kindergärten, Kinderhorten und Kindertagesstätten, Schüler, Auszubildende und Studenten; 6. Personen, die im Interesse des Gemeinwohls tätig werden (z. B. Zivilschutztätige, ehrenamtlich Tätige etc.). Für Beamte gelten beamtenrechtliche Unfallfürsorgevorschriften. 2017 entfielen auf den öffentlichen und gewerblichen Bereich der Allgemeinen Unfallversicherung 92 Mio. Versicherungsverhältnisse, davon 17,5 Mio. Kinder in Tagesbetreuung, Schüler und Studierende.47

b) Aufgaben und Leistungen Aufgaben der UV sind: 1. die Verhütung von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten durch die Überwachung der Unfallsicherheit in den Unternehmen und durch den Erlass von Vorschriften über betriebliche Maßnahmen zur Verhütung von Arbeitsunfällen, 2. die Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit eines Verletzten und die Förderung seiner Wiedereingliederung in das Berufsleben, 46

Gesetzliche Grundlagen sind: 1. das SGB VII ; 2. das Fremdrentengesetz vom 25.02.1960, zuletzt geändert am 11.11.2016; 3. das Gesetz über Betriebsärzte, Sicherheitsingenieure und andere Fachkräfte für Arbeitssicherheit vom 12.12.1973, zuletzt geändert am 20.04.2013; 4. die Berufskrankheitenverordnung vom 31.10.1997, zuletzt geändert am 10.07.2017. 47 Quelle: DGUV 2018.

10.3 Einzelbereiche sozialer Sicherung in der Bundesrepublik

241

3. Leistungen zur Teilhabe in der Gemeinschaft (soziale Rehabilitation) für Behinderte sowie 4. die Entschädigung des Verletzten oder seiner Hinterbliebenen durch Geldleistungen.48 Die Rangordnung der Aufgaben lautet: Prophylaxe – Rehabilitation – Schadenersatz. Der Versicherungsschutz erstreckt sich dabei nicht nur auf Unfälle im Betrieb, sondern auch auf Unfälle auf dem sogenannten Betriebsweg (Wege zwischen Betriebswerkstätten und Weg zwischen Wohnung und Arbeitsstätte sowie der erste Weg zur Bank bei bargeldloser Lohn- oder Gehaltszahlung). Ein Anspruch auf Leistungen im Rahmen der UV besteht nicht, wenn ein Unfall vorsätzlich oder grob fahrlässig herbeigeführt wurde.

c) Organisation und Finanzierung Träger der UV sind neun gewerbliche Berufsgenossenschaften, die landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften und die Unfallversicherungsträger der öffentlichen Hand (insbes. des Bundes, der Länder und der Gemeinden). Der Spitzenverband der Berufsgenossenschaften, Unfallkassen und Gemeindeversicherungsverbände ist die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung e.V. Dieser Verband wird in seiner Tätigkeit durch das Institut für Arbeitsschutz (IFA), das Institut für Arbeit und Gesundheit (IAG) und das Institut für Prävention und Arbeitsmedizin (IPA) wissenschaftlich unterstützt. Die Finanzierung der UV unterscheidet sich von den übrigen Zweigen des Systems sozialer Sicherung in zweifacher Weise. Zum einen wird der Beitrag ausschließlich von den Arbeitgebern entrichtet, da die Gefährdung durch Unfälle und Berufskrankheiten von den Unternehmen ausgeht. Die Beiträge sind dabei so zu bemessen, dass sie den Geschäftsaufwand der Versicherung des letzten Jahres decken (nachträgliches Umlageverfahren). Zum anderen orientieren sich die Beiträge an der Höhe des versicherten Risikos (Gefahrtarif). Der Beitrag eines Unternehmens zur UV bemisst sich nach folgender Formel: Beitrag = Lohnsumme · Gefahrklasse · Umlageziffer Neben den Entgelten der Versicherten fließt in die Beitragsberechnung auch die Gefahrklasse des Unternehmens ein. Sie drückt das Unfallgefährdungsrisiko eines bestimmten Unternehmens aus. Diese Berücksichtigung des tatsächlichen Unfallgeschehens trägt der Tatsache Rechnung, dass Unfälle häufig eine Folge unzureichender Sicherungsmaßnahmen sind. Darüber hinaus soll für die Unternehmen ein Anreiz gesetzt werden, in den betrieblichen Arbeitsschutz zu investieren. Die letzte Größe ist die Umlageziffer (Beitragsfuß). Sie gibt an, wie hoch der Beitrag je 1000 Euro Lohnsumme in der Gefahrklasse 1 ist und ist so zu bemessen, dass die Kosten der UV gedeckt sind.

48

Die Leistungen der UV sind in den §§ 45-48 SGB VII zu finden.

242

10 Das System der sozialen Sicherung

10.3.4 Die gesetzliche Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten (GRV) Die GRV49 ist mit 55,1 Mio. Versicherten, einem Rentenbestand von 25,7 Mio. und Rentenausgaben in Höhe von 270 Mrd. e (2017) der größte Sozialversicherungszweig in Deutschland.50 a) Kreis der Versicherten Versicherungspflichtig in der GRV sind Arbeitnehmer – ausgenommen Beamte – sowie Auszubildende. Seit 2013 sind auch geringfügig Beschäftigte in der GRV versicherungspflichtig, können sich jedoch auf Antrag von der Versicherungspflicht befreien lassen.51 Seit 2017 sind auch Rentner, die einen Hinzuverdienst als Arbeitnehmer oder aus einer geringfügigen Beschäftigung erzielen, versicherungspflichtig.52 Mit Ausnahme der Geringfügigkeitsgrenze ist die Höhe des Entgeltes für die Versicherungspflicht der Arbeitnehmer in der Rentenversicherung unerheblich, d. h. es gibt keine (obere) Versicherungspflichtgrenze. Versicherungspflichtig sind ferner bestimmte Gruppen von Selbständigen (z. B. Handwerker, selbständige Lehrer und Erzieher, Künstler sowie Kinder- und Krankenpfleger). Des Weiteren sind auch Selbständige versicherungspflichtig, die im Rahmen ihrer Tätigkeit auf Dauer und im Wesentlichen nur für einen Auftraggeber tätig sind und keinen versicherungspflichtigen Arbeitnehmer beschäftigen (sog. „arbeitnehmerähnliche Selbständige“).53 Ziel dieser Norm ist die Bekämpfung der sog. Scheinselbständigkeit, d. h. der Umgehung der Sozialversicherungsbeitragspflicht durch „Umwandlung“ eines vormals abhängigen Beschäftigungsverhältnisses in eine selbständige Erwerbstätigkeit im Auftrag des vorherigen Arbeitgebers. Als pflichtversichert gelten auch nicht erwerbstätige Mütter bzw. – bei gemeinsamer Erklärung beider Elternteile – kindererziehende Väter während der ersten drei Jahre nach der Geburt (§ 3 SGB VI).54 Pflichtversichert sind auch nicht erwerbsmäßig tätige Pflegepersonen55 , sowie die Bezieher von Lohnersatzleistungen und Wehr- und Zivildienstleistende (§ 3 SGB VI). Auf Antrag können Selbständige innerhalb von fünf Jahren nach Aufnahme der selbständigen Tätigkeit in die Versicherungspflicht einbezogen werden (§ 4 SGB VI). 49

Gesetzliche Grundlagen sind: 1. das SGB VI i. d. F. vom 19.02.2002, zuletzt geändert durch Gesetz vom 12.12.2019; 2. das Fremdrentengesetz vom 25.02.1960, zuletzt geändert durch Gesetz vom 11.11.2016; 3. das Künstlersozialversicherungsgesetz vom 27.07.1981, zuletzt geändert durch Gesetz vom 12.12.2019; 4. das SGB IX (Rehabilitation) vom 23.12.2016, zuletzt geändert durch Gesetz vom 14.12.2019. 50 Quelle: Deutsche Rentenversicherung, Rentenversicherung in Zeitreihen, 2019. 51 Zuvor waren geringfügig Beschäftigte versicherungsfrei, konnten sich jedoch freiwillig versichern. Von dieser Möglichkeit wurde jedoch nur in geringem Umfang Gebrauch gemacht. So waren von den etwa 7,5 Mio. geringfügig Beschäftigten im Jahr 2012 5,3 Mio. nicht in der GRV versichert. Mit dem Wechsel von einer opt in- zu einer opt out-Lösung versucht die Politik, geringfügig Beschäftigte zu einer Versicherung in der GRV zu veranlassen (sog. Nudging). 52 Vgl. Gesetz zur Flexibilisierung des Übergangs vom Erwerbsleben in den Ruhestand und zur Stärkung von Prävention und Rehabilitation im Erwerbsleben vom 8.12.2016 53 Vgl. Gesetz zur Förderung der Selbständigkeit vom 26. März 2003. 54 Für früher geborene Kinder beträgt die Kindererziehungszeit 24 Monate. Kindererziehungszeiten wirken rentenbegründend und rentensteigernd. 55 Voraussetzung ist, dass die pflegebedürftige Person Anspruch auf Leistungen der PV hat und für mindestens 14 Stunden wöchentlich gepflegt wird.

10.3 Einzelbereiche sozialer Sicherung in der Bundesrepublik

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Außerdem können sich alle nicht versicherungspflichtigen Personen, die in der Bundesrepublik Deutschland ihren Wohnsitz haben, und im Ausland lebende deutsche Staatsangehörige freiwillig in der GRV versichern (§ 7 SGB VI).

b) Aufgaben und Leistungen Die GRV hat folgende Aufgaben: 1. Die Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit der Versicherten (§§ 9 bis 32 SGB VI und die Vorschriften des SGB IX). Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Rehabilitationsleistungen ist eine Wartezeit (Mitgliedschaft in der Versicherung) von 15 Jahren. Während einer Rehabilitation wird als Einkommensersatz je nach dem Familienstatus ein Übergangsgeld in Höhe von 68 bis 75 % der maßgebenden Berechnungsgrundlage (= 80 % des zuletzt erzielten Bruttoarbeitsentgelts, jedoch höchstens des Nettoarbeitsentgelts) gezahlt, falls der Rehabilitand keinen Anspruch auf Lohnfortzahlung durch den Arbeitgeber hat. Die Rehabilitationsleistungen der GRV umfassen in erster Linie medizinische Rehabilitationsleistungen und berufsfördernde Leistungen der Rehabilitation. 2. Der Ersatz ausgefallenen Arbeitseinkommens durch die Zahlung von Renten (§§ 33 bis 105 SGB VI). Rentenleistungen werden erbracht, wenn die allgemeine Wartezeit (Mindestversicherungszeit) von fünf Jahren erfüllt ist.56 Folgende Rentenarten sind zu unterscheiden: a. Renten wegen teilweiser oder voller Erwerbsminderung (Erwerbsminderungsrente). Als teilweise erwerbsgemindert gilt ein Arbeitnehmer, der auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch zwischen 3 und unter 6 Stunden täglich erwerbstätig sein kann. Er erhält eine halbe Erwerbsminderungsrente. Als vollständig erwerbsgemindert gilt ein Arbeitnehmer, der nur noch unter 3 Stunden täglich erwerbstätig sein kann. Er erhält eine volle Erwerbsminderungsrente (§ 43 SGB VI). Die Wartezeit für diese Rentenleistungen beträgt 5 Jahre. Zusätzlich muss die Bedingung erfüllt sein, dass in den letzten 5 Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung 3 Jahre mit Pflichtbeitragszeiten belegt sind; b. Altersruhegeld; es wird bei Erreichen der Regelaltersgrenze gezahlt. Diese Regelaltersgrenze lag bis 2012 beim 65. Lebensjahr und wird bis 2030 schrittweise auf das 67. Lebensjahr angehoben. Der Grund für diese Anhebung der Altersgrenze ist die deutlich gestiegene Lebenserwartung der Rentnerinnen und Rentner. Bestimmte Personengruppen können vorgezogene Altersrenten erhalten.57 Sie müssen allerdings einen versicherungsmathematischen Abschlag in Höhe von 0,3 % pro Monat vorgezogener Rente in Kauf nehmen. Dieser Ab56

Für bestimmte Rentenarten, insbes. für die vorgezogenen Altersruhegelder, geltenden besonderen Wartezeiten. 57 Langjährig Versicherte, d. h. Versicherte, die eine Wartezeit von 35 Jahren erfüllt haben, können bereits mit dem 63. Lebensjahr in Rente gehen, müssen jedoch einen entsprechenden Abschlag in Kauf nehmen (ab dem Geburtsjahrgang 1964 14,4 %). Für besonders langjährig Versicherte, d. h. Versicherte, die eine Wartezeit von 45 Jahren erfüllt haben, gibt es seit 2014 auch die Möglichkeit, zwei Jahre vor Erreichen der Regelaltersgrenze abschlagsfrei in Rente zu gehen. Die Altersgrenze für Schwerbehinderte wird vom 63. auf das 65. Lebensjahr angehoben. Der vorzeitige Bezug dieser Rente wird vom 60. auf das 63. Lebensjahr angehoben. Eine Altersrente wegen Arbeitslosigkeit oder nach Altersteilzeitarbeit können nur noch vor dem 01.01.1952 geborene Versicherte beziehen, wenn sie das 60. Lebensjahr vollendet haben, innerhalb der davor liegenden 18 Monate insgesamt 52 Wochen arbeitslos waren und eine Wartezeit von 15 Jahren erfüllen. Für später geborene Versicherte ist der Bezug einer Altersrente wegen Arbeitslosigkeit oder nach Altersteilzeitarbeit nicht mehr möglich. Gleiches

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10 Das System der sozialen Sicherung

schlag trägt der Tatsache Rechnung, dass bei vorgezogener Rente die Beitragsleistung der Versicherten kürzer erbracht und die Rentenleistung länger beansprucht wird als bei der Standardrente. c. Die Gewährung von Hinterbliebenen-, d. h. Witwer-, Witwen- und Waisenrenten. Sie werden gezahlt, wenn der Verstorbene die Wartezeit erfüllt hat. Auf die Hinterbliebenenrente werden Einkünfte des Hinterbliebenen angerechnet. d. Die Zahlung von Erziehungsrenten. Sie werden an Versicherte, deren Ehe nach dem 30.06.1977 geschieden wurde, bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres gezahlt, wenn der geschiedene Ehegatte verstorben ist und die versicherte Person ein eigenes Kind oder ein Kind des Verstorbenen erzieht, nicht wieder geheiratet hat und bis zum Tod des Ehegatten aus der eigenen Versicherung die allgemeine Wartezeit von fünf Jahren erfüllt hat. e. Die Entrichtung von Beiträgen zur GKV der Rentner.

c) Berechnung der Rente Der Monatsbetrag einer Rente (MR) ergibt sich als Produkt aus vier Faktoren:58 • • • •

aus aus aus aus

der „Summe der Entgeltpunkte“ (EP); dem „Zugangsfaktor“ (Zf); dem „Rentenartfaktor“ (RF) und dem „aktuellen Rentenwert“ (aRW) MR = EP · Zf · RF · aRW

(10.2)

Die Entgeltpunkte bewirken eine Lohn- und Beitragsbezogenheit der Rente, weil die Zahl der persönlichen Entgeltpunkte im Wesentlichen von der Höhe der geleisteten Beiträge und der Zahl der Beitragsmonate bestimmt wird. Die Berücksichtigung der Beitragsleistung des Versicherten entspricht dem Prinzip der „Teilhabeäquivalenz“. Darunter versteht man den Grundsatz, dass die Unterschiede in den Rentenleistungen den Unterschieden in den erbrachten Beitragsleistungen entsprechen sollen. Die Summe der Entgeltpunkte setzt sich zusammen aus • der Summe der Entgeltpunkte für vollwertige Beitragszeiten,59 • der Summe der Entgeltpunkte für beitragsfreie Zeiten und • der Summe der Entgeltpunkte für beitragsgeminderte Zeiten. Die Entgeltpunkte für vollwertige Beitragszeiten ergeben sich durch Division des versicherungspflichtigen Arbeitseinkommens (Beitragsbemessungsgrundlage) durch das Durchschnittsentgelt aller Versicherten. Wenn z. B. das Arbeitsentgelt eines Versicherten 2019 45 000 e betrug, dann ergeben sich für dieses Jahr bei einem durchschnittlichen Arbeitsentgelt von 39 301 e gilt für Frauen der Jahrgänge nach 1951. Für sie entfällt die Altersrente für Frauen, die ab dem vollendeten 60. Lebensjahr bezogen werden konnte. 58 Vgl. §§ 64-68 SGB VI. Für die Rentenberechnung in der knappschaftlichen RV gelten besondere Bestimmungen, vgl. dazu §§ 79 bis 87 SGB VI. 59 Als „vollwertig“ gilt ein Monat, wenn für den gesamten Monat ein Beitrag entrichtet wurde, als „beitragsgemindert“ ein Monat, für den zwar ein Teilbeitrag vorliegt, aber auch eine Anrechnungszeit, eine Ersatzzeit oder eine Zurechnungszeit (vgl. zu diesen Zeiten S. 246), z. B. aufgrund des Beginns einer Schwangerschaft oder des Eintritts einer Erwerbsunfähigkeit.

10.3 Einzelbereiche sozialer Sicherung in der Bundesrepublik

245

(West) 1,145 Entgeltpunkte. Dadurch entspricht das Verhältnis von individuellem Rentenanspruch zur Durchschnittsrente dem Verhältnis von individuellem beitragspflichtigen Einkommen zum durchschnittlichen beitragspflichtigen Arbeitseinkommen. Zur Beitragszahlung wird jedoch maximal das Einkommen bis zur Beitragsbemessungsgrenze zugrunde gelegt. Diese Bemessungsgrenze betrug 2019 80 400 e (West). Somit können pro Jahr maximal ca. zwei Entgeltpunkte erzielt werden. Die Beitragsbemessungsgrenze wird jährlich entsprechend der Bruttolohnentwicklung des Vorjahres im Vergleich zum vorvergangenen Jahr fortgeschrieben. Der aktuelle Rentenwert beträgt 2019/20 in den alten Bundesländern 33,05 e, in den neuen Bundesländern 31,89 e. Für einen Arbeitnehmer, der 45 Versicherungsjahre und pro Jahr einen Entgeltpunkt aufzuweisen hat, d. h. der jeweils soviel verdient hat wie der Durchschnitt aller Versicherten, wäre (in den alten Bundesländern) eine erstmals am 01.07.2019 fällig gewordene Altersrente bei Erreichen der Regelaltersgrenze wie folgt zu ermitteln gewesen: Monatsrente = Summe aller Entgeltpunkte · Zugangsfaktor · Rentenartfaktor · akt. Rentenwert = 45 · 1 · 1 · 33, 05 = 1487, 25 Vergleicht man diese Monatsrente mit dem unmittelbar vor dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben annahmegemäß bezogenen Einkommen des Versicherten, nämlich dem Durchschnittseinkommen aller Versicherten in Höhe von 37 103 e, dann ergibt sich, dass die „Standard“-Rente 45,2 % des Bruttoarbeitseinkommens beträgt. Von den Bruttoeinkommen hatten die Erwerbstätigen einen Arbeitnehmerbeitrag von 9,35 % zur Rentenversicherung, 8,39 % zur Krankenversicherung, 1,275 % zur Pflegeversicherung und 1,5 % zur Arbeitslosenversicherung abzuführen. Die Rentner haben einen Krankenversicherungsbeitrag in Höhe von 8,39 % und einen Pflegeversicherungsbeitrag von 2,55 % zu entrichten. Somit beläuft sich das Sicherungsniveau vor Steuern derzeit auf knapp unter 50 %. Über den Faktor Entgeltpunkte gehen neben den individuellen Beitragsleistungen aber auch Solidarleistungen der Beitragszahler in die Rentenhöhe ein, weil bestimmten beitragsfreien Zeiten eines Versicherten Entgeltpunkte zugeordnet werden. Für Versicherte, die mindestens 35 Jahre rentenrechtlicher Zeiten nachweisen können (langjährige Versicherte), wird die Summe der Entgeltpunkte für Pflichtbeitragszeiten bis Ende 1991 erhöht, wenn sich aus allen Kalendermonaten mit vollwertigen Pflichtbeiträgen ein Durchschnittswert von weniger als 0,0625 Entgeltpunkten ergibt (das entspräche einem Einkommen von weniger als 75 % des Durchschnittseinkommens). Sie erhalten dann – als Solidarleistung – eine „Rente nach Mindestentgeltpunkten“, denn die Entgeltpunkte werden für Monate mit vollen Pflichtbeiträgen auf das 1,5-fache des tatsächlichen Wertes angehoben, jedoch höchstens auf 0,0625 Entgeltpunkte. Das bedeutet: es wird ein um 50 % höheres als das erzielte Arbeitseinkommen unterstellt, jedoch maximal 75 % des Durchschnittseinkommens der Versicherten. Pflichtbeitragszeiten nach 1992 werden für pflichtversicherte Erziehungspersonen mit mindestens 25 Jahren rentenrechtlicher Zeiten nach Ablauf der Kindererziehungszeit bis zum 10. Lebensjahr des Kindes um das 1,5-fache aufgewertet, höchstens jedoch auf einen Entgeltpunkt pro Jahr (Kinderberücksichtigungszeiten gem. § 70 Abs. 3 SGB VI). Das Ziel dieser Regelung ist der Ausgleich rentenrechtlicher Nachteile für den Elternteil, der sich hauptsächlich um die Erziehung eines Kindes kümmert und daher nur einer Teilzeitbeschäftigung nachgehen kann. Pflichtversicherte Erziehungspersonen, die gleichzeitig zwei oder mehr Kinder erziehen und keine Pflichtbeiträge zahlen, erhalten eine Gutschrift von 0,33 Entgeltpunkten pro Jahr.

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10 Das System der sozialen Sicherung

Als Beitragszeiten gelten auch Zeiten der Kindererziehung, der Pflege und Berufsausbildung60 . Für Geburten ab 1992 werden die ersten drei Jahre nach der Geburt mit einem Entgeltpunkt pro Jahr bewertet. Falls die Erziehungsperson in dieser Zeit erwerbstätig ist, werden die Kindererziehungszeiten zusätzlich zu den zeitgleichen Beitragszeiten angerechnet (sog. „Honorierungsmodell“). Berufsausbildungszeiten werden mit 75 % des individuellen Gesamtleistungswerts, höchstens aber mit 75 % des Durchschnittsentgelts aller Versicherten, bewertet. Seit dem 01.05.1995 werden für Pflegepersonen (Personen, die nicht erwerbsmäßig eine pflegebedürftige Person im Umfang von mindestens 10 Stunden pro Woche pflegen) Beiträge zur Rentenversicherung vom zuständigen Pflegeleistungsträger gezahlt. Die Höhe der Beiträge richtet sich nach dem Umfang der Pflegetätigkeit und des Pflegegrades. Beitragslose oder beitragsfreie Zeiten wirken z. T. rentenanspruchsbegründend, z. T. aber auch rentenerhöhend. Zeiten der Arbeitslosigkeit, der Krankheit und der Durchführung von Rehabilitationsmaßnahmen ohne Leistungsbezug wirken nur anspruchsbegründend, dagegen wirken Zeiten der Krankheit und der Rehabilitation mit Leistungsbezug sowie Zeiten des Bezugs von Arbeitslosengeld rentenanspruchsbegründend und rentenerhöhend. Als beitragsfreie Zeit gelten auch die Zurechnungszeit, d. h. die Zeit, die bei einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit oder Todes der Versicherungszeit zugerechnet wird, wenn der Versicherte das 60. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, und Ersatzzeiten, d. h. Zeiten der Kriegsgefangenschaft sowie der politischen Haft in der ehem. DDR. Die Bewertung der beitragsfreien Zeiten erfolgt nach dem Prinzip der „Gesamtleistungsbewertung“ (auch als „Beitragsdichtemodell“ bezeichnet). Das bedeutet, dass beitragsfreie Zeiten entsprechend dem (monats-) durchschnittlichen Gesamtwert der Beiträge einschließlich freiwilliger Beiträge bewertet werden.61 Beitragsfreie Zeiten werden daher umso höher bewertet, je höher die Zahl der Entgeltpunkte, d. h. je höher das Arbeitseinkommen und je höher die Zahl der Beitragsmonate, war. Durch dieses Element der Gesamtleistungsbewertung wird die Lohnund Beitragsbezogenheit der Rente verstärkt. Um zu vermeiden, dass durch die Erziehung von Kindern bis zum vollendeten 10. Lebensjahr entstandene beitragsfreie Zeiten den Gesamtleistungswert eines Versicherten mindern, sind Zeiten der Kindererziehung als Berücksichtigungszeiten in die Gesamtleistungsbewertung einzubeziehen. Für die Berücksichtigungszeiten werden 0,0833 Entgeltpunkte angesetzt. Bestimmte beitragsfreie Zeiten werden nicht mit dem vollen Gesamtleistungswert bewertet (§ 74 SGB VI). So wird die Bewertung von Zeiten des Besuchs einer Schule, Fachschule oder Hochschule auf 75 % begrenzt und darf überdies 0,0625 Entgeltpunkte nicht übersteigen. Bei der Ermittlung des Gesamtleistungswertes ist neben dem „Grundbewertungsverfahren“ (§ 72 SGB VI) noch eine „Vergleichsbewertung“ (§ 73 SGB VI) durchzuführen, durch die sichergestellt werden soll, dass beitragsgeminderten Zeiten, für die ja – wenn auch in gemindertem zeitlichen Umfang – Beiträge gezahlt worden sind, mindestens der Wert beigemessen wird, den sie als beitragsfreie Zeiten hätten. Der Zugangsfaktor hat die Funktion, bei vorzeitiger oder bei aufgeschobener Inanspruchnahme der Altersrente die im Vergleich zu einer „Normalrente“ unterschiedliche Rentenbezugsdauer 60

Berufsausbildungszeiten sind definiert als die ersten 36 Monate mit Pflichtbeiträgen für eine versicherte Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit bis zum vollendeten 25. Lebensjahr. 61 Der durchschnittliche Gesamtwert wird ermittelt, indem man die erworbenen persönlichen Entgeltpunkte aus Beitragszeiten und „Berücksichtigungszeiten“ durch die Zahl der Kalendermonate des um die beitragsfreien Monate verminderten „belegungsfähigen“ Zeitraumes dividiert. Der belegungsfähige Zeitraum ist definiert als die Zeit vom vollendeten 16. Lebensjahr bis zum Eintritt des Versicherungsfalles.

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in der Rentenhöhe zu berücksichtigen. Er beträgt bei Altersrenten, die bei Erreichen der Regelaltersgrenze bezogen werden, 1,0. Wird die Altersrente „vorgezogen“, so vermindert sich der Zugangsfaktor pro Monat vorzeitiger Inanspruchnahme um 0,003; wird die Rente „aufgeschoben“, so erhöht sich der Zugangsfaktor pro Monat um 0,005. Bei einem Jahr vorzeitigen Rentenbezugs verringert sich also die Rente um 3,6 % (Zugangsfaktor: 1, 0 − 0, 036 = 0, 964), bei einem Jahr aufgeschobener Inanspruchnahme erhöht sie sich um 6 % (1, 0 + 0, 06 = 1, 06). Der Zugangsfaktor für Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit und für Hinterbliebenenrenten wird für jeden Monat vor Vollendung des 65. Lebensjahres um 0,003 Punkte gemindert (§ 77 SGB VI). Das Produkt aus der Summe der Entgeltpunkte und dem Zugangsfaktor ergibt die persönlichen Entgeltpunkte eines Versicherten. Wenn in der dargestellten Weise die um den Zugangsfaktor korrigierte Summe der persönlichen Entgeltpunkte ermittelt worden ist,62 wird der Rentenartfaktor berücksichtigt. Den verschiedenen Rentenarten sind entsprechend ihrer unterschiedlichen Sicherungsfunktion folgende Rentenartfaktoren zugeordnet: Tabelle 10.6: Rentenartfaktoren Rentenart Altersrenten Renten wegen voller Erwerbsminderung Renten wegen teilweiser Erwerbsminderung Erziehungsrenten Große Witwer- bzw. Witwenrente Kleine Witwer- bzw. Witwenrente Vollwaisenrenten Halbwaisenrenten

Rentenartfaktor 1,0 1,0 0,5 1,0 0,6 / 0,5563 0,25 0,2 0,1

Auf Hinterbliebenen- und Erziehungsrenten werden eigenständige Einkünfte zu 40 % angerechnet, sofern der Freibetrag in Höhe des 26,4-fachen des aktuellen Rentenwerts (bei Waisen: des 17,6-fachen) überschritten wird. Für jedes Kind erhöht sich der Freibetrag um das 5,6-fache 62

Für den bei Scheidungen geltenden Versorgungsausgleich und für die Waisenrenten gibt es Modifikationen der Entgeltpunktermittlung, die hier nicht dargestellt werden können. Vgl. dazu §§ 76 und 78 SGB VI. 63 Nach dem Altersvermögensergänzungsgesetz vom 21.03.2001 beträgt der Rentenartfaktor der großen Witwen- bzw. Witwerrente für hinterbliebene Ehegatten aus Ehen, die nach dem 31.12.2001 geschlossen wurden und bei denen beide Ehegatten zu diesem Zeitpunkt das 40. Lebensjahr noch nicht vollendet hatten, seit 2002 nur noch 0,55. Gleichzeitig wurde für die von dieser Neuregelung betroffenen Ehegatten eine „Kinderkomponente“ in die Witwen- bzw. Witwerrente eingeführt. Hinterbliebene Ehegatten, die Kinder erzogen haben, erhalten für das erste Kind einen Zuschlag von zwei Entgeltpunkten auf die abgeleitete Rente des verstorbenen Ehepartners. Für das zweite und jedes weitere Kind beträgt der Zuschlag einen Entgeltpunkt. Die Verringerung des Rentenartfaktors bei der großen Witwen- bzw. Witwerrente soll dem Umstand Rechnung tragen, dass Frauen, die in der Vergangenheit hauptsächlich Empfänger von Hinterbliebenenrenten waren, heute in der Regel durch eigene Erwerbstätigkeit genügend selbständige Rentenanwartschaften aufbauen, so dass sie immer weniger auf die von ihren Ehemännern abgeleiteten Hinterbliebenrenten angewiesen sind. Die Kinderkomponente berücksichtigt dabei den Sachverhalt, dass jener Elternteil, der einen großen Teil seiner Zeit für Kindererziehung aufgewendet hat, nur in geringerem Maße zum Aufbau eigener Rentenanwartschaften in der Lage war. Für hinterbliebene Ehegatten aus Ehen, die vor dem 01.01.2002 geschlossen wurden oder bei denen ein Ehegatte zu diesem Zeitpunkt bereits älter als 40 Jahre war, gilt weiterhin das alte Recht ohne Kinderkomponente und mit einem Rentenartfaktor von 0,6.

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10 Das System der sozialen Sicherung

des aktuellen Rentenwerts. Zur Anrechnung kommt ein pauschaliertes Nettoeinkommen; nicht angerechnet werden steuerfreie Einnahmen gem. § 2 EStG64 und Einkünfte aus einer staatlich geförderten Altersrente (Riesterrente). Die letzte Bestimmungsgröße der Zugangsrente ist der aktuelle Rentenwert. Durch den aktuellen Rentenwert werden die Entgeltpunkte mit einem Euro-Betrag bewertet. Somit wird das „Mengengerüst“, also die Anzahl der erworbenen Entgeltpunkte, in einen monatlichen Zahlbetrag der Renten überführt. Der aktuelle Rentenwert ist im Zeitablauf nicht konstant, sondern wird an die wirtschaftliche und demografische Entwicklung angepasst („Dynamisierung“).65 Seit 2005 erfolgt die Rentenanpassung nach folgender Formel:

aRt = aRt−1 ·

     RQt−1 BEt−1 100 − AVAt−1 − RVBt−1 1− · α+1 BEt−2 100 − AVAt−2 − RVBt−2 RQt−2 | {z } | {z }| {z }

Lohnfaktor

Beitragsfaktor

(10.3)

Nachhaltigkeitsfaktor

mit aR = BE = AVA = RVB = RQ = t= α=

aktueller Rentenwert Bruttolöhne und -gehälter je Arbeitnehmer Altersvorsorgeanteil durchschnittlicher Beitragssatz in der allgemeinen Rentenversicherung Rentnerquotient aktuelles Kalenderjahr Gewichtungsfaktor

Zunächst orientiert sich die Veränderung des aktuellen Rentenwerts an der Entwicklung der Bruttolöhne und -gehälter (BE) je durchschnittlich beschäftigtem Arbeitnehmer („Lohnfaktor“). Diese Koppelung der Renten an die Entwicklung der Bruttoarbeitseinkommen (sog. „Bruttolohnorientierung“) wird jedoch durch zwei Faktoren modifiziert. Zum einen schlagen sich Änderungen des Beitragssatzes zur allgemeinen Rentenversicherung (RVB) nieder. Dieser Effekt („Beitragsfaktor“) wird ermittelt, indem der volle Beitragssatz zur Rentenversicherung von der Differenz aus 100 und dem Prozentsatz der staatlich geförderten zusätzlichen Altersvorsorge subtrahiert wird. Der Quotient dieser Differenz für das vergangene und das vorvergangene Jahr ergibt den Beitragsfaktor.

64 65

Steuerfreie Einnahmen sind bspw. Leistungen aus der Grundsicherung, Pflegegeld oder der Kinderzuschlag. Vgl. § 68 SGB VI. Die Dynamisierung der Renten ist ein Ergebnis der Rentenreform des Jahres 1957.

10.3 Einzelbereiche sozialer Sicherung in der Bundesrepublik

249

Beispiel: Der Gesamtbeitragssatz zur gesetzlichen Rentenversicherung wurde im Jahr 2012 von 19,9 % auf 19,6 % gesenkt. Der in der Rentenanpassungsformel zu berücksichtigende Altersvorsorgeanteil wurde im gleichen Zeitraum von 3,5 % auf 4 % angehoben. Dadurch ergab sich für die Rentenanpassung des Jahres 2013 folgender Beitragsfaktor: 100 − 4 − 19, 6 = 0, 9974 100 − 3, 5 − 19, 9 Durch die Anwendung des Beitragsfaktors verringerte sich der Rentenanstieg somit um 0,26 Prozent.

Durch den „Beitragsfaktor“ werden Belastungen, die den Versicherten durch steigende Beitragssätze zur gesetzlichen Rentenversicherung und durch den Aufbau einer privaten Altersvorsorge entstehen, in gewissem Umfang auch den Rentnern zugerechnet.66 Neben der Veränderung des Beitragssatzes gehen in die Anpassungsformel auch die Veränderungen ein, die sich für die Rentenversicherung aufgrund der demografischen Entwicklung und aufgrund der Situation am Arbeitsmarkt ergeben („Nachhaltigkeitsfaktor“). Diese Veränderungen werden durch die Entwicklung des Rentnerquotienten (RQ) – das ist das Verhältnis der Zahl der Rentner zur Zahl der Beitragszahler – ermittelt. Der Faktor α gibt an, mit welchem Gewicht eine Änderung des Rentnerquotienten bei der Rentenanpassung berücksichtigt wird. Derzeit beträgt der α-Faktor 0,25.67 Durch die sog. „Schutzklauseln“ der §§ 68a I und 255e SGB V darf die Anwendung des Beitrags- und des Nachhaltigkeitsfaktors nicht dazu führen, dass der aktuelle Rentenwert nominal sinkt. Sofern die Entwicklung der Bruttoeinkommen nicht ausreicht, um den aktuellen Rentenwert stabil zu halten, wird die Anwendung dieser beiden Faktoren ausgesetzt. Dies war in den Jahren 2005 und 2006 der Fall. Die Einführung des Beitrags- und des Nachhaltigkeitsfaktors stellen eine Zäsur in der Rentenpolitik der Bundesrepublik Deutschland dar. Durch diese Maßnahmen löst sich die gesetzliche Rentenversicherung von dem Ziel, den Versicherten ein bestimmtes Absicherungsniveau zu gewährleisten und strebt stattdessen ein bestimmtes Beitragssatzziel an. Damit wurde in der Rentenversicherung der Wechsel von der ausgabeorientierten Einnahmepolitik zur einnahmeorientierten Ausgabepolitik vollzogen (vgl. hierzu S. 255). Seit dem 01.01.2002 besteht für Ehepaare zudem ein Wahlrecht zwischen der Hinterbliebenversorgung nach dem oben beschriebenen Recht und der Durchführung eines Rentensplittings.68 Bei diesem Rentensplitting wird die Hälfte des Unterschieds zwischen den von beiden Ehepartnern in der Splittingzeit erworbenen Anwartschaften vom Versicherungskonto des Ehepartners mit der höheren Rentenanwartschaft auf das Versicherungskonto des Ehepartners mit der geringeren Rentenanwartschaft übertragen. Vorteil der Durchführung eines Rentensplittings für einen überlebenden Ehepartner mit relativ geringen eigenen Rentenanwartschaften ist, dass auf die Splittingrente keine Einkommensanrechnung stattfindet und das Recht auf Bezug der Splittingrente auch bei Wiederheirat nicht erlischt. 66

Dieser berücksichtigungsfähige Altersvorsorgeanteil betrug 2002 0,5 % des Bruttoarbeitseinkommens. Er stieg bis 2012 um jährlich 0,5 % und beläuft sich seither auf 4 % des Arbeitseinkommens (siehe hierzu S. 257). 67 Von der Größenordnung des α-Faktors lässt sich nicht auf ein intergenerationales Verteilungsziel schließen. Der α-Faktor ist lediglich ein Instrument, das den Nachhaltigkeitsfaktor so anpasst, dass ein bestimmtes, politisch gesetztes Beitragsziel erreicht wird. 68 Voraussetzung ist, dass die Ehe nach dem 31.12.2001 geschlossen wurde oder bei denen mindestens ein Ehepartner zu diesem Zeitpunkt noch nicht älter als 40 Jahre war und beide Ehepartner 25 Jahre rentenrechtliche Zeiten zurückgelegt haben.

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10 Das System der sozialen Sicherung

Seit 1977 wird bei Ehescheidungen ein Versorgungsausgleich durchgeführt. Dabei werden sämtliche in der Ehe erworbenen Versorgungsanrechte zwischen den Ehegatten hälftig geteilt. Dieser Versorgungsausgleich stellt somit eine gleichmäßige Aufteilung der in der Zeit der Ehe erworbenen Versorgungsrechte auf die Ehegatten sicher. Renten unterliegen der Besteuerung. Bis 2005 wurde jedoch nur der sogenannte Ertragsanteil der Rente besteuert; dadurch blieb die überwiegende Zahl der Renten steuerfrei.69 Der Ertragsanteil der Rente eines Arbeitnehmers, der mit 65 Jahren in Rente geht, liegt bei 18 % des Rentenbetrages (§ 22 EStG). Durch das Alterseinkünftegesetz (AltEinkG)70 wird seit 2005 schrittweise bis zum Jahr 2040 zur sog. „nachgelagerten Besteuerung“ der Renten übergegangen. Nachgelagerte Besteuerung bedeutet, dass die Einkünfte aus Renten in voller Höhe besteuert werden, während die Beitragsleistungen als Sonderaufwendungen von der Einkommensteuer freigestellt sind.

d) Organisation und Finanzierung Träger der gesetzlichen Rentenversicherung ist die „Deutsche Rentenversicherung“. Sie umfasst die Deutsche Rentenversicherung Bund (DRV Bund), 14 Regionalträger (DRV regional) sowie die DRV Knappschaft - Bahn - See.71 Die Aufbringung der Mittel erfolgt 1. aus Beiträgen der Versicherten, die derzeit (2017) auf 18,7 % des Arbeitsentgelts festgesetzt und zur Hälfte von Arbeitgebern und Arbeitnehmern aufzubringen sind (vgl. zur Beitragsentwicklung Tab. 10.2, S. 221). Durch die Festlegung einer Beitragsbemessungsgrenze, die entsprechend der Bruttoentgeltentwicklung fortgeschrieben wird, ist auch ein Höchstbeitrag zur Rentenversicherung festgelegt. Dieser betrug 2017 bei einer Beitragsbemessungsgrenze von mtl. 6 350 e in Westdeutschland und 5 700 e in Ostdeutschland 1 187,46 e bzw. 1 065,90 e. 2. aus Bundeszuschüssen. Diese staatlichen Zuschüsse haben mehrere Funktionen. Zum einen sollen sie die sog. „versicherungsfremden Leistungen“ abdecken. Darunter sind Leistungen zu verstehen, die von der Rentenversicherung für die Allgemeinheit erbracht werden.72 Hierzu zählen bspw. die Berücksichtigung beitragsfreier Zeiten, einheitsbedingte Lasten73 sowie kriegsfolgebedingte Belastungen. Zum anderen drückt sich in diesen Bundeszuschüssen auch 69

Unter dem Ertragsanteil versteht man die (fiktiven) Zinserträge der Beitragszahlungen. Der Ertragsanteil eines Rentners, der mit 65 Jahren in Rente geht, liegt bei 18% des Rentenbetrags. Der Beteuerungsanteil liegt 2020 bei 80% (§ 22 EStG). 70 Gesetz zur Neuordnung der einkommensteuerrechtlichen Behandlung von Altersvorsorgeaufwendungen und Altersbezügen vom 05.07.2004. 71 Diese Struktur ist das Ergebnis einer Organisationsreform aus dem Jahr 2005. Durch diese Reform wurde die seit 1911 bestehende organisatorische Trennung zwischen Arbeiter- und Angestelltenrentenversicherung aufgehoben. Vgl. Gesetz zur Organisationsreform in der gesetzlichen Rentenversicherung (RVOrgG) vom 09.12.2004. 72 Zur Problematik versicherungsfremder Leistungen und deren Abgrenzung vgl. Schmähl 2007. 73 Es handelt sich dabei um die Zahlung von „Auffüllbeträgen“ und Rentenzuschlägen nach dem Rentenüberleitungsgesetz. Auffüllbeträge sind Leistungen an solche Personen in den neuen Bundesländern, deren Rentenanspruch zum 31.12.1991 höher war als die nach bundesdeutschem Recht ab dem 01.01.1992 ermittelte monatliche Rente. Aus den gleichen Gründen wurden für Renten, deren Beginn in den Jahren 1992 und 1993 lag, Rentenzuschläge geleistet.

10.3 Einzelbereiche sozialer Sicherung in der Bundesrepublik

251

die Garantie des Staates für die dauerhafte Leistungsfähigkeit der gesetzlichen Rentenversicherung bei geänderten wirtschaftlichen und demografischen Rahmenbedingungen aus. Zur Finanzierung dieser Aufgaben zahlt der Bund einen allgemeinen Bundeszuschuss, der entsprechend der Veränderung der Bruttolohn- und -gehaltssumme fortgeschrieben wird. Daneben überweist der Bund einen zusätzlichen Bundeszuschuss, dessen Höhe dem Aufkommen eines Prozentpunkts der Mehrwertsteuer entspricht, sowie einen Erhöhungsbetrag zum zusätzlichen Bundeszuschuss, der sich entsprechend der Bruttolohn- und -gehaltssumme verändert („Öko-Steuer“). Der zusätzliche Bundeszuschuss und der Erhöhungsbetrag dienen der pauschalen Abgeltung nicht beitragsgedeckter versicherungsfremder Leistungen. Schließlich zahlt der Bund während der ersten drei Jahre nach der Geburt eines Kindes Beiträge für Kindererziehungszeiten. Über die Entwicklung der Bundeszuschüsse und ihres Anteils an den Gesamtausgaben der GRV informiert Tabelle 10.7. Im Jahr 2019 betrug die Summe der Bundesmittel zur Rentenversicherung (ohne Knappschaft und ohne die Beiträge für Kindererziehungszeiten) 72,3 Mrd. e. Dies entsprach etwa 22 % der Gesamtausgaben der allgemeinen Rentenversicherung.74 Tabelle 10.7: Entwicklung der Bundeszuschüsse zur allgemeinen Rentenversicherung

Jahr

Bundeszuschüsse (in Mrd. Euro) allgemein zusätzlich Erhöhungs- insgesamt betrag

2000 33,3 7,7 1,3 2005 37,5 8,2 9,1 2010 39,9 9,1 10,0 2015 40,2 10,6 11,6 2019 46,2 12,4 13,7 Quelle: DRV (2020): Rentenatlas 2020.

Anteil an den Ausgaben der allgemeinen Rentenversicherung

42,4 54,8 59,0 62,4 72,3

20,62 % 24,03 % 24,31 % 22,96 % 22%

3. aus Beiträgen der Träger von Lohnersatzleistungen (u.a. Bundesagentur für Arbeit, GKV, UV), die für die Empfänger von Lohnersatzleistungen die Beiträge zur Rentenversicherung ganz oder zur Hälfte tragen. Die GRV wird nach dem Umlageverfahren finanziert. Das bedeutet, dass die Ausgaben eines Kalenderjahres durch die Einnahmen aus Beiträgen und den Bundeszuschüssen desselben Jahres und – wenn erforderlich – durch Entnahmen aus der „Nachhaltigkeitsrücklage“ finanziert werden. Die Nachhaltigkeitsrücklage dient der Verstetigung des Beitragssatzes und darf den Betrag von 0,2 Monatsausgaben der GRV nicht unter- bzw. von 1,5 Monatsausgaben nicht überschreiten. Der Beitragssatz ist so festzusetzen, dass die erwarteten Einnahmen ausreichen, um die voraussichtlichen Ausgaben des folgenden Jahres zu decken (§ 158 SGB VI). Bundestag und Bundesrat sind jährlich durch einen Rentenversicherungsbericht über die voraussichtliche finanzielle Entwicklung der GRV zu informieren. Mit diesem Bericht ist gleichzeitig eine Stellungnahme des Sozialbeirats vorzulegen. Dieser Rat besteht aus je vier Vertretern der Versicherten und der Arbeitgeber sowie einem Vertreter der Bundesbank und drei Vertretern der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. 74

Quelle: Deutsche Rentenversicherung Bund 2018: DRV-Schriften, S. 243, 247.

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10 Das System der sozialen Sicherung

Grundrente und Altersarmut Die gesetzliche Rentenversicherung in Deutschland ist grundsätzlich lohn- und beitragsbezogen und orientiert sich am Prinzip der Teilhabeäquivalenz. Das bedeutet, dass sich die Unterschiede in den Beitragsleistungen und damit in den versicherungspflichtigen Einkommen auch in der relativen Höhe der Rentenleistungen niederschlagen. Obwohl das deutsche Rentenversicherungssystem somit kein eigenständiges Verteilungsziel verfolgt, hat sie in der Vergangenheit maßgeblich dazu beigetragen, dass Altersarmut in Deutschland bislang kein drängendes sozialpolitisches Problem darstellte. Unabhängig davon, ob man Armut als relative Einkommensarmut oder als das Angewiesensein auf Leistungen der Grundsicherung definiert: sowohl die Quote der relativ Einkommensarmen wie die Grundsicherungsquote lag bislang bei den Über-65-Jährigen unter der jeweiligen gesamtgesellschaftlichen Armutsquote. Für die Zukunft wird jedoch in Deutschland ein erkennbarer Anstieg der Altersarmut erwartet (Hahn et al. 2017). Dafür sind vor allem zwei Gründe ausschlaggebend. Zum einen treten zunehmend Personen in den Ruhestand, die aufgrund der angespannten Arbeitsmarktsituation in den 1990er Jahren eine unterbrochene Erwerbsbiographie oder Erwerbszeiten mit stark unterdurchschnittlichen Arbeitsentgelten aufweisen. Davon sind insbesondere Beschäftigte in den neuen Bundesländern betroffen. Aufgrund des Prinzips der Lohn- und Beitragsbezogenheit der Rente wirken sich diese Lücken in der Erwerbsbiographie unmittelbar auf die Höhe der Rentenanwartschaften aus. Ein zweiter Grund ist die Absenkung der Rentenanwartschaften durch die Einführung des Nachhaltigkeitsfaktors. Dieser Faktor führt dazu, dass der Anstieg der Renten hinter dem Zuwachs der Nettolöhne und –gehälter zurückbleibt. Durch diese Abwertung der Rentenanwartschaften sinkt nicht nur die relative Einkommensposition der Rentner, sondern es steigt auch die Anzahl der Entgeltpunkte, die erforderlich sind, um das Niveau der Grundsicherung im Alter zu erreichen. Dass Versicherte nach einem vollen Erwerbsleben eine Rente erhalten, die das Grundsicherungsniveau nicht oder nur geringfügig überschreitet, widerspricht jedoch dem Versicherungsgedanken der gesetzlichen Rente und dem Prinzip der Leistungsgerechtigkeit. Der Gesetzgeber hat auf diese Entwicklung mit dem Grundrentengesetz reagiert, das zum 1.1.2021 in Kraft getreten ist. Mit der Grundrente werden Zeiten mit geringen Entgeltpunkten aufgewertet, ohne dass dafür Beiträge zu entrichten sind. Ein voller Grundrentenanspruch besteht, sofern • die versicherte Person mindestens 35 Jahre an Grundrentenzeiten vorweisen kann, • der Durchschnitt aller erworbenen Entgeltpunkte zwischen 30 und 80 Prozent des Durchschnitts aller Versicherten liegt und • das Haushaltseinkommen bestimmte Grenzen nicht übersteigt. Sofern diese Voraussetzungen erfüllt sind, erhalten Versicherte einen Zuschlag zu ihrer Rente (Grundrente). Dieser Zuschlag wird berechnet, indem zunächst der Durchschnitt aller Entgeltpunkte aus Grundrentenzeiten errechnet wird. Bei dieser Durchschnittsbewertung bleiben jedoch Zeiten unberücksichtigt, in denen die versicherte Person weniger als 0,025 EP pro Monat erzielt hat (dies entspricht 0,3 EP pro Jahr). Mit dieser Beschränkung der Grundrentenbewertungszeit soll verhindert werden, dass sehr geringe Beitragszahlungen bspw. aufgrund einer geringfügigen Beschäftigung in die Ermittlung des Durchschnittswerts einbezogen werden. Der Durchschnittswert dieser Grundrentenbewertungszeit wird verdoppelt, jedoch auf höchstens 0,8 Entgeltpunkte angehoben; anschließend wird der so errechnete Wert um 12,5% gekürzt. Durch diese Kürzung soll sichergestellt werden, dass Grundrentenempfänger keine höhere Rente erhalten als Personen, die durchgängig ein geringes versicherungspflichtiges Einkommen bezogen haben. Den vollen Aufschlag erhalten zudem nur Personen, deren Einkommen 1250 € (1950 € bei Verheirateten) nicht übersteigt. Einkommen, die über diesem Freibetrag liegen, werden zu 60% auf die Grundrente angerechnet. Außerdem wird Grundrentenempfängern ein Freibetrag in der Grundsicherung im Alter und beim Wohngeld eingeräumt. Beispiel: Eine Person weist 20 Beitragsjahre mit 0,6 EP und 15 Jahre mit 0,3 EP auf. Es liegen somit 35 Beitragsjahre mit durchschnittlich 0,47 EP vor. Bei einem aktuellen Rentenwert von 34,19 € (2021) entspricht dies einer Rente in Höhe von 564,14 €. Der Rentenzuschlag beträgt 35 · (0, 8 − 0, 47) = 11, 55 EP bzw. 11, 55 · 34, 19€= 394, 90€. Dieser Betrag wird anschließend um 12,5% gekürzt, so dass sich der Grundrentenanspruch auf 345,53 € beläuft. Die Rente des Versicherten erhöht sich damit von 564,14 € auf 909,67 €.

10.3 Einzelbereiche sozialer Sicherung in der Bundesrepublik

253

Da es sich bei der Grundrente um eine versicherungsfremde Leistung handelt, erfolgt die Finanzierung nicht über Beiträge, sondern durch eine Anhebung des allgemeinen Bundeszuschusses. Die Einführung einer Grundrente ist in der Literatur umstritten. Aus ordnungspolitischer Sicht wird kritisiert, dass mit einer Höherbewertung geringer Anwartschaften das Prinzip der Lohn- und Beitragsbezogenheit der Rente und damit ein zentrales Strukturmerkmal der GRV durchbrochen wird. Dem wird entgegengehalten, dass die Rentenansprüche auch im geltenden Recht nicht ausschließlich beitragsbezogen sind. So unterliegen beispielsweise bestimmte Zeiten der Ausbildung und der Kindererziehung eine Höherbewertung und geringe Rentenanwartschaften werden durch die „Rente nach Mindestentgeltpunkten“ angehoben. Das strenge Prinzip der Teilhabeäquivalenz wird also bereits im bestehenden System aus verteilungspolitischen Gründen durchbrochen. Weiterhin wird kritisiert, dass die Grundrente nicht geeignet ist, Altersarmut effektiv zu bekämpfen. Denn eine Höherbewertung der Leistungen erhalten nur Versicherte, die mindestens 33 Jahre an Grundrentenzeiten vorweisen können, wobei Zeiten der Arbeitslosigkeit nicht als Grundrentenzeit gewertet werden. Langjährig versicherte Personen sind aber in den meisten Fällen nicht von Altersarmut bedroht. Darüber hinaus werden Zeiten, in denen weniger als 0,3 Entgeltpunkte erzielt wurden, nicht in die Höherbewertung miteinbezogen. Dadurch bleiben Zeiten der geringfügigen Beschäftigung und der Beschäftigung im „Übergangsbereich“ bei der Berechnung des Durchschnittswerts unberücksichtigt. Damit werden aber gerade jene Zeiten von der Höherbewertung ausgenommen, in denen die niedrigsten Rentenanwartschaften anfallen. Die Grundrente ist somit nur bedingt geeignet, einer steigenden Altersarmut entgegenzuwirken. Die Befürworter der Grundrente verweisen darauf, dass das Ziel der Höherbewertung nicht die Bekämpfung der Altersarmut ist, sondern eine Anerkennung der Lebensleistung des Versicherten darstellen soll. Mit der Grundrente soll sichergestellt werden, dass Beitragsleistungen auch bei reduziertem Rentenwert einen hinreichenden Abstand zur beitragslosen Grundsicherung im Alter aufweisen. Darüber hinaus soll auch für Bezieher geringer Erwerbseinkünfte einen Anreiz bestehen, einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nachzugehen. Ein schwerwiegenderes Problem betrifft die Verknüpfung der Grundrente mit steuerfinanzierten Transferleistungen. So soll für Grundrentenbezieher ein Freibetrag in der Grundsicherung im Alter und beim Wohngeld eingeführt werden. Hier stellt sich die Frage, ob es verfassungsrechtlich zulässig ist, Empfänger von staatlichen Transferleistungen auf der Grundlage eines Grundrentenanspruchs ungleich zu behandeln. Literatur Haan et al. 2017 – Ruland 2020 – Geyer/Haan/Harnisch 2020

e) Probleme Das zentrale Problem der gesetzlichen Rentenversicherung ist die demografische Entwicklung. Aufgrund der gestiegenen Lebenserwartung und der verringerten Geburtenhäufigkeit wird in den kommenden Jahrzehnten die Rentnerquote, d. h. der Quotient aus der Zahl der Rentenempfänger und der Anzahl der Beitragszahler, deutlich ansteigen. Dieses Problem, das für mehrere Zweige des Systems sozialer Sicherung von zentraler Bedeutung ist, wird in Kapitel 16.5.1 ausführlich behandelt. Neben der finanziellen Belastung durch die demografische Entwicklung bestehen in der GRV noch weitere Probleme. Ein Problem ist die unzureichende eigenständige Absicherung von Frauen in der gesetzlichen Rentenversicherung. Frauen weisen nach wie vor im Durchschnitt eine geringere Zahl an Entgeltpunkten und dementsprechend einen geringeren Rentenzahlbetrag auf (vgl. Tab. 10.8). Die Problematik der Unterversorgung von Frauen wird daran erkennbar, dass 2016 59,0 % der gesetzlichen Altersrenten und 45,5 % der Erwerbsminderungsrenten für Frauen unter dem Niveau der Grundsicherung im Alter lagen. In den Fällen, in denen diese Renten das einzige Alterseinkommen darstellen, ist dieses Einkommen somit nicht existenzsichernd. Es ist jedoch zu

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10 Das System der sozialen Sicherung

berücksichtigen, dass in einem Haushalt in der Regel mehrere Alterseinkünfte zusammentreffen. Aus diesem Grund waren 2016 nur 2,6 % der Altersrentner darauf angewiesen, ihre Altersrente durch Leistungen aus der Grundsicherung zu ergänzen.75 Dass die Unterversorgungsproblematik in Ostdeutschland weit weniger ausgeprägt ist als in Westdeutschland, hängt mit den längeren Erwerbs- und Versicherungszeiten der Frauen in den neuen Bundesländern zusammen (zum Gender Pension Gap vgl. Grabka et al. 2017 sowie grundlegend Reich 2013). Tabelle 10.8: Rentenzahlbeträge und Entgeltpunkte nach Geschlecht (zum 31.12.2018) Frauen Durchschnittliche Entgeltpunkte West 20,5 Ost 33,4 Deutschland 23,2

Männer 41,4 43,6 41,9

Durchschnittliche Rentenzahlbeträge - Rentenzugang West 690 1 030 Ost 942 999 Deutschland 738 1 024 Durchschnittliche Rentenzahlbeträge - Rentenbestand West 658 1 100 Ost 954 1 173 Deutschland 719 1 114 Quelle: DRV (2019): Rentenversicherung in Zahlen 2019, S. 34-38, 41-47.

Die Problematik einer Harmonisierung der Alterssicherungssysteme ergibt sich daraus, dass sich historisch bedingt unterschiedliche Alterssicherungssysteme entwickelt haben. Diese Systeme unterscheiden sich in Bezug auf Anspruchsvoraussetzungen, Art und Höhe der Leistungen und der Finanzierungsmethoden. Ein immer wieder aufgeworfenes Problem ist die Beamtenversorgung, da Beamte keine Beiträge für ihre Pensionen zahlen müssen. Eine Harmonisierung von Beamtenversorgung und gesetzlicher Alterssicherung wird seit mehreren Jahrzehnten diskutiert (vgl. bereits Beratergruppe 1983). Aufgrund dieser Diskussion wurde das Leistungsrecht der Beamtenversorgung immer stärker dem der gesetzlichen Rentenversicherung angeglichen.

f) Die Rentenreformpolitik seit 1989 Seit 1989 wurde die gesetzliche Rentenversicherung mehrfach und z. T. nachhaltig reformiert. Die Notwendigkeit zu diesen Reformen ergab sich aus der bereits angesprochenen demografischen Entwicklung und der bis 2006 anhaltend hohen Arbeitslosigkeit. Ein erster Schritt in Richtung einer grundlegenden Reform der GRV war das im Jahr 1989 vom Bundestag verabschiedete Rentenreformgesetz (RRG), das im Jahr 1992 in Kraft trat. Hauptziele des RRG 1992 waren: 75

Allerdings sind fast 15 % der voll Erwerbsgeminderten auf ergänzende Leistungen aus der Grundsicherung angewiesen. Vgl. Deutsche Rentenversicherung Bund 2018: DRV-Schriften, S. 74.

10.3 Einzelbereiche sozialer Sicherung in der Bundesrepublik

255

1. die Stärkung des Äquivalenzprinzips unter Beibehaltung der Lohn- und Beitragsbezogenheit der Rente. Diese Zielsetzung wurde durch die Einführung der Gesamtleistungsbewertung und des Rentenzugangsfaktors erreicht. Auch eine merkliche Kürzung der Zahl anerkennungsfähiger Ausbildungsjahre hat die Beitragsgerechtigkeit erhöht; 2. eine Verringerung der zu erwartenden Beitragssatzsteigerungen und eine gerechte Verteilung der Finanzierungslasten auf Rentner, Beitragszahler und den Bund. Diese Ziele sollten durch die Einführung der sog. „Nettolohnorientierung“ der Rentenanpassung erreicht werden.76 Es war jedoch weiterhin das Ziel der GRV, ein Lebensstandard sicherndes Rentenniveau zu gewährleisten; 3. der Ausbau familienbezogener Elemente, der durch die Verlängerung der Kindererziehungszeit auf drei Jahre für Kinder, die nach 1991 geboren sind, sowie durch die Anerkennung von Berücksichtigungszeiten für Kindererziehung und für nicht erwerbsmäßige Pflege erfolgte. In den Folgejahren kam es zu einer Reihe weiterer Einsparmaßnahmen durch das Gesetz zur Förderung eines gleitenden Übergangs in den Ruhestand (1996), das Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz (1996) und das Rentenreformgesetz (1999). Da auch diese Einsparungen als unzureichend angesehen wurden, um den Beitragssatz langfristig zu stabilisieren, wurde mit den Altersvermögensgesetzen (2001)77 und dem Rentenversicherungs-Nachhaltigkeitsgesetz (2004)78 ein Paradigmenwechsel in der gesetzlichen Rentenversicherung vollzogen. Um den Beitragssatz zur Rentenversicherung zu stabilisieren, wird das Sicherungsniveau der gesetzlichen Rentenversicherung schrittweise abgesenkt. Das Nettorentenniveau vor Steuern79 lag 2003 bei 53 % und wird bis 2030 auf ca. 45 % sinken (vgl. Abb. 10.6). Die Ansprüche aus der gesetzlichen Rentenversicherung sind damit alleine nicht mehr Lebensstandard sichernd. Um den Lebensstandard im Alter weiterhin aufrecht erhalten zu können, ist deshalb der Abschluss einer zusätzlichen privaten oder betrieblichen Altersvorsorge erforderlich. Aus diesem Grund wird der Aufbau einer privaten Alterssicherung staatlich gefördert (vgl. zur sog. „Riester-Rente“ Abschnitt 10.3.5). Durch die Einführung der Riesterrente und des Nachhaltigkeitsfaktors fand ein grundlegender Paradigmenwechsel in der gesetzlichen Alterssicherungspolitik statt. Die Rentenpolitik orientiert sich seither nicht mehr ausschließlich an einem bestimmten Sicherungsziel (Politik des konstanten Rentenniveaus), sondern zusätzlich 76

Zwischen 1992 und 2001 orientierte sich die Rentenanpassung grundsätzlich an der Entwicklung der verfügbaren Einkommen der Versicherten. Dadurch wirkte sich ein Anstieg des Beitragssatzes zur Sozialversicherung automatisch rentenmindernd aus. 77 Gesetz zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung und zur Förderung eines kapitalgedeckten Altersvorsorgevermögens (AVmG) vom 26.06.2001 und Gesetz zur Ergänzung des Gesetzes zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung und zur Förderung eines kapitalgedeckten Altersvorsorgevermögens (AVmEG) vom 23.03.2001. 78 Gesetz zur Sicherung der nachhaltigen Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung (RVNachhaltigkeitsgesetz) vom 21.07.2004. Der Nachhaltigkeitsfaktor wurde auf Vorschlag der Kommission für die Nachhaltigkeit in der Finanzierung der Sozialen Sicherungssysteme, nach ihrem Vorsitzenden, Bert Rürup, auch „Rürup-Kommission“ genannt, in die Fortschreibungsformel des aktuellen Rentenwerts aufgenommen. 79 Als Nettorentenniveau bezeichnet man das Verhältnis der Nettorente eines Standardrentners (das ist ein Rentner mit 45 Entgeltpunkten) zum Nettoeinkommen eines Durchschnittsverdieners. Da sich die steuerliche Behandlung der Renten aufgrund des Übergangs zur nachgelagerten Besteuerung verändert, kann für die unterschiedlichen Rentenzugangsjahre kein einheitliches Nettorentenniveau berechnet werden. Deshalb wird mittlerweile ein Standardrentenniveau ohne Berücksichtigung der steuerlichen Belastung, jedoch nach Abzug der Sozialabgaben und den Aufwendungen für die geförderte private Altersvorsorge ausgewiesen. Diese Größe repräsentiert das Leistungsniveau der gesetzlichen Rentenversicherung.

256

10 Das System der sozialen Sicherung 22

21

Prognose

19

Beitragssatz

20

18

17 60

Prognose (mit Riester)

50

Prognose

Rentenniveau

55

45 1980

2000

2020

Quelle: Bis 2017: DRV (Hrsg.): Rentenversicherung in Zeitreihen, S. 258; ab 2018: BMAS (Hrsg.): Rentenversicherungsbericht 2017, S. 38.

Abb. 10.6: Entwicklung des Beitragssatzes und des Rentenniveaus vor Steuern

an der Stabilisierung des Beitragssatzes (Politik des konstanten Beitragssatzes). Dieses Ziel soll durch den Nachhaltigkeitsfaktor in der Rentenanpassungsformel erreicht werden. Des Weiteren wurde mit der Riester-Rente in der gesetzlichen Rentenversicherung der Umstieg vom reinen Umlageverfahren in das Teilkapitaldeckungsverfahren vollzogen. Um der steigenden Lebenserwartung ohne eine weitere Absenkung des Rentenniveaus gerecht zu werden, wurde mit dem Rentenversicherungs-Altersgrenzenanpassungsgesetz 80 (2007) erstmals die schrittweise Anhebung des Renteneintrittsalters vom 65. auf das 67. Lebensjahr beschlossen. So wird seit 2012 die Regelaltersgrenze zunächst in Ein-Monats-Schritten angehoben, ab dem Jahr 2024 dann in Zwei-Monats-Schritten. Im Jahr 2029 wird für den Geburtsjahrgang 1964 dann schließlich die neue Regelaltersgrenze von 67 Jahren erreicht. Mit der 2009 eingeführten Rentengarantie81 wurde ausgeschlossen, dass der aktuelle Rentenwert nominal sinkt. Falls die Entwicklung des Lohn-, des Beitragssatz- oder des Nachhaltigkeits80

Gesetz zur Anpassung der Regelaltersgrenze an die demografische Entwicklung und zur Stärkung der Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung (RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz) vom 20.04.2007. 81 Gesetz zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch, zur Errichtung einer Versorgungsausgleichskasse und anderer Gesetze vom 15.07.2009.

10.3 Einzelbereiche sozialer Sicherung in der Bundesrepublik

257

faktors dazu führt, dass der aktuelle Rentenwert nominal sinkt, wird der aktuelle Rentenwert konstant gehalten. Die unterschiedlichen Absenkung muss jedoch mit Erhöhungen der Folgejahre verrechnet werden. Um das Risiko der Altersarmut durch nicht versicherungspflichtige Mini-Jobs zu verringern, wurde ab Anfang 2013 die bisherige Opt in-Regelung in eine Opt out-Regelung verändert.82 Seitdem sind Minijobs grundsätzlich versicherungspflichtig; die Beschäftigten haben jedoch die Möglichkeit, sich von der Versicherungspflicht befreien zu lassen. Eine weitere Abmilderung der bisherigen Rentenreformpolitik stellte die Einführung der abschlagsfreien vorgezogenen Altersrente für besonders langjährig Versicherte dar.83 Versicherte mit mindestens 45 Versicherungsjahren können seit 2014 zwei Jahre früher in den Ruhestand treten, ohne Abschläge in Kauf nehmen zu müssen. Gleichzeitig wurden die Entgeltpunkte für Kindererziehungszeiten bei Geburten vor 1992 von einem auf zwei Entgeltpunkte erhöht (sog. „Mütterrente“). Zum 01.01.2019 stiegen sie nochmals um 0,5 Entgeltpunkte.

10.3.5 Staatlich geförderte zusätzliche private Altersvorsorge Wie bereits oben erwähnt, ist die Absicherung des Lebensstandards im Alter durch die Absenkung des Leistungsniveaus der gesetzlichen Rentenversicherung mittlerweile nur noch durch eine ergänzende private oder betriebliche Altersvorsorge gewährleistet. Diese ergänzenden Systeme werden seit 2001 staatlich gefördert (sog. „Riester-Rente“), wobei die Förderung je nach gewähltem System unterschiedlich ausfällt. Förderberechtigt sind alle Pflichtmitglieder der gesetzlichen Rentenversicherung84 und Beamte.85 Bei der privaten Altersvorsorge kann der Versicherte zwischen verschiedenen Altersvorsorgeprodukten86 frei wählen. Es werden jedoch nur solche Produkte gefördert, die bestimmte Mindestanforderungen erfüllen (sog. „Zertifizierungskonditionen“).87 So müssen die Auszahlungen in Form einer Leibrente erfolgen und dürfen erst mit Beginn der Altersrente oder nach dem 62. Lebensjahr des Versicherten erfolgen. Damit wird sichergestellt, dass die zusätzliche Altersvorsorge – im Gegensatz etwa zu einer Kapital-Lebensversicherung – das Risiko der Langlebigkeit abdeckt. Des Weiteren muss der Anbieter garantieren, dass in der Auszahlungsphase mindestens die eingezahlten Altersvorsorgebeiträge zuzüglich der geleisteten Zulagen ausgezahlt werden. Die staatliche Förderung erfolgt entweder über eine Zulage oder über die Gewährung eines steuerlichen Sonderausgabenabzugs.88 Neben der Grundzulage für den Versicherten wird für jedes Kind 82

Gesetz zu Änderungen im Bereich der geringfügigen Beschäftigung vom 05.12.2012. Rentenversicherungs-Leistungsverbesserungsgesetz vom 23.06.2014. 84 Von der Förderung ausgeschlossen sind freiwillig Versicherte in der GRV, geringfügig Beschäftigte, die sich von der Versicherungspflicht befreien lassen und Pflichtversicherte in berufsständischen Versorgungseinrichtungen. 85 Auch Beamte müssen Einschnitte bei der Beamtenversorgung hinnehmen und werden in Zukunft zunehmend auf eine zusätzliche Altersvorsorge angewiesen sein. 86 Im Wesentlichen sind dies Banksparpläne, Fondssparpläne und private Rentenversicherungen. 87 Geregelt durch das Gesetz über die Zertifizierung von Altersvorsorgeverträgen - Alterszertifizierungsgesetz (AltZertG) vom 26.06.2001. 88 Beim Sonderausgabenabzug kann der Versicherte seine Altersvorsorgebeiträge zuzüglich der staatlichen Zulagen steuerfrei geltend machen. Das Finanzamt prüft, ob die Förderung über Zulagen oder über den 83

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10 Das System der sozialen Sicherung

eine Kinderzulage gewährt. Um die maximale Förderung zu erhalten, ist ein „Mindesteigenbeitrag“ zu leisten, der sich am individuellen Vorjahreseinkommen ausrichtet. Die Zulage wird dem Mindesteigenbeitrag zugerechnet. Wird ein geringerer als der Mindesteigenbeitrag geleistet, verringert sich die Förderung proportional dazu. Ein höherer Beitrag als der Mindesteigenbeitrag ist möglich, dieser wird jedoch nicht zusätzlich gefördert. Um auszuschließen, dass der gesamte Eigenbeitrag aus der staatlichen Zulage besteht, ist ein Sockelbetrag durch den Versicherten zu leisten. In Tab. 10.9 sind die Konditionen der staatlichen Förderung dargestellt. Beispiel: Für ein Ehepaar mit zwei nach 2008 geborenen Kindern und einem Jahreseinkommen von 30 000 e beträgt der förderfähige Mindesteigenbeitrag 1 200 e. Hierauf entfällt eine Zulage in Höhe von 950 e (= 2 · 175 e + 2 x 300 e). Somit konnte mit einem Eigenanteil von 250 e eine Altersvorsorge in Höhe von 1 200 e angespart werden; die Förderquote beträgt in diesem Fall 79 %.

Tabelle 10.9: Staatliche Förderung der privaten Altersvorsoge (in e pro Jahr) Art Höchstbetrag Sonderausgabenabzug Grundzulage für Kalenderjahre ab 2018 für Kalenderjahre bis 2017 Kinderzulage für ab 2008 geborene Kinder für bis 2007 geborene Kinder Mindesteigenbeitrag Sockelbetrag

Förderung in Euro 2 100 175 154 300 185 4% 60

Quelle: BMAS (Hrsg.), Zusätzliche Altersvorsorge, Berlin 2018.

Bei der privaten Altersvorsorge89 besteht die Möglichkeit, das angesparte Kapital für den Erwerb einer selbstgenutzten Immobilie oder die Tilgung eines Immobiliendarlehens zu verwenden („Wohnriester“). Im Rahmen der betrieblichen Altersvorsorge sind die Wahlmöglichkeiten des Versicherten für ein bestimmtes Altersvorsorgeprodukt dadurch eingeschränkt, dass durch Beschluss des Arbeitgebers, durch eine Betriebsvereinbarung oder durch eine tarifvertragliche Regelung eine Vorentscheidung für ein bestimmtes Altersvorsorgeprodukt getroffen worden ist. Bietet der Arbeitgeber hingegen keine betriebliche Altersvorsorge an, kann der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber den Abschluss einer Direktversicherung verlangen. In diesem Fall schließt der Arbeitgeber als Versicherungsnehmer eine Lebensversicherung als Gruppenversicherung für seine Arbeitnehmer ab. Im Fall der sog. „Entgeltumwandlung“ verwendet der Arbeitgeber einen Teil des Arbeitslohns des Arbeitnehmers für die Altersvorsorge. Die Entgeltumwandlung stellt somit eine Form der Sonderausgabenabzug günstiger ist (sog. „Günstigerprüfung“). Falls die Steuerminderung über den Sonderausgabenabzug für den Versicherten höher ist als die Zulage, erstattet ihm das Finanzamt den Differenzbetrag aus Steuerminderung und Zulage. 89 Bei der betrieblichen Altersvorsorge existiert diese Möglichkeit nicht.

10.3 Einzelbereiche sozialer Sicherung in der Bundesrepublik

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investiven Lohnpolitik dar (vgl. Kap. 13.3.2). Neben der Direktversicherung kann der Arbeitgeber die betriebliche Altersvorsorge auch über eine Pensionskasse90 oder einen Pensionsfonds91 organisieren. Die Form der staatlichen Förderung hängt bei der betrieblichen Altersvorsorge vom gewählten Produkt und von der Wahlentscheidung der Versicherten ab. Der Arbeitnehmer kann eine Förderung durch Zulagen bzw. Sonderausgabenabzug wie bei der privaten Altersvorsorge in Anspruch nehmen. Bis 2020 wurden 16,4 Mio. Riesterverträge abgeschlossen. Der mit Abstand größte Teil entfiel auf Versicherungsverträge, gefolgt von Investmentfondsverträgen, Eigenheimrenten („WohnRiester“) und Banksparverträgen. Allerdings wird der Anteil der ruhend gestellten Verträge (das sind Verträge für die keine Beitragsleistungen erbracht werden), auf fast 20 % geschätzt. Des Weiteren werden ca. 20 % der abgeschlossenen Riester-Verträge unzureichend (d.h. mit weniger als 50 % der Fördersumme) bespart92 . Außerdem lässt sich nicht feststellen, in welchem Umfang die staatliche Förderung zum Aufbau einer zusätzlichen privaten Alterssicherung beiträgt.93 Denn um den Nettoeffekt der Fördermaßnahme zu quantifizieren, müsste die Zahl der geförderten Verträge um Mitnahme- und Substitutionseffekte bereinigt werden. Mitnahmeeffekte treten auf, wenn ein förderfähiges Versicherungsprodukt auch ohne staatliche Förderung nachgefragt worden wäre. Ein Substitutionseffekt liegt dann vor, wenn im Portefeuille des Versicherten Umschichtungen von nicht-förderfähigen Anlageformen in geförderte Versicherungsprodukte stattfinden. Die Riester-Rente wird aufgrund ihrer Intransparenz, der hohen Verwaltungskosten und ihrer umstrittenen Verteilungswirkungen kritisiert. Die Verzinsung einer kapitalgedeckten Alterssicherung hängt von der Höhe des Kapitalmarktzinssatzes und von der Höhe der Vertriebsund Verwaltungskosten ab, die für das Produkt zu entrichten sind. Für Riesterverträge ergeben sich Kostenquoten von bis zu 20 %, was einer Verringerung der Rendite von bis zu einem Prozentpunkt entspricht (Gasche et al. 2013). Dies reduziert die aufgrund der anhaltenden Niedrigzinsphase am Kapitalmarkt ohnehin geringen Renditen für die kapitalgedeckte Altersvorsorge zusätzlich. Des Weiteren zeigen empirische Untersuchungen,94 dass die Wahrscheinlichkeit, einen Riestervertrag abzuschließen, in hohem Maße vom Einkommen abhängt. Die staatlich geförderte private Altersvorsorge ist somit nur bedingt geeignet, die Versorgungslücke im Alter zu schließen und einer steigenden Altersarmut vorzubeugen.

90

Eine Pensionskasse ist eine versicherungsähnliche Versorgungseinrichtung unter der Trägerschaft eines oder mehrerer Unternehmen. Im Gegensatz zur Direktversicherung ist in der Pensionskasse der Arbeitnehmer selbst Versicherungsnehmer. Pensionskassen dürfen höchstens 35 % der Anlagen in Aktien investieren, so dass sowohl Anlagerisiken als auch Gewinnmöglichkeiten begrenzt sind. 91 Pensionsfonds sind rechtlich selbständige Einrichtungen, die gegen die Bezahlung von Beiträgen für einen Arbeitgeber die betriebliche Altersvorsorge durchführen. Versicherungsnehmer sind die Arbeitnehmer. Im Gegensatz zu den Pensionskassen können Pensionsfonds ihre Anlagen unbegrenzt in Aktien anlegen. Das Anlagerisiko der Versicherten wird dadurch begrenzt, dass der Arbeitgeber für die Versorgungszusage in Höhe der eingezahlten Beiträge haftet. 92 Quelle: Datenportal BMF Statistische Auswertung der Förderung 93 Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2016. 94 Z.B. Geyer 2012, Kleinlein 2011 sowie Corneo/König/Schröder 2018.

260

10 Das System der sozialen Sicherung

10.3.6 Die Beamtenversorgung Die Beamten im unmittelbaren und mittelbaren Dienst von Bund, Ländern und Gemeinden der Bundesrepublik Deutschland und ihre Angehörigen werden im Falle des Unfalls, des Alters und des Todes nach beamtenrechtlichen Vorschriften versorgt.95 Unfallfürsorge wird gewährt, wenn ein Unfall in Ausübung oder infolge des Dienstes oder auf dem Wege zur und von der Dienststelle eingetreten ist. Sie erstattet Sachschäden und die Auslagen für Heilverfahren. Wenn der Verletzte dienstunfähig geworden ist, erhält er Unfallruhegeld, das auf mindestens zwei Drittel, höchstens aber 75 % der ruhegehaltsfähigen Dienstbezüge festzusetzen ist. Im Falle des Todes erhalten die Hinterbliebenen Witwen- bzw. Witwergeld in Höhe von 60 % des Unfallruhegehaltes und Waisengeld in Höhe von 30 % des Unfallruhegehaltes für jedes Kind. Ruhegehalt wurde bislang einem Beamten in der Regel mit Vollendung des 65. Lebensjahres gezahlt,96 wenn er wenigstens 5 Jahre Beamter war. Diese Altersgrenze wird - analog zur Altersgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung - schrittweise auf das 67. Lebensjahr angehoben. Beamte haben Anspruch auf ein Ruhegehalt von 35 % der ruhegehaltsfähigen Dienstbezüge (sie entsprechen im Wesentlichen dem sog. Grundgehalt); dieser Anspruch steigt mit jedem weiteren Dienstjahr um 1,79375 % bis insgesamt maximal 71,75 % der ruhegehaltsfähigen Dienstbezüge. Das Witwer- und das Witwengeld beträgt 55 %, das Waisengeld für eine Halbwaise 12 %, für eine Vollwaise 20 % des Ruhegehalts, das der Verstorbene erhalten hat oder – im Todesfall – am Todestag erhalten hätte. Die Versorgungsbezüge der Beamten und ihrer Hinterbliebenen werden erhöht, wenn die Dienstbezüge der Beamten erhöht werden. Die Beamtenversorgung wird ausschließlich aus Steuern finanziert. Diese Beitragsfreiheit der Pensionen ist immer wieder Anlass zu Kritik, zumal die Ausgaben für Pensionen sehr stark zunehmen. Die Ausgaben für Pensionszahlungen in Bund, Ländern und Gemeinden betrugen 2015 47,9 Mrd. e. Sie werden für 2030 auf 66 Mrd. e geschätzt.97 Die Sachverständigenkommission Alterssicherungssysteme empfahl bereits in ihrem 1983 vorgelegten Gutachten98 mehrheitlich, die Beamten schrittweise an der Finanzierung ihrer Alterssicherung zu beteiligen. Dieser Vorschlag ist bis heute nicht aufgegriffen worden.

95 Gesetzliche Grundlagen der Beamtenversorgung sind: 1. das Beamtenrechtsrahmengesetz vom 01.07.1957 i. d. F. vom 31.03.1999, zuletzt geändert durch Gesetz vom 23.05.2017; 2. das Bundesbeamtengesetz (BBG) vom 05.02.2009, zuletzt geändert durch Gesetz vom 08.06.2017; 3. das Bundesbesoldungsgesetz (BBesG) vom 23.05.1975 i.d.F. vom 19.06.2009, zuletzt geändert durch Gesetz vom 23.06.2017; 4. das Beamtenversorgungsgesetz (BeamtVG) vom 24.08.1976 i.d.F. vom 24.02.2010, zuletzt geändert durch Gesetz vom 08.06.2017 und 5. die Beamtengesetze der Bundesländer. 96 Auf Antrag können Beamte unter Inkaufnahme eines Versorgungsabschlags von 3,6 % pro Jahr in den Ruhestand versetzt werden. Einzelne Beamtengruppen (Polizeibeamte und Soldaten) werden früher in den Ruhestand versetzt. 97 Fachserie 14 Reihe 6.1 des Statistischen Bundesamtes sowie 3. Versorgungsbericht der Bundesregierung, Berlin 2005. 98 Vgl. Beratergruppe 1983, S. 144 ff.

10.3 Einzelbereiche sozialer Sicherung in der Bundesrepublik

261

10.3.7 Sonstige Alterssicherungen Neben den skizzierten Alterssicherungen sind zu erwähnen: 1. die knappschaftliche RV,99 in der die im Bergbau Beschäftigten gegen Invalidität, Alter und Tod versichert sind. 2. die RV der Landwirte,100 in der alle hauptberuflich tätigen Landwirte pflichtversichert sind; 3. Alterssicherungen der kammerfähigen freien Berufe;101 freiberuflich tätige Ärzte, Steuerberater, Architekten, Rechtsanwälte und Apotheker sind, soweit sie aufgrund einer Zwangsmitgliedschaft einer öffentlich-rechtlichen Kammer angehören, in Versicherungs- und Versorgungswerken auf landesgesetzlicher Grundlage pflichtversichert. Soweit sie keiner Kammer angehören (Steuerberater, Architekten), haben sie die Möglichkeit der freiwilligen Versicherung in der RV. Alle genannten Versicherungen decken das Risiko der Berufs- und der Erwerbsunfähigkeit, des Alters und des Todes ab. Die Versorgung entspricht weitgehend der Versorgung in der RV.

10.3.8 Die Arbeitslosenversicherung (ALV) a) Einführung Der Verlust des Arbeitsplatzes ist mit erheblichen wirtschaftlichen und sozialen Einschnitten verbunden. Wie die Entwicklung der Arbeitslosenquote in Deutschland zeigt, sind von dem Problem lang anhaltender Arbeitslosigkeit auch Wirtschaftssysteme betroffen, deren Wirtschaftsund Sozialpolitik am Ziel der Vollbeschäftigung ausgerichtet ist. Insbesondere in den 1990er und Anfang der 2000er Jahre, in denen die Zahl der Arbeitslosen durchgängig über 4 Mio. lag und die Arbeitslosenquote mehrere Jahre über 10 % betrug wurde deutlich, dass die Instrumente der aktiven Arbeitsmarktpolitik nicht ausreichen, um Vollbeschäftigung zu sichern. Aber auch bei Vollbeschäftigung sind in Gesellschaften, die auf der allgemeinen Vertragsfreiheit und der Freiheit der Berufs- und Arbeitsplatzwahl beruhen, Arbeitsplatzverluste unvermeidbar. Änderungen in der Produktionstechnologie und in der Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen machen eine Freisetzung von Arbeitskräften ebenso erforderlich wie Unternehmensverlagerungen und das Ausscheiden von unrentablen Betrieben aus dem Markt. Schließlich kann Arbeitslosigkeit auch bei arbeitnehmerseitigen Kündigung eintreten. Auch in diesem Fall der „freiwilligen“ Arbeitslosigkeit ist die Gefahr längerer Arbeitslosigkeit – sog. Sucharbeitslosigkeit – gegeben. So gesehen kann es keine „Versicherung“ gegen den Eintritt von Arbeitslosigkeit geben. Das Ziel der Arbeitslosenversicherung ist es lediglich, die wirtschaftlichen Folgen der Arbeitslosigkeit 99

Die gesetzlichen Grundlagen sind im SGB VI enthalten. Die Regelungen stimmen weitgehend mit denen für die RV überein. In Bezug auf die Höhe der Beiträge, der Bundeszuschüsse und der Rentenhöhe gelten für die knappschaftliche RV Sonderregelungen (vgl. §§ 79 bis 87, 168 und 215 SGB VI). 100 Gesetzliche Grundlage ist das Gesetz über die Alterssicherung der Landwirte (ALG) vom 29.07.1994, zuletzt geändert durch Gesetz vom 17.07.2017. 101 Gesetzliche Grundlagen dieser Einrichtungen sind Ländergesetze, die wegen ihrer großen Zahl hier nicht aufgeführt werden können; vgl. dazu Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2018.

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10 Das System der sozialen Sicherung

für einen bestimmten Zeitraum abdecken. Dadurch erhält der Beschäftigte die Möglichkeit, sich während dieses Zeitraums ein seiner Qualifikation und seinen Präferenzen entsprechendes neues Beschäftigungsverhältnis zu suchen.

b) Kreis der Versicherten Versicherungspflichtig in der ALV 102 sind grundsätzlich alle Personen, die gegen Entgelt oder zu ihrer Berufsausbildung beschäftigt sind – ohne Rücksicht auf die Höhe des erzielten Arbeitseinkommens (§ 25 SGB III).103 Nicht versicherungspflichtig sind Beamte, die ja nicht von Arbeitslosigkeit bedroht sind, ferner Schüler und Studenten sowie geringfügig Beschäftigte (§ 27 SGB III). Träger der Arbeitslosenversicherung ist die Bundesagentur für Arbeit.

c) Leistungen Die Leistung der Arbeitslosenversicherung ist das Arbeitslosengeld.104 Der Bezug dieser Leistung setzt voraus, 105 1. dass der Arbeitnehmer arbeitslos ist und sich beim Arbeitsamt arbeitslos gemeldet hat; 2. er der Arbeitsvermittlung zur Verfügung steht, d. h. arbeitsfähig und arbeitswillig ist, und wenigstens 15 Stunden pro Woche arbeiten kann. Der Arbeitslose muss auch bereit sein, an zumutbaren Maßnahmen zur beruflichen Bildung und Umschulung teilzunehmen; 3. dass er die Anwartschaftszeit erfüllt. Die Anwartschaftszeit hat in der Regel erfüllt, wer in den letzten zwei Jahren vor der Arbeitslosmeldung wenigstens 12 Monate in einem versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis gestanden hat. Die Dauer des Anspruchs auf Arbeitslosengeld beträgt nach § 147 SGB III: Mit der Verabschiedung des Arbeitsförderungs-Reformgesetzes von 1997 wurden die Zumutbarkeitsregelungen für die Annahme vermittelter Arbeit spürbar verschärft. Während vorher ein Berufsschutz galt, d. h. von einem Arbeitlosen erwartet wurde, dass er bereit ist, nach jeweils 6 Monaten Arbeitslosigkeit Arbeit der nächstniedrigen von insgesamt fünf Qualifikationsstufen anzunehmen, sind diese Stufen entfallen. Nunmehr wird von Arbeitslosen erwartet, dass sie nach jeweils drei Monaten der Arbeitslosigkeit Arbeit mit Lohnminderungen von bis zu 20 % und vom vierten bis sechsten Monat Arbeit mit Lohnabschlägen bis 30 % annehmen. Vom siebten Monat an sind Arbeitslose verpflichtet jede Arbeit annehmen, deren Entgelt höher ist als das Arbeitslosengeld. Die für zumutbar gehaltene gesamte Pendelzeit beträgt 2-2,5 Stunden täglich. Das Arbeitslosengeld richtet sich nach der Höhe des beitragspflichtigen Arbeitsentgelts des Versicherten. Die Beitragsbemessungsgrenze zur ALV entspricht der Beitragsbemessungsgrenze in der GRV und betrug 2019 6 700 e in den alten und 6 150 e in den neuen Bundesländern. Von 102

Gesetzliche Grundlage der ALV ist das dritte Buch des Sozialgesetzbuchs (SGB III) vom 27. März 1997, zuletzt geändert durch Gesetz vom 17.07.2017. 103 Weitere versicherungspflichtige Gruppen sind in § 26 SGB III aufgeführt. 104 Das Arbeitslosengeld ist nicht zu verwechseln mit dem Arbeitslosengeld II. Das Arbeitslosengeld ist eine beitragsfinanzierte Versicherungsleistung, während das Arbeitslosengeld II eine steuerfinanzierte Leistung der sozialen Grundsicherung darstellt. 105 Zu den Anspruchsvoraussetzungen vgl. §§ 137-144 SGB III.

10.3 Einzelbereiche sozialer Sicherung in der Bundesrepublik

263

Tabelle 10.10: Anspruch auf Arbeitslosengeld und Vollendung des Versicherungspflicht... Lebensjahres verhältnissen mit einer Dauer von insgesamt mindestens ... Monaten

Anspruch auf Arbeitslosengeld für ... Monate

12 16 20 24 30 36 48

6 8 10 12 15 18 24

50. 55. 58.

diesem Bemessungsentgelt werden die Steuern und pauschalierte Sozialversicherungsbeiträge (2019: 20 %) abgezogen. Auf das so ermittelte pauschalierte Nettoentgelt wird der Leistungssatz angelegt. Dieser Leistungssatz beträgt grundsätzlich 60 % (allgemeiner Leistungssatz). Für Arbeitslose, die mindestens ein Kind haben, erhöht sich der Leistungssatz auf 67 % (erhöhter Leistungssatz). Zusätzlich übernimmt die Bundesagentur die Beiträge zur GKV und RV (§§ 173 und 174 SGB III). Der Anspruch auf Arbeitslosengeld entfällt je nach Lage des Falles drei bis zwölf Wochen, wenn gegen den Arbeitslosen eine Sperrzeit verhängt wurde. Sperrzeiten werden verhängt wegen Arbeitsaufgabe, Ablehnung einer zumutbaren Beschäftigung, Ablehnung oder Abbruch einer beruflichen Eingliederungsmaßnahme ober bei einer Verletzung der Meldepflicht (§ 159 SGB III.). Der Anspruch auf Arbeitslosengeld ruht auch in der Zeit, in der dem Arbeitslosen bestimmte andere Sozialleistungen (z. B. Krankengeld) zustehen (§ 156 SGB III). Durch die Gewährung von Arbeitslosengeld darf nicht in Arbeitskämpfe eingegriffen werden. Deshalb ruht für streikende oder ausgesperrte Arbeitnehmer der Anspruch auf Arbeitslosengeld (§ 160 SGB III). Nach Ausschöpfung des Anspruches auf Arbeitslosengeld erhalten Arbeitslose Arbeitslosengeld II; die diesbezüglichen Regelungen werden in Kap. 11 des Lehrbuchs (Grundsicherung für Arbeitsuchende) erläutert.

d) Organisation und Finanzierung Träger der ALV ist die Bundesagentur für Arbeit mit ihrer Hauptstelle in Nürnberg, mit 10 Regionaldirektionen (früher: Landesarbeitsämter) und 178 Agenturen für Arbeit. Der Bundesagentur ist das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) angeschlossen. Aufgabe des IAB ist es, Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt zu beobachten und die Wirksamkeit der Maßnahmen des SGB III und des SGB II zu untersuchen. Die Mittel für die Finanzierung des Arbeitslosengeldes werden durch Beiträge der beitragspflichtigen Arbeitnehmer und der Arbeitgeber aufgebracht. Der Beitragssatz beträgt (2019) 2,5 % des Bruttoarbeitsentgelts bis zur Beitragsbemessungsgrenze. Die Beitragsbemessungsgrenze entspricht der Beitragsbemessungsgrenze der GRV (§ 341 SGB III). Wenn die Rücklagen der Bundesagentur aufgebraucht sind, ist der Bund verpflichtet, an die Bundesagentur Darlehen

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10 Das System der sozialen Sicherung

und Zuschüsse zu den Kosten der ALV zu leisten (§§ 364 und 365 SGB III). Die Kosten für das Arbeitslosengeld II trägt der Bund.

e) Notwendigkeit und Probleme der Arbeitslosenversicherung Die Absicherung des Risikos der Arbeitslosigkeit gilt als typisch staatliche Aufgabe, da die wirtschaftlichen Folgen der Arbeitslosigkeit privatwirtschaftlich nicht versicherbar sind. Der Markt versagt, da die Schadensereignisse in diesem Fall statistisch voneinander abhängig sind: in der Rezession steigt das Risiko der Arbeitslosigkeit nicht nur für den einzelnen Arbeitnehmer, sondern für die Gruppe der abhängig Beschäftigten insgesamt. Diese positive Korrelation der Schadensereignisse betrifft sowohl die Risikoeintrittswahrscheinlichkeit als auch die Schadenshöhe (Dauer der Arbeitslosigkeit). Es ist somit nicht möglich, einzelnen Personen eine risikoadäquate Prämie zuzuordnen. Da die gesetzliche Arbeitslosenversicherung diese Lücke des privaten Versicherungsmarktes schließt, ist sie prinzipiell wohlfahrtssteigernd.106 Die Arbeitslosenversicherung weist aber nicht nur einzelwirtschaftlich, sondern auch gesamtwirtschaftlich positive Effekte auf. So gilt die Arbeitslosenversicherung als automatischer Konjunkturstabilisator (built-in-stabilizer). Denn bei steigendem Beschäftigungsgrade wird durch die Beiträge Kaufkraft abgeschöpft, während im Falle einer Rezession Versicherungsleistungen ausbezahlt werden. Dadurch wird die gesamtwirtschaftliche Nachfrage stabilisiert. Und schließlich gibt die Arbeitslosenversicherung dem Arbeitsuchenden die Möglichkeit, sich Zeit für die Suche nach einem neuen, seiner Qualifikation und seinen Präferenzen entsprechen Beschäftigungsverhältnis zu nehmen. Dadurch erhöht sich die matching-Effizienz am Arbeitsmarkt. Allerdings stehen diesen positiven Effekten auch negative Wirkungen gegenüber.107 So kann die Arbeitslosenversicherung ihre konjunkturstabilisierende Funktion nur dann effektiv erfüllen, wenn in Phasen mit hohem Beschäftigungsgrad Rücklagen gebildet würden, die in rezessiven Phasen zur Abdeckung der Versicherungsleistungen verwendet werden. Das ist jedoch in der Realität nicht der Fall. Tatsächlich werden in längeren Rezessionsphasen die Leistungen der ALV gekürzt und die Beitragssätze erhöht. Dies wirkt sich tendenziell krisenverschärfend aus. Des Weiteren wird kritisiert, dass die Arbeitslosenversicherung die Verweildauer in der Arbeitslosigkeit erhöht und dadurch selbst eine Ursache für die hohe und lang anhaltende Arbeitslosigkeit seien kann. Diese Kritik vernachlässigt jedoch, dass ein Anspruch auf Arbeitslosengeld voraussetzt, dass sich der Arbeitslose bei der Arbeitsagentur als arbeitsuchend meldet und der Arbeitsvermittlung zur Verfügung steht. Darüber hinaus ist es gerade die Aufgabe der Arbeitslosenversicherung, den von Arbeitslosigkeit Betroffenen eine gewisse Phase der Arbeitssuche zu ermöglichen. Diese Suchdauer ist nicht ineffizient, sofern sich dadurch die matching-Effizienz auf dem Arbeitsmarkt erhöht.

106

Zur positiven und normativen Theorie der Arbeitslosenversicherung vgl. Hopenhayn/Nicolini 1997, Eekhoff/Milleker 2000 sowie Glismann/Schrader 2005. Zur ökonomischen Theorie der Arbeitslosenversicherung vgl. insbes. Landais/Michaillat/Saez 2010 sowie die dort angegebene Literatur. 107 Zur Kritik an der ALV vgl. Albeck 1983 sowie Glismann/Schrader 2005.

10.4 Weiterer Reformbedarf im System sozialer Sicherung

265

10.4 Weiterer Reformbedarf im System sozialer Sicherung Neben der Notwendigkeit, das System sozialer Sicherung an den demografischen Wandel und die Globalisierung anzupassen, besteht der im Folgenden dargestellte Reformbedarf. Ein Problem besteht in der fehlenden Transparenz über die Sozialleistungsarten und über die Zuständigkeiten der Einrichtungen der sozialen Sicherung. Die einschlägigen sozialpolitischen Gesetze sind so zahlreich und die Anspruchsvoraussetzungen sind so komplex, dass die Leistungsberechtigten vielfach nicht in der Lage sind, die einschlägigen Normen zu übersehen und ihre Rechte geltend zu machen. Angesichts der Bedeutung sozialer Leistungen für die Lebensbedingungen und die Lebensplanung der Versicherten ist dies ein gravierender Mangel. Eng verbunden mit der Unübersichtlichkeit des Leistungsrechtes ist die Problematik, die sich aus der Trägervielfalt ergibt. Durch die Vielzahl der Träger und auf Grund von möglicher Kompetenzüberschneidungen108 wird die Unübersichtlichkeit des Systems für die Versicherten erhöht. Diese Trägervielfalt ist eine Konsequenz des in der Bundesrepublik noch dominierenden Kausalprinzips, das zu einer Ungleichbehandlung gleicher Tatbestände in Bezug auf die Leistungsvoraussetzungen, die Berechnungsverfahren und die Höhe der Leistungen führt.109 Noch stärker fällt jedoch ins Gewicht, dass das Sozialleistungssystem der Bundesrepublik nach wie vor schichtenorientiert ist. Die Schichtenorientierung zeigt sich darin, dass das System sozialer Sicherung sowohl auf der Beitragsseite als auch insbes. auf der Leistungsseite zwischen Beamten, Arbeitnehmern in der gewerblichen Wirtschaft und Bergarbeitern, Handwerkern, Landwirten und anderen Selbständigen differenziert, während die Aufgaben sozialer Sicherung nicht mehr schichtenspezifisch, nicht einmal mehr arbeitnehmergebunden sind. Als weiteres Problem wird die Tatsache angesehen, dass die Ansprüche an das soziale Sicherungssystem ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis oder freiwillige Beitragszahlungen voraussetzt. In dieser „Verklammerung von Beschäftigungssystemen und sozialer Sicherung“, der sog. erwerbszentrierten Sozialpolitik, wird ein Konstruktionsmangel des Systems sozialer Sicherung gesehen, da sie zur sozialen Ausgrenzung bestimmter Gruppen wie z.B. der nicht erwerbstätigen Erziehungs- und Pflegepersonen, Langzeitarbeitsloser oder Personen mit unterbrochenen Erwerbsbiografien führe (vgl. dazu Heinze/Hombach/Scherf 1988 und Vobruba 1990). Diese Kritik wurde Anfang der 2000er Jahre durch die These von der „Erosion des Normalarbeitsverhältnisses“ verstärkt. Darunter versteht man die Verdrängung der kontinuierlichen, abhängigen Vollzeitbeschäftigung durch neue Beschäftigungsformen, die durch Diskontinuitäten im Erwerbsverlauf, einen Wechsel zwischen Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigung und zwischen selbständiger und abhängiger Beschäftigung gekennzeichnet sind (vgl. Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Bayern und Sachsen 1998). Hieraus erwuchs die Forderung, allo-

108

Ein Beispiel soll diesen Sachverhalt verdeutlichen. Im Falle des Eintritts vorzeitiger Erwerbsbehinderung durch einen Arbeitsunfall sind zuständig: die Krankenversicherung, die von der 7. Woche an Krankengeld gewährt; die Rentenversicherung, die für Heilkuren zuständig ist; die gesetzliche Unfallversicherung, die den Schaden endgültig reguliert sowie die Bundesagentur für Arbeit, die die berufliche Rehabilitation übernimmt. 109 So unterscheiden sich beispielsweise die Witwenrenten in der Kriegsopferversorgung von den Witwenrenten in den Rentenversicherungen. Ein Erwerbsunfähiger erhält unterschiedliche Leistungen, je nachdem, ob die Erwerbsunfähigkeit durch einen Arbeitsunfall (Entschädigung durch die Unfallversicherung), oder durch einen Freizeitunfall (Regulierung durch die Rentenversicherung) oder durch Kriegseinwirkungen (Entschädigung nach dem Bundesversorgungsgesetz) verursacht ist.

266

10 Das System der sozialen Sicherung

kative Flexibilität auf den Arbeitsmärkten mit sozialer Sicherheit für alle Gesellschaftsmitglieder zu verbinden (Flexicurity).110 Tatsächlich kann die Bindung der Leistungen sozialer Sicherung i. e. S. an ein Beschäftigungsverhältnis und an die Höhe des Arbeitseinkommens die Lebenslage bestimmter Personengruppen beeinträchtigen und bestimmte Gruppen aus der Sozialversicherung ausgrenzen (nicht oder nur begrenzt Erwerbstätige, Behinderte, chronisch Kranke, Leistungsschwache, Langzeitarbeitslose). Allerdings ist eine „Erosion des Normalarbeitsverhältnisses“ empirisch nicht feststellbar; erkennbar ist lediglich eine trendmäßige Zunahme der Teilzeitbeschäftigung bei (annähernder) Konstanz der Vollzeitarbeitsplätze (vgl. Althammer 2002). Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass nicht generell von einer „lohnarbeitszentrierten Sozialpolitik“ (Vobruba 1990) die Rede sein kann: so sind bestimmte Maßnahmen der Sozialpolitik wie die Leistungen im Rahmen der Familienpolitik, der Wohnungspolitik, der sozialen Grundsicherung, ein beachtlicher Teil der Leistungen der UV, der GKV, der Vermögenspolitik, eine Reihe von Leistungen der GRV und der ALV nicht an ein Beschäftigungsverhältnis gebunden. Beachtung verdient auch, dass der Gesetzgeber in den letzten Jahren – jedenfalls teilweise – auf die Unterversorgung bestimmter Gruppen, z. B. von Erziehungs- und Pflegepersonen, bereits reagiert hat. Die im Zusammenhang mit der Orientierung bestimmter Sozialversicherungsleistungen am Arbeitsverhältnis auftretenden Probleme (u.a. eine Unterversorgung im Alter, eine unzureichende soziale Sicherung nicht oder nur eingeschränkt tätiger Frauen und die Verarmung von Langzeitarbeitlosen) bedürfen ohne Zweifel einer Lösung, nicht notwendig jedoch durch Reformen der Konstruktionsprinzipien der Sozialversicherung, sondern durch Verbesserungen des Systems (z. B. Abmilderung des Äquivalenz- und Verstärkung des Solidaritätsprinzips) und Ergänzungen der Sozialversicherung durch ein leistungsfähiges und auf sicheren finanziellen Grundlagen stehendes System sozialer Mindestsicherung. Ein weiterer Kritikpunkt betrifft schließlich den Aufgabenkatalog der Sozialversicherung. In diesem Zusammenhang wird kritisiert, dass die Sozialversicherung nicht nur eine risikoabsichernde Funktion wahrnimmt, sondern auch vielfältige verteilungs- und familienpolitische Leistungen erbringt, die sachadäquat über das Steuer-Transfersystem zu regeln wären (vgl. z. B. Sachverständigenrat 2000). Eine vollständige Auslagerung aller verteilungs- und familienpolitischen Leistungen aus dem Katalog der Sozialversicherung würde jedoch bedeuten, die Sozialversicherung – ebenso wie eine Privatversicherung – nach dem Prinzip der Individualäquivalenz umzugestalten; die Sozialversicherung verlöre damit ihren spezifisch sozialpolitischen Charakter. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass in diesem Fall verteilungs- und familienpolitische Leistungen nicht mehr institutionell abgesichert sind, sondern aus Mitteln des öffentlichen Haushalts finanziert werden müssen.111

110

Zur These der Erosion des Normalarbeitsverhältnisses vgl. Kress 1998 sowie die dort angegebene Literatur. Zum Konzept der Flexicurity siehe Keller/Seifert 2008. 111 Vgl. dazu die ausführliche Darstellung der Problematik von Lampert 1995.

10.4 Weiterer Reformbedarf im System sozialer Sicherung

267

Literatur 1. Monographien und Aufsätze a) Allgemein, zu mehreren Elementen der Sozialversicherung Andel 1998 (insbes. Teil III) – Bohnet 1994 – Brück 1981 – Farny 1988 – Frerich 1996 – Kleinhenz 1988a; Kleinhenz 1988b – Külp 1988 – Liefmann-Keil 1961 – Preller 1970 (2. Halbbd., Viertes Buch) – Rüber 2006 – Schulin 1999 – Zerche/Gründger 1996 – Zweifel/Eisen 2012 b) Zur GKV Breyer/Zweifel/Kifmann 2013 – Schulenburg/Greiner 2013 – Zerche 1988 c) Zur UV Waltermann 2016, insbes. § 10 – Schulin 1999 d) Zur RV Breyer 1990; Breyer/Ulrich 2000 – Döring 2002 – Nitsche 1986 – Schmähl 1988a; Schmähl 1988b; Schmähl 1990; Schmähl 1997 e) Zur ALV Krüsselberg 1988 f) Zur Pflegeversicherung Thiede 1990 – Rothgang 1997 – Meier 1998 – Eisen/Mager 1999 – Dietz 2002 – Rothgang 2009 – Buttler 1985 – Rückert 1989 – Schulz-Nieswandt 1990 – Thiede 1990 (Lit.)

2. Laufende Materialquellen und Periodika a) Allgemein Betriebliche Altersversorgung, Heidelberg 1955 ff. Blätter für Steuerrecht, Sozialversicherung und Arbeitsrecht, Neuwied 1947 ff. Bundesarbeitsblatt, Stuttgart 1950 ff. Entscheidungen des Bundessozialgerichts, Köln und Berlin 1955 ff. (abrufbar unter http://www. bundessozialgericht.de/) Die Rehabilitation, Zeitschrift für alle Fragen der medizinischen, schulisch-beruflichen und sozialen Eingliederung, Stuttgart 1961 ff. Soziale Sicherheit, Köln 1952 ff. Stat. BA, Fachserie 14: Finanzen und Steuern, Reihe 3.5: Soziale Sicherung Vierteljahresschrift für Sozialrecht, Köln u.a. 1973 ff. Zeitschrift für das Versicherungswesen, Hamburg 1950 ff. Zeitschrift für die gesamte Versicherungswissenschaft, Berlin 1901 ff. Zentralblatt für Sozialversicherung, Sozialhilfe und Versorgung, Düsseldorf 1954 ff. b) Zur GKV Die Betriebskrankenkasse, Essen 1913 ff.

268

10 Das System der sozialen Sicherung

Die Ersatzkasse, Hamburg 1921 ff. Das Krankenhaus, Stuttgart/Köln 1905 ff. Die Krankenversicherung, Berlin 1949 ff. Die Ortskrankenkasse, Bonn-Bad Godesberg 1919 ff. Stat. BA, Fachserie 12: Gesundheitswesen c) Zur gesetzlichen UV Die Berufsgenossenschaft, Berlin 1949 ff. d) Zur RV RVaktuell, Berlin 2005 ff. e) Zur ALV ANBA - Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Nürnberg 1953 ff. Zeitschrift für Arbeitsmarktforschung (ehem: Mitteilungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung), Nürnberg 1967 ff.

Kapitel 11

Soziale Grundsicherung

11.1 Definition, Notwendigkeit und generelles Ziel Die soziale Grundsicherung ist das letzte Auffangnetz des deutschen Sozialstaats. Anspruch auf Leistungen der sozialen Grundsicherung haben Personen, die nicht in der Lage sind, einen gesellschaftlich für notwendig erachteten Lebensstandard aus eigenem Einkommen, Vermögen oder Ansprüchen gegen Dritte (insbes. gegen Angehörige oder die Sozialversicherung) zu bestreiten. Gesetzliche Grundlagen1 der sozialen Grundsicherung sind das Sozialhilfegesetz (SGB XII), die Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II), das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) sowie die Kriegsopferfürsorge.2 Das generelle Ziel der sozialen Grundsicherung ist es, den Empfängern der Hilfe eine Lebensführung zu ermöglichen, die der Würde des Menschen entspricht (vgl. § 1 SGB II und § 1 SGB XII). Die Hilfe soll sie so weit wie möglich befähigen, unabhängig von ihr zu leben; hierbei müssen sie nach ihren Kräften mitwirken. Dieser Grundsatz des „Förderns und Forderns“ ist ein konstitutives Element der sozialen Grundsicherung in Deutschland. Die Notwendigkeit einer sozialen Grundsicherung ergibt sich aus zwei Tatsachen: 1. Art. 1 GG i. V. m. Art. 20 GG konstituiert ein soziales Anspruchsrecht auf die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Das Sozialstaatsgebot (Art. 20 GG) verpflichtet den Gesetzgeber, dieses Existenzminimum für alle Gesellschaftsmitglieder zu sichern.3 2. Die Notwendigkeit der Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung ergibt sich auch daraus, dass individuelle Not größeren Ausmaßes eine Gefährdung des sozialen Friedens dar1

Bis 2005 war die soziale Grundsicherung sowohl für erwerbsfähige wie auch für nicht erwerbsfähige Hilfeempfänger durch das Bundessozialhilfegesetz (BSHG) geregelt. Im Zuge der sog. „Hartz-Reformen“ wurden die Fürsorgeleistungen für erwerbsfähige Hilfeempfänger in der Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) neu gefasst und das Sozialhilfegesetz (SGB XII) eingeführt. Zum Vergleich von BSHG und SGB II siehe Koch/Kupka/Steinke 2009. 2 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII – Sozialhilfe) vom 27.12.2003, zul. geändert am 14.12.2019; Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II – Grundsicherung für Arbeitsuchende) vom 24.12.2003, zul. geändert am 14.12.2019; Asylbewerberleistungsgesetz vom 30.06.1993, zul. geändert am 20.11.2019; Bundesversorgungsgesetz vom 22.01.1982 zul. geändert am 12.12.2019. 3 Vgl. hierzu das einschlägige Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 18.07.2012, BVerfG, 1 BvL 10/10 v. 18.07.2012.

269

© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2021 J. Althammer et al., Lehrbuch der Sozialpolitik, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56258-1_11

270

11 Soziale Grundsicherung

stellt und den Bestand der staatlichen Ordnung gefährden kann. Nicht zuletzt deshalb gehört die Bekämpfung der Armut zu den klassischen Staatsaufgaben (Deufel 1988). Die Tabelle 11.1 zeigt die Anzahl der Leistungsempfänger und die Aufwendungen für die soziale Grundsicherung im Jahr 2016. Aus dieser Tabelle geht hervor, dass der überwiegende Anteil der Ausgaben auf Arbeitsuchende und deren Angehörige (SGB II) sowie auf die Eingliederungshilfe für behinderte Menschen (SGB XII Buch 6) entfällt. Die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsunfähigkeit spielt demgegenüber derzeit quantitativ noch eine untergeordnete Rolle. Aufgrund der Leistungseinschränkungen in der gesetzlichen Alterssicherung und der unterschiedlichen Dynamisierung von Renten einerseits und Grundsicherungsleistungen andererseits ist jedoch davon auszugehen, dass bei unveränderter Rechtslage die Altersarmut deutlich ansteigen wird. Anhand von ökonomischen Simulationen berechnen Haan et al. 2017 eine Steigung der Altersarmut von 16% in 2015-20 auf 20% in 2031-36 bei normaler Entwicklung des Arbeitsmarktes. Tabelle 11.1: Empfänger von Leistungen der sozialen Grundsicherung 2016 Leistungsart

Leistungen nach dem SGB II Arbeitslosengeld II Sozialgeld Wohnkosten Sozialhilfe nach SGB XII Hilfe zum Lebensunterhalt Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung Hilfen zur Gesundheit Eingliederungshilfe für behinderte Menschen Hilfe zur Pflege Hilfe z.Üb. bes.soz. Schwierigk. u. in and. Lebenslagen Regelleistungen nach AsylbLG

Empfänger (in Tsd; Jahresendwerte) männl. weibl.

insg.

Ausgaben (jährlich) in Mrd. e

2 134

2 177

4 312 1 613

86

75

161

13,49 0,77 14,24 29,01 1,43

500 21 97

526 28 70

1 026 48 167

6,07 0,76 16,47

50

67

118

3,80

8 479

8 249

15 728

0,48 9,42

Quelle: Statistisches Bundesamt: Reihen: Statistik d. Ausgaben u. Einnahmen der Sozialhilfe (Code 22111); Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (Code 22151); Empfänger von Asylbewerberregelleistungen (Code 22221).

11.2 Empfängergruppen, Prinzipien und Instrumente der sozialen Grundsicherung

271

11.2 Empfängergruppen, Prinzipien und Instrumente der sozialen Grundsicherung 11.2.1 Prinzipien der sozialen Grundsicherung Gestaltungsprinzipien der Grundsicherung sind das Subsidiaritätsprinzip, das Bedarfsdeckungsprinzip und der Grundsatz der Individualisierung der Hilfe (vgl. dazu Rothkegel 2000, S. 259 ff.). Subsidiarität bedeutet, dass Sozialhilfe erhält, • wer sich nicht selbst helfen kann – also bedürftig ist –, und • wer die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen erhält (§ 2 SGB XII). Der Hilfeempfänger ist zunächst verpflichtet, alles in seinen Kräften Stehende zu tun, um seinen Lebensunterhalt unabhängig von der Fürsorgeleistung zu bestreiten. Deshalb wird vor der Mittelvergabe eine umfassende Prüfung der Einkommens- und Vermögensverhältnisse vorgenommen. Diese Bedürftigkeitsprüfung umfasst alle Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft, also neben dem Hilfeempfänger auch Ehepartner, Partner einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft sowie weitere unterhaltspflichtige Personen (geschiedene Partner, Eltern und Kinder). Vorhandenes Vermögen muss grundsätzlich eingesetzt werden, sofern es bestimmte Freigrenzen übersteigt (Schonvermögen). Diese Freigrenzen unterscheiden sich zwischen den verschiedenen Fürsorgeleistungen (vgl. § 90 SGB XII und § 12 SGB II). Nach dem Bedarfsdeckungsprinzip soll die Grundsicherung das soziokulturelle Existenzminimum abdecken. „Soziokulturelles“ Existenzminimum bedeutet, dass die Leistungen nicht nur die physische Existenz absichern (Nahrung, Kleidung und Wohnung sowie medizinische Notversorgung), sondern auch ein „Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben“ (BVerfG, 1 BvL 01/09) gewährleisten müssen. Bei der Bemessung des Regelbedarfs hat der Gesetzgeber einen gewissen Ermessenspielraum; die Leistungen müssen jedoch realitätsgerecht sein und sich an den bestehenden Lebensbedingungen orientieren. Individualisierung der Hilfe bedeutet, dass die Leistungen nach den Besonderheiten des Einzelfalles, insbesondere nach der Art des Bedarfs und den örtlichen Verhältnissen, gewährt werden (vgl. § 9 Abs. 1 SGB XII). Auf die Leistungen der Grundsicherung besteht für Hilfsbedürftige, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich des SGB XII haben, ein Rechtsanspruch dem Grunde, nicht der Art und der Höhe nach. Über die Art der Hilfe ist von den Sozialhilfebehörden nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden (§ 17 Abs. 2 SGB XII). Die Leistungen zum Lebensunterhalt werden nach sogenannten Regelbedarfsstufen gewährt. Die zum 01.01.2020 geltenden Regelsätze4 sind der Tabelle 11.2 zu entnehmen. Personen, welche die Altersgrenze erreicht haben, voll Erwerbsgeminderten sowie werdenden Müttern wird ein Mehrbedarf in Höhe von 17 % des Regelsatzes zuerkannt. Alleinerziehende

4

Bis 2011 wurden die Regelsätze für Kinder als Prozentsatz des Regelbedarfs eines alleinstehenden Erwachsenen berechnet (sog. „abgeleitete“ Regelsätze). Dies sowie die intransparente Ermittlung der Bedarfssätze wurde vom Bundesverfassungsgericht in einem wegweisenden Urteil vom 09.02.2010 (BVerfG, 1 BvL 1/09, Rn 1-220 v. 09.02.2010) als verfassungswidrig verworfen. Seither werden die Bedarfssätze für Kinder eigenständig ermittelt.

272

11 Soziale Grundsicherung

Tabelle 11.2: Regelbedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts (2020) Personenkreis Volljähriger Alleinstehender Volljähriger Partner Volljährige in Einrichtungen (SGB XII), 18 bis 24-Jährige im Elternhaus (SGB II) Kinder 14 bis 17 Jahre 6 bis 13 Jahre 0 bis 5 Jahre

Regelbedarfstufe

Regelsatz in e

1 2

432 389

3

345

4 5 6

328 308 250

erhalten einen Mehrbedarf in Höhe von mindestens 36 % (§ 21 SGB II und § 30 SGB XII). Zusätzlich zu den Regelleistungen werden die tatsächlichen Aufwendungen für die Wohnung und die Heizung übernommen, sofern diese angemessen sind. Schließlich haben alle Kinder und Jugendliche im Niedrigeinkommensbereich5 Anspruch auf die Leistungen des Bildungs- und Teilhabepakets. Diese Leistungen umfassen für Schülerinnen und Schüler 100 e als pauschale Geldleistung pro Jahr sowie Leistungen für Klassenfahrten, Mittagsverpflegung sowie außerschulischen Sportund Musikunterricht. Somit hatt ein Paar mit zwei Kindern im Alter von vier und sieben Jahren 2020 einen Regelbedarf in Höhe von 1 336 e. Hinzu kommen 100 e für das Bildungspaket, etwa 622 e für die Kaltmiete sowie 101 e für die Heizung.6 Insgesamt ergibt sich somit ein Anspruch in Höhe von 2 159 e. Eine alleinerziehende Mutter kann unter den gleichen Umständen einen Regelbedarf für sich und ihre Kinder in Höhe von 990 e geltend machen. Zusammen mit den Leistungen des Bildungspakets sowie den Kosten für Kaltmiete (474 e) und Heizung (85 e) ergibt sich ein Leistungsanspruch in Höhe von 1 649 e.

Bezieher von Arbeitslosengeld II sind in der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung pflichtversichert. Sozialhilfeempfänger sind zwar nicht reguläre Mitglieder der GKV, werden aber über die gesetzlichen Krankenkassen organisatorisch betreut. Die Regelsätze werden nach dem „modifizierten Statistikmodell“ festgesetzt (vgl. hierzu Abschnitt 11.3). Die einmaligen Leistungen zum Lebensunterhalt sind weitgehend pauschaliert im Regelsatz berücksichtigt und werden nur noch in Ausnahmefällen – wie z.B. bei Schwangerschaft und der Geburt eines Kindes – übernommen (§ 31 SGB XII).

5

Zum Niedrigeinkommensbereich zählen alle Haushalte, die Mindestsicherungsleistungen nach SGB II oder SGB XII, Wohngeld oder Kinderzuschlag beziehen. 6 Die Werte für Unterkunft und Heizung sind dem Bericht über die Höhe des steuerfrei zu stellenden Existenzminimums von Erwachsenen und Kindern für das Jahr 2020 (12. Existenzminimumbericht) entnommen und stellen somit Untergrenzen für diese Aufwendungen dar.

11.2 Empfängergruppen, Prinzipien und Instrumente der sozialen Grundsicherung

273

Warenkorb- vs. Statistikmodell Ursprünglich wurden die Regelsätze zur Sozialhilfe nach dem sog. „Warenkorbmodell“ bemessen. Dabei wurden regelsatzrelevante Güter und Dienstleistungen des täglichen Bedarfs von einer Expertengruppe zusammengestellt und mit Marktpreisen bewertet; aus diesen Angaben wurde anschließend die Höhe des Regelsatzes ermittelt. Es hat sich jedoch gezeigt, dass die Sozialhilferegelsätze langfristig hinter dem durchschnittlichen Einkommensanstieg zurückblieben und somit die Gefahr bestand, dass die Hilfeempfänger von der gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen werden. Um die Regelsätze nicht-diskretionär an die Entwicklung des gesellschaftlichen Wohlstands anzupassen, wird seit 1990 das sog. „Statistikmodell“ angewendet. Dabei werden die im Rahmen der in Fünfjahresabständen erfolgenden Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) ermittelten Verbrauchsausgaben einer Referenzgruppe nach einem statistischen Verfahren ermittelt, gegebenenfalls mit Abschlägen versehen und gewichtet. Aus diesen Angaben werden die Regelsätze zur Grundsicherung errechnet. In den Jahren, in denen keine Neubemessung der Regelsätze erfolgt, werden die Regelsatzstufen anhand eines Mischindex fortgeschrieben, der sich zu 70 % aus der Preisentwicklung für regelbedarfsrelevante Güter und Dienstleistungen und zu 30 % aus der Entwicklung der Nettolöhne und -gehälter der Beschäftigten ergibt (§ 28a SGB II). Ein grundlegendes Problem der Regelsatzberechnung stellen die diskretionären Eingriffe des Gesetzgebers in die Berechnung der Leistungshöhe und in die Anpassung der Regelsätze dar. Da die Konsumausgaben nicht unmittelbar aus der Verbrauchsstatistik übernommen werden, sondern um sog. „nicht-regelbedarfsrelevante Ausgaben“ gekürzt werden, spricht man von einem “modifizierten Statistikmodell”. Diese Modifikationen sind nach dem Urteil des BVerfG vom 09.02.2010 zulässig, allerdings müssen die Abschläge und Gewichtungen nach einem transparenten und nachvollziehbaren Verfahren vorgenommen werden (BVerfG, 1 BvL 1/09, Rn 170f.).

11.2.2 Grundsicherung für Arbeitsuchende Die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende setzen sich zusammen aus dem Arbeitslosengeld II (ALG II) und dem Sozialgeld. ALG II erhalten erwerbsfähige Personen, die das 15. Lebensjahr vollendet und die Regelaltersgrenze noch nicht erreicht haben. Nicht erwerbsfähige Familienangehörige erhalten die Leistungen als Sozialgeld. Als erwerbsfähig gelten alle Personen, die nicht wegen Krankheit oder Behinderung außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Der Hilfeempfänger hat jede zumutbare Arbeit anzunehmen. Als unzumutbar gilt eine Arbeit, wenn z.B. durch die Ausübung der Tätigkeit die Kindererziehung oder die Pflege eines Angehörigen gefährdet würde. Als Leistungsarten sieht das SGB II neben den Geldleistungen auch soziale Dienstleistungen vor. Diese Leistungen umfassen Information, Beratung und eine umfassende Unterstützung des Leistungsempfängers mit dem Ziel, den Hilfebedürftigen in das Erwerbsleben einzugliedern. Lehnt der Hilfeempfänger eine zumutbare Arbeit oder eine Eingliederungsmaßnahme ab, so ist das ALG II um 30 % zu kürzen (§ 31a SGB II). Um die Bereitschaft zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zu erhöhen, werden vom Einkommen aus Erwerbstätigkeit bestimmte Beträge von der Einkommensanrechnung ausgenommen 6

Ursprünglich wurden hierzu die untersten 20 % der nach ihrem Einkommen geschichteten Alleinstehendenhaushalte (das unterste Quintil) ohne Empfänger von Grundsicherungsleistungen herangezogen. Aktuell werden bei Familienhaushalten die untersten 15 % als Referenzgruppe verwendet.

274

11 Soziale Grundsicherung

(§ 11b SGB II). So bleiben pro Monat grundsätzlich 100 e anrechnungsfrei. Weiterhin anrechnungsfrei sind • 20 % des Teils des Nettoeinkommens, das 100 e übersteigt und nicht mehr als 1 000 e beträgt und • zusätzlich 10 % des Teils des Nettoeinkommens, das 1 000 e übersteigt und nicht mehr als 1 200 e beträgt. Von den 4,3 Mio. erwerbsfähigen Hilfebedürftigen waren im Jahr 2016 etwa 27,5 % (1,2 Mio. Personen) erwerbstätig. Davon waren 34 % (403 Tsd. Personen) geringfügig beschäftigt und 48,5 % (576 Tsd. Personen) sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Etwa 9 % (105 Tsd.) der ALG II Bezieher sind selbständig erwerbstätig. Bei weiteren 9 % liegt keine Beschäftigungsmeldung vor.7 Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende sind die Bundesagentur für Arbeit und die kreisfreien Städte und Kreise. Die Leistungsbezieher werden von der Bundesagentur für Arbeit renten-, kranken- und pflegeversichert.

11.2.3 Sozialhilfe Die Sozialhilfe nach SGB XII umfasst folgende Maßnahmen: 1. die Hilfen zum Lebensunterhalt außerhalb von Einrichtungen („originäre Sozialhilfe“), 2. die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsunfähigkeit (Kapitel vier SGB XII) sowie 3. die besonderen Leistungen (Kapitel fünf bis neun SGB XII). Die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsunfähigkeit 8 richtet sich an Personen, welche die Regelaltersgrenze des § 35 SGB VI überschritten haben bzw. an Personen, die das 18. Lebensjahr vollendet haben und dauerhaft voll erwerbsgemindert sind.9 Die Leistungen der bedarfsorientierten Grundsicherung umfassen • den für den Antragsteller maßgeblichen Regelsatz des SGB XII sowie • angemessene Aufwendungen für Unterkunft und Heizung. Eigenes Einkommen des Antragstellers sowie des nicht dauerhaft getrennt lebenden Ehegatten oder des Partners einer eheähnlichen Lebensgemeinschaft werden auf den Leistungsanspruch vollständig angerechnet. Vermögen ist vor dem Leistungsbezug einzusetzen, sofern es die jeweilige Schongrenze übersteigt. Das Schonvermögen beträgt seit 2017 bei der Hilfe zum Lebensunterhalt 5 000 e, sowie 500 e für jede weitere Person der Bedarfsgemeinschaft. Auf das Einkommen oder Vermögen unterhaltspflichtiger Eltern oder Kinder des Hilfeempfängers wird 7

Quelle: Bundesagentur für Arbeit: Erwerbstätige erwerbsfähige Leistungsberechtigte (Monats- und Jahreszahlen), September 2017. 8 Diese Bestimmungen wurden ursprünglich durch das am 01.01.2003 in Kraft getretene Grundsicherungsgesetz (GSiG) geregelt und mit Inkrafttreten des SGB XII als viertes Kapitel in das SGB XII integriert. 9 Als dauerhaft voll erwerbsgemindert gelten Personen, die außer Stande sind, eine Erwerbstätigkeit von mindestens drei Stunden täglich auszuüben (vgl. § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI) und deren Erwerbsminderung voraussichtlich nicht behoben werden kann. Die Lage auf dem Arbeitsmarkt ist bei der Beurteilung der Erwerbsminderung unerheblich.

11.2 Empfängergruppen, Prinzipien und Instrumente der sozialen Grundsicherung

275

hingegen nur zurückgegriffen, wenn deren jährliches Grundeinkommen 100 000 e übersteigt (§ 94 Ia SGB XII). Durch diese – für das Fürsorgerecht äußerst großzügige – Freibetragsregelung soll verhindert werden, dass insbesondere ältere Hilfebedürftige darauf verzichten, ihren Anspruch auf Sozialhilfe geltend zu machen, da sie befürchten, dass ihre Kinder zu Unterhaltsleistungen herangezogen werden. Diese Regelung dient also der Bekämpfung der sog. „verdeckten Armut“. Als besondere Hilfen sind im SGB XII Hilfen zur Gesundheit, Eingliederungshilfe für behinderte Menschen, Hilfe zur Pflege und Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten vorgesehen.

11.2.4 Soziale Sicherung für Asylbewerber Seit 1993 haben Asylbewerber Anspruch auf Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz 10 . Die Grundleistungen umfassen • den Bedarf an Ernährung, Unterkunft und Heizung, Gesundheitspflege und Verbrauchsgüter (notwendiger Bedarf) sowie • den Bedarf zur Deckung persönlicher Bedürfnisse des täglichen Lebens (notwendiger persönlicher Bedarf). Verglichen mit der sozialen Grundsicherung sieht das Asylbewerberleistungsgesetz deutlich geminderte Leistungen vor (vgl. Tabelle 11.3). Tabelle 11.3: Geldleistungen gem. §3a AsylbLG pro Monat in Euro (2021) Bedarfsstufe

Notwendiger Bedarf

Notwendiger persönlicher Bedarf

Gesamter Bedarf

1 2 3

Alleinstehende Partner (pro Person) weitere erwachsene Person

162 146 130

202 182 162

364 328 292

4 5 6

Kinder 14-17 Jahre 6-13 Jahre 0-5 Jahre

110 108 104

213 162 143

323 270 247

Diese Geldleistungen werden entsprechend der Fortschreibung der Regelbedarfe (§28a SGB XII) angepasst.11

10

Vgl. Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) vom 30.06.1993, zul. geändert durch Gesetz v. 21.12.2020. Zuvor hatten Asylbewerber Anspruch auf Leistungen nach dem BSHG. 11 Ursprünglich waren die Leistungen des AsylbLG nicht dynamisiert. Dadurch sank der Realwert dieser Leistungen spürbar ab. Dies wurde im Jahr 2012 vom Bundesverfassungsgericht als unvereinbar mit der Menschenwürde und somit als verfassungswidrig verworfen (BVerfG, 1 BvL 10/10 v. 18.7.2012.).

276

11 Soziale Grundsicherung

Bei einer Unterbringung innerhalb von Aufnahmeeinrichtungen soll der notwendige Bedarf durch Sachleistungen gedeckt werden. Darüber hinaus haben Asylbewerber einen Anspruch auf medizinisch notwendige Leistungen. Tabelle 11.4: Empfänger und Leistungsausgaben nach dem Asylbewerberleistungsgesetz Empfänger (in Tsd.) männl. weibl. 1995 2000 2005 2010 2015 2018

288 204 123 77 656 264

201 147 88 54 319 147

Ausgaben (in Mio. e) insg. außerhalb von in Insgesamt Einrichtungen 489 352 211 130 975 411

2 050 1 347 890 567 2 549 2 329

789 598 362 248 2 746 2 538

2 854 1 945 1 252 815 5 295 4 867

Quelle: Statistisches Bundesamt, Reihen: Empfänger von Regelleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (Code 22221-0001), Bruttoausgaben nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (Code 22211-0001), Stand: Nov.2019.

Wie die Tabelle 11.4 zeigt, waren die Anzahl der Hilfeempfänger und die Gesamtausgaben für die Leistungen nach dem AsylbLG von 1995 bis 2015 deutlich rückläufig. Während im Jahr 1995 noch etwa 490 Tsd. Personen die Leistungen bezogen, waren es Ende 2010 nur noch 130 Tsd. Anspruchsberechtigte. Die Gesamtausgaben sanken im gleichen Zeitraum von 2,9 Mrd. e auf 0,82 Mrd. e. Seit diesem Zeitpunkt steigen die Werte aber aufgrund der hohen Fluchtmigration stark an. So waren Ende 2015, 975 Tsd. Personen anspruchsberechtigt und es entstanden in diesem Jahr Kosten von 5,3 Mrd. e. Die Werte sind seitdem wieder rückgängig. Ende 2018 waren nur noch 411 Tsd. Personen Empfänger von Regelleistungen nach dem AsylbLG. Es fielen aber in dem gesamten Jahr noch Kosten von 4,9 Mrd. e an.

11.3 Probleme Als zentrale Probleme der sozialen Grundsicherung werden die negativen Arbeitsangebotseffekte, die unzureichende Leistungshöhe und das Problem der verdeckten Armut angesehen. Negative Arbeitsangebotseffekte ergeben sich insbesondere aus dem Prinzip der Nachrangigkeit der Hilfe (Subsidiaritätsprinzip). Nach diesem Prinzip sind grundsätzlich alle Einkünfte – auch die Erwerbseinkommen – auf die Transferleistung anzurechnen. Dies kann dazu führen, dass Sozialhilfeempfänger keinen Anreiz haben, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen. Darüber hinaus besteht die Gefahr, dass Bezieher niedriger Arbeitseinkommen ihre Erwerbstätigkeit einschränken, um Transferleistungen zu erhalten (sog. „Armutsfalle“). Dieser Sachverhalt soll im Rahmen eines einfachen Einkommens-Freizeit-Diagramms erläutert werden (vgl. hierzu Feist 2000, Breyer/Buchholz 2009 und Barr 2012). Dabei wird ein Haushalt unterstellt, der die ihm zur Verfügung stehende Zeit (T ) nutzenmaximierend auf Arbeitszeit (h) und Freizeit (f ) aufteilt. Bezeichnet w den Stundenlohn und h die Anzahl der geleisteten

11.3 Probleme

277

Arbeitsstunden pro Periode, so erzielt der Haushalt ein Arbeitseinkommen (y) in Höhe von y = w · h. Einkommen und Freizeit gehen nutzensteigernd in die Nutzenfunktion des Haushalts ∂ 2 u(x) u = u(y, f ) mit den üblichen Eigenschaften ∂u(x) ∂x > 0, ∂x2 < 0, x = f, y ein. Die Budgetrestriktion y = w · h und die Zeitrestriktion T = f + h lassen sich zu y = w(T −f ) zusammenfassen. w·T ist das maximal erzielbare Arbeitseinkommen des Haushalts, w · f repräsentiert die Opportunitätskosten der Freizeit. Aus dem Maximierungsproblem max u(y, f ) u.d.N. y = w(T − f )

(11.1) (11.2)

erhält man für das Haushaltsoptimum ∂u/∂f =w ∂u/∂y

(11.3)

Der Haushalt wird demnach sein Arbeitsangebot solange ausweiten, bis die Grenzrate der Substitution zwischen Freizeit und Einkommen ( ∂u/∂f ∂u/∂y ) dem Lohnsatz (w), also den Grenzopportunitätskosten der Freizeit, entspricht. In der Abbildung 11.1 repräsentiert die Linie T y max die Budgetgerade des Haushalts ohne staatliche Transferleistungen. Die Steigung der Geraden entspricht dem Nettolohn; sie gibt an, in welchem Umfang der Haushalt auf dem Arbeitsmarkt in der Lage ist, Freizeit durch Erwerbseinkommen zu substituieren. Im Optimum muss bei einem nutzenmaximierenden Haushalt gelten, dass die Steigung der Indifferenzkurve (I1 ) der Steigung der Budgetgeraden entspricht. In der Abbildung ist das im Punkt A der Fall; der Haushalt wird somit Freizeit in Höhe von f1 nachfragen und Arbeitszeit in Höhe von T − f1 anbieten. Durch die Einführung einer Grundsicherungsleistung (y) verändert sich die Budgetrestriktion zu yGS = w · h + y − t · w · h = (1 − t)wh + y

(11.4)

Dabei bezeichnet y die Höhe der Transferleistungen, also die Summe aus den Regelsatzleistungen, den Aufwendungen für Wohnung und Heizung sowie Einmalzahlungen und Sachleistungen. t ist die Transferentzugsrate, also jener Satz, mit dem das Arbeitseinkommen auf die Hilfeleistung angerechnet wird. Im Modell wird t = 1 gesetzt, d. h. es wird davon ausgegangen, dass Arbeitseinkünfte vollständig auf die Transferleistungen angerechnet werden.12 Durch die Einführung einer einkommensabhängigen Transferleistung verändern sich die ökonomischen Rahmenbedingungen des Haushalts grundlegend. Aufgrund der Einkommensanrechnung verläuft die Budgetrestriktion in Höhe des soziokulturellen Existenzminimums (y) horizontal. Erst wenn das Arbeitseinkommen die Höhe der Grundsicherungsleistungen erreicht hat, kann der Haushalt sein Einkommen durch eine Ausweitung der Erwerbstätigkeit erhöhen. Dieses „kritische Einkommen“, ab dem kein Transfer mehr gezahlt wird, ist in der Grafik mit dem Punkt P gekennzeichnet (sog. break even point). Die neue Budgetrestriktion ist somit durch den Streckenzug BP y max gegeben. 12

Die vollständige Anrechnung des Einkommens wird in der Literatur auch als „Sozialhilfemodell“ bezeichnet. Dieser Begriff ist jedoch irreführend, da die frühere Sozialhilfe - ebenso wie die Grundsicherung für Arbeitsuchende - bestimmte Freibeträge für das Arbeitseinkommen vorsah.

278

11 Soziale Grundsicherung Einkommen (y)

ymax

I2 I1

w

A

y1

y2=

P

f1

B

T Freizeit (f)

Abb. 11.1: Arbeitsangebotseffekte der sozialen Grundsicherung

Der Haushalt kann unter diesen Umständen seinen Nutzen von I1 auf I2 erhöhen, indem er seine Erwerbstätigkeit vollständig einschränkt und ausschließlich Leistungen der sozialen Grundsicherung bezieht. Der Haushalt realisiert somit ein Randoptimum in B bei f ∗ = T (h∗ = 0). Dieser Effekt (die sog. „Sozialhilfefalle“) tritt auf, obwohl das ursprüngliche Arbeitseinkommen die Grundsicherungsleistung übersteigt (y1 > y), d. h. obwohl das Lohnabstandsgebot gewahrt ist.13 Die Grundsicherung legt somit eine Lohngrenze fest, bei dessen Unterschreiten der Hilfeempfänger nicht mehr bereit ist, sich eigeninitiativ um eine Beschäftigungsmöglichkeit zu bemühen. Da die Steigung der Budgetgeraden den Lohnsatz repräsentiert, kann der Reservationslohn – das ist derjenige Lohn, bei dem der Haushalt gerade indifferent zwischen einer Erwerbstätigkeit und einer Nichterwerbstätigkeit ist – grafisch angegeben werden. Es ist der Lohnsatz, bei dem die Budgetgerade die neue Indifferenzkurve I2 tangiert; in der Abbildung ist er durch die Strecke T w wiedergegeben. Sofern das Arbeitseinkommen nicht vollständig, sondern nur zu einem bestimmten Prozentsatz t < 1 angerechnet wird,14 verändert sich die Situation wie in Abb. 11.2 dargestellt. Die neue Budgetrestriktion ist nun durch den Streckenverlauf BP ′ y max gegeben. Die Steigung des Budgetabschnitts BP ′ hängt von der Höhe der Transferentzugsrate t ab. Für t = 0 wird die Grundsicherungsleistung als ein sog. „bedingungsloses Grundeinkommen“ ausbezahlt. Der Haushalt wird für 0 < t < 1 die Allokation C wählen, also Freizeit in Höhe von f3 nachfragen und Arbeitszeit im Umfang von T − f3 anbieten. Das Gesamteinkommen, das sich nun aus Arbeitseinkommen in Höhe von y ′ und staatlichen Transferleistungen zusammensetzt, liegt nun bei y3 . Das kritische Einkommen, ab dem keine Transfers mehr gezahlt werden, steigt in diesem Fall 13

Unter dem Lohnabstandsgebot versteht man den Grundsatz, wonach die Summe der Transferleistungen die durchschnittlichen Nettoarbeitsentgelte der unteren Lohngruppen nicht übersteigen soll. 14 Dies entspricht i. W. den Freibetragsregelungen des SGB II. Allerdings sind die Transferentzugsraten mit 80 % resp. 90 % nach wie vor prohibitiv hoch.

11.3 Probleme

279

jedoch auf P ′ . Die Berücksichtigung von Freibeträgen in der sozialen Grundsicherung verbessert somit die Wohlfahrtsposition der Hilfeempfänger und erhöht deren Arbeitsangebot. Sie ist jedoch auch mit erheblichen fiskalischen Mehrkosten verbunden. Einkommen (y)

I2

ymax

I3

I1

P' A

y1 y3

C

y2=

B

y'

f1

f3

T Freizeit (f)

Abb. 11.2: Arbeitsangebotseffekte einer Transferleistung mit Freibeträgen Bei der Interpretation des Modells muss jedoch berücksichtigt werden, dass es sich dabei um eine stark vereinfachte Darstellung der sozialen Realität handelt. So wird im Modell beispielsweise nicht berücksichtigt, dass der Bezug von Grundsicherungsleistungen eine umfassende Prüfung der Einkommens- und Vermögensverhältnisse aller Haushaltsmitglieder voraussetzt. Vor dem Bezug der Hilfeleistung ist vorhandenes Vermögen mit Ausnahme des Schonvermögens vollständig einzusetzen. Darüber hinaus sind Angehörige und Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft zum Unterhalt verpflichtet. Des Weiteren wird unterstellt, dass die Personen frei zwischen Erwerbseinkommen und Transferleistungen wählen können. Auch diese Annahme entspricht nicht der Realität. So sind erwerbsfähige Hilfeempfänger zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit verpflichtet; lehnt der Hilfeempfänger ein angebotenes Arbeitsverhältnis ab, werden die Leistungen gekürzt. Und schließlich wird der Bezug von Fürsorgeleistungen vielfach als stigmatisierend empfunden. Auch dieser empirisch gut belegte Effekt15 wird im Modell nicht berücksichtigt. Dies führt zu einem weiteren Problem der Grundsicherung, dem Problem der verdeckten Armut. Empirische Studien zeigen, dass in der Vergangenheit bis zu 50 % der Hilfeberechtigten ihren Leistungsanspruch nicht geltend gemacht haben (Becker/Hauser/Kortmann 2005). Diese Personen sind auf ein Einkommen angewiesen, das nicht ausreichend ist, um das sozialkulturelle Existenzminimum zu gewährleisten. Die Gründe für die Nichtinanspruchnahme sind vielfältig; sie reichen von mangelnder Information, Scham vor dem Gang zum Sozialamt bis hin zu der 15

Vgl. u.a. Riphahn 2001.

280

11 Soziale Grundsicherung

Befürchtung, dass nahe Angehörige zum Unterhalt herangezogen werden. Aus diesem Grund wurden die Freibeträge in der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsunfähigkeit sehr großzügig ausgestaltet. Aktuelle Studien zeigen, dass die Quote der verdeckten Armut durch diese Maßnahmen tatsächlich gesunken ist; sie liegt bei den unter 65-Jährigen bei knapp 40 %, beträgt bei den über 65-Jährigen aber weiterhin fast 70 % (vgl. Becker 2012). Schließlich wird kritisiert, dass die Leistungen der Grundsicherung (Regelsätze zuzüglich der Leistungen für Unterkunft und Heizung) nicht ausreichen, um Einkommensarmut zu vermeiden. So betrug das soziokulturelle Existenzminimum (hier dargestellt über den Freibetrag der Einkommensteuer) einer alleinstehenden Person im Jahr 2019 764€, die Armutsschwelle (50% des Medianeinkommens) belief sich auf 980€, die Schwelle zur Armutsgefährdung (60% des Medianeinkommens) auf 1176€. Die Leistungen der sozialen Grundsicherung sind damit zwar existenzsichernd, aber nicht armutsbekämpfend.

Literatur 1. Monographien und Aufsätze Boss 2002 – Derksen 2008 – Feist 2000 – Rothkegel 2000

2. Laufende Materialquellen und Periodika Bericht über die Höhe des steuerfrei zu stellenden Existenzminimums von Erwachsenen und Kindern (Existenzminimumbericht) Lebenslagen in Deutschland: Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung Bundesagentur für Arbeit (Hg.): Grundsicherung für Arbeitsuchende, Jahresbericht Blätter der Wohlfahrtspflege, Stuttgart 1854 ff. Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, Frankfurt/M. 1969 ff. Stat. BA, Fachserie 13, Reihe 2.1: Sozialleistungen. Ausgaben und Einnahmen der Sozialhilfe Zeitschrift für Sozialhilfe, München 1962 ff.

Kapitel 12

Familienpolitik

12.1 Definition, Notwendigkeit und generelles Ziel 12.1.1 Definition Familienpolitik lässt sich definieren als die Gesamtheit der Maßnahmen, mit denen die Politik das Ziel verfolgt, die Institution „Familie“ oder einzelne Familienmitglieder zu schützen und zu fördern. Diese Definition macht bereits deutlich, dass die Familienpolitik in Deutschland grundsätzlich zwei Ziele verfolgt: den Schutz der Familie vor einer wirtschaftlichen Schlechterstellung gegenüber anderen Formen des Zusammenlebens einerseits sowie die gezielte Förderung und Unterstützung der Familie als Institution andererseits. Da das Eingehen einer Ehe und die Gründung einer Familie freiwillige und höchstpersönliche Entscheidungen darstellen, müssen beide Zielsetzungen eigenständig begründet werden. Bevor jedoch die Notwendigkeit der staatlichen Familienpolitik erörtert werden kann, muss zunächst geklärt werden, was unter einer “Familie” zu verstehen ist. Denn die Formen des Zusammenlebens und die Arbeitsteilung innerhalb der Familie haben sich in den letzten Jahrzehnten deutlich verändert, so dass sich gelebte Familienformen erheblich von politischen oder gesellschaftlichen Leitbildern unterscheiden können (vgl. Huinink 2007 und Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2012). Die amtliche Statistik definiert eine Familie als Eltern-Kind-Gemeinschaft, die in einem gemeinsamen Haushalt leben (Haushaltsprinzip). In diesen Familienbegriff sind alle Formen der Elternschaft einbezogen, also Ehepaare ebenso wie nichteheliche Lebensgemeinschaften sowie Alleinerziehende mit ledigen Kindern. Neben den leiblichen Kindern zählen hierzu auch Stief-, Pflege- und Adoptivkinder; das Alter des Kindes spielt keine Rolle. Damit besteht nach der Definition der amtlichen Statistik eine Familie immer aus zwei Generationen (Zwei-GenerationenRegel): Eltern bzw. Elternteile und ihre im Haushalt lebenden ledigen Kinder. Kinder, die noch gemeinsam mit den Eltern in einem Haushalt leben, dort aber bereits eigene Kinder versorgen, sowie Kinder, die nicht mehr ledig sind oder mit einem Partner oder einer Partnerin in einer Lebensgemeinschaft leben, werden in der amtlichen Statistik nicht der Herkunftsfamilie zugerechnet, sondern zählen als eigene Familie beziehungsweise Lebensform. Das traditionelle Leitbild staatlicher Familienpolitik stellt demgegenüber auf die „eheliche Kernfamilie“ ab. Darunter versteht man ein verheiratetes Ehepaar, das mit den leiblichen Kindern in einem gemeinsamen Haushalt lebt. Ausgehend von diesem Familienverständnis unter-

281

© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2021 J. Althammer et al., Lehrbuch der Sozialpolitik, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56258-1_12

282

12 Familienpolitik

scheidet man begrifflich zwischen der vollständigen, aus einem Elternpaar und ihren ledigen Kindern bestehenden Familie und der unvollständigen Familie, in der eine alleinstehende Mutter bzw. ein alleinstehender Vater mit einem oder mehreren Kindern zusammenlebt. Die familienwissenschaftliche Literatur versteht unter einer Familie eine soziale Gruppe, die eine biologisch-soziale Doppelnatur aufweist (Nave-Herz 2006). Sie ist durch ein spezifisches Solidaritätsverhältnis und durch Generationendifferenzierung gekennzeichnet. Eine Familie umfasst demnach grundsätzlich mehrere Generationen und übernimmt zumindest die Reproduktionsund Sozialisationsfunktion in der Gesellschaft. Allgemein lässt sich unter einer Familie eine auf Dauer angelegte, auf besondere Intimität und Solidarität beruhende Mehrgenerationengemeinschaft verstehen. Die Formen des Zusammenlebens und die Bedingungen, unter denen Kinder in der Gesellschaft aufwachsen, haben sich in den vergangenen Jahrzehnten deutlich verändert (vgl. hierzu Kaufmann 1995, Nave-Herz 2006 sowie Peuckert 2019.) Obgleich die eheliche Kernfamilie nach die vor die dominierende Lebensform ist (vgl. Tabelle 12.1), in der Kinder aufwachsen, ist in den vergangenen Jahrzehnten eine deutliche Zunahme alternativer familialer Lebensformen festzustellen. Hinzu kommt ein deutlicher Wandel der Geschlechterrollen in der Gesellschaft, der sich insbesondere in einer deutlich gestiegenen Erwerbstätigkeit der Frauen (und hier insbesondere der verheirateten Mütter) niederschlägt. Beide Entwicklungen stellen das bürgerliche Ehe- und Familienideal (die sog. „Hausfrauenehe“), an der sich noch zahlreiche familienpolitische Instrumente orientieren, in Frage. Und schließlich haben sich die ökonomischen Kosten und Lasten von Kindern stark verändert. Während in der frühindustriellen Gesellschaft Kinder als Arbeitskräfte zum Familieneinkommen beitrugen und die Altersversorgung der Eltern sicherten, sind Kinder in modernen Gesellschaften in mehrfacher Hinsicht zu einem Kostenfaktor und einem zentralen Element sozialer Ungleichheit geworden (Kaufmann 1995, S. 138). Die Aufwendungen, die Eltern im Zuge der Erziehung ihrer Kinder übernehmen, setzen sich dabei zusammen aus • den direkten Kosten, also den Aufwendungen für Nahrung, Kleidung, Unterkunft und kindspezifischen Gebrauchsgütern, sowie • den indirekten Kosten (Opportunitätskosten), die durch eine erziehungsbedingte Unterbrechung der Erwerbstätigkeit entstehen. Diese Opportunitätskosten setzen sich zusammen aus dem entgangenen Arbeitseinkommen während der Erziehungsphase und den Einkommensverlusten, die sich aufgrund der entgangenen Berufserfahrung ergeben. Darüber hinaus ist eine längere Erwerbsunterbrechung mit einem Verlust an Rentenansprüchen verbunden. Durch die deutlich gestiegene Bildungs- und Erwerbsbeteiligung der Frauen haben sich die Opportunitätskosten der Kindererziehung für die Mütter in den vergangenen Jahrzehnten deutlich erhöht. Dies wird als ein wesentlicher Grund für die gesunkene Fertilität in den entwickelten Volkswirtschaften angesehen.

12.1.2 Notwendigkeit und Ziele staatlicher Familienpolitik Wie bereits erwähnt, sind das Eingehen einer Ehe, die Gründung einer Familie und die innerfamiliale Arbeitsteilung freiwillige Entscheidungen der Partner resp. der Eltern. Wenn nun die Gesellschaft für die Folgen dieser Entscheidungen durch Steuermindereinnahmen oder die Zahlung von Transferleistungen einzustehen hat, so ist dies in besonderer Weise begründungs-

12.1 Definition, Notwendigkeit und generelles Ziel

283

Tabelle 12.1: Indikatoren des sozialen Wandels der Familie 1972

2000 (West)

2000 (Ost)

2010

2017

92,0 0,3 7,7

86,5 4,2 9,3

84,7 5,4 9,9

79,6 7,7 12,7

69,7 11,4 18,9

Erwerbstätigenquote (15-65 Jahre) von Müttern nach dem Alter des jüngsten Kindes 39,7 70,3 insgesamt 61,5 67,8 unter 3 Jahre – 48,0 51,3 45,9 3-5 Jahre 33,9 56,0 62,2 66,1 6-9 Jahre 63,9 69,9 72,7 44,2 10-14 Jahre 71,4 77,8 78,7 15 u. mehr Jahre 47,3 72,7 79,6 78,4

73,3 55,2 73,0 78,6 82,8 83,9

Familienform (in % aller Familien) Ehepaare Lebensgemeinschaften Alleinerziehende

Eheschließungen Zusammengefasste Erstheiratsziffer je 1 000 Ledige Männer 90a Frauen 97a Durchschnittliches Erstheiratsalter Männer 25,0 Frauen 22,6 Zusammengefasste Geburtsziffer je Frau

2,02

57b 64b

40b 48b

31,2 28,4 1,41

1,21

54 57

55c 60c

33,2 30,2

34,0 31,5

1,39

1,51

a

1970. 1999. 2015 Quellen: BMFSFJ, Familie im Spiegel der amtlichen Statistik, Berlin 2003; StatBA (Hg.), Haushalte und Familien, FS 1, Reihe 3, Tab. 3.8; Destatis, Kind und Beruf: STATmagazin v. 26. Febr. 2013, Peuckert 2019, S. 31, StatBA, Geburten in Deutschland, Wiesbaden 2012. b c

bedürftig. In der familienwissenschaftlichen Literatur finden sich hierfür drei sich ergänzende Argumentationslinien (vgl. Pechstein 1994, Lampert 1996, Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2001 sowie Brosius-Gersdorf 2012). Zum einen stehen in Deutschland Ehe und Familie unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung (Art. 6 Abs. 1 GG). Aus dieser wertentscheidenden Grundsatznorm der Verfassung leiten sich ein strenges Diskriminierungsverbot einerseits sowie ein Fördergebot andererseits ab. Das Verbot der Diskriminierung bedeutet, dass Verheiratete und Familien im Vergleich zu anderen Formen des Zusammenlebens nicht schlechter gestellt werden dürfen. Das Eingehen einer Ehe oder die Geburt eines Kindes darf beispielsweise nicht zu einer steuerlichen Mehrbelastung führen. Neben diesem Diskriminierungsverbot beinhaltet der Art. 6 GG auch ein Förder- bzw. Differenzierungsgebot zugunsten der Familien.1 Dies bedeutet, dass der Gesetzgeber das Recht hat, Familien in besonderer Weise zu fördern und zu unterstützen. Während jedoch das Diskriminierungsverbot strikt einzuhalten ist, steht dem Gesetzgeber bei der Förderung der Familie ein erheblicher Gestaltungsspielraum offen. Maßnahmen, die Ausfluss des Diskriminierungsverbots sind und lediglich der Gleichbehandlung von Familien mit Kinderlosen 1

Siehe hierzu auch Art. 20 und 28 GG (Sozialstaatsgebot).

284

12 Familienpolitik

dienen, werden in der familienwissenschaftlichen Literatur nicht unter die familienpolitischen Leistungen im eigentlichen Sinn gefasst. Die Implikationen dieses Verfassungsgrundsatzes für die Familienpolitik werden in Abschnitt 12.2 erörtert. Das zweite Argument zur Begründung familienpolitischer Maßnahmen bezieht sich auf die Tatsache, dass Familien nicht nur für ihre Mitglieder, sondern auch für die Gesellschaft wichtige Leistungen erbringen. Diese familialen Leistungen (Funktionen) sind 1. die Sicherung des Nachwuchses (Reproduktionsfunktion); 2. die materielle Versorgung, die Betreuung und die Pflege der Familienmitglieder (Versorgungsfunktion); 3. die durch die Erziehung und Ausbildung der Kinder erfüllte Funktion der Sozialisation der nachwachsenden Generation (Sozialisationsfunktion). Die Erfüllung der Reproduktions-, Versorgungs- und der Sozialisationsfunktion ist gleichbedeutend mit der Schaffung des Humanvermögens der Gesellschaft; 4. die Sicherung der für den Fortbestand der Gesellschaft notwendigen Solidarität zwischen den Generationen, die aus der gegenseitigen Zuwendung und Hilfe der Familienmitglieder erwächst (Solidaritätssicherungsfunktion); 5. die Regenerationsfunktion, die durch die Versorgung der Familienmitglieder und die in der Familie bestehenden Erholungsmöglichkeiten bewirkt wird. Diese Funktion hat aufgrund der Segmentierung der zwischenmenschlichen Beziehungen sowie aufgrund der funktionalen Ausdifferenzierung und zunehmenden Komplexität moderner Gesellschaften an Bedeutung gewonnen. Diese Handlungen sind der Absicht nach zunächst nur auf die Familienmitglieder bezogen, haben jedoch gleichzeitig Auswirkungen für die Gesellschaft als Ganzes. Die Familien verursachen somit externe Effekte, die aus allokativen Gründen oder aus Gründen der sozialen Gerechtigkeit ausgleichsbedürftig sind.2 Durch die Reproduktions- und Sozialisationsfunktion generieren Familien das Humanvermögen der Gesellschaft.3 Sie sichern damit nicht nur den biologischen Fortbestand, sondern auch die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit einer Gesellschaft. Für die finanzielle Stabilität einer umlagefinanzierten Sozialversicherung ist die Reproduktionsfunktion eine notwendige Voraussetzung, wie die Diskussion um den Einfluss des demografischen Wandels auf das System sozialer Sicherung zeigt (vgl. hierzu Kap. 16, Abschnitt 16.5). Familienpolitische Maßnahmen, die sich normativ auf eine Kompensation der gesellschaftlichen Leistungen der Familie stützen, werden den Maßnahmen des Familienleistungsausgleichs zugerechnet. Ein dritter Grund für familienpolitische Leistungen ist die unterschiedliche Lebenslage von Familien und Kinderlosen, insbesondere die erhöhte Armutsgefährdung von Familien. Wie die Abb. 12.1 zeigt, steigt die Armutsgefährdungsquote mit zunehmender Kinderzahl und ist bei Alleinerziehenden besonders hoch. Eine Verbesserung der wirtschaftlichen Situation armutsgefährdeter Familien ist erforderlich, da ein Aufwachsen in Armut die Sozialisationsbedingungen der Kinder nachhaltig beeinträchtigt und erhebliche Langzeitfolgen zeitigt (Walper 2008). Subjektiv empfundene Deprivation und chronische Armut belasten das Selbstwertgefühl von Kindern und Jugendlichen und führen zu erhöhtem Problemverhalten. Die Armut von Kindern manifestiert sich dabei nicht nur in einer materiellen Schlechterstellung, sondern kann auch auf 2

Vgl. hierzu insbesondere Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2001, insbes. Kapitel 4., sowie Lampert 1996. 3 Unter dem Humanvermögen einer Gesellschaft versteht man die Gesamtheit der wirtschaftlich verwertbaren Leistungen und Fähigkeiten der Bevölkerung.

12.1 Definition, Notwendigkeit und generelles Ziel

285

eine geringere Erziehungskompetenz der Eltern und auf eine geringere Bildungsbeteiligung zurückzuführen sein. Armut von Familien ist somit immer auch ein Verstoß gegen das Ziel der Startchancengerechtigkeit und der Chancengleichheit. Familienpolitische Maßnahmen, die sich aus dem Ziel ableiten, die wirtschaftliche Situation der Familien zu verbessern, werden dem Familienlastenausgleich zugerechnet.

Alleinstehend

Paarhaushalt ohne Kind

Alleinerziehend

Paar mit einem Kind

Paar mit 2 Kindern

Paar mit 3 u. mehr Kindern 0

10

20 Anteil (in %)

30

40

Quelle: Statistisches Bundesamt

Abb. 12.1: Armutsgefährdungsquote (in vH) nach Haushaltstyp Wie bereits einleitend erwähnt, leitet sich die staatliche Familienpolitik aus Art. 6 Abs. I GG (Schutz von Ehe und Familie) und aus Art. 20 und 28 GG (Sozialstaatsgebot) ab. Weitere für die Familienpolitik relevante Grundsatznormen sind Art. 1 Abs. 1 GG, der die Menschenwürde schützt, Art. 2 Abs. 1 GG, der die freie Entfaltung der Persönlichkeit gewährleistet und Art. 3 Abs. 2 GG, der die Gleichberechtigung von Mann und Frau garantiert. Aus diesen normativen Vorgaben wurden folgende Ziele für die Familienpolitik formuliert.4 1. die steuerliche Belastung unterschiedliche Haushaltstypen gemäß ihrer individuellen Leistungsfähigkeit (horizontal gerechte Verteilung der Steuerlast) 2. der Ausgleich familialer Leistungen für die Gesellschaft (Familienleistungsausgleich) sowie 3. der Ausgleich bestimmter Belastungen von Familien (Familienlastenausgleich) insbesondere zur Herstellung von Chancengleichheit und zur Bekämpfung von Kinderarmut. 4

Vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2001.

286

12 Familienpolitik

Die Herstellung horizontaler Steuergerechtigkeit ist ein generelles Ziel der Steuerpolitik und damit nicht genuin familienpolitisch motiviert. Die entsprechenden steuerlichen Maßnahmen wie bspw. steuerliche Kinderfreibeträge zählen damit nicht zur Familienpolitik im eigentlichen Sinne. Eine grundsätzliche Neuausrichtung erfuhr das Zielsystem staatlicher Familienpolitik durch das Leitbild der „nachhaltigen Familienpolitik“.5 Die Ziele staatlicher Familienpolitik sind demnach 1. die Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf und 2. die Förderung der Fertilität. Als weitere Ziele werden genannt 3. die Förderung der wirtschaftlichen Stabilität und sozialen Teilhabe von Familien, 4. die Förderung und das Wohlergehen von Kindern, sowie 5. ein Nachteilsausgleich zwischen den Familien. Neben der Neuausrichtung des familienpolitischen Zielsystems war außerdem beabsichtigt, die einzelnen familienpolitischen Maßnahmen auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen (sog. „evidenzbasierte Politikgestaltung“). Dies sollte im Rahmen der „Gesamtevaluation familienpolitischer Leistungen“ (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2013) erfolgen. Auf einige Ergebnisse dieser Evaluation wird im Abschnitt 12.3 eingegangen.

12.2 Instrumente der Familienpolitik Die Familienpolitik ist eine typische Querschnittsdisziplin, deren Maßnahmen sich in unterschiedlichen Bereichen der Rechts- und Sozialordnung niederschlagen. Grundsätzlich lassen sich die Instrumente der Familienpolitik in rechtliche Regelungen, monetäre Maßnahmen und Realleistungen untergliedern.

12.2.1 Normen des Familien- und Arbeitsrechts Ein wichtiger Bereich der Familienpolitik ist die Regelung der Rechtsbeziehungen zwischen den Familienmitgliedern.6 Das gilt insbesondere für das Eherecht, das Scheidungsrecht, das Unterhaltsrecht, das Elternrecht, das Kindschaftsrecht und das Erziehungsrecht.7 Wesentliche Elemente des Ehe- und Familienrechts sind 5

Vgl. hierzu grundlegend Rürup/Gruescu 2003. Vgl. dazu den Überblick bei Bethusy-Huc 1987 und Ipsen 2009. 7 Wesentliche Familienrechtsgesetze sind: 1. das Vierte Buch des BGB (Familienrecht); 2. das Gleichberechtigungsgesetz vom 18.06.1957; 3. das Familienrechtsänderungsgesetz vom 11.09.1961; 4. das Gesetz über die rechtliche Gleichstellung nicht-ehelicher Kinder vom 19.09.1969; 5. das Adoptionsvermittlungsgesetz vom 02.07.1976; 6. das Adoptionsgesetz vom 02.07.1976; 7. das Erste Eherechtsreformgesetz vom 14.06.1976; 8. das Gesetz zur Neuordnung der elterlichen Sorge vom 18.06.1979; 9. das Familiennamensrechtsgesetz vom 16.12.1993; 10. das 2. Gleichberechtigungsgesetz vom 24.06.1994; 11. das Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung vom 06.08.2000. 6

12.2 Instrumente der Familienpolitik

287

• der „Versorgungsausgleich“, der im Falle der Scheidung die Ansprüche auf Altersversorgung und Rente bei Erwerbsunfähigkeit auf beide Partner aufteilt. Dies entspricht dem Leitbild der partnerschaftlichen Ehe und reduziert die ökonomische Abhängigkeit der Frau vom Mann; • die Einführung des gemeinsamen Sorgerechts auch für unverheiratete und geschiedene Eltern, sofern nicht ein Elternteil dem widerspricht; • die Ergänzung des Gleichberechtigungsgebots in Art. 3 Abs. 2 GG um das Ziel, tatsächliche Gleichwertigkeit von Männern und Frauen durchzusetzen. Schutzfunktionen für Kinder und Jugendliche haben das Jugendschutzgesetz und das Jugendarbeitsschutzgesetz sowie das Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung, dem das Leitbild gewaltfreier Erziehung zugrunde liegt. Eine Schutzfunktion für die Familie hat schließlich auch der Mutterschutz. Er schützt Mütter nicht nur durch Schutzfristen vor und nach der Entbindung, durch einen besonderen Kündigungsschutz und durch besondere Vorschriften für werdender und stillender Mütter in Bezug auf die Arbeitsplätze und Verbot bestimmter Tätigkeiten, sondern auch durch finanzielle Hilfen in Form des Mutterschaftsgeldes. Dem Schutz der Familie sowie insbes. der Förderung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf dient schließlich auch der besondere Kündigungsschutz von Erziehungspersonen während der Elternzeit 8 . Anspruch auf Elternzeit haben abhängig Beschäftigte bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres des Kindes. Während der Elternzeit kann das Arbeitsverhältnis vom Arbeitgeber nicht gekündigt werden. Elternzeit kann von jedem Elternteil – auch anteilig – in Anspruch genommen werden. Ein Jahr der Elternzeit kann mit Zustimmung des Arbeitgebers bis zum vollendeten achten Lebensjahr des Kindes genommen werden.

12.2.2 Monetäre Maßnahmen der Familienpolitik 12.2.2.1 Steuerliche Maßnahmen Das Einkommensteuerrecht kennt zahlreiche Maßnahmen, die das Ziel verfolgen, eine ungerechtfertigte steuerliche Belastung von Familien zu verhindern und Familien finanziell zu entlasten.9 Die quantitativ bedeutsamsten Instrumente sind das Ehegattensplitting und der duale Familienleistungsausgleich. Weitere Maßnahmen sind der Haushaltsfreibetrag, die steuerliche Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten sowie der Ausbildungsfreibetrag. Familienpolitische Normen des Einkommensteuerrechts können grundsätzlich zwei Ziele verfolgen. Sie können entweder dazu dienen, 1. die Familienmitglieder gemäß ihrer subjektiven Leistungsfähigkeit steuerlich zu belasten oder 2. die Familien durch gezielte steuerliche Entlastungen zu fördern. Im ersten Fall spricht man von Fiskalzwecknormen, im zweiten Fall von Sozialzwecknormen. Die Klassifikation einzelner Maßnahmen als Fiskal- oder Sozialzwecknorm ist im Einzelfall durchaus strittig; nach derzeit herrschender Meinung sind das Ehegattensplitting, der Kinderfreibetrag, der Alleinerziehendenfreibetrag und die steuerliche Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten 8 9

Vgl. Gesetz zum Elterngeld und zur Elternzeit (BEEG) vom 05.12.2006 i. d. F. vom 23.05.2017. Zu den familienpolitisch relevanten Normen des Steuerrechts vgl. Tipke/Lang 2015.

288

12 Familienpolitik

als Werbungskosten Fiskalzwecknormen, während die Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten als Sonderausgaben und die steuerliche Berücksichtigung haushaltsnaher Dienstleistungen als Sozialzwecknorm zu klassifizieren sind. Die Fiskalzwecknormen leiten sich aus dem Grundsatz der Besteuerung nach subjektiver Leistungsfähigkeit ab. Dieser Grundsatz besagt, dass nur jenes Einkommen der Besteuerung unterzogen werden kann, über das der Steuerpflichtige frei verfügen kann (sog. „disponibles Einkommen“). Als nicht disponibel gelten jene Einkünfte, die zur Abdeckung der existenzminimalen Aufwendungen des Steuerpflichtigen erforderlich sind sowie Einkommen, die für den Unterhalt, die Erziehung oder Ausbildung der Kinder aufgewendet werden müssen. Der Abzug dieser Einkünfte von der Steuerbemessungsgrundlage ist somit keine Maßnahme der Förderung von Familien, sondern stellt lediglich sicher, dass Familien und Kinderlose steuerlich gleich behandelt werden.

a) Das Ehegattensplitting Das Ehegattensplitting ist strenggenommen kein familienpolitisches Instrument, da es nicht am Vorhandensein von Kindern, sondern am Eingehen einer Ehe anknüpft. Aufgrund der herausragenden Bedeutung, die das Ehegattensplitting in der familienpolitischen Diskussion einnimmt, soll diese Form der steuerlichen Veranlagung von Eheleuten jedoch etwas ausführlicher behandelt werden. Das Splittingverfahren unterstellt, dass beide Eheleute zu gleichen Teilen an den am Markt erwirtschafteten Einkünften partizipieren. Damit stützt sich das Splittingverfahren normativ auf das Konzept der partnerschaftlichen und gleichberechtigten Ehe, in der die Ehegatten eine umfassende Wirtschafts- und Verbrauchsgemeinschaft bilden. Sofern die Einkünfte zwischen den Eheleuten ungleich verteilt sind, wird unterstellt, dass auf der Haushaltsebene eine Übertragung wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit stattfindet. Diese Übertragung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit wird durch die Anwendung des Splittingtarifs nachgebildet. Bei diesem Besteuerungsverfahren wird der Steuertarif auf die Hälfte des gemeinsamen Einkommens der Eheleute angelegt und die sich daraus ergebende Steuerschuld verdoppelt. Bezeichnet y i mit i = m, f das steuerpflichtige Erwerbseinkommen des Mannes resp. der Frau und T (·) die Tariffunktion der Einkommensteuer, so lautet die Tarifvorschrift im Fall der Zusammenveranlagung10  m  y + yf T (y m , y f ) = 2 · T (12.1) 2 Durch das Splittingverfahren wird die Progressionswirkung des Steuertarifs abgemildert. Die Differenz zwischen der steuerlichen Belastung bei einer gemeinsamen Veranlagung mit Splittingverfahren und der Steuerbelastung bei getrennter Veranlagung (∆T ) ist durch   m y + yf m f (12.2) ∆T = T (y ) + T (y ) − 2 · T 2

10

In der Literatur wird anstelle von Zusammen- vs. Getrenntveranlagung teilweise von „Haushalts-“ vs. „Individualbesteuerung“ gesprochen. Diese Bezeichnungen sind jedoch irreführend, da auch bei der Zusammenveranlagung das Steuersubjekt nicht der Haushalt, sondern immer das Individuum ist.

12.2 Instrumente der Familienpolitik

289

8000 6000 4000 2000

Alleinverdiener

Verteilung 70:30 0

Differenz zur Getrenntveranlagung (in Euro)

gegeben. Diese Differenz der Steuerbelastung11 zwischen Getrenntveranlagung und gemeinsamer Veranlagung mit Splittingverfahren ist in der Abb. 12.2 wiedergegeben.

0

50000

100000

150000

200000

Zu versteuerndes Einkommen (jährlich, in Euro)

Abb. 12.2: Steuerliche Wirkung des Splittingverfahrens Das Ehegattensplitting wird bereits seit längerem äußerst kontrovers diskutiert.12 An diesem Verfahren wird kritisiert, dass es negative Verteilungswirkungen entfaltet, da der Entlastungseffekt (∆T ) mit zunehmendem Einkommen steigt. Außerdem setze es negative Arbeitsanreize und verfestige eine traditionelle Rollenverteilung in der Ehe. Befürworter des Splittingverfahrens verweisen darauf, dass dieses Besteuerungsverfahren dem Leitbild der partnerschaftlichen und gleichberechtigten Ehe entspricht und dass die Ehegatten gemäß ihrer jeweiligen individuellen Leistungsfähigkeit besteuert werden. Darüber hinaus gewährleistet bei einem progressivem Steuertarif nur das Splittingverfahren die Prinzipien der Nichtdiskriminierung der Ehe und der Globaleinkommensbesteuerung (vgl. Homburg 2015). Nichtdiskriminierung der Ehe bedeutet, dass die Ehe steuerlich nicht schlechter gestellt werden darf als andere Formen des Zusammenlebens. Das Prinzip der Globaleinkommensbesteuerung besagt, dass für die Steuerlast nur die Höhe des Gesamteinkommens, nicht aber die Verteilung dieses Einkommens auf die Eheleute ausschlaggebend sein soll. Dass bei einer Getrenntveran11

Bei einem progressiven Steuertarif ist diese Differenz immer größer gleich Null. Dieser Differenzbetrag wird in der Literatur häufig als „Splittingvorteil“ bezeichnet. Diese Bezeichnung unterstellt, dass es sich bei der Anwendung des Splittingverfahrens um eine Steuervergünstigung handelt. Dies ist jedoch in der Literatur zur Familienbesteuerung äußerst umstritten. 12 Zum aktuellen Stand der Diskussion um das Ehegattensplitting vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung 2013, Kap. 8 sowie die dort angegebene Literatur.

290

12 Familienpolitik

lagung die gesamte Steuerbelastung von der Verteilung der Einkommen abhängt, soll anhand eines vereinfachten Zahlenbeispiels (Tabelle 12.2) gezeigt werden. Dabei wird vereinfachend unterstellt, dass Einkommen in Höhe von 30 000 e mit 10 % und Einkommen von 60 000 e mit 20 % besteuert werden. In diesem Beispiel beträgt das gesamte zu versteuernde Einkommen des Haushalts jeweils 60 000 e. Tabelle 12.2: Steuerbelastung bei Getrennt- und Zusammenveranlagung Getrenntveranlagung

Zu versteuerndes Einkommen (in e) Steuersatz Steuer (in e) Zu versteuerndes Einkommen (in e) Steuersatz Steuer (in e)

Gemeinsame Veranlagung

Partner A

Partner B

Summe

Partner A

Partner B

Summe

30 000

30 000

60 000

30 000

30 000

60 000 2

10 % 3 000

10 % 3 000

6 000

-

-

10 % 2 · 3 000 = 6 000

60 000

0

60 000

60 000

0

60 000 2

20 % 12 000

0

12 000

-

-

10 % 2 · 3 000 = 6 000

Dieses einfach gehaltene Zahlenbeispiel zeigt, dass die Steuerbelastung beider Partner nur beim Splittingverfahren unabhängig von der Aufteilung der Einkünfte ist. Bei der Getrenntveranlagung verändert sich hingegen die Steuerbelastung mit der Verteilung der steuerpflichtigen Einkommen zwischen den Familienmitgliedern. In der Literatur werden verschiedene Modelle diskutiert, die das Ehegattensplitting ersetzen sollen. Die Vorschläge reichen von der steuerlichen Absetzbarkeit fiktiver Unterhaltsleistungen (Realsplitting) über einen Ehegattenfreibetrag bis hin zur Möglichkeit, den Grundfreibetrag zwischen den Eheleuten zu übertragen. Unabhängig von der Frage der genauen Ausgestaltung der Ehegattenbesteuerung ist jedoch festzuhalten, dass eine ersatzlose Streichung des Splittingverfahrens unzulässig wäre.13

b) Der duale Familienleistungsausgleich Unter dem dualen Familienleistungsausgleich versteht man das Zusammenwirken von Kindergeld und steuerlichem Kinderfreibetrag. Das Ziel des in § 31 EStG normierten Kinderfreibetrags ist es, eine steuerliche Schlechterstellung von Familien gegenüber Kinderlosen zu verhindern. Die steuerrechtliche Gleichstellung der Familien ist somit ein Gebot der horizontalen Steuergerechtigkeit und insofern noch keine Maßnahme der Familienpolitik im engeren Sinn. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist der Gesetzgeber verpflichtet, zumindest die existenzminimalen Aufwendungen für alle Familienmitglieder steuerfrei zu stellen (sog. „spezielles Familiennettoprinzip“). Zu diesen existenzminimalen Aufwendungen zählen neben dem 13

Vgl. zu den Alternativen der Besteuerung von Ehegatten Tipke/Lang 2015 sowie Bundesministerium der Finanzen 2018.

12.2 Instrumente der Familienpolitik

291

3000

3500

sächlichen Existenzminimum auch die Aufwendungen für die Betreuung und Erziehung bzw. Ausbildung des Kindes. Derzeit (2020) beträgt der Freibetrag für das sächliche Existenzminimum eines Kindes 2 586 e je Elternteil bzw. 5 172 e für Verheiratete. Der Freibetrag für den Betreuungs- und Erziehungsbedarf beläuft sich auf 1 320 e für Alleinstehende und 2 640 e für Verheiratete. Für Ehepaare werden also pro Kind insgesamt 7 812 e von der Steuerbemessungsgrundlage abgezogen.14 Diese steuerlichen Freibeträge sind durch das sog. Optionsmodell eng mit dem Kindergeld verzahnt. Das Kindergeld beträgt derzeit (2020) 204 e/mtl. für das erste und zweite Kind, 210 e für das dritte und 235 e/mtl. für das vierte und jedes weitere Kind. Die steuerliche Verschonung des Existenzminimums wird mit dem Kindergeld verrechnet, d. h. eine Transferleistung findet durch das Kindergeld nur in jener Höhe statt, in welcher der Kindergeldanspruch die erforderliche Steuerentlastung durch den Freibetrag übersteigt. Diese Differenz wird auch als „Förderanteil“ des Kindergelds bezeichnet. Die Abbildung 12.3 zeigt die Wirkungsweise des dualen Familienleistungsausgleichs. Dafür stellt sie die Entlastungswirkung der kindbedingten Freibeträge der Höhe des Kindergeldes gegenüber. Ein Transfer in voller Höhe erhalten nur Familien, deren zu versteuerndes Einkommen den Grundfreibetrag nicht übersteigt. Mit zunehmendem Einkommen wird dieser Förderanteil abgeschmolzen und läuft bei einem bestimmten kritischen Einkommen ganz aus. Diese kritische Einkommensgrenze liegt bei einem verheirateten Ehepaar mit einem Kind (2020) bei ca. 63 500 e.

2000 1500

Steuerliche Entlastung des Kinderfreibetrags

0

500

1000

Euro (jährlich)

2500

Kindergeld

0

20000

40000

60000

80000

100000

120000

140000

Zu versteuerndes Einkommen (jährlich, in Euro)

Abb. 12.3: Der duale Familienleistungsausgleich 14

Die steuerliche Freistellung des existenzminimalen Sach- und Betreuungsaufwands ist das Ergebnis mehrerer einschlägiger Urteile des Bundesverfassungsgerichts; vgl. die Entscheidungen vom 29.05.1990 und vom 12.06.1990 (BVerfGE 82, 60 und 82, 198) sowie vom 10.11.1998 (BVerfGE 99, 216 u. 246 ff.).

292

12 Familienpolitik

Alleinerziehende können zusätzlich zum regulären Kinderfreibetrag einen besonderen Entlastungsbetrag für das erste Kind in Höhe von 1 908 e und für jedes weitere Kind einen Betrag von 240 e von der Summe der Einkünfte abziehen. Neben diesen steuerlichen Freibeträgen können nachgewiesene Kosten für die Kinderbetreuung unter bestimmten Umständen steuerlich geltend gemacht werden. Alleinerziehende sowie Familien, in denen beide Eltern erwerbstätig sind, können zwei Drittel der Betreuungskosten für Kinder bis zum 14. Lebensjahr, jedoch max. 4 000 e, als Werbungskosten von der Steuer absetzen. In Familien, bei denen nur ein Elternteil erwerbstätig ist, kann dieser Betrag als Sonderausgaben gem. § 10 EStG geltend gemacht werden, sofern ein Kind zwischen dem 3. und dem 6. Lebensjahr im Haushalt betreut wird. Ist das zu betreuende Kind unter 3 Jahre oder zwischen 6 und 14 Jahre alt, können die Aufwendungen gemäß den Regelungen für haushaltsnahe Dienstleistungen abgesetzt werden (§ 35a EStG).

12.2.2.2 Familienpolitisch orientierte Transferleistungen a) Sozialgeld für Kinder und Kinderzuschlag Eine familienpolitisch bedeutsame Transferleistung ist das Sozialgeld für Kinder im Rahmen der sozialen Grundsicherung. Mit dieser Leistung wird das sozio-kulturelle Existenzminimum für alle Kinder gewährleistet. Die entsprechenden Bedarfssätze sind nach dem Alter des Kindes gestaffelt (vgl. hierzu ausführlich Kap. 11). Zum 01.01.2005 wurde der Kinderzuschlag eingeführt. Anspruch auf Kinderzuschlag haben Eltern, deren Einkommen zwar ausreicht, um das eigene Existenzminimum abzudecken, die jedoch aufgrund der Unterhaltsverpflichtungen gegenüber ihren Kindern auf Leistungen der sozialen Grundsicherung angewiesen wären. Der Kinderzuschlag soll also verhindern, dass Eltern allein aufgrund des Vorhandenseins von Kindern auf Leistungen nach SGB II oder SGB XII angewiesen sind. Der Kinderzuschlag wird zusätzlich zum Kindergeld gezahlt. Er beträgt 2020 maximal 185 e je Kind und wird mit zunehmendem Einkommen der Eltern abgeschmolzen. b) Das Elterngeld Eine bedeutende familienpolitische Neuerung stellt das zum 01.01.2007 eingeführte Elterngeld dar.15 Anspruch auf Elterngeld haben alle Erziehungspersonen, die keine volle Erwerbstätigkeit ausüben, d. h. deren wöchentliche Arbeitszeit 30 Stunden nicht übersteigt. Das Elterngeld ist als Einkommensersatzleistung ausgestaltet. Es beträgt 67 % des letzten Nettoeinkommens, jedoch mindestens 300 e und höchstens 1 800 e. Für Bezieher niedriger Einkommen erhöht sich die Einkommensersatzrate auf bis zu 100 %, bei einem Erwerbseinkommen über 1 200 e verringert sich der Elterngeldanspruch stufenweise auf 65 %. Der Anspruch auf Elterngeld entfällt, wenn das zu versteuernde Jahreseinkommen des Haushalts 250 000 e (500 000 e bei Verheirateten) übersteigt. Das Elterngeld kann bis zur Vollendung des 14. Lebensmonats des Kindes bezogen werden. Sind zwei Eltern für die Betreuung des Kindes vorhanden, kann ein Elternteil jedoch höchstens 12 Monate Elterngeld in Anspruch nehmen, zwei Monate stehen dem anderen Elternteil zu (sog. 15 Vgl. Gesetz zum Elterngeld und zur Elternzeit v. 05.12.2006 i. d. F. v. 23.05.2017. Dieses Elterngeld löste das bis dahin gewährte Erziehungsgeld ab.

12.2 Instrumente der Familienpolitik

293

„Partnermonate“). Das Elterngeld ist steuerfrei, unterliegt jedoch dem Progressionsvorbehalt. Auf das Elterngeld wird das Mutterschaftsgeld, ALG II und der Kinderzuschlag angerechnet. Die Finanzierung erfolgt durch das allgemeine Steueraufkommen. Bei einer Teilzeitbeschäftigung beträgt der Elterngeldanspruch je nach vorangegangenem Einkommen zwischen 65-67 % des Verdienstausfalls, also der Differenz des Entgelts zwischen Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigung. Eine Besserstellung für Teilzeitbeschäftigte erfolgt durch das „ElterngeldPlus“. Eltern, die während der ersten Monate nach der Geburt teilzeitbeschäftigt sind, haben danach Anspruch auf insgesamt 28 Monate Elterngeld. Sofern beide Eltern teilzeitbeschäftigt sind, erhalten die Eltern einen Bonus in Höhe von 10 % des Elterngeldes. Tabelle 12.3: Elterngeld und ElterngeldPlus (monatlich) Elterngeld

ElterngeldPlus

ohne Einkommen

mit Einkommen

ohne Einkommen

mit Einkommen

Netto-Einkommen vor der Geburt Netto-Einkommen nach der Geburt

2 000 0

2 000 1 200

2 000 0

2 000 1 200

Einkommensunterschied Basiselterngeld (hier 65%)

2 000 1 300

900 520

2 000 1 300

900 520

-

-

650 650

650 520

15 600 -

6 240 -

15 600

12 480

Deckelungsbetrag ElterngeldPlus Σ Basiselterngeld (12 Monate) Σ ElterngeldPlus (24 Monate)

Ziel des Elterngeldes ist es, den Einkommensverlust der Erziehungsperson während der Betreuungsphase auszugleichen. Die im Vergleich zur Vorgängerregelung (Erziehungsgeld) verkürzte Bezugsdauer soll einen Anreiz setzen, die erziehungsbedingte Erwerbsunterbrechung zu verkürzen. Und schließlich sollen auch Väter dazu animiert werden, Elternzeit in Anspruch zu nehmen.16

12.2.2.3 Familienpolitische Leistungen im Rahmen der sozialen Sicherung Das System der sozialen Sicherung ist in vielfältiger Weise auf die Bedürfnisse der Familie abgestellt. Es enthält v. a. folgende familienpolitische Leistungen (vgl. zu Einzelheiten die einschlägigen Abschnitte in Kap. 10.3): 1. Die Anrechnung von Kindererziehungszeiten in der GRV; 2. Hinterbliebenenrenten (einschl. Waisenrenten) der GRV, der UV und der Beamtenversorgung; 3. Familienleistungen der GKV und der SPV, diese umfassen: 16

Durch die Einführung des Elterngeldes hat sich die Inanspruchnahme der Elternzeit durch Väter deutlich erhöht. Während der Anteil der Väter, die Erziehungszeit in Anspruch nahmen, vor 2007 bei etwa 3 % lag, hat sich dieser Anteil bis 2014 auf 34 % erhöht. Allerdings nehmen Väter fast ausschließlich die beiden Partnermonate in Anspruch; vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2016.

294

• • • •

12 Familienpolitik

beitragsfreien vollen Versicherungsschutz für nicht erwerbstätige Familienangehörige; Mutterschaftshilfe und Mutterschaftsgeld; Haushaltshilfe; Vorsorgeleistungen;

4. erhöhte Lohnersatzraten für Unterhaltsverpflichtete beim Bezug von Arbeitslosengeld (§ 149 SGB III); 5. die Zahlung einer „Erziehungsrente“, die an einen überlebenden geschiedenen Ehegatten für die Erziehung mindestens eines waisenrentenberechtigten Kindes gezahlt wird, wenn er vor dem Tode des früheren Ehegatten eine Versicherungszeit von 60 Monaten zurückgelegt hat und eine Erwerbstätigkeit wegen der Kindererziehung nicht erwartet werden kann. Die Erziehungsrente wird in Höhe der Erwerbsunfähigkeitsrente gezahlt.

12.2.3 Familienpolitik im Bereich Wohnen Die Versorgung mit angemessenem Wohnraum zählt zu den wichtigen Voraussetzungen für eine gelingende Sozialisation von Kindern. Aus diesem Grund werden im Bereich des Wohnens zahlreiche Instrumente mit familienpolitischem Bezug eingesetzt. Hauptinstrumente sind das Wohngeld, die Förderung der Bildung von Wohnungseigentum, der soziale Wohnungsbau und der Mieterschutz. Das Wohngeld 17 soll dazu beitragen, dass jeder Haushalt über angemessenen Wohnraum verfügt. Die Höhe des Wohngeldes und seine Einkommensgrenzen sind von der Familiengröße abhängig. Da das Wohngeld auch als Lastenzuschuss zu den Aufwendungen für selbstgenutzten Wohnraum gewährt werden kann, ist das Wohngeld gleichzeitig ein Instrument zur Förderung der Bildung von Wohneigentum. Zielgruppe des Gesetzes über die soziale Wohnraumförderung18 sind Haushalte, die sich am Markt nicht angemessen mit Wohnraum versorgen können und auf Unterstützung angewiesen sind. Damit werden insbes. Familien mit Kindern begünstigt. Gefördert werden der Wohnungsbau, die Modernisierung von Wohnraum, der Erwerb von Belegungsrechten an Wohnraum und der Erwerb von Wohnraum. Die Förderung erfolgt durch die Gewährung von Fördermitteln als Darlehen zu Vorzugsbedingungen oder als Zuschüsse, die Übernahme von Bürgschaften und die Bereitstellung von verbilligtem Bauland. Die Förderung ist begrenzt auf Einpersonenhaushalte mit einem Einkommen bis zu 12 000 e, Zweipersonenhaushalte mit einem Einkommen bis zu 18 000 e zuzüglich 4 100 e für jede weitere zum Haushalt zu rechnende Person. Handelt es sich bei diesen Personen um Kinder, so erhöht sich die Einkommensgrenze für jedes Kind um weitere 500 e (§ 9 WoFG). Ein weiteres wichtiges familienpolitisches Instrument im Wohnungssektor ist der Kündigungsschutz für Mieter. Dieser Kündigungsschutz entfaltet für Familien eine besondere Schutzwirkung, weil Familien am ehesten durch den Nachweis einer sozialen Härte eine Beendigung des Mietverhältnisses abwehren können.

17 18

Vgl. Wohngeldgesetz (WoGG) vom 24.09.2008 i. d. F. vom 11.11.2016. Vgl. Gesetz über die soziale Wohnraumförderung (WoFG) vom 13.09.2001, zuletzt geändert am 20.11.2019.

12.2 Instrumente der Familienpolitik

295

12.2.4 Ausbildungsförderung Ein wichtiger familienpolitischer Bereich ist die Ausbildungsförderung. Sie erhöht die Chancengerechtigkeit für Kinder und Jugendlichen und macht damit das Recht auf Bildung für alle material wirksam. Außerdem verbessert sie das allgemeine Ausbildungsniveau und leistet dadurch einen Beitrag zum wirtschaftlichen Wachstum. Die allgemeinen Ausbildungsbeihilfen umfassen 1. die Normen der Berufsausbildungsbeihilfe (§ 65 ff. SGB III), 2. das Bundesausbildungsförderungsgesetz, 3. steuerliche Maßnahmen (Ausbildungsfreibeträge). Im Rahmen des SGB III haben Jugendliche Anspruch auf eine Förderung der beruflichen Ausbildung in Betrieben oder in überbetrieblichen Einrichtungen, soweit sie die für eine solche Ausbildung erforderlichen Mittel nicht selbst aufbringen können und ihren Unterhaltsverpflichteten die Aufbringung der Mittel üblicherweise nicht zugemutet wird (§ 59 SGB III). Die Förderung umfasst die Zahlung von Unterhaltsgeld und die Erstattung der Ausbildungskosten (§§ 66 bis 69 SGB III). Das Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG)19 verfolgt das Ziel, jedem Jugendlichen eine seiner Neigung, Eignung und Leistung entsprechende Ausbildung finanziell zu sichern, sofern dem Auszubildenden die erforderlichen Mittel anderweitig nicht zur Verfügung stehen. Voraussetzung für die Förderung ist, dass die Leistungen des Auszubildenden erwarten lassen, dass das angestrebte Ausbildungsziel erreicht wird. Die Ausbildungsförderung wird bei allen Förderungsarten für Schüler vollständig als Zuschuss geleistet, für Studierende dagegen grundsätzlich als zinsloses Darlehen und als Zuschuss im Verhältnis 50 : 50. Der monatliche Förderungsbedarf (= Lebensunterhalt und Ausbildungskosten) wird in Form von Pauschbeträgen festgelegt, die ebenso wie die Freibeträge alle zwei Jahre zu überprüfen und gegebenenfalls neu festzusetzen sind. Die Darlehen – maximal jedoch 10 000 e – sind innerhalb von 20 Jahren zurückzuzahlen, sofern das Einkommen bestimmte Grenzen übersteigt (vgl. § 18a BAföG). Der steuerliche Ausbildungsfreibetrag beträgt für volljährige Kinder bei auswärtiger Unterbringung 924 e (§ 33 a Abs. 2 EStG).

12.2.5 Kinder- und Jugendhilfe Unter Kinder- und Jugendhilfe versteht man alle sozialpädagogischen Hilfen, die Kindern und Jugendlichen außerhalb von Familie, Schule und Ausbildung zuteil werden (zu diesem Rechtskomplex vgl. Jordan/Maykus/Stuckstätte 2012). Gesetzliche Grundlage ist das SGB VIII (Kinderund Jugendhilfe).20 Ziel der Jugendhilfe ist es, Jugendliche in ihrer individuellen und sozialen Entwicklung zu fördern und sie zu befähigen, eine eigenverantwortliche und gemeinschaftsfähige Persönlichkeit herauszubilden (§ 1 SGB VIII). Die Jugendhilfe ist dabei subsidiär zum elterlichen Erziehungsrecht. 19 Vgl. Bundesgesetz über individuelle Förderung der Ausbildung (BAföG) vom 26.08.1971, i.d.F vom 07.12.2010, zuletzt geändert durch Gesetz vom 14.12.2019. 20 Vgl. SGB VIII v. 26.06.1990 i.d.F.v. 11.09.2012, zuletzt geändert am 30.11.2019.

296

12 Familienpolitik

Tabelle 12.4: Ausbildungsförderung 2020 Ausbildungsstätte

Nicht bei bei den den Eltern Eltern wohnenda wohnenda

1. weiterführende allgemeinbildende Schulen und Berufsfachschulen Keine ab Klasse 10 sowie Fach- und Fachoberschulen, wenn der Besuch Förderung keine abgeschlossene Berufsausbildung voraussetzt 243 2. Berufsfachschul- und Fachschulklassen, die in einem zumindest zweijährigen Bildungsgang einen berufsqualifizierenden Abschluss vermitteln, wenn der Besuch keine abgeschlossene Berufsausbildung voraussetzt 3. Abendhaupt- und Abendrealschulen, Berufsaufbauschulen, 439 Fachoberschulklassen, deren Besuch eine abgeschlossene Berufsausbildung voraussetzt 4. Fachschulklassen, deren Besuch eine abgeschlossene 446 Berufsausbildung voraussetzt, Abendgymnasien, Kollegs 5. Höhere Fachschulen, Akademien, Hochschulen 474 a

580

580

675

716 744

Zusätzlich wird ein KV-, PV-Zuschlag von 109 e gewährt

Diese Ziele sollen vor allem durch prophylaktisch angelegte Maßnahmen wie Familienbildung, Beratung und Unterstützung der Eltern bei der Versorgung und Betreuung der Kinder sowie durch die Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen erreicht werden. Hauptbereiche der Jugendhilfe sind die Jugendförderung oder Jugendpflege, die Erziehungshilfe, der Jugendschutz und die Jugendgerichtshilfe.

a) Jugendförderung Unter Jugendförderung versteht man alle Einrichtungen und Maßnahmen staatlicher und nicht staatlicher Träger und Organe der Jugendhilfe, die dazu dienen, Kinder und Jugendliche durch Jugendarbeit, Jugendsozialarbeit und erzieherischen Kinder- und Jugendschutz zu fördern. Schwerpunkte der Jugendarbeit sind die Jugendbildung, die arbeits-, schul- und familienbezogene Bildungsarbeit, die Kinder- und Jugenderholung sowie die Jugendberatung. Ein wichtiges Mittel ist die Förderung von Jugendverbänden. Die Jugendsozialarbeit besteht im Wesentlichen aus sozialpädagogischen Hilfen. Ziel des Kinder- und Jugendschutzes ist es, Eltern bei der verantwortungsbewussten Wahrnehmung der Erziehung ihrer Kinder zu unterstützen sowie Kinder und Jugendliche vor gefährdenden Einflüssen zu bewahren.

b) Erziehungshilfe Die Erziehungshilfe umfasst Beratungsangebote, die Bereitstellung eines Erziehungsbeistands und sozialpädagogische Familienhilfen bis hin zur Erziehung des Kindes in einer Tagesgruppe und in Kinder- bzw. Jugendheimen. Auf diese Erziehungshilfe besteht ein Anspruch, wenn eine dem Kindeswohl entsprechende Erziehung in der Familie nicht gewährleistet ist (§ 27 SGB VIII). Ein

12.2 Instrumente der Familienpolitik

297

gravierendes Instrument der Erziehungshilfe ist die sog. „Inobhutnahme“ nach § 42 SGB VIII. Zu ihr ist das Jugendamt verpflichtet, wenn dies das Kindeswohl erfordert. In den Bereich der Erziehungshilfe gehören • die Stärkung der Erziehungskraft und die Verbesserung der Erziehungsqualität der Familie durch Erziehungsberatung, durch Förderung von Maßnahmen der Elternbildung und die Setzung von Erziehungsnormen;21 • die Ergänzung der Familienerziehung und die Entlastung von Eltern durch ein mengenmäßig ausreichendes und qualitativ hochwertiges Angebot an Kindertageseinrichtungen; • Hilfe bei der Pflege erkrankter Kinder durch Freistellung von Eltern und durch die Gewährung von Haushaltshilfen (vgl. dazu S. 222); • Hilfen bei der Bewältigung innerfamiliärer Erziehungskonflikte, insbesondere bei Trennung oder Scheidung der Eltern.

c) Kinder- und Jugendschutz Aufgabe des Kinder- und Jugendschutzes i.w.S. ist es, Kinder und Jugendliche vor Gefährdungen zu schützen, die ihre Entwicklung beeinträchtigen könnten. Diesem Zweck dienen neben dem Kinder- und Jugendhilfegesetz das Jugenschutzgesetz und das Jugendarbeitsschutzgesetz 22 . Ziel des Jugendschutzgesetzes ist es, Gefahren für das körperliche, geistige oder seelische Wohl von Kindern und Jugendlichen abzuwenden. Es verbietet den Aufenthalt Minderjähriger an bestimmten Orten, den Verzehr und die Abgabe von alkoholischen Getränken, die Teilnahme an Glücksspielen und das Rauchen. Besondere Aufmerksamkeit widmet das Gesetz dem Schutz der Jugend vor Gefährdungen, die im Bereich der Medien drohen. Das Gesetz verlangt, Schriften und digitale Medien, welche die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit gefährden können, in eine Liste aufzunehmen. Diese Medien dürfen Kindern und Jugendlichen nicht zugänglich gemacht werden. Hierzu zählen insbes. Gewalt und Krieg verherrlichende, und zu Verbrechen oder Rassenhass anreizende Medien. Die Indizierung erfolgt durch die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM).

d) Jugendgerichtshilfe Rechtsgrundlage der Jugendgerichtshilfe ist das Jugendgerichtsgesetz 23 . Aufgabe der Jugendgerichtshilfe ist es, den Jugendgerichten eine Rechtsprechung zu ermöglichen, die den besonderen Bedürfnissen Jugendlicher Rechnung trägt. Dies umfasst die Verpflichtung des Jugendamtes, sich zur Persönlichkeit, Entwicklung und Umwelt der Jugendlichen sowie zu den zu ergreifenden 21

Hier ist insbesondere das Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung und zur Änderung des Kindesunterhaltsrechts vom 02.11.2000 zu nennen, durch das § 1631 Abs. 2 des BGB wie folgt gefasst wurde: „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“ 22 Vgl. Jugendschutzgesetz (JuSchG) vom 23.07.2002 zuletzt geändert am 10.03.2017 sowie Gesetz zum Schutz der arbeitenden Jugend (Jugendarbeitschutzgesetz – JArbSchG) v. 12.04.1976 zuletzt geändert am 10.03.2017. 23 Jugendgerichtsgesetz (JGG) vom 04.08.1953 i. d. F. vom 11.12.1974 zuletzt geändert am 09.12.2019.

298

12 Familienpolitik

Maßnahmen zu äußern. Darüber hinaus arbeiten die Jugendämter während einer Bewährungszeit eng mit den Bewährungshelfern zusammen, bleiben während des Vollzugs mit dem Jugendlichen in Verbindung und nehmen sich seiner Wiedereingliederung in die Gemeinschaft an (§ 38 Jugendgerichtsgesetz).

12.2.6 Sonstige familienpolitische Instrumente Neben den dargestellten familienpolitischen Instrumenten gibt es noch eine Reihe von Maßnahmen, die sich schwer zuordnen lassen. Es handelt sich v. a. um steuerliche Entlastungen, die sich nicht in die bisher behandelten Maßnahmengruppen einordnen lassen, um den Unterhaltsvorschuss und um soziale Hilfen für familiäre Sonderfälle. Im Rahmen steuerlicher Entlastungen ist die Berücksichtigung von Kindern bei der Definition der Grenzen für die Anerkennung außergewöhnlicher Belastungen (z. B. durch Behinderung oder Pflegebedürftigkeit) nach § 33 EStG zu erwähnen. Anstelle einer Steuervergünstigung nach § 33 EStG können Behinderte, Hinterbliebene und Pflegepersonen Pauschbeträge geltend machen (§ 33b EStG). Ein für Betroffene wichtiges Instrument ist der Unterhaltsvorschuss.24 Ihn erhalten Kinder von Alleinerziehenden, die keinen oder keinen regelmäßigen Unterhalt vom anderen Elternteil erhalten. Ist der Elternteil leistungsfähig, wird er in Höhe des geleisteten Unterhaltsvorschusses vom Staat in Anspruch genommen und zwar ohne gerichtliches Unterhaltsurteil. Der Unterhaltsvorschuss wird in Höhe des Mindestunterhalts gem. § 1612a BGB geleistet.25 Der Mindestunterhalt orientiert sich am sächlichen Existenzminimum des Kindes (steuerlicher Kinderfreibetrag gem. § 32 Abs. 6 EStG). Auf den Mindestunterhalt wird das Kindergeld angerechnet. Die Schritte zur Berechnung des monatlichen Unterhaltsvorschusses finden sich in der Tabelle 12.5. Tabelle 12.5: Berechnung des Unterhaltsvorschusses (Stand 2019) Altersstufe

Sächl. Exis- Anrechnungstenzminimum faktor

0-5 Jahre 6-11 Jahre 12-17 Jahre

(2 · 2.436) : 12 (2 · 2.436) : 12 (2 · 2.436) : 12

0,87 1,00 1,17

Mindestunterhalt

Kindergeld

Unterhaltsvorschuss

354 e 406 e 476 e

204 204 204

150 e 202 e 272 e

Unterhaltsvorschusszahlungen bis zur Vollendung des 12. Lebensjahres unterliegen keinen Beschränkungen. Darüber hinaus kann unter bestimmten Bedingungen Unterhaltsvorschuss bis zum vollendeten 18. Lebensjahr gewährt werden (§ 1 Ia UhVorschG). Für Familien in besonderen Lebenslagen kommt den sozialen Diensten eine besondere Bedeutung zu. Im Falle der Erkrankung von Kindern oder älteren Familienmitgliedern benötigen 24

Vgl. Gesetz zur Sicherung des Unterhalts alleinstehender Mütter und Väter durch Unterhaltsvorschüsse oder -ausfalleistungen (Unterhaltsvorschussgesetz) vom 23.07.1979 i. d. F. vom 17.07.2007, zuletzt geändert am 12.12.2019. 25 Der Mindestunterhalt ersetzt die sog. „Regelbetragsverordnung“. Die Änderung erfolgte im Zuge der Reform des Unterhaltsrechts 2008.

12.3 Das Gewicht familienpolitischer Leistungen

299

berufstätige Eltern ambulante Kranken- und Familienpflegedienste. Diese Dienstleistungen werden von den Gemeinden und von den gemeinnützigen Trägern erbracht. Dabei haben sich die sog. Sozialstationen besonders bewährt. Dabei handelt es sich um Einsatzzentralen, in denen die Kräfte der ambulanten Pflege zusammengefasst sind und der Einsatz dieser Kräfte zentral gesteuert wird. Erwähnung verdienen auch die Einrichtungen der Ehe- und Familien-, insbes. der Schwangerschaftsberatung.

h) Hilfen für Familien mit behinderten Kindern Besonderen ökonomischen, aber auch physischen und psychischen Belastungen sind Familien mit behinderten Kindern ausgesetzt. Zur Unterstützung dieser Familien sind folgende Leistungen vorgesehen: • Förderung der Rehabilitation Behinderter durch die gesetzliche UV, wenn die Behinderung unfallbedingt ist; • Eingliederungshilfen im Rahmen des SGB XII (siehe 6. Kapitel SGB XIII) zur Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft (Inklusion); • verstärkte steuerliche Entlastung der Eltern behinderter Kinder durch erhöhte, nach dem Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit gestaffelte Pauschbeträge.

12.3 Das Gewicht familienpolitischer Leistungen Im Zuge der Gesamtevaluation familienpolitischer Leistungen wurde versucht, die Ausgaben des Staates für familienpolitische Maßnahmen zu quantifizieren. Für das Jahr 2015 weist die Bundesregierung insgesamt 103,7 Mrd. e an familienorientierten Maßnahmen aus (vgl. Tabelle 12.6). Die quantitativ bedeutsamsten Instrumente sind das Kindergeld, die staatlichen Ausgaben für die Kindertagesbetreuung, die beitragsfreie Mitversicherung für Kinder und Jugendliche in der GKV sowie die Beitragszahlungen des Bundes für Kindererziehungszeiten an die GRV. Allerdings ist die Zurechnung bestimmter Maßnahmen zu den familienpolitischen Leistungen des Staates höchst umstritten. So umfassen bspw. die von der Bundesregierung ausgewiesenen staatlichen Kindergeldzahlungen nicht nur den Förderanteil des Kindergeldes, sondern auch die steuerliche Freistellung des Existenzminimums für Kinder. Diese steuerliche Freistellung ist jedoch keine Leistung des Staates für Familien, sondern eine verfassungsrechtliche Notwendigkeit. Umstritten ist ebenfalls, ob die beitragsfreie Mitversicherung für Kinder und Jugendliche in der Sozialversicherung eine familienpolitische Leistung darstellt (vgl. Breyer 1997: Konjunkturpolitk).26 Als eindeutige familienpolitische Leistungen lassen sich der Förderanteil des Kindergeldes, der Kinderzuschlag, das Elterngeld und die Ausgaben für Kindertagesbetreuung qualifizieren. Die Summe dieser eindeutig familienbezogenen Leistungen betrug im Jahr 2015 ca. 50 Mrd. e.

26

Ein detaillierter Überblick über die Leistungen staatlicher Familienpolitik und unterschiedlicher Berechnungsmethoden findet sich in Althammer/Klammer 2006.

300

12 Familienpolitik

Tabelle 12.6: Ehe- und familienbezogene Maßnahmen (in Mio. e) Maßnahme

2006

2010

2015

Kindergeld Kinderzuschlag Elterngeld Entlastungsbetrag für Alleinerziehende Beiträge des Bundes für Kindererziehungszeiten an die GRV Beitragsfreie Mitversicherung für Kinder und Jugendliche in der GKV Kinderzulage im Rahmen der Altersvorsorgezulage Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz Tagesbetreuung

35 004 138 405 11 393

38 920 399 4 583 350 11 637

39 498 283 5.822 545 12 149

13 700

16 409

18 559

547 853 11 097

1 183 911 16 183

1.443 843 24 574

Σ

73 137

90 575

103 716

Quelle: BMFSFJ, Familienreport 2017, S. 52

12.4 Entwicklungstendenzen und aktuelle Probleme der Familienpolitik a) Entwicklungstendenzen Die Ziele der staatlichen Familienpolitik und die aus diesen Zielen abgeleiteten Instrumente haben in der Vergangenheit einen tief greifenden Wandel erfahren. Ursprünglich war die Familienpolitik stark am Leitbild der „Hausfrauenehe“ orientiert. Dies bedeutet, dass sich die Mutter nach der Geburt der Kinder vollständig aus dem Erwerbsleben zurückzog; die wirtschaftliche Versorgung der Familie erfolgte durch den Vater (sog. „männliches Alleinverdienermodell“). Dieser Konzeption entsprach die steuerliche Veranlagung von Ehegatten durch das Splittingverfahren, die beitragsfreie Mitversicherung nichterwerbstätiger Familienmitglieder in der GKV und die Hinterbliebenenversorgung. Die Familienpolitik i. e. S. war als eine Politik des sozialen Ausgleichs besonderer Belastungen von Familien – also als Familienlastenausgleich konzipiert.27 Bis 1974 waren Kinderfreibeträge die Hauptsäule des FLA. Denn das 1955 eingeführte Kindergeld gab es bis 1961 erst vom dritten Kind an und das 1961 eingeführte Kindergeld für zweite Kinder war einkommensabhängig (vgl. Tabelle 12.7). 1975 wurden auf Initiative der SPD die Kinderfreibeträge abgeschafft, weil diese bei einem progressiven Steuertarif umso mehr Steuerentlastung bringen, je höher das Einkommen ist. Statt dessen wurde auch für das erste Kind Kindergeld eingeführt und das Kindergeld für Kinder höherer Ordnungszahl stark angehoben. Eine konzeptionelle Klärung und teilweise Neuausrichtung der Familienpolitik trat in den 1980er und 1990er Jahren ein. Im Jahr 1986 wurden als komplementäre Maßnahmen ein Erziehungsgeld, der sog. „Erziehungsurlaub“ (jetzt: Elternzeit) und die Anrechnung von Kindererziehungszeiten in der Rentenversicherung eingeführt. Ziel dieser Maßnahmen war es, die Erziehungs- und Versorgungsleistung der Eltern durch Staat und Gesellschaft anzuerkennen und das sog. „Drei-Phasen-Modell“ der sukzessiven Vereinbarkeit von Familie und Beruf sozi27

Der Familienlastenausgleich ist in § 6 SGB I verankert. Er lautet: „Wer Kindern Unterhalt zu leisten hat oder leistet, hat ein Recht auf Minderung der dadurch entstehenden wirtschaftlichen Belastungen.“

12.4 Entwicklungstendenzen und aktuelle Probleme der Familienpolitik

301

alpolitisch zu flankieren. Unter dem „Drei-Phasen-Modell“ versteht man die Tatsache, dass ein Elternteil während der frühkindlichen Erziehungsphase seine Erwerbstätigkeit für mehrere Jahre unterbricht und erst anschließend wieder auf den Arbeitsmarkt zurückkehrt. Ebenfalls in den 1990er Jahren folgte eine grundlegende Klärung der steuerlichen familienpolitischen Maßnahmen. Aufgrund der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts28 musste der Gesetzgeber die existenzminimalen Aufwendungen für die Erwachsenen und die Kinder steuerfrei stellen. Um eine verfassungswidrige Überbesteuerung von Familien zu verhindern, erhöhte der Gesetzgeber im Jahressteuergesetz 1996 die Kinderfreibeträge und verknüpfte den steuerlichen Kinderfreibetrag mit dem Kindergeld. Seither können die beiden Elemente des dualen FLA, der Kinderfreibetrag und das Kindergeld, nicht mehr gemeinsam in Anspruch genommen werden. Vielmehr werden diese Leistungen im Rahmen der sog. „Günstigerprüfung“ miteinander verrechnet. In den Folgejahren wurden der Freibetrag und das Kindergeld mehrfach erhöht (zur Entwicklung des Kindergeldes vgl. Tabelle 12.7). Eine deutliche Anhebung beider Instrumente erfolgte Anfang der 2000er Jahre. Auch diese Erhöhungen sind auf Beschlüsse des BVerfG zurückzuführen.29 Das BVerfG hatte festgestellt, dass die steuerliche Leistungsfähigkeit der Eltern nicht nur durch die Sicherung des existenzminimalen Sachbedarfs des Kindes, sondern auch durch den Betreuungs-30 und Erziehungsbedarf31 verringert wird. Der Gesetzgeber kam diesen Urteilen mit dem Familienfördergesetz vom 22.12.1999 und dem Zweiten Familienfördergesetz vom 01.01.2002 nach. In den vergangenen zwei Jahrzehnten ist ein erneuter Paradigmenwechsel im familienpolitischen Leitbild des Gesetzgebers festzustellen. Die gesetzgeberischen Maßnahmen orientieren sich seither nicht mehr am Leitbild der sukzessiven, sondern an dem der simultanen Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Im Rahmen der sog. „nachhaltigen Familienpolitik“32 ist es das erklärte Ziel des Elterngeldes, die erziehungsbedingte Phase der Erwerbsunterbrechung für beide Elternteile möglichst kurz zu halten. Hiervon verspricht sich der Gesetzgeber eine höhere finanzielle Unabhängigkeit der Betreuungsperson vom Einkommen des Partners oder der Partnerin, eine bessere Ausschöpfung des Arbeitskräftepotenzials, positive Wachstums- und Beschäftigungseffekte sowie eine Entlastung der Sozialversicherungen. Des Weiteren ist eine verstärkte Ausrichtung der Familienpolitik auf bevölkerungspolitische Ziele feststellbar.

b) Aktuelle Probleme Wohl kaum ein Bereich staatlicher Sozialpolitik ist so umstritten wie die Familienpolitik. Diese Kontroverse ist darauf zurückzuführen, dass es in einer freiheitlichen und pluralen Gesellschaft unterschiedliche Auffassungen über das zu verfolgende familienpolitische Leitbild gibt. Sie reichen vom konservativen Leitbild der bürgerlichen Familie bis hin zum Doppelverdienermodell. Das konservative Leitbild der bürgerlichen Familie beruht auf dem männlichen Alleinverdiener28

Entscheidungen vom 29.05.1990 und vom 12.06.1990 (BVerfGE 82, 60 und 82, 198). Entscheidung vom 10.11.1998 (BVerfGE 99). 30 Der Betreuungsbedarf ist definiert als die für die Erfüllung der elterlichen Pflicht zur Erziehung und Betreuung erforderliche Zeit. 31 Zum Erziehungsbedarf gehören Aufwendungen für die kulturelle, musische und sportliche Erziehung des Kindes. 32 Zum Leitbild einer „nachhaltigen Familienpolitik“ vgl. Rürup/Gruescu 2003. 29

302

12 Familienpolitik

Tabelle 12.7: Die Entwicklung des Kindergeldes 1. Kind gültig ab 1955 Okt. 1957 März 1959 Apr. 1961 1964 Sep. 1970 1975 1978 1979 Jul. 1979 Feb. 1981 1982 Jul. 1990 1992 1996 1997 1999 2000 2002 2009 2010 2015 2016 2017 2018

2. Kind

in e in DM

26 26 26 26 26 26 26 36 102 112 128 138 154 164 184 188 190 192 194

50 50 50 50 50 50 50 70 200 220 250 270

3. Kind

in e in DM

13 13 13 36 41 41 51 61 51 66 66 102 112 128 138 154 164 184 188 190 192 194

25 25 25 70 80 80 100 120 100 130 130 200 220 250 270

4. Kind u. jedes weitere in e in DM in e in DM 13 16 21 21 26 31 61 77 102 102 123 112 112 112 153 153 153 153 154 170 190 194 196 198 200

25 30 40 40 50 60 120 150 200 200 240 220 220 220 300 300 300 300

13 16 21 21 31 31 61 77 102 102 123 123 123 123 179 179 179 179 179 195 215 219 221 223 225

25 30 40 40 60 60 120 150 200 200 240 240 240 240 350 350 350 350

modell, in dem die Frau mindestens für die Zeit, in der die Kinder im gemeinsamen Haushalt leben, ausschließlich für Haushalt und Kindererziehung zuständig ist. Die soziale Absicherung der Familienmitglieder erfolgt dabei über das Erwerbseinkommen des Ehemannes. Das Doppelverdienermodell zielt darauf ab, dass beide Elternteile Erwerbstätigkeit und Kindererziehung möglichst paritätisch aufteilen (dual-earner/dual caregiver model). Ein weiteres Problem ist die Tatsache, dass – wie im Überblick über die Instrumente der Familienpolitik gezeigt wurde – Familienpolitik eine typische „Querschnittsdisziplin“ ist. Sie umfasst das Familienrecht und Teilbereiche des Steuerrechts, des Arbeits- und Sozialversicherungsrechts sowie der Bildungs-, Wohnungs- und Transferpolitik und damit Politikfelder mit jeweils unterschiedlichen politischen Ressortzuständigkeiten. Die drängendsten familienpolitischen Probleme und Kontroversen betreffen • die mangelnde Transparenz und die verteilungspolitische Inkonsistenz der monetären Leistungen, • die Frage der Gewichtung von Geld- und Sachleistungen und • den Stellenwert von allokativen und verteilungspolitischen Zielen in der Familienpolitik. Die Intransparenz der monetären Familienpolitik ist zum einen auf den Trägerpluralismus der „Querschnittsdisziplin“ Familienpolitik zurückzuführen. Die Leistungen und Anspruchsvor-

12.4 Entwicklungstendenzen und aktuelle Probleme der Familienpolitik

303

aussetzungen sind in unterschiedlichen Gesetzen kodifiziert und fallen in die Zuständigkeit verschiedener Träger der Wirtschafts– und Sozialpolitik. Damit unterscheiden sich – bei sonst identischen Bedingungen – Art und Umfang von Leistungshöhe und Anspruchsvoraussetzungen. Die Inkonsistenz des familienpolitischen Instrumentariums ist aber auch auf die Tatsache zurückzuführen, dass die monetäre Familienpolitik mehrfach vor dem Hintergrund unterschiedlicher familienpolitischer Leitbilder und fiskalischer Notwendigkeiten reformiert wurde. Beispiele für Inkonsistenzen im monetären Bereich sind die unzweckmäßige und intransparente Verknüpfung von Kindergeld und Kinderfreibeträgen im Rahmen der sog. „Günstigerprüfung“ sowie die Tatsache, dass zahlreiche Regelungen des Sozialrechts noch auf dem Drei-Phasen-Modell der Vereinbarkeit von Familie und Beruf beruhen, während sich andere Regelungen am Leitbild der simultanen Vereinbarkeit orientieren.33 Damit geraten die Instrumente der Familienpolitik in einen Wertungswiderspruch. Umstritten sind auch die verteilungspolitischen Wirkungen der monetären Familienpolitik. Hier wird vor allem der Degressionseffekt der steuerlichen Maßnahmen kritisiert, d.h. die Tatsache, dass die Steuerersparnis von Freibeträgen mit steigendem Einkommen zunimmt. Diese Kritik übersieht jedoch, dass die steuerliche Verschonung des Existenzminimums eine verfassungsrechtliche Notwendigkeit ist und der Degressionseffekt aus der Progression des Steuertarifs resultiert. Des Weiteren wird ein Übergewicht monetärer familienpolitischer Leistungen im Vergleich zu den Realleistungen, insbesondere den staatlichen Ausgaben für Kinderbetreuungseinrichtungen, kritisiert. Monetäre Transferleistungen besitzen den Vorteil, dass der Empfänger die Geldleistungen entsprechend seinen Präferenzen und den spezifischen Bedarfslagen des Einzelfalls verwenden kann. Sachleistungen stellen hingegen sicher, dass die eingesetzten Mittel entsprechend der Präferenzen des Transfergebers eingesetzt werden. Bezogen auf die Familienpolitik stellt sich damit aber auch die Frage, welchen gesellschaftlichen Stellenwert die Kinderbetreuung in der Familie hat. Denn der (zeitweise) Verzicht auf Erwerbstätigkeit zugunsten der Kindererziehung ist in den meisten Fällen nur dann eine realistische Option, wenn die hierdurch verursachten Einkommenseinbußen in gewissem Umfang abgemildert werden. Besonders umstritten ist die Frage, ob die staatliche Familienpolitik die gesellschaftlichen Leistungen der Familien honorieren und ihre wirtschaftlichen Belastungen ausgleichen soll, oder ob sie die Eltern zu einem bestimmten, gesellschaftlich erwünschten Verhalten veranlassen soll. Anders ausgedrückt, geht es um den Stellenwert von verteilungspolitischen und allokativen Zielen in der Familienpolitik. Ursprünglich wurde die Familienpolitik damit begründet, die wirtschaftlichen Belastungen von Familien teilweise auszugleichen und die Leistungen, die die Familie für die Gesellschaft erbringt, zu honorieren (Familienleistungs- und -lastenausgleich). Aus diesem Verständnis leiten sich die einkommensabhängigen familienpolitischen Transferleistungen und die Anrechnung der Kindererziehungszeiten in der GRV ab. Dieses Verständnis hat sich durch das Leitbild einer „nachhaltigen Familienpolitik“ grundlegend geändert. Mittlerweile ist es das erklärte Ziel staatlicher Familienpolitik, das Verhalten der Familienmitglieder aktiv zu beeinflussen. So soll die Erwerbsbeteiligung von Müttern erhöht, die Erziehungstätigkeit gleichmäßiger

33

Beispiele für eine Orientierung am Leitbild der sukzessiven Vereinbarkeit sind die dreijährige Elternzeit und die Regelung des SGB II, wonach die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit während der ersten drei Jahre der Kindererziehung für die Erziehungsperson als unzumutbar gilt. Beispiele für Regelungen, die sich am Leitbild der simultanen Vereinbarkeit orientieren, sind die Höherbewertung von Kinderberücksichtigungszeiten in der GRV sowie das Elterngeld.

304

12 Familienpolitik

auf beide Elternteile verteilt und die Geburtenrate gesteigert werden.34 Besonders umstritten ist dabei die Frage, ob die Familienpolitik bevölkerungspolitische Ziele verfolgen soll. Befürworter einer pronatalistischen Familienpolitik verweisen auf die Folgen des demografischen Wandels für die Wirtschaft und das System der sozialen Sicherung. Kritiker sehen darin einen zu weit gehenden Eingriff des Staates in die Persönlichkeitsrechte und in die Autonomie des Einzelnen in einem besonders sensiblen Bereich. Unabhängig von der Frage, ob die staatliche Familienpolitik allokative Ziele verfolgen sollte, ist zu beachten, dass die Vergabe von Geld- oder Sachleistungen und die Besteuerung die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen der Familien beeinflussen. Es ist davon auszugehen, dass die Familienmitglieder ihr Arbeitsangebot und ihre Entscheidung über Art und Umfang der Kinderbetreuung an diese Rahmenbedingungen anpassen. Um ein umfassendes Bild über die Wirkungen und die Kosten der Familienpolitik zu erhalten, ist deshalb eine theoretische und empirische Analyse der allokativen Effekte staatlicher Familienpolitik unabdingbar.35 Angesichts dieser nach wie vor existierenden fundamentalen Auffassungsunterschiede wird die Frage nach der optimalen Ausgestaltung des familienpolitischen Instrumentariums auf absehbare Zeit eine stark normativ geprägte Kontroverse bleiben.

Literatur a) Monographien und Aufsätze Althammer 2000 - Dienel 2002 - Gerlach 2010 - Kaufmann 1995 - Lampert 1996 - Peuckert 2019 - Seiler 2008 - Sieder 2001 - Wingen 1997 - Zacher 1989

b) Laufende Materialquellen und Periodika Familienberichte der Bundesregierung Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats für Familienfragen Zeitschrift für das gesamte Familienrecht, Bielefeld Zeitschrift für Familienforschung, Opladen

34

Zum Leitbild des Familienlasten- und leistungsausgleichs vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2001, zur nachhaltigen Familienpolitik Rürup/Gruescu 2003. 35 Die Analyse der allokativen Effekte familienpolitischer Maßnahmen erfolgt im Rahmen der ökonomischen Theorie der Familie und der Familienpolitik. Vgl. dazu Becker 1991, Zimmermann 1985, Ott 1992, Ott 1997 und Ott 2000 sowie Althammer 2000. Zur Gesamtevaluation familienpolitischer Leistungen vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2013 sowie Bonin 2013b.

Kapitel 13

Vermögenspolitik

13.1 Definition, Notwendigkeit und Ziele Unter (praktischer) Vermögenspolitik ist die Summe der staatlichen Maßnahmen zu verstehen, die das Ziel verfolgen, die Bildung und die Verteilung des Vermögens in der Gesellschaft zu beeinflussen. Mögliche Ansatzpunkte der Vermögensverteilungspolitik sind die Umverteilung der vorhandenen Vermögenssubstanz (Vermögensbestandspolitik) und die Beeinflussung der Verteilung des neu gebildeten Vermögens (Vermögensbildungspolitik). Unter dem Vermögen einer natürlichen oder juristischen Person versteht man generell den monetarisierten Wert aller materiellen und immateriellen Güter, die den Wohlstand dieser Person erhöhen. Nach dieser sehr allgemeinen Definition fallen neben dem Sach- und Geldvermögen auch die Ansprüche gegen das System sozialer Sicherung (das Sozialversicherungsvermögen), die wirtschaftlich verwertbaren menschlichen Fähigkeiten (das Humanvermögen) und die Netzwerke an sozialen Beziehungen (das Sozialkapital) unter den Vermögensbegriff. Allerdings ist dieser sehr weite Vermögensbegriff nicht operabel, da wichtige Bestandteile des Vermögens geschätzt werden müssten bzw. quantitativ gar nicht erfasst werden können. Deshalb verwendet die amtliche Statistik und die darauf aufbauende Vermögensverteilungsrechnung einen eingeschränkten Vermögensbegriff. Gemäß dem Europäischen System Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen (ESVG) lassen sich die Positionen der Vermögensbilanz einer Volkswirtschaft wie in Tabelle 13.1 untergliedern. Danach besteht das Vermögen aus den durch reale Nettoinvestitionen entstandenen Anlagegütern, den nichtproduzierten Vermögensgütern (Grund und Boden) sowie dem Geldvermögen. Da jeder Geldforderung eine Verbindlichkeit in gleicher Höhe gegenüber steht, ist das Nettofinanzvermögen in einer geschlossenen Volkswirtschaft immer gleich Null. In einer offenen Volkswirtschaft besteht das Finanzvermögen aus den Nettoforderungen des Inlands gegenüber dem Ausland. Im Unterschied zum Einkommen ist das Vermögen eine Bestandsgröße, dessen Wert zu einem bestimmten Stichtag ermittelt wird. Im Mittelpunkt der vermögenspolitischen Diskussion steht einerseits die Verteilung des Vermögens auf staatliche und private Wirtschaftssubjekte, andererseits die Verteilung des Sach- und Geldvermögens auf Personen, Haushalte und soziale Gruppen (personelle und sozialökonomische Verteilung).

305

© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2021 J. Althammer et al., Lehrbuch der Sozialpolitik, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56258-1_13

306

13 Vermögenspolitik

Tabelle 13.1: Bestandteile des Vermögens Aktiva

Passiva

Sachvermögen Produzierte Vermögensgüter Alle Anlagegüter Sachanlagen Nutztiere und Nutzpflanzungen Ausrüstungen Bauten Geistiges Eigentum Nichtproduzierte Vermögensgüter Grund und Boden

Fremdkapital Kredite und sonstige Verbindlichkeiten

Geldvermögen Bargeld und Einlagen Wertpapiere Übrige Forderungen

Eigenkapital Anteilsrechte Reinvermögen

Quelle: Statistisches Bundesamt, Sektorale und gesamtwirtschaftliche Vermögensbilanzen 1999 - 2016, Wiesbaden

Die Notwendigkeit einer Politik der breiten Streuung des Vermögens ergibt sich aus den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Funktionen, die das Vermögen in einem marktwirtschaftlichen System hat.1 1. Erwerbswirtschaftlich genutztes Vermögen ist die Quelle von Vermögenseinkommen (Pacht-, Zins-, Dividendenerträge). Eine ungleiche Vermögensverteilung schlägt sich deshalb in einer ungleichen Verteilung der Einkommen nieder. Wer über kein Vermögen verfügt oder keine Chance hat, Vermögen zu erwerben, hat zudem keine Chance, sog. „fundiertes“ Einkommen, d. h. Einkommen ohne laufende Arbeitsleistung, zu erzielen (Einkommensfunktion). 2. Vermögen erhöht die wirtschaftliche und soziale Sicherheit der Vermögensbesitzer (Sicherungsfunktion). Diese Sicherungsfunktion des Vermögens ist ganz offensichtlich bei Forderungen gegen Privat- und Sozialversicherungen. Aber auch andere Vermögensformen (Grund und Boden, Wohnungseigentum, Wertpapiere) können als Sicherheiten eingesetzt werden. 3. Da der Vermögenseigentümer über sein Vermögen im Rahmen der Rechtsordnung frei verfügen kann, erhöht Vermögen die Freiheitsspielräume des Vermögenseigentümers (Freiheitsfunktion). Daher ist eine Politik der gleichmäßigen Vermögensverteilung gleichbedeutend mit einer Politik einer gleichmäßigeren Verteilung der materialen Freiheit und der Verwirklichungschancen in der Gesellschaft. 4. Eng verbunden mit der Freiheitsfunktion ist die Machtfunktion des Vermögens. Ungleichheiten in der Vermögensverteilung haben Ungleichheiten in der Verfügungsmacht über wirtschaftliche Güter zur Folge. Diese Ungleichheiten widersprechen nicht nur dem Ziel sozialer Gerechtigkeit, sondern sie können auch die Stabilität einer marktwirtschaftlichen Gesellschaftsordnung gefährden. Eine sehr hohe Vermögenskonzentration beeinträchtigt schließlich auch die demokratische Qualität der Gesellschaft. Denn Vermögensmacht ist in wirtschaftliche Macht, wirtschaftliche Macht in politischen Einfluss umsetzbar. Eine hohe Vermögenskonzen1

Vgl. dazu auch Nell-Breuning 1970, S. 61 ff., Küng 1964 und Issing/Leisner 1976.

13.2 Vermögensbildung und -verteilung in der Bundesrepublik Deutschland

307

tration gefährdet daher den demokratischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess (vgl. dazu Andersen 1976, S. 74 ff.). 5. Privates Vermögen kann übertragen und vererbt werden (Vererbungsfunktion). Die Empfänger von Vererbungen und Schenkungen erhalten dadurch bessere Startchancen und Entwicklungsbedingungen. Eine ungleiche Verteilung des Vermögens führt zu ungleichen wirtschaftlichen Startbedingungen, widerspricht dem Kriterium der Leistungsgerechtigkeit und verringert auch die soziale Mobilität in der Gesellschaft. Die zentrale gesellschaftspolitische Bedeutung der Vermögensverteilung zeigt sich nicht zuletzt darin, dass es die ungleiche Verteilung des Vermögens – insbes. des Produktivvermögens – war, welche die Gesellschaft in der frühindustriellen Phase in die Klasse der Vermögensbesitzer einerseits und in die Klasse der besitz- und vermögenslosen Arbeiter andererseits gespalten hat. Diese klassengebundene, durch das politische System, die Rechtsordnung und das Bildungssystem perpetuierte Ungleichheit der Stellung im wirtschaftlichen und sozialen Gefüge war eine der entscheidenden Ursachen für die Entstehung der Ideen des Sozialismus. Die gesellschaftspolitische Bedeutung der Vermögenspolitik besteht darin, durch eine breite Streuung des Vermögens die entscheidenden Qualitäten der Sozialen Marktwirtschaft – ein hohes Maß an persönlicher, politischer und wirtschaftlicher Freiheit, ein hohes Maß an sozialer Sicherheit und sozialer Gerechtigkeit sowie ein demokratischer und pluralistischer politischer Entscheidungsprozess – zu erhalten und zu verbessern. Eine Politik der breiten Vermögensstreuung zählt deshalb zu den zentralen Aufgaben einer sozialstaatlichen Ordnung, die ihr Ziel nicht primär in der Umverteilung vorhandenen Einkommens, sondern in der sozialen Ausgestaltung der Zugangsvoraussetzungen und der Teilnahmebedingungen in einer marktwirtschaftlichen Ordnung sieht. Anders formuliert: das Leitbild dieser Politik ist nicht der umverteilende Wohlfahrtsstaat, sondern eine property owning democracy.2

13.2 Vermögensbildung und Vermögensverteilung in der Bundesrepublik Deutschland 13.2.1 Vermögensverteilung und Vermögensbildung seit 1950 Obwohl das Vermögen von großer Bedeutung für den gesellschaftlichen Wohlstand ist, sind die Informationen über die Höhe und die Verteilung des Vermögens nach wie vor unvollständig. Dies hat mehrere Gründe. Zum einen stellt sich das Problem der Bewertung von Vermögensbestandteilen, für die keine laufenden Marktwerte verfügbar sind,3 die jedoch für eine umfassende und konsistente Vermögensrechnung erforderlich wären. Des Weiteren weist die amtliche Vermögensstatistik methodische Brüche auf, die einen Vergleich der Daten über längere Zeiträume hinweg erschweren. Und schließlich beruhen die Informationen zur Verteilung der Vermögen vielfach auf 2

Das Konzept einer property owning democracy geht auf James E. Meade zurück und wurde von John Rawls in seinem Spätwerk als Alternative zum umverteilenden Wohlfahrtsstaat aufgegriffen; vgl. Meade 1965 sowie Rawls 2001. Vgl. hierzu auch Williamson 2009, O’Neill 2009 sowie Thomas 2017. 3 Vgl. zu den möglichen Bewertungsprinzipien (Anschaffungswertprinzip bzw. Bewertung zu Herstellungskosten; Wiederbeschaffungsprinzip bzw. Bewertung zu Reproduktionskosten; Bewertung zum Veräußerungswert und Bewertung zum Ertragswert) und ihren Vor- und Nachteilen Stobbe 1994, S. 48 ff.

308

13 Vermögenspolitik

freiwilligen Befragungen und auf subjektiven Schätzungen. Dadurch werden erfahrungsgemäß die sehr hohen Vermögen untererfasst. Aus diesen Gründen kann an dieser Stelle kein konsistentes Bild der Entwicklung des Volksvermögens und seiner Verteilung in Deutschland gegeben werden; es lassen sich allenfalls die Grundzüge dieser Entwicklung anhand einschlägiger Studien nachzeichnen.

a) Entwicklung und Höhe des Volksvermögens Eine umfassende Berechnung über die Höhe und die Entwicklung des Vermögens in den Jahren 1950 bis 1970 liefert die einschlägige Studie von Engels/Sablotny/Zickler 1974. Sie zeigt, dass sich das Volksvermögen in diesen zwei Jahrzehnten mehr als verfünffacht hat. Dieser Anstieg ist auf die dynamische Wirtschaftsentwicklung der Nachkriegsphase zurückzuführen. Die Bundesrepublik Deutschland hat sich frühzeitig vom Schuldner zum internationalen Gläubiger entwickelt: bereits seit 1960 sind die Geldvermögen, die im Ausland gehalten werden höher als die ausländischen Verbindlichkeiten, so dass die Nettoforderungen gegenüber dem Ausland positiv sind. Für die Jahre ab 1991 liegen konsolidierte Vermögensrechnungen des Statistischen Bundesamts vor. Diese Berechnungen zeigen, dass das Volksvermögen in den Jahren von 1991 bis 2015 nochmals um das 2,5-fache gestiegen ist (vgl. Tab. 13.2). Tabelle 13.2: Bestandteile des Vermögens (in Mrd. e) 1950 Volksvermögen Anlagegüter Grund u. Boden Nettoforderungen ggü. dem Ausland Verhältnis Volksvermögen zu Bruttoinlandsprodukt

1970

1991

2000

207

1 149

5 985

9 182 14 758

2015

– –

– –

4 608 1 168

6 783 2 433

9 755 3 752

-2,4

30,3

177

-34

1 252

4,1

4,1

3,9

4,3

4,8

Quelle: Bis 1970 Engels/Sablotny/Zickler 1974; ab 1991: Stat. BA (Hrsg.), Sektorale und gesamtwirtschaftliche Vermögensbilanzen 19912012 und 1999-2016, Wiesbaden 2013 und 2017; eigene Berechnungen.

Im Rahmen dieser Vermögensrechnung werden auch die Vermögensbestände der volkswirtschaftlichen Sektoren (Staat, private Haushalte, finanzielle und nichtfinanzielle Kapitalgesellschaften) ausgewiesen (vgl. Tab. 13.3) Die Tabelle zeigt, dass die Sektoren mit den größten Reinvermögen die Privathaushalte und die nichtfinanziellen Kapitalgesellschaften sind. Das Reinvermögen des Staates ist aktuell niedriger als 1991, was vor allem auf die zunehmende Staatsverschuldung zurückzuführen ist. Die bedeutendsten Vermögenskategorien der privaten Haushalte sind das Immobilien- und das Geldvermögen. Beim Geldvermögen dominieren das Bargeld und die Sichteinlagen vor den Versicherungsansprüchen und dem Wertpapiervermögen. Bei den finanziellen Kapitalgesellschaften ist eine deutliche Verschiebung in der Portfoliostruktur erkennbar. Der Bestand an Krediten hat sich

13.2 Vermögensbildung und -verteilung in der Bundesrepublik Deutschland

309

Tabelle 13.3: Verteilung des Vermögens nach Sektoren (in Mrd. e) 1991

2000

2010

2015

Gesamte Volkswirtschaft Aktiva Anlagegüter Grund u. Boden Nettoforderungen ggü. d. Ausl. Reinvermögen (=Volksvermögen)

6 632 12 515 17 930 21 409 4 640 6 783 8 429 9 755 1 168 2 433 2 970 3 752 177 -34 428 1 252 5 985 9 182 11 827 14 758

Staat Aktiva Anlagegüter Grund u. Boden Geldvermögen Fremdkapital Reinvermögen

1 378 795 129 454 580 798

1 950 1 035 310 605 1 260 690

Private Haushalte Aktiva Anlagegüter dar.: Wohnbauten Grund u. Boden Geldvermögen Kredite u. sonst. Verbindl. Reinvermögen

4 783 2 076 1 700 779 1 926 829 3 954

8 240 10 587 12 816 3 131 4 053 4 776 2 632 3 483 4 163 1 596 1 987 2 534 3 513 4 547 5 506 1 515 1 535 1 638 6 725 9 052 11 178

2 526 1 205 369 951 2 179 346

2 904 1 339 438 1 128 2 402 502

Nichtfinanzielle Kapitalgesellschaften Aktiva 2 779 Anlagegüter 1 652 Grund u. Boden 240 Geldvermögen 887 Fremdkapital 1 059 Reinvermögen 1 106

5 241 2 456 495 2 290 1 622 1 751

Finanzielle Kapitalgesellschaften Aktiva Anlagegüter Grund u. Boden Geldvermögen Fremdkapital Reinvermögen

8 049 11 252 12 662 160 158 182 32 37 41 7 857 11 330 12 439 6 512 9 447 9 664 17 443 595

3 169 116 20 3 033 2 665 135

5 917 3 013 580 2 324 1 907 1 986

7 325 3 459 740 3 127 2 168 2 249

Quelle: Stat. BA (Hrsg.), Sektorale und gesamtwirtschaftliche Vermögensbilanzen 1991-2012 und 1999-2016, Wiesbaden 2013 und 2017

in den vergangenen zwei Jahrzehnten um das 2,5-fache erhöht, während sich der Wertpapierbestand (festverzinsliche Wertpapiere und Aktien sowie Finanzderivate und Investmentzertifikate) mehr als verfünffacht hat. Mittlerweile entspricht das monetäre Volumen des Wertpapierbestands der Summe der Kredite im Finanzsektor.

310

13 Vermögenspolitik

b) Verteilung des Vermögens Die Entwicklung der durchschnittlichen Vermögen sagt noch nichts darüber aus, wie die Vermögen in der Gesellschaft verteilt sind. Hierzu sind umfangreiche Informationen über die Vermögensverteilung auf Haushalts- und Personenebene sowie noch soziodemografische Merkmale erforderlich. Einen Eindruck über die Vermögensverteilung geben Tabelle 13.4 und Abb. 13.1. Wie die Tabelle 13.4 zeigt, ist der Median4 des Brutto- und Nettovermögens deutlich geringer als der jeweilige Mittelwert. Dies deutet bereits auf eine starke Ungleichverteilung der Vermögen hin. Der Gini-Koeffizient des individuellen Bruttovermögens betrug im Jahr 2012 0,73, der des individuellen Nettovermögens 0,78. Damit sind die Vermögensbestände deutlich ungleicher verteilt als die Einkommen. Wie die Lorenzkurve in Abb. 13.1 zeigt, vereinigen die oberen 20 % der Haushalte etwa 3/4 des Vermögens, die oberen 10 % mehr als die Hälfte des Vermögens auf sich.

Individuelle Bruttovermögen

Mittel Median Gini

101 036 22 400 0,734

Individuelle Nettovermögen

Mittel Median Gini

85 226 17 181 0,780

Perzentilverhältnisse des individuellen Nettovermögens

P80/P50 P90/P50 P95/P50

Tabelle 13.4: Vermögensverteilung

7,5 12,6 18,6

Abb. 13.1: Lorenzkurve der Vermögensverteilung

Eine differenzierte Analyse des Brutto- und Nettovermögens sowie der Verschuldung privater Haushalte liefert die Deutsche Bundesbank5 (vgl. Tabelle 13.5). Danach verfügten die privaten Haushalte im Durchschnitt im Jahr 2017 über ein Bruttovermögen in Höhe von 262 500 e. Abzüglich der Schulden ergibt sich ein mittleres Nettovermögen in Höhe von 232 800 e. Der Median des Bruttovermögens liegt hingegen bei 86 400 e, der des Nettovermögens bei 70 800 e. Diese erhebliche Differenz zwischen dem Mittelwert und dem Median des Vermögens weist auf eine starke Ungleichverteilung des Vermögensbestands hin. Auch diese Auswertung zeigt ein deutliches West-Ost-Gefälle bei den Vermögen. Das durchschnittliche Nettovermögen beträgt in Westdeutschland das 2,9-fache des Vermögens ostdeutscher Haushalte. Erhebliche Vermögensunterschiede gibt es auch zwischen Immobilienbesitzern und Mietern. Das durchschnittliche Vermögen der Wohneigentümer mit Hypothekenkrediten ist in etwa sieben mal so hoch wie 4 5

Der Median ist der Wert, der die Haushalte in eine reichere und eine ärmere Hälfte teilt. Vgl. die Monatsberichte der Deutschen Bundesbank: März 2016, S. 61 ff. sowie April 2019, S. 13ff.

13.2 Vermögensbildung und -verteilung in der Bundesrepublik Deutschland

311

das durchschnittliche Vermögen von Mietern; bei Eigenheimbesitzern ohne Hypothekenkredit liegt das Vermögen sogar neunmal so hoch. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass es sich bei diesen Werten um eine reine Querschnittsanalyse handelt, die keine Aussage über Vermögensbildungsprozesse im Lebenszyklus zulässt. So ist davon auszugehen, dass sich in der Gruppe der Mieter zahlreiche jüngere Personen befinden, die erst in Zukunft ein Eigenheim und damit Immobilienvermögen erwerben werden. Tabelle 13.5: Bruttovermögen, Nettovermögen und Verschuldung privater Haushalte in Deutschland 2017 (in e) Bruttovermögen Mittelwert

Median

Nettovermögen Mittelwert

Verschuldung

Median Prävalenzbed. rate Mittel% wert

bed. Median

Alle Haushalte

262 500

86 400 232 800

70 800

45

65 200

19 800

Region Ost West

110 400 26 700 93 200 302 500 123 300 269 600

23 400 92 500

45 45

38 200 72 300

9 700 24 700

Wohnsituation Eigentümer ohne Hypothek mit Hypothek Mieter

513 400 319 700 494 900 317 100 527 300 316 800 406 000 218 400 61 400 13 400 54 900 10 400

25 74 900 100 121 300 38 17 000

19 300 85 400 5 000

Alter der Referenzperson 16-24 16 400 6 600 13 000 4 500 25-34 88 800 17 400 64 500 13 600 35-44 210 700 82 900 162 300 56 300 45-54 389 200 174 100 339 900 138 700 55-64 352 100 202 100 317 100 180 900 65-74 328 300 171 800 313 200 166 800 75+ 227 500 84 800 223 600 84 400

41 57 65 60 48 28 10

200 500 900 900 600 600 800

4 7 29 41 30 8 9

800 300 500 700 000 900 900

Soziale Stellung der Referenzperson Selbstständige 779 000 270 Beamte 346 800 245 Angestellte 259 300 97 Arbeiter 143 500 42 Arbeitslose 40 400 1 Nichtwerwerbstätige 222 100 70 Rentner 229 000 91 Pensionäre 452 300 380

59 112 100 62 84 200 59 72 900 58 48 900 37 14 700 25 39 400 16 31 700 34 143 000

51 21 29 22 1 6 6 69

200 400 300 600 200 800 300 500

44 55

23 700 8 700

700 600 500 600 500 800 500 300

712 294 216 114 35 212 223 403

600 211 000 200 170 500 100 76 900 900 26 900 000 600 400 67 300 800 87 700 800 353 200

Nationalität der Referenzperson deutsch 284 100 108 000 253 300 andere Nationalität 132 800 18 200 108 500

87 100 11 000

8 42 74 81 73 54 40

69 800 44 300

Quelle: Deutsche Bundesbank, Monatsbericht April 2019, S. 33.

Deutlich erkennbar ist auch der Unterschied in der Vermögensposition zwischen Selbständigen und abhängig Beschäftigten. Das durchschnittliche Nettovermögen eines Selbständigen-

312

13 Vermögenspolitik

haushalts beläuft sich auf das Dreifache des durchschnittlichen Nettovermögens eines Angestelltenhaushalts und sogar auf das Sechsfache des Vermögens eines Arbeiterhaushalts. Neben den unterschiedlichen Möglichkeiten zur Vermögensbildung innerhalb der Gruppe der abhängig Beschäftigten drückt sich in diesen Zahlen auch die unterschiedliche Funktion des Vermögens für unterschiedliche soziale Gruppen aus. Selbständige sind im Unterschied zu abhängig Beschäftigten auf gewerblich genutztes Betriebsvermögen angewiesen und müssen in höherem Maße private Rücklagen für ihre Altersvorsorge bilden. Auffallend ist das hohe Vermögen der Ruheständler, insbesondere der Pensionäre. Das Nettovermögen der Pensionäre beträgt das 1,8-fache des Nettovermögens der Rentnerhaushalte. Aufschlussreich ist schließlich auch die Zusammensetzung des Vermögensbestands nach verschiedenen Vermögensarten, also die Portfoliostruktur der Haushalte. Wie die Tabelle 13.6 zeigt, besitzen fast alle Haushalte Vermögen in Form von Sicht- und Sparguthaben. Etwa die Hälfte aller Haushalte verfügt über selbstgenutztes Wohneigentum und private Lebensversicherungen. Bei der privaten Altersvorsorge lassen sich hinsichtlich der Eigentümerquote keine signifikanten Unterschiede zwischen staatlich geförderten Anlagen (Riester- und Rürup-Produkte) und nicht geförderten Produkten feststellen. Allerdings können aus diesen Anteilswerten keine Schlüsse über die jeweilige Höhe der Anlagen und deren Verteilung gezogen werden. Tabelle 13.6: Portfoliostruktur der privaten Haushalte in Deutschland (2017) Anteil der Bed. Bed. Haushalte Mittelwert Median in in % in e e Sachvermögen Eigentum am Hauptwohnsitz Fahrzeuge und Wertgegenstände Betriebsvermögen Finanzvermögen Girokonten Sparkonten (ohne private Altersversorgung) Private Altersvorsorge insgesamt (inkl. Lebensversicherungen) Fondsanteile (ohne private Altersversorgung) Aktien Verschuldung Hypothekenschulden Unbesicherte Kredite

83 44 78 10 99 99 70 43

249 258 13 309 56 7 27 33

16 11 45 21 33

100 800 600 900 800 100 600 200

37 500 43 65 125 10

700 200 100 800

106 199 8 26 16 1 9 15

900 200 000 600 900 800 900 400

12 900 9 19 81 4

900 800 000 900

Quelle: Deutsche Bundesbank, Monatsbericht, April 2019, S. 27.

c) Die Entwicklung der Vermögensverteilung Deutlich schwieriger als eine Bestandsaufnahme der Vermögensverteilung zu einem bestimmten Zeitpunkt ist die Ermittlung der Entwicklung dieser Verteilung im Zeitablauf. Die Schwierigkeit einer längerfristigen Vermögensverteilungsrechnung ergibt sich aus der Tatsache, dass über

13.2 Vermögensbildung und -verteilung in der Bundesrepublik Deutschland

313

die Höhe und Verteilung der Vermögen keine einheitlichen Statistiken über längere Zeiträume existieren. Bei der Frage nach der Entwicklung der Vermögensverteilung ist man deshalb auf Berechnungen und Schätzungen unterschiedlicher Autoren angewiesen, die den Vermögensbegriff unterschiedlich abgrenzen und verschiedene Methoden zur Vermögensberechnung verwenden. Aus diesem Grund sind längerfristige Vergleiche zur Vermögensverteilung nur sehr eingeschränkt möglich. Die Tabelle 13.7 liefert eine Zusammenstellung einschlägiger Analysen zur Vermögensverteilung von 1973 bis 2003 (vgl. Frick/Grabka/Hauser 2010, S. 30) sowie Auswertungen des Sozioökonomischen Panels für die Jahre 2007 und 2012. Bei der Interpretation der Ergebnisse muss berücksichtigt werden, dass die hier referierten Werte verschiedenen Studien entnommen wurden, die sich methodisch und hinsichtlich der verwendeten Datengrundlage erheblich unterscheiden. Insbesondere die Werte ab 2007 sind mit den früheren Angaben nur bedingt vergleichbar. Wenn man trotz dieser Einschränkungen die ausgewiesenen Werte miteinander vergleicht, so zeigt sich, dass das durchschnittliche Haushaltsvermögen im betrachteten Zeitraum erkennbar gestiegen ist. Die höchsten Steigerungsraten des Vermögens sind von 1973 bis 1983 zu verzeichnen. Die Vermögensverteilung hat sich bis Anfang der 1990er Jahre etwas egalisiert, nimmt jedoch seither wieder zu. Dieser Anstieg der Ungleichverteilung ist vor allem auf die Zunahmen des Vermögensanteils des obersten Dezils der Vermögensbesitzer zurückzuführen. Tabelle 13.7: Entwicklung der Verteilung des Nettovermögens pro Person

Arithm. Mittel (in 1 000 e) Gini-Koeffizient Anteil des obersten Dezils Anteil der unteren Hälfte

1973

1983

1993

2003

2007

2012

19,3 0,690 – 6,5

31,0 0,662 47,1 5,3

56,0 0,603 41,3 6,0

65,8 0,638 45,9 6,8

81,1 0,767 57,5 1,4

83,3 0,780 – –

Quelle: 1973 bis 2007: Frick/Grabka/Hauser 2010, S. 34; Werte für 2012: Grabka/Westermeier 2014, S. 153.

Methodisch vergleichbare Verteilungsstatistiken liegen für das Privatvermögen erst ab dem Jahr 2002 vor. Auf der Grundlage des Sozio-ökonomischen Panels zeigt sich, dass der Nominalwert der privaten Nettovermögen in der Zeit von 2002 bis 2012 nur geringfügig angestiegen ist (vgl. Grabka/Westermeier 2014). Die Vermögensverteilung ist in diesem Zeitraum ebenfalls weitgehend konstant geblieben. Überraschenderweise hat sich auch die Finanzkrise nicht egalisierend auf die Vermögensverteilung ausgewirkt. Fasst man die vorliegenden Ergebnisse zusammen so zeigt sich, dass die Vermögen sehr ungleich verteilt sind. Sie sind insbesondere deutlich ungleicher verteilt als die verfügbaren Einkommen. Diese starke Ungleichverteilung ist in den vergangenen Jahrzehnten sogar noch etwas gestiegen.

13.2.2 Die Ursachen der Vermögensungleichverteilung Die Tatsache, dass die Vermögen deutlich ungleicher verteilt sind als die Einkommen, lässt sich in allen entwickelten Volkswirtschaften beobachten. Ob sich aus dieser höheren Ungleichverteilung

314

13 Vermögenspolitik

ein verteilungspolitischer Handlungsbedarf ergibt lässt sich jedoch erst diskutieren, nachdem die Ursachen für diese höhere Ungleichverteilung bestimmt wurden. Im Wesentlichen gibt es drei Faktoren, welche die hohe Ungleichverteilung des Vermögensbestands begründen können: Lebenszyklusentscheidungen, Vererbungen und die Selbstalimentierung des Vermögens.

a) Die Lebenszyklushypothese des Konsums Die Lebenszyklushypothese des Konsums geht davon aus, dass die Individuen versuchen, ihren Konsum im Lebensverlauf möglichst stabil zu halten. In Phasen mit hohem Einkommen werden Rücklagen gebildet, die in Lebensphasen mit geringen Einkünften, insbesondere im Ruhestand, verbraucht werden. Der Vermögensauf- und -abbau dient somit der Verstetigung des Konsums über den Lebenszyklus. Die Abbildung 13.2 veranschaulicht diesen Zusammenhang unter stark vereinfachenden Annahmen. es wird unterstellt, dass der Haushalt zwei Lebensphasen durchläuft: die Phase der Erwerbstätigkeit (von 0 bis t1 ) und die Ruhestandsphase (von t1 bis T ). In der Erwerbsphase bezieht der Haushalt ein konstantes Erwerbseinkommen in Höhe von 0A, das in der Ruhestandsphase entfällt. Von Sozialleistungen, Steuern und Beitragszahlungen wird aus Gründen der Vereinfachung abstrahiert. Um den Konsumstrom über den gesamten Lebensverlauf auszugleichen, muss der Haushalt in der Erwerbsphase Ersparnisse in Höhe von AB bilden, die in der Ruhestandsphase aufgebraucht werden. Dieser Auf- und Abbau von Vermögenspositionen über den Lebenszyklus hinweg führt dazu, dass bei einer reinen Querschnittsbetrachtung die Vermögensbestände ungleich verteilt sind, obwohl in diesem Beispiel eine vollkommen egalitäre Einkommensverteilung unterstellt und von Erbschaften abstrahiert wird. € Vermögen

A

Einkommen Ersparnis

B

Entsparen

Konsum

0

t1

T

Abb. 13.2: Vermögensbildung im Lebenszyklus

Zeit

13.2 Vermögensbildung und -verteilung in der Bundesrepublik Deutschland

315

b) Vererbungen Erbschaften werden zu einem zunehmend wichtigeren Faktor bei der Erklärung der Vermögensverteilung. Vererbungen verändern nicht die Höhe des gesamtwirtschaftlichen Vermögens, aber die Verteilung dieses Vermögens innerhalb der Gesellschaft. Für Deutschland ist relevant, dass in den kommenden Jahren erstmals Vermögenswerte übertragen werden, die nicht durch Kriegsfolgelasten entwertet wurden. Nennenswerte Vermögensübergänge finden dabei vor allem in den beiden oberen Quintilen der Vermögensverteilung statt (vgl. Hauser/Stein 2001). Die Übertragung des Vermögens von einer Generation auf die nächste wird voraussichtlich dazu führen, dass sich die Vermögensverteilung etwas egalisiert. Denn zum einen haben vermögende Haushalte im Durchschnitt mehr Kinder, so dass sich die Erbmasse auf mehrere Erben aufteilt. Zum anderen unterliegt die Übertragung der Vermögen der Erbschafts- und Schenkungssteuer. Diese steuerliche Belastung der Vermögenssubstanz wird sich ebenfalls egalisierend auf die Vermögensverteilung auswirken. Aus diesem Grund wird die Besteuerung von Erbschaften wieder verstärkt als ein Instrument der Vermögensverteilungspolitik diskutiert (vgl. hierzu Abschnitt 13.3.1, S. 327).

c) Selbstalimentierung des Vermögens Erwerbswirtschaftlich genutztes Vermögen generiert Einkommen in Form von Vermögenserträgen. Diese Vermögenserträge beeinflussen die Vermögensbildung privater Haushalte im mehrfacher Hinsicht. Zum einen sind Art und Umfang der Ersparnisbildung in hohem Maße abhängig von der Höhe des Einkommens. Mit zunehmendem Einkommen steigt dabei nicht nur die Sparleistung insgesamt, sondern auch die Sparquote, also der Anteil der Ersparnisbildung am verfügbaren Einkommen. Das Vermögen trägt also bereits über seine Einkommensfunktion dazu bei, dass die Vermögenden bessere Möglichkeiten zur Vermögensbildung besitzen. Darüber hinaus ist empirisch feststellbar, dass die Sparquote aus Kapitaleinkünften höher ist als die Sparquote aus Arbeitseinkommen. Dies kann darauf zurückzuführen sein, dass Kapitaleinkommen unstetiger anfallen als Arbeitseinkommen und deshalb in höherem Maße der Ersparnisbildung zugeführt werden. Aber auch die Tatsache, dass Kapitaleinkünfte nicht sozialabgabenpflichtig sind und mit max. 25 % Kapitalertragsteuer belastet werden (§ 32 d EStG), kann ein Grund für die höhere Sparquote von Vermögensbesitzern sein. Und schließlich verändert sich mit zunehmendem Einkommen auch die Struktur der Vermögensanlage; mit zunehmendem Einkommen werden risikobehaftetere, damit aber auch langfristig ertragreichere Anlageformen gewählt. Ein hohes Vermögen führt deshalb bei einer entsprechenden Anlage zur Selbstalimentation und verstärkt den Prozess der Ungleichverteilung der Vermögen.6

6

Zu diesem Zusammenhang schreibt der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft: „Durch Einkommen aus Geldvermögen wird die Vermögensbildung immer stärker zu einem sich selbst tragenden Prozeß, da ein erheblicher Teil der Zinsen und Dividenden wieder angelegt wird. Um ihre Vermögensbildung auf hohem Niveau zu halten, brauchen die Haushalte somit kaum von anderen Einkünften etwas abzuzweigen.“ (GDV 1998).

316

13 Vermögenspolitik

13.2.3 Die Vermögenspolitik in der Bundesrepublik Die Vermögenspolitik in der Bundesrepublik7 bestand bzw. besteht aus folgenden Maßnahmen: dem Lastenausgleich, der allgemeinen Sparförderung durch Steuerbegünstigung, der allgemeinen Sparförderung durch Prämien, der Wohnungsbauförderung, der Reprivatisierung von staatlichem Vermögen und der Investitionsförderung.

a) Währungsreform und Lastenausgleich Die Vermögenspolitik begann in der Bundesrepublik mit den „wahrscheinlich größten friedlichen Vermögensumverteilungsaktionen der Geschichte“ (Engels/Sablotny/Zickler 1974, S. 23.): der Währungsreform des Jahres 1948 und dem Lastenausgleich.8 Im Zuge der Währungsreform9 des Jahres 1948 wurden die bestehenden Forderungen teilweise im Verhältnis 10:1, teilweise im Verhältnis 10:0,65 von Reichsmark auf Deutsche Mark umgestellt. bestimmte Forderungen – wie die Ansprüche gegen das Deutsche Reich und gegen die NSDAP – wurden vollständig annulliert. Der größte Verlierer der Währungsreform waren die Geldvermögensbesitzer, also der überwiegende Teil der Privathaushalte. Ein weiterer Verlierer war die gesetzliche Rentenversicherung, deren Kapitalstock zum zweiten Mal – nach der Hyperinflation des Jahre 1923 – entwertet wurde. Es gab aber auch zwei große Gewinner dieser Reform: den Staat, dessen Schuldenlast sich mit einem Schlag erheblich reduzierte, und die Eigentümer von Immobilien und Sachvermögen. Sachvermögensbesitzer wurden durch die Wirtschaftspolitik der Nachkriegsjahre zusätzlich entlastet. Denn um die zerstörten Produktionskapazitäten schnell wieder aufzubauen, wurde die Kapitalbildung durch hohe Abschreibungsvergünstigungen und andere Möglichkeiten der Steuerersparnis begünstigt (vgl. dazu Molitor 1965, S. 82 ff., Föhl 1964, S. 40 ff. sowie Andersen 1976, S. 117 ff.). Um die Verteilungseffekte der Währungsreform etwas abzumildern und die Lasten von Krieg und Vertreibung gleichmäßiger auf die Bevölkerung zu verteilen, wurde im Jahr 1952 das Lastenausgleichsgesetz verabschiedet.10 Das Gesetz sah die Einrichtung eines Bundesfonds vor, der sich aus fünf Quellen finanzierte: 1. aus einer Vermögensabgabe, durch die das am 30.06.1948 erfasste Vermögen mit einer 50 %igen Abgabe belastet wurde; diese Vermögensabgabe war bis 1978 zu verzinsen und zu tilgen, 2. aus einer Hypothekengewinnabgabe, welche die durch die Währungsumstellung begünstigten Hypothekenschuldner zu leisten hatten, 3. aus einer Kreditgewinnabgabe als einer Sonderabgabe auf währungsumstellungsbedingte Schuldnergewinne gewerblicher Betriebe, 4. aus Vermögensteuererträgen sowie 5. aus Einnahmen, die aus der Tilgung und Verzinsung ausgegebener Lastenausgleichsdarlehen flossen. 7

Vgl. zur Vermögenspolitik in Deutschland Andersen 1976, Gress 1983 sowie Boettcher 1985. Vgl. zum Lastenausgleich Wiegand 1992 sowie Albers 1989. 9 Die Währungsreform nach dem zweiten Weltkrieg war ein notwendiger Schritt, um eine funktionsfähigen Geldordnung herzustellen und damit eine der Voraussetzungen für die wirtschaftliche Entwicklung zu schaffen. 10 Vgl. Gesetz über den Lastenausgleich (Lastenausgleichsgesetz- LAG) vom 14.08.1952, zuletzt geändert durch Gesetz vom 12.12.2019. 8

13.2 Vermögensbildung und -verteilung in der Bundesrepublik Deutschland

317

Aus diesem Lastenausgleichsfonds wurden Entschädigungsleistungen für Vertriebene und Kriegssachgeschädigte gewährt. Von 1950 bis 2005 wurden über den Lastenausgleichsfonds Ausgleichsleistungen in Höhe von 48,5 Mrd. e geleistet.11 Zum 01.01.2005 wurde der Lastenausgleichsfonds aufgelöst und zusammen mit dem Fonds Deutsche Einheit vom Bund übernommen. Obwohl der Lastenausgleich nicht an den Vermögenserträgen, sondern an der Vermögenssubstanz ansetzte, hat er die Vermögensverteilung in Westdeutschland nicht nennenswert beeinflusst. Dafür waren mehrere Faktoren ausschlaggebend. Zum einen führten die Bewertungsvorschriften dazu, dass der Vermögensbestand niedriger festgesetzt wurde, als es dem Marktwert des Vermögens entsprach. Des Weiteren konnten die Besitzer von Sachvermögen aufgrund der hohen wirtschaftlichen Dynamik in den Jahren des „Wirtschaftswunders“ ihren Abgabeverpflichtungen nachkommen, ohne die Vermögenssubstanz tatsächlich angreifen zu müssen. Und schließlich wurde ein Großteil der Leistungen konsumtiv, z. B. für Kriegsschadenrenten, verwendet. Vermögenspolitisch waren die Hausratsentschädigungen sowie die Aufbaudarlehen für den Wohnungsbau von Bedeutung. Diese Darlehen haben eine breitere Streuung des Vermögens begünstigt (Oberhauser 1963, S. 191). Der Lastenausgleich hat zudem wesentlich zur Eingliederung der Vertriebenen und zur Aufrechterhaltung des sozialen Friedens beigetragen.

b) Sparförderung durch Steuervergünstigung Die „klassische“ Form der Förderung der Vermögensbildung ist der Abzug von Spar- und Vorsorgeleistungen von der Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer.12 Bereits ab 1948 war es möglich, Versicherungsprämien und Bausparbeiträge als Sonderausgaben vom steuerpflichtigen Einkommen abzuziehen (§ 10 EStG). Die verteilungspolitische Problematik dieser Art der Sparförderung besteht jedoch darin, dass diese Begünstigungen in erster Linie den Beziehern mittlerer und höherer Einkommen zugute kommen, weil für die meisten Arbeitnehmer die steuerlich abzugsfähigen Vorsorgeaufwendungen bereits durch die Beiträge zu den Sozialversicherungen ausgeschöpft sind. Außerdem steigt die Steuerersparnis aufgrund des progressiven Steuertarifes mit steigendem Einkommen, d. h. mit steigender Steuerbelastung. Überdies können von steuerlichen Begünstigungen des Sparens diejenigen keinen Gebrauch machen, die aufgrund ihres niedrigen Einkommens gar nicht sparfähig sind. Eine Vermögensbildung durch Abzüge von der Steuerbemessungsgrundlage begünstigt also die Ungleichverteilung des Vermögens (vgl. dazu auch Gress 1983).

11

Vgl. Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Finanzen und Steuern 2010, FS 14, Reihe 3.1, Wiesbaden 2012. In der finanzwissenschaftlichen Literatur ist umstritten, ob es sich bei diesem Abzug tatsächlich um eine Förderleistung handelt, da die Ersparnis ja aus bereits versteuertem Einkommen gebildet wird. Eine Besteuerung der aus dieser Sparleistung resultierenden Kapitaleinkünfte stellt somit eine Doppelbesteuerung dar, die künftigen Konsum steuerlich stärker belastet als Gegenwartskonsum. Deshalb wird gefordert, Sparleistungen grundsätzlich von der Einkommensbesteuerung auszunehmen. Zu diesem Konzept einer sparbereinigten Einkommensbesteuerung vgl. Rose 1991. 12

318

13 Vermögenspolitik

c) Sparförderung durch Prämien Die Sparförderung durch Prämienbegünstigung begann im Jahr 1952 mit dem Wohnungsbauprämiengesetz.13 Nach diesem Gesetz erhalten Bausparer eine staatliche Prämie in Höhe von 10 % der Bausparaufwendungen, sofern das zu versteuernde Einkommen 35 000 e (70 000 e für Verheiratete) nicht übersteigt. Die Summe der begünstigungsfähigen Aufwendungen ist auf 700 e für Ledige und auf 1 400 e für Verheiratete begrenzt, so dass die maximale jährliche Prämie 70 e (140 e) beträgt. Die Prämienbegünstigung zielt auf eine Förderung der Ersparnisbildung von Beziehern niedriger und mittlerer Einkommen. In den 1950er und 1960er Jahren haben die Bausparprämien einen regelrechten „Bausparboom“ ausgelöst. Da die begünstigungsfähigen Aufwendungen und die Einkommensgrenzen des WoPG nur diskretionär angepasst werden, sind die Ausgaben des Bundes deutlich rückläufig; sie betrugen 2017 gerade noch 183 Mio e. Durch diese Erfolge ermutigt, wurde 1959 mit dem Sparprämiengesetz das allgemeine Kontensparen durch Prämien gefördert. Voraussetzung war, dass die Sparbeträge für mindestens sechs Jahre festgelegt wurden. Diese allgemeine Sparförderung wurde im Jahr 1990 zugunsten einer verstärkten Förderung der Produktivkapitalbildung eingestellt. Auf dem Prinzip der Prämienbegünstigung beruhen auch die Vermögensbildungsgesetze.14 Mit diesem Gesetz werden vermögenswirksame Leistungen des Arbeitgebers durch eine ArbeitnehmerSparzulage gefördert. Eine vermögenswirksame Leistung ist eine durch Tarifvertrag, Betriebsvereinbarung oder Arbeitsvertrag vereinbarte Geldleistung des Arbeitgebers, die nicht ausbezahlt, sondern auf ein Anlagekonto des Arbeitnehmers überwiesen wird. Es handelt sich somit um eine Form des Investivlohns (zum Investivlohn vgl. Kap. 13.3.2). Die Förderung der Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand begann im Jahr 1961 mit dem ersten Vermögensbildungsgesetz (sog. 312 DM-Gesetz). Dieses sowie das zweite Vermögensbildungsgesetz aus dem Jahr 1965 blieben weitgehend wirkungslos, da hier die Förderung noch im Zuge der Steuerbegünstigung erfolgte. Erst das dritte Vermögensbildungsgesetz vom 27.06.1970 (sog. 624 DM-Gesetz), das anstelle der Steuerbegünstigung die Vergabe von Prämien (Arbeitnehmersparzulagen) und Einkommenshöchstgrenzen vorsah, bewirkte eine deutliche Zunahme der geförderten Sparverträge. Das vierte Vermögensbildungsgesetz vom 06.02.1984 sah eine stärkere Förderung der Vermögensbildung von Arbeitnehmern in Produktivkapital vor. Der geförderte Höchstbetrag stieg von 624 DM auf 936 DM, sofern die zusätzlichen 312 DM in Produktivkapital (Aktien, Genossenschaftsanteile, Genussscheine etc.) angelegt wurden. Bei verbilligter oder kostenloser Überlassung der Arbeitnehmerbeteiligung blieb ein Betrag vom max. 300 DM steuerfrei (§ 19a EStG; sog. „Erstes Vermögensbeteiligungsgesetz“). Nach dem derzeit geltenden fünften Vermögensbildungsgesetz werden vermögenswirksame Leistungen des Arbeitgebers an den Arbeitnehmer durch eine Arbeitnehmersparzulage gefördert. Die Prämienhöhe, die Einkommensgrenzen und die Höhe des geförderten Höchstbetrags unterscheiden sich entsprechend der Anlageform. Sie betragen • 20 % der vermögenswirksamen Leistungen, jedoch max. 400 e jährlich bei Vermögensbeteiligungen, sofern das zu versteuernde Einkommen 20 000 e (40 000 e bei Zusammenveranlagten) nicht übersteigt (Aktienfonds, Mitarbeiterkapitalbeteiligungen.); 13

Wohnungsbauprämiengesetz vom 17.03.1952 i. d. F. vom 30.10.1997, zuletzt geändert durch Gesetz vom 12.12.2019. 14 Gesetzliche Grundlage ist das Fünfte Vermögensbildungsgesetz vom 01.07.1965 i. d. F. vom 04.03.1994, zuletzt geändert durch Gesetz vom 18.07.2016.

13.2 Vermögensbildung und -verteilung in der Bundesrepublik Deutschland

319

• 9 % der vermögenswirksamen Leistungen, jedoch max. 470 e jährlich bei Aufwendungen für den Immobilienerwerb, sofern das zu versteuernde Einkommen 17 900 e (35 800 e bei Zusammenveranlagten) nicht übersteigt. Beide Zulagen können gemeinsam in Anspruch genommen werden und werden nach Ablauf einer siebenjährigen Festlegungsfrist ausbezahlt. Unentgeltlich oder verbilligt überlassene Vermögensbeteiligungen sind darüber hinaus gem. § 3 Nr. 39 EStG bis zu einem Betrag von 360 e steuerfrei. Durch die kombinierte Inanspruchnahme des Vermögensbildungsgesetzes und des § 3 EStG kann somit eine Kapitalbeteiligung des Arbeitnehmers in Höhe von 760 e gefördert werden. Ebenfalls der Prämienförderung zuzuordnen ist die Förderung der privaten Altersvorsorge („Riester-Rente“). Zertifizierte Altersvorsorgeverträge werden mit einer jährlichen Grundzulage in Höhe von 175 e sowie mit einer Kinderzulage in Höhe von 300 e pro Kind gefördert. Zusätzlich wird geprüft, ob es für den Sparer vorteilhafter wäre, die vermögenswirksamen Leistungen als Sonderausgabe geltend zu machen (sog. „Günstigerprüfung“).

d) Die Förderung der Vermögensbildung im Wohnungsbau Die gleichsam „klassische“ Förderung der Eigentumsbildung im Wohnungsbau durch die steuerliche Abschreibungsmöglichkeit von Bausparbeiträgen und durch die institutionelle Förderung der Bausparkassen wurde – wie erwähnt – 1952 durch die Einführung von Prämien für Bausparleistungen ergänzt. Die Bedeutung dieser Anreize lässt sich nur zutreffend abschätzen, wenn man berücksichtigt, dass der Eigenheimbau durch eine Reihe der dargestellten wohnungspolitischen Maßnahmen gefördert wurde. Zu nennen sind: zinsgünstige Baudarlehen, Zinszuschüsse, Grunderwerbsteuerbefreiungen, Grundsteuerermäßigungen, Abschreibungsvergünstigungen nach § 7b resp. § 10e EStG und die Bereitstellung von preisgünstigem Bauland von Seiten der öffentlichen Hand. Kritisch anzumerken ist jedoch, dass die Wohnungsbauförderung, die überwiegend auf Abschreibungsvergünstigungen beruhte, die Besserverdienenden gegenüber den Einkommensschwächeren bevorzugt hat. Deshalb wurde 1996 durch das Eigenheimzulagengesetz 15 die Förderung des Erwerbs von selbstgenutztem Wohneigentum nach § 10e EStG durch eine verteilungs- und familienpolitisch ausgestaltete Grundförderung abgelöst (Eigenheimzulage). Diese Eigenheimzulage entwickelte sich mit einem Volumen von ca. 10,2 Mrd. e (2005) zur größten staatlichen Einzelsubvention in Deutschland. Aus Gründen der Haushaltskonsolidierung wurde diese Förderung zum 01.01.2006 eingestellt.16 Um diesen Wegfall von Fördermitteln zumindest teilweise zu kompensieren, wurde das selbst genutzte Wohneigentum 2008 in die steuerliche Förderung der Altersvorsorge aufgenommen („Wohn-Riester“).17 Riester-Sparer können nun das Kapital, das sie über das Altersvermögensgesetz begünstigt angespart haben, für den Bau, Kauf oder die Entschuldung selbstgenutzten Wohneigentums verwenden.

15

Gesetz zur Neuregelung der steuerrechtlichen Wohneigentumsförderung (Eigenheimzulagengesetz - EigZulG) vom 15.12.1995 16 Vgl. Gesetz zur Abschaffung der Eigenheimzulage v. 22.12.2005, BGBl. I, Nr. 76. 17 Vgl. Gesetz zur verbesserten Einbeziehung der selbstgenutzten Wohnimmobilie in die geförderte Altersvorsorge (Eigenheimrentengesetz – EigRentG) vom 29.07.2008.

320

13 Vermögenspolitik

e) Reprivatisierung öffentlicher Unternehmen In den Jahren 1959 bis 1965 war die Privatisierung von öffentlichen Unternehmen durch die Ausgabe sogenannter „Volksaktien“ ein wichtiger Bestandteil der Vermögenspolitik. 1959 wurde die Preußische Bergwerks- und Hütten AG (Preußag), 1961 das Volkswagenwerk und die Vereinigte Tanklager- und Transportmittel GmbH und 1965 die Vereinigte Elektrizitäts- und Bergwerks AG (VEBA) durch die Ausgabe von Aktien in Privateigentum überführt. In vielen Fällen blieben Minderheitsbeteiligungen der öffentlichen Hände erhalten. Das Ersterwerbsrecht für solche Aktien wurde auf die Bezieher niedriger Einkommen beschränkt, die Aktien wurden klein gestückelt und zu einem „sozialen“ Ausgabekurs verkauft. Durch Stimmrechtsbegrenzungen wurden Stimmrechtskonzentrationen ausgeschlossen. Die Reprivatisierung öffentlicher Unternehmen wurde insbesondere im Zuge der Transformation der neuen Bundesländer als ein Instrument einer Vermögensverteilungspolitik diskutiert (vgl. Sinn, Hans-Werner: Kaltstart). Allerdings schloss die Treuhandanstalt, die mit der Privatisierung des ehemals „volkseigenen“ Vermögens betraut war, mit einem Gesamtdefizit in Höhe von 250 Mrd. DM ab.18 Unstrittig ist jedoch, dass die Vermögensungleichheit in Deutschland durch die Restitution bzw. Entschädigung von enteigneten Sacheigentümern und durch den Einsatz von steuerlichen Abschreibungsmöglichkeiten zur Investitionsförderung verschärft wurde.

f) Die Kosten der Vermögenspolitik Über die Kosten der staatlichen Förderung der Vermögensbildung informiert die Abbildung 13.3. Sie enthält die vermögenspolitisch motivierten Prämienausgaben und die Steuermindereinnahmen des Bundes und der Länder von 1990 bis 2020.19 Diese Abbildung zeigt, dass die staatlichen Aufwendungen zur Förderung der Vermögensbildung in den 1990er Jahren zunächst deutlich gestiegen und anschließend spürbar gesunken sind. Während der Staat Anfang der 2000er Jahre fast 12 Mrd. e für vermögenspolitische Maßnahmen aufgewendet hat, sind es derzeit gerade etwas über 1 Mrd. e Die Abbildung zeigt außerdem, dass in den 1990er Jahren die Förderung durch Steuervergünstigungen dominierte, während mittlerweile die Förderung fast ausschließlich durch die Prämienvergabe erfolgt. Verteilungspolitisch ist die Prämienvergabe vorzuziehen, da die Entlastungswirkung einer Steuervergünstigung aufgrund des progressiven Steuertarifs mit steigendem Einkommen zunimmt. In den hier ausgewiesenen Zahlen schlägt sich auch das hohe Gewicht einzelner vermögenspolitischer Instrumente nieder. So entfielen in den Jahren von 1990 bis 2005 die staatlichen Aufwendungen fast ausschließlich auf die Förderung des selbstgenutzten Wohneigentums, während mittlerweile fast zwei Drittel der Aufwendungen in die Förderung der Riester-Rente fließen. Demgegenüber fallen die staatlichen Ausgaben zur Produktivvermögensbildung sehr gering aus. Ein Großteil der Ausgaben für die Arbeitnehmersparzulage fließt zudem in die Bausparförderung.

18

Dieses Defizit wurde 1994 in ein Sondervermögen des Bundes, den „Erblastentilgungsfonds“, übernommen. Dieser Fonds wurde zum 31.12.2015 aufgelöst. 19 Prämienausgaben nach dem Wohnungsbauprämien- und dem Vermögensbildungsgesetz. Ab 1995 auch Aufwendungen für das seit 2006 auslaufende Eigenheimzulagengesetz sowie ab 2006 Aufwendungen für die Förderung der Riester-Rente. Steuermindereinnahmen gem. §§ 3 Abs. 39, 10e, 19a und 34 f EStG. Quelle: Subventionsberichte der Bundesregierung, lfd. Jahrgänge.

13.2 Vermögensbildung und -verteilung in der Bundesrepublik Deutschland

321

Insgesamt wird man von den staatlichen Maßnahmen zur Vermögensbildung keinen durchgreifenden Effekt auf die Vermögensverteilung erwarten können. Dafür sind die staatlichen Aufwendungen zu gering und ihre verteilungspolitische Effizienz ist fraglich. Darüber hinaus ist nicht klar, ob diese Maßnahmen zu einer zusätzlichen Ersparnisbildung geführt haben, oder ob lediglich Substitutions- und Mitnahmeeffekte generiert wurden.

Quelle: BMF (Hrsg.), Subventionsberichte, lfd. Jg.

Abb. 13.3: Förderung der Vermögensbildung

g) Zusammenfassung Die Vermögenspolitik in der Bundesrepublik umfasst vier Phasen: • erstens die auf die schnelle Wiederherstellung des Kapitalstocks gerichtete Phase der allgemeinen Vermögensbildungspolitik, • zweitens die etwa in der Mitte der 1960er Jahre einsetzende Phase der allgemeinen Vermögensverteilungspolitik, • drittens die ab 1983 beginnende Phase der auf die Beteiligung von Arbeitnehmern am Kapital der Unternehmen gerichtete speziellen Vermögensverteilungspolitik und schließlich • viertens die seit 2001 auf die Förderung der privaten Altersvorsorge gerichtete spezielle Vermögensbildungspolitik.

322

13 Vermögenspolitik

In der ersten Phase bewirkten die zahlreichen steuerlichen Vergünstigungen der Kapitalbildung und die steuerlichen Begünstigungen des Sparens eine stärkere Ungleichverteilung des Vermögens (so auch Oberhauser 1963, S. 192 ff. und Andersen 1976, S. 133). Es überwogen eindeutig unternehmens- und vermögenskonzentrationsfördernde Wirkungen. Die steuerlichen Vergünstigungen im Rahmen der Investitions- und Wachstumspolitik liefen auf eine Begünstigung der Selbstfinanzierung der Investitionen und auf eine Förderung der Vermögensbildung vermögender Schichten hinaus. Die auf die Stärkung der Sparneigung ausgerichteten steuerlichen Förderungsmaßnahmen der Ersparnisbildung kamen v. a. den sparfähigen, d. h. den einkommensstärkeren Haushalten zugute, die höchstwahrscheinlich auch ohne eine staatliche Vergünstigung gespart hätten.20 Die zweite Phase der Vermögenspolitik ist durch eine größere Zielkonformität ihrer Maßnahmen gekennzeichnet. Der Übergang von der Steuerbegünstigung des Sparens zur Prämienbegünstigung und die Begrenzung der Prämienbegünstigung auf die unteren und mittleren Einkommen erhöhte die Vermögensbildungschancen der einkommensschwächeren Haushalte. In dieser zweiten Phase der Vermögenspolitik scheint insgesamt die Vermögenskonzentration etwas abgenommen zu haben. Mit dem 1. Vermögensbeteiligungsgesetz 1983 beginnt die dritte Phase der Vermögenspolitik. Sie ist durch die Verlagerung der Förderungsmaßnahmen von der Geldvermögensbildung hin zur Vermögensbildung in Produktivkapital gekennzeichnet. Gefördert wurden nur noch das Bausparen, der Erwerb von Wohnungs- oder Hauseigentum und der Erwerb von direkten und indirekten Unternehmensbeteiligungen. Für diese dritte Phase war bis 1990 eine kräftige Erhöhung der vermögenswirksamen Leistungen festzustellen (Sozialbericht 1990, Z 206 (BT-Drs. 11/7527)). In diese Phase fällt auch die Systemtransformation in den neuen Bundesländern. Hier wurde die historisch einmalige Chance verpasst, diesen Transformationprozess unter vermögensverteilungspolitischen Gesichtspunkten auszugestalten. Gleichzeitig wurden die bestehenden vermögenspolitischen Leistungen abgebaut. So wurden bestimmte Anlageformen wie das Geld- und Versicherungssparen aus dem Katalog der förderungsfähigen Anlagen gestrichen und die Prämiensätze sowie der Höchstbetrag der förderungsfähigen Kapitalbeteiligung reduziert. Vermögenswie familienpolitisch problematisch ist, dass die bis 1989 bestehende Begünstigung von Familien abgeschafft wurde. Die Verzinsung der Leistungen zur Förderung breiter Vermögensstreuung ist das zweite Charakteristikum dieser Phase der Vermögenspolitik. Die Verabschiedung des Altersvermögensgesetzes am 26.06.2001 markiert den Beginn der aktuellen, vierten Phase der Vermögenspolitik. Seither konzentrieren sich die vermögenspolitischen Maßnahmen wieder verstärkt auf das Versicherungssparen, sofern die Vorsorgeprodukte bestimmte gesetzliche Vorgaben erfüllen (vgl. hierzu ausführlicher Kap. 10.3.4). Durch die progressionsunabhängige Zulage und die gezielte Förderung von Familien wurde versucht, die private Altersvorsorge breit zu streuen. Allerdings blieb die Nachfrage nach diesen Produkten weit hinter den ursprünglichen Erwartungen zurück. Außerdem lässt sich nicht zuverlässig ermitteln, ob es sich bei diesen Anlagen um zusätzliche Ersparnisse oder um eine bloße Umschichtung von Vorsorgeaufwendungen, die ohnehin getätigt worden wären (sog. „Mitnahmeeffekt“). Die Politik der Vermögensbildung durch steuerliche Freibeträge und Sparzulagen wurde im Jahr 2009 einer umfassenden empirischen Evaluation unterzogen (vgl. Bundesministerium der Finanzen 2009, Kap. VIII und Kap. XIV). Diese Evaluation kritisiert eine geringe Transparenz 20

Vgl. zur Kritik an der Förderung der Vermögensbildung in der Bundesrepublik auch Althammer 1996 und Althammer 1997.

13.2 Vermögensbildung und -verteilung in der Bundesrepublik Deutschland

323

und die unzureichende verteilungspolitische Treffsicherheit bei der Steuerbegünstigung, aber auch bei der Sparzulage. Als nicht begründbar werden die Beschränkung des geförderten Anlagespektrums und die Einschränkung des geförderten Personenkreises auf Arbeitnehmer angesehen. Insgesamt empfiehlt diese Studie, die Arbeitnehmersparzulage entweder ganz abzuschaffen oder grundlegend zu reformieren. Die Darstellung der Vermögenspolitik in der Bundesrepublik hat deutlich gemacht, dass eine Vermögenspolitik, die an der Sparneigung der Haushalte ansetzt, die Ungleichverteilung der Vermögensbestände nicht signifikant verringern kann. Größere vermögenspolitische Erfolge sind nur zu erwarten, wenn man an der Hauptquelle der Vermögensbildung ansetzt, nämlich an den Unternehmensgewinnen. Dies kann entweder durch eine forcierte Investivlohnpolitik oder durch eine Politik der betrieblichen Ertragsbeteiligung geschehen. Diese vermögenspolitischen Instrumente werden im Abschnitt 13.3.1 dargestellt. Ein zweiter wichtiger Ansatzpunkt für die künftige Vermögenspolitik könnte die Erbschaftsbesteuerung werden. Denn in den nächsten Jahren und Jahrzehnten werden beachtliche Vermögen vererbt, die nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut wurden. Allein im Jahr 2014 belief sich das durch Erbschaften und Schenkungen übertragene Vermögen aus 109 Mrd. e. Tiefensee/Grabka (2017) schätzen die Summe der generationenübergreifenden Vererbungen von 2012 bis 2027 aus 1,7 Bio. e. Eine Politik höherer Erbschaftsbesteuerung sollte daher nicht nur wegen des wachsenden Volumens jährlich vererbten Vermögens erwogen werden, sondern auch deswegen weil sich durch eine staatliche Sparförderung allein das Ausmaß der Vermögenskonzentration nicht dauerhaft reduzieren lässt (siehe auch Schlomann/Hauser 1992).

13.2.4 Die Vermögensquellen und die Verteilung der Chancen zum Vermögenserwerb Für die Beurteilung der Notwendigkeit einer Vermögenspolitik ist es wichtig zu wissen, aus welchen Quellen einer Person Vermögen zufließen kann und wie in der Gesellschaft die Chancen zum Vermögenserwerb verteilt sind. In einem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat sind folgende Formen des Vermögenszuwachses legitim (vgl. insb. Nozick 1974 sowie Willgerodt/Bartel/Schillert 1971, S. 175 ff.): 1. die Inbesitznahme freier Güter (Okkupation); 2. die einseitige Übertragung von Vermögen, d. h. die Schenkung und die Vererbung; 3. der Erwerb von Vermögen aus Einkommen, und zwar • aus Arbeitseinkommen; • aus Gewinneinkommen; diese Gewinneinkommen können sein (vgl. Preiser 1957): a. Leistungsgewinne im Sinne dynamischer unternehmerischer Pioniergewinne (Schumpeter 1912 und Schumpeter/Seifert 2005), b. Marktlagengewinne („windfall profits“) durch unerwartete Änderungen der Nachfrage oder c. Marktformengewinne, d.h. Gewinne aus Marktmachtstellungen, also entweder aus natürlichen, aus vom Staat verliehenen oder aus selbst aufgebauten Monopolen; • aus Vermögenseinkommen, d.h. aus der Wiederanlage von Vermögenserträgen in Vermögenswerten.

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13 Vermögenspolitik

Diese Vermögensquellen hatten zu unterschiedlichen Zeiten verschieden starkes Gewicht. In der vorindustriellen Zeit kam wirtschafts- und sozialpolitisch dem Vermögen an Grund und Boden die dominierende Rolle zu. Als Quelle der Vermögensbildung herrschte die Okkupation vor. Als Instrumente der Verteilung des Grundvermögens waren die Belehnung, die Schenkung und die Vererbung gebräuchlich. Es entstanden – bedingt durch wirtschaftliche und politische Notwendigkeiten – große Grundeigentümer. Da im Wesentlichen nur die soziale Oberschicht, Adel, Geistlichkeit und andere Träger staatlicher Funktionen Zugang zu Bodeneigentum hatten und Boden nur diejenigen erwerben konnten, die durch ihre wirtschaftliche und soziale Stellung in der Lage waren, dem Landesherren politische, militärische und verwaltungsmäßige Dienstleistungen zu erbringen, war die seinerzeitige Eigentumsordnung eine wesentliche Ursache für die soziale Klassenbildung (Schmoller 1918, S. 111 ff.). Mit beginnender und fortschreitender Industrialisierung wuchs die Bedeutung der Unternehmensgewinne als Quelle erwerbswirtschaftlich genutzten Vermögens. In dieser Zeit entstanden aus kleinen Manufakturen große Industrieunternehmen. Die für den Aufbau des Anlagevermögens der Industriegesellschaften erwirtschafteten Vermögen haben hauptsächlich vier Quellen: 1. die unternehmerische Leistung und den Konsumverzicht der Unternehmenseigentümer; 2. die Finanzierung von Investitionen durch Kreditfinanzierung; 3. die in einer wachsenden Wirtschaft aufgrund von Kreislaufzusammenhängen entstehenden dynamischen Unternehmergewinne; 4. die permanente Wiederanlage von Vermögenserträgen der Eigentümer erwerbswirtschaftlich genutzten Vermögens in Vermögenswerten. Der Wandel in der Eigentümerstruktur vom Familienbetrieb zur Aktiengesellschaft und die damit verbundene wachsende Bedeutung des Finanzkapitals ermöglichten eine Übertragung der Vermögensungleichverteilung der vorindustriellen Zeit in die Phase der Industrialisierung. Dieser Prozess der Vermögenskonzentration wurde durch eine interventionistische Wirtschaftspolitik unterstützt, die durch Schutzzölle und durch die Förderung der Bildung von Monopolen und Kartellen die bestehende Vermögensungleichverteilung noch verstärkte.21 Demgegenüber hatten Arbeitnehmerhaushalte bis in die jüngste Vergangenheit keine Möglichkeit, produktiv genutztes Vermögen zu bilden.

13.2.5 Erfolgschancen einer Vermögenspolitik Die Möglichkeiten, durch politische Maßnahmen das Vermögen einer Gesellschaft breit zu streuen, sind in entwickelten marktwirtschaftlichen Systemen deutlich gestiegen. Sie werden durch folgende Faktoren begünstigt (vgl. Molitor 1965, S. 28 ff.): 21

Gustav Schmoller schreibt zu dieser Problematik (1918, S. 119): „Wenn heute die großen Vermögen in erster Linie in den Händen glücklich operierender Händler und Großunternehmer, Bankiers und Gründer sich sammeln, so ist eben die Frage, ob ihre großen Gewinne mehr Folge außerordentlicher Talente und seltener Leistungen oder Folge von ererbtem Besitz, von Zufällen und Konjunkturen, von künstlichen oder tatsächlichen Monopolen oder gar von unredlichen Mitteln sind.“ Zur gleichen Problematik nimmt Oswald v. Nell-Breuning (1955, S. 5) wie folgt Stellung: „Mit Verdienst und Mißverdienst, mit Sparsamkeit oder Verschwendung des Eigentümers oder seiner Vorfahren hat die heutige Verteilung des Eigentums so gut wie nichts mehr zu tun; sie beruht auf Zufälligkeiten und, was noch viel schlimmer ist, auf Willkürlichkeiten.“ Zu den Ursachen der langfristigen Vermögensungleichverteilung vgl. auch Piketty (2014).

13.3 Instrumente der Vermögenspolitik

325

1. die Trennung von Eigentümer- und Unternehmerfunktion in modernen Kapitalgesellschaften. Dadurch können Veränderungen in der personellen Vermögensverteilung vorgenommen werden, „ohne daß die Qualität der Unternehmenspolitik in Mitleidenschaft gezogen würde“; 2. die Angebote institutioneller Finanzintermediäre wie Banken, Investmentgesellschaften, Versicherungen und Bausparkassen, die auch für risikoaverse Anleger mit vergleichsweise hoher Liquiditätspräferenz und hohem Sicherheitsbedürfnis geeignete Anlageprodukte zur Verfügung stellen; 3. eine erhöhte Sparfähigkeit und Sparwilligkeit aufgrund deutlich gestiegener verfügbarer Einkommen; 4. die politische Akzeptanz des Ziels einer breiteren Vermögensstreuung. Diesen Gründen für eine breitere Vermögensstreuung lässt sich noch ein weiterer Faktor hinzufügen: der Trend der Entwicklung der Sozialpolitik. Wie bereits oben dargestellt (S. 122 ff.), ergab sich aufgrund der Lebenslage der Arbeiterschaft und der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Gesellschaft eine Art Entwicklungsgesetzmäßigkeit in Bezug auf Aufbau und Ausbau sozialpolitischer Handlungsfelder. Durch die in dieser Weise ablaufende sozialpolitische Entwicklung wurden nahezu alle Hauptursachen für die negative Lebenslage der Arbeitnehmer gelöst – mit Ausnahme von zwei Problembereichen: dem der Mitbestimmung im Unternehmen – zu dessen Lösung jedoch mit dem Mitbestimmungsgesetz von 1976 ein bedeutender Beitrag geleistet worden ist – und dem der Vermögenslosigkeit der Arbeitnehmer. Gelänge es, dieses bedeutende Merkmal der Proletarität, nämlich die Vermögenslosigkeit, zu beseitigen, dann wäre dies die Krönung einer über 150jährigen Entwicklung staatlicher Sozialpolitik. Im Übrigen gibt es seit langem eine – wenn auch nur sehr spezifische – Vermögenspolitik. Pointiert ausgedrückt betreibt der Staat seit Beginn der staatlichen Sozialpolitik in Deutschland im Jahre 1839 eine auf die Erhaltung und Verbesserung des Arbeitsvermögens gerichtete Politik. Alle Maßnahmen des Arbeitnehmerschutzes sind ebenso auf die Erhaltung des Arbeitsvermögens gerichtet wie die Maßnahmen zur Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit und der Arbeitskraft im Rahmen der GRV, der GKV und der UV. Mit der Verstärkung der Rehabilitationsleistungen, insbes. aber mit der Politik der Förderung der beruflichen Bildung und der Umschulung im Rahmen des SGB III und mit der Bildungsförderungspolitik, wurde diese Arbeitsvermögenspolitik konsequent fortgesetzt.

13.3 Instrumente der Vermögenspolitik Im Folgenden wird ein Überblick über die wesentlichen Instrumente der Vermögenspolitik, ihre Ziele und Ausgestaltungsmöglichkeiten gegeben. Dabei wird zwischen Instrumenten unterschieden, die an der Umverteilung des Vermögensbestands ansetzen (Vermögensbestandspolitik), und jenen Instrumenten, die auf eine gleichmäßige Verteilung des neu gebildeten Vermögens abzielen (Vermögensbildungspolitik).

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13 Vermögenspolitik

13.3.1 Vermögensbestandspolitik a) Die Vermögensteuer Die Vermögensteuer ist eine Substanzsteuer. Steuerobjekt ist das Nettovermögen (also das Bruttovermögen abzüglich der Schulden) zu einem bestimmten Stichtag. Das verfassungsrechtliche Prinzip der Gleichmäßigkeit der Besteuerung erfordert, dass alle Bestandteile des Vermögens in gleicher Weise der Besteuerung zu unterwerfen sind. Dies bedeutet, dass alle Vermögensgegenstände des Steuerpflichtigen zu einem bestimmten Stichtag zu Marktpreisen zu bewerten sind und auf diese Grundlage - unter Berücksichtigung bestimmter Freibeträge - ein einheitlicher Steuersatz anzulegen ist. Gesetzliche Grundlage der Vermögensbesteuerung ist das Vermögensteuergesetz (VStG).22 Danach wird das um Freibeträge bereinigte Gesamtvermögen einer natürlichen Person mit einem Prozent (0,5 Prozent bei Betriebsvermögen, land- und forstwirtschaftlichem Vermögen und Wirtschaftsgütern) sowie mit 0,6 Prozent für Körperschaften besteuert. Da der Grundbesitz nicht nach dem Verkehrswert, sondern nach dem sog. „Einheitswert“ bewertet wird, wurde die Vermögensbewertung und damit die Art der Erhebung der Vermögensteuer durch das Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig verworfen.23 Seitdem wird die Vermögensteuer nicht mehr erhoben; das Gesetz ist jedoch weiterhin in Kraft. Die Vermögensteuer ist verfassungsrechtlich und steuerpolitisch ausgesprochen umstritten.24 Bereits die Erfassung und Bewertung bestimmter Vermögensformen wie Immobilien, gewerblich genutztes Vermögen oder private Wertgegenstände wie Schmuck oder Kunstgegenstände stellen den Gesetzgeber vor weitreichende Probleme. Des Weiteren führt eine Vermögensbesteuerung notwendigerweise zu Ungleichbehandlungen. So werden die Renten- und Pensionsanwartschaften der abhängig Beschäftigten nicht besteuert, während der Aufbau von Alterssicherungsvermögen über Finanz- und Sachvermögen bei Selbständigen und Freiberuflern der Substanzbesteuerung unterliegt. Schließlich wirft auch die Besteuerung des Betriebsvermögens schwer zu lösende Probleme auf. Wenn man das Betriebsvermögen der Besteuerung unterwirft, so wird den Betrieben zunächst Liquidität entzogen. Dieser Liquiditätsentzug wirkt sich nur dann nicht negativ auf die Investitionen eines Unternehmens aus, wenn hinreichend liquide Mittel im Betrieb verfügbar sind oder sofern das Unternehmen in der Lage ist, sich über den Kapitalmarkt Eigen- oder Fremdkapital zu beschaffen. Dies ist für klein- und mittelständische Unternehmen schwieriger als für große Kapitalgesellschaften, so dass eine Besteuerung des Betriebsvermögens unterschiedliche Unternehmensformen ungleich belastet. Wird das Betriebsvermögen hingegen von der Besteuerung freigestellt, ergeben sich zum einen Ungleichbehandlungen bei der Besteuerung und zum anderen Möglichkeiten, die Besteuerung durch Auslagerungen von Privatvermögen in das Betriebsvermögen zu umgehen. Darüber hinaus war die Vermögensteuer aufgrund der hohen Freibeträge und der geringen Steuersätze fiskalisch wenig ergiebig. So erbrachte die Vermögensteuer im Jahr 1996, dem letzten Jahr ihrer Erhebung, Einnahmen in Höhe von 4,6 Mrd. e. Wenn man die steuerliche Belastung

22

Vermögensteuergesetz (VStG) vom 17.04.1974, zuletzt geändert durch Gesetz vom 29.10.2001. Vgl. BVerfGE 93, 121 vom 22.06.1995. 24 Zur Kritik an der Vermögensteuer vgl. Bundesministerium der Finanzen 2013 sowie die dort angegebene Literatur. 23

13.3 Instrumente der Vermögenspolitik

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der Vermögenssubstanz aus wirtschaftspolitischen Gründen gering halten möchte, sind auch keine nennenswerten Effekte auf die Vermögensverteilung zu erwarten.

b) Die Erbschaft- und Schenkungsteuer Erbschaften und Schenkungen unterliegen der Besteuerung.25 In Deutschland wird die Erbschaftsteuer als Erbanfallsteuer26 erhoben und ist progressiv ausgestaltet, d. h. dass die Steuer mit dem steuerpflichtigen Vermögen und mit abnehmendem Verwandtschaftsgrad des Erbberechtigten steigt. Selbstgenutztes Wohneigentum ist i. d. R. von der Erbschaftsteuer ausgenommen (§ 13 Abs. 1 ErbStG). Für Betriebsvermögen gelten Sonderbestimmungen, die das Ziel haben, eine Belastung von Familienbetrieben beim Betriebsübergang zu verhindern. Tabelle 13.8: Steuersätze der Erbschaft- und Schenkungssteuer Wert des Steuerklasse I Steuerklasse II Steuerklasse III Vermögens Ehegatten Kinder Enkel Eltern Geschwister alle Übrigen abzüglich eines Freibetrags (in 500 000 400 000 200 000 100 000 20 000 20 000 e) von bis 75 000 e bis 300 000 e bis 600 000 e bis 6 000 000 e bis 13 000 000 e bis 26 000 000 e ab 26 000 000 e

7% 11 % 15 % 19 % 23 % 27 % 30 %

15 % 20 % 25 % 30 % 35 % 40 % 43 %

30 % 30 % 30 % 30 % 50 % 50 % 50 %

Angesichts der deutlich gestiegenen privaten Vermögen sowie der Tatsache, dass diese Vermögen in den kommenden Jahren und Jahrzehnten von einer Generation an die nächste weitergereicht werden, wird die Erbschaftsteuer immer wieder als Mittel der Vermögensumverteilung diskutiert. Tatsächlich ist das Aufkommen der Erbschaftsteuer in den vergangenen Jahren kontinuierlich gestiegen. Sie ist mit ca. 6,81 Mrd. e (2018) jedoch eine der weniger ergiebigen Steuern. Die Forderung nach einer stärkeren Besteuerung von Erbschaften wird damit begründet, dass Vererbungen den Prinzipien der Chancengleichheit und der Leistungsgerechtigkeit in einer Gesellschaft widersprechen (vgl. hierzu Beckert 2004). Weiterhin wird geltend gemacht, dass nur durch eine Substanzbesteuerung die Vermögensverteilung spürbar beeinflusst werden kann und dass bei einer Absenkung der Freigrenzen auch geringe Steuersätze verteilungspolitisch effektiv sein können (Bach 2016). Gegen eine deutlich verschärfte Erbschaftsteuer spricht, dass das 25 Gesetzliche Grundlage ist das Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetz (ErbStG) vom 17.04.1974 i. d. F. vom 27.02.1997, zuletzt geändert am 26.11.2019. Schenkungen werden grundsätzlich wie Erbschaften behandelt. Da Schenkungen mehrfach vorgenommen werden können, werden Schenkungen innerhalb eines Zeitraums von zehn Jahren bei der Besteuerung zusammengerechnet; vgl. § 14 ErbStG. 26 Das bedeutet, dass das Erbe zunächst auf die jeweiligen Erben aufgeteilt von diesen als Vermögenszufluss versteuert werden muss. Bei der Alternative, der sog. „Nachlasssteuer“, wird zunächst der Nachlass als ganzer versteuert und anschließend das Nettovermögen auf die Erben aufgeteilt.

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13 Vermögenspolitik

Erbrecht in Deutschland grundgesetzlich geschützt ist (Art. 14 GG) und Erbschaften aus bereits versteuertem Einkommen gebildet wurden. Des Weiteren würde ein zu starker Eingriff in die Testierfreiheit eine Einschränkung der individuellen Freiheit des Erblassers darstellen, die mit den Prinzipien eines freiheitlichen Sozialstaats in Konflikt geraten könnte. Zu berücksichtigen ist auch, dass eine exzessive Erbschaftsbesteuerung Ausweichreaktionen und Umgehungsstrategien hervorrufen wird. Und schließlich ist wie bei der Vermögensteuer zu beachten, dass aus Gründen der Steuergerechtigkeit unterschiedliche Vermögen in gleicher Weise zur Erbschaftsteuer veranlagt werden müssen. Da Betriebsvermögen aus wirtschaftspolitischen Gründen nicht zu stark belastet werden sollen, sind auch der Erbschaftsbesteuerung verteilungspolitische Grenzen gesetzt.

c) Privatisierung öffentlichen Vermögens Die Möglichkeiten der breiteren Streuung des Vermögens durch Privatisierungsmaßnahmen hat in Deutschland eine lange Tradition. So wurden bei den Privatisierungen der Preußischen Bergwerks- und Hütten-AG (Preußag) im Jahr 1959 und des Volkswagenwerks (1961) die Aktien klein gestückelt und Beziehern niedriger Einkommen ein Abschlag vom Ausgabekurs gewährt (sog. „Sozialrabatt“). Diese Privatisierungsaktionen waren nicht nur ordnungs- sondern auch verteilungspolitsch motiviert. Durch die Ausgabe von „Volksaktien“ sollten die zu privatisierenden Staatsbeteiligungen breit gestreut werden und es auch den Bezieher geringer Einkommen ermöglicht werden, Produktivvermögen in Form von Aktienkapital zu bilden. Weitere Privatisierungen mit dem Ziel, die Anteile möglichst breit zu streuen, waren die Privatisierung der Energiekonzerne VEBA und VIAG in den Jahren 1984 bis 1987.27 Demgegenüber wurde im Zuge der deutschen Wiedervereinigung auf eine breite Streuung des ehemals volkseigenen Vermögens verzichtet. Die vermögenspolitische Effizienz der Privatisierung öffentlicher Unternehmen ist umstritten. Denn die verbilligt überlassenen Unternehmensanteile wurden vielfach nicht zur langfristigen Vermögensbildung verwendet, sondern nach Ablauf der Sperrfrist weiterveräußert. Eine bedeutende Rolle spielt die Privatisierung öffentlichen Vermögens in Form preisgünstiger Verkäufe von baureifem Boden für die Bildung von Hauseigentum durch die Bezieher niedriger und mittlerer Einkommen. Sie ist für viele Familien mit mittleren Einkommen angesichts der immer größer werdenden Knappheit städtischen Bodens die entscheidende Voraussetzung für die Bildung von Hauseigentum.

13.3.2 Vermögensbildungspolitik Neben den Maßnahmen der Umverteilung bestehenden Vermögens spielen die Maßnahmen zur gleichmäßigeren Verteilung neu gebildeten Vermögens einen weiteren Ansatzpunkt der Vermögenspolitik. Neben der klassischen Förderung der Ersparnisbildung werden in der Literatur vor allem Modelle des Investivlohns und der investiven Gewinnbeteiligung diskutiert.

27

Beide Konzerne fusionierten im Jahr 2000 zur E.ON AG.

13.3 Instrumente der Vermögenspolitik

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a) Steuer- bzw. Prämienbegünstigung der Ersparnisbildung Die in der Bundesrepublik als Hauptinstrument der Vermögensbildung genutzte Steuer- und Prämienbegünstigung wurde im vorhergehenden Abschnitt ausführlicher behandelt. Daher genügt es hier, folgende Gesichtspunkte hervorzuheben: 1. Die Steuerbegünstigung ist als Instrument der Vermögensverteilungspolitik ungeeignet, da aufgrund des progressiven Steuertarifs die Bezieher höherer Einkommen vergleichsweise stärker begünstigt werden; 2. demgegenüber kommen Sparprämien auch Beziehern niedriger Einkommen zugute und sind daher aus verteilungspolitischer Sicht zu präferieren. Die Prämienvergünstigung ist ein sehr flexibles verteilungspolitisches Instrument. So lassen sich die Prämienhöhe, die Einkommenshöchstgrenzen, die Sperrfristen und der Katalog der begünstigten Anlageformen an die jeweiligen wirtschaftspolitischen Ziele anpassen. Allerdings hat die bisherige Erfahrung gezeigt, dass eine Vermögenspolitik, die sich mit der Förderung der Sparneigung begnügt, keine größeren vermögenspolitischen Erfolge erreichen kann. Das zentrale Problem der Vermögenspolitik besteht vielmehr in der je nach Einkommen und Vermögen ungleichen Sparfähigkeit der Haushalte. Eine erfolgreiche Vermögenspolitik wird deshalb nur möglich sein, wenn es gelingt, die Sparfähigkeit der Bezieher unterer und mittlerer Einkommen zu erhöhen. Hierzu werden seit längerem zwei Instrumente diskutiert: der Investivlohn einerseits und die investive Gewinnbeteiligung andererseits.

b) Vermögensbildung durch Investivlohn Als Investivlohn bezeichnet man jenen Teil des Lohnes bzw. Gehaltes, der den Beschäftigten nicht bar ausbezahlt wird, sondern direkt oder über Institutionen investiven Zwecken zugeführt und den Arbeitnehmern als Forderung übereignet wird. Der Investivlohn wird in Deutschland als Instrument der Vermögenspolitik bereits seit langem diskutiert und teilweise, nämlich seit Verabschiedung des Dritten Vermögensbildungsgesetzes im Jahr 1970, auch praktiziert.28 Die Befürworter des Investivlohns argumentieren, dass es mit Hilfe des Investivlohnes möglich sei, die Löhne der Arbeitnehmer über den Produktivitätsfortschritt hinaus zu erhöhen, ohne dass damit negative Effekte auf Inflation oder Beschäftigung verbunden wären. Die theoretische Grundlage ist die Kreislauftheorie der Verteilung, die im Anhang zu diesem Kapitel erläutert wird. Die mit jeder expansiven Lohnpolitik verbundene Gefahr einer Überwälzung der Lohnkosten auf die Produktpreise ist bei einer investiven Anlage des Arbeitseinkommens nicht gegeben, weil sich die gesamtwirtschaftliche Konsumgüternachfrage nicht erhöht. Aufgrund der Konstanz der Konsumnachfrage bleibt - bei rein kreislauftheoretischer Betrachtung - auch der Beschäftigungsgrad konstant. Sofern die private Ersparnis nicht durch den Investivlohn verdrängt wird ist es durch die investive Einkommenspolitik möglich, den Anteil der Arbeitseinkommen am Sozialprodukt (die Lohnquote) zu Lasten der Gewinnquote zu erhöhen und gleichzeitig die Arbeitnehmer an der Vermögensbildung zu beteiligen. Der Investivlohn ermöglicht den Arbeitnehmern somit ein „Sparen ohne Konsumverzicht“ (Nell-Breuning 1957). 28

Zum Investivlohn vgl. Oberhauser 1969; Oberhauser 1981; Kleps 1982.

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13 Vermögenspolitik

Das Problem des Investivlohns ist seine Wirkung auf die Kosten des Faktors Arbeit. Sofern der Investivlohn zusätzlich zur produktivitätsorientierten Barlohnerhöhung tritt (sog. „additiver Investivlohn“), führt dies zu einem Anstieg der Arbeitskosten und - nach neoklassischer Arbeitsmarkttheorie - zu einem Rückgang der Beschäftigung. Wenn die investive Lohnpolitik die Arbeitslosigkeit erhöht, ist sie nicht nur beschäftigungspolitisch, sondern auch verteilungsund vermögenspolitisch kontraproduktiv. Denn ein Anstieg der Arbeitslosigkeit führt c.p. zu einem Rückgang der Lohnquote, so dass auch bei investiver Verwendung der Löhne die funktionale Einkommensverteilung konstant bleibt. Darüber hinaus werden in Phasen der Arbeitslosigkeit Vermögensanteile veräußert und gebildetes Vermögen aufgebraucht. Damit ist auch der vermögenspolitische Effekt einer additiven Investivlohnpolitik fraglich. Negative Beschäftigungseffekte eines Investivlohns können nur vermieden werden, wenn der Investivlohn an die Stelle des produktivitätsorientierten Barlohns tritt (sog. „alternativer Investivlohn“). In diesem Fall stellt der Investivlohn aber lediglich eine Zwangsersparnis der Arbeitnehmer dar. Die betroffenen Arbeitnehmer könne darauf reagieren, indem sie ihre freiwillige Ersparnis reduzieren, so dass der Investivlohn die bisherige Ersparnis lediglich substituiert und keine zusätzliche Ersparnisbildung induziert. Die Wahrscheinlichkeit, vermögenspolitische Ziele ohne negative Beschäftigungseffekte erreichen zu können, ist bei Einführung einer Ertragsbeteiligung höher (vgl. Hujer/Lob 1992 und Althammer 1997).

c) Ertrags- oder Gewinnbeteiligung Die Idee, Arbeitnehmer am Ertrag oder Gewinn eines Unternehmens zu beteiligen ist keinesfalls so neu, wie es scheinen mag. Unternehmer wie Friedrich Harkort, Victor A. Huber und Ernst Abbe sind nur einige von zahlreichen Persönlichkeiten, die bereits im 19. Jh. für eine Gewinnbeteiligung der Arbeiter eingetreten sind und ihre Beschäftigten am Betriebsergebnis beteiligt haben. Mittlerweile beteiligen zahlreiche Unternehmen ihre Beschäftigten freiwillig an den Erträgen, sei es im Rahmen einer ertragsabhängigen Entlohnung oder über eine der zahlreichen Möglichkeiten einer Mitarbeiterkapitalbeteiligung (vgl. hierzu Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2011). Ertrags- bzw. Gewinnbeteiligungsmodelle werden als betriebliche und überbetriebliche Beteiligung diskutiert. Die betriebliche Ertragsbeteiligung, für die eine Vielzahl von Beteiligungsformen denkbar ist, hat den großen Vorzug, dass sie den spezifischen Gegebenheiten des einzelnen Unternehmens angepasst werden kann. Als weitere Vorteile werden genannt, dass Arbeitsproduktivität in den Unternehmen mit Gewinnbeteiligung steigt und die Arbeitnehmer besser an den Betrieb gebunden werden können (was freilich aus anderer Perspektive auch als Nachteil angesehen werden kann). Schließlich würde eine investive Ertragsbeteiligung keine zusätzlichen Probleme bei der Investitionsfinanzierung aufwerfen, wenn die Beteiligungen im Unternehmen angelegt werden (vgl. dazu Luig 1980). Als Nachteile einer betrieblichen Gewinnbeteiligung werden angesehen, • dass die am Betrieb beteiligten Arbeitnehmer zusätzlich zum Arbeitsplatzrisiko ein Vermögensrisiko tragen, • dass die Mobilität der Arbeitnehmer durch die Beteiligung eingeschränkt werden könnte und

13.3 Instrumente der Vermögenspolitik

331

• dass die betriebliche Ertragsbeteiligung zu einer ungleichen Verteilung innerhalb der Arbeitnehmerschaft führt, weil die Unternehmenserträge von Unternehmen zu Unternehmen unterschiedlich hoch ausfallen. Die überbetriebliche Ertragsbeteiligung (vgl. dazu Luig 1980 und Schöner 1989), die auf tarifvertraglicher oder gesetzlicher Basis eingeführt werden kann, vermeidet diese Nachteile der betrieblichen Ertragsbeteiligung. Sie hat außerdem den Vorteil, Personen begünstigen zu können, die in nicht-gewinnorientierten Unternehmen, im Öffentlichen Dienst oder überhaupt nicht erwerbswirtschaftlich beschäftigt sind. Sie ist jedoch mit dem Problem verbunden, dass die Unternehmensanteile in überbetrieblichen Fonds angelegt und verwaltet werden müssen. Die Frage nach dem Grad der Zentralisierung solcher Fonds, nach den Mitspracherechten dieser Fonds in den Unternehmungen, nach der Anlagepolitik solcher Fonds, nach der Besetzung ihrer Leitungsorgane und nach den Leitungsbefugnissen der Organe ist naturgemäß sehr umstritten, v.a. zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern (vgl. dazu Andersen 1976, S. 155 ff., sowie die dort zitierte Lit. und Schöner 1989, S. 320 ff.). Den Modellen überbetrieblicher Gewinnbeteiligung ist die Idee gemeinsam, Unternehmungen von einer bestimmten Größenordnung der Gewinne an unabhängig von ihrer Rechtsform zu verpflichten, progressiv mit den Unternehmensgewinnen steigende Prozentsätze des Gewinnes an überbetriebliche Institutionen abzuführen, sei es in Form von Geldzahlungen, Schuldverschreibungen oder Beteiligungswerten. An dem Gesamtwert der aufgebrachten, von Fonds verwalteten Mittel sollen bestimmte soziale Gruppen durch verzinsliche Beteiligungspapiere partizipieren. Ohne Zweifel sind in Bezug auf eine überbetriebliche Gewinnbeteiligung zahlreiche und komplexe Probleme zu lösen. Das Hauptproblem liegt – wie beim Investivlohn – in möglicherweise negativen Wirkungen auf die Investitionsneigung. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung hat jedoch schon vor längerer Zeit ein Modell vorgelegt, das diese Gefahr vermeidet.29 Die mit einer überbetrieblichen Gewinnbeteiligung verbundenen komplexen Probleme sollten kein Grund sein, von einer Weiterentwicklung dieses Instrumentes zur Vermögensumverteilung abzusehen und es nicht anzuwenden, weil es letztlich keine andere, gleichermaßen erfolgversprechende Möglichkeit einer Vermögensumverteilung gibt.30

Literatur Piketty 2016 - Frick/Grabka/Hauser 2010 - Hauser/Stein 2001 - Boettcher 1985

29

Vgl. dazu die Jahresgutachten des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: 1972/73, Z 501 ff., 1975/76, Z 370 ff. und 1976/77, Z 144 ff. 30 Hujer/Lob haben 1992 ein Modell überbetrieblicher Gewinnbeteiligung in zwei Varianten (investive Wertschöpfungsbeteiligung einerseits und Investivlohn andererseits) entwickelt. Die Simulation ergibt, dass die Vermögensbeteiligungseffekte in beiden Varianten positiv sind, dass sich jedoch bei der ersten Modellvariante insgesamt auch positive, dagegen bei der zweiten Modellvariante negative Kreislaufeffekte ergeben.

332

13 Vermögenspolitik

13.4 Anhang: Verteilungspolitische Grundlagen der Vermögenspolitik Die Kreislauftheorie der Einkommensverteilung Die theoretische Grundlage der investiven Einkommenspolitik ist die makroökonomische Kreislauftheorie nach Nicholas Kaldor (vgl. hierzu insbes. Külp 1994). Diese Theorie unterstellt eine geschlosene Volkswirtschaft bei Vollbeschäftigung. Da sich im Gleichgewicht Investitionen (I) und Ersparnis (S) bzw. - in Anteilen am Volkseinkommen (Y ) ausgedrückt - Investitionsquote (I/Y ) und Sparquote (S/Y ) entsprechen müssen, gilt I/Y = S/Y

(13.1)

Die gesamtwirtschaftliche Ersparnis wird in die Ersparnisbildung der Arbeitnehmerhaushalte (SL ) und die Ersparnis der Bezieher von Gewinneinkommen (SG ) unterteilt. Zur Vereinfachung wird zunächst angenommen, dass die Arbeitnehmer nur Lohneinkommen beziehen, während das gesamte Gewinneinkommen auf die Selbständigenhaushalte entfällt. Weiterhin wird unterstellt, dass die Sparquote der Arbeitnehmerhaushalte (sL ) niedriger ist als jene der Gewinneinkommensbezieher (sG ) und die Investitionsquote zwischen beiden partiellen Sparquoten liegt. Es gilt also: sL < I/Y < sG . (13.2) Da die gesamtwirtschaftliche Sparquote (s) gleich der Summe der mit der Lohnquote (λ) resp. Gewinnquote (γ) gewichteten partiellen Sparquoten ist, erhält man SL + SG Y sL · L + sG · G = sL · λ + sG · γ = Y

s = S/Y =

(13.3)

Da sich weiterhin Lohn- und Gewinnquote zu eins ergänzen, d. h da λ = (1 − γ) ist, gilt s = sL · (1 − γ) + sG · γ = sL + (sG − sL ) · γ

(13.4)

Setzt man nun aufgrund der Gleichgewichtsbedingung s = I/Y I/Y = sL + (sG − sL ) · γ,

(13.5)

und löst nach γ auf, so erhält man die Gewinnquotengleichung γ=

I/Y − sL . sG − sL

(13.6)

Dies ist die kaldor’sche Gleichung zur Bestimmung der gleichgewichtigen Einkommensverteilung. Unter den getroffenen Annahmen hängt die funktionale Einkommensverteilung ausschließlich von der Höhe der Investitionsquote und dem Verhältnis der partiellen Sparquoten ab. Dadurch ist es möglich, die funktionale Einkommensverteilung durch eine Veränderung der partiellen Sparquoten zu beeinflussen. Eine Erhöhung der Sparquote der Arbeitnehmerhaushalte verändert

13.4 Anhang: Verteilungspolitische Grundlagen der Vermögenspolitik

333

die Gewinnquote gemäß ∂γ γ 1 γ−1 = − = . ∂sL sG − sL sG − sL sG − sL

(13.7)

Da γ < 1 ist und annahmegemäß sG > sL gilt, ist der rechte Ausdruck kleiner als eins. Durch eine Erhöhung der Sparquote der Arbeitnehmer sinkt die Gewinnquote, so dass sich die funktionale Einkommensverteilung zugunsten der Arbeitnehmerhaushalte verändert.

Kapitel 14

Die Sozialpolitik der Europäischen Union

14.1 Definition, Ziele und Prinzipien Europäischer Sozialpolitik 14.1.1 Definition und Ziele Unter Europäischer Sozialpolitik im engeren Sinne werden alle sozialpolitischen Maßnahmen verstanden, die von den Organen der Europäischen Union1 für die Mitgliedstaaten verbindlich festgelegt werden und damit für das nationale Arbeits- und Sozialrecht der Mitgliedstaaten unmittelbar rechtliche Relevanz besitzen.2 In einem weiteren Verständnis umfasst die Europäische Sozialpolitik auch Maßnahmen, mit denen die Organe der EU beabsichtigen, mittelbar auf die Ausgestaltung der nationalen Sozialpolitik ihrer Mitglieder einzuwirken. Zu den Maßnahmen der Europäischen Sozialpolitik i. e. S. zählen Verordnungen und Richtlinien der EU, zu den Maßnahmen i. w. S. Empfehlungen und Stellungnahmen. Die Ziele der Europäischen Sozialpolitik sind im Art. 151 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) enthalten. Als sozialpolitische Ziele der EU werden hier genannt: 1. 2. 3. 4. 5. 6.

die Förderung der Beschäftigung, die Verbesserung und Angleichung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, ein angemessener sozialer Schutz, der soziale Dialog, ein dauerhaft hohes Beschäftigungsniveau und die Bekämpfung von Ausgrenzung.

14.1.2 Prinzipien Europäischer Sozialpolitik Die grundlegenden Ordnungsprinzipien der Europäischen Sozialpolitik sind die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit (vgl. Art. 5 EUV). Der Grundsatz der Subsidiarität 1 2

Zu den Institutionen der Europäischen Union vgl. Theurl/Meyer 2001, S. 43 ff. sowie Ribhegge 2011. Vgl. zum europäischen Arbeitsrecht Thüsing 2017; zum europäischen Sozialrecht siehe Fuchs 2018.

335

© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2021 J. Althammer et al., Lehrbuch der Sozialpolitik, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56258-1_14

336

14 Die Sozialpolitik der Europäischen Union

regelt die Zuweisung sozialpolitischer Kompetenzen auf europäischer Ebene. Er besagt, dass die Gemeinschaft nur tätig wird, sofern die sozialpolitischen Ziele auf der Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können. Nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dürfen die Maßnahmen der Union nicht über das zur Erreichung der Ziele erforderliche Maß hinausgehen. Damit verbleibt die Entscheidungsbefugnis im Bereich der Sozialpolitik weitgehend in nationalstaatlicher Kompetenz. Der EU-Vertrag enthält somit ein starkes Prärogativ zu Gunsten eines Wettbewerbs einzelstaatlicher sozialpolitischer Systeme.

14.2 Instrumente, Träger und Organe Europäischer Sozialpolitik 14.2.1 Träger und Organe Träger Europäischer Sozialpolitik ist zum einen der Europäische Rat; er besteht aus den Staatsund Regierungschefs der EU, dem Präsidenten der Europäischen Kommission sowie des hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik (Art. 15 Abs. 2 EUV). Der Europäische Rat tritt zweimal im Jahr zusammen. Seine Aufgabe ist es, allgemeine Zielvorstellungen für die politische Entwicklung der EU festzulegen. Der Rat besitzt also keine originär supranationale Gesetzgebungskompetenz, sondern leitet seine Stellung aus der nationalen Richtlinienkompetenz seiner Mitglieder ab. Ein primärrechtlich3 verankerter Träger Europäischer Sozialpolitik ist die Europäische Kommission. Die Kommission besteht derzeit (2021) aus 27 Mitgliedern, wobei jedes Mitgliedsland einen Kommissar stellt. Die Europäische Kommission ist ein politisch unabhängiges Organ, das die Interessen der gesamten EU vertritt und wahrt. Sie besitzt bei allen Rechtsakten der EU das Initiativmonopol, d. h. sie schlägt Rechtsvorschriften, politische Maßnahmen und Aktionsprogramme vor und ist für die Umsetzung der Beschlüsse des Rats der Europäischen Union und des Europäischen Parlaments verantwortlich. Das wohl wichtigste Entscheidungsgremium der EU ist der Rat der Europäischen Union (Ministerrat). In ihm sind die betreffenden Fachminister der Mitgliedsländer vertreten; für jedes Politikfeld existiert also eine eigenständige Zusammensetzung des Ministerrats. Da die Mitglieder des Ministerrats der Richtlinienkompetenz der Staats- und Regierungschefs unterliegen, ist über den Ministerrat eine Umsetzung der Beschlüsse des – formalrechtlich einflusslosen – Europäischen Rats möglich. Dem Ministerrat obliegt in fast allen Fällen die letztinstanzliche Annahme eines Rechtsakts. Er besitzt zwar kein Initiativrecht, kann aber die Kommission auffordern, entsprechende Vorschläge zu unterbreiten. Ein weiterer, zunehmend an Bedeutung gewinnender Träger supranationaler Sozialpolitik ist das Europäische Parlament (EP). Es vertritt die Bürger Europas und wird direkt von ihnen gewählt. Das EP teilt sich die gesetzgebende Gewalt und die Haushaltsbefugnis mit dem Ministerrat und übt eine demokratische Kontrolle über alle Organe der EU aus. Die Vertei3

Das Europarecht unterscheidet zwischen Primär- und Sekundärrecht. Das Primärrecht besteht aus den zwischen den Mitgliedstaaten geschlossenen Verträgen. Diese sind der Vertrag über die Europäische Union (EUV) und der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). Unter dem Sekundärrecht versteht man die auf der Grundlage des Primärrechts erlassenen Rechtsakte der Europäischen Union. Der AEUV sieht als sekundärrechtliche Rechtsakte Verordnungen, Richtlinien, Beschlüsse sowie Empfehlungen und Stellungnahmen vor; vgl. § 288 AEUV.

14.2 Instrumente, Träger und Organe Europäischer Sozialpolitik

337

lung der Normsetzungsbefugnis zwischen Ministerrat und Europäischem Parlament hängt vom anzuwendenden Rechtssetzungsverfahren ab. Der AEUV unterscheidet dabei zwischen dem Anhörungsverfahren und dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren. Beim Anhörungsverfahren (Konsultationsverfahren) nach Art. 289 AEUV schlägt die Europäische Kommission dem Ministerrat Rechtsakte vor; der Ministerrat wiederum ersucht das Europäische Parlament und andere Institutionen wie den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss oder den Ausschuss der Regionen um Stellungnahmen. Das Europäische Parlament kann die Vorschläge der Kommission billigen, ablehnen oder Änderungen beantragen. Die Stellungnahme des Europäischen Parlaments ist jedoch weder für die Kommission noch für den Ministerrat formal bindend. Beim ordentlichen Gesetzgebungsverfahren4 nach Art. 294 AEUV unterbreitet die Kommission einen Vorschlag dem Ministerrat und dem Europäischen Parlament. Das Europäische Parlament berät diesen Vorschlag in erster Lesung und übermittelt seinen Standpunkt dem Rat. Sofern der Rat den Vorschlag des Europäischen Parlaments billigt, ist der Rechtsakt in der Fassung der Stellungnahme des Europäischen Parlaments erlassen. Im Fall der Nichteinigung ist ein paritätisch besetzter Vermittlungsausschuss einzuberufen. Scheitert die Vermittlung, gilt der Akt als nicht erlassen. In den sozialpolitisch relevanten Bereichen (soziale Sicherung der Wanderarbeitnehmer, Beschäftigung, Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung und Beschlüsse in Bezug auf den Europäischen Sozialfonds) findet grundsätzlich das ordentliche Gesetzgebungsverfahren Anwendung. Unter den Trägern Europäischer Sozialpolitik nimmt der Europäische Gerichtshof (EuGH) eine Sonderstellung ein. Primäre Aufgabe des EuGH ist es, die Einhaltung des Gemeinschaftsrechts zu sichern und dieses Recht auszulegen; seiner formalen Stellung nach zählt er damit nicht zu den Trägern, sondern zu den Organen Europäischer Sozialpolitik. Da die europäischen Verträge aber aus Gründen der höheren Konsensfähigkeit in der Regel sehr allgemein gehalten und daher interpretationsbedürftig sind, besitzt der EuGH bei der Auslegung dieser Normen einen erheblichen Gestaltungsspielraum. Der EuGH hat diese Unvollständigkeiten immer wieder genutzt, um das Gemeinschaftsrecht dynamisch fortzuentwickeln. Bereits 1965 bezeichnete Walter Hallstein5 den EuGH deshalb als einen „Integrationsfaktor erster Ordnung“ (Hallstein 1979). Wichtige Organe Europäischer Sozialpolitik sind der Wirtschafts- und Sozialausschuss und der Ausschuss der Regionen. Der Wirtschafts- und Sozialausschuss ist ein beratendes Organ, in dem Arbeitgeberverbände, Gewerkschaften sowie andere Interessengruppen vertreten sind. Der Wirtschafts- und Sozialausschuss versteht sich als „Brücke“ zwischen den europäischen Institutionen und der organisierten Zivilgesellschaft. Bevor Beschlüsse zur Wirtschafts- und Sozialpolitik gefasst werden, ist die Stellungnahme dieses Ausschusses einzuholen. Ebenfalls beratende Funktion hat der Ausschuss der Regionen, der aus Vertretern der kommunalen und regionalen Gebietskörperschaften besteht. Dieser Ausschuss ist in allen Belangen anzuhören, die die kommunale und regionale Verwaltung betreffen. Weiterhin werden die Europäische Kommission, das Europäische Parlament und der Ministerrat durch zahlreiche Gremien und Sekretariate in ihrer Arbeit unterstützt.

4

Vor dem Vertrag von Lissabon (2007) „Mitentscheidungsverfahren“ oder „Kodezisionsverfahren“ genannt. Walter Hallstein war der erste Präsident der Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (1958– 1967). 5

338

14 Die Sozialpolitik der Europäischen Union

14.2.2 Instrumente supranationaler Sozialpolitik a) Verordnungen, Richtlinien und Entscheidungen Im Rahmen der europäischen Sozialpolitik kommt der Regulierung durch Rechtsetzung eine erhebliche Bedeutung zu. Für die Ebene der Europäischen Gemeinschaft sind unterschiedliche Formen des Gemeinschaftsrechts, das als supranationales Recht dem nationalen Recht übergeordnet ist, zu unterscheiden. Zum primären Gemeinschaftsrecht zählen die Römischen Verträge (EWG-Vertrag; EuratomVertrag) von 1957, die Einheitliche Europäische Akte (1986), die Verträge von Maastricht (1992), Amsterdam (1997), Nizza (2001) und Lissabon (2007) sowie die Beitrittsverträge mit neuen Mitgliedern. Das primäre Gemeinschaftsrecht gilt entweder unmittelbar für die Bürger im Geltungsbereich bzw. verlangt die Umsetzung in nationales Recht, oder richtet sich an die Organe der Gemeinschaft. Das sekundäre Gemeinschaftsrecht leitet sich aus dem primären Gemeinschaftsrecht ab. Die Organe der EU können so rechtsverbindlich Verordnungen, Richtlinien und Entscheidungen erlassen. Darüber hinaus können Empfehlungen und Stellungnahmen abgegeben werden (Art. 288 AEUV). Die Verordnung hat allgemeine Geltung. Sie ist in allen ihren Teilen verbindlich und gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat, d. h. sie gilt für jeden Bürger und alle staatlichen Instanzen. Dennoch werden die Verordnungen meist zusätzlich in nationales Recht überführt. Die Richtlinie setzt inhaltlich für jeden Mitgliedstaat verbindliche Ziele, die dann meist in bestimmter Frist in nationales Recht umzusetzen sind, wobei es den Mitgliedstaaten überlassen bleibt, in welcher Form und mit welchen Mitteln sie das Ziel realisieren. Entscheidungen gelten für Einzelfälle und für die in der Entscheidung genannten Adressaten als rechtsverbindlich. Die Empfehlungen und Stellungnahmen sind dagegen nicht rechtsverbindlich. Da die EU im Bereich der Sozialpolitik nur untergeordnete Kompetenzen besitzt, gibt es nur wenige sozialpolitische Verordnungen. Von besonderer Bedeutung sind die Verordnungen Nr. 1612/68, Nr. 1408/71 und Nr. 574/72 zur sozialen Sicherung von Wanderarbeitnehmer (sog. „Freizügigkeits-Sozialrecht“). Diese Verordnungen wirken wie Sozialversicherungsabkommen und stellen sicher, dass bei grenzüberschreitender Erwerbstätigkeit den Arbeitnehmern keine sozialen Ansprüche verloren gehen. Wichtige sozialpolitische Richtlinien sind die Richtlinien zum Arbeits- und Gesundheitsschutz, die überwiegend auf der Rahmenrichtlinie 89/391 EWG über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer bei der Arbeit basieren, die Richtlinie zur Einsetzung eines Europäischen Betriebsrats in gemeinschaftsweit operierenden Unternehmen (RL 94/45 EWG) und die Entsenderichtlinie (RL 96/71 EWG), durch die ausländische Arbeitgeber verpflichtet werden, ihren Arbeitnehmern jene Mindestarbeitsbedingungen zu gewähren, die am Arbeitsort gesetzlich normiert sind.

b) Der Europäische Sozialfonds Der Europäische Sozialfonds ist in den Art. 162 bis 164 AEUV verankert. Neben dem Europäischen Fonds für Regionale Entwicklung (EFRE), dem Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER), dem Europäischen Meeres- und Fische-

14.2 Instrumente, Träger und Organe Europäischer Sozialpolitik

339

reifonds (EMFF) und dem Kohäsionsfonds (KF)6 zählt der Europäische Sozialfonds (ESF) zu den Struktur- und Investitionsfonds der EU. Der ESF ist ein Finanzinstrument, mit dem die EU ihre beschäftigungspolitischen Ziele verfolgt. Er bietet den nationalen Trägern der Arbeitsmarktpolitik Beihilfen für Programme, die die Beschäftigungsfähigkeit der Menschen entwickeln oder wiederherstellen. Gefördert werden daher Maßnahmen zur beruflichen Qualifizierung von Personen, insbesondere derjenigen, die Schwierigkeiten haben, einen Arbeitsplatz zu finden, im Arbeitsprozess zu verbleiben oder nach einer Unterbrechung in den Beruf zurückzukehren. Der Europäische Sozialfonds unterstützt außerdem die Mitgliedstaaten in ihren Bemühungen, neue aktive Politiken und Strategien zur Bekämpfung der Ursachen der Arbeitslosigkeit und zur Verbesserung der beruflichen Qualifikationen zu entwickeln und einzuführen. Die Unterstützung wird dabei auf die jeweiligen Bedürfnisse der Regionen mit spezifischen Problemen zugeschnitten. Der ESF stellt ein Instrument der Einkommensumverteilung zwischen den Staaten der Gemeinschaft dar. In der Förderperiode 2014-2020 vergibt der ESF insgesamt 83 Mrd. e an die Mitgliedstaaten. Durch nationale und private Kofinanzierungen können Projekte in Höhe von 121 Mrd. e finanziert werden. Deutschland erhält aus den Mitteln des ESF 7,5 Mrd. e an Fördergeldern und ist damit nach Polen (12,9 Mrd. e) und Italien (10,2 Mrd. e) der drittgrößte Mittelempfänger. Allerdings leistet Deutschland einen nahezu doppelt so hohen Beitrag zur Finanzierung des Fonds.

c) Die offene Methode der Koordinierung Die Europäische Union hat im Bereich der Arbeits- und Sozialpolitik keine supranationalen Rechtssetzungskompetenzen. Aufgrund des Subsidiaritätsprinzips unterliegen diese Politikfelder weiterhin der nationalstaatlichen Souveränität. Um dennoch die sehr unterschiedlichen sozialpolitischen Systeme in der EU zumindest teilweise zu harmonisieren, wurde in den 1990er Jahren die sog. „offene Methode der Koordinierung“ (OMK) im Rahmen der Beschäftigungspolitik der EU entwickelt. Mit dem Ratsbeschluss von Lissabon im März 2000 wurde sie als ergänzendes Instrument der Europäischen Union eingeführt. Das Instrument wurde durch den Vertrag von Nizza für die Bereiche des Sozialschutzes und der sozialen Sicherung rechtlich geregelt. Die OMK ist eine dezentrale, weitgehend unverbindliche Form der Abstimmung nationaler Politiken innerhalb der EU. Durch sie sollen den Mitgliedstaaten Gestaltungsmöglichkeiten eingeräumt und so unterschiedlichen nationalen Gegebenheiten Rechnung getragen werden. Letztlich beruht die OMK auf einem Erfahrungsaustausch und Lernprozess zwischen den Mitgliedstaaten der EU. Die offene Methode der Koordinierung wird in folgenden Schritten umgesetzt: 1. Zunächst erfolgt die Festlegung von sozialpolitischen Zielen und die Erarbeitung von Leitlinien (guidelines) für die Mitgliedstaaten, wobei ein Zeitplan für die Realisierung der kurz-, mittelund langfristigen Ziele erstellt wird. 6

Der Kohäsionsfonds fördert Länder, deren Pro-Kopf-Einkommen weniger als 90 % des EU-Durchschnitts beträgt. Sein Ziel ist der Ausgleich der wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheit und die Förderung einer nachhaltigen Entwicklung. Für die Periode 2014-2020 sind dies: Bulgarien, Estland, Griechenland, Kroatien, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Portugal, Rumänien, Slowakei, Slowenien, Tschechische Republik, Ungarn und Zypern.

340

14 Die Sozialpolitik der Europäischen Union

2. In einem zweiten Schritt werden qualitative und quantitative Indikatoren bestimmt, die einen Vergleich zwischen den Mitgliedstaaten ermöglichen und in einen Überprüfungsbericht der Kommission einfließen. In diesem Bericht sollen der Entwicklungsstand der Mitgliedstaaten und bewährte Praktiken dargestellt werden (benchmarking). 3. In einem dritten Schritt sollen die europäischen Leitlinien in die nationale Politik umgesetzt werden, wobei die Entwicklung der entsprechenden Ziele und Maßnahmen den nationalen und gegebenenfalls regionalen Unterschieden Rechnung zu tragen haben. 4. Diese Umsetzung soll in einem vierten Schritt im Rahmen eines wechselseitigen Vergleichs (monitoring) und Erfahrungsaustauschs regelmäßig kontrolliert, bewertet und evaluiert werden. Dieser Prozess soll zu einer Konvergenz der Sozialsysteme beitragen. Die offene Methode der Koordinierung „setzt gezielt auf eine europäische Transparenz- und Öffentlichkeitswirkung und wird durch die transnationalen Rechtfertigungszwänge den Korridor verengen, innerhalb dessen sich die nationale Politik bewegen kann.“ (Hauser 2002, S. 4). Die OMK stellt damit eine „weiche“ Form der Koordination nationaler Sozialpolitiken dar. Ziel ist es, die Konvergenz der Politiken über einen Prozess der Abstimmung von politischen Leitlinien zu erreichen. Der Zielerreichungsgrad in den jeweiligen Mitgliedstaaten wird anhand eines gemeinsam abgestimmten Indikatorensystems und der daraus resultierenden Identifikation der am besten geeigneten Strategien und Maßnahmen gemessen. Dieses prozessgesteuerte, dezentrale Verfahren ergänzt die klassischen government-Methoden (Gemeinschaftsmethode und die intergovernmentale Methode) auf der Gemeinschaftsebene durch Elemente des soft law und der governance.

d) Sozialer Dialog und weitere Instrumente Seit den Anfangstagen der Gemeinschaft gab es Treffen der Dachorganisationen der Sozialpartner auf europäische Ebene. Diese waren anfangs noch sektorspezifisch, wurden dann aber schnell branchenübergreifend. Hierdurch sollte die EG bei ihrer sozialpolitischen Arbeit unterstützt werden.7 Mit der Einheitlichen Europäischen Akte wurde dieses Instrument als „Sozialer Dialog“ rechtlich verankert. Darunter wird die Konzertierung zwischen den Sozialpartnern8 auf europäischer Ebene verstanden. Mit dem Sozialabkommen des Maastrichter Vertrags (1992) wurde die Rolle des Sozialen Dialogs noch gestärkt. Vorgeschrieben ist die Konsultation der Sozialpartner bei der Rechtsetzung im Bereich der Sozialpolitik auf EU-Ebene. Darüber hinaus werden gemeinsame Stellungnahmen der Sozialpartner im Rahmen des Sozialen Dialogs angestrebt. Der Soziale Dialog kann aber auch in Abkommen münden, welche die Sozialpartner in autonomen Verhandlungen vorbereiten und deren Umsetzung auf Beschluss des Rates und auf Vorschlag der Kommission erfolgt. Zwei solcher Abkommen – zur Elternzeit und zur Teilzeitarbeit – wurden bislang geschlossen. Als ein weiteres Instrument sind die Aktions- und Sonderprogramme zu nennen. Solche Programme können sich auf grundsätzliche sozialpolitische Ziele beziehen, wie z. B. das sozialpoliti7

Vgl. Rieble/Kolbe 2008, S. 459. Die größten Organisationen der Sozialpartner sind zurzeit der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB), die Union der Industrie- und Arbeitgeberverbände Europas (BUSINESSEUROPE), die Europäische Union des Handwerks und der Klein- und Mittelbetriebe (UEAPME), sowie der Europäische Zentralverband der öffentlichen Wirtschaft (CEEP). 8

14.3 Die Entwicklung der Europäischen Sozialpolitik

341

sche Aktionsprogramm von 1974, das eine fortschrittliche Anpassung der Sozialleistungen als Ziel sozialpolitischer Harmonisierung propagierte, oder auch das „Aktionsprogramm zur Anwendung der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer“, das die Sozialcharta formal ergänzt. Aktionsprogramme können aber auch nur bestimmte Teilbereiche der Sozialpolitik betreffen. Ein Beispiel hierfür sind die sog. „Armutsprogramme“ (seit Mitte der 1970er Jahre wurden vier Aktionsprogramme zu Armut und sozialer Ausgrenzung verabschiedet).

Europäische Förderung der Kurzarbeit während der COVID-19-Pandemie (20/21) Die COVID-19-Pandemie hat alle Staaten der Europäischen Union in eine bislang beispiellose Rezession gestürzt. Um die Beschäftigung während der Rezession zu stabilisieren, hat der Europäische Rat am 19. Mai 2020 das temporäre Instrument SURE (Support to mitigate Unemployment Risks in an Emergency) verabschiedet (vgl. Verordnung (EU) 2020/672). Mit diesem Instrument wird insbesondere die Kurzarbeit gefördert. Die Kurzarbeit soll die sozialen Kosten verhindern, die dadurch entstehen, dass Beschäftigte während der Rezession ihre Beschäftigung verlieren, und im anschließenden Aufschwung neu eingestellt werden müssen. Die Kurzarbeitsregelungen haben sich bereits in der Vergangenheit, insbesondere während der Finanzkrise in Deutschland, als Mittel zur Eindämmung konjunkturell bedingter Arbeitslosigkeit bewährt (vgl. hierzu S. 380). Die Mittel des SURE-Programms, die als Darlehen vergeben werden, stehen allen Mitgliedsstaaten zur Verfügung, deren öffentliche Ausgaben im Zuge der Pandemiebekämpfung zur Arbeitsplatzsicherung massiv angestiegen sind. Sie werden den Mitgliedsstaaten vorrangig zur Finanzierung der länderspezifischen Umsetzung von Kurzarbeitsregelungen sowie ähnlichen Maßnahmen für Selbständige gewährt. Zudem können gesundheitsbezogene Maßnahmen, vor allem am Arbeitsplatz, durch das Instrument finanziert werden. Das Darlehensvolumen des Instruments beträgt 100 Mrd. €. Die Finanzierung erfolgt durch die Ausgabe europäischer Sozialanleihen, die von den Mitgliedsstaaten entsprechend ihrem relativen Gewicht am EUHaushalt garantiert werden. Durch diese Garantien weisen diese Anleihen eine hohe Bonität auf, wodurch die EU den Mitgliedstaaten Kredite zu günstigen Konditionen anbieten kann. Damit will die EU ein Zeichen der Solidarität unter ihren Mitgliedsstaaten setzen (vgl. Verordnung (EU) 2020/672). SURE ist als kurzfristige und zeitlich begrenzte Maßnahme zur Überwindung der Corona-Krise angelegt. Da mit diesem Programm jedoch erstmals Instrumente der passiven Arbeitsmarktpolitik auf EU-Ebene gefördert werden, entfacht das Instrument die erneute Diskussion um die Notwendigkeit einer europäischen Arbeitslosenversicherung (vgl. z. B. Vandenbroucke et al. 2020). Die Europäische Kommission grenzt SURE von einer europäischen Arbeitslosenversicherung durch die zugrundeliegende Rechtsnorm und der daraus resultierenden Verfügbarkeit voneinander ab: SURE gilt als die Umsetzung einer europäischen Arbeitslosenrückversicherung während einer Notsituation, basierend auf Artikel 122 AEUV, während eine dauerhafte europäische Arbeitslosenversicherung einer anderen Rechtsgrundlage bedürfe (vgl. Europäische Kommission 2020).

14.3 Die Entwicklung der Europäischen Sozialpolitik Ursprünglich wurde die Europäische Union als eine reine Wirtschaftsgemeinschaft gegründet. Aber bereits der Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft von 1957 enthält in seiner Präambel Ziele, die nicht nur durch die Wirtschaftspolitik erreicht werden können, sondern ergänzender sozialpolitischer Maßnahmen bedürfen: sozialer Fortschritt, eine stetige Verbesserung der Lebens- und Beschäftigungsbedingungen und die Hebung der Lebenshaltung. Eine Konkretisierung der sozialpolitischen Ziele wurde jedoch erst durch den Vertrag

342

14 Die Sozialpolitik der Europäischen Union

von Maastricht im Jahr 1992 vorgenommen. Seither spielt die Sozialpolitik in der Europäischen Union eine immer wichtiger werdende Rolle. Die Entwicklung der Europäischen Sozialpolitik lässt sich grob in drei Phasen untergliedern: die Phase von der Gründung der EWG bis zur Verabschiedung der Einheitlichen Europäischen Akte (1957–1986), die Phase von der Einheitlichen Europäischen Akte bis zum Vertrag von Maastricht (1986–1991) und schließlich die Phase vom Maastrichter Vertrag bis zum Vertrag von Lissabon (1991–2007).

1. 1957 – 1986: Vom EWG-Vertrag bis zur Einheitlichen Europäischen Akte Die Präambel zu den Römischen Verträgen von 1957 (EWG-Vertrag) benennt als sozialpolitische Zielsetzungen einer Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft die Sicherung des wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts und die stetige Verbesserung der Lebens- und Beschäftigungsbedingungen in den Mitgliedstaaten; damit wird die soziale Dimension der Gemeinschaft in eher allgemeinen Zügen umrissen. Konkrete sozialpolitische Bezüge beschränkten sich in dieser Phase auf die Forderung nach Freizügigkeit und sozialer Sicherung der Wanderarbeitnehmer, die Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Männer und Frauen und die Errichtung des Europäischen Sozialfonds. Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer und die Koordinierung der sozialen Sicherungssysteme für Wanderarbeitnehmer wurden nach mehreren Zwischenschritten durch die „Freizügigkeitsverordnung“ (VO Nr. 1612/68) und die „Wanderarbeitnehmerverordnung“ (VO Nr. 1408/71) erreicht.9 Durch diese Verordnungen wurden die nationalstaatlichen Sicherungssysteme in Europa koordiniert. Koordinierung der sozialen Sicherungssysteme bedeutet, dass die Sozialleistungen an Wanderarbeitnehmern durch den Ortswechsel innerhalb der EU nicht verringert werden. Die Koordinierung sozialpolitischer Leistungen ist erforderlich, um dem formalen Recht auf Freizügigkeit innerhalb des Binnenmarktes auch materiale Geltung zu verschaffen; insofern sind hier wirtschafts- und sozialpolitische Ziele komplementär.10 Der Europäische Sozialfonds wurde durch die Verordnung über den Europäischen Sozialfonds vom 25.08.1960 errichtet. Insgesamt lässt der EG-Vertrag von 1957 jedoch kein durchgängiges sozialpolitisches Konzept erkennen. Die Sozialpolitik stellte sich in der ersten Phase auf dieser Grundlage als Folge der Unterordnung unter die primär ökonomischen Zielsetzungen als „Geflecht unkoordinierter Einzelmaßnahmen“ dar und war in ihren Mitteln eingeschränkt.11 Als weiterer europäischer Vertrag wurde 1961 die Europäische Sozialcharta des Europarates verabschiedet, die 1965 in Kraft trat. Die Europäische Sozialcharta wurde durch drei Zusatzprotokolle (1988, 1991 und 1995) ergänzt und ersetzte in der revidierten Fassung, die am 01.07.1999 in Kraft trat, diejenige von 1961. Sie wurde mit der Zielsetzung verabschiedet, soziale Belange

9

Vgl. Verordnung über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaften vom 15.10.1968 und Verordnung zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern vom 14.06.1971. 10 Vgl. Andel 2001: Schmollers Jahrbuch mit weiteren Nachweisen. 11 Vgl. Kowalsky 1999, S. 68.

14.3 Die Entwicklung der Europäischen Sozialpolitik

343

in der Gemeinschaft zu fördern, indem sie für die europäischen Bürger allgemeine soziale Rechte festlegt. Die Fassung von 1999 wurde von 45 Staaten unterzeichnet und in 34 davon ratifiziert.12 Von den nun 31 Artikeln (gegenüber 19 Artikeln in der Fassung von 1965) sind im Folgenden die sog. „Kernbestimmungen“ genannt, die auch fast ausnahmslos (bis auf Art. 7 und Art. 20) in der ersten Fassung vorhanden waren: • • • • • • • • •

das Recht auf Arbeit (Art. 1); die Vereinigungsfreiheit (Art. 5); das Recht auf Kollektivverhandlungen (Art. 6); die Rechte der Kinder – der Schutz von Jugendlichen (Art. 7); das Recht auf Soziale Sicherheit (Art. 12); das Recht auf Fürsorge (Art. 13); das Recht der Familie auf sozialen, gesetzlichen und wirtschaftlichen Schutz (Art. 16); das Recht der Wanderarbeitnehmer und ihrer Familien auf Schutz und Beistand (Art. 19); das Recht auf Chancengleichheit und Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf ohne Diskriminierung aufgrund des Geschlechts (Art. 20).

Alle Staaten, welche die Charta unterzeichnen, müssen erklären, welche der Bestimmungen sie annehmen, wobei mindestens sechs der neun Kernbestimmungen akzeptiert werden müssen. Die Vertragsstaaten verpflichten sich, nach der Ratifikation dem Generalsekretär des Europarats einen ersten Bericht und später regelmäßig weitere Berichte über die Umsetzung der angenommenen Bestimmungen vorzulegen. Der Rat prüft die Übereinstimmung mit der Charta und kann Warnungen und (weitergehende) Empfehlungen an die Staaten aussprechen. Aus diesem öffentlichkeitswirksamen Verfahren resultieren jedoch keine Rechtswirkungen. Gleichwohl wurden im Zuge der Umsetzung der Gemeinschaftscharta durch die Mitgliedstaaten und die Kommission Initiativen zur Verabschiedung einer Reihe von Richtlinien vorbereitet – vorwiegend zum Gesundheitsschutz von Arbeitnehmern.13 Eine Neuorientierung europäischer Sozialpolitik wurde durch den Europäischen Gipfel der Staats- und Regierungschefs in Den Haag 1969 und in Paris 1972 eingeleitet. In Den Haag beschloss der Europäische Rat eine weitgehende Abstimmung der Sozialpolitik innerhalb der EG und eine Reform des Sozialfonds im Sinne einer Erweiterung seiner Aktionsmöglichkeiten zur sozialverträglichen Bewältigung regional- und strukturpolitischer Anpassungsprozesse. In der Schlusserklärung der Pariser Gipfelkonferenz betonten die Staats- und Regierungschefs, „dass für sie energischen Maßnahmen im sozialen Bereich die gleiche Bedeutung zukommt wie der Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion“ und beauftragten die Gemeinschaftsorgane, ein sozialpolitisches Aktionsprogramm auszuarbeiten. Dieses sozialpolitische Aktionsprogramm wurde vom Rat der EG 1974 verabschiedet. Es sah zahlreiche Einzelmaßnahmen vor, die bis Ende 1976 umgesetzt werden sollten. Konkrete Anstöße ergaben sich aus diesem Programm für die Angleichung arbeitsrechtlicher Bestimmungen innerhalb der EG in Bezug auf die Sicherung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Wechsel des Unternehmenseigentümers, für den Fall der Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers und in Bezug auf die Gleichbehandlung von Männern und Frauen, und zwar nicht nur im Bereich der Entgelte, sondern auch hinsichtlich des Zuganges zur Beschäftigung und zur Berufsausbildung. 12

Stand 2019 liegen keine Ratifizierungen von Dänemark, Deutschland, Großbritannien, Island, Kroatien, Luxemburg, Monaco, Polen, San Marino, Spanien, Tschechien vor. Die Schweiz und Liechtenstein haben nicht unterschrieben. 13 Vgl. Europarat 2002.

344

14 Die Sozialpolitik der Europäischen Union

In den Jahren zwischen 1972 und 1985 wurde das anspruchsvolle sozialpolitische Programm, das „das Gesicht der Sozialpolitik in der Gemeinschaft auf Jahre hinaus prägen sollte“, jedoch nicht annähernd erfüllt. Die Kritik an der ersten Dekade der europäischen Sozialpolitik führte zwar zu einer programmatischen Neuorientierung, jedoch wurde dies mit dem Ziel der Schaffung einer Wirtschafts- und Währungsunion verknüpft. Dadurch war keine grundsätzliche Änderung der nachrangigen Stellung der Sozialpolitik zu erwarten. In dieser Phase geriet der europäische Einigungsprozess vielmehr in eine Krise, da die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft versuchten, das Problem der Massenarbeitslosigkeit im nationalen Alleingang zu lösen.

2. 1986 - 1991: Von der Einheitlichen Europäischen Akte bis zum Maastrichter Vertrag Mitte der 1980er Jahre erhielt die Sozialpolitik der EG durch die von der Kommission unter der Präsidentschaft von Jacques Delors ergriffene Initiative zur Vollendung des Binnenmarktes neue Impulse. Vorausgegangen war die sog. „Süderweiterung“ der Union, also dem Beitritt Griechenlands (1981) sowie Spaniens und Portugals (1986). Hierdurch wuchs die Befürchtung, dass die Schaffung des Binnenmarktes zu einer Bedrohung von Arbeitsplätzen in den Ländern mit hohen Lohn- und Sozialkosten durch die weniger entwickelten EG–Mitgliedstaaten führen würde. Daraus entwickelte sich eine intensive politische und wissenschaftliche Diskussion über die Möglichkeiten, Voraussetzungen und Wirkungen einer Harmonisierung der Sozialpolitik in der Gemeinschaft. Die vertiefte Beschäftigung mit den Zielen, den Voraussetzungen und den Wirkungen eines Binnenmarktes für über 300 Mio. Menschen, die in Regionen unterschiedlicher wirtschaftlicher Leistungskraft mit unterschiedlichen institutionellen und gesetzlichen, wirtschaftlichen und sozialen Regelungen leben, ließ die Einsicht wachsen, dass die Verwirklichung des Binnenmarktes die soziale Dimension in wenigstens zweifacher Weise beeinflusst: 1. Die Verwirklichung des Binnenmarktes setzt bestimmte soziale Grundrechte voraus, z. B. die Freizügigkeit und die Freiheit vor Diskriminierung. 2. Durch unterschiedliche Arbeitsbedingungen und durch unterschiedliche Sozialleistungssysteme werden die Wettbewerbsbedingungen in den Ländern der Gemeinschaft beeinflusst. Diese Wettbewerbsbedingungen wirken auf die wirtschaftlichen Entwicklungschancen und v.a. auch auf den Beschäftigungsgrad in den Ländern zurück. Im Jahr 1986 verabschiedete der Europäische Rat die Einheitliche Europäische Akte (EEA), die 1987 in Kraft trat. Diese umfassende Änderung der Gründungsverträge sah nicht nur die Vollendung des Binnenmarktes für Ende 1992 vor, sondern schuf mit Art. 118a EGV (inzwischen Art. 154 AEUV) auch die Rechtsgrundlage zum Erlass von Mindeststandards im Bereich des Arbeitsschutzes mit qualifizierter Mehrheit. Mitte 1988 stellte der Rat der EG in Hannover die Notwendigkeit heraus, gleichzeitig und gleichgewichtig mit der Vollendung des Binnenmarktes dessen „soziale Dimension“ herzustellen. Nicht zuletzt die Aktivitäten der im Europäischen Gewerkschaftsbund zusammengeschlossenen Gewerkschaften, aber auch die Aktivitäten der Mehrzahl der Arbeitgeberverbände, führten in Verbindung mit den Impulsen der Hannoveraner Ratstagung zu dem Versuch, die Grundlagen der künftigen europäischen Sozialpolitik in einer Sozialcharta niederzulegen. Nach langwierigen Verhandlungen unterzeichneten die Staats- und Regierungschefs am 09.12.1989 die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte. Nur Großbritannien stimmte der Charta nicht zu. Sie

14.3 Die Entwicklung der Europäischen Sozialpolitik

345

enthält gemeinsame soziale Mindestgrundsätze für alle Mitgliedstaaten der europäischen Union. Zu nennen sind hier insbesondere: • das Recht auf Freizügigkeit für Arbeitnehmer, Gleichbehandlung bei den Lebens- und Arbeitsbedingungen, Harmonisierung von Aufenthaltsbedingungen und Familienzusammenführung, Verbesserungen für Grenzarbeitnehmer, Gleichbehandlung beim Sozialversicherungsschutz; • das Recht auf angemessenen sozialen Schutz und Sozialhilfe; • das Recht auf Koalitionsfreiheit und Tarifverhandlungen einschl. Streik und Aussperrung; • die Sicherstellung von Kinder- und Jugendschutz; Für die Gewährleistung dieser Rechte und für die zu ihrer Verwirklichung erforderlichen sozialpolitischen Maßnahmen waren die Mitgliedstaaten zuständig. Es handelte sich also weder um einklagbare Rechte der Arbeitnehmer noch um die Setzung supranationalen Rechts durch die EG, sondern um Programmsätze, also um ein langfristig anzustrebendes System arbeitsund sozialrechtlicher Ziele. In der Charta war an verschiedenen Stellen ebenso wie in Art. 117 EWG-Vertrag (inzwischen Art. 151 AEUV) außerdem davon die Rede, dass die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen „durch eine Angleichung dieser Bedingungen auf dem Wege des Fortschritts“ erfolgen soll, d. h. dass diese Verbesserung als Folge ökonomischen Fortschritts verstanden wurde. In dieser Phase wurden durch die Belebung des Binnenmarktprojektes sowie durch die Idee der Europäischen Währungsunion (befördert durch die aktive Rolle der Europäischen Kommission) auch Impulse für die soziale Integration gesetzt. Insbes. wurde durch die Mehrheitsentscheidungen bei Fragen der Arbeitsumwelt (Art. 154 AEUV) eine erkennbare Dynamik in diesem Bereich der Sozialpolitik erreicht.

3. 1991 - 2007: Vom Maastrichter Vertrag bis zum Vertrag von Lissabon Mit dem 1992 unterzeichneten Vertrag von Maastricht („Vertrag über die Schaffung einer Europäischen Union“, in Kraft getreten am 01.11.1993) trat die europäische Integration wiederum in eine neue Phase. Dies bezieht sich zunächst auf die politische und ökonomische Integration, insbesondere durch die Schaffung der Europäischen Union (bis dato: Europäische Gemeinschaften) und die im Vertrag festgeschriebenen Zielsetzungen der Wirtschafts- und Währungsunion, die 2002 in die Gemeinschaftswährung EURO mündete. Die verstärkte wirtschaftliche Integration innerhalb Europas erfordert auch die stärkere Wahrnehmung wirtschaftspolitischer und regulativer Kompetenzen durch die Europäischen Gremien (sog. „positive Integration“). Die zunächst angestrebte sozialpolitische Flankierung der Wirtschafts- und Währungsunion über die Umsetzung der Sozialcharta von 1989 innerhalb des Vertrages hätte jedoch nur realisiert werden können, wenn Großbritannien von diesem Vertrag ausgenommen worden wäre („opting out“). Um dies zu verhindern und dennoch den Vertragsabschluss zu ermöglichen, wurde der Vorschlag Jacques Delors aufgegriffen, über eine Protokollnotiz und ein „Abkommen über die Sozialpolitik“14 die (sieben) Artikel zur Sozialpolitik aus dem Vertrag auszugliedern. Dies ermöglichte die Ratifizierung des Vertrags und die elf Mitglieder konnten trotz des Widerstands des zwölf14

Der vollständige Name lautet: „Protokoll über die Sozialpolitik, dem ein Abkommen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft mit Ausnahme des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland über die Sozialpolitik beigefügt ist.“

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14 Die Sozialpolitik der Europäischen Union

ten Mitglieds auf dieser Grundlage mit qualifizierter Mehrheit über bestimmte sozialpolitische Regelungen entscheiden („opting in“.). Das „Abkommen über die Sozialpolitik“ strebt die Beschäftigungsförderung, die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, einen angemessenen sozialen Schutz, den Ausgleich auf dem Arbeitsmarkt sowie die Bekämpfung von Ausgrenzung an. Das Abkommen legte außerdem fest, dass die EU in folgenden Bereichen Rechtsakte mit qualifizierter Mehrheit erlassen kann: • • • • •

Verbesserung der Arbeitsumwelt; Gesundheitsschutz; Arbeitsbedingungen; Gleichbehandlung für Männer und Frauen; berufliche Eingliederung ausgegrenzter Personen.

Die Einstimmigkeitsregel gilt weiterhin in sozialpolitisch „sensiblen“ Bereichen wie der sozialen Sicherung und des sozialen Schutzes der Arbeitnehmer bei Kündigung, der Mitbestimmung und der kollektiven Wahrnehmung von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen sowie bei Regelungen zur Beschäftigungsförderung und zu Beschäftigungsbedingungen von Staatsangehörigen von Drittländern. In den Bereichen, die in Deutschland durch die Tarifvertragsparteien geregelt werden (Tarifautonomie), hat die Gemeinschaft keine Regelungskompetenz. Als Fortschritt ist die (Wieder-)Belebung des „Sozialen Dialogs“ zu werten, innerhalb dessen die wirtschaftlichen und sozialen Gruppen in Ausschüssen und beratenden Gremien innerhalb des Entscheidungsprozesses auf der Ebene der Gemeinschaft beteiligt werden. Im Sozialabkommen wurde zudem die Möglichkeit eingeräumt, dass die Sozialpartner auf europäischer Ebene untereinander Regelungen vereinbaren können, die dem Rat als Richtlinienvorschlag vorgelegt werden können (Art. 4 des Sozialabkommens). In diesem Zusammenhang ist auf die Bestandsaufnahme sozialer Probleme durch die Kommission im „Grünbuch über die die europäische Sozialpolitik“ (1993) und die daraus resultierenden Vorstellungen der Kommission für die Ausrichtung der Sozialpolitik zwischen 1995 und 1999 im Weißbuch „Europäische Sozialpolitik“ (1994) hinzuweisen.15 Die Problemanalyse betont im Wesentlichen die aus der Arbeitslosigkeit und dem demographischen Wandel resultierenden Probleme der sozialen Sicherungssysteme und die daraus resultierende Armut und Ausgrenzung. Ein deutlicher Fortschritt in Bezug auf die europäische Sozialpolitik vollzog sich mit dem Vertrag von Amsterdam, der im Juni 1997 unterzeichnet wurde und am 01.05.1999 in Kraft trat. Die sozialpolitischen Regelungen des Protokolls von Maastricht wurden durch den Amsterdamer Vertrag fast wörtlich übernommen. Mit diesem Vertrag wurde auch die Anwendung des Mitentscheidungsverfahrens ausgeweitet. Folgende sozialpolitische Ziele wurden festgelegt: 1. Förderung der Beschäftigung; 2. Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen (Angleichung durch wirtschaftlichen Fortschritt); 3. angemessener sozialer Schutz; 4. sozialer Dialog; 5. Entwicklung des Arbeitskräftepotentials in Hinblick auf ein dauerhaft hohes Beschäftigungsniveau; 6. Bekämpfung von sozialer Exklusion. 15

Vgl. Europäische Kommission 1993; Europäische Kommission 1994.

14.3 Die Entwicklung der Europäischen Sozialpolitik

347

Hervorzuheben sind die Einführung des Subsidiaritätsprinzips als grundlegendes Ordnungsprinzip europäischer Sozialpolitik und die Einfügung eines gesonderten Beschäftigungskapitels, das auch die Entwicklung einer koordinierten Beschäftigungsstrategie auf der Gemeinschaftsebene vorsieht. Weiter wird das Ziel der Gleichbehandlung von Männern und Frauen höher gewichtet und der Vertrag enthält ein generelles Diskriminierungsverbot. Einen weiteren wichtigen Impuls für die europäische Sozialpolitik gab das Gipfeltreffen des Europäischen Rates im März 2000 in Lissabon. Neben Wirtschaftswachstum und Beschäftigung wurde hier der Sozialpolitik die Rolle eines bedeutenden Elements im Rahmen der langfristigen Zielsetzung zugesprochen, die Europäische Union zum „wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt“ zu machen – so die Gipfelerklärung. Dahinter steht die bereits im Weißbuch zur Europäischen Sozialpolitik (1994) entwickelte Vorstellung, dass eine interdependente Beziehung zwischen Wirtschafts- und Währungspolitik, der Beschäftigungspolitik (als besonderer Teil der Wirtschaftspolitik) und der Sozialpolitik (insbes. der sozialen Sicherung) besteht. In der Gleichgewichtung dieser drei Politikfelder äußert sich ein Paradigmenwechsel in der Europäischen Sozialpolitik. Mit dem Vertrag von Nizza im Jahr 2000, der nach seiner Ratifizierung durch die Mitgliedstaaten am 01.02.2003 in Kraft trat, wurde zwar die Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit weiter ausgedehnt, für den Bereich der Sozialpolitik blieb der Status quo – die Einstimmigkeitsregel – jedoch im Kern erhalten. Zwar kann der Rat mit einstimmigem Beschluss das Mitentscheidungsverfahren für die Bereiche der Sozialpolitik einführen, die bis dato der Einstimmigkeit unterliegen. Explizit wird dies jedoch für den Bereich der sozialen Sicherheit und des sozialen Schutzes der Arbeitnehmer, des Schutzes der Arbeitnehmer bei Beendigung des Arbeitsvertrages sowie bei der Vertretung und kollektiven Wahrnehmung der Arbeitnehmer– und Arbeitgeberinteressen ausgeschlossen. Der Vertrag legt weiter fest, dass zur Verwirklichung der sozialpolitischen Ziele (Artikel 136 EGV) die Europäische Gemeinschaft die Tätigkeit der Mitgliedstaaten auf verschiedenen Gebieten (soziale Sicherheit und sozialer Schutz der Arbeitnehmer, Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung, Modernisierung der Systeme des sozialen Schutzes) unterstützen und ergänzen kann. „Unter Ausschluss jeglicher Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten“ können dann Initiativen ergriffen werden, die der Verbesserung des Wissensstandes, des Austauschs von Informationen, der Förderung innovativer Ansätze und der Evaluation von Verfahren dienen. Hier wurde bereits die „offene Methode der Koordinierung“ rechtlich verankert, wodurch auch die Mitgliedstaaten bei der Mitwirkung auf die Methode verpflichtet werden. Für die langfristige Bedeutung der offenen Methode der Koordinierung für die Harmonisierung der Sozialpolitik in der Europäischen Union sprechen neben der Verankerung im EG-Vertrag im Übrigen auch die im Entwurf zum „Vertrag über eine Verfassung für Europa“ (Amtsblatt Nr. C 169 vom 18.07.2003) aufgenommenen Artikel zur Sozialpolitik, (Artikel III-103 f.), die den Regelungen im Vertrag von Nizza substantiell entsprechen. Obwohl der Grundsatz der Subsidiarität in Bezug auf das Verhältnis zwischen europäischer Sozialpolitik und nationalen Politiken nicht in Frage gestellt wird, zeigt sich hierin die zunehmende Bedeutung einer eigenständigen Sozialpolitik auf supranationaler Ebene. Durch den Vertrag von Lissabon aus dem Jahr 2007 wurde die Europäische Union nicht nur institutionell reformiert, sondern es wurde auch die soziale Dimension der Europäischen Union erkennbar gestärkt. Gemäß Art. 3 EUV wirkt die Europäische Union auf eine „in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt

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14 Die Sozialpolitik der Europäischen Union

abzielt“ (Art. 3 Abs. 3 EUV). Sozialpolitisch relevante Artikel des EU-Vertrags finden sich in den Art. 151-161 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union. Hier werden u. a. der Arbeitnehmerschutz, die Mitbestimmung, die Gleichbehandlung sowie die Modernisierung der Systeme sozialer Sicherung als sozialpolitische Bereiche genannt, in denen die Union die Gesetzgebung der Mitgliedstaaten ergänzt und unterstützt.

14.4 Zentrale Probleme einer gemeinsamen Sozialpolitik in der Europäischen Union 14.4.1 Heterogenität nationalstaatlicher sozialpolitischer Systeme Ein zentrales Problem für eine gemeinsame europäische Sozialpolitik ist die Vielzahl und Heterogenität der nationalen sozialpolitischen Systeme.16 Die Länder der Europäischen Union unterscheiden sich erheblich hinsichtlich ihres Entwicklungsstandes. Da die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft gleichzeitig eine zentrale Determinante des Umfangs staatlicher Sozialpolitik ist (vgl. dazu Kap. 6.2.1), gibt es auch erhebliche Unterschiede in der Höhe der Sozialleistungen und der Sozialleistungsquoten (SLQ). Die Abbildung 14.1 zeigt die Sozialleistungsquote der EU-28 Staaten für das Jahr 2017 in Abhängigkeit vom BIP pro Kopf (in Kaufkraftstandard). Die Abbildung 14.1 zeigt, hängt die Höhe der Sozialleistungsquote erkennbar von der Höhe des Pro-Kopf-Einkommens ab und variiert zwischen 14,4 % (Rumänien) und 34,1 % (Frankreich). Die Abbildung macht jedoch auch erhebliche Strukturunterschiede zwischen den Ländern deutlich. So weisen Estland/Litauen mit ca. 15 % und Portugal mit ca. 25 % bei gleichem ProKopf-Einkommen (um 23 000 e) deutlich unterschiedliche Sozialleistungsquoten auf, während z.B. Italien und Deutschland eine ähnliche Sozialleistungsquote (ca. 29 %) bei deutlich unterschiedlichem Pro-Kopf-Einkommen aufweisen. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union unterscheiden sich nicht nur hinsichtlich ihres Wohlstandsniveaus, der Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen und des Volumens des sozialen Schutzes. Die sozialen Sicherungssysteme divergieren auch stark hinsichtlich ihrer institutionellen Ausgestaltung wie bspw. der Risikoabdeckung, des erfassten Personenkreises, der Organisation, Finanzierung und Leistungsgewährung. Diese unterschiedlichen nationalen Sicherungssysteme sind jeweils historisch gewachsen und somit auch ein Ergebnis unterschiedlicher sozialer Präferenzen in den jeweiligen Mitgliedstaaten. Von einem einheitlichen „Sozialmodell Europa“ kann – jedenfalls zurzeit – noch keine Rede sein. In der Literatur existieren verschiedene Ansätze zur Typologisierung dieser unterschiedlichen Konzeptionen staatlicher Sozialpolitik. Eine vielfach rezipierte Typologie stammt von dem dänischen Soziologen Gøsta Esping-Andersen (1989, 1998). Er klassifiziert sozialpolitische Systeme anhand ihres Grades an Dekommodifizierung und Stratifizierung. • Dekommodifizierung bezeichnet das Ausmaß, in dem Einzelpersonen oder Familien unabhängig von ihrer Erwerbstätigkeit Zugang zu sozialen Leistungen erhalten. Der Grad an Dekommodifizierung eines sozialen Sicherungssystems gibt somit an, inwieweit der Lebensstandard 16

Vgl. hierzu und zu einem Versuch der Systematisierung dieser unterschiedlichen Sozialsysteme Palme et al. 2009.

14.4 Zentrale Probleme einer gemeinsamen Sozialpolitik in der Europäischen Union

349

Abb. 14.1: Zusammenhang von BIP und SLQ in der EU (2017)

unabhängig von einer Teilnahme am Arbeitsmarkt sichergestellt ist. Dekommodifizierte Systeme lösen die enge Beziehung zwischen Arbeitsleistung und Lebensstandard und entbinden somit den Faktor Arbeit von seinem „Warencharakter“. • Das Kriterium der Stratifizierung beschäftigt sich mit dem Einfluss sozialpolitischer Geldund Sachleistungen auf die soziale Ungleichheit in der Gesellschaft. Stratifizierende Systeme zeichnen sich durch systeminhärente Ungleichheiten aus, die durch den Sozialstaat nicht abgebaut, sondern beibehalten und ggf. noch verstärkt werden. Von sozialstaatlicher Stratifizierung kann man sprechen, wenn die Ungleichverteilung der verfügbaren Einkommen annähernd der Ungleichverteilung der Markteinkommen entspricht, wenn also das SteuerTransfer-System eine geringe Umverteilungswirkung aufweist. Unter dem Begriff der Stratifizierung fällt auch, wenn der Sozialstaat selbst Ungleichheiten produziert, indem er bspw. eine Differenzierung der Leistungen hinsichtlich des sozialen Status der Bezugsperson vornimmt. Im Gegensatz dazu versteht man unter Universalismus den Grad der Einheitlichkeit bei der Leistungsvergabe. In universalistischen Systemen werden alle Bürger „unabhängig von ihrer Klassenzugehörigkeit mit ähnlichen Rechten ausgestattet“ (Esping-Andersen 1998, S. 41). Auf der Grundlage dieser Kriterien fasst Esping-Andersen die Sozialstaaten zu Idealtypen zusammen, die er als „liberal“, „konservativ“ und „sozialdemokratisch“ bezeichnet. Liberale Systeme weisen einen geringen Grad an Dekommodifizierung und hoher Stratifizierung auf, sozialdemokratische Systeme sind durch einen hohen Grad an Dekommodifizierung und Universalismus der Leistungen gekennzeichnet. Konservative Systeme nehmen eine „Mittelstellung“ zwischen liberalen und sozialdemokratischen Systemen ein. Esping-Andersen ordnet die Sozialstaaten Großbritanniens und der USA dem liberalen Modell, Schweden, Norwegen und Däne-

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14 Die Sozialpolitik der Europäischen Union

mark dem sozialdemokratischen Modell und die Bundesrepublik sowie Frankreich und Italien dem konservativen Modell zu. Diese Typologisierung wurde von Ferrera (1998) und Bertola et al. (2001) aufgegriffen und weiterentwickelt. Diese Autoren unterscheiden vier Typen sozialpolitischer Systeme in Europa: das sog. „nordische“ Wohlfahrtsmodell, das „angelsächsische“ Modell, das kontinentaleuropäische Modell und das südeuropäische Modell. Später wurde diese Klassifikation durch die postkommunistischen mittel- und osteuropäischen Systeme ergänzt. Eine Klassifikation europäischer Sozialstaatssysteme auf der Grundlage der Taxonomie von Esping-Andersen findet sich in Tabelle 14.1. Tabelle 14.1: Typologie europäischer Sozialstaaten Sozialstaatstyp

Länder

Liberal Kontinentaleuropäisch Sozialdemokratisch Südeuropäisch Mittel- und osteuropäisch

Großbritannien, Irland Belgien, Deutschland, Frankreich, Luxemburg, Österreich Dänemark, Finnland, Niederlande, Norwegen, Schweden Italien, Griechenland, Malta, Portugal, Spanien, Zypern Bulgarien, Estland, Kroatien, Lettland, Litauen, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn

Eine detaillierte Differenzierung sozialpolitischer Arrangements in Europa findet sich bei Martin 2015 (vgl. Tabelle 14.2).17 Eine alternative Vorgehensweise zur Klassifikation von Wirtschafts- und Sozialsystemen findet sich bei Hall/Soskice (2001). Für sie ist wirtschaftliches Handeln im Wesentlichen das Lösen von Koordinationsproblemen auf verschiedenen Ebenen (Tarifverhandlungen, Corporate Governance, innerbetriebliche Arbeitnehmer-Arbeitgeberbeziehung). Wirtschaftlich erfolgreiche Systeme zeichnen sich dadurch aus, dass sie diese Koordinationsprobleme durch Institutionen lösen, welche untereinander komplementär sind. Hall/Soskice unterscheiden „liberale“ und „koordinierte“ Marktwirtschaften. In liberalen Marktwirtschaften findet diese Koordination dezentral über wettbewerbliche Märkte statt. Die Arbeitsbedingungen werden individualvertraglich vereinbart, die Unternehmen finanzieren sich über den Kapitalmarkt. Die Leitung des Unternehmens erfolgt streng einseitig, eine Mitbestimmung der Arbeitnehmer ist nicht vorgesehen. In koordinierten Systemen dominieren demgegenüber kollektive Tarifverhandlungen, eine Unternehmensfinanzierung durch den Bankensektor und die Mitbestimmung von Arbeitnehmern im Betrieb. Gesellschaften mit unterschiedlichen Koordinierungsverfahren werden als „hybride“ Marktwirtschaften bezeichnet. Hall/Soskice (2001) ordnen Irland und das Vereinigte Königreich den liberalen, Deutschland, Österreich, Belgien, die Niederlande sowie die „nordischen“ Sozialstaaten den koordinierten Marktwirtschaften zu. Frankreich, Italien, Portugal und Griechenland zählen die Autoren zu den hybriden Marktwirtschaften. Die in der Literatur vorgeschlagenen Typologien unterscheiden sich inhaltlich und die Zuweisungen europäischer Volkswirtschaften zu einem bestimmten Typus erfolgt nicht immer einheit17

Martin 2015 analysiert neben den von Esping-Andersen untersuchten liberalen, konservativkorporatistischen und sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten auch die südeuropäischen Sozialstaaten. Die Klassifikation der mittel- und osteuropäischen Sozialstaaten findet sich bei Fenger 2007.

14.4 Zentrale Probleme einer gemeinsamen Sozialpolitik in der Europäischen Union

351

Tabelle 14.2: Synopse alternativer Sozialstaatsarrangements (nach Martin 2015) Sozialstaatstyp

Liberal

Südeuropäisch

Ziel des Systems

Regulierung von Armut; Bedarfsdeckung durch den Markt

Duale Absiche- Soziale Sicherung rung sozialer männlicher ArbeiRisiken (Überver- ter sicherung regulär Beschäftigter und Unterversicherung bei atypischen Beschäftigungsverhältnissen)

Allgemeiner Zu- Sozialer Schutz der gang zu hohen gesamten ErwerbsTransferzahlungen bevölkerung und Dienstleistungen für alle Bürger

Zugangskriterien

Bedarfsgeprüft

Erwerbsarbeit und Erwerbsarbeit Staatsbürgerschaft (im Prinzip)

Staatsbürgerschaft Erwerbsarbeit

Finanzierung

Steuern (+) Beiträge (-)

Beiträge (+) Steuern (-)

Beiträge

Steuern

Beiträge

Grad der Dekom- Schwach modifizierung

Schwach

Mittel

Hoch

Mittel

Grad der Defamili- + sierung

--

--

++

-

Grad der sozialen Schwach Sicherung

Mittel

Hoch

Hoch

Mittel

Belgien, Deutschland, Frankreich, Luxemburg, Österreich

Dänemark, Finnland, Niederlande, Norwegen, Schweden

Bulgarien, Estland, Kroatien, Lettland, Litauen, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn

Länder (EU-28)

Großbritannien, Ir- Italien, Griechenland land, Malta, Portugal, Spanien, Zypern

Konservativkorporalistisch

Sozialdemokratisch

Osteuropäisch postkommunistisch

lich. Aber die varieties of capitalism-Literatur macht deutlich, dass innerhalb der Europäischen Union eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Sozialsysteme existiert, die sich nur schwer harmonisieren lassen.

14.4.2 Koordinierung versus Harmonisierung sozialer Sicherungssysteme Die Koordination derart unterschiedlicher sozialer Sicherungssysteme mit einer Vielzahl von Einzelregelungen stellt bereits für sich genommen ein außerordentlich komplexes Unterfangen dar. Erschwerend kommt hinzu, dass weder in der praktischen noch in der wissenschaftlichen Sozialpolitik Einigkeit über die optimale Integrationstiefe und die zu verfolgende Integrationsstrategie besteht. Eine Harmonisierung nationaler Rechtssysteme kann dabei grundsätzlich auf zwei Arten erfolgen: durch einen Wettbewerb der Sozialsysteme (ex-post Harmonisierung) oder durch die politische Setzung eines einheitlichen europäischen Rechtssystems (ex-ante Harmonisierung).

352

14 Die Sozialpolitik der Europäischen Union

Bei der ex-post Harmonisierung verbleibt die sozialpolitische Regelungskompetenz bei den Mitgliedstaaten. Unterschiedliche soziale Sicherungssysteme treten damit in einen direkten institutionellen Wettbewerb. Die Befürworter dieses Modells erwarten, dass sich durch diesen institutionellen Wettbewerb – analog zum Wettbewerb auf den Gütermärkten – das leistungsfähigste sozialpolitische System langfristig durchsetzen wird. Bei der ex-ante Harmonisierung werden soziale Rechte bzw. bestimmte sozialpolitische Leistungen für alle Mitgliedstaaten einheitlich festgelegt. Die Befürworter dieser Lösung sehen in dieser politischen Integration die einzige Möglichkeit, ineffiziente, durch unterschiedliche Sozialleistungen induzierte Wanderungsbewegungen zwischen den Mitgliedstaaten zu unterbinden. Versucht man, unter Berücksichtigung des verfügbaren theoretischen Wissens (vgl. hierzu Kap. 16.5.2, S. 402) ein ordnungspolitisches Konzept in seinen Grundzügen zu entwickeln, das im Integrationsprozess den ökonomischen und den sozialen Zielen sowie den faktischen Interdependenzen zwischen wirtschaftlicher und sozialer Dimension Rechnung trägt, führt das nach Meinung der Verfasser zu einem Konzept, das sich als das Konzept eines fairen, also funktionsfähigen und sozialverträglichen Wettbewerbs bezeichnen lässt. Funktionsfähiger Wettbewerb heißt, den Wettbewerb so zu ordnen, dass er die ihm politisch gesetzten Ziele erreicht. Der Vertrag über die EG setzt vor allem zwei Ziele, die für die europäische Wettbewerbsordnung von Bedeutung sind: erstens die Sicherung des wirtschaftlichen und zweitens die Sicherung des sozialen Fortschritts der Mitgliedsländer. Eine wichtige Voraussetzung für den sozialen Fortschritt ist das Wirtschaftswachstum. Die Erfahrung zeigt, dass ein möglichst freier Wettbewerb und offene Märkte – d. h. Produktionsfreiheit, freier Handel und freie Mobilität der Produktionsfaktoren – wichtige Voraussetzungen für wirtschaftliches Wachstum und ökonomische Wohlfahrt sind. Wie oben bereits angesprochen, setzt die Mobilität des Faktors Arbeit bestimmte soziale Bedingungen voraus, nämlich die Sicherung der Freizügigkeit nicht nur in rechtlicher, sondern auch in materialer Hinsicht. Im Rahmen des sog. „Freizügigkeits-Sozialrechts“ hat die Gemeinschaft deshalb Verordnungen erlassen, die gewährleisten sollen, dass Personen beim Wechsel in ein anderes Mitgliedsland keine Nachteile in Bezug auf ihre soziale Sicherung in Kauf nehmen müssen. Die faktische Freizügigkeit, wie sie die Sozialcharta enthält, ist daher eine wesentliche Voraussetzung für die Erzielung wirtschaftlichen und damit sozialen Fortschritts. Allgemeiner lässt sich formulieren: soweit die Sozialcharta Voraussetzungen für die Sicherung der Freizügigkeit schafft, hat die Sicherung dieser sozialen Rechte nicht nur einen Eigenwert, sondern ist gleichzeitig ein Instrument zur Erreichung des Wohlfahrtszieles. Es handelt sich also um Rechte, welche die Funktionsfähigkeit des Wettbewerbsprozesses sichern. Sozialverträglicher Wettbewerb setzt innerhalb eines einheitlichen Wirtschaftsraumes ferner voraus, dass die Wettbewerbsbedingungen im gesamten Wirtschaftsraum identisch sind, d. h. dass die für die Ordnung bestimmter Märkte geltenden Regeln im Grundsatz überall die gleichen sein müssen. Konkret bedeutet das: soweit Normen der Sozialcharta die Funktion haben, gleiche Qualitäten der Arbeitsmarktordnung und der Betriebsverfassung zu sichern, dienen sie nicht nur der Erreichung sozialpolitischer Ziele, sondern auch dem Ziel eines fairen Wettbewerbs. Wettbewerbsordnungssichernde soziale Rechte sind vor allem die Koalitionsfreiheit und die Tarifautonomie, das Arbeitskampfrecht und betriebliche Mitwirkungsrechte. Neben den eben angesprochenen zwei Kategorien sozialer Rechte – nämlich der Gruppe wettbewerbsprozesssichernder und der Gruppe wettbewerbsordnungssichernder Grundrechte – deren Verwirklichung keine Konflikte zwischen den wirtschaftlichen und den sozialen Zielen der Gemeinschaft schaffen wird, gibt es drei weitere Kategorien sozialer Rechte, deren Umsetzung

14.4 Zentrale Probleme einer gemeinsamen Sozialpolitik in der Europäischen Union

353

wirtschaftliche und soziale Ziele der Gemeinschaft verletzen kann, wenn sie nicht sorgfältig auf den Stand und das Tempo der wirtschaftlichen Entwicklung in den einzelnen Ländern der Gemeinschaft abgestimmt wird. Es handelt sich um folgende Kategorien: 1. die Gewährleistung des Schutzes der Gesundheit und der technischen Sicherheit in der Arbeitswelt, die Einführung von Mindestvorschriften des Kinder-, Jugend- und Behindertenschutzes sowie der Anspruch auf Ruhezeiten und einen Jahresurlaub; also die Normen zum Schutz des Humankapitals; 2. die Verwirklichung eines „angemessenen sozialen Schutzes“ und von „Leistungen der sozialen Sicherheit in ausreichender Höhe“; hier handelt es sich um risikoabdeckende soziale Schutzvorschriften; 3. die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen; hier handelt es sich um lebensstandardverbessernde Normen. Vorschriften, welche das Humankapital schützen und fördern, haben neben ihren sozialen auch wirtschaftlich positive Effekte, weil es sich im Grunde um Investitionen in die Wirtschaftsgrundlagen handelt. Dabei ist jedoch zu beachten, dass die Fähigkeit wirtschaftlicher Regionen und bestimmter Branchen, solche Investitionen zu tätigen, je nach dem erreichten Leistungsniveau und je nach den Produktivitätszuwächsen unterschiedlich ausgeprägt ist. Es ist zwar unstrittig, dass aus humanitären Gründen versucht werden muss, ein bestimmtes Mindestmaß an Gesundheitsschutz, technischem Arbeitsschutz und Schutz von Kindern und Jugendlichen sicherzustellen, aber wäre es verfehlt, diese Mindestschutznormen auf einem zu hohen Niveau festzusetzen, da ansonsten in den wirtschaftlich weniger entwickelten Ländern der EU Wachstum und Arbeitsplätze gefährdet werden könnten. Bei der Festlegung von Mindeststandards des Arbeitnehmerschutzes wird man daher auf das wirtschaftliche Leistungsvermögen der schwächeren Länder der Gemeinschaft Rücksicht nehmen müssen; sie sind jedoch so anzusetzen, dass unzumutbare und menschenunwürdige Arbeitsbedingungen unterbunden werden. Gleichzeitig gilt für die sozialen Sicherungssysteme, dass die Mindestnormen sozialen Schutzes nicht ohne Berücksichtigung der ökonomischen Grundlagen festgesetzt werden dürfen, wenn nicht der ökonomische Preis zu hoch werden soll. Dies gilt insbesondere bei der Analyse der Voraussetzungen und der Möglichkeiten der Einführung bzw. der Verbesserung jener Schutzeinrichtungen, welche die sog. „Standardrisiken“ (Unfall, Krankheit, Alter, Tod, Arbeitslosigkeit) abdecken. Wie bei den Humankapital schützenden und fördernden Sozialinvestitionen ist es wirtschaftlich unmöglich, kurz- und mittelfristig auf hohem Niveau eine Angleichung dieser Sozialleistungen im Sinne des Harmonisierungsmodells zu erreichen. Was für die risikoabdeckenden sozialen Schutzvorschriften gilt, gilt in noch höherem Maße für das generelle Ziel der Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen. Abgesehen davon, dass der Begriff der „Angemessenheit“ interpretationsbedürftig ist, kann die Zielsetzung der Verbesserung des Lebensstandards nur im Sinne eines langfristig zu erstrebenden Zielsystems verfolgt werden, nicht aber im Wege der Festsetzung von Normen. Allenfalls das Ziel gerechter Arbeitsentgelte kann dadurch gefördert werden, dass Lohnermittlungs- und Lohnfestsetzungsverfahren vorgesehen werden, die eine bestmögliche Annäherung an das Ziel gerechter Arbeitsbedingungen erlauben, nämlich die auf der Koalitionsfreiheit beruhende Tarifautonomie.

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14 Die Sozialpolitik der Europäischen Union

Literatur Kowalsky 1999 - Geyer 2000 - Schuster 2001 - Ribhegge 2011 - Schieren 2012 - Kennett/LendvaiBainton 2017

Teil V

Das System der staatlichen Sozialpolitik Überblick und Bilanz

Kapitel 15

Finalziele, Prinzipien und Träger der staatlichen Sozialpolitik im Überblick

Nach der Darstellung der einzelnen Bereiche der Sozialpolitik erscheint es angebracht, die wesentlichen Ziele, Prinzipien und Träger der staatlichen Sozialpolitik in einem konzentrierten Überblick zusammenzufassen.

15.1 Finalziele Finalziele sind im Unterschied zu Instrumentalzielen gesellschaftspolitische Zielsetzungen, die um ihrer selbst verfolgt werden und nicht aus übergeordneten Zielen abgeleitet werden. Mit den Maßnahmen staatlicher Sozialpolitik versucht die Gesellschaft, folgende Finalziele zu realisieren: 1. die Absicherung eines bestimmten Maßes an positiver Freiheit für jedes Gesellschaftsmitglied, 2. die Gewährleistung sozialer Gerechtigkeit im Sinne von Startchancen-, Beteiligungs- und Verteilungsgerechtigkeit sowie 3. die Sicherung des sozialen Friedens in der Gesellschaft. Individuelle Freiheit kann man als negative (formale) und als positive (materiale) Freiheit auffassen (hierzu grundlegend Berlin 1995). Unter negativer Freiheit versteht man die Abwesenheit von Beschränkungen der eigenen Handlungsmöglichkeiten durch andere Personen. Negative Freiheit ist somit gleichzusetzen mit der Abwesenheit von menschlich auferlegtem Zwang. Da der Sozialstaat vielfach mit zwingenden Mitteln wie einer Versicherungspflicht oder der Verpflichtung zur Zahlung von Steuern und Sozialabgaben arbeiten muss, schränkt der Sozialstaat die negative Freiheit der Bürger zunächst ein. Diese zwingenden Maßnahmen sind jedoch erforderlich, damit der Sozialstaat seine Sicherungs- und Verteilungsfunktion effektiv erfüllen kann. Das Ziel eines freiheitlichen Sozialstaats besteht damit nicht in der Freiheit im Sinne der Abwesenheit von Zwang. Ein freiheitlicher Sozialstaat zeichnet sich zunächst dadurch aus, dass die freiheitseinschränkenden Maßnahmen im demokratischen Willensbildungsprozess von den Betroffenen selbst beschlossen werden, dass sie sich also freiwillig diesen Beschränkungen unterwerfen. Zum anderen zielt ein freiheitlicher Sozialstaat darauf ab, den Bürgern ein Höchstmaß an Entfaltungsmöglichkeiten, also an positiver Freiheit, einzuräumen. Positive Freiheit drückt die Möglichkeit

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© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2021 J. Althammer et al., Lehrbuch der Sozialpolitik, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56258-1_15

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15 Finalziele, Prinzipien und Träger

aus, von bestimmten formalen Freiheitsrechten auch tatsächlich Gebrauch machen zu können.1 Sozialpolitische Instrumente zur Erhöhung positiver Freiheit sind alle Maßnahmen, mit denen die Existenz des Einzelnen im Fall eines unzureichenden Markteinkommens gesichert wird. Dazu zählt das System sozialer Sicherung, aber auch die soziale Grundsicherung. Freiheitserhöhende Effekte zeigen auch die Instrumente der aktiven Arbeitsmarktpolitik. Mit den Maßnahmen zur Umschulung sowie der Aus- und Weiterbildung sollen Arbeitslose in den Erwerbsprozess integriert und ihnen dadurch die Möglichkeit gegeben werden, sich selbstverantwortlich in die Erwerbsgesellschaft einzubringen. Soziale Gerechtigkeit lässt sich als Startchancen-, als Beteiligungs- und als Verteilungsgerechtigkeit interpretieren. Die Herstellung von Startgerechtigkeit ist vor allem eine Aufgabe der Bildungspolitik, aber auch der Familienpolitik und der Verteilungspolitik, insbes. der Vermögensverteilungspolitik. Unter Beteiligungsgerechtigkeit versteht man die gleichen Möglichkeiten, sich aktiv und partizipativ in die Gesellschaft einzubringen (Anzenbacher 1998). Sozialpolitische Instrumente zur Verbesserung der Teilhabemöglichkeiten sind alle Maßnahmen zur Erhaltung und Verbesserung der Erwerbsfähigkeit als Grundlage einer selbstverantwortlichen Existenzsicherung (Arbeitnehmerschutz, Gesundheitswesen, Rehabilitation) und Instrumente zur Ausund Weiterbildung (aktive Arbeitsmarktpolitik, soziale Grundsicherung für Arbeitsuchende). Die Verteilungsgerechtigkeit lässt sich als die Forderung interpretieren, die Einkommen und Vermögen in der Gesellschaft entsprechend der jeweiligen Leistung (Leistungsgerechtigkeit) bzw. entsprechend des individuellen Bedarfs (Bedarfsgerechtigkeit) zuzuteilen. Die leistungsgerechte Verteilung von Einkommen und Vermögen ist grundsätzlich die Aufgabe des Marktes. Aus Gründen der Leistungsgerechtigkeit können jedoch sozialpolitische Eingriffe erforderlich werden. Das ist beispielsweise dann der Fall, wenn die Arbeitsmärkte unvollkommen sind und die Marktentlohnung unterhalb der Grenzproduktivität des Faktors Arbeit liegt. Sozialpolitische Eingriffe aus Gründen der Leistungsgerechtigkeit können auch dann erforderlich werden, wenn bestimme gesellschaftlich erwünschte Leistungen nicht über Märkte gehandelt werden, wie z.B. die Kindererziehung oder die Pflege innerhalb der Familie. Die Realisierung von Bedarfsgerechtigkeit ist vor allem die Aufgabe der sozialen Grundsicherung sowie jener bedarfsabhängigen Leistungen, die der Grundsicherung vorgelagert sind (Wohngeld, Kinderzuschlag). Auch das Ziel des sozialen Friedens lässt sich unterschiedlich politisch interpretieren und mit verschiedenen Maßnahmen realisieren. Sozialer Frieden kann zum einen bedeuten, dass keine gesellschaftlichen Konflikte existieren die so groß sind, dass sie die bestehende Gesellschaftsordnung in ihrem Bestand gefährden. Instrumente zum Abbau von wirtschaftlichen Interessengegensätzen sind damit alle Maßnahmen zur Verringerung von Einkommens- und Vermögensunterschieden in der Gesellschaft sowie die Mitbestimmungsrechte von Arbeitnehmern im Betrieb und in den Unternehmen. Allerdings gibt es in marktwirtschaftlichen, auf Privateigentum beruhenden Wirtschaftssystemen einen grundlegenden Konflikt über die Verteilung des Produktionsertrags auf die beteiligten Produktionsfaktoren. Dieser Konflikt ist systemisch und lässt sich auch nicht durch politische Maßnahmen ausräumen. Das Ziel des sozialen Friedens erfordert hier Mechanismen zur Konfliktlösung dergestalt, dass der Konflikt ohne größere gesellschaftliche Schäden 1

Das prominenteste Beispiel für das Auseinanderfallen von negativer und positiver Freiheit ist die klassische Arbeiterfrage des 19. Jh. Die Arbeiter waren im Zuge der Durchsetzung der Ideen der Aufklärung und des Liberalismus rechtlich freie Personen. Sie waren jedoch aufgrund der in Kap. 2 beschriebenen Umstände gezwungen, jede Arbeit unabhängig von den konkreten Arbeitsbedingungen anzunehmen. Sie hatten – anders formuliert – keine Möglichkeit, von ihrem Recht auf Nichtannahme einer Beschäftigung faktisch Gebrauch zu machen.

15.2 Prinzipien

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ausgetragen werden kann. Dies geschieht in Deutschland durch das kollektive Arbeitsrecht und die Regelungen zur Tarifautonomie.

15.2 Prinzipien Unter den Prinzipien staatlicher Sozialpolitik sind allgemeine Grundsätze zu verstehen, die bei der Konzeption und der Ausgestaltung sozialpolitischer Maßnahmen zu beachten sind. Dabei kann man zwischen grundsätzlichen Ordnungsprinzipien und den Prinzipien der Leistungsvergabe unterscheiden.

15.2.1 Ordnungsprinzipien a) Das Sozialstaatsprinzip Gem. Art. 20 Abs. 1 GG ist die Bundesrepublik Deutschland ein sozialer Rechtsstaat; gem. Art. 28 Abs. 1 Satz 1 sind auch die Länder an die Grundsätze des sozialen Rechtsstaats gebunden. Dieses Sozialstaatsgebot stellt als allgemeines Verfassungsprinzip und in Verbindung mit weiteren Grundrechten die Generalnorm für die staatliche Sozialpolitik in Deutschland dar. Sie verpflichtet einerseits den Gesetzgeber, sich sozialstaatlich zu verhalten. So ist der Gesetzgeber verpflichtet, das sozio-kulturelle Existenzminimum für alle Gesellschaftsmitglieder sicherzustellen (BVerfGE 40, 121, 133) und er darf dieses Existenzminimum nicht durch den steuerlichen Zugriff schmälern (BVerfGE 82, 60, 85). Gleichzeitig hat der Gesetzgeber auch das Recht, aus sozialpolitischen Gründen in den Markt und in die Eigentumsordnung zu intervenieren. Die Eingriffsmöglichkeiten des Staates sind somit nicht auf rein marktkonforme Maßnahmen beschränkt (vgl. hierzu Wissenschaftliche Dienste des Bundestags 2014).

b) Das Solidaritätsprinzip Das Solidaritätsprinzip ist ein Gestaltungsprinzip für Staat, Gesellschaft und Wirtschaft. In der Arbeiterbewegung, im Genossenschaftswesen, im Verbändewesen und in der Sozialversicherung ist es ein weltanschaulicher Eckpfeiler. Solidarität ist zu verstehen als wechselseitige Verbundenheit zwischen einzelnen und sozialen Gruppen im Sinne eines gegenseitigen Aufeinander– Angewiesen–Seins sowie einer ethisch begründeten gegenseitigen Verantwortlichkeit. In der Sozialpolitik besagt das Solidaritätsprinzip, dass die aus der Übereinstimmung in den Lebenslagen und in den Lebensanschauungen resultierende, durch Zusammengehörigkeitsgefühl und Interessenkonvergenz verstärkte, gegenseitige Verbundenheit ein Grundsatz zur Bildung von Solidargemeinschaften, v.a. von Versichertengemeinschaften, sein soll. Das Solidaritätsprinzip kann jedoch nicht starr angewendet werden. Dies zeigt sich daran, dass Solidargemeinschaften früherer Zeit, etwa der Bergleute oder anderer Berufsstände, wegen Veränderungen in der Sozial- und Beschäftigtenstruktur als Organisationseinheiten sozialer Sicherung nicht mehr leistungsfähig sind. Die Entwicklung der Solidargemeinschaften sozialer Sicherung zeigt aber auch, dass es vie-

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15 Finalziele, Prinzipien und Träger

len umso schwerer fällt, solidarisches, d.h. gemeinschaftsorientiertes Verhalten zu praktizieren, je größer und unüberschaubarer die Gruppe wird.

c) Das Subsidiaritätsprinzip Das Subsidiaritätsprinzip ist ein Kompetenzzuweisungsprinzip für politische Mehrebenensysteme. In der Europäischen Union hat es mit Art. 5 EUV Verfassungscharakter.2 Es verlangt einerseits, dass keine gesellschaftliche oder staatliche Einheit Aufgaben an sich ziehen soll, die der Einzelne oder ein kleineres Sozialgebilde aus eigener Kraft mindestens gleich gut lösen können wie die größere Einheit. Das Subsidiaritätsprinzip verlangt andererseits aber auch, dass die größeren gesellschaftlichen Einheiten die kleineren Sozialgebilde in die Lage versetzen, um ihre Aufgaben adäquat erfüllen zu können. Soziale Aufgaben sollen so weit wie möglich von kleineren sozialen Einheiten (Individuum, Familie, freie Träger der Wohlfahrtspflege) übernommen werden, bevor größere Einheiten tätig werden. Nach diesem Prinzip verdient Selbsthilfe den Vorzug vor Fremdhilfe und es sollen die Selbstbestimmung und die Selbstverantwortung gestärkt werden.

d) Das Prinzip der Selbstverantwortung Das Prinzip der Selbstverantwortung ist in seiner Zielrichtung mit dem Subsidiaritätsprinzip eng verwandt. Es verlangt, dass Freiheit und Selbstverantwortung der Einzelnen möglichst wenig eingeschränkt werden sollen. Wie bereits weiter oben dargestellt, wurde durch die mit der Sozialpolitik verbundenen rechtlichen Zwänge – z.B. die Pflichtmitgliedschaft in der Sozialversicherung oder die Verpflichtung zur Zahlung von Steuern und Sozialabgaben – extreme Armut und Ausgrenzung bekämpft und damit die materiale Freiheit der Mehrheit der Bevölkerung erheblich vergrößert. Mittlerweile haben jedoch die Eingriffe der staatlichen Sozialpolitik einen Umfang erreicht, der die Frage nach der Gefährdung der persönlichen Freiheit und der Selbstverantwortung und damit auch nach den Grenzen des Sozialstaates virulent werden lässt.

e) Die Interdependenz zwischen Solidarität, Subsidiarität und Selbstverantwortung Zwischen Solidarität, Subsidiarität und Selbstverantwortung bestehen enge Interdependenzen. Solidarität, verstanden als die Bereitschaft, sich für andere mitverantwortlich zu fühlen und bestimmte Leistungen zu erbringen ohne äquivalente Gegenleistungen zu erwarten, wird als Einstellung und praktiziertes Verhalten von den Mitgliedern einer Solidargemeinschaft nur durchgehalten werden können, wenn diese Solidarität nicht überbeansprucht wird. Die Empfänger der Hilfeleistungen müssen also gemäß dem Prinzip der Selbstverantwortung das in ihren Kräften Stehende zu tun, um die erforderliche Fremdhilfe möglichst gering zu halten. Selbstverantwortung wiederum ist nur in dem Maße möglich, in dem der Einzelne oder die kleinere Gruppe faktisch in der Lage ist, bestimmte Lebenslagen eigenständig zu bewältigen. Solidarität setzt also Selbstverantwortung voraus, Selbstverantwortung wiederum bedarf der Ergänzung durch 2

Das Subsidiaritätsprinzip wurde v.a. in der katholischen Soziallehre entwickelt (vgl. Nell-Breuning 1968a und Rauscher 1988).

15.2 Prinzipien

361

Solidarität. Da Solidarität aber umso höhere Anforderungen an die Mitglieder einer Gruppe stellt, je größer und heterogener diese Gruppe ist, wird die Funktionsfähigkeit des Solidaritätsprinzips von der Anwendung des Subsidiaritätsprinzips beeinflusst. Das Subsidiaritätsprinzip stellt somit ein verbindendes Element zwischen Solidarität und Selbstverantwortung dar.

f) Ordnungskonformität Die Teilordnungen einer Gesellschaft wie die Rechtsordnung, die Wirtschafts- und die Sozialordnung sowie die entsprechenden Politikbereiche sind interdependent, d.h. sie stehen in einem inneren Zusammenhang.3 Um Wertungswidersprüche innerhalb der gesellschaftlichen Ordnung zu vermeiden, müssen die jeweiligen Teilordnungen und Politikfelder aufeinander abgestimmt werden. So sind in einer Gesellschaft, die das Ziel der individuellen Freiheit und Selbstverantwortung verfolgt, nicht nur die Rechts- und die Wirtschaftsordnung, sondern auch die Sozialordnung am Prinzip der individuellen Freiheit auszurichten. Eine Kohärenz von Wirtschaftsund Sozialpolitik ist auch erforderlich, um die gesetzten sozialpolitischen Ziele möglichst effizient zu erreichen. Ein Beispiel soll das verdeutlichen. Wenn in einer Marktwirtschaft bestimmte Arbeitnehmergruppen wie Mütter oder Schwerbehinderte durch besondere Kündigungsschutzbestimmungen stärker geschützt werden als andere Arbeitnehmergruppen, dann kann das dem eigentlichen Schutzziel zuwiderlaufen. Denn die Unternehmer werden die für sie teureren Arbeitskräfte nicht beschäftigen, sondern auf weniger gut geschützte Arbeitskräfte zurückgreifen. Maßnahmen, die das Ziel verfolgen, eine bestimmte soziale Gruppe zu schützen, können sich somit als Einstellungshemmnis erweisen und dadurch die zu schützende Gruppe letztlich sogar schlechter stellen („Bumerang-Effekt“). Eine Sozialpolitik, die konform zur marktwirtschaftlichen Ordnung ausgestaltet ist, zeichnet sich dadurch aus, dass sie zur Realisierung ihrer Ziele grundsätzlich Instrumente mit der geringstmöglichen Eingriffsintensität einsetzt. Dies bedeutet zunächst, dass zu prüfen ist, ob sich ein soziales Problem in vertretbaren Zeiträumen und unter akzeptablen sozialen Kosten im Zuge der wirtschaftlichen Entwicklung von selbst lösen wird. In diesem Fall sollte der Staat keine sozialpolitischen Maßnahmen ergreifen. In einem zweiten Schritt wäre zu prüfen, ob im Sinne des liberalen Paternalismus die für erforderlich gehaltene Verhaltensänderung durch eine Anpassung der Rahmenbedingungen erfolgen kann, ohne die Betroffenen explizit zu einem bestimmten Verhalten zu veranlassen („nudging“). Dies geschieht insbesondere durch eine Veränderung der sog. „Default-Regeln“, also jener Regeln, die zur Anwendung kommen, wenn der Betroffene selbst nicht tätig wird. Ein Beispiel hierfür ist die Versicherungspflicht geringfügig Beschäftigter in der GRV. Bis zum Jahr 2013 waren geringfügig Beschäftigte in der GRV versicherungsfrei, hatten jedoch die Möglichkeit, sich freiwillig zu versichern. Um Mitglied der gesetzlichen Rentenversicherung zu werden, musste der geringfügig Beschäftigte somit eigenständig aktiv werden. Seit 2013 sind geringfügig Beschäftigte in der GRV grundsätzlich pflichtversichert, können sich jedoch von der Versicherungspflicht befreien lassen. Geringfügig Beschäftigte haben also grundsätzlich weiterhin die Wahl, ob sie in der GRV versichert sein möchten, oder nicht. Sofern eine geringfügig beschäftigte Person jedoch nicht eigenständig tätig wird, war sie bis 2013 versicherungsfrei und ist seit 2013 versicherungs-

3

Vgl. dazu Blümle/Goldschmidt 2004.

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15 Finalziele, Prinzipien und Träger

pflichtig. Durch diese Änderung der Default-Regelung erhofft sich der Gesetzgeber einen Anstieg des Anteils rentenrechtlich abgesicherter geringfügig Beschäftigter. Eine weitergehende Verhaltensänderung ist durch den Einsatz führender Instrumente zu erwarten. Führende Instrumente sind Maßnahmen, die die Menschen zu einem bestimmten Verhalten veranlassen, ohne jedoch unmittelbaren Zwang auszuüben. Unter diese führenden Instrumente fallen bspw. die Förderung der privaten Vorsorge durch Steuervergünstigungen oder die Vergabe von Prämien. Aus sozialpolitischer Perspektive ist dabei eine Förderung über die Vergabe von Prämien vorzuziehen. Denn sofern bestimmte Aufwendungen von der Steuerbemessungsgrundlage als Freibetrag abgezogen werden können, ist die Entlastung bei einem progressiven Steuertarif umso höher, je höher das zu versteuernde Einkommen ist. Bei einem Abzug von der Steuerschuld entfällt dieser Degressionseffekt des Freibetrags; eine vollständige Förderung erhalten jedoch nur die Haushalte, deren Steuerschuld den Förderbetrag übersteigt. Die Vergabe von Prämien hat demgegenüber den Vorteil, dass diese Prämie auch Geringverdienern in voller Höhe zugute kommt. Wenn der Staat die Bezieher niedriger Einkommen in besonderer Weise fördern möchte, kann die Prämie mit zunehmendem Einkommen verringert werden. Allerdings steigt dadurch die Progression des gesamten Steuer-Transfersystems, da zu der progressiven Belastung der Einkommen durch Steuern noch die „implizite Steuer“ durch den Entzug der Transferleistung kommt. Sofern die Prämien mit einer Höchsteinkommensgrenze versehen sind, ist die Grenzbelastung in bestimmten Einkommensbereichen höher als 100%. Das bedeutet, dass in diesem Einkommensbereich eine Erhöhung des Bruttoeinkommens zu einem geringeren verfügbaren Einkommen führt. Die höchste Eingriffsintensität weisen zwingende Instrumente auf. Mit ihnen verpflichtet der Staat seine Bürger, sich in einer bestimmten Weise zu verhalten. Beispiele für zwingende Instrumente sind die Versicherungspflicht oder die Verpflichtung zur Zahlung von Steuern und Sozialabgaben. Aufgrund des Zwangscharakters dieser Maßnahmen sollen in einem freiheitlichen Sozialstaat diese Instrumente nur zum Einsatz kommen, wenn dies zur Erfüllung der sozialpolitischen Ziele unabdingbar ist. In den vergangenen Jahrzehnten wurde wiederholt eine ordnungskonforme Sozialpolitik eingefordert. In einer Sozialen Marktwirtschaft bedeutet Ordnungskonformität der Sozialpolitik jedoch nicht, dass in der Sozialpolitik nur führende und marktkonforme Mittel eingesetzt werden dürfen. Ein solches Verständnis der Interdependenz der Ordnungen würde die Sozialordnung der Wirtschaftsordnung unterordnen und verkennen, dass in der Sozialen Marktwirtschaft die Wirtschaftsordnung und die Sozialordnung gleichberechtigte Teilsysteme der Gesellschaftsordnung sind (vgl. dazu Lampert 1989a). Daher müssen die Sozialordnung und die Sozialpolitik zwar konform zum Leitbild der Wirtschaftsordnung ausgestaltet werden, aber auch umgekehrt die Wirtschaftsordnung und die Wirtschaftspolitik konform zum Leitbild der Sozialordnung. Die Forderung nach einer ausschließlich marktkonformen Sozialpolitik verkennt darüber hinaus, dass in vielen Fällen keine marktkonformen Instrumente zur Verfügung stehen – man denke z.B. an Versicherungen gegen Arbeitslosigkeit oder gegen angeborene Beeinträchtigungen. Des Weiteren kann es aufgrund von Marktmängeln oder verteilungspolitischen Überlegungen erforderlich sein, marktinkonforme Instrumente einzusetzen, wie z.B. auf dem Arbeitsmarkt oder im Bereich der betrieblichen Mitbestimmung. Eine systemkonforme Sozialpolitik bedeutet für eine Soziale Marktwirtschaft übrigens auch, Vermögensschäden und die Beeinträchtigung der Rechte Dritter zu verhindern. Das bedeutet, dass negative externe Effekte soweit wie möglich zu internalisieren sind. Dies gilt nicht nur für ökologische Schäden, sondern auch für wirtschaftliche und soziale

15.2 Prinzipien

363

Schäden, so z.B. für die Einkommens- und Humankapitalverluste, die den Arbeitnehmern im Fall von betriebsbedingten Kündigungen entstehen.

15.2.2 Leistungsprinzipien a) Geld- vs. Sachleistungsprinzip Die Leistungen des Sozialstaats können in Form von Geld- oder Sachleistungen erfolgen. Geldleistungen sind monetäre Zahlungen, die bei Vorliegen eines sozialpolitisch relevanten Sachverhalts gewährt werden, wie z.B. das Arbeitslosengeld, das Sozialgeld, das Kinder- oder das Erziehungsgeld. Unter Sachleistungen versteht man die verbilligte oder unentgeltliche Vergabe von Gütern oder Dienstleistungen. Beispiele für sozialpolitische Sachleistungen sind die stationäre und die ambulante Gesundheitsversorgung oder die weitgehend beitragsfreie öffentliche Kinderbetreuung. Der Vorteil von Geldleistungen besteht darin, dass die Empfänger dieser Leistungen eigenverantwortlich und gemäß ihrer subjektiven Präferenzen über die Verwendung der monetären Leistung entscheiden können. Für das Sachleistungsprinzip spricht, dass die öffentlichen Mittel von den Leistungsempfängern entsprechend der Zweckbestimmung eingesetzt werden müssen.

b) Kausal- vs. Finalprinzip Im Rahmen des Kausalprinzips gründet ein Leistungsanspruch auf einer bestimmten, diesen Anspruch auslösenden Ursache (z.B. Arbeitslosigkeit, Unfall, Krankheit). Demgegenüber stellt das Finalprinzip auf die Herstellung eines sozialen Sachverhalts ab, unabhängig von der Ursache des Schadensfalls (z.B. Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit).

Die Effizienz von Geld- und Sachleistungen Zahlreiche Ökonomen vertreten die Auffassung, dass Geldleistungen Sachleistungen gegenüber vorzuziehen sind, da mit dem gleichen Mittelvolumen ein höherer sozialpolitischer Effekt erzielt werden kann. Dies soll mit Hilfe der Abbildung 15.1 verdeutlicht werden (vgl. Currie/Gahvari 2008). Dazu wird unterstellt, dass der Nutzen eines Haushalts aus dem Konsum von zwei Gütern besteht: einem zusammengesetzten Gut („Lebenshaltung“) sowie einem Gut, das auch als Sachleistung öffentlich bereit gestellt werden kann. Die Budgetrestriktion ohne Transfers ist durch die Linie AB gegeben. Eine Geldleistung in Höhe von h verschiebt diese Budgetrestriktion parallel auf A′ B ′ . Bei der Analyse der Wirkungen von Sachleistung ist dahingehend zu unterscheiden, ob der Haushalt diese Leistung durch private Ausgaben ergänzen kann, oder ob der Konsum auf die Sachleistung beschränkt bleibt. Die Möglichkeit zur Aufstockung von Sachleistungen ist bspw. bei Pflegesachleistungen oder zahnmedizinischen Leistungen gegeben; keine Möglichkeit des Zukaufs von Leistungen besteht z.B. bei der Übernahme der Wohnkosten im Rahmen der sozialen Grundsicherung. Sofern ein Zukauf von Leistungen möglich ist, ist die neue Budgetgerade durch den Streckenzug A′ C ′ B gegeben, ohne Zukaufsmöglichkeit durch ACC ′ B. Haushalte, die ursprünglich Allokation a gewählt haben, sind zwischen einer Geldleistung und einer Sachleistung in gleicher Höhe mit Zukaufsmöglichkeit indifferent. Haushalte, die ursprünglich Allokation a′ gewählt haben, würden Geldleistungen gegenüber Sachleistungen strikt präferieren, da sie im Fall einer Geldleistung Allokation b′ wählen würden, während ihr Konsum bei der Vergabe von Sachleistungen bei C beschränkte wäre. Hier liegt außerdem eine Überversorgung mit dem öffentlich

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15 Finalziele, Prinzipien und Träger

bereitgestellten Gut vor, da diese Haushalte bei einer Geldleistung weniger von diesem Gut konsumieren würden. Schließlich würden alle Haushalte Geldleistungen gegenüber Sachleistungen ohne Zukaufsmöglichkeit präferieren. Aus Sicht des Leistungsempfängers ist eine Geldleistung stets gegenüber der Sachleistung zu präferieren. Diese Bewertung verändert sich jedoch, sofern die Steuerzahler paternalistische Präferenzen besitzen, wenn die Gesellschaft für bestimmte Güter wie Wohnung oder Gesundheit einen gutsspezifischen Egalitarismus verfolgt oder wenn die Informationen über die Qualität der angebotenen Leistungen unvollständig sind. In diesen Fällen kann die Sachleistung der Geldleistung überlegen sein.

A' h

A b

a

C

C' b' a'

B

B'

Abb. 15.1: Die allokativen Effekte von Geld- vs. Sachleistungen

15.3 Träger und Organe Als Träger der Sozialpolitik werden Institutionen definiert, die in der Entscheidungsphase der Sozialpolitik oder in der Durchführungsphase – dann jedoch mit beachtlichem Ermessensspielraum ausgestattet – tätig werden. Demgegenüber werden Institutionen, die nur in der Planungsphase oder in der Durchführungsphase der Sozialpolitik tätig werden und keinen oder nur geringen Ermessensspielraum in Bezug auf die Ausgestaltung politischen Handelns haben, als Organe der Sozialpolitik bezeichnet. Die meisten Träger und Organe der staatlichen Sozialpolitik wurden bereits im Zusammenhang mit der Darstellung der Bereiche der Sozialpolitik mit ihren wichtigsten Funktionen und Kompetenzen behandelt. Deshalb soll an dieser Stelle das sozialpolitische Trägersystem im Überblick dargestellt werden (vgl. Abb. 15.24 ).

4

Einrichtungen mit überwiegender Organfunktion sind durch gestrichelte Linien gekennzeichnet. Die durchbrochenen Verbindungslinien besagen, dass die nachgeordneten Institutionen auch Vollzugsorgane der übergeordneten Institutionen sind bzw. – bei den Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden –, dass sie in den Institutionen als Selbstverwaltungsorgane der sozialen Sicherung vertreten sind.

15.3 Träger und Organe

365

15.3.1 Nationale Träger und Organe Staatliche Träger der Sozialpolitik sind auf Bundesebene die Bundesregierung, der Bundestag und der Bundesrat, auf Landesebene die Landesparlamente und die Landesregierungen. Auf regionaler bzw. lokaler Ebene kann man – mit Einschränkungen – die Bezirksregierungen bzw. die Landkreise, die Städte und die Gemeinden als Träger der Sozialpolitik bezeichnen. Nach den Art. 70 bis 78 GG hat der Bundestag zusammen mit dem Bundesrat eine weitgehende sozialpolitische Gesetzgebungskompetenz. Bundestag und Bundesrat werden in erster Linie im Rahmen der Wirtschafts- und Sozialordnung tätig. Das Tarifvertragsgesetz, das Betriebsverfassungsgesetz, die Mitbestimmungsgesetze, die Arbeitszeitordnung, die Gewerbeordnung, das Jugendarbeitsschutzgesetz und das Mutterschutzgesetz sind Beispiele für Gesetze, die die Sozialordnung der Bundesrepublik prägen. Bundestag und Bundesrat entscheiden aber auch über prozesspolitische Maßnahmen, die anderen Trägern der Sozialpolitik, etwa der Bundesagentur für Arbeit und der Arbeitsverwaltung im Rahmen des SGB III (Arbeitsförderungsgesetz) zur Verfügung gestellt werden. Als zweiter bundesstaatlicher Träger der Sozialpolitik ist die Bundesregierung zu nennen. Ihre Aufgabe ist die Konzipierung, die Vorbereitung und die Durchführung sozialpolitischer Gesetze. Zentral mit der Sozialpolitik befasste Ministerien sind das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, das Bundesministerium für Gesundheit sowie das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Da die Bundesrepublik nach den Art. 28 Abs. 1 u. 2 und 79 Abs. 3 GG ein föderalistisch aufgebauter Bundesstaat ist, sind die Landesparlamente und die Landesregierungen sowie die Landkreise, die Städte und die Gemeinden ebenfalls Träger sozialpolitischer Entscheidungen. Allerdings haben sie gegenüber dem Bund ein ganz erheblich verringertes Gewicht. Die Landesregierungen, die Landkreise und die Kommunen sind deshalb eher Organe als Träger der staatlichen Sozialpolitik. Die Landesregierungen und ihre Verwaltungen haben den überwiegenden Teil der sozialpolitisch relevanten Bundesgesetze im Sinne der Art. 30 und 83 GG als eigene Angelegenheit oder im Auftrag des Bundes nach Art. 85 GG auszuführen. Die Aufgabe der Städte, Landkreise und Gemeinden ist es, sozialpolitische Bundes- und Landesgesetze auf regionaler Ebene umzusetzen. Politische Gestaltungsmöglichkeiten haben die Länder in der Bildungspolitik und in der die Bundespolitik ergänzenden Familien-, Gesundheits-, und Wohnungspolitik. In den eigenen Wirkungsbereich der Gemeinden fallen nach den Verfassungen der Länder meist der Wohnungsbau, die kommunale Wohlfahrtspflege, das örtliche Gesundheitswesen sowie die Altenpflege. Das sehr geringe legislative Gewicht der Kommunen in der Sozialpolitik sollte nicht über die hohe sozialpolitische Bedeutung der Kommunen hinwegtäuschen. Es sind letztlich die Gemeinden, welche die sozialen Infrastruktureinrichtungen wie Krankenhäuser, Altenheime, Kindertagesstätten, Behindertenwerkstätten, Jugend- und Gesundheitsämter und die Beratungsstellen – teilweise in Kooperation mit den Verbänden der freien Wohlfahrtspflege – zu planen, bereitzustellen und zum Teil zu finanzieren haben. Darüber hinaus müssen sie soziale Dienstleistungen (Sozialverwaltung, Gesundheitsdienst, Erziehungsberatung, Jugendämter) zu einem großen Teil – wiederum neben den Verbänden der freien Wohlfahrtspflege – vorhalten und finanzieren.

Kassenärztliche Vereinigungen

Bezirksregierungen und Kreise

Gemeinde und Städte

Gesetzliche Krankenkassen

Abb. 15.2: Träger und Organe der staatlichen Sozialpolitik

Berufsgenossenschaften

Europäische Kommission

Kinderhilfswerk der Vereinten Na onen (UNICEF)

Weltgesundheitsorgani sa on der Vereinten Na onen (WHO)

Internationale Arbeitsorganisa on (ILO)

Europäischer Rat

Supra- und internationale Träger und Organe

* - Arbeiterwohlfahrt - Diakonie Deutschland - Deutscher Caritasverband - Deutscher Paritä scher Wohlfahrtsverband - Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland - Rotes Kreuz

Freie Verbände der Wohlfahrtspflege*

Deutsche Rentenversicherung Bund

Landesregierungen

Sozialgerichtsbarkeit

Arbeitsgerichtsbarkeit

Bundesagentur für Arbeit

Landesparlamente

Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände

Bundesregierung insb. Bundesministerien für - Arbeit und Soziales - Gesundheit - Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Bundestag und Bundesrat

Nationale Träger und Organe

366 15 Finalziele, Prinzipien und Träger

15.3 Träger und Organe

367

Als halbstaatliche Träger der Sozialpolitik werden Einrichtungen bezeichnet, die mit begrenzten hoheitlichen Befugnissen ausgestattet sind und autonom innerhalb bestimmter Bereiche sozialpolitische Entscheidungen treffen können. In erster Linie ist dabei an die Gewerkschaften und die Arbeitgebervereinigungen zu denken, die gleichzeitig auch halbstaatliche Organe der Sozialpolitik sind. Als halbstaatliche Organe lassen sich solche Einrichtungen definieren, die für den Vollzug staatlicher Sozialpolitik eine Rolle spielen und mit einem besonderen Status ausgestattet sind. Gemeint sind neben den genannten Verbänden Genossenschaften und gemeinnützige Unternehmen, insbes. Bausparkassen. Die Gewerkschaften und die Arbeitgeberverbände sind in mehrfacher Hinsicht Träger und Organe der staatlichen Sozialpolitik. Autonome Träger mit politischer Verantwortung und politischen Gestaltungsmöglichkeiten sind sie in ihrer Eigenschaft als Tarifvertragsparteien, die autonom die Arbeitsbedingungen festlegen können. Träger bzw. Organe der Sozialpolitik sind – neben den Betriebsräten als Organen der Sozialpolitik – die Gewerkschaften auch als Organisationen, denen im Rahmen des Vollzuges des Betriebsverfassungsgesetzes, der Personalvertretungsgesetze des Bundes und der Länder und der Mitbestimmungsgesetze bestimmte Aufgaben zugewiesen worden sind. Begrenzte Trägerfunktionen schließlich üben die Vertreter der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber, die in der Mehrzahl der Fälle Gewerkschafter oder Arbeitgeberverbandsvertreter sind, im Rahmen der sozialen Selbstverwaltung der Einrichtungen sozialer Sicherung aus (Bundesagentur für Arbeit, Rentenversicherungsträger, gesetzliche Krankenkassen). Als Organe der Sozialpolitik kann man Gewerkschaften und Arbeitgebervereinigungen auch deswegen bezeichnen, weil sie – in stärkerem Maße und mit größerem Gewicht als andere Verbände – in die Vorbereitungsphase der Wirtschafts- und Sozialpolitik als Berater und Vertreter der von der Sozialpolitik betroffenen Gruppen einbezogen werden. Staatliche Organe der Sozialpolitik sind die zahlreichen Einrichtungen der Sozialverwaltung, insbes. die Bundesagentur für Arbeit, die Einrichtungen der Deutschen Rentenversicherung, die gewerblichen und landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften, die gesetzlichen Krankenkassen und die kassenärztlichen Vereinigungen sowie die Versorgungsämter. Als Aufsichtsorgane sind zu erwähnen das Bundesversicherungsamt, das die Aufsicht über die Sozialversicherung führt, sowie die Gewerbeaufsichtsämter der Bundesländer, die die Aufgabe haben, die Einhaltung der Arbeitnehmerschutzvorschriften zu überwachen. 2017 waren im sog. unmittelbaren öffentlichen Dienst sechs Mio. Personen beschäftigt, davon 0,5 Mio. beim Bund, 2,12 Mio. bei den Ländern und 1,39 Mio. bei den Gemeinden. Im mittelbaren öffentlichen Dienst, d.h. bei der Bundesagentur für Arbeit, bei den Sozialversicherungsträgern und selbständigen Körperschaften des öffentlichen Rechts, waren 0,6 Mio. Personen beschäftigt. Von den insgesamt öffentlich Beschäftigten waren rd. 17% im Bereich der sozialen Sicherung und rd. 5% im Bereich Gesundheit, Umwelt, Sport und Erholung tätig (Bundeszentrale für Politische Bildung 2018, S. 145f). Die Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit ist weder den Trägern noch den Organen der Sozialpolitik zurechenbar, weil die Arbeits- und Sozialgerichte nicht die Aufgabe haben, politische Entscheidungen zu treffen oder sie durchzuführen. Vielmehr haben sie die Aufgabe, bei Arbeitsund Sozialstreitigkeiten Recht zu sprechen. Da diese Aufgabe jedoch auf eine Kontrolle des Vollzugs von Sozialpolitik durch unabhängige Gerichte hinausläuft, verdient dieser Zweig der Gerichtsbarkeit Erwähnung. Eine bedeutende Rolle spielen neben den staatlichen und halbstaatlichen Trägern und Organen die freien Träger staatlicher Sozialpolitik, nämlich die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege.

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15 Finalziele, Prinzipien und Träger

Die sechs Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege, die in der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege zusammengeschlossen sind und wissenschaftlich vom Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge beraten werden, sind die Arbeiterwohlfahrt, der Deutsche Caritasverband, das Deutsche Rote Kreuz, das Diakonische Werk der evangelischen Kirche in Deutschland (Innere Mission), der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband und die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland. Die Wohlfahrtsverbände sind v.a. in der Gesundheits-, der Jugend-, der Alten- und der Familienhilfe tätig. Sie unterhalten und betreiben – wie Tabelle 15.1 zeigt – zahlreiche Krankenhäuser, Krankenpflege- und Sozialstationen, Behindertenheime und Behindertenwerkstätten, Jugendheime, Kinderkrippen, -gärten und -horte, Müttergenesungsheime, Familienferienstätten sowie Erziehungs-, Ehe- und Familienberatungsstellen. Das SGB erkennt die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege ausdrücklich als selbständige Träger der Wohlfahrtspflege an. Beachtung verdient die Zunahme der Zahl der Einrichtungen, der Betten und der Beschäftigten seit 1970. Tabelle 15.1: Einrichtungen der Träger der Freien Wohlfahrtspflege in Deutschland 2016 Art der Einrichtung Gesundheitshilfe Jugendhilfe Familienhilfe Altenhilfe Behindertenhilfe Hilfe für Personen in besonderen sozialen Situationen Weitere Hilfen Aus-, Fort- und Weiterbildungsstätten für soziale und pflegerische Berufe Gesamt Zum Vergleich im Jahr 1970

Einrichtungen

Betten/ Voll- und TeilPlätze zeitbeschäftigung

7.763 41.884 4.787 19.515 19.071 10.486

181.045 2.252.074 41.733 579.255 628.360 123.937

413.492 418.939 24.821 508.758 382.870 44.632

13.426 1.691

263.050 96.820

90.662 28.490

118.623

4.166.276

1.912.665

52.475

2.151.569

381.888

Quelle: Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege, Gesamtstatistik der Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege 2016, S. 7.

Die Probleme des Trägersystems Die zentralen Probleme des institutionellen sozialpolitischen Systems in Deutschland sind das Auseinanderfallen von Entscheidungskompetenz und Finanzierungsverantwortung unterschiedlicher Träger, die organisatorische Zersplitterung der sozialpolitischen Institutionen und - als spezifisches Problem des deutschen Sozialstaats – die Stellung der freien Wohlfahrtsverbände. In politischen Mehrebenensystemen stellt sich grundsätzlich das Problem, dass die Entscheidung über eine Ausweitung von Leistungen häufig nicht von jenen Institutionen getroffen werden, welche anschließend auch für die Finanzierung dieser Maßnahmen verantwortlich sind. Darüber hinaus fällt der fiskalische Nutzen sozialpolitischer Maßnahmen ebenfalls nicht immer bei den Finanzierungsträgern dieser Maßnahmen an. Dieses Problem soll am Beispiel des Ausbaus der

15.3 Träger und Organe

369

Betreuungseinrichtungen für Kinder verdeutlicht werden. Mit dem Kinderförderungsgesetz (KiföG) vom 16. Dez. 2008 beschloss der Bundestag einen Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz für alle Kinder ab dem vollendeten ersten Lebensjahr. Mit diesem Rechtsanspruch wurde eine erhebliche Lücke in der Betreuungsinfrastruktur in Deutschland geschlossen. Die Zuständigkeit für die Errichtung und den Unterhalt dieser Betreuungseinrichtungen liegt jedoch nicht beim Bund, sondern bei den Bundesländern. Die Länder wiederum übernehmen i.d.R. nur einen Teil der Investitionskosten und geben insbesondere die Finanzierungslasten für die laufenden Betriebskosten an die Kommunen weiter. Um den erforderlichen Aufbau der Betreuungsinfrastruktur zu finanzieren, hat sich der Bund zwischen 2008 und 2015 mit Investitionsprogrammen in Höhe von 6 Mrd. e an der Finanzierung der Investitionskosten beteiligt. Diese Gelder konnten aufgrund der föderalen Finanzverfassung jedoch nicht den Kommunen direkt zugeführt werden, sondern mussten vom Bund an die Länder gezahlt werden, die diese Mittel an die Kommunen weiterreichen konnten. Neben der Entscheidungsbefugnis und der Finanzierungsverantwortung fallen auch die fiskalischen Kosten und Nutzen institutionell auseinander. So trägt nach einschlägigen empirischen Untersuchungen der Ausbau der Kinderbetreuungseinrichtungen dazu bei, das Arbeitsangebot von Müttern zu erhöhen. Durch die gezahlten Steuern und Sozialversicherungsbeiträge steigen die Einnahmen der öffentlichen Haushalte (vgl. Spieß et al. 2002). Diese zusätzlichen Einnahmen fallen jedoch überwiegend auf der Bundesebene und bei den Sozialversicherungsträgern an, während die Kommunen keine entsprechenden Zusatzeinnahmen verzeichnen. Diese institutionelle Verflechtung wird dafür verantwortlich gemacht, dass auf kommunaler Ebene eine zu geringe Bereitschaft zum eigenverantwortlichen Ausbau der Betreuungsinfrastruktur bestand. Ein weiteres Problem ist die organisatorische Zersplitterung der sozialpolitischen Organe aufgrund der Anwendung des Kausalitätsprinzips. Je nach Ursache des eingetretenen Schadensfalls unterscheidet sich die für die Schadensabwicklung zuständige öffentliche Einrichtung und damit auch die Anspruchsvoraussetzungen und die Anspruchshöhe. Dies führt nicht nur zur Intransparenz des sozialen Sicherungssystems, sondern auch dazu, dass objektiv gleiche Sachverhalte unterschiedliche Leistungen zur Folge haben. Ein spezifisches Problem des deutschen Sozialstaats besteht in der Vorrangstellung der Einrichtungen der freien Wohlfahrtspflege bei der Bereitstellung von Dienstleistungen im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe und der Sozialhilfe (vgl. § 4 SGB VIII und § 5 SGB XII). Sofern in diesen Bereichen Leistungen durch die freie Wohlfahrtspflege erbracht werden, sollen die öffentlichen Einrichtungen von einem eigenen Angebot absehen. Aus diesem Grund sind die Verbände der freien Wohlfahrtspflege in vielen Bereichen sozialer Dienstleistungen wie z.B. für Alte, Behinderte sowie Kinder und Jugendliche bedeutende Anbieter. Für den Vorrang weltanschaulich geprägter Wohlfahrtsverbände gegenüber öffentlichen Anbietern wird geltend gemacht, dass von vielen Nutzern insbesondere im Bereich der Fürsorge und der Kinder- und Jugendhilfe eine weltanschauliche Orientierung gewünscht wird und diesem Bedarf am besten durch die freien Wohlfahrtsverbände entsprochen werden kann. Außerdem weisen die freien Träger eine geringere Distanz zu ihrer Klientel, ein vergleichsweise stärkeres Engagement ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und verbesserte Partizipationsmöglichkeiten auf. Schließlich seien freie Träger in der Lage, die angebotenen Leistungen für den Staat kostengünstiger zu erbringen, da ein Teil der Aufwendungen von den Organisationen selbst getragen werden und da die freie Wohlfahrtspflege auf zahlreiche ehrenamtlich tätige Helferinnen und Helfer zurückgreifen kann.

370

15 Finalziele, Prinzipien und Träger

15.3.2 Supranationale Träger und internationale Organisationen a) Supranationale Träger Supranationale Träger der Sozialpolitik sind überstaatliche Institutionen, die über die Kompetenz verfügen, in den Nationalstaaten verbindliche sozialpolitische Regelungen durchzusetzen. Aus Sicht der Bundesrepublik Deutschland sind die Institutionen der Europäischen Union supranationaler Träger staatlicher Sozialpolitik. Sozialpolitische Ziele sind die Förderung der Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union sowie ein gewisses Mindestmaß an sozialem Schutz für die Bürger in den Mitgliedsstaaten der EU. Die sozialpolitisch relevanten europäischen Institutionen sowie ihre jeweiligen Befugnisse wurden in Kapitel 14 dargestellt.

b) Internationale Organe Internationale Sozialpolitik ist definierbar als ein Komplex von zwischenstaatlichen Vereinbarungen zur möglichst weltweiten Durchsetzung sozialpolitischer Mindeststandards v.a. in den Bereichen Arbeitnehmerschutz, Soziale Sicherung, Gesundheitspolitik und Bildung. Das Kernproblem dieser Politik liegt darin, dass es ihr an einem durch staatliche Macht gesicherten, autonomen Träger mit Gesetzgebungsbefugnis fehlt. Internationale Sozialpolitik kann also nur im Sinne von soft law durch Willensbekundungen und Vereinbarungen zwischen den Staaten erfolgen. Daher ist es sinnvoll, in diesen Fällen nicht von Trägern, sondern von Organen internationaler Sozialpolitik zu sprechen. Als bedeutende Organe in diesem Sinne sind die Vereinten Nationen (UN) und ihre Sonderorganisationen zu nennen. Die von der UN im Jahr 1948 beschlossene „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ hat der internationalen Sozialpolitik beachtliche Impulse gegeben. Denn sie umfasst neben allgemeinen Freiheitsrechten auch bestimmte soziale Grundrechte wie das Recht auf soziale Sicherheit, auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit und das Recht auf Arbeit. Eine besondere Bedeutung bei der Umsetzung dieser Rechte kommt den im Jahr 2015 von allen Mitgliedern der UN verabschiedeten Nachhaltigkeitszielen (Sustainable Development Goals, SDG) zu. Im Rahmen der globalen Strategie für nachhaltige Entwicklung wurden neben ökologischen Zielen auch sozialpolitisch relevante Zielsetzungen wie die Bekämpfung von Armut und sozialer Ungleichheit oder die Förderung von Gesundheit und menschenwürdigen Arbeitsbedingungen formuliert. Diese Ziele werden über ein Indikatorensystem operationalisiert, so dass der Zielerreichungsgrad gemessen und der Fortschritt der Länder in den jeweiligen Teilbereichen empirisch überprüft werden kann. Die Vereinten Nationen werden in ihrer Arbeit durch Sonderorganisationen unterstützt. Diese Sonderorganisationen sollen durch internationale Koordinierung, Beratung von Regierungen, Organisation von Hilfen in besonderen Fällen und Aufklärungsarbeit die soziale Lage in den Mitgliedsländern der Vereinten Nationen verbessern. Sozialpolitisch relevante Sonderorganisationen sind die Internationale Arbeitsorganisation, die Weltgesundheitsorganisation und das Kinderhilfswerk UNICEF. In der schon 1919 gegründeten Internationalen Arbeitsorganisation (International Labour Organization, ILO) sind Repräsentanten der Arbeitnehmer, der Arbeitgeber und der jeweiligen Regierungen gleichberechtigt vertreten. Die ILO verfolgt die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen in ihren Mitgliedsländern durch internationale Abkommen und Empfehlungen

15.3 Träger und Organe

371

sowie durch die Vermittlung von organisatorischem und technischem Wissen in den Entwicklungsländern. Die „Food and Agriculture Organization“ (FAO) fördert die internationale Zusammenarbeit im Bereich der Berufsbildung, des Genossenschaftswesens und der Sozialpolitik in der Landwirtschaft. Die Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization, WHO) verfolgt das Ziel, für möglichst alle Menschen ein möglichst hohes Gesundheitsniveau zu erreichen. Dazu legt sie weltweit gültige Normen und Standards fest und unterstützt die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung von Gesundheitsprogrammen. Das internationale Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (United Nations Children‘s Fund, UNICEF) unterstützt Familien in den am wenigsten entwickelten Staaten in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Familienplanung. Darüber hinaus setzt es sich für die weltweite Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention ein.

Literatur Bethusy-Huc 1976 - Flamm 1980 - Kleinhenz 1988c - Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2018.

Kapitel 16

Bilanz der staatlichen Sozialpolitik

16.1 Die Wirkungen staatlicher Sozialpolitik Im Jahr 2018 gaben der Staat und die Sozialversicherungsträger mehr als 996 Mrd. e aus; dies entsprach fast 30% des BIP (Quelle: BMAS, Sozialbudget 2018). Bei der Interpretation dieser Zahlen ist zu berücksichtigen, dass neben diesen monetären Maßnahmen auch regulatorische Eingriffe des Staates zu den sozialpolitischen Maßnahmen zählen. Diese regulatorischen Eingriffe sind zwar nicht mit monetären Zahlungen verbunden und lassen sich demzufolge auch nicht quantifizieren; sie beeinflussen aber ebenfalls die Lebenslage der Menschen und die Anpassungsflexibilität der Unternehmen, generieren also Nutzen und Kosten im weiteren Sinn. Die zahlreichen öffentlichen Maßnahmen erzeugen vielfältige ökonomische, soziale, gesundheitliche und politische Wirkungen. Eine möglichst umfassende Analyse dieser Wirkungen ist notwendig, um den gesellschaftlichen Nutzen und die tatsächlich anfallenden Kosten des Sozialstaats ausgewogen beurteilen zu können. Denn die Kosten des Sozialstaats bestehen nicht nur in den direkt anfallenden Ausgaben für sozialpolitische Maßnahmen. Zu den sozialstaatlichen Kosten im weiteren Sinne müssen auch Belastungen gerechnet werden, die sich aus einer Änderung des Verhaltens der privaten Wirtschaftsobjekte ergeben. Umgekehrt erschöpft sich der Nutzen staatlicher Sozialpolitik nicht in den monetären Leistungen des Sozialstaats. Er umfasst auch die Sicherung des sozialen Friedens, der Herstellung sozialer Gerechtigkeit oder einer Verbesserung des Humankapitals der Gesellschaft. Daher soll in diesem Abschnitt anhand von Abb. 16.1 ein Überblick über diese Wirkungen gegeben werden.1

16.1.1 Wirkungen auf die Lebenslage der Individuen und der Privathaushalte Unmittelbare Wirkungen entfaltet die staatliche Sozialpolitik bei den Privathaushalten. Sie lassen sich in ökonomische, gesundheitliche und gesellschaftliche Wirkungen unterteilen. Eine Hauptwirkung sozialpolitischer Leistungen besteht in der Bekämpfung von existentieller Unsicherheit. Das Ziel dieser Politik sozialer Sicherung ist entweder die Sicherung eines bestimm1

Vgl. zu den positiven und negativen Wirkungen der Sozialpolitik auch Havemann 1988.

373

© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2021 J. Althammer et al., Lehrbuch der Sozialpolitik, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56258-1_16

374

16 Bilanz der staatlichen Sozialpolitik

ten Existenzminimums (Beispiel: soziale Grundsicherung) oder die Sicherung eines erreichten Lebensstandards (Beispiel: Alterssicherung). Die dadurch geschaffene ökonomische Sicherheit bewirkt Freiheit vor Angst, Not und Sorge und vergrößert die persönliche Freiheit im Sinne der Möglichkeit, selbst gesteckte Ziele zu verwirklichen.2 Sie schafft somit die wirtschaftlichen Voraussetzungen für die freie Entfaltung der Persönlichkeit. Die Zahlung von Sozialleistungen bei Krankheit, verminderter Erwerbsfähigkeit und Arbeitslosigkeit führt zu einer Verringerung des Arbeitsangebotszwangs. Bei einem krankheitsbedingten Ausfall der Erwerbsfähigkeit wird sichergestellt, dass die Gesundheit und die Arbeitsfähigkeit vollständig wiederhergestellt werden können. Bei unfreiwilliger Arbeitslosigkeit entfällt die Notwendigkeit, jede sich bietende Arbeitsgelegenheit unabhängig von den konkreten Arbeitsbedingungen annehmen zu müssen. Der Arbeitslose hat dadurch die Möglichkeit, sich eine Beschäftigung zu suchen, die seinen Neigungen und Fähigkeiten bestmöglich entspricht. Sofern sich die qualitative matching-Effizienz am Arbeitsmarkt erhöht, ist die Verlängerung der Sucharbeitslosigkeit (sog. friktionelle Arbeitslosigkeit) sozialpolitisch gewünscht und ökonomisch sinnvoll. Auch diese Verringerung der Angebotsdringlichkeit vergrößert die persönliche Freiheit. Inwiefern die Zahlung von Transferleistungen darüber hinaus zu einer Verringerung des gesamtwirtschaftlichen Arbeitsangebots führt, hängt von der Ausgestaltung der Leistungen und von der subjektiven Wertschätzung der Haushalte gegenüber Einkommen und Freizeit ab. Die Arbeitsangebotseffekte sozialpolitischer Transferleistungen sind theoretisch nicht eindeutig und lassen sich nur empirisch bestimmen. Ein charakteristisches Merkmal des deutschen Sozialstaats ist es, dass alle Gesellschaftsmitglieder umfassend gegen das Krankheitsrisiko abgesichert sind. Dieser allgemeine Zugang zu einem leistungsfähigen Gesundheitswesen bewirkt ebenso wie die Verbesserung der Arbeitsbedingungen eine Anhebung des allgemeinen Gesundheitszustands und eine Verlängerung der Lebenserwartung. Der universale Zugang zum Gesundheitswesen und die Verbesserung der Arbeitsbedingungen haben ganz wesentlich dazu beigetragen, dass die Lebenserwartung gestiegen ist und dass die gewonnenen Lebensjahre im Wesentlichen gesunde und damit wirtschaftlich produktive Lebensjahre sind. Eine wichtige Wirkung der sozialpolitischen Einkommens- und der Sachleistungen ist die gesellschaftliche Integration wirtschaftlich schwacher Gruppen: Arbeit und Armut, eine seit dem Mittelalter geltende Koppelung (vgl. dazu Achinger 1979, S. 73) sind nicht länger ein Zwillingspaar. Der Arbeiter ist daher nicht mehr länger der an der Peripherie der Gesellschaft Lebende, sondern ein politisch und wirtschaftlich gleichberechtigter Staatsbürger.

2

Vgl. zu dieser Definition der Freiheit Giersch 1991, S. 72 ff.

Soziale Integration

Verkürzung d. Arbeitslebens

Verbesserung des Gesundheitszustandes; Verringerung d. Sterblichkeit; Erhöhung des Lebensalters

Verringerung des Arbeitsangebotszwangs

Vergrößerung der persönl. Freiheit; freie Entfaltung der Persönlichkeit

Wirtschaftliche Existenzsicherung

Individuen und Privathaushalte

Sozialer Frieden

Verstetigung der Konsumausgaben

Konjunktur

Kapitalbildung

Ersparnisbildung

Erhöhung und Stabilisierung der Konsumausgaben

Leistungsfähigkeit des Arbeitskräftepotentials

Größe des Arbeitskräftepotentials

Bevölkerungswachstum

Wachstum

Veränderung der Vermögensanlagestruktur

Veränderung des Verhältnisses öffentl./ private Güter

Veränderung der Nachfragestruktur

Veränderung der Preisstruktur

Veränderung der Kostenstruktur

Wirtschaftsstruktur

Gesamtwirtschaftliche Wirkungen

Innerhalb der Gruppe der Versicherten

Arbeitnehmer/ Selbständige

Interpersonal Versicherte/ Nichtversichert

Generationenbezogen

Sozialer Friede

Soziale Gerechtigkeit

Gesellschaftliche Wirkungen

Intertemporal Personenbezogen

Verteilung

Abb. 16.1: Die Wirkungen des Systems sozialer Sicherung

Erhöhung bzw. Sicherung der Leistungsfähigkeit des Arbeitskräftepotentials

Stabilisierung der Nachfrage

Erhöhung der Produktionskosten

Unternehmen

Einzelwirtschaftliche Wirkungen

16.1 Die Wirkungen staatlicher Sozialpolitik 375

376

16 Bilanz der staatlichen Sozialpolitik

Diesen positiven Effekten stehen negative Wirkungen auf der Haushaltsebene gegenüber. Der wesentliche negative Effekt staatlicher Sozialpolitik ist die Belastung der Haushalte mit Steuern und Sozialbeiträgen, also mit Zwangsabgaben. Dadurch verringert sich zwar nicht notwendigerweise das verfügbare Haushaltseinkommen, da ohne eine Sozialversicherung private Versicherungs- und Vorsorgeaufwendungen geleistet werden müssten. Ob die Sozialversicherung im Vergleich zu einer äquivalenten Privatversicherung eine individuelle Be- oder Entlastung darstellt, hängt vom jeweiligen Einzelfall ab, insbesondere von der Höhe des versicherungspflichtigen Arbeitseinkommens und von der Zahl der beitragsfrei mitversicherten Familienmitglieder. Aber staatliche Sozialversicherungen stellen nur eine nach Art und Umfang normierte Absicherung zur Verfügung, die nicht an die individuellen Präferenzen und die Bedürfnisse des Einzelfalls angepasst werden kann. Dadurch wird die Entscheidungsfreiheit des Einzelnen eingeschränkt. Dieses Problem wird in der Praxis dadurch abgemildert, dass die Sozialversicherung i. d. R. nur eine Grundversicherung darstellt, die durch private Zusatzversicherungen ergänzt werden kann und soll. Ein weiteres Problem ergibt sich aus der Tatsache, dass in der Sozialversicherung die Beiträge einkommensabhängig erhoben werden, während die Sachleistungen einkommensunabhängig geleistet werden. Dadurch haben die Versicherten einen Anreiz, das versicherungspflichtige Arbeitseinkommen und damit ihre Beitragsbelastung zu minimieren. Dieser Effekt wird durch institutionelle Regelungen wie Minijobs oder die „Gleitzonenbeschäftigung“ noch verstärkt. Familienorientierte sozialpolitische Maßnahmen wie z. B. steuerliche Entlastungen für Ehepaare und Familien mit Kindern, Kindergeldzahlungen, Ausbildungsbeihilfen für Jugendliche, Sach- und Dienstleistungen für Kinder und ältere Menschen sowie Hilfen für die häusliche Pflege können sich auf die demografische Entwicklung, die Familienformen und die Familienstrukturen auswirken. So ist die Verfügbarkeit einer quantitativ und qualitativ hochwertigen Betreuungsinfrastruktur eine wichtige Voraussetzung für die Erwerbstätigkeit von Müttern. Diese Einrichtungen leisten damit einen wichtigen Beitrag für die finanzielle Sicherheit von Familien und für die wirtschaftliche Unabhängigkeit von Frauen. Ob sich die externe Kinderbetreuung auch auf die Fertilität auswirkt, ist in der Literatur jedoch umstritten.3 Unstrittig ist hingegen, dass bestimmte Sozialleistungen die innerfamiliale Solidarität fördern. So verbessert z.B. das Angebot an ambulanten Pflegediensten die Möglichkeiten der häuslichen Pflege und macht dadurch eine Pflege durch Familienangehörige erst möglich.

16.1.2 Einzelwirtschaftliche Wirkungen auf die Unternehmen Aus Sicht der Unternehmen wird als Haupteffekt staatlicher Sozialpolitik meist die Erhöhung der Produktionskosten durch Arbeitgeberbeiträge und sozialstaatliche Regulierungen genannt. Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung treiben einen „Keil“ zwischen die Arbeitskosten des Unternehmens und das Einkommen des Arbeitnehmers; die Beschäftigungskosten für das Unternehmen sind unter gleichen Umständen höher als die Entgelte der Arbeitnehmer. Ein Anstieg der Sozialbeiträge führt jedoch nur dann zu einer Erhöhung der Arbeitskosten, wenn dieser Anstieg

3

Zu den Wirkungen der Kinderbetreuung auf die Erwerbstätigkeit von Müttern vgl. Spieß/Büchel 2003, zu den Effekten auf die Fertilität Hank/Kreyenfeld/Spieß 2004 und Bonin 2013a sowie die dort angegebene Literatur.

16.1 Die Wirkungen staatlicher Sozialpolitik

377

nicht durch eine Absenkung der Direktentgelte kompensiert wird.4 Bei gegebenen Direktentgelten muss jedoch ein Anstieg der Sozialabgaben zu einer Erhöhung der Kosten des Faktors Arbeit führen. Die gestiegenen Beschäftigungskosten können - je nach Wettbewerbsintensität auf den Gütermärkten - entweder von den Unternehmen auf die Preise überwälzt werden, oder sie führen zu einem Rückgang von Absatz und Beschäftigung. Mittelfristig ist auch mit einer Substitution des Faktors Arbeit durch den Faktor Kapital zu rechnen. In jedem Fall haben aber letztlich nicht die Unternehmen, sondern die Arbeitnehmer die Belastung durch die Sozialabgaben zu tragen, sei es durch verringerte nominale oder reale Direktentgelte oder aufgrund eines verringerten Beschäftigungsgrads. Ökonomisch betrachtet liegt damit zwar die Zahllast, nicht aber die Traglast des Arbeitgeberbeitrags beim Unternehmen (Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung 2007, Tz. 276). Die Belastungen der Unternehmen mit Sozialbeiträgen, Arbeitnehmerschutzvorschriften und Mitbestimmungsrechten sind ein gewichtiger Kostenfaktor und müssen bei einer umfassenden Würdigung der Wirkungen staatlicher Sozialpolitik mit berücksichtigt werden. Sie beeinflussen die internationale Wettbewerbsfähigkeit inländischer Unternehmen, belasten arbeitsintensiv produzierende Betriebe stärker als kapitalintensiv produzierende Unternehmen und treten aufgrund von Schwellenwerten bei größeren Unternehmen stärker auf als bei Kleinunternehmen. Diese Belastungen sind jedoch nur eine Seite der Medaille. Denn auf der anderen Seite bewirken die mit Sozialabgaben und öffentlichen Mitteln finanzierten Sozialleistungen: • eine Stabilisierung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage und damit von Absatz und Beschäftigung, • ein leistungsfähiges Arbeitskräftepotential sowie • ein hohes Maß an sozialem Frieden innerhalb und außerhalb der Betriebe. Das hohe Maß an sozialem Frieden ist ein wichtiger komparativer Wettbewerbsvorteil der deutschen Wirtschaft. Die Anzahl der durch Streiks und Aussperrungen entfallenen Arbeitstage je 1 000 Arbeitnehmer ist in Deutschland deutlich geringer als in anderen entwickelten Volkswirtschaften wie Großbritannien, Frankreich oder den USA. Lediglich Japan und die Schweiz haben ein geringeres Streikniveau als Deutschland (Quelle: iwd: Standortvorteil gefährdet (Artikel v. 9.7.2015)). Die betrieblichen und unternehmerischen Mitbestimmungsrechte fördern nicht nur eine Demokratisierung der Wirtschaft, sondern sie verbessern auch das Betriebsklima und tragen zu einer geringeren Fluktuation der Arbeitnehmer bei. Dadurch werden auch labour turn-over Kosten gespart.

16.1.3 Gesamtwirtschaftliche Effekte a) Wachstumseffekte Von Ökonomen wird die staatliche Sozialpolitik häufig als ein Hemmnis für wirtschaftliches Wachstum und Wohlstand angesehen. Insbesondere in Rezessionen wird die Frage aufgeworfen, ob das Wirtschaftswachstum durch einen Abbau sozialstaatlicher Leistungen gefördert werden kann. Dass der Sozialstaat die Wirtschaftsgrundlagen - also die Kapitalbildung, die Qualität 4

In der Praxis wird es nicht zu einem Rückgang der Direktentgelte kommen. Allenfalls bleibt die Steigerungsrate der Löhne hinter jener Rate zurück, die sich bei konstanten Arbeitgeberbeiträgen ergeben hätte.

378

16 Bilanz der staatlichen Sozialpolitik

und den Umfang des Arbeitsangebots sowie den technischen Fortschritt – einer Volkswirtschaft beeinflusst, ist unbestritten. Umstritten sind jedoch die Wirkungsrichtung und das Ausmaß dieses Einflusses. Sozialstaatliche Leistungen können sowohl das Niveau als auch die Struktur der gesamtwirtschaftlichen Kapitalbildung beeinflussen. In der Literatur wurde sehr intensiv diskutiert, ob ein staatliches Versicherungssystem die private Kapitalbildung verdrängt und damit die gesamtwirtschaftliche Ersparnis verringert. Denn da die Daseinsvorsorge von staatlichen Institutionen übernommen wird, ist eine private Absicherung gegen diese Risiken überflüssig. Sofern die staatliche Versicherung – wie die GRV in Deutschland bis Ende der 1950er Jahre – kapitalgedeckt ist, findet dadurch primär eine Umverteilung von privater zu staatlicher Vermögensbildung statt; die gesamtwirtschaftliche Kapitalbildung verändert sich dadurch nicht. In einem Sicherungssystem, das mit einem Kapitaldeckungsverfahren arbeitet, beeinflusst die Anlagepolitik des Sozialversicherungsträgers jedoch die Struktur der Vermögensanlagen. So hat die GRV das von ihr gebildete Vermögen in der Vergangenheit als Darlehen für Infrastrukturinvestitionen, insbes. für den Wohnungsbau, verwendet. Sofern die staatliche Sozialversicherung jedoch auf dem Umlageverfahren beruht – wie das in den meisten entwickelten Volkswirtschaften der Fall ist – findet beim Sozialversicherungsträger keine entsprechende Kapitalbildung statt. Ein umlagefinanziertes soziales Sicherungssystem würde in diesem Fall die gesamtwirtschaftliche Sparquote verringern. Allerdings ist der Umfang des Verdrängungseffekts privater Ersparnisbildung durch staatliche Vorsorgesysteme sowohl theoretisch wie empirisch umstritten. Ein vollständiges crowding-out von privater Ersparnis durch staatliche Versicherungsleistungen würde sich nur einstellen, wenn die private Vermögensbildung und die Sozialversicherung aus Sicht des Versicherten perfekte Substitute wären. Dies ist jedoch nicht der Fall, da die Leistungen der Sozialversicherungen nicht vererbt oder anderweitig abgetreten werden können. Sofern die Haushalte liquiditätsbeschränkt sind oder neben dem Versicherungsmotiv auch ein Vererbungsmotiv haben, sind staatliche und private Versicherungen keine perfekten Substitute. Damit findet aus theoretischer Sicht kein vollständiges crowding-out statt. Auch die empirische Evidenz zu den Verdrängungseffekten staatlicher Sozialversicherungen ist nicht eindeutig. So weisen die Studien von Feldstein 1974, Gale 1998 und Engelhardt/Antil 2011 auf einen hohen Verdrängungseffekt hin, während die Arbeiten von Kotlikoff 1979, Blau 2008 und Hurd/Pierre-Carl/Susann 2009 nur geringe Verdrängungseffekte ausweisen. Des Weiteren führt ein Rückgang der inländischen Ersparnis in einer geschlossenen Volkswirtschaft zwar zu einer geringeren gesamtwirtschaftlichen Kapitalintensität und zu einem verringerten Pro-Kopf-Einkommen (Feldstein 1995). Damit beeinflusst die Höhe der inländischen Sparquote in einer geschlossenen Volkswirtschaft allenfalls die Wachstumsrate im Übergang vom bisherigen Wachstumsgleichgewicht zu einem neuen Gleichgewicht, nicht aber die Höhe der gleichgewichtigen Wachstumsrate. In einer offenen Volkswirtschaft hängt die Höhe der Investitionen hingegen nicht von der inländischen Ersparnis, sondern von den Kapitalverwertungsbedingungen im Inland ab. Aus wachstumspolitischer Perspektive ist der Einfluss des Sozialstaats auf den Faktor Arbeit von herausragender Bedeutung. Die staatliche Sozialpolitik beeinflusst dabei sowohl die Menge an angebotener Arbeitsleistung wie die Qualität der Arbeit, also das Humanvermögen einer Volkswirtschaft. Sozialpolitische Maßnahmen können das Arbeitsangebot negativ beeinflussen, wenn staatliche Leistungen Anreize setzen, die Erwerbstätigkeit teilweise oder ganz einzuschränken. Empirisch gut untersuchte Beispiele für negative sozialpolitische Effekte auf das Arbeitsangebot sind großzügige Vorruhestandsregelungen oder die Leistungen der sozialen Grundsicherung, sofern Erwerbseinkünfte auf diese Leistungen vollständig angerechnet werden.

16.1 Die Wirkungen staatlicher Sozialpolitik

379

Andererseits weist der Sozialstaat auch positive Wirkungen auf das Humanvermögen auf, die jedoch wesentlich schwerer zu quantifizieren sind. Die staatliche Sozialpolitik beeinflusst über das Gesundheitswesen, insbesondere über die Maßnahmen zur Prophylaxe und zur Rehabilitation, den Gesundheitszustand der Bevölkerung und damit den Umfang und die Leistungsfähigkeit des Arbeitskräftepotentials. Da der Gesundheitszustand eine wesentliche Determinante der sog. „Arbeitslebenserwartung“ (working life expectancy) ist, ist eine umfassende Gesundheitsversorgung der Bevölkerung auch eine Voraussetzung dafür, die Regelaltersgrenze anzuheben. Des Weiteren beeinflusst der Sozialstaat durch seine Maßnahmen zur Aus- und Weiterbildung auch die fachliche Qualität des Arbeitskräftepotentials. Durch die Maßnahmen zur beruflichen Weiterbildung wird die Qualifikation der Arbeitskräfte an die Qualifikationserfordernisse der Arbeitsnachfrage angepasst und somit die berufliche Qualität des Arbeitskräftepotenzials verbessert. Keinen direkten, aber doch einen mittelbaren Einfluss übt der Sozialstaat auf den technischen Fortschritt aus. Dass der Sozialstaat im Rahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik die Arbeitnehmer befähigt, ihre Qualifikationen an die durch den technologischen Wandel geänderten Bedarfe anzupassen, wurde bereits erwähnt. Aber technischer Fortschritt ist auch immer mit einem Wandel der Produktions- und Beschäftigungsstrukturen verbunden; er ist, wie Josef Alois Schumpeter zutreffen bemerkte, ein Prozess der „schöpferischen Zerstörung“. Damit erhöht der technische Fortschritt nicht nur den gesellschaftlichen Wohlstand, sondern verursacht auch finanzielle und soziale Kosten. Diese für den Einzelnen negativen Begleiterscheinungen des technischen Fortschritts werden durch sozialstaatliche Maßnahmen abgemildert und die Kosten des Strukturwandels gleichmäßiger auf alle Gesellschaftsmitglieder verteilt. Damit werden gesellschaftliche Widerstände gegen technologische Innovationen abgebaut und so die politischen Voraussetzungen für Innovation und Wachstum geschaffen. Ob sich der Sozialstaat insgesamt positiv oder negativ auf das Wirtschaftswachstum auswirkt, kann deshalb nur schwer beurteilt werden und hängt neben der Höhe sozialstaatlicher Leistungen insbesondere auch von der Struktur dieser Leistungen ab. In jedem Fall wäre es falsch, im Sozialstaat generell eine Gefährdung des wirtschaftlichen Wachstums zu sehen (vgl. zusammenfassend Atkinson 1995).

b) Konjunktureffekte Dass die staatliche Sozialpolitik ganz erhebliche Auswirkungen auf den Wirtschaftsprozess auslösen muss, zeigt bereits ein Blick auf die Tabelle 16.1. Diese Tabelle gibt die Entwicklung der Sozialleistungsquote im Deutschen Reich bzw. in der Bundesrepublik Deutschland wieder. Sie zeigt, dass der Anteil der sozialpolitischen Geld- und Sachleistungen am Sozialprodukt von etwa 1% in den Jahren 1871 bis 1874 auf aktuell über 29 % gestiegen ist. Mit 996 Mrd. e hat das Sozialbudget im Jahr 2018 ein Volumen erreicht, das größer war als das gesamte Bruttoinlandsprodukt des Jahres 1985 (= 984 Mrd. e). Diese Transferleistungen beeinflussen die Konjunktur in zweifacher Weise. Zum einen entstehen antizyklische Effekte, da der Sozialstaat in der Phase des wirtschaftlichen Aufschwungs Rücklagen bildet, die in Abschwungphasen aufgelöst werden. Zum anderen ergeben sich aus der sozialstaatlichen Umverteilung auch konjunkturelle Effekte. Durch die Finanzierung des Sozialstaats über Beiträge und progressive Steuern werden den privaten Wirtschaftssubjekten im konjunkturellen Aufschwung Mittel entzogen, während im Abschwung die Transferleitungen die Kaufkraft der privaten Haushalte und die Konsumnachfrage stützen. Der Sozialstaat wirkt somit als automatischer Stabilisator (built-in-stabilizer) im Konjunkturverlauf. Darüber hinaus

380

16 Bilanz der staatlichen Sozialpolitik

stabilisiert der Sozialstaat durch bestimmte Maßnahmen wie das Kurzarbeitergeld oder den Kündigungsschutz die private Nachfrage bei kurzfristigen Schocks.

Die Stabilisierung des Arbeitsmarkts während der Finanzmarkt- und der Coronakrise durch das konjunkturelle Kurzarbeitergeld Im Jahr 2007 stürzte der Zusammenbruch des Immobilienmarktes der Vereinigten Staaten die globalen Finanzmärkte in eine massive Krise, die in der zweiten Hälfte des Jahres 2008 auch die Realwirtschaft erfasste. Das Bruttoinlandsprodukt sank im Jahr 2009 um 5,7% und damit deutlich stärker als in allen früheren Rezessionsjahren, in denen der Rückgang des BIP die 1%-Grenze nicht überstieg. Trotz dieses massiven Einbruchs der wirtschaftlichen Aktivität blieb die Beschäftigung in Deutschland von dieser Krise weitgehend unberührt. Dies ist vor allem auf den massiven Einsatz des Kurzarbeitergelds zurückzuführen. Konjunkturelles Kurzarbeitergeld wird gezahlt, wenn mindestens ein Drittel der Beschäftigten eines Betriebs von einem arbeitsbedingten Entgeltausfall in Höhe von mindestens 10% betroffen ist. Das Kurzarbeitergeld beträgt 60% der Nettodifferenz, die durch den Arbeitsausfall entsteht (67% bei Arbeitnehmern mit mindestens einem Kind). Ziel des konjunkturellen Kurzarbeitergeldes ist es, bei einem vorübergehenden Arbeitsausfall Entlassungen zu vermeiden. Diese Regelungen wurden im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise erheblich ausgeweitet. So wurde die maximale Bezugsdauer des Kurzarbeitergeldes von zwölf auf 24 Monate verdoppelt und die Sozialversicherungsbeiträge für Kurzarbeiter dem Arbeitgeber erstattet. Aufgrund dieser Maßnahmen stieg die Zahl der Bezieher von konjunkturellem Kurzarbeitergeld kurzfristig stark an. So bezogen noch im September 2008 ca. 50 Tsd. Personen Kurzarbeitergeld, auf dem Höhepunkt der Krise im Mai 2009 waren es über 1,5 Mio. Arbeitnehmer. Bereits im April 2010 lag die Zahl der Kurzarbeiter wieder unter 31 Tsd. (Quelle: Statistik der Bundesagentur für Arbeit, htp://statistik.arbeitsagentur.de) Die Zahl der Beschäftigten blieb trotz der massiven Rezession praktisch unverändert. Die Betriebe reagierten auf die geringere Wirtschaftsleistung also nicht mit Entlassungen, sondern mit einer Verkürzung der Arbeitszeit. Gesamtwirtschaftlich wurden dadurch Humankapitalverluste vermieden, während die Betriebe kostenintensive Entlassungen und Wiedereinstellungen umgehen konnten. Die massive Ausweitung der konjunkturellen Kurzarbeit gilt als eine der erfolgreichsten Maßnahmen zur Bekämpfung der Rezession des Jahres 2009. (Dietz/Stops/Walwei 2012). Die Erfolge der Kurzarbeit während der Finanzmarktkrise waren mit ein Grund dafür, dass die Regelungen zur Kurzarbeit in der Corona-Krise massiv ausgeweitet wurden. So wurde der Bezug von Kurzarbeitergeld dadurch erleichtert, dass nur 10% der Beschäftigten von einem Arbeitsausfall betroffen sein müssen und keine negativen Arbeitszeitsalden aufzubauen sind. Außerdem wurde die Lohnersatzrate des Kurzarbeitergeldes von 60% (67%) auf 70% (77%) ab dem vierten Monat bzw. 80% (87%) ab dem siebten Monat erhöht. Die Kurzarbeit wurde während der Corona-Krise von den Unternehmen in bislang nicht gekanntem Ausmaß genutzt. Während in der Finanzmarktkrise etwa 1,5 Mio. Personen in Kurzarbeit beschäftigt waren, machten im Frühjahr 2020 mehr als 5 Mio. Beschäftigte von dieser Regelung Gebrauch. Die Arbeitszeit und die Einkommen der Beschäftigten in Kurzarbeit sind deutlich gesunken, wobei der Rückgang der Arbeitszeit stärker ausfiel als der Einkommensverlust. Ein Verlust des Arbeitsplatzes während der Pandemie ist vor allem bei nicht-sozialversicherungspflichtig Beschäftigten zu verzeichnen (Pusch/Seifert 2020).

17 19 33 75 60 46 66 81

031 982 334 348 376 548 149 629

Sozialprodukta zu Faktorkosten in Mio. Mark (jew. Preise) 136 280 800 6 630 8 271 8 565 7 541 7 265

Sozialleistungenb in Mio. Mark 0,8 1,4 2,4 8,8 13,7 18,4 11,4 8,9

Sozialleistungsquote 1950 1960 1970 1980 1990 1995d 2000 2005 2010e 2015 2018f

Jahr

50 155 361 789 1 307 1 899 2 117 2 301 2 580 3 049 3 386

Bruttoinlandsprodukt in Mrd. e 8,6 28,4 73,0 202,7 314,3 523,5 608,5 665,5 771,4 889,9 996,0

Sozialleistungenc in Mrd. e 17,0 18,3 20,2 25,7 24,1 27,6 28,8 28,9 29,9 29,2 29,4

Sozialleistungsquote

b

Bis 1932 Nettosozialprodukt zu Faktorkosten, ab 1933 Bruttosozialprodukt. Bis 1932 Transferleistungen (inkl. Subventionen an die Wirtschaft; im Vergleich zu den Sozialleistungsquoten ab 1933 ist die so definierte Sozialleistungsquote überhöht.) Ab 1933 Reinausgaben für öffentl. Sozialleistungen. c Leistungen der Sozialversicherung, Sozialleistungen an Beamte, Kriegsopferleistungen, Lastenausgleich sowie Ausgaben für soziale Hilfen und soziale Dienste; ab 1975 in der Abgrenzung des Sozialbudgets (einschl. Ehegattensplitting). d Werte für Gesamtdeutschland e Ab 2009 einschließlich privater Krankenversicherung f Geschätzte Werte. Quelle: 1871 bis 1932: Hohorst/Kocka/Ritter (1975), S. 148 f.; 1933 bis 1938: BMA (1967), Übersicht über die soziale Sicherung, S. 8, 1950 und 1955: BMA (1972): Sozialbericht 1971, S. 72 und S. 242 ff.; ab 1960: BMAS (2019): Sozialbudget 2018, S. 8

a

1871/74 1885/89 1900/04 1925/29 1930/32 1933 1936 1938

Jahr

Tabelle 16.1: Die Sozialleistungsquote 1871 bis 2017

16.1 Die Wirkungen staatlicher Sozialpolitik 381

382

16 Bilanz der staatlichen Sozialpolitik

c) Verteilungseffekte Die Verteilungswirkungen staatlicher Sozialpolitik sind ausgesprochen komplex. In diesem Zusammenhang unterscheidet man zweckmäßigerweise zwischen 1. intertemporaler Umverteilung, und zwar a) personen- bzw. haushaltsbezogener sowie b) generationenbezogener Umverteilung und 2. intratemporaler Umverteilung, und zwar a) zwischen Haushalten unterschiedlich hoher Einkommen (Umverteilung von „reich“ zu „arm“), b) zwischen Trägern unterschiedlich hoher Risiken (Umverteilung von den „guten“ zu den „schlechten“ Risiken) c) zwischen Haushalten unterschiedlicher Größe (Umverteilung von Alleinstehenden zu Familien). In der Praxis treten diese Verteilungswirkungen kombiniert auf, wodurch eine genaue Verteilungsanalyse staatlicher Sozialpolitik deutlich erschwert wird. Ein unrealistischer Grenzfall ist die rein intertemporale Einkommensumverteilung auf Personen- bzw. Haushaltsebene, bei der das Lebenseinkommen einer Person oder eines Haushalts weder vergrößert noch verkleinert, sondern nur im Lebenszyklus umgeschichtet wird. So finden intertemporale Umschichtungen durch das System sozialer Sicherung von Zeiten der Erwerbstätigkeit in Zeiten der Arbeitslosigkeit oder des Alters statt. In der Regel ist die intertemporale Umverteilung aber auch mit einer interpersonellen Umverteilung verbunden: der Leistungsempfänger kann – je nach der Betroffenheit durch Risiken und seiner Position in der Einkommenshierarchie – im Zusammenhang mit der intertemporalen Einkommensumschichtung mehr oder weniger erhalten als dem versicherungsäquivalenten Wert seiner Beitragsleistungen entspricht (z.B. in der GKV). Wenn eine solche Umverteilung nicht innerhalb einer bestimmten Generation, also den Angehörigen des gleichen Geburtsjahrgangs, erfolgt, sondern zwischen verschiedenen Kohorten, ist die interpersonelle Umverteilung gleichzeitig eine Umverteilung zwischen Generationen (wie z. B. in der GRV). Umverteilungen zwischen den Generationen ergeben sich, wenn eine bestimmte Generation verhältnismäßig mehr oder weniger an Sozialtransfers empfängt als dem Barwert ihrer Leistungen entspricht. Eine Umverteilung zwischen den Generationen erfolgte bspw. durch die Einführung der dynamischen Rente 1957 in Verbindung mit den jährlichen Anpassungen der Bestandsrenten an die Einkommensentwicklung. Eine Umverteilung auf Kosten einer Generation wird eintreten, wenn wegen der Entwicklung der Rentnerquote in Zukunft Rentnergenerationen, die durch ihre Beiträge die Renten in der Vergangenheit finanziert haben, schlechter gestellt werden müssen als die Rentnergenerationen unmittelbar vor ihnen. Horizontale Umverteilungswirkungen ergeben sich im System sozialer Sicherung, da hier die Beiträge nicht wie in der Privatversicherung nach standardisierten Risikomerkmalen wie Alter, Geschlecht, Vorerkrankungen u. ä. differieren, und da dieses System bestimmte familienpolitische Elemente wie bspw. die beitragsfreie Mitversicherung nichterwerbstätiger Familienmitglieder umfasst. Vertikale Umverteilungseffekte ergeben sich bei beitragsfinanzierten Leistungen durch die bis zur Beitragsbemessungsgrenze einkommensabhängigen Beitragszahlungen, sofern hieraus entwe-

16.1 Die Wirkungen staatlicher Sozialpolitik

383

der Sachleistungen begründet werden oder ein Anspruch auf Geldleistungen besteht, der nicht beitragsäquivalent ist (bspw. die Mindestrente oder die Anrechnung beitragsfreier Zeiten in der GRV). Die Umverteilungswirkungen eines Systems sozialer Sicherung hängen neben den verteilungspolitischen Leistungen des Systems auch von der Ausgestaltung der Belastung und der Art der Finanzierung ab. Eindeutig feststellbar ist die Finanzierungsbelastung (formale Inzidenz) nur für private Haushalte, die durch direkte Steuern und Sozialbeiträge belastet werden. Die Zahler sind hier mit den Belasteten identisch. Dabei belasten Sozialbeiträge wegen ihrer proportionalen Ausgestaltung die Bezieher niedriger Einkommen relativ stärker als direkte Steuern. Anders sieht es bei den Arbeitgeberbeiträgen zur Sozialversicherung und bei den indirekten Steuern aus. Die Arbeitgeberbeiträge verteuern den Faktor Arbeit und müssen deshalb durch das Grenzwertprodukt des Faktors Arbeit abgedeckt sein. Der Arbeitgeberbeitrag wird ökonomisch somit durch die Arbeitsproduktion getragen; Zahler und Belastete sind also nicht identisch. Dies gilt auch für die indirekten Steuern, die von den Konsumenten getragen werden müssen. Auch ein Teil der direkten Unternehmenssteuern ist überwälzbar (vgl. Zimmermann/Henke/Broer 2017, S. 200 ff.), so dass die Umverteilungswirkungen von Sicherungssystemen, die mit Staatszuschüssen finanziert werden, besonders schwer zu ermitteln sind. Tabelle 16.2: Markteinkommen und verfügbare Einkommen sowie deren Ungleichverteilung in Deutschland 1991 bis 2011 auf Basis des SOEP

Jahr

Markteinkommena DeutschWest Ost land

Mittelwert (Euro)b 1991 21 103 2000 22 260 2011 22 864 b Median (Euro) 1991 19 137 2000 19 415 2011 18 664 Gini-Koeffizient 1991 0,411 2000 0,455 2011 0,485

Haushaltsnettoeinkommena DeutschWest Ost land

22 675 23 679 24 317

14 913 15 929 16 906

18 696 20 130 20 674

19 747 20 806 21 503

14 556 17 110 17 276

20 689 20 857 19 556

14 412 13 918 13 509

16 841 17 992 17 813

17 829 18 594 18 429

13 585 15 964 15 905

0,406 0,443 0,472

0,375 0,493 0,529

0,247 0,256 0,288

0,245 0,261 0,291

0,205 0,213 0,257

a

Äquivalenzgewichtet mit der modifizierten OECD-Skala In Preisen des Jahres 2005. Quelle: Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jg. 2014/15, Tab. 23, S. 373. b

Die Intransparenz der Verteilungsabläufe im System sozialer Sicherung und die regressive Wirkung einiger sozialpolitischer Instrumente wird teilweise als Beleg für die verteilungspolitische Ineffizienz des Sozialstaats genommen, der die Einkommen nicht von „reich“ zu „arm“, sondern nur von der „linken Tasche“ in die „rechte Tasche“ der Versicherten umverteile (vgl. z. B. Vaubel 1990). Diese Kritik ist aber durch die empirische Evidenz nicht gedeckt. Denn sie übersieht zum einen, dass der Sozialstaat nicht nur vertikale Umverteilungsziele verfolgt,

384

16 Bilanz der staatlichen Sozialpolitik

sondern auch nach soziodemografischen Merkmalen (Alter, Geschlecht, Familienstand) umverteilt. Zum anderen weisen empirische Untersuchungen für die staatliche Sozialpolitik spürbare Umverteilungseffekte aus. Wie die Tabelle 16.2 zeigt, ist die Ungleichverteilung der Bruttoeinkommen in den letzten Jahren sowohl in den alten wie in den neuen Ländern etwas gestiegen. Sie erhöhte sich der Gini-Koeffizienz der Bruttoeinkommen von 0,411 im Jahr 1991 auf 0,485 im Jahr 2011. Besonders ausgeprägt ist die Zunahme der Ungleichverteilung der Bruttoeinkommen in Ostdeutschland. Durch die Interventionen des Steuer- und Sozialstaats reduziert sich diese Ungleichverteilung ganz erheblich: so liegt der Gini-Koeffizient der verfügbaren Haushaltseinkommen mit 0,247 (1991) bzw. 0,288 (2011) deutlich unter den Werten der Bruttoeinkommen. Nach wie vor ist die Verteilung der verfügbaren Einkommen deutlich gleichmäßiger als die der Markteinkommen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass in diesen Zahlen die egalisierenden Effekte sozialpolitischer Sachleistungen noch nicht enthalten sind. Auch Hauser (1999) und Schwarze (1999) ermitteln für das deutsche Sozialsystem deutlich armutsvermeidende Effekte. Das deutsche Sozialversicherungssystem trägt durch einen Abbau des regionalen Wohlstandsgefälles vor allem in Zeiten hoher Unterbeschäftigung auch zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse in den Regionen Deutschlands bei.5 Nach Berechnungen des IAB besteht das verfügbare Einkommen in vielen Regionen zu mehr als 30 % aus Leistungen der Arbeitslosenund der Rentenversicherung. Im Vordergrund steht ein Ausgleich des wirtschaftlichen Gefälles zwischen West- und Ostdeutschland. Das Umverteilungsvolumen zwischen West- und Ostdeutschland wird vom IAB für 2006 auf 6 Mrd. e geschätzt.

16.1.4 Gesellschaftliche Wirkungen Ein Teil der skizzierten ökonomischen Effekte staatlicher Sozialpolitik hat sich in gesellschaftliche Wirkungen umgesetzt. Die Integration der Arbeitnehmerschaft in die Gesellschaft wurde bereits erwähnt. Die Veränderung der Position der Arbeitnehmer im Sinne einer gleicheren Verteilung von Lebenslagen – d. h. einer gleichmäßigeren Verteilung von persönlichen und beruflichen Entfaltungsmöglichkeiten, persönlicher Freiheit, persönlicher Sicherheit, Möglichkeiten der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben und gestiegener gesellschaftlicher Achtung – hat zweifellos auch zur sozialen Befriedung der Gesellschaft beigetragen. Die durch das System bewirkte Umverteilung hat das Ausmaß an sozialer Gerechtigkeit im Sinne gleichmäßigerer Verteilung der Einkommen erhöht, anders ausgedrückt, die Möglichkeiten der persönlichen Entfaltung gleichmäßiger verteilt. Die zentrale gesellschaftsgestaltende Wirkung neuzeitlicher staatlicher Sozialpolitik bestand darin, die nach der französischen Revolution in die Verfassungen der kontinentaleuropäischen Staaten aufgenommenen freiheitlichen und sozialen Rechtsnormen aus der Welt der geschriebenen Verfassung – aus formalen Rechten – in einem Jahrzehnte dauernden, aus vielen Einzelschritten bestehenden Prozess in die Lebenswirklichkeit umgesetzt zu haben (vgl. Lampert 1989b).

5

Vgl. dazu Blos 2006.

16.2 Entwicklungstendenzen

385

16.2 Entwicklungstendenzen Im Anschluss an die Darstellung der historischen Entwicklung des Sozialstaats wurden bereits eine Reihe von Entwicklungstendenzen staatlicher Sozialpolitik dargestellt (vgl. dazu S. 103 ff.). An dieser Stelle sollen nochmals drei Tendenzen angesprochen werden, die für die Qualität des Sozialstaats von besonderer Bedeutung sind: 1. die Ausweitung des sozialen Schutzes nach Art, Umfang und geschütztem Personenkreis (Universalisierung), 2. die Tendenz der Angleichung sozialpolitischer Regelungen und Leistungen (Egalisierung), sowie 3. die Dynamisierung zahlreicher sozialpolitischer Geldleistungen. Mit der Ausweitung des Systems sozialer Sicherung nach Art, Umfang und erfasstem Personenkreis ist bereits eine wesentliche Tendenz angesprochen: Die Entwicklung des Sozialstaats von einer reinen Arbeiterversicherung zu einer umfassenden sozialen Sicherung für alle Gesellschaftsmitglieder. So wurde der Kreis der Versicherungspflichtigen immer wieder erweitert. Für das Risiko der Krankheit und der Pflegebedürftigkeit besteht mittlerweile für die gesamte Bevölkerung eine Versicherungspflicht. Der wesentliche Grund für diese Entwicklung ist die Tatsache, dass ein bestimmter Berufsstand kein hinreichendes Kriterium für soziale Schutzbedürftigkeit mehr ist. Außerdem orientiert sich die Sozialpolitik nicht mehr ausschließlich daran, ob ein bestimmter Personenkreis „sozial bedürftig“ ist, sondern daran, ob die Gesellschaft ein bestimmtes Risiko absichern möchte. Die beschriebene Tendenz ist nicht nur in Deutschland, sondern international zu beobachten (vgl. Alber 1987, Ritter 1991). Mit der Entwicklung einer für alle abhängig Beschäftigten und ihrer Familienangehörigen einheitlichen Sozialversicherung ist eine Tendenz zur Egalisierung der Regulierungen und der sozialpolitischen Leistungen verbunden. Ein wichtiger Schritt in diese Richtung war die Aufhebung der Trennung in eine Arbeiter- und eine Angestelltenversicherung durch die Einführung der freien Kassenwahl in der GKV im Jahr 1996 und durch die Zusammenführung der Arbeiterund der Angestelltenrentenversicherung im Jahr 2005. Darüber hinaus werden von der Sozialversicherung auch Leistungen vergeben, die nicht strikt beitragsäquivalent sind. Neben der beitragsfreien Familienmitversicherung ist hier vor allem an die Höherbewertung bestimmter Zeiten in der Rentenversicherung zu denken. Eine Egalisierung der Leistungen ergibt sich auch durch die relative Zunahme der einheitlichen Sachleistungen im Vergleich zu den äquivalenzorientierten Geldleistungen. Die wohl markanteste Zäsur des deutschen Sozialstaats stellt die Dynamisierung der Rentenleistungen durch die Rentenreform des Jahres 1957 dar. Mittlerweile sind zahlreiche sozialpolitische Maßnahmen entweder explizit dynamisiert, oder die Leistungen werden in regelmäßigen Abständen an die wirtschaftliche Entwicklung angepasst. Neben den Rentenleistungen sind die Leistungen der sozialen Grundsicherung durch die Anwendung des Statistikverfahrens explizit dynamisiert (zum Statistikverfahren vgl. Abschnitt 11.2.1). Einer Dynamisierung unterliegen auch alle monetären Leistungen, die sich als prozentualer Wert des letzten Entgelts ergeben, wie z.B. das Arbeitslosengeld oder das Elterngeld. Andere Leistungen werden in regelmäßigen Abständen überprüft und angepasst. So muss die Höhe des Pflegegelds in dreijährigen Abständen überprüft und an die Preisentwicklung angepasst werden. Das Kindergeld wird i.d.R. entsprechend der Erhöhung des steuerlichen Kinderfreibetrags angepasst. Mit dieser Dynamisierung der

386

16 Bilanz der staatlichen Sozialpolitik

Leistungen soll sichergestellt werden, dass die Empfänger dieser Leistungen an der Veränderung des allgemeinen Lebensstandards teilhaben.

16.3 Erfolge 16.3.1 Gesellschaftspolitische Erfolge Die staatliche Sozialpolitik hat die Qualität der modernen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft entscheidend verändert. Die gesellschaftspolitische Leistung der neuzeitlichen staatlichen Sozialpolitik wird völlig unzutreffend charakterisiert, wenn sie überwiegend darin gesehen wird, das kapitalistische System politisch stabilisiert und damit erst funktionsfähig gemacht zu haben. Zwar hatten nachweislich einzelne Politiker und bestimmte gesellschaftliche Gruppen mit der Einführung der staatlichen Sozialpolitik die Absicht verbunden, das kapitalistische Gesellschaftsund Wirtschaftssystem ohne substanzielle Veränderungen zu sichern. Die Sozialpolitik hat jedoch – insbes. in Verbindung mit der Durchsetzung der parlamentarischen Demokratie – so viel an Eigendynamik gewonnen, dass sie spätestens in der Weimarer Republik über die Funktion der Systemerhaltung hinausgewachsen und zu einer wirksamen gesellschaftsgestaltenden Kraft geworden ist.6 Die Sozialgesetzgebung ist nicht nur etwas, „das der kapitalistischen Gesellschaft aufgezwungen wurde durch die [...] Notwendigkeit, das ständig zunehmende Elend der Massen zu lindern“, sondern „der kapitalistische Prozess – der Kraft seiner automatischen Wirkungen den Lebensstandard der Massen hob – hat außerdem noch die Mittel und den Willen für diese Gesetzgebung bereitgestellt“ (Schumpeter, 1950, S. 208). Die zentrale Bedeutung der Sozialpolitik liegt in ihrem Beitrag zur Transformation der Rechtsnormen des freiheitlichen und sozialen Rechtsstaates aus der Welt der geschriebenen Verfassung, der zugesicherten formalen Rechte in die Lebenswirklichkeit, in tatsächlich nutzbare materiale Rechte. Es ist zum großen Teil der Sozialgesetzgebung zuzuschreiben, dass der freiheitliche Sozialstaat mit seinen Zielen (persönlicher Freiheit, sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit) für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung zur sozialen Realität geworden ist. Im 19. Jh. wurde die auf ständischen Privilegien und absolutistischer Staatsgewalt beruhende Feudalgesellschaft abgelöst, die politische Sphäre der Verfügungsmacht Privater entzogen und die politischen und rechtlichen Grundlagen des liberalen Verfassungs- und Rechtsstaates gelegt. Dies war der Anfang vom Ende einer jahrhundertelangen politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Abhängigkeit und Ungleichheit sozialer Gruppen. Aber eben nur der Anfang: die verfassungsmäßige Gewährleistung unveräußerlicher Grundrechte wie der Menschenwürde, der persönlichen Freiheit, der Gleichheit des staatsbürgerlichen Status, der wirtschaftlichen Freiheit und der Gleichheit der bildungsmäßigen, beruflichen und wirtschaftlichen Startchancen war nicht gleichbedeutend mit der Verwirklichung persönlicher materialer Freiheit für alle Staatsbürger, mit (annähernd) gleichen materialen Startchancen, mit der Sicherung der materiellen Voraussetzungen für die Wahrung der Menschenwürde und für die freie Entfaltung der Persönlichkeit. Es ist zu einem guten Teil die staatliche Sozialpolitik gewesen, die die Verwirklichung von Grundrechten der Bürger gefördert und ihre materiale persönliche Freiheit erhöht hat: • durch den Aufbau eines mittlerweile hochentwickelten Arbeitnehmerschutzes, 6

Vgl. dazu v.a. Heimann 1980, S. 167 ff. und Achinger 1979, S. 54 ff. und S. 116 ff.

16.3 Erfolge

• • • • • • •

387

durch die Verkürzung der wöchentlichen, der jährlichen und der Lebensarbeitszeit, durch die wirtschaftliche Absicherung im Falle des Eintritts der Standardrisiken, durch die Sicherung eines Existenzminimums für alle Bürger, durch die Ausgestaltung der Betriebs- und Unternehmensverfassung, durch die Förderung der beruflichen und sozialen Mobilität, durch die Politik der Ausbildungsförderung, durch den Ausgleich von Lebenslagenunterschieden im Wege der Steuer-, der Lohn-, der Wohnungs-, der Familien- und der Vermögenspolitik.

Die staatliche Sozialpolitik hat die Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung Deutschlands in zweifacher Hinsicht maßgeblich umgestaltet: zum einen werden die Dispositions- und Leitungsbefugnisse in den Betrieben nicht mehr einseitig und uneingeschränkt vom Faktor Kapital wahrgenommen, zum anderen ist die soziale Stellung einer Person nicht mehr primär durch ihre Herkunft vorgegeben. Anders formuliert: der demokratische Sozialstaat hat maßgeblich dazu beigetragen, den Kapitalismus als Gesellschaftsform zu überwinden und durch eine sozial verfasste Marktwirtschaft zu ersetzen.

16.3.2 Sozialpolitische Erfolge Die mit steigendem wirtschaftlichem Wohlstand immer stärker ausgebaute Sozialpolitik hat maßgeblich mitbewirkt: • die Lösung der sozialen Frage als Arbeiterfrage, die sukzessiv erfolgende volle Integration der Arbeiterschaft in die Gesellschaft und die deutliche Verringerung von Unterschieden zwischen sozialen Schichten; • die Befreiung der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung von wirtschaftlicher Armut und von wirtschaftlich bedingter Angst und Not;7 • die materielle Absicherung des Rechtes auf Gesundheit, Menschenwürde und freie Entfaltung der Persönlichkeit; • die Öffnung der Gesellschaft durch material angenäherte Startchancen und leistungsorientierte Aufstiegschancen für alle; • eine gleichmäßigere Verteilung materialer Freiheit durch die Politik des Einkommensausgleichs. Die staatliche Sozialpolitik hat einen beachtlichen Beitrag zur Annäherung unserer Gesellschaft an die Ideale der Aufklärung (Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichheit) gebracht. Diese historisch bedeutende Leistung der staatlichen Sozialpolitik zur Gestaltung einer humanen Gesellschaft mit einer historisch einmaligen sozialstaatlichen Substanz wird von vielen Kritikern des Sozialstaates und Befürwortern eines Abbaus des Sozialstaates sowohl im wissenschaftlichen wie im politischen Bereich verkannt und vernachlässigt. Ebenso vielfach wird auch übersehen, dass der Sozialstaat in erheblichem Maße zur gesellschaftlichen Akzeptanz einer offenen und wettbewerblich ausgestalteten Marktwirtschaft beiträgt. Dass die staatliche Sozialpolitik zudem positive Wirkungen für das Wachstum, die wirtschaftliche Stabilität und die Verteilung hat, wurde bereits unter Abschnitt 16.1.3 dargestellt. 7

Vgl. zum Abbau der Klassengesellschaft und zur Verhinderung von Massenarmut Fischer 1972, S. 256 f.

388

16 Bilanz der staatlichen Sozialpolitik

16.4 Defizite und Fehlentwicklungen Eine Bilanz neuzeitlicher staatlicher Sozialpolitik wäre natürlich unvollständig, wenn man den sozialpolitischen Erfolgen nicht auch die Defizite und die ungelösten Aufgaben gegenüberstellen würde. Die relative Gewichtung der verschiedenen Defizite ist jedoch auch davon abhängig, welche sozialpolitischen Ziele verfolgt und welche Aufgaben dem Sozialstaat zugeordnet werden. Es ist daher unvermeidlich, dass dem folgenden Versuch einer Bewertung der sozialpolitischen Defizite auch eine subjektive Wertung der Verfasser zugrunde liegt. Die meisten der in der Literatur diskutierten Mängel wurden bereits im systematischen Teil dieses Lehrbuchs angesprochen, so dass hier nur noch ein Überblick über die wesentlichen Mängel der neuzeitlichen staatlichen Sozialpolitik gegeben werden soll.

16.4.1 Defizite Unter Defiziten werden im Folgenden Verstöße gegen bestimmte Mindestanforderungen an den Sozialstaat verstanden. Als Kriterium für die Ableitung dieser Mindestanforderungen kann die Verpflichtung des Staates gelten, die Würde des Menschen zu schützen (Art. 1 Abs. 1 GG sowie § 1 SGB XII). Auch durch das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 GG), durch das Gebot der Gleichbehandlung (Art. 3 GG) und durch das Gebot, Ehe und Familie zu schützen (Art. 6 GG), werden der Sozialpolitik bestimmte Mindestanforderungen vorgegeben. Das erste und gravierendste Defizit liegt nach Meinung der Verfasser darin, dass sich die staatliche Sozialpolitik nach wie vor primär auf die im Arbeits- und Wirtschaftsleben Tätigen konzentriert. Sie ist somit primär eine Politik für Bürger, die wirtschaftlich integriert und in einem sog. „Normalarbeitsverhältnis“8 beschäftigt sind. Diese Feststellung gilt unabhängig davon, dass die Sozialpolitik seit der zweiten Hälfte des 20. Jh. verstärkt auch jene Gruppen erfasst, die als „vulnerabel“ gelten, wie z.B. Alleinerziehende, kinderreiche Familien sowie psychisch und physisch leistungseingeschränkte Personen. Nach wie vor aber gilt grundsätzlich die These von Viola v. Bethusy-Huc (1976, S. 224 f. und S. 230 f.), dass die staatliche Sozialpolitik im Bereich der sozialen Sicherung erwerbsarbeitsorientiert ist. Die Sozialpolitik für Kinder und kinderreiche Familie, für prekär Beschäftigte und für Erwerbsgeminderte ist nach wie vor unterentwickelt. Ein zweites Defizit liegt in der vom Gesetzgeber bislang nur unzureichend umgesetzten Aufforderung des Bundesverfassungsgerichts, die Leistungen der Familien im System sozialer Sicherung angemessen zu berücksichtigen. Das BVerfG hat in einem wegweisenden Urteil aus dem Jahr 2001 festgestellt, dass Familien durch die Geburt und Erziehung von Kindern einen eigenständigen Beitrag für das System sozialer Sicherung erbringen, aus dem sich ein eigenständiger Anspruch auf eine adäquate Gegenleistung ergibt (vgl. BVerfGE 103, 242). Dieses Urteil wurde sehr unsystematisch und in den einzelnen Versicherungszweigen unterschiedlich umgesetzt. In der sozialen Pflegeversicherung zahlen Kinderlose einen geringfügig höheren Beitragssatz als Familien, in der gesetzlichen Rentenversicherung erhalten kindererziehende Personen durch die Anrechnung von Kindererziehungs- und -berücksichtigungszeiten höhere Leistungen als Kinderlose. Empirische Untersuchungen zeigen jedoch, dass die Geburt und Erziehung eines Kindes 8

Unter einem Normalarbeitsverhältnis versteht man eine unbefristete und sozialversicherungspflichtige Vollzeitbeschäftigung.

16.4 Defizite und Fehlentwicklungen

389

trotz dieser familienpolitischen Leistungen zu einer Entlastung des Sozialstaats führt. Das bedeutet, dass nach wie vor durch das System sozialer Sicherung eine Umverteilung von den Eltern hin zu den Kinderlosen stattfindet (vgl. Werding 2014). Ein drittes Defizit liegt darin, dass es dem Sozialstaat bisher noch nicht gelungen ist, Rahmenbedingungen zu schaffen, die sicherstellen, dass alle Gesellschaftsmitglieder das soziokulturelle Existenzminimum aus eigener Kraft sichern oder durch vorgelagerte Transferleistungen bestreiten können. Trotz relativ hoher Sozialausgaben ist weiterhin ein relevanter Teil unserer Gesellschaft auf Leistungen der sozialen Grundsicherung angewiesen. So bezogen im Jahr 2017 über 7,5 Mio. Personen Leistungen der sozialen Mindestsicherung, davon ca. 4,3 Mio. ALG II, 1,7 Mio. Sozialgeld und 1,0 Mio. Personen Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (Quelle: Statistische Ämter des Bundes und der Länder 2019, S. 9). Die wesentliche Rahmenbedingung, nämlich dauerhafte Vollbeschäftigung zu existenzsichernden Löhnen, wird in der Bundesrepublik seit Mitte der 1970er Jahre verfehlt. Aufgrund der hohen und lang anhaltenden Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland während der 1990er Jahre wird die Zahl der Rentnerinnen und Rentner, die ergänzend auf soziale Grundsicherung im Alter angewiesen sein werden, deutlich zunehmen, sofern keine institutionellen Änderungen in der Altersversorgung erfolgen. Des Weiteren fehlt weiterhin eine der sozialen Grundsicherung vorgelagerte Kindersicherung, die eine Bedürftigkeit Alleinerziehender oder kinderreicher Familien wirksam bekämpft. Ein viertes Defizit unseres Sozialstaates ist die Unfähigkeit, den Anteil der relativ einkommensarmen Personen in der Gesellschaft niedrig zu halten. Wenn man – wie in der Literatur üblich – Menschen als armutsgefährdet bezeichnet, deren Einkommen 60 % des Medianäquivalenzeinkommens unterschreitet, waren 2018 in Deutschland 15,5 % der Bevölkerung von relativer Einkommensarmut gefährdet (Quelle: Der Paritätische Gesamtverband 2019). Das Ausmaß relativer Einkommensarmut ist in den Jahren 2006 bis 2017 erkennbar gestiegen und liegt seither auf einem deutlich höheren Niveau als noch in den 1980er Jahren. Unter den relativ Armen befinden sich vor allem kinderreiche Familien, Langzeitarbeitslose, Alleinerziehende und Personen mit Migrationshintergrund. Ein fünftes Defizit liegt darin, dass unser empirisches Wissen über bestimmte, für die Sozialpolitik wichtige gesellschaftliche Gruppen und über die Wirkungen sozialpolitischer Maßnahmen nach wie vor unzureichend ist. Dies ist insbesondere einer nach wie vor unzureichenden Datenbasis geschuldet. So beruhen wichtige Datenquellen wie das Sozioökonomische Panel oder die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe auf freiwilligen Befragungen. Außerdem weist die amtliche Statistik wichtige Indikatoren wie das Einkommen und das Vermögen der Haushalte nur in klassierter Form aus. Damit besteht insbesondere hinsichtlich der Verteilung von sehr hohen Einkommen und Vermögen ein erhebliches Informationsdefizit. Außerdem sind aufgrund der eingeschränkten Fallzahl bestimmte soziale Gruppen wie Alleinerziehende mit mehreren Kindern oder erwerbsgeminderte Bezieher von Grundsicherungsleistungen zahlenmäßig so schwach vertreten, dass keine belastbaren empirischen Auswertungen möglich sind. Insofern sind auch die Möglichkeiten einer evidenzbasierten Evaluation staatlicher Sozialpolitik nur eingeschränkt möglich.

390

16 Bilanz der staatlichen Sozialpolitik

Tabelle 16.3: Armutsrisikoquoten auf Basis des SOEP 1995

2000

2005

2010

2014

Insgesamt

11,6

11,6

14,1

14,1

15,8

Differenzierung nach Geschlecht männlich weiblich

10,3 12,9

10 13,1

12,8 15,3

13 15

15,3 16,3

Differenzierung nach West-/Ostdeutschland Westdeutschland Ostdeutschland

11,3 13,1

11,2 13,4

12,6 20,6

12,6 20,7

14,7 21,1

Differenzierung nach Alter unter 18 Jahre 18 bis 24 Jahre 25 bis 49 Jahre 50 bis 64 Jahre 65 Jahre und älter

15,2 17,7 9,2 9,2 13,2

15,1 17,7 9,5 9,4 11,9

16,7 24 13,2 11,5 11,8

17,5 19,5 12,4 12,2 13,9

21,1 24,5 15,4 12,1 13,7

Differenzierung nach Haushaltstypa Alleinlebend Alleinerziehend Paar mit 1 Kind Paar mit 2 Kindern Paar mit 3 und mehr Kindern

18,8 32 7,2 7,9 16,5

19,5 33,9 6 6,5 16,2

21,7 37,1 11,2 6,4 19,6

24,2 34,7 6,7 7,8 19,4

24,9 38,4 8,9 8,4 24,4

Differenzierung nach Erwerbsstatus (18 Jahre und älter) Erwerbstätig 6,6 Arbeitslos 28,1 Rentner/Pensionär 13,3

6,4 33,9 12,2

8,1 48 12,4

8,2 57,6 14,6

9,2 58,2 15,4

Differenzierung nach Wohnstatus Eigentümerhaushalt oder mietfrei Mieterhaushalt

5,6 17,2

3,7 19,6

4,9 23,1

4,6 24,7

5,8 26,7

Differenzierung nach Migrationshintergrundb ohne Migrationshintergrund mit Migrationshintergrund

9,7 18,6

9,5 18,8

11,8 22,4

12 20,7

12,7 23,1

Armutsschwelle

729

830

878

991

1.056

a

Als Kinder gelten hier sowohl leibliche Kinder des HV als auch Kinder des Partners sowie Schwiegersöhne bzw. -töchter b Migrationshintergrund umfasst alle Personen mit einem direkten oder Indirekten oder einem nicht näher spezifizierten Migrationshintergrund Quelle: Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2017b, Tab. C.II.1.1, S. 551.

16.4 Defizite und Fehlentwicklungen

391

16.4.2 Fehlentwicklungen Neben den im vorhergehenden Abschnitt beschriebenen Defiziten gibt es in der deutschen Sozialpolitik mehrere Fehlentwicklungen, die zum Teil bereits in verschiedenen wissenschaftlichen Gutachten und Stellungnahmen der 1950er und 1960er Jahre, insbes. im Sozial-Enquête-Gutachten von Hans Achinger/Walter Bogs/Helmut Meinhold/Ludwig Neundörfer/Wilfrid Schreiber aus dem Jahre 1966 angesprochen worden waren (vgl. zur einschlägigen Reformdiskussion der Jahre 1945 - 1968 Bethusy-Huc 1976). Bereits damals wurden das Kausalitätsprinzip, die Trägervielfalt und die fehlende Transparenz des sozialpolitischen Systems kritisiert. Neben diesen Konstruktionsmängeln des deutschen Sozialstaats – die größtenteils bis heute nicht korrigiert wurden – kommen die verteilungspolitische Ineffizienz bestimmter Maßnahmen und die Anwendung suboptimaler Sicherungsprinzipien hinzu.

a) Kausalprinzip und organisatorische Zersplitterung als Konstruktionsmängel Nach dem Kausalprinzip werden Art und Höhe von Ansprüche gegen das System der sozialen Sicherung gemäß der Ursache des Schadensfalls begründet. Das Kausalprinzip hat aus der Sicht der Anspruchsberechtigten zum einen den Nachteil, dass die Kompetenzen auf unterschiedliche Träger verteilt sind. So erbringen bspw. bei einem Unfall je nach Schadensursache die Renten-, die Unfall-, die Krankenversicherung oder die Kriegsopferversorgung entsprechende Leistungen. Diese Trägervielfalt führt nicht nur zur Intransparenz der Anspruchsvoraussetzungen und der Leistungshöhe, sondern vielfach auch zu unterschiedlich hohen Sozialleistungen bei identischer Lebenslage.9 Ähnlich problematisch erweisen sich die historisch begründbaren, in der Gegenwart aber nicht mehr zu rechtfertigenden Unterschiede in der sozialen Sicherung zwischen beamteten und nicht beamteten Arbeitnehmern.

b) Verteilungspolitische Ineffizienzen Es ist eine der zentralen Aufgaben staatlicher Sozialpolitik, die Ungleichverteilung der Markteinkommen abzumildern und die Lebenslagen der Bürger anzugleichen. Deshalb müssen sozialpolitische Maßnahmen immer daraufhin überprüft werden, ob die effektive Inanspruchnahme dieser Leistungen den verteilungspolitischen Zielen staatlicher Sozialpolitik entspricht. Nicht zu rechtfertigende Verteilungswirkungen treten bspw. immer dann auf, wenn bestimmte Beträge von der Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer in Abzug gebracht werden können, ohne dass eine Einschränkung der steuerlichen Leistungsfähigkeit vorliegt (sog. „Sozialzwecknormen“ des Einkommensteuerrechts). Denn diese Art steuerlicher Förderung führt aufgrund des progressiven Steuertarifs zu umso größeren Entlastungsbeträgen, je höher das steuerpflichtige Einkommen ist.10 Deshalb wurden in den vergangenen Jahren zahlreiche Sozialzwecknormen aus dem Steuerrecht entfernt, wie bspw. die Förderung des Wohneigentums nach § 10e EStG. Allerdings wird die Vermögensbildung weiterhin über die § 10a EStG (Riesterrente) bzw. § 3, 9

Vgl. zur Kompetenzzersplitterung und -vielfalt in Bezug auf das Invaliditätsrisiko bereits Transfer-EnquêteKommission 1981, S. 186 ff. 10 Vgl. Oberhauser 1995.

392

16 Bilanz der staatlichen Sozialpolitik

39 EStG (Mitarbeiterkapitalbeteiligung) steuerlich gefördert, obwohl zumindest die Mitarbeiterkapitalbeteiligung keine Einschränkung der steuerlichen Leistungsfähigkeit darstellt. Negative Verteilungseffekte generiert auch das Elterngeld, da diese steuerfinanzierte Transferleistung als Prozentsatz des letzten Nettoentgelts der Erziehungsperson errechnet wird. Damit erhalten Bezieher höherer Einkommen c.p. auch eine höhere Transferleistung. Des Weiteren nimmt die Anspruchshöhe des Elterngeldes mit zunehmender Kinderzahl ab, da in Familien mit mehreren Kindern eine Erziehungsperson (in aller Regel die Mutter) die Erwerbstätigkeit vor der Geburt unterbrochen oder eingeschränkt hat. So betrug im Jahr 2010 bei Familien mit drei Kindern der Anspruch auf Elterngeld bei fast zwei Dritteln der Familien weniger als 500 e/mtl., während bei den Einkindfamilien über die Hälfte der Leistungsbezieher mehr als 1 000 e erhielten (vgl. StatBA, Statistik zum Elterngeld 2010, Wiesbaden 2011, Tab. 9, S. 20.). Aus verteilungspolitischer Sicht ist grundsätzlich jede Form der Förderung der Vermögensbildung problematisch, da jede Vermögensbildung ein gewisses Maß an Sparfähigkeit, also an verfügbarem Einkommen, voraussetzt. Deshalb lässt sich empirisch feststellen, dass die Inanspruchnahme der staatlichen Sparförderung mit zunehmendem Einkommen steigt. Dies gilt auch für die staatlich geförderte ergänzende Altersvorsorge („Riesterrente“).

c) Anwendung suboptimaler Prinzipien sozialer Sicherung Zahlreiche Probleme des Sozialstaates werden durch die Anwendung suboptimaler Prinzipien für die Absicherung sozialer Risiken geschaffen. Dazu gehören zum einen arbeitsrechtliche anstelle versicherungsrechtlichen Lösungen und zum anderen das Prinzip eines (nahezu) vollen Einkommensersatzes, wie z. B. bei der 100%igen Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Sehr hohe Lohnersatzleistungen können zu einer missbräuchlicher Inanspruchnahme von Leistungen anreizen. Es stellt sich überdies die Frage, ob es nicht ausreichend ist, im Risikofall einen hohen Prozentsatz des Einkommens in Höhe von etwa 2/3 zu ersetzen und die Sorge für eine höhere Lohnersatzleistung dem Einzelnen zu überlassen. Arbeitsrechtlich statt versicherungsrechtlich geregelt sind • die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, • die Zahlung der Differenz zwischen Nettolohn und Mutterschaftsgeld der Krankenkasse während der Mutterschutzfrist und • die Kosten für den Bestandsschutz von Arbeitsverhältnissen einschließlich der Sozialplankosten. Diese arbeitsrechtlichen Regelungen haben nicht nur den Nachteil, kleine und mittlere Unternehmungen relativ stärker zu belasten als Großunternehmen. Sie verschlechtern auch die Wettbewerbschancen des geschützten Personenkreises auf dem Arbeitsmarkt. Das Risiko der Arbeitslosigkeit ist daher für Arbeitnehmer, die einen besonderen Kündigungsschutz genießen größer, als es bei einer versicherungsrechtlichen Lösungen wäre (sog. „arbeitnehmerschutzinduzierte Arbeitslosigkeit“).

16.4 Defizite und Fehlentwicklungen

393

d) Verstöße gegen ordnungspolitische Grundsätze Als Fehlentwicklungen sind schließlich auch jene politischen Maßnahmen einzustufen, die gegen Grundsätze der sozialen Ordnungspolitik verstoßen. Eine gravierende Verletzung solcher Grundsätze stellt die Finanzierung gesamtgesellschaftlicher Aufgaben durch Beiträge anstelle von Steuern dar. Vor allem im Zuge der Wiedervereinigung wurden die Pflichtversicherten in erheblichem Umfang zur Finanzierung versicherungsfremder Lasten, nämlich zur Finanzierung der deutschen Einheit, herangezogen.11 Diese Fehlfinanzierung gesamtgesellschaftlicher Aufgaben durch Sozialversicherungsbeiträge erhöht die Lohnnebenkosten und verschlechtert damit die Beschäftigungssituation. Unter Missachtung des Prinzips der Selbstverwaltung sozialer Angelegenheiten hat der Bund auch immer wieder die Beitragssätze in einem Versicherungszweig verändert, um sie in einer anderen Versicherung anheben zu können, ohne die Gesamtabgabenbelastung zu erhöhen.12 Die Sozialversicherung wurde so zu einem finanzpolitischen „Verschiebebahnhof“. Ähnlich wie mit den Sozialversicherungspflichtigen und den Steuerzahlern ging der Bund mit den Ländern und den Gemeinden um. Den Ländern, Kreisen und Gemeinden wurden nicht nur die Sozialhilfeleistungen für nicht mehr vermittelbare Langzeitarbeitslose übertragen, sondern (bis 1994) auch für die pflegebedürftigen älteren Menschen sowie für Asylbewerber. Dies geschah ohne eine angemessenen Beteiligung des Bundes an der Finanzierung, obwohl es sich um Aufgaben handelte, für deren Lösung die Verantwortung primär beim Bund liegt.

e) Überschreitung quantitativer Grenzen des Sozialstaates Als die derzeit gravierendste Fehlentwicklung ist die Verletzung bestimmter Grenzen des Sozialstaates anzusehen. Die Bedeutung dieses Problems lässt sich allein an der seit drei Jahrzehnten anhaltenden, sehr kontrovers geführten Diskussion um die Notwendigkeit und die Möglichkeiten einer Sozialstaatsreform ablesen.13 Diese Diskussion wird nochmals an Bedeutung gewinnen, wenn in den Jahren 2025 bis 2035 die geburtenstarken Jahrgänge in den Ruhestand treten und damit der demografische Wandel das System sozialer Sicherung erfasst. Dass der Anteil der Sozialleistungen an der volkswirtschaftlichen Wertschöpfung in den vergangenen Jahrzehnten gestiegen ist, ist kein rein deutsches Phänomen. Wie die Tabelle 16.4 zeigt, war die Entwicklung des Sozialstaats in allen demokratischen Industriegesellschaften mit steigenden Sozialleistungsquoten verbunden. Aber Deutschland weist zusammen mit Frankreich, Italien und den skandinavischen Staaten eine deutlich überdurchschnittliche Sozialleistungsquote auf. Unterdurchschnittliche Quoten haben die USA, Australien, Japan und Irland.

11

Von 1991 bis 1999 wurden von der GRV aus Beitragseinnahmen 111,9 Mrd. DM an die ostdeutschen RV-Träger transferiert. Von der Bundesanstalt für Arbeit wurden im gleichen Zeitraum aus Beitragsmitteln 158 Mrd. DM in die neuen Bundesländer transferiert (Meinhardt 1999). 12 Vgl. zur Verletzung der Selbstverwaltungsautonomie der Sozialversicherung Lampert 1984. Vgl. auch Böckel 1986. 13 Zur Diskussion um die Reform des Sozialstaats vgl. die Sondernummer der Zeitschrift „Aus Politik und Zeitgeschichte“, Heft 8-9 2006, das Themenheft „Sozialstaat Deutschland“ der Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Bd. 215, Heft 4+5 1997, Breyer et al. 2004 sowie die in diesen Publikationen angegebene Literatur.

394

16 Bilanz der staatlichen Sozialpolitik

Tabelle 16.4: Entwicklung der Sozialleistungsquote im internationalen Vergleich

Deutschland Frankreich Italien Japan UK USA Schweden Norwegen Dänemark

1960

1990

2018

15,4 12,0 10,7 3,5 9,7 7,0 10,4 6,0

25,4 24,3 22,6 16,3 17,7 14,2 26,8 20,4 21,9

25,1 31,2 27,9 21,9a 20,6 18,7 26,1 25,0 28,0

a 2015 Quelle: OECD: Social Expenditure Database (SOCX)

Ebenso dynamisch wie die Sozialleistungsquote entwickelte sich die Staatsquote, also die Ausgaben von Bund, Ländern und Kommunen unter Einschluss der Sozialversicherungen im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt. Sie stieg von 32,9% im Jahr 1960 auf 43,6% (1990) und betrug im Jahr 2018 44,6%. Um die gestiegenen Sozialausgaben zu finanzieren, mussten die Steuern und Sozialabgaben erhöht werden. So stieg die Abgabenquote von 33,4% (1960) auf 41,1% (2018).14 Daher stellt sich die Frage, ab welcher Belastung von Haushalten und Unternehmen quantitative Obergrenzen des Sozialstaats erreicht sind. Diese Frage nach diesen quantitativen Grenzen der Sozialpolitik ist so alt wie die neuzeitliche Sozialpolitik selbst. Schon Otto v. Bismarck hatte die Frage gestellt, bis zu welcher Grenze man beim Ausbau des Sozialstaats gehen kann, „ohne dem Arbeiter die Henne zu schlachten, die ihm die goldenen Eier legt“ (zitiert nach Syrup/ Scheuble/Neuloh 1957, S. 80). Es ist allerdings nicht möglich, diese Grenzen wissenschaftlich zu bestimmen. Denn dazu müsste man in der Lage sein, eine „optimale Sozialleistungsquote“ zu quantifizieren, bei der der gesellschaftliche Grenznutzen den gesamtwirtschaftlichen Grenzkosten der Sozialpolitik entspricht. Das ist aber aus theoretischen Gründen nicht möglich. Der Umfang sozialer Schutzmaßnahmen und das Ausmaß der Umverteilung in einer Gesellschaft werden deshalb immer Größen bleiben, über die letztlich nicht wissenschaftlich, sondern nur politisch entschieden werden kann. Von einer eindeutigen Überschreitung der quantitativen Grenzen des Sozialstaats könnte man allenfalls dann sprechen, wenn die Verhaltensänderungen seitens der Belasteten so groß sind, dass der Personenkreis, der durch eine bestimmte Maßnahme begünstigt werden soll, aufgrund dieser Ausweichreaktionen schlechter gestellt wird als ohne diese Maßnahme. Dieser Effekt wird zwar für bestimmte Teilbereiche des Sozialstaats wie bspw. den speziellen Arbeitnehmerschutz diskutiert, spielt aber für den Sozialstaat als Ganzes keine Rolle. Es ist nicht die Aufgabe der wissenschaftlichen Sozialpolitik, normative Kriterien für sozialpolitische Obergrenzen des Sozialstaats aufzuzeigen. Ihre Aufgabe besteht vielmehr darin, die Wirkungen sozialpolitischer Maßnahmen und die gesellschaftlichen Kosten dieser Politik umfassend darzustellen. Dazu müssen neben den direkten Kosten staatlicher Sozialpolitik, die durch Steuern und Sozialabgaben anfallen, auch die indirekten Kosten staatlicher Sozialpolitik erfasst 14

Quellen: BMF, Monatsbericht Dez. 2019, Tabellen: Entwicklung der Staatsquote; Entwicklung der Steuerund Abgabenquoten.

16.4 Defizite und Fehlentwicklungen

395

werden. Indirekte Kosten entstehen durch die Anpassungsreaktionen privater Wirtschaftssubjekte auf staatliche Maßnahmen. Indirekten Kosten des Sozialstaats entstehen zum Beispiel, wenn Arbeitnehmer ihre Erwerbstätigkeit aufgrund staatlicher Transferleistungen einschränken oder ganz einstellen. Das kann der Fall sein, wenn die Transferleistungen, die bei Arbeitslosigkeit gezahlt werden, annähernd so hoch sind wie das verfügbare Einkommen aus Erwerbstätigkeit, wenn sich also Arbeit „nicht mehr lohnt“. In diesem Fall liegt eine Verletzung des sog. „Lohnabstandsgebots“ vor.15 Aber auch eine hohe Belastung mit Sozialabgaben kann das Verhalten der privaten Wirtschaftssubjekte verändern und dadurch zusätzliche Kosten verursachen. So muss berücksichtigt werden, dass Arbeitnehmer und Arbeitgeber bei steigenden Beitragssätzen versuchen werden, sich dieser Belastung dadurch zu entziehen, indem vermehrt nicht sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse angeboten und nachgefragt werden. Eine steigende Abgabenbelastung, die nicht durch sinkende Direktentgelte kompensiert wird, verschlechtert außerdem die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen. Die Unternehmen können auf diese Erhöhung der Arbeitskosten reagieren, indem sie entweder ihre inländische Produktion einschränken (Produktionseffekt) oder den Faktor Arbeit durch Kapital ersetzen (Substitutionseffekt). Beides verschlechtert die Situation am Arbeitsmarkt.

f) Verletzung gesellschaftlicher Grundwerte Neben diesen quantitativen Grenzen existieren aber auch qualitative Grenzen des Sozialstaats. Unter diesen qualitativen Grenzen ist eine Verletzung gesellschaftlicher Grundwerte durch die die staatliche Sozialpolitik zu verstehen. Der Sozialstaat wurde errichtet, um grundlegende gesellschaftspolitische Ziele wie die individuelle Freiheit, die soziale Gerechtigkeit und die soziale Sicherheit zu gewährleisten. Sie kann aber auch in Konflikt zu diesen Zielen geraten und damit die Grundwerte einer freiheitlichen und demokratischen Gesellschaft gefährden.16 Bereits im Jahr 1955 haben Hans Achinger, Joseph Höffner, Hans Muthesius und Ludwig Neundörfer in ihrer „Rothenfelser Denkschrift“17 darauf hingewiesen, dass ein überbordender Sozialstaat in Widerspruch zu den Grundwerten des liberalen Rechtsstaats wie der persönlichen Freiheit und Selbstverantwortung geraten kann. Weitere gesellschaftspolitische Grundziele, die durch den Umfang und durch die Ausgestaltung des Sozialstaats gefährdet werden können, sind neben der individuellen Freiheit die soziale Gerechtigkeit und die Solidarität. Der Grundwert, der durch eine Expansion der Sozialleistungen in der einschlägigen Literatur am häufigsten als gefährdet betrachtet wird, ist die persönliche Freiheit und die Selbstverantwortung. Eine Einschränkung der persönlichen Freiheit stellt zweifellos die Versicherungspflicht 15

Bis 2010 war das Lohnabstandsgebot noch explizit in der sozialen Grundsicherung verankert. § 28 Abs. 4 SGB XII a.F. besagte, dass die Regelsätze der Sozialhilfe für einen 5-Personen-Haushalt nicht höher sein sollten als das durchschnittliche verfügbare Einkommen einer alleinverdienenden vollzeiterwerbstätigen Person mit einem Nettoentgelt der unteren Lohngruppen. Durch das Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz aus dem Jahr 2011 ist diese Regelung ersatzlos entfallen. 16 Vgl. zu dieser Problematik Watrin 1977; Hayek 1971, insbes. Kap. XVIII und XIX; Molitor 1984; BethusyHuc 1976, S. 232 f. 17 Vgl. Achinger et al. 1955. Dieses Gutachten zur „Neuordnung der sozialen Leistungen“, das seinerzeit auf Veranlassung des Bundeskanzlers Konrad Adenauer erstellt wurde, gilt als ordnungspolitische Grundlegung der deutschen Sozialpolitik nach dem zweiten Weltkrieg.

396

16 Bilanz der staatlichen Sozialpolitik

in der Sozialversicherung dar. Allerdings ist diese Versicherungspflicht aus mehreren Gründen erforderlich. Zum einen unterbindet sie eine Negativselektion auf Versicherungsmärkten. Ohne eine Versicherungspflicht würden die „guten“ Risiken die Versicherung verlassen und nur die „schlechten“ Risiken in der Versicherung verbleiben (vgl. hierzu ausführlich Abschnitt 6.3). Zum anderen haben Personen mit sehr geringen Einkommen und Vermögen keinen Anreiz, sich eigenständig gegen die allgemeinen Lebensrisiken abzusichern, da sie im Fall des Risikoeintritts Leistungen aus der sozialen Grundsicherung erhalten. Anders formuliert generiert die soziale Grundsicherung ein moral hazard-Problem, das nur durch eine Versicherungspflicht gelöst werden kann. Und schließlich ist es nur in einem System mit Versicherungspflicht möglich, innerhalb des Versicherungssystems Umverteilung zu betreiben. In der Umverteilungspolitik wird allerdings auch ein weiterer Konflikt zum Ziel individueller Freiheit gesehen. Denn die Verteilungspolitik ist immer mit einer Belastung der Bürger durch Steuern und Sozialabgaben verbunden, also einer Einschränkung ihrer materialen Freiheit. Allerdings steht dieser Einschränkung der materialen Freiheit der Nettozahler eine Vergrößerung der Freiheitsspielräume der Leistungsempfänger gegenüber. Falls die Markteinkommen in einer Gesellschaft sehr ungleich verteilt sind, kann eine Politik der Umverteilung das Ausmaß an Freiheit in der Gesellschaft insgesamt erhöhen.18 Eine sehr weitgehende Verteilungspolitik kann aber nicht nur mit dem Ziel individueller Freiheit in Konflikt geraten, sondern auch die Ziele der sozialen Gerechtigkeit und der Solidarität verletzen. So gerät die staatliche Sozialpolitik in Konflikt mit dem Ziel sozialer Gerechtigkeit, wenn die Umverteilung nicht nur jene Ungleichheiten ausgleicht, die auf ungleichen Startchancen und Entwicklungsbedingungen oder auf Zufälligkeiten beruhen, sondern auch jene Unterschiede egalisiert, die auf Unterschiede in der individuellen Leistungsbereitschaft zurückzuführen sind. In diesem Fall würde der Sozialstaat gegen das meritokratische Prinzip der Leistungsgerechtigkeit verstoßen. Die staatliche Sozialpolitik kann auch in Konflikt mit dem Ziel der Solidarität geraten. Denn die Bereitschaft zur Solidarität wird man auf Dauer nur erwarten können, wenn diese Solidarität nicht überbeansprucht wird. Von einer Überbeanspruchung dieser Bereitschaft zur Solidarität ist immer dann auszugehen, wenn die Sozialleistungen in signifikantem Umfang moral hazardVerhalten hervorrufen. Allerdings ist die Solidaritätsbereitschaft nicht nur eine Frage der Abgabenbelastung, sondern auch der in einer Gesellschaft dominierenden Werthaltungen. So ist die Bereitschaft zu solidarischem Verhalten in Gesellschaften, in denen die strikte Verfolgung des Eigennutzes als gemeinwohlförderlich angesehen wird weniger stark ausgeprägt als in Gesellschaften, in denen gemeinschaftsbezogenem Verhalten ein hoher Stellenwert beigemessen wird (vgl. Putnam 2001). Der Sozialstaat kann nicht nur in Konflikt zu den Zielen individueller Freiheit, sozialer Gerechtigkeit und Solidarität geraten, sondern auch zu dem Ziel persönlicher Selbstverantwortung. Denn je stärker die Bürger durch Steuern und Sozialabgaben belastet werden, umso mehr werden auch ihre Möglichkeiten zur selbstverantwortlichen Daseinsvorsorge eingeschränkt. Und je stärker der Sozialstaat die Bürger über Sozialleistungen versorgt, umso geringer ist der An18

Dieser Argumentation wird von Ökonomen häufig entgegengehalten, dass individueller Nutzen weder kardinal messbar noch intersubjektiv vergleichbar sei. Deshalb sei es auch nicht möglich, individuelle Nutzengewinne und -verluste gegeneinander zu verrechnen. Ungeachtet der Tatsache, dass die Frage der Vergleichbarkeit und Messbarkeit des Nutzens in der Literatur umstritten ist greift dieser Einwand nicht. Denn eine freiheitliche Sozialpolitik zielt nicht darauf ab, den gesellschaftlichen Nutzen gleichmäßig zu verteilen, sondern die materialen Möglichkeiten zur freien Entfaltung der Persönlichkeit.

16.5 Herausforderungen und ungelöste Aufgaben

397

reiz zu einer selbstverantwortlichen Vorsorge. Allerdings setzt selbstverantwortliches Handeln neben entsprechenden ökonomischen Ressourcen auch voraus, dass die Menschen die Notwendigkeit einer bestimmten Absicherung erkennen und dass sie in der Lage sind, die auf dem Versicherungsmarkt angebotenen Alternativen vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen Lebenssituation adäquat zu bewerten. Angesichts der Komplexität der Risikolagen, der Langfristigkeit und der Irreversibilität der Entscheidungsfolgen und angesichts der Intransparenz des privaten Versicherungsmarkts sind diese Möglichkeiten bei vielen Menschen nicht oder nur eingeschränkt vorhanden. Schließlich ist noch darauf hinzuweisen, dass die Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit, Selbstverantwortung und Solidarität nicht isoliert nebeneinanderstehen, sondern immer gemeinsam betrachtet werden müssen. Aufgrund der inneren Zusammengehörigkeit dieser Finalziele ist es unzulässig, sozialstaatliche Maßnahmen nur unter Berufung auf einen dieser Werte, also ausschließlich der Freiheit oder der sozialen Gerechtigkeit, zu bewerten.19 Sozialpolitische Reformen müssen daher immer vor dem Hintergrund ihrer Wirkungen auf alle gesellschaftlichen Grundziele überprüft werden. Obwohl es, wie bereits oben erwähnt, nicht möglich ist, die Grenzen des Sozialstaates genau zu bestimmen, kann man an verschiedenen Indikatoren ablesen, dass der deutsche Sozialstaat quantitative Obergrenzen erreicht hat. Ein Indiz für das Erreichen quantitativer Obergrenzen des Sozialstaats ist die Tatsache, dass die Politik seit mehreren Jahren versucht, einen weiteren Anstieg der Sozialleistungs- und der Abgabequote zu vermeiden. Deshalb ist eine Reform des Sozialstaates nach wie vor geboten. Ein solcher Umbau schließt Einschnitte in bestimmte Leistungen nicht aus, zumal es auch in der Vergangenheit immer wieder sozialpolitische Leistungskürzungen gegeben hat. Es stellt sich aber die Frage, ab wann diese Leistungskürzungen so gravierend sind, dass sie zu einer Aushöhlung der sozialstaatlichen Substanz führen. Ehe diese Probleme der Reform des Sozialstaates behandelt werden, soll ein Überblick über ungelöste Aufgaben der Sozialpolitik gegeben werden.

16.5 Herausforderungen und ungelöste Aufgaben Der deutsche Sozialstaat hat seine Leistungsfähigkeit in der Vergangenheit mehrfach unter Beweis gestellt. Durch die staatliche Sozialpolitik ist es gelungen, die Belastungen von zwei Weltkriegen, von Hyperinflation und Währungsreform gleichmäßig zu verteilen und die Gesellschaftsmitglieder entsprechend der jeweiligen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit gegen die sog. „Standardrisiken“ abzusichern. Trotz dieser insgesamt beeindruckenden Bilanz sieht sich der Sozialstaat drängenden Herausforderungen gegenüber, die eine Reform staatlicher Sicherungssysteme erforderlich machen. Die derzeit wichtigsten Herausforderungen für den Sozialstaat sind der demografische Wandel und die Globalisierung.

19

Den Zusammenhang der Grundwerte hat Oswald von Nell-Breuning 1985, S. 115 wie folgt formuliert: „Alle in der Menschennatur und Menschenwürde gründenden Werte bilden ein Sinnganzes; darum kann jeder einzelne Wert nur im Zusammenhang mit allen anderen recht verstanden werden; man kann geradezu sagen, sie konstituieren und interpretieren sich gegenseitig; gerade da, wo sie in Widerspruch miteinander zu geraten scheinen, wird ihre innere Sinnbegrenzung am deutlichsten sichtbar.“

398

16 Bilanz der staatlichen Sozialpolitik

16.5.1 Die erste Herausforderung: Der demografische Wandel Wie alle entwickelten Volkswirtschaften ist Deutschland einem tiefgreifenden demografischen Wandel unterworfen. Die Bevölkerung in Deutschland wird allen demografischen Prognosen zufolge in den kommenden Jahrzehnten abnehmen und deutlich altern. Dieser Alterungsprozess ist auf zwei Ursachen zurückzuführen. Zum einen ist die Geburtenrate in Deutschland deutlich gesunken. Die zusammengefasste Geburtenziffer, also die geschätzte endgültige Kinderzahl je Frau, sank innerhalb von nur zehn Jahren von 2,5 (1965) auf 1,5 (1975). Sie ist seitdem weitgehend konstant geblieben und liegt damit um ein Drittel unterhalb der für die Bestandserhaltung der Bevölkerung erforderlichen Rate von 2,1. Gleichzeitig steigt die Lebenserwartung deutlich an. Die sog. „fernere Lebenserwartung“20 65-Jähriger Männer lag im Jahr 1960 bei etwas über 12 Jahren, jene der Frauen bei 14 Jahren. Sie ist seitdem um etwa sechs Jahre gestiegen und liegt aktuell (2016) bei fast 18 Jahren für Männer und 21 Jahren für Frauen. Bevölkerungsprognosen gehen davon aus, dass die Lebenserwartung auch in Zukunft um ein Jahr pro Dekade steigt (Quelle: Destatis, 14. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung). Neben den Geburten und den Sterbefällen, also der „natürlichen Bevölkerungsbewegung“, wird die demografische Entwicklung auch durch die Migration beeinflusst. Während sich jedoch die natürliche Bevölkerungsbewegung auch über längere Zeiträume relativ genau vorhersagen lässt, ist die Höhe des Migrationssaldos, also der Differenz zwischen Zu- und Abwanderung, eine nur schwer zu prognostizierende Größe. Insofern sind auch demografische Prognosen mit Unsicherheiten verbunden. Nach der aktuellen 14. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamts von derzeit (2018) ca. 83 Mio. Personen wird die Bevölkerung in Deutschland bis zum Jahr 2060 bei einem mittleren Wanderungssaldo von etwas über 200 000 Personen pro Jahr auf 78 Mio. Einwohner sinken. Für die Sozialpolitik ist jedoch nicht so sehr die absolute Größe der Bevölkerung ausschlaggebend, sondern vielmehr die demografische Struktur. Gemäß der amtlichen Vorausberechnungen wird sich der Anteil der Personen im erwerbsfähigen Alter zwischen 20 und 65 Jahren von derzeit 60% auf 52% verringern, während der der 65-Jährigen und Älteren von derzeit 22% auf 31% steigt (vgl. Tabelle 16.5). Allerdings ist der demographische Wandel keine neue Erscheinung. Wie die Daten Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung zeigen, hatte sich die Altersstruktur in Deutschland auch schon in der Vergangenheit signifikant verschoben. Dennoch stellt der demografische Wandel den Sozialstaat vor erhebliche Herausforderungen, da die staatlichen Sozialversicherungssysteme über das Umlageverfahren finanziert werden. Das bedeutet, dass die Leistungen für die nicht mehr Erwerbstätigen aus den laufenden Beiträgen der Erwerbstätigengeneration finanziert werden. Durch diesen sog. „Generationenvertrag“ ist das System sozialer Sicherung stark vom Altersaufbau in der Gesellschaft betroffen. Diese Abhängigkeit eines umlagefinanzierten Sicherungssystems vom demografischen Wandel soll am Beispiel der gesetzlichen Rentenversicherung verdeutlicht werden. Die Einnahmen der GRV ergeben sich aus dem Produkt der Zahl der sozialversicherten Erwerbstätigen (E), dem durchschnittlichen versicherungspflichtigen Arbeitseinkommen (w) und dem Beitragssatz zur GRV (b). Die Ausgaben resultieren aus der Anzahl der Rentner (R) und der durchschnittlichen Rentenhöhe (p). Ein ausgeglichenes Budget erfordert in jeder Periode t, dass die Einnahmen den Ausgaben entsprechen. Somit muss in jedem Jahr gelten: 20

Die „fernere Lebenserwartung“ ist die durchschnittliche Lebenserwartung einer Person, die ein bestimmtes Alter bereits erreicht hat.

16.5 Herausforderungen und ungelöste Aufgaben

399

Tabelle 16.5: Die Altersstruktur der Bevölkerung in Deutschland von 1871 bis 2060 in Prozent Jahr

1871 1939 1960 1980 2000 2020 2040 2060

Jugendquote (0 - 20 J.)

Erwerbsfähigenquote (20 - 65 J.)

Altenquote (65 J.u.m.)

Hochbetagtenanteil (80 J.u.m.)

44 32 28 27 21 18 18 17

51 60 60 57 62 60 53 52

5 8 12 16 17 22 29 31

0 1 2 3 4 7 10 12

Quelle: Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (2018), https://www.bib.bund.de/Permalink.html?id=10203338

Et · w t · b t = R t · pt

(16.1)

Formt man diese Bedingungsgleichung für ein ausgeglichenes Budget um, so erhält man für den notwendigen Beitragssatz: R t pt · . (16.2) bt = Et w t t Diese Gleichung verdeutlicht, dass ein Anstieg der Rentnerquote ( R Et ) in einem umlagefinanzierten Alterssicherungssystem entweder durch ein sinkendes Rentenniveau ( wptt ) oder durch einen steigenden Beitragssatz (b) kompensiert werden muss. Sofern also die Relation von Rentnern zu Erwerbstätigen steigt, müssen entweder die Leistungen gekürzt oder die Beitragsbelastung erhöht werden. Der Nachhaltigkeitsfaktor in der Rentenformel (vgl. dazu Abschnitt 10.3.4) stellt den politischen Versuch dar, die Belastungen des demografischen Wandels sowohl auf die Beiträge wie auf das Leistungsniveau aufzuteilen. Langfristige Projektionen zur Finanzlage der Rentenversicherung zeigen, dass das Netto-Rentenniveau vor Steuern von derzeit (2019) 48% auf unter 42% in 2050 fallen wird, während der Beitragssatz von aktuell 18,6% auf über 24% angehoben werden muss. Ohne Nachhaltigkeitsfaktor würde das Netto-Rentenniveau nur auf 45,5% sinken, der Beitragssatz jedoch auf fast 27% ansteigen.21 Der Gesetzgeber hat als langfristige Obergrenze für den Beitragssatz 22% und für das Netto-Rentenniveau vor Steuern 43% festgelegt (sog. „Doppelte Haltelinie“). Ohne weitere sozialpolitische Maßnahmen können diese politischen Zielgrößen langfristig nicht eingehalten werden. Im Zuge der nun schon mehrere Jahrzehnte umfassenden Reformdiskussion sind zahlreiche Vorschläge zur strukturellen Umgestaltung der gesetzlichen Rentenversicherung gemacht worden.22 Diese Reformvorschläge lassen sich in systemerhaltende und systemverändernde Reformmaßnahmen unterteilen. Als systemerhaltend sind jene Reformen zu verstehen, die an den Grundprinzipien der umlagefinanzierten, prinzipiell lohn- und beitragsfinanzierten Rente fest-

21

Vgl. hierzu Ehrentraut/Moog 2017 sowie Werding 2016. Vgl. dazu Schmähl 1988a (Lit.), Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 1979 und Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 1983, Krupp 1982, Albers 1982, Klanberg/Prinz 1988. Vgl. zu den Reformvorschlägen für die GRV und zu ihrer Beurteilung auch Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 1997. 22

400

16 Bilanz der staatlichen Sozialpolitik

halten, während systemverändernde Reformen diese Finanzierungsprinzipien durchbrechen. Als systemerhaltende Reformvorschläge werden diskutiert a) eine b) eine c) eine d) eine

weitere Anhebung des Renteneintrittsalters, stärkere Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten in der GRV, Modifikation der Rentenformel sowie verstärkte Finanzierung der Rentenversicherung aus Steuermitteln.

Als systemverändernde Reformvorschläge sind zu nennen e) die Einführung einer steuerfinanzierten Grundrente, f) die (partielle oder vollständige) Ersetzung der lohnabhängigen Beitragsfinanzierung durch eine „Wertschöpfungsabgabe“ (sog. „Maschinensteuer“), sowie g) der vollständige Wechsel vom Umlageverfahren zum Kapitaldeckungsverfahren. Die gesetzliche Regelaltersgrenze wird seit 2012 schrittweise vom 65. auf das 67. Lebensjahr angehoben. Für eine weitere Anhebung des Renteneintrittsalters über das 67. Lebensjahr hinaus sprechen die weiter steigende Lebenserwartung sowie die Tatsache, dass sich der Gesundheitszustand der älteren Bevölkerung in der Vergangenheit deutlich verbessert hat und sich auch in Zukunft weiter verbessern wird. Um das Verhältnis zwischen Erwerbstätigen und Ruheständlern einigermaßen konstant zu halten wird deshalb gefordert, das Renteneintrittsalter an die Entwicklung der Lebenserwartung zu koppeln.23 Kritiker verweisen darauf, dass es weiterhin körperlich belastende Tätigkeiten gibt, so dass eine weitere Heraufsetzung des Renteneintrittsalters als unzumutbar erscheint.24 Die Erhöhung der Regelaltersgrenze ist eine systemkonforme Antwort auf die steigende Lebenserwartung, aber nicht auf die nachlassende Geburtenhäufigkeit. Dies könnte durch eine weitergehende Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten in der Rentenversicherung. Entsprechende Reformvorschläge werden bereits seit längerem unter dem Stichwort der „Elternrentenmodelle“ diskutiert; konkrete Reformmodelle wurden von Gallon (1994), Lüdeke (1995) und dem ehemaligen Präsidenten des ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn (2003) vorgelegt. Eine ausführliche Diskussion über Notwendigkeit und Ziele einer familienpolitischen Reform des Systems sozialer Sicherung findet sich in dem 2001 veröffentlichten Gutachten „Gerechtigkeit für Familien“ des wissenschaftlichen Beirats für Familienfragen und in der einschlägigen Arbeit von Martin Werding (1998). Ein weiteres Reformmodell sieht vor, die Formel zur Berechnung von Altersrenten dahingehend abzuändern, dass geringe Rentenanwartschaften auf- und hohe Anwartschaften abgewertet werden. Damit würde die bislang bestehende, strikte Proportionalität zwischen Beitragszahlung und Entgeltpunkten aufgehoben. Befürworter dieses Vorschlags verweisen darauf, dass bei einem sinkenden Rentenniveau der Abstand zwischen geringen Rentenanwartschaften und der Grundsicherung im Alter verschwindet, so dass für Geringverdiener die Beitragszahlungen zur Rentenversicherung reinen Steuercharakter annehmen. Außerdem nimmt die Lebenserwartung statistisch gesehen mit steigendem Einkommen zu, so dass Bezieher höherer Einkommen ohnehin höhere Leistungen aus der Rentenversicherung erhalten. Kritiker halten dem entgegen, dass die Sozialversicherung auch nicht nach anderen Merkmalen wie beispielsweise dem Geschlecht differenziert, obwohl Frauen statistisch gesehen eine höhere Lebenserwartung haben als Männer. 23 24

Börsch-Supan 2007; OECD 2011, S. 81-102; Vogt/Althammer 2016. Vgl. dazu Friedrich-Ebert-Stiftung 2006.

16.5 Herausforderungen und ungelöste Aufgaben

401

Eine einkommensabhängige Modifikation der Rentenformel das Prinzip der Teilhabeäquivalenz durchbrechen und Versicherungs- und Fürsorgeprinzip vermischen. Die Forderung nach einer verstärkten Steuerfinanzierung der gesetzlichen Rentenversicherung begründet sich in den versicherungsfremden Leistungen, die die gesetzliche Rentenversicherung für die Allgemeinheit erbringt. Unter diesen versicherungsfremden Leistungen oder Fremdleistungen sind Leistungen der Sozialversicherung zu verstehen, die in keinem Zusammenhang mit dem Sicherungszweck stehen. Hierzu zählen beispielsweise verteilungspolitisch motivierte Maßnahmen wie die Höherbewertung von Beiträgen während der Berufsausbildung oder die Mindestrente sowie arbeitsmarktpolitisch motivierte Leitungen zur Frühverrentung. Diese Leistungen müssten ordnungspolitisch korrekt über allgemeine Steuermittel finanziert werden, um die Finanzierungslast nicht einseitig den Versicherten aufzubürden. Allerdings trägt der Bund bereits heute über verschiedene Bundeszuschüsse und Beitragszahlungen in erheblichem Umfang zur Finanzierung der gesetzlichen Rentenversicherung bei. Untersuchungen zum quantitativen Umfang der versicherungsfremden Leistungen und der Finanzierung der GRV durch Bundesmittel zeigen, dass derzeit die als versicherungsfremd zu klassifizierenden Maßnahmen durch Steuern abgedeckt sind.25 Problematisch ist jedoch, dass sich diese Zuschüsse nicht unmittelbar an der Höhe der versicherungsfremden Leistungen orientieren, sondern dass sie überwiegend pauschal vergeben werden. Insofern ist nicht auszuschließen, dass die Leistungen des Bundes in Zukunft von der Höhe der versicherungsfremden Leistungen abweichen. Neben diesen Reformvorschlägen, die an den grundlegenden Gestaltungsprinzipien der gesetzlichen Rentenversicherung festhalten und in der ein- oder anderen Form bereits umgesetzt wurden, gibt es auch Reformmodelle, die deutlich weiter gehen und auf eine grundlegende Umgestaltung der GRV abzielen. Hier ist zunächst der Vorschlag zu nennen, das bislang lohn- und beitragsfinanzierte, auf dem Prinzip der Teilhabeäquivalenz beruhende System der Sozialversicherung durch eine einheitliche, steuerfinanzierte Staatsbürger-Grundrente zu ersetzen.26 Befürworter dieses Modells erwarten sich davon eine Verbreiterung der Bemessungsgrundlage und eine Entlastung des Faktors Arbeit sowie eine wirksame Bekämpfung der Altersarmut. Kritiker verweisen darauf, dass steuerfinanzierte Grundrentensysteme das Versicherungsprinzip durchbrechen, also den Zusammenhang zwischen Arbeitsleistung und Altersversorgung auflösen und das Prinzip der Lebensstandardsicherung aufgeben. Des Weiteren wird auch das demografisch bedingte Finanzierungsproblem nicht wesentlich entschärft, da steuerfinanzierte Systeme ebenso wie die beitragsfinanzierte Sozialversicherung auf dem Umlageverfahren beruhen. Auch die internationale Entwicklung spricht gegen die Einführung einer steuerfinanzierten Grundrente. Denn in den vergangenen Jahrzehnten wurden zahlreiche steuerfinanzierte Grundrentensysteme durch beitragsfinanzierte Sozialversicherungssysteme ergänzt, um das Ziel der Lebensstandardsicherung im Alter erreichen zu können.27 Bei der Wertschöpfungsabgabe wird der Arbeitgeberbeitrag zur Sozialversicherung nicht mehr über die Lohnsumme, sondern über die Bruttowertschöpfung eines Unternehmens bestimmt. Die Bruttowertschöpfung entspricht dem Produktionswert eines Unternehmens abzüglich den Vorleistungen, umfasst also neben den Arbeitseinkommen auch die Kapitaleinkommen, Gewinne und Abschreibungen. Damit würde nicht nur der Faktor Arbeit, sondern auch der Faktor Kapital 25

Zu den versicherungsfremden Leistungen in der GRV vgl. Raffelhüschen/Moog/Vatter 2011 sowie Fichte 2011. 26 Vgl. zur Geschichte, den Ausgestaltungsmöglichkeiten und den Problemen von Grundrenten Schmähl 1988c, Klanberg/Prinz 1988 sowie Krupp/Weeber 1997. 27 Vgl. hierzu insbes. Schmähl 1997, S. 417 ff.

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16 Bilanz der staatlichen Sozialpolitik

an der Finanzierung des Sozialstaats beteiligt. Kritiker der Wertschöpfungsabgabe befürchten eine geringere Investitionsneigung, die letztlich Arbeitsplätze gefährdet.28 Am intensivsten wurde – vor allem von Ökonomen – ein vollständiger Übergang vom Umlagezum Kapitaldeckungsverfahren diskutiert. Von diesem Umstieg erwartet man sich eine Entkoppelung der Rentenfinanzierung von der demografischen Entwicklung und eine höhere Rendite der eingezahlten Beiträge. Damit könnte ein gegebenes Versorgungsniveau mit geringeren Beiträgen realisiert werden.29 Dieser Vorschlag wurde vor allem deshalb nicht aufgegriffen, weil eine solche Systemumstellung innerhalb überschaubarer Zeiträume nicht finanzierbar ist. Denn für eine Jahrzehnte dauernde Übergangsperiode müssten sowohl die bisher erworbenen Ansprüche eingelöst als auch zusätzlich ein gigantischer Kapitalstock aufgebaut werden (vgl. dazu Schmähl 1990). Für die Beibehaltung umlagefinanzierter sozialer Sicherungssysteme spricht weiterhin, dass die Umlagefinanzierung eine flexiblere Anpassung an wechselnde Erfordernisse zulässt als Kapitalfonds. Dies gilt insbesondere in Zeiten politischer und wirtschaftlicher Instabilität und in Krisensituationen. So war die Übertragung des westdeutschen Systems sozialer Sicherung auf die neuen Bundesländer im Zuge der deutschen Wiedervereinigung nur in einem umlagefinanzerten System möglich. Auch die Krise auf den Finanzmärkten in den Jahren 2008/09 hat gezeigt, dass eine langfristig tragfähige Alterssicherung nicht ausschließlich auf dem Kapitaldeckungsverfahren beruhen kann, sondern auf eine starke umlagefinanzierte Säule angewiesen ist. Des Weiteren ist fraglich, ob für die kapitalgedeckte Alterssicherung genügend rentable und hinreichend sichere Anlagemöglichkeiten vorhanden sind. Durch die Finanzmarktkrise und die dauerhafte Niedrigzinsphase an den Kapitalmärkten ist das Vertrauen in die Stabilität einer kapitalgedeckten Alterssicherung massiv beschädigt worden. Und schließlich ist theoretisch noch nicht geklärt, ob die Rendite kapitalgedeckter Finanzierungsformen nicht auch vom demografischen Wandel betroffen ist.30

16.5.2 Die zweite Herausforderung: Der Einflusses der Globalisierung auf das System sozialer Sicherung a) Definition Unter Globalisierung versteht man den Prozess der zunehmenden Verdichtung des internationalen Wirtschaftsverkehrs, d. h. den nahezu weltweit ablaufenden Prozess zunehmender Vernetzung von Güter-, Dienstleistungs-, Kapital- und Arbeitsmärkten. Die ökonomische Globalisierung hat sowohl politische wie technologische Ursachen. Politisch ist die Globalisierung auf eine systematisch betriebene Politik der Beseitigung politischer und administrativer Barrieren für den grenzüberschreitenden Verkehr von Produktionsfaktoren, Gütern und Dienstleistungen zurückzuführen. Diese Entwicklung beginnt unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg mit dem 28

Vgl. dazu Schmähl/Henke/Schellhaaß 1984, Bach/Beznoska/Steiner 2017, Huchzermeier/Rürup 2018. Vgl. hierzu Börsch-Supan 1998; World Bank 1994; Schnabel 1998. 30 Auf die Demografieabhängigkeit kapitalfundierter Alterssicherungssysteme wurde schon frühzeitig durch Mackenroth (1952) hingewiesen. Aktuell wird dieses Problem unter dem Stichwort der asset melt down Hypothese bzw. der „Sparschwemme“ diskutiert; vgl. Brooks 2000, Brooks 2002, Poterba 2001 und Fehr/ Jokisch 2006. 29

16.5 Herausforderungen und ungelöste Aufgaben

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allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen (GATT)31 und wurde mit der Welthandelsorganisation (WTO)32 konsequent fortgeführt. Es ist das erklärtes Ziel dieser Politik, die internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit zu vertiefen und die Möglichkeiten der grenzüberschreitenden Arbeitsteilung auszuschöpfen. Noch weiter gehen die politischen Bemühungen um eine verstärkte ökonomische Integration in den Freihandelszonen Nord- und Lateinamerikas, Südostasiens und Südafrikas.33 Besonders ausgeprägt ist diese Politik in der Europäischen Union, deren Mitglieder eine gemeinsame Zoll- und Handelspolitik betreiben und – mit bestimmten Übergangsfristen für die neu hinzugekommenen Mitgliedsstaaten – innerhalb ihrer Grenzen den vollständig freien Verkehr von Gütern und Dienstleistungen, Kapital und Arbeit garantieren. Die technologischen Voraussetzungen der ökonomischen Globalisierung sind in erheblich gesunkenen Kommunikations- und Transportkosten zu sehen. Dadurch werden Unternehmen frei in der Wahl ihres Produktionsstandorts und der Absatzmärkte. Unternehmen können multinational agieren und ihre Produktionsprozesse internationalisieren. Beide Ursachen haben die räumlichen und zeitlichen Barrieren für die internationale Mobilität von Informationen, Produktionsfaktoren, Gütern und Dienstleistungen drastisch reduziert, d.h. die Überwindung von Raum und Zeit beschleunigt und verbilligt.

b) Wirkungen auf das Niveau staatlicher Sozialpolitik Der Einfluss der ökonomischen Globalisierung auf den Umfang sozialstaatlicher Maßnahmen entwickelter Volkswirtschaften ist sowohl theoretisch wie empirisch umstritten. Grundsätzlich ist festzuhalten, dass das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen im Zuge der Globalisierung gestiegen ist und dass sich die globale Armut in den letzten Dekaden deutlich verringert hat (vgl. Sala-i Martin 2006). Damit ist die Problemlösungsfähigkeit, also eine der wesentlichen Determinanten der Entwicklung staatlicher Sozialpolitik, durch die Globalisierung gestiegen. Die Globalisierung gibt den Unternehmen jedoch auch die Möglichkeit, ihre Standortentscheidung an den Belastungen durch Steuern und Sozialstandards auszurichten und zwingt die Staaten zu einem institutionellen Wettbewerb um niedrige Sozialleistungen. Insofern ist unklar, wie sich die Globalisierung auf den Umfang staatlicher Sozialpolitik in den entwickelten Volkswirtschaften ausgewirkt hat. In einer breit angelegten Untersuchung über 18 OECD-Staaten erhalten Garret/Mitchell 2001 für den Zeitraum 1961 bis 1993 keine bzw. keine signifikant negativen Effekte der Globalisierung (gemessen an der Außenhandelsverflechtung, ausländischen Direktinvestitionen und Offenheit der Finanzmärkte) auf das Volumen der Sozialleistungen. Auch Dani Rodrik weist für offene Volkswirtschaften höhere öffentliche Ausgaben nach (Rodrik 1998). Der Aussagegehalt dieser Untersuchungen ist jedoch umstritten. Globalisierungskritiker weisen – neben methodischen Schwierigkeiten – darauf hin, dass die Globalisierung neue sozialpolitische Probleme schafft und Erwerbsverläufe und Einkommenschancen unsicherer werden. Um das Ausmaß 31 General Agreement on Tariffs and Trade vom 30.10.1948; die Bundesrepublik Deutschland ist diesem internationalen Vertragssystem am 01.10.1951 beigetreten. 32 Die Welthandelsorganisation, gegründet am 16.04.1994, ist die Dachorganisation der internationalen Verträge General Agreement on Tariffs and Trade (GATT), General Agreement on Trade and Services (GATS) und dem Agreement on Trade-Related Aspects of International Property Rights (TRIPS). 33 Zu nennen sind hier das United States-Mexico-Canada Agreement (USMCA), das das North American Free Trade Agreement (NAFTA) abgelöst hat, der Mercado Comun del Sur (Mercosur), die ASEAN Free Trade Area (AFTA) sowie der Common Market for Eastern and Southern Africa (COMESA).

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16 Bilanz der staatlichen Sozialpolitik

an sozialer Sicherheit konstant zu halten, müsste der Sozialstaat unter den Bedingungen der Globalisierung somit eher aus- als abgebaut werden. Befürworter eines freien Wettbewerbs von Sozialsystemen beziehen sich auf die Theorie des Wettbewerbsföderalismus (Tiebout-Modell). Diese Theorie überträgt das Modell des freien Wettbewerbs für private Güter und Dienstleistungen auf den Wettbewerb um Regelsysteme. Danach sind Gebietskörperschaften Anbieter von öffentlichen Gütern und Diensten, die untereinander in Standortkonkurrenz treten. Die mobilen wirtschaftlichen Akteure wandern dann in jene Jurisdiktion, deren spezifisches Angebot an öffentlichen Gütern und ihrer Finanzierung ihren Präferenzen am nächsten kommt. Der Systemwettbewerb hat nach dieser Auffassung eine statische und eine dynamische Funktion. In statischer Hinsicht legt der Systemwettbewerb ineffiziente wirtschafts- und sozialpolitische Strukturen offen und führt zu einer Korrektur überhöhter sozialer Leistungsausgaben. Dadurch wird der Sozialstaat den Präferenzen der Bürger angepasst. Zum anderen stellt der Systemwettbewerb einen dynamischen Prozess der „Entdeckung“ neuer sozialstaatlicher Lösungen dar, die den Unterschieden in der ökonomischen Ausstattung oder den kollektiven Präferenzen Rechnung tragen. Allerdings ist das freie Migrationsgleichgewicht nur unter sehr restriktiven Bedingungen ökonomisch effizient. Diese Bedingungen müssen gerade im Bereich der Sozialpolitik als nicht erfüllt angesehen werden.34 Ein wesentlicher Grund für das Versagen des Systemwettbewerbs sind externe Effekte, die sozialstaatliches Handeln unter den Jurisdiktionen generiert. Diese Externalitäten sind besonders offensichtlich im Fall der Umverteilung. Denn unter den Bedingungen freier Mobilität werden diejenigen, die aufgrund ihrer soziodemografischen Faktoren zu den Nettoempfängern von Sozialleistungen zählen, in die Jurisdiktionen mit hohem Umverteilungsvolumen wandern, während die Nettozahler einen Anreiz haben, diese Gebietskörperschaft zu verlassen. Länder mit einem ausgebauten System sozialer Sicherung wirken damit wie ein „Wohlfahrtsmagnet“ (vgl. hierzu Borjas 1999). Auf die ausgebauten Sozialstaaten wird damit sowohl von der Ausgaben- wie von der Einnahmenseite ein ökonomischer Druck ausgeübt, ihre sozialpolitischen Leistungen zu reduzieren. Dieses Mobilitätsverhalten kann von strategisch handelnden Jurisdiktionen auch ausgenutzt werden, um ihr spezifisches Preis-Leistungsverhältnis bei der Erstellung sozialer Leistungen zu optimieren. Denn eine Verringerung der Sozialstandards führt zur Abwanderung von Nettoempfängern und zu einer Zuwanderung von Nettozahlern. Dies entlastet die öffentlichen Haushalte des Landes, das einen Sozialabbau vornimmt. Allerdings werden die übrigen Jurisdiktionen auf diese Unterbietungsstrategie mit einer gleichgerichteten Politik reagieren; es kommt somit zu einem ineffizienten sozialpolitischen race-to-the-bottom.

c) Wirkungen auf die Finanzierungsstruktur staatlicher Sozialpolitik Etwas zuverlässiger als über den Umfang sozialstaatlicher Leistungen lassen sich Aussagen über den Einfluss der Globalisierung auf die Finanzierungsstruktur des Sozialstaats treffen. Unter den Bedingungen weitgehend unbeschränkter Faktormobilität lassen sich dauerhaft nur jene Produktionsfaktoren zur Finanzierung sozialstaatlicher Leistungen heranziehen, die sich aufgrund von Mobilitätsbarrieren nur schwer dem fiskalischen Zugriff entziehen können. Die Finanzierung des Sozialstaats folgt damit dem finanzwissenschaftlichen Grundsatz der „inversen Elastizitätsregel“. Diese Regel besagt, dass die Höhe des Steuersatzes indirekt proportional zur Reaktion 34

Vgl. insbes. Sinn 2007 sowie die dort angegebene Literatur.

16.5 Herausforderungen und ungelöste Aufgaben

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der Bemessungsgrundlage erfolgen soll. Damit verlagert sich jedoch die Finanzierung des Sozialstaats vom Faktor Kapital zunehmend auf den Faktor Arbeit bzw. auf den Konsum. Diese Entwicklung ist international feststellbar. So verfügen jene Länder, in denen das soziale Sicherungssystem überwiegend aus Steuermitteln finanziert wird, mittlerweile über ein „duales“ Einkommensteuersystem, wonach Arbeitseinkommen progressiv und Kapitaleinkünfte moderat proportional besteuert werden. Des Weiteren wird in verstärktem Maße die Konsumbesteuerung zur Finanzierung staatlicher Sozialpolitik herangezogen.

16.5.3 Weitere ungelöste Aufgaben Neben den sozialpolitischen Herausforderungen des demografischen Wandels und der Globalisierung gibt es noch eine Reihe weiterer ungelöster Aufgaben staatlicher Sozialpolitik. Zu nennen sind hier insbesondere: 1. Eine verbesserte Absicherung von Personen in prekärer Beschäftigung. Während Beschäftigte in einem sog. „Normalarbeitsverhältnis“ – also einer ununterbrochenen, sozialversicherungspflichtigen Vollzeitbeschäftigung – in Deutschland einen vergleichsweise hohen sozialen Schutz genießen, sind Menschen in sog. „prekären“ Beschäftigungsverhältnissen vielfach unzureichend gegen die Standardrisiken abgesichert. Zwar ist nicht jeder atypisch Beschäftigte zugleich prekär beschäftigt, da in vielen Fällen eine atypische Beschäftigung nur als Nebentätigkeit oder Hinzuverdienst ausgeübt wird. Sofern jedoch die atypische Beschäftigung den Haupterwerb darstellt, können gravierende Sicherungslücken für die Beschäftigten entstehen. Dies betrifft vor allem Solo-Selbständige sowie befristet oder geringfügig Beschäftigte. Sicherungslücken bestehen auch für Berufsanfänger während der Wartezeit in der GRV für den Fall einer Erwerbsunfähigkeit. 2. Der Abbau verteilungspolitischer Ungereimtheiten im System sozialer Sicherung. Diese Ungereimtheiten können zum einen dadurch zustande kommen, dass Erwerbseinkünfte kumulativ auf mehrere Transferleistungen angerechnet werden. Wenn ein Haushalt z.B. Wohngeld und Kinderzuschlag bezieht, dann werden Erwerbseinkünfte zu ca. 30-50% auf das Wohngeld35 und zu 45% auf den Kinderzuschlag angerechnet. Die kumulierte Transferentzugsrate liegt somit bei 75-95%. Verteilungspolitische Ungereimtheiten ergeben sich auch durch bestimmte Mindestversicherungszeiten in der Sozialversicherung. So ist beispielsweise eine bestimmte Vorversicherungszeit in der GKV erforderlich, damit Rentner in der Krankenversicherung der Rentner versichert sind. In diesen Fällen können wenige Wochen Versicherungszeit ausschlaggebend dafür sein, ob ein Leistungsanspruch besteht oder nicht (sog. „Sprungstellenproblematik“). 3. Die Finanzierung versicherungsfremder Leistungen durch Steuern. Derzeit (2019) überweist der Bund 115 Mrd. e an die Sozialversicherungsträger; das entspricht in etwa einem Drittel der staatlichen Gesamtausgaben. Diese Leistungen erfolgen jedoch überwiegend pauschaliert, d.h. ohne Bezug zur genauen Höhe der versicherungsfremden Leistungen. Damit ist völlig unklar, ob die Summe der Bundeszuschüsse ausreicht, um die versicherungsfremden Leistungen

35

Die Transferentzugsraten variieren mit der Miete und dem Einkommen, so dass sich hier nur ein grober Bereich angeben lässt.

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16 Bilanz der staatlichen Sozialpolitik

abzudecken, oder ob der Staatshaushalt - wie das in der Vergangenheit der Fall war - durch Sozialversicherungsbeiträge quersubventioniert wird. 4. Eine Ergänzung des auf dem Äquivalenzprinzip beruhenden Alterssicherungssystems durch bedarfsorientierte Elemente. Eine verteilungspolitisch orientierte Ergänzung der Rentenversicherung wird notwendig, da in den kommenden Jahren verstärkt Personen mit unterbrochenen Erwerbsbiografien und damit mit erheblichen Versicherungslücken in den Ruhestand treten werden. Dadurch werden in vielen Fällen die auf dem Äquivalenzprinzip beruhenden Ansprüche nicht mehr ausreichen, um Altersarmut zu verhindern. Neben der Notwendigkeit, die im vorhergehenden aufgeführten Aufgaben zu bewältigen, erscheint es uns v. a. erforderlich, den Bedarf an Sozialpolitik als Schutzpolitik, als Politik der Korrektur des Wirtschaftsprozesses und als „nachsorgende“ Sozialpolitik dadurch zu verringern, dass alle relevanten Bereiche politischen Handelns an sozialpolitischen Zielsetzungen und am Ziel der prophylaktischen Vermeidung von Sozialkosten orientiert, also sozialordnungskonform ausgestaltet werden. Die Dringlichkeit einer sozialpolitischen Orientierung der primär nicht sozialpolitischen Handlungsfelder wird um so größer, je mehr Bereiche von Wirtschaft und Gesellschaft durch den wirtschaftlichen und sozialen Wandel erfasst werden und je schneller sich dieser Wandel vollzieht. Denn mit dem Ausmaß und der Geschwindigkeit dieses Wandels wächst die Gefahr der Verletzung der Ziele sozialer Stabilität, sozialer Sicherheit und sozialen Friedens. Eine sozialpolitische Ausrichtung der wirtschaftspolitischen Handlungsfelder des Bundes und der Länder – insbes. der Bildungs-, der Geld- und Währungs- sowie der Wettbewerbspolitik und der Kommunalpolitik (vgl. dazu ausführlicher Lampert 1980) – kann erheblich dazu beitragen, durch die Vermeidung negativer sozialer Effekte den Bedarf an sozialpolitischen Korrekturen zu verringern. Durch die zuletzt angestellten Überlegungen ist gleichzeitig deutlich geworden, dass die neuzeitliche staatliche Sozialpolitik nicht als ein Handlungsfeld definiert werden kann, das durch Korrekturen und Interventionen gekennzeichnet und primär auf wirtschaftliche und soziale Hilfe für wirtschaftlich schwache Bürger gerichtet ist. Eine rationale Sozialpolitik greift weit über den Bereich des sozialen Schutzes, der sozialen Sicherung und des sozialen Ausgleichs hinaus. Sie muss als eine „soziale Politik“ (Zwiedineck-Südenhorst 1911, S. IV) im Sinne einer Ausrichtung aller Politikbereiche an dem gesellschaftlich anerkannten sozialpolitischen Zielsystem verstanden werden. Mit dem gleichen Recht, mit dem Sozialpolitik Konformität gegenüber der marktwirtschaftlichen Ordnung abverlangt wird, muss auch von der allgemeinen Wirtschaftspolitik Konformität gegenüber der Sozialordnung eingefordert werden.

16.6 Reform, Umbau und Konsolidierung des Sozialstaates 16.6.1 Reichweite sozialpolitischer Reformen Durch die bisherige Darstellung der Defizite, Fehlentwicklungen und der absehbaren Herausforderungen staatlicher Sozialpolitik sollte deutlich geworden sein, dass der Sozialstaat in vielfacher Hinsicht reformiert und weiterentwickelt werden muss. Derartige, teilweise auch tiefgreifende Reformen sind in der Sozialpolitik aber nichts Neues: tatsächlich war es seit dem Beginn der staatlichen Sozialpolitik immer wieder notwendig, den Sozialstaat an geänderte wirtschaftliche,

16.6 Reform, Umbau und Konsolidierung des Sozialstaates

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soziale und demografische Rahmenbedingungen anzupassen. In den vergangenen Jahren wurde jedoch die Kritik am Sozialstaat immer grundlegender. Häufig wird die Zukunftsfähigkeit des Systems sozialer Sicherung generell in Frage gestellt. Vor diesem Hintergrund wurden Vorschläge entwickelt, die nicht mehr nur einzelne sozialpolitische Bereiche betreffen, sondern auf eine systemverändernde Fundamentalreform staatlicher Sozialpolitik hinauslaufen. Dieser Forderung nach einer Fundamentalkorrektur des gesamten Sozialstaats liegt zunächst die Diagnose eines Totalversagens staatlicher Sozialpolitik zugrunde. Danach ist der bestehende Sozialstaat ein Relikt des 19. Jahrhunderts, das den Herausforderungen der Digitalisierung und der modernen Dienstleistungsgesellschaft nicht mehr gerecht werden kann. Der Sozialstaat habe sich überholt; er sei ein „Auslaufmodell“ (Werner 2006) und stehe vor dem „Offenbarungseid“ (Ludwig-Erhard-Stiftung 1996). Vorschläge für eine Fundamentalreform des Sozialstaats sind z.B. die Ersetzung des Systems sozialer Sicherung durch ein bedingungsloses Grundeinkommen oder der vollständige Umstieg vom Umlage- zum Kapitaldeckungsverfahren. Allerdings halten nach der Einschätzung zahlreicher wissenschaftlicher Sozialpolitiker weder die Zustandsbeschreibung noch die Ursachendiagnose einer kritischen Überprüfung stand.36 Teilweise wurden die Zusammenhänge geradezu auf den Kopf gestellt: So wurden häufig die steigenden Sozialleistungen als Ursache für die hohe Arbeitslosigkeit der 1990er Jahre angesehen, während tatsächlich die hohe Arbeitslosigkeit der Hauptgrund für die Expansion der Sozialleistungen war. Außerdem sind die allokativen und die verteilungspolitischen Folgen eines grundlegenden sozialpolitischen Systemwechsels weitgehend unbekannt. Bereits bei weitaus geringfügigeren Sozialreformen sind die tatsächlichen Wirkungen dieser Maßnahmen deutlich hinter den erwarteten zurückgeblieben. So ist die Absicherung durch die staatlich geförderte private Alterssicherung („Riesterrente“) deutlich geringer als ursprünglich erwartet. Auch die beschäftigungspolitischen Effekte der vier „Gesetze für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ (sog. „Hartz-Reformen“) sind erkennbar hinter den ursprünglichen Erwartungen zurückgeblieben. Diese Unsicherheiten über die sozialpolitischen Folge- und Nebenwirkungen sind bei einer Fundamentalkorrektur des gesamten Systems sozialer Sicherung nochmals um ein Vielfaches höher. Wer sich mit dem Sozialstaat und den sozialpolitischen Handlungsfeldern näher befasst hat, weiß, dass es sich bei diesen sozialpolitischen Bereichen um zahlreiche, jeweils außerordentlich komplexe Systeme mit jeweils Hunderten von Normen und Regelungen handelt. Er weiß auch, unter welchen Schwierigkeiten grundlegende Reformen des Systems sozialer Sicherung zustande kamen. Allen erfolgreichen Reformen gingen jahrelange intensive Diskussionen im wissenschaftlichen und im politischen Bereich voraus; die Zahl der im Zusammenhang mit diesen Reformen erschienenen Veröffentlichungen, die Kontroversen zwischen verschiedenen politischen Gruppierungen sowie zwischen Parteien und den durch die Reformvorhaben betroffenen Gruppen haben deutlich gemacht, wie viel analytischer Aufwand erforderlich ist, um einige wenige Systemteile partiell zu ändern. Ähnlich ist es mit anderen Reformvorhaben. Der seit Jahrzehnten geforderte Subventionsabbau fand in nennenswertem Umfang bis heute nicht statt. Die Einführung einer sozialen Pflegeversicherung wurde trotz ihrer hohen Dringlichkeit viele Jahre blockiert. Diese Erfahrungen zeigen, dass soziale Reformen nur in relativ kleinen Schritten möglich sind. Die Reform des Sozialstaats wird deshalb immer ein trial and error Verfahren im Sinne eines Popper’schen picemeal social engineering sein. Dennoch müssen sich auch schrittweise Reformmaßnahmen an einem bestimmten sozialpolitischen Leitbild orientieren, um die Einzelmaßnahmen in ein

36

Vgl. zu dieser Problematik die Beiträge von Bäcker 1995; Hauser/Badelt 1997 sowie Kaufmann 2004.

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16 Bilanz der staatlichen Sozialpolitik

kohärentes Gesamtkonzept einzufügen. Die in der Literatur diskutierten Leitbilder staatlicher Sozialpolitik werden im Folgenden überblicksartig dargestellt.

16.6.2 Sozialpolitische Leitbilder Aus der unterschiedlichen Gewichtung der politischen Ziele Freiheit, Gerechtigkeit und soziale Sicherheit ergeben sich unterschiedliche sozialphilosophische Positionen, an denen sich eine Reform des Sozialstaats ausrichten kann. In der Literatur lassen sich im Wesentlichen vier Leitbilder ausmachen, die als Orientierungsrahmen für sozialstaatliche Reformmaßnahmen dienen (vgl. zu dieser Leitbilddiskussion auch Esping-Andersen 1989; Boeckh et al. 2015a; Boeckh et al. 2015b; Nullmeier 2013): 1. Das u.a. von Friedrich August v. Hayek und Robert Nozick, aber auch von zahlreichen liberalen Ökonomen vertretene Leitbild des Minimalstaats orientiert sich am Ziel größtmöglicher formaler Freiheit des Einzelnen. Es gesteht Staat und Gesellschaft nur minimale Eingriffsrechte zur Durchsetzung innerer und äußerer Sicherheit und zur Sicherung von Eigentumsrechten zu. Die Daseinsvorsorge ist eigenverantwortlich über private Versicherungen zu organisieren, Umverteilung sollte primär auf freiwilliger Basis und durch karitative Einrichtungen erfolgen. Nach diesem Leitbild wirkt der Sozialstaat durch Zwangsabgaben und die Versicherungspflicht freiheitszerstörend. Der Begriff der sozialen Gerechtigkeit gilt als fata morgana37 oder als ein weasle word (Hayek), also als ein inhaltsleerer Begriff. Eine aktive Umverteilungspolitik ist somit schon im Grundsatz verfehlt. Sofern eine sozialstaatliche Verteilungspolitik überhaupt befürwortet wird, hat sie allenfalls die Funktion, das bestehende Gesellschaftssystem zu stabilisieren.38 2. Nach dem Leitbild des kompensatorischen Sozialstaats ist es die primäre Aufgabe staatlicher Sozialpolitik, die sozialen Folgewirkungen marktwirtschaftlicher Systeme abzumildern und politisch zu gestalten. Der Sozialstaat reagiert auf ein Versagen von Arbeits- und Versicherungsmärkten und gleicht Unterschiede in der Lebenslage aus, ohne jedoch die Legitimität der marktwirtschaftlichen Ordnung selbst in Frage zu stellen. 3. Nach dem Leitbild des aktivierenden Sozialstaats (social investment state)39 besteht die Aufgabe staatlicher Sozialpolitik vor allem darin, den Einzelnen in die Lage zu versetzen, sich aktiv in Wirtschaft und Gesellschaft einzubringen, um individualisierte Leistungsansprüche durch Erwerbsarbeit zu erwerben. Die gesellschaftliche Integration erfolgt dabei vor allem durch Investitionen in das Humankapital des Einzelnen. Die Bildungspolitik in allen ihren Facetten – von der frühkindlichen Bildung über die Aus- und Weiterbildung bis zum lebenslan37

Nach Hayek gehört der Begriff der sozialen Gerechtigkeit „nicht in die Kategorie des Irrtums, sondern in die des Unsinns, wie der Ausdruck‚ ein moralischer Stein“ (Hayek 1981, S. 112). Zur Kritik an dieser Position vgl. Frey 2003. 38 Auf der Grundlage dieses Konzepts und unter Rückgriff auf die Konstitutionenökonomik James Buchanans interpretieren die Wirtschaftsethiker Karl Homann und Ingo Pies den Sozialstaat als eine Art gesellschaftlicher „Duldungsprämie“. Die Zahlungen an den Sozialstaat werden als eine Gegenleistung für die Zustimmung breiter Bevölkerungsschichten zur bestehenden Wirtschafts- und Eigentumsordnung interpretiert. Der Sozialstaat hat somit ausschließlich die Funktion, die bestehende Gesellschaftsordnung zu stabilisieren. 39 Der „aktivierende“ Sozialstaat wird teilweise auch als „vorsorgender“ Sozialstaat bezeichnet, das Leitbild des „kompensatorischen“ Sozialstaats in Abgrenzung hierzu als „nachsorgender“ Sozialstaat.

16.6 Reform, Umbau und Konsolidierung des Sozialstaates

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gen Lernen – ist damit ein integraler Bestandteil dieser sozialstaatlichen Konzeption. Weitere Elemente sind Anreize zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit und Maßnahmen zur Förderung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Kritiker sehen in diesem Ansatz eine Verengung der Perspektive auf „aktivierungsfähige“ Personen und eine konzeptionelle Vernachlässigung jener Gruppen, die sich dem Aktivierbarkeitsparadigma entziehen (Pflegebedürftige, Erwerbsunfähige, aber auch kinderreiche Familien).40 4. Im Leitbild des emanzipatorischen bzw. demokratischen Sozialstaats ist das Sozialstaatsgebot das zentrale Verfassungsprinzip.41 Danach hat der Staat die Aufgabe, die Gesellschaft aktiv zu verändern, die Wirtschaft zu demokratisieren und die Selbstentfaltung des Individuums zu gewährleisten. Das Leitbild, das der Verfassungswirklichkeit in Deutschland wohl am nächsten kommt, kann als subsidiärer Sozialstaat umschrieben werden. Es umfasst Elemente des kompensatorischen und des investiven Sozialstaatsmodells. Nach diesem Leitbild sind die individuelle Freiheit, die soziale Sicherheit und die soziale Gerechtigkeit gesellschaftliche Grundziele, die von der Wirtschaftsund Sozialordnung gleichrangig zu verfolgen sind. Der Markt wird grundsätzlich als Koordinationsmechanismus im wirtschaftlichen Bereich akzeptiert, seine sozialen Folgen müssen jedoch gesellschaftlich bewertet und gegebenenfalls politisch gestaltet werden. Politische Eingriffe in die Eigentumsordnung und in den Preisbildungsprozess sind zwar prinzipiell zulässig, sind aber stets eigenständig rechtfertigungspflichtig. Gemäß dem Subsidiaritätsprinzip ist der Einzelne für seine Daseinsvorsorge zunächst selbstverantwortlich; der Staat muss jedoch die Bedingungen schaffen, die eine selbstverantwortliche Daseinsvorsorge ermöglichen. Zu diesen Rahmenbedingungen zählen neben entsprechenden sozialpolitischen Institutionen auch aktivierende Maßnahmen der Sozialpolitik. Natürlich können Leitbilder nur die grobe Richtung angeben, in der man nach Lösungen sucht. Aus den Leitbildern müssen operationalisierbare Ziele abgeleitet werden, aus denen anschließend konkrete Politikmaßnahmen abgleitet werden. Denn, wie schon die Transfer-EnquêteKommission bemerkte, beschreiben „Formeln, wie Freiheit oder Sicherheit oder Freiheit oder Zwang höchst unvollkommen die Alternativen, um die es geht. Sie helfen überdies bei der Kompromissfindung nicht weiter.“ (Transfer-Enquête-Kommission 1981, S. 298).

16.6.3 Reformprinzipien a) Das Kernprinzip: Ordnungskonformität In der ordnungspolitischen Sozialstaatsliteratur spielt die Ordnungskonformität der Sozialpolitik als Reformprinzip eine herausragende Rolle. Unter einer ordnungskonformen Sozialpolitik ist eine Politik zu verstehen, die an den gesellschaftlichen Grundwerten und den wirtschaftspolitischen Grundzielen ausgerichtet ist und die sich in die gewählte Wirtschafts- und Sozialordnung friktionsfrei einfügt. Zahlreiche Ökonomen verstehen unter einer ordnungskonformen Sozialpolitik eine Politik, die ausschließlich marktkonforme Instrumente einsetzt und nicht in 40

Vgl. dazu Ullrich 2003. Esping-Andersen spricht in diesem Zusammenhang vom sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat. Vgl. zu diesem Leitbild auch Lessenich/Möhring-Hesse 2004.

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16 Bilanz der staatlichen Sozialpolitik

den Preisbildungsmechanismus eingreift. Die Sozialordnung wird hier als Teilordnung der Wirtschaftsordnung aufgefasst. Diese Einordnung ist fragwürdig, da sie sozialpolitische Ziele wirtschaftspolitischen Zielen unterordnet. Es ist zwar ökonomisch rational, ein sozialpolitisches Ziel mit marktkonformen Mitteln zu verwirklichen, wenn es sich dadurch realisieren lässt. Gerade in der Sozialpolitik gibt es aber zahlreiche Probleme, die sich mit marktkonformen Instrumenten nicht lösen lassen. Denn der Sozialstaat wird immer dann aktiv, wenn der Markt versagt oder die Verteilungsergebnisse des Marktes gesellschaftlich nicht akzeptiert werden.42 Der Einsatz nicht marktkonformer Instrumente ist z. B. in der Betriebsverfassung oder auf den Arbeitsmärkten unvermeidlich. Abgesehen davon besteht in der Sozialen Marktwirtschaft zwischen der Sozialund der Wirtschaftsordnung kein Über- oder Unterordnungsverhältnis. Die Sozialordnung und die Wirtschaftsordnung sind Teilordnungen der Gesellschaftsordnung, wobei Sozial- und Wirtschaftsordnung auf derselben Hierarchieebene angesiedelt sind. Es entspricht deshalb sowohl der Logik der Sozialen Marktwirtschaft wie dem ordnungspolitischen Grundsatz der Interdependenz der Teilordnungen, den Grundsatz der Marktkonformität der Sozialpolitik durch den Grundsatz einer möglichst weitgehenden Sozialordnungskonformität der Wirtschaftspolitik zu ergänzen (dazu ausführlich Lampert 1992b).

b) Prinzipien ordnungskonformer Sozialpolitik Wenngleich also das Prinzip einer marktkonformen Sozialpolitik nicht verabsolutiert werden darf, ist es doch ordnungspolitisch geboten und ökonomisch rational, dieses Prinzip überall da anzuwenden, wo sozialpolitische Ziele mit marktkonformen Mitteln und ohne Abstriche am sozialpolitischen Gehalt erreicht werden können. In diesem Sinne verdienen folgende Prinzipien Beachtung, die als Prinzipien erster Ordnung bezeichnet werden können: 1. Das Prinzip der Ausrichtung staatlicher Sozialpolitik an den Grundwerten der Gesellschaftsordnung. Dies bedeutet, dass die Sozialpolitik die Realisierung der individuellen Freiheit, der Menschenwürde, der Selbstverantwortung, der Solidarität und der Subsidiarität möglichst fördern, sie jedenfalls nicht bzw. möglichst wenig einschränken soll.43 2. Das Prinzip der Sicherung höchstmöglicher Wirtschaftssystemverträglichkeit der eingesetzten sozialpolitischen Mittel. Die Sozialpolitik muss danach so ausgestaltet werden, dass die Funktionsfähigkeit des Wirtschaftssystems nach Möglichkeit unterstützt und gefördert wird, z. B. durch die Bildungspolitik, die Gesundheits- und die Arbeitsmarktpolitik. Regulatorische Eingriffe sollten so beschaffen sein, dass sie möglichst wettbewerbsneutral erfolgen, z. B. durch den Einsatz versicherungsrechtlicher anstelle von arbeitsrechtlichen Lösungen bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall oder beim Mutterschutz. 42 Hans-Werner Sinn spricht in diesem Zusammenhang vom „Selektionsprinzip“ des Sozialstaats; vgl. Sinn 1997a. 43 Vgl. dazu auch Kleinhenz 1992, S. 52: „Die Ausgestaltung des Sozialstaates nach dem Subsidiaritätsprinzip bedeutet zunächst, daß auch die Sozialpolitik die Selbstverantwortlichkeit des Individuums grundsätzlich als vorrangig anerkennt und nicht ersetzt, sondern nur ergänzt. Sozialstaatliche Handlungskompetenz kommt nur insoweit zum Tragen, als einerseits Voraussetzungen für das selbstverantwortliche Handeln einzelner erst geschaffen werden müssen (Starthilfe, ’Hilfe zur Selbsthilfe’), andererseits die Möglichkeiten selbstverantwortlichen Handelns für die Erfüllung der gegebenen Ziele in Bezug auf die Lebenslagen einzelner (z. B. Sicherung des soziokulturellen Existenzminimums, Lebensstandardsicherung) oder in der Gesamtgesellschaft (z. B. Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen) nicht ausreichend sind.“

16.6 Reform, Umbau und Konsolidierung des Sozialstaates

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3. Das Prinzip maximaler sozialpolitischer Ausrichtung der Wirtschaftspolitik. Dieser Grundsatz fordert zum einen die Priorisierung ordnungspolitischer gegenüber prozesspolitischen Maßnahmen. So ist beispielsweise die Lohnfindung durch autonome Tarifvertragsparteien einer staatlichen Lohnfestsetzung vorzuziehen. Zum anderen fordert dieser Grundsatz den Vorrang präventiver gegenüber kompensatorischer sozialpolitischer Maßnahmen. 4. Soweit sozialpolitische Ziele, wie etwa die Sicherung der Menschenwürde und die Vermeidung von Diskriminierung, nicht durch die Wirtschaftsordnungspolitik erreicht werden können, sollte das Prinzip des Vorranges der Sozialordnungspolitik, wie es mit der Arbeitsmarktordnungspolitik oder dem Betriebsverfassungsgesetz praktiziert wird, vor einer interventionistischen Sozialpolitik befolgt werden. 5. Soweit Sozialpolitik als Prozesspolitik betrieben werden muss, sollte das Prinzip maximaler wirtschaftlicher und sozialer Effizienz bzw. minimaler Eingriffsintensität der eingesetzten Mittel beachtet werden. Beispiele für Sozialpolitik als Prozesspolitik sind die im SGB III vorgesehenen Maßnahmen, die Sozialhilfepolitik und die Wohnungspolitik. Sie sollten möglichst marktkonform betrieben werden. 6. Das Prinzip der Beachtung einzel- und gesamtwirtschaftlicher Grenzen des Sozialstaats. Dieses Prinzip fordert zum einen, dass die Sozialleistungen in Bezug auf die Anspruchsvoraussetzungen, den Leistungsumfang und die Art der Leistungsgewährung so konzipiert werden, dass moral hazard Verhalten möglichst weitgehend verhindert wird, und zum anderen, dass die Abgabenbelastung der Unternehmen und damit negative Effekte für Wachstum und Beschäftigung minimiert werden. 7. Das Prinzip der sozialen Ausgewogenheit des Umbaues des Sozialstaates, d. h. einer gerechten Verteilung der Umbaulasten entsprechend der Leistungsfähigkeit eines jeden Bürgers und das Prinzip der Differenziertheit der Reformmaßnahmen, d. h. dass die Kürzung von Leistungen umso niedriger angesetzt werden soll, je schwächer eine bestimmte Gruppe ist. Nur unter Beachtung dieser Prinzipien ist eine Reform unseres Wirtschafts- und Sozialsystems unter Wahrung des sozialen Friedens und ohne Verletzung der sozialen Gerechtigkeit erreichbar. Neben diesen Prinzipien erster Ordnung sollten aus Gründen der Ordnungskonformität und der Rationalität der Sozialpolitik folgende Prinzipien zweiter Ordnung Anwendung finden:44 1. Das Prinzip der finanzverfassungskonformen Finanzierung sozialer Leistungen. Dazu gehört vor allem die Finanzierung versicherungsfremder Leistungen aus Steuermitteln. Das setzt wiederum voraus, dass die versicherungsfremden Leistungen explizit ausgewiesen und durch Steuern gegenfinanziert werden. Es genügt nicht, diese Leistungen pauschal durch Bundeszuschüsse abzugelten. 2. Die Respektierung der Autonomie der sozialen Selbstverwaltung gemäß dem Subsidiaritätsprinzip. 3. Die Präferierung versicherungsrechtlicher vor arbeitsrechtlichen Lösungen. Die Anwendung dieser Prinzipien würde es erlauben, eine grundlegende Reform des Sozialstaats systematisch anzugehen. Eine – notwendigerweise subjektive – Auswahl der bestehenden Reformmöglichkeiten in verschiedenen Sozialpolitikbereichen soll abschließend skizziert werden.

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Vgl. hierzu auch Hauser/Badelt 1997.

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16.6.4 Reformansätze Dass der Sozialstaat vor erheblichen Herausforderungen steht und dass er permanent an sich ändernde wirtschafts- und gesellschaftspolitische Rahmenbedingungen angepasst werden muss, wird weder von den Befürwortern noch von den Kritikern des Sozialstaats ernsthaft bestritten. Die grundsätzliche Notwendigkeit einer Reform staatlicher Sozialpolitik wurde auch bereits oben durch die Herausforderungen der Globalisierung und des demografischen Wandels deutlich gemacht. Zum Abschluss dieses Kapitels sollen deshalb einige konkrete Ansatzpunkte für eine Reform staatlicher Sozialpolitik angesprochen werden. Da die staatliche Sozialpolitik jedoch auch externen Restriktionen unterliegt, die die Leistungsfähigkeit des Sozialstaats beeinflussen, sollen zunächst einige sozialsystemexogene Reformansätze dargestellt werden, bevor auf die anstehenden Reformen innerhalb der staatlichen Sozialpolitik eingegangen wird.

a) Sozialsystemexogene Reformansätze Als sozialsystemexogene Ansatzpunkte für eine dauerhafte Stabilisierung der staatlichen Sozialpolitik sind zu nennen: • Die soziale Ausgestaltung des globalen Welthandels, oder anders ausgedrückt: eine Globalisierung der Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft. Die Durchsetzung globaler sozialer Mindeststandards, wie sie beispielsweise in den sozialen Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen formuliert sind, würde nicht nur Armut und Ausbeutung in den weniger entwickelten Ländern bekämpfen und die dortigen Arbeitsbedingungen signifikant verbessern. Sie würde auch verhindern, dass international agierende Unternehmen ihre Produktion ausschließlich aufgrund geringerer Sozialstandards und nicht aufgrund von Unterschieden in der Produktivität verlagern.45 • Noch dringlicher als auf globaler Ebene ist es innerhalb der Europäischen Union, steuer- und sozialrechtliche Mindeststandards umzusetzen. Denn in einer politischen Gemeinschaft, die keine Mobilitätsbeschränkungen für Arbeit und Kapital vorsieht und in der die Freizügigkeit und die Niederlassungsfreiheit explizit gefördert werden, müssen Maßnahmen ergriffen werden, die einen ineffizienten ruinösen Standortwettbewerb durch Steuern und Sozialstandards unterbinden. • Auf nationalstaatlicher Ebene sind aus sozialpolitischer Perspektive u. E. zwei Maßnahmen vordringlich. Zum einen sollte das deutsche Einkommensteuersystem wieder streng am Prinzip der steuerlichen Leistungsfähigkeit ausgerichtet werden. Denn neben den Transferleistungen ist die progressive Einkommensteuer das effektivste Instrument zur Einkommensumverteilung. Gegen dieses Leistungsfähigkeitsprinzip verstoßen insbesondere die zahlreichen Lenkungsnormen des Steuerrechts und die Abgeltungswirkung bei der Kapitalertragsteuer.46 Diese Durchbrechungen des Prinzip der Besteuerung nach subjektiver Leistungsfähigkeit füh45

Dass eine Verbesserung der Lebensbedingungen in den Ländern des globalen Südens auch im Interesse der entwickelten Volkswirtschaften ist, um einer Migration entgegenzuwirken, die auf das globale Wohlstandsgefälle zurückzuführen ist, soll an dieser Stelle nur kurz erwähnt werden; vgl. hierzu Weizsäcker 2017. 46 Die Abgeltungswirkung bei der Kapitalertragsteuer gem. § 43 Abs. 5 EStG führt dazu, dass Kapitalerträge für Bezieher hoher Einkommen nicht mit dem individuellen Steuersatz, sondern mit max. 25% besteuert werden.

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ren dazu, dass die Umverteilungsabsicht des Gesetzgebers unterlaufen und die Ungleichverteilung der Primäreinkommen weniger stark abgemildert wird.47 Für die langfristige Stabilität des Systems sozialer Sicherung ist zum anderen eine Wirtschaftsund Gesellschaftspolitik notwendig, die es jungen Menschen ermöglicht, einen vorhandenen Kinderwunsch auch tatsächlich zu realisieren. Dazu muss sichergestellt werden, dass die Geburt und die Erziehung von Kindern nicht mit unzumutbar hohen Nachteilen in der Lebensplanung verbunden sind. Familiengründung und gesellschaftliche Teilhabe zu vereinbaren ist dabei nicht nur eine Aufgabe staatlicher Sozialpolitik; sie richtet sich vielmehr an die ganze Gesellschaft, und hier nicht zuletzt an die Unternehmen. Dabei ist zu beachten, dass die Gründung einer Familie und die Art der Kindererziehung höchst private Entscheidungen der Eltern sind, die Staat und Gesellschaft in den Grenzen zu respektieren haben, die durch das Kindeswohl gezogen werden. Aus diesem Grund müssen unterschiedliche Modelle der Vereinbarkeit von Familie und Beruf von der Gesellschaft gleich behandelt werden. Eine einseitige Ausrichtung der Familienpolitik auf (sozial-)politische Ziele wie bspw. die Erhöhung der Geburtenrate wäre mit den Prinzipien einer freiheitlichen Gesellschaft unvereinbar.

b) Sozialsystemendogene Reformansätze Neben einer Reform der ökonomischen und gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen, die für eine nachhaltige Stabilisierung des Sozialstaats nötig sind, erfordert der soziodemografische Wandel auch zahlreiche Reformen innerhalb der staatlichen Sozialpolitik. Da die wesentlichen Reformansätze innerhalb der einzelnen sozialpolitischen Bereiche bereits im systematischen Teil dieses Lehrbuchs behandelt wurden, sollen an dieser Stelle nur jene Reformvorschläge angesprochen werden, die über einzelne sozialpolitische Teilbereiche hinausgehen und somit in gewisser Weise eine systemische Korrektur staatlicher Sozialpolitik beinhalten. Außerdem werden nicht nur kostensenkende Reformen dargestellt, sondern auch Reformmaßnahmen, die eine Ausweitung von Leistungen beinhalten bzw. Maßnahmen, deren fiskalische Effekte nicht bezifferbar sind, die aber aus Gründen der sozialen Gerechtigkeit und der Gleichbehandlung erforderlich sind. Anders ausgedrückt: es geht bei diesen Reformen nicht darum, den Sozialstaat abzubauen, sondern ihn umzubauen. Der Unterschied zwischen einem Abbau und einem Umbau des Sozialstaats wird von Richard Hauser verdeutlicht. Abbau bedeutet „Zurückdrängung der sozialstaatlichen Regelungen, Rückverlagerung von sozialen Risiken auf den Einzelnen oder die Familie, Rückzug des Staates aus der Erstellung und kostenlosen oder verbilligten Abgabe von Grundbedarfsgütern und sozialen Leistungen und letztlich Reduzierung der Sozialleistungsquote ohne Rücksicht auf soziale Bedarfe. Ein solcher Abbau würde eine Verminderung des Gewichts gesellschafts- und sozialpolitischer Ziele implizieren und die in der Verfassung der Bundesrepublik garantierte Sozialstaatskomponente in Richtung auf ein Mindestmaß zurückdrängen.“ Dagegen würde ein Umbau bedeuten: „Schließung von Sicherungslücken, aber auch Abbau von Überversorgungserscheinungen; Vereinfachung der Organisationsstrukturen, aber auch Reduzierung leistungshemmender Effekte; 47

Zur Klarstellung sein an dieser Stelle betont, dass es hier nicht um die Form oder die Ausgestaltung des Steuertarifs geht. Ob die Einkommen nach einem Stufentarif oder nach einem linear-progressiven Tarif besteuert werden, welche Einkommensgrenzen gelten und wie hoch der Spitzensteuersatz sein soll, sind politische Entscheidungen, die der Gesetzgeber zu treffen hat. Hier geht es lediglich um die Umsetzung der Besteuerung nach dem Grundsatz der subjektiven Leistungsfähigkeit.

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Bemühungen, die Inanspruchnahme sozialer Rechte zu gewährleisten, aber auch verbesserte Missbrauchskontrolle; Reformen zur Anpassung des Systems der sozialen Sicherung an die sich verändernden ökonomischen, gesellschaftlichen und demografischen Rahmenbedingungen, aber auch Suche nach einer neuen Balance zwischen den Generationen. Ein solcher Umbau sollte zu einem neu austarierten Kompromiss zwischen gesellschaftspolitischen, sozialpolitischen und ökonomischen Zielen führen.“48 Vor diesem Hintergrund erscheinen uns folgende Maßnahmen vordringlich: In der Sozialordnungspolitik sollte eine Versicherungspflicht gegen die sog. Standardrisiken Krankheit, Pflegebedürftigkeit, Alter und Erwerbsminderung auf alle Gesellschaftsmitglieder ausgeweitet werden. Eine derart umfassende Versicherungspflicht existiert bereits gegen das Gesundheitsrisiko und gegen das Risiko der Pflegebedürftigkeit; Sicherungslücken bestehen hingegen insbesondere bei Selbständigen und freien Mitarbeitern bei der Altersvorsorge sowie bei den Risiken der Erwerbsminderung und der Arbeitslosigkeit. Da gerade im Zuge der Digitalisierung der Wirtschaft davon ausgegangen wird, dass die projektbezogenen Tätigkeiten durch freie Mitarbeiter (sog. freelancer) deutlich zunehmen werden, wird die Frage nach einer sozialen Sicherung dieser Beschäftigungsform an Bedeutung gewinnen. Im Zusammenhang mit der Gleichbehandlung sozialer Tatbestände sind auch die Sonderregelungen bei der geringfügigen Beschäftigung und bei der Beschäftigung im Übergangsbereich (Mini- und Midijobs) kritisch zu hinterfragen (vgl. hierzu S. 170). Ursprünglich waren die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse primär als Hinzuverdienstmöglichkeit für den Zweitverdiener einer Familie gedacht. Da der Zweitverdiener i.d.R. durch den – männlichen – Erstverdiener sozialrechtlich abgesichert war, erschien eine eigenständige Absicherung geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse als nicht erforderlich. Durch das geänderte gesellschaftliche Rollenverständnis und die verstärkte Berufstätigkeit der Frau ist diese Begründung obsolet geworden. Auch die Sozialversicherungsfreiheit einer geringfügigen Nebentätigkeit, die neben einer (sozialversicherungspflichtigen) Hauptbeschäftigung ausgeübt wird, stellt eine Subventionierung dieser Beschäftigungsverhältnisse dar, die weder ökonomisch noch sozialpolitisch zu rechtfertigen ist. Die sog. Beschäftigung im Übergangsbereich (ursprünglich: „Gleitzonenbeschäftigung“) wurde im Zuge der Hartz-Reformen eingeführt, um den Anreiz zu erhöhen, eine Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt anzunehmen. Mittlerweile ist es das Ziel, Beschäftigte in diesem Einkommensbereich finanziell zu entlasten. Dafür sind jedoch Transferleistungen wesentlich besser geeignet (Walwei 2018; Lietzmann/Schmelzer/Wiemers 2017). In der Verteilungspolitik sollten die der sozialen Grundsicherung „vorgelagerten“ Transferleistungen, also der Transferanteil des Kindergeldes, der Kinderzuschlag sowie das Wohngeld, durchgängig dynamisiert und so erhöht werden, dass die soziale Grundsicherung tatsächlich nur in besonderen Lebenslagen in Anspruch genommen werden muss. Perspektivisch könnte auch daran gedacht werden, diese Leistungen im Sinne eines einkommensabhängigen Bürgergeldes zusammenzuführen (zu einem entsprechenden Vorschlag vgl. Sommer 2016). In der Sozialversicherung sind – vor allem bedingt durch den demografischen Wandel – folgende Reformen erforderlich: • In der Rentenversicherung sollte die gesetzliche Regelaltersgrenze an die durchschnittliche Lebenserwartung gekoppelt werden. Gleichzeitig müsste der Beitragssatz mit einer Obergrenze versehen werden, um eine Überbelastung der jüngeren Generationen zu verhindern. Dies wird dazu führen, dass das Netto-Rentenniveau weiter sinkt. Um zu verhindern, dass dadurch Personen mit lückenhaften Erwerbsbiografien auf die Leistungen der Grundsicherung im Alter 48

Hauser 1997, S. 159. Vgl. zu den Strategien und Prinzipien einer Sozialstaatsreform auch Hauser 1995.

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angewiesen sind, sollten die verteilungspolitischen Elemente der GRV systematisch ausgebaut werden. • Auch die Kranken- und Pflegeversicherung sind vom demografischen Wandel betroffen. Bei diesen Versicherungszweigen kommt es vor allem darauf an, die Rationalisierungsmöglichkeiten im medizinischen Bereich vollständig auszuschöpfen. In der Krankenversicherung bestehen noch Rationalisierungsreserven bei der Verzahnung von ambulanten und stationären Leistungen. Auch die Digitalisierung kann zu Kosteneinsparungen im Gesundheitswesen beitragen, indem sie einen verbesserten Informationsaustausch ermöglicht und Mehrfachuntersuchungen überflüssig macht. Sollte der Beitragssatz dauerhaft ansteigen, müsste die Selbstbeteiligung in der GKV steigen, wobei die Belastungsgrenze beizubehalten ist. Die GKV wäre dann nur noch eine Versicherung gegen gesundheitliche Großrisiken, während die Belastungen bei geringfügigen Erkrankungen selbst zu tragen wären. • Die Arbeitsmarktordnungspolitik sollte die Stellung der Tarifvertragsparteien stärken und darauf hinwirken, dass die Arbeitsbedingungen weitgehend kollektivvertraglich geregelt werden. Insbesondere sollte darauf geachtet werden, dass der gesetzliche Mindestlohn einen Abstand zu den Tariflöhnen im unteren Bereich des Tarifgefüges aufweist. Ebenso sollte der Gesetzgeber darauf hinwirken, den Grundsatz der Tarifeinheit wieder stärker zur Geltung zu bringen. In der Lohnpolitik sollte die bislang betriebene einstufige Tariflohnpolitik, bei der die Löhne ex ante endgültig vereinbart werden, durch einen zweistufigen Prozess der Einkommensverteilung ersetzt werden. In der ersten Stufe sollte eine zurückhaltende Festlegung der frei verfügbaren Löhne erfolgen, in der zweiten Stufe sollten die Arbeitnehmer an den Gewinnen der Unternehmen beteiligt werden. Diese zweite Stufe sollte auch im Sinne einer Politik breiterer Streuung des Produktivvermögens ausgebaut werden. • Schließlich sollte im Bereich des Arbeitnehmerschutzes die Finanzierungslast bestimmter Leistungen wie z. B. des Arbeitgeberzuschusses zum Mutterschaftsgeld oder die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall auf ordnungspolitisch zweckmäßige Träger (z. B. überbetriebliche Lohnfortzahlungsfonds) übertragen werden, um unternehmensgrößenspezifische und damit wettbewerbsverzerrende Belastungseffekte abzubauen. Berücksichtigt man, dass in dem skizzierten Katalog von Reformnotwendigkeiten das Problem der Trägervielfalt des Systems sozialer Sicherung, seiner Orientierung am Kausal- statt am Finalprinzip, und die Aufgabe der Harmonisierung der Alterssicherungssysteme49 gar nicht angesprochen worden sind, dann wird eine Vorstellung davon vermittelt, wie umfassend und vielfältig die Reformaufgaben sind. Es ist klar, dass diese Aufgabenfülle nur in einer Vielzahl von Reformschritten im Sinne eines piece-meal-engineering gelöst werden kann. Dennoch ist es notwendig, ein holistisches Konzept als Leitbild einer Sozialreform zu erarbeiten, um sicherzustellen, dass sich die einzelnen Reformschritte in eine ordnungspolitische Gesamtkonzeption einfügen.50

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Vgl. dazu Transfer-Enquête-Kommission 1981, S. 192 ff. sowie Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 1983. 50 Zu einer Reform der Sozialversicherung „aus einem Guß“ vgl. auch Breyer et al. 2004.

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Personenverzeichnis

Abbe, Ernst, 41, 42, 330 Achinger, Hans, 110, 112, 374, 391 Alber, Jens, 107, 117, 385 Albers, Willi, 316 Albrecht, Gerhard, 57 Altenstein, Karl Freiherr v., 46 Althammer, Jörg, 155, 173, 299, 304 Altmann, Jörn, 10 Andersen, Uwe, 316 Baader, Franz Xaver v., 45 Barr, Nicholas, 115, 208, 276 Bechtel, Heinrich, 54 Becker, Gary S., 304 Becker, Irene, 110, 279, 280 Berlepsch, Hans Herrmann Freiherr v., 46 Berlin, Isaiah, 7 Bethusy-Huc, Viola v., 286 Beveridge, William, 211 Bielenski, Harald, 155 Bismarck, Otto Fürst v., 47, 64, 394 Blüm, Norbert, 239 Boettcher, Erik, 316 Bogs, Walter, 391 Bonin, Holger, 155 Borght, Richard van der, 3 Born, Stephan, 49 Bossert, Albrecht, 115 Brakelmann, Günter, 43 Brandts, Franz, 51 Brentano, Lujo, 45, 52 Breyer, Friedrich, 115, 226, 276, 393 Briefs, Götz, 17, 34, 53, 190 Brooks, Robert, 402 Brosius-Gersdorf, Frauke, 283 Brück, Gerhard W., 216 Buchholz, Wolfgang, 115, 276 Buß, Franz Joseph Ritter v., 45 Bücher, Karl, 52

Claßen, Manfred, 63 Cutler, David, 238 Damaschke, Adolf, 53 Dworkin, Ronald, 7, 119 Eisen, Roland, 236 Engels, Friedrich, 47 Engels, Wolfram, 316 Esping-Andersen, Gøsta, 117, 210 Fehr, Hans, 402 Fetzer, Stefan, 226 Flora, Peter, 107, 117 Franz, Wolfgang, 172 Frerich, Johannes, 5, 59 Frey, Martin, 5, 59 Fuchs, Maximilian, 335 Funcke, Wilhelm v., 41 Föhl, Carl, 316 Gall, Ludwig, 46 Gallon, Thomas-Peter, 400 Gehlen, Arnold, 35 Gerlach, Irene, 304 Giersch, Herbert, 9, 374 Goebbels, Joseph, 81 Gress, Karin, 316, 317 Hallstein, Walter, 337 Haniel, Franz, 41 Harkort, Friedrich, 41, 330 Hartz, Peter, 94 Hase, Friedhelm, 210 Hauser, Richard, 110, 279, 315, 384, 413 Hayek, Friedrich v., 113, 179, 408 Heimann, Eduard, 386 Henning, Friedrich-Wilhelm, 5, 60, 76, 77 Hentschel, Volker, 65, 75, 76 Herkner, Heinrich, 40, 49, 52

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442 Hertling, Georg Freiherr v., 44, 51 Heydt, August Freiherr v., 46 Heyl, Cornelius, 41 Heß, Moses, 47 Hitler, Adolf, 77 Hitze, Franz, 44, 51 Hoffmann, Walther G., 66 Huber, Victor Aimé, 43, 52, 330 Huinink, Johannes, 281 Hunt, Jennifer, 148 Issing, Otmar, 306 Jahn, Elke, 155 Jantke, Carl, 40 Jirjahn, Uwe, 202 Johannes Paul II., 44 Jordan, Erwin, 76 Kaldor, Nicholas, 332 Kaufmann, Franz-Xaver, 115, 282 Kersting, Wolfgang, 7 Ketteler, Wilhelm Emmanuel Freiherr v., 43 Kleinhenz, Gerhard, 9, 13 Kluve, Jochen, 170 Knappe, Eckhard, 115 Kolping, Adolf, 44 Krupp, Alfred, 41, 42 Külp, Bernhard, 115 Küng, Emil, 306 Küppers, Arnd, 44 Lampert, Heinz, 5, 115, 283 Leisner, Walter, 306 Leo XIII., 44 Lexis, Wilhelm, 52 Liefmann-Keil, Elisabeth, 115 Lüdeke, Reinar, 400 Marx, Karl, 47 Mason, Timothy W., 79 Meade, James E., 307 Meier, Volker, 236 Meinhold, Helmut, 391 Michel, Ernst, 17 Mill, John Steward, 52 Molitor, Bruno, 316 Müller, Christian, 118 Naumann, Friedrich, 48, 53 Nave-Herz, Rosemarie, 282 Nell-Breuning, Oswald v., 190, 306, 324, 360 Neubäumer, Renate, 92 Neundörfer, Ludwig, 391 Nozick, Robert, 408

Personenverzeichnis Oberender, Peter, 225 Oberhauser, Alois, 317, 329 Obinger, Herbert, 131 Oechelhäuser, Wilhelm, 41 Oppenheimer, Franz, 53 Ott, Notburga, 304 Paul VI., 44 Pechstein, Matthias, 283 Pestieau, Pierre, 210 Peuckert, Rüdiger, 282 Pius XI., 44 Popper, Karl, 8 Poterba, James, 402 Preiser, Erich, 323 Preller, Ludwig, 5, 133 Raiffeisen, Friedrich Wilhelm, 56 Rauscher, Anton, 360 Rawls, John, 7, 307 Ribhegge, Hermann, 335 Riphahn, Regina, 279 Ritter, Gerhard, 91, 385 Rodbertus-Jagetzow, Johann Carl, 45 Roesicke, Richard, 41 Roscher, Wilhelm, 45 Rose, Manfred, 317 Rothgang, Heinz, 236 Rothkegel, Ralf, 271 Rüstow, Alexander, 65 Sablotny, Herbert, 316 Schlomann, Heinrich, 323 Schmoller, Gustav, 19, 45, 52, 324 Schmähl, Winfried, 208, 402 Schreiber, Wilfrid, 391 Schröder, Gerhard, 94 Schuchard, Johannes, 41 Schulze-Delitzsch, Hermann, 56 Schumpeter, Joseph Alois, 6, 112, 323, 379, 386 Schwarze, Johannes, 384 Schäffle, Albert, 45 Schönberg, Friedrich v., 45 Schönig, Werner, 115 Sen, Amartya, 7, 133 Sengling, Dieter, 76 Sinn, Gerlinde, 91 Sinn, Hans-Werner, 91, 115, 400, 404, 410 Stein, Lorenz v., 45, 122 Steiner, Viktor, 213 Streit, Manfred, 10 Stumm-Halberg, Carl Ferdinand v., 41 Stöcker, Adolf, 52 Theurl, Theresia, 335

Personenverzeichnis Thiede, Reinhold, 236 Thüsing, Gregor, 335 Tietzel, Manfred, 118 Todt, Rudolf, 52 Tönnies, Ferdinand, 5 Vaubel, Roland, 383 Volkmann, Heinrich, 37 Wagner, Adolph, 46 Walper, Sabine, 284 Wansleben, Martin, 173 Weber, Max, 8, 9, 53 Weddigen, Walter, 30, 44, 76 Weitling, Wilhelm, 47 Werding, Martin, 389, 400

443 Wichern, Johann Hinrich, 43, 52 Wiegand, Lutz, 316 Wiese, Leopold v., 13, 115 Wilhelm I., 63 Wilhelm II., 66 Willgerodt, Hans, 323 Windthorst, Ludwig, 51 Winterstein, Helmut, 107 Wrohlich, Katharina, 213 Zacher, Hans, 7 Zerche, Jürgen, 56 Zickler, Dieter, 316 Zimmermann, Klaus F., 304 Zwiedineck-Südenhorst, Otto v., 3, 117 Zöllner, Wolfgang, 189

Sachverzeichnis

Abschnittsdeckungsverfahren, 217 Abschreibungsvergünstigungen, 319 Adverse selection, 120, 211 Agenda 2010, 82, 94, 96 Allgemeinverbindlicherklärung, 181 Altersruhegeld, 243 Alterssicherung, 374 Anwartschaftsdeckungsverfahren, 217 Arbeiterfrage, 5, 6, 17, 23, 36, 387 Arbeitgeberverbände, 344, 367 Arbeitnehmerschutz, 62, 107, 143 Bereiche, 144 Definition, 143 Entwicklungstendenzen, 158 Träger und Organe, 157 Arbeitnehmerschutzpolitik, 4 Arbeitsangebotszwang, 18, 20 Arbeitsdirektor, 198, 199 Arbeitseinkommen, 207 Arbeitsförderungsgesetz, 87 Arbeitskampfrecht, 352 Arbeitslosengeld, 262, 263 Arbeitslosengeld II, 263 Arbeitslosigkeit, 30, 207, 208, 246, 261, 262, 374, 392 friktionelle, 160, 374 strukturelle, 88, 160, 167 Arbeitsmarktpolitik, 4, 159 aktive, 159 Definition, 159 Einzelbereiche, 162 Notwendigkeit, 159 passive, 159 Träger und Organe, 187 Ziele, 160 Arbeitsmarktsegmentierung, 194 Arbeitsverfassung, 17 Arbeitsvermittlung, 262 Arbeitsverwaltung, 190, 204

Arbeitszeit, 194 Arbeitszeitschutz Ziele, 144 Armut, 22, 341, 374, 387 verdeckte, 275 Asylbewerberleistungsgesetz, 275 Ausbildungsförderung, 295 Bauernbefreiung, 26–28 Bauernlegen, 27 Bausparkassen, 319 Beamtenversorgung, 219, 260 Bedarfsdeckungsprinzip, 271 Beitragsbemessungsgrenze, 225, 236, 245, 250, 262, 263 Beitragsbemessungsgrundlage, 244 Beitragsfaktor, 249 Belastungsgrenze, 222 Berufsausbildungszeiten, 246 Berufsbildung, 192, 194, 371 Berufsgenossenschaften, 241 Berufskrankheiten, 194, 240 Betriebsräte, 192, 196, 198 Betriebsverfassung, 195, 196, 352 Bevölkerungsentwicklung, 23 Bildungspaket, 272 Bundesagentur für Arbeit, 171, 262, 263, 274 Bundesausschuss, gemeinsamer, 229 Bundesteilhabegesetz, 168 Bundesverfassungsgericht, 326 Bundeszuschuss, 250 Bürgerversicherung, 230 Diagnose, 225 Dreiklassenwahlrecht, 26 Dynamisierung, 385 Egalisierung, 385 Eigenheimzulagengesetz, 319

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446 Eigentum, 17 Ein-Euro-Job, 168, 171 Eingliederungshilfe, 236, 299 Einigungsstelle, 193, 195 Einkommen disponibles, 288 Einkommenspolitik, 204 Einkommensverteilung funktionale, 175 Elterngeld, 222, 292, 301, 392 ElterngeldPlus, 293 Elternzeit, 89, 287, 340 Entgeltumwandlung, 258 Erbschaftsteuer, 327 Ersatzzeiten, 246 Ertragsbeteiligung, 323, 330 Erwerbsminderung, 243 Erziehungsgeld, 89, 93, 292, 300 Erziehungshilfe, 296, 297 Erziehungsrente, 294 Existenzminimum, 389 Externe Effekte der Familie, 284 Familie, 281, 285, 287, 293, 343, 388 Familienlastenausgleich, 300, 303 Familienleistungsausgleich, 284, 303 dualer, 290 Familienpolitik, 266, 281, 286 Festbeträge, 229 Finalprinzip, 216, 415 Flexicurity, 266 Frauenarbeit, 18 Freiheit, 306, 357, 374, 386, 387, 395 Freizügigkeit, 27, 342, 344, 352 Friedenspflicht, 192 Früherkennung von Krankheiten, 222 Fürsorge, 343 Fürsorgeprinzip, 210, 211, 215 Gemeinsamen Bundesausschuss, 223 Generationenvertrag, 398 Geringfügig Beschäftigte, 212, 242 Gesundheitsfonds, 95, 223, 232 Gesundheitsprämie, 230 Gewerbefreiheit, 26, 28 Gewerkschaften, 192, 198, 201, 203, 204, 337, 344, 367 Gewinnbeteiligung, 331 investive, 328 Gleichberechtigung, 202 Gleichheit, 26, 386, 387 Globalisierung, 402 Grundsicherung, 207, 211, 269, 271, 274, 374 für Arbeitsuchende, 263

Sachverzeichnis im Alter und bei Erwerbsunfähigkeit, 274 Günstigerprüfung, 258, 303 Hartz-Reform, 82 Haushaltshilfe, 222, 294 Inflation, 208, 217 Innere Mission, 43 Insolvenzgeld, 151 Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, 263 Investitionsförderung, 316 Investivlohn, 318, 328, 329 Investivlohnpolitik, 323 Inzidenz, 383 Jugendarbeitsschutzgesetz, 287 Jugendgerichtshilfe, 296, 297 Jugendschutz, 296 Kaitz-Index, 182 Kapitaldeckungsverfahren, 217, 237 Kausalprinzip, 215, 265, 391 Kinderarbeit, 18 Kinderberücksichtigungszeiten, 245 Kinderbetreuungskosten, 292 Kindererziehungszeiten, 246, 293 Kinderfreibetrag, 290 Kindergeld, 291, 300, 301 Kinderzuschlag, 292 Koalitionsfreiheit, 345, 352 Koalitionsverbot, 26 Kompressionsthese, 226 Konzertierte Aktion, 203 Krankengeld, 222, 263 Krankenversicherung, 219, 225 Krankheitsverhütung, 222 Kündigungsschutz, 192, 196, 287, 392 Lastenausgleich, 316 Leistungen versicherungsfremde, 232 Leistungsfähigkeit subjektive, 288 Liberalismus, 25 Lohnabstandsgebot, 278 Lohnfortzahlung, 243, 392 Lohnpolitik produktivitätsorientierte, 173 Lohnquote, 175 Maschinensteuer, 400 Medikalisierungsthese, 226 Medizinischer Dienst, 233 Menschenwürde, 19, 191, 386, 387 Midijob, 171, 212

Sachverzeichnis Mieterschutz, 294 Mindestsicherung, 266 Mindestunterhalt, 298 Minijob, 94, 171, 212 Mitbestimmung, 189–191, 196, 197, 200–205, 325, 346 im Unternehmen, 189 in sozialen Angelegenheiten, 194 überbetriebliche, 189 Montanmitbestimmung, 198 Moral hazard, 121, 239 Mutterschaftsgeld, 222, 294, 392 Mutterschaftshilfe, 222, 294 Mutterschutz, 287 Mütterrente, 257 Nachfrage, angebotsinduzierte, 121, 227 Nachhaltigkeit, 412 Nachhaltigkeitsfaktor, 249 Nachhaltigkeitsrücklage, 251 Niederlassungsfreiheit, 26 Normalarbeitsverhältnis, 388, 405 Nudging, 242 Offene Methode der Koordinierung, 339 Optionsmodell, 291 Pflegeversicherung, 214, 219, 233, 237, 242 Pflegevorsorgefonds, 239 Pflichtversicherung, 211 Praxisgebühr, 229 Preußisches Regulativ, 62 Privatisierung, 320, 328 Privatversicherung, 210, 212, 266 Race to the bottom, 404 Recht auf Arbeit, 343 Regelaltersgrenze, 95, 243 Rehabilitation, 222, 234, 243, 246, 299 Rente nach Mindestentgeltpunkten, 245 Rentenartfaktor, 247 Rentensplitting, 249 Rentenversicherung, 217, 219, 246 Rentnerquote, 253, 382 Reprivatisierung, 316 Riester-Rente, 94, 257 Risikostrukturausgleich, 93, 223, 231 Rothenfelser Denkschrift, 395 Ruhegehalt, 260 Schenkungsteuer, 327 Schonvermögen, 279 Schutzpolitik, 406 Selbstverantwortung, 360, 395 Sicherstellungsauftrag, 235

447 Solidaritätsprinzip, 359 Sozialbudget, 379 Sozialcharta, 341, 342, 344, 345, 352 Soziale Frage, 5, 6 Soziale Sicherheit, 343 Sozialer Dialog, 340 Sozialgerichtsbarkeit, 202–204, 367 Sozialhilfe, 237, 345 Sozialhilfefalle, 278 Sozialistengesetz, 49, 64 Sozialkosten, 344, 406 Sozialleistungsquote, 379 Sozialplan, 151, 195 Sozialpolitik Notwendigkeit, 117 prophylaktische, 108 Sozialreformer, 40 Sozialstaat, 383, 413 Sozialstaatsprinzip, 7 Sozialversicherung, 4, 107, 203, 204, 210, 212, 238, 266 Sozialversicherungsprinzip, 210 Sparförderung, 316, 317 Sparprämiengesetz, 318 Statistikmodell, 273 Subsidiarität, 335 Subsidiaritätsprinzip, 271, 360 Sucharbeitslosigkeit, 374 Tarifautonomie, 30, 74, 175, 200, 201, 346, 352 Tarifvertragsparteien, 161 Teilzeitarbeit, 340 Tendenzbetrieb, 192 Tendenzunternehmen, 198 Trucksystem, 20 Truckverbot, 62, 151 Umlageverfahren, 217 Unfallfürsorge, 260 Unfallversicherung, 219 Universalisierung, 385 Unterhaltsgeld, 236, 295 Unterhaltsvorschuss, 298 Unternehmensverfassung, 4 Unterversorgung im Alter, 266 Vermögen, 305 Vermögensbildung, 317, 323 Vermögenspolitik, 305, 307, 316, 321 Vermögensverteilung, 307 Vermögenswirksame Leistung, 318 Versicherungspflichtgrenze, 219 Versicherungsprinzip, 207, 210 Versorgungsausgleich, 250, 287 Versorgungsprinzip, 210, 211

448 Warenkorbmodell, 273 Wartezeit, 243 Wohlfahrtspflege, 367 Wohngeld, 294 Wohnungsbau, 294, 319 Wohnungsbauförderung, 316, 319 Wohnungspolitik, 266

Sachverzeichnis Währungsreform, 217, 316 Zugangsfaktor, 246, 247 Äquivalenzprinzip, 208, 210, 217 Öko-Steuer, 251 Übergangsgeld, 243