Lebenswege in die Altersarmut: Biografische Analysen und sozialpolitische Perspektiven [1 ed.] 9783428547906, 9783428147908

In der Sozialpolitikforschung ist »Altersarmut« inzwischen wieder zu einem breit diskutierten Thema geworden. Die Studie

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Lebenswege in die Altersarmut: Biografische Analysen und sozialpolitische Perspektiven [1 ed.]
 9783428547906, 9783428147908

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S ozialp olitis che S chriften Band 94

Lebenswege in die Altersarmut Biografische Analysen und sozialpolitische Perspektiven

Von Antonio Brettschneider Ute Klammer

Duncker & Humblot · Berlin

BRETTSCHNEIDER/KLAMMER

Lebenswege in die Altersarmut

Sozia lpolit ische Schrif ten herausgegeben von Ute Klammer, Simone Leiber und Sigrid Leitner

Band 94

Lebenswege in die Altersarmut Biografische Analysen und sozialpolitische Perspektiven

Von Antonio Brettschneider Ute Klammer

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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© 2016 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: buchbücher.de gmbH, Birkach Printed in Germany ISSN 0584-5998 ISBN 978-3-428-14790-8 (Print) ISBN 978-3-428-54790-6 (E-Book) ISBN 978-3-428-84790-7 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort „Alle glücklichen Familien gleichen einander; jede un­ glückliche Familie dagegen ist unglücklich auf ihre be­ sondere Art.“ Leo N. Tolstoi, Anna Karenina

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind rund eine Million Menschen in Deutschland auf Leistungen der 2003 eingeführten Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung angewiesen; gut die Hälfte der Betroffenen be­ findet sich im gesetzlichen Rentenalter. Vor dem Hintergrund der vielfälti­ gen Umbrüche auf dem deutschen Arbeitsmarkt und der deutlichen Ein­ schnitte in das gesetzliche Rentenniveau, die in den kommenden Jahrzehnten voll zum Tragen kommen werden, ist zu erwarten, dass sowohl die absolu­ te Zahl als auch der relative Anteil der von Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter betroffenen Menschen in absehbarer Zukunft deutlich ansteigen wird. Grundsicherungsbedürftigkeit und finanzielle Abhängigkeit im Alter sind stets das Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels aus individuellen und strukturellen Faktoren. Die vorliegende Studie rekonstruiert auf der Grund­ lage ausführlicher, biografisch-problemzentrierter Interviews mit grundsi­ cherungsbedürftigen Seniorinnen und Senioren individuelle Lebensverläufe und unternimmt den Versuch, die vielfältigen und oftmals verschlungenen individuellen Lebenswege in die Altersarmut stärker zu systematisieren. Trotz der Heterogenität und Vielfalt der individuellen Lebensverläufe lassen sich anhand der Biografien der heutigen Grundsicherungsempfänger / -innen eine Reihe besonders nachteiliger Konstellationen, gruppenspezifischer Ri­ siken und biografischer Verlaufsmuster identifizieren, die einige verallge­ meinerbare Aussagen über die biografischen Determinanten der Grundsiche­ rungsbedürftigkeit im Alter ermöglichen. Auf der Grundlage der Ergebnisse der empirischen Analysen formuliert unsere Studie ein Plädoyer für eine dezidiert präventiv ausgerichtete, le­ benslauforientierte und lebenslaufbegleitende Alterssicherungspolitik, die sich als integraler Bestandteil einer umfassenden sozialen Lebenslaufpolitik versteht. Wenn Grundsicherungsbedürftigkeit und finanzielle Abhängigkeit im Alter so weit wie möglich vermieden werden sollen, ist eine deutliche Stärkung und gezielte Weiterentwicklung der Gesetzlichen Rentenversiche­ rung als tragender Säule der Alterssicherung in Deutschland geboten. Denn

6 Vorwort

nur im Rahmen eines universellen staatlichen Pflichtversicherungssystems mit Mindestbeitrag und Mindestsicherungsziel lässt sich unserer Überzeu­ gung nach sicherstellen, dass möglichst viele Menschen im Verlauf ihres Lebens ausreichende Rücklagen für ihren Lebensabend bilden und dass Altersarmut eine Ausnahme bleibt. Die vorliegende Monografie ist das Ergebnis eines Forschungsprojekts, das zwischen Frühjahr 2012 und Herbst 2014 unter dem Titel „Grundsiche­ rungsbedürftigkeit im Alter – Eine Analyse aus der Perspektive lebenslauf­ orientierter Alterssicherungspolitik“ am Lehrstuhl für Politikwissenschaft insbes. Sozialpolitik des Instituts für Soziale Arbeit und Sozialpolitik (ISP) der Universität Duisburg-Essen im Auftrag des Forschungsnetzwerks Alters­ sicherung (FNA) der Deutschen Rentenversicherung Bund durchgeführt worden ist. Die Autoren danken als erstes dem Forschungsnetzwerk Alterssicherung der Deutschen Rentenversicherung Bund für die Finanzierung der Studie und der vorliegenden Veröffentlichung. Zu den ehemaligen und aktuellen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des FNA bzw. der DRV Bund, die durch organisatorische Unterstützung und / oder fachliche Beratung zum erfolgrei­ chen Abschluss des Projekts beigetragen haben, gehören Dr. Tim KöhlerRama, Dr. Jürgen Faik, Stefan Jahn, Peter Heller, Dr. Dina Frommert und Tatjana Mika. Die Autoren bedanken sich des Weiteren bei allen Personen, Einrichtun­ gen und Organisationen, die bei der Gewinnung von Interviewpartner / -in­ nen behilflich waren, für ihre wertvolle Unterstützung. Sami Ceylan danken wir für seine Hilfe bei der Durchführung und Auswertung der Interviews mit den türkischsprachigen Befragten, Oleksandra Baryliak und Lara Alten­ städter für ihre Hilfe bei der Formatierung des Manuskripts und Gerda Mursa-Kaltenmaier und Nicole Haertel für organisatorische Unterstützung. Zu guter Letzt möchten sich die Autoren ganz besonders bei allen Seniorin­ nen und Senioren bedanken, die sich dazu bereit erklärt haben, uns in ihrer oftmals schwierigen Lage ausführlich über ihren persönlichen Lebensweg Auskunft zu geben. Düsseldorf / Essen, im August 2015 Antonio Brettschneider Ute Klammer

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 I.

Grundsicherung und Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter . . . . . . 27 1. Die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem 4. Kapitel des SGB XII . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 a) Hintergrund und Zielsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 b) Ausgestaltung des Leistungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 aa) Zugangsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 bb) Leistungen und anerkannte Bedarfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 cc) Einkommens- und Vermögensanrechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 c) Aktuelle Entwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 aa) Neuberechnung und Dynamisierung des Regelsatzes . . . . . . . . 34 bb) Volle Finanzierung der Grundsicherung aus Bundesmitteln . . . 35 2. Die Entwicklung der Grundsicherungsbedürftigkeit und die sozio­ demografische Struktur der Grundsicherungspopulation . . . . . . . . . . . . 36 a) Quantitative Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 b) Betroffenheit nach Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 c) Regionale Verteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 d) Geschlechtsspezifische Verteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 e) Betroffenheit nach Staatsangehörigkeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 f) Entwicklung und Zusammensetzung der individuellen Bedarfe . . . 45 g) Höhe und Verteilung der angerechneten eigenen Einkommen . . . . 49 h) Höhe und Verteilung der Nettobedarfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51

II. Biografische Determinanten der Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter: Ausgewählte Ergebnisse der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 1. Dimensionen und Risikofaktoren im Lebensverlauf . . . . . . . . . . . . . . . 53 2. Erwerbsbiografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 a) Erwerbsverläufe der Geburtskohorten 1938–1947 . . . . . . . . . . . . . . 55 b) Erwerbsbiografische Besonderheiten der aktuellen Grundsicherungs­ population . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 3. Familienbiografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 a) Familienstatus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 b) Kindererziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 c) Alleinerziehungsphasen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 d) Pflegezeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 4. Gesundheitsbiografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 a) Soziale Selektivität des Erwerbsminderungsrisikos . . . . . . . . . . . . . 68

8 Inhaltsverzeichnis b) Soziökonomische Situation der EM-Rentner / -innen . . . . . . . . . . . . 68 c) Ergebnisse der Grundsicherungsstatistik  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 5. Bildungsbiografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 6. Vorsorgebiografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 7. Migrationsbiografie – Bevölkerung mit Migrationshintergrund . . . . . . 76 III. Daten und Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 1. Fallauswahl und Fallgewinnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 2. Interviewführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 3. Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 IV.

Empirische Ergebnisse (I): Risiken und Risikodimensionen . . . . . . . . 94 1. Eigenständige Alterseinkommen und anerkannte Bedarfe . . . . . . . . . . 94 2. Erwerbsbiografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 3. Familienbiografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 4. Gesundheitsbiografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 5. Bildungsbiografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 6. Vorsorgebiografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 7. Migrationsbiografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 8. Risiken und Risikodimensionen: Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . 136

V.

Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen . . . . . . . . . . . . . . 141 1. Einleitung und Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 2. Familienorientierte Frauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 a) Gemeinsame Merkmale und Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . 145 aa) Rollenmuster im Ehe- und Familienrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 bb) Heiratserstattung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 cc) Kindererziehungszeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 dd) Rente nach Mindesteinkommen / Rente nach Mindestentgelt­ punkten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 b) Teilgruppe „Geschiedene Frauen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 aa) Gemeinsame Merkmale und Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . 154 bb) Ausgewählte Fallbeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 (1) Fallbeispiel 1: Frau S-08 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 (2) Fallbeispiel 2: Frau L-11 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 (3) Fallbeispiel 3: Frau V-14 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 (4) Fallbeispiel 4: Frau F-16 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 (5) Fallbeispiel 5: Frau W-34 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 c) Teilgruppe „Verwitwete Frauen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 aa) Gemeinsame Merkmale und Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . 172 bb) Ausgewählte Fallbeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 (1) Fallbeispiel 1: Frau B-18 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 (2) Fallbeispiel 2: Frau J-23 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 (3) Fallbeispiel 3: Frau Z-24 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 (4) Fallbeispiel 4: Frau S-37 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184

Inhaltsverzeichnis9 (5) Fallbeispiel 5: Frau E-40 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 (6) Fallbeispiel 6: Frau T-20 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 d) Exkurs: Finanziell abhängige Frauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 e) Typische Biografiemuster und Risikokonstellationen . . . . . . . . . . . 196 3. Ehemalige Selbstständige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 a) Gemeinsame Merkmale und Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . 198 b) Ausgewählte Fallbeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 aa) Fallbeispiel 1: Herr F-25, ehemaliger Versicherungsmakler . . 202 bb) Fallbeispiel 2: Herr L-36, ehemaliger Gastwirt . . . . . . . . . . . . 205 cc) Fallbeispiel 3: Herr T-46, ehemaliger Inhaber einer Spezial­ firma für Beleuchtungstechnik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 dd) Fallbeispiel 4: Herr D-29, ehemaliger Taxiunternehmer . . . . . 213 ee) Fallbeispiel 5: Frau M-09, ehemalige Musikerin und Journalis­ tin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 c) Typische Biografiemuster und Risikokonstellationen . . . . . . . . . . . 221 aa) Das „Drei-Phasen-Modell“ gescheiterter Selbstständigkeit . . . 221 bb) Selbstständige und ihre Altersvorsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 4. Zugewanderte Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 a) Ältere Personen mit Zuwanderungshintergrund: Ein Überblick . . . 228 b) Arbeitsmigranten der ersten Generation und ihre Angehörigen . . . 230 aa) Historische und migrationspolitische Rahmenbedingungen . . . 230 bb) Ausgewählte Fallbeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 (1) Fallbeispiel 1: Ehepaar A-44, zugewandert aus der Türkei . 236 (2) Fallbeispiel 2: Frau H-51, zugewandert aus der Türkei . . . 239 (3) Fallbeispiel 3: Frau S-52, zugewandert aus der Türkei . . . 241 cc) Typische Biografiemuster und Risikokonstellationen . . . . . . . . 244 c) (Spät-)Aussiedler und ihre Angehörigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 aa) Historische, zuwanderungs- und rentenrechtliche Rahmenbe­ dingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 (1) Entwicklung des Zuwanderungsrechts  . . . . . . . . . . . . . . . . 249 (2) Entwicklung des Fremdrentenrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 (3) Konsequenzen für die Altersrenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 bb) Ausgewählte Fallbeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 (1) Fallbeispiel 1: Frau T-19, zugewandert aus Kasachstan . . . 257 (2) Fallbeispiel 2: Frau B-39, zugewandert aus Rumänien . . . 260 (3) Fallbeispiel 3: Frau R-21, zugewandert aus Kasachstan . . 264 cc) Typische Biografiemuster und Risikokonstellationen . . . . . . . . 267 d) Jüdische Kontingentflüchtlinge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 aa) Historische und zuwanderungsrechtliche Rahmenbedingungen . 270 bb) Ausgewählte Fallbeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 (1) Fallbeispiel 1: Frau K-02, zugewandert aus Russland . . . . 277 (2) Fallbeispiel 2: Herr S-30, zugewandert aus der Ukraine . . 279 cc) Sozialpolitische Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282

10 Inhaltsverzeichnis 5. Umbruchsgeprägte Ostdeutsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 a) Historische und rentenrechtliche Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . 284 b) Ausgewählte Fallbeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 aa) Fallbeispiel 1: Herr B-48 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 bb) Fallbeispiel 2: Frau M-49 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 cc) Fallbeispiel 3: Frau R-54 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 c) Typische Biografiemuster und Risikokonstellationen . . . . . . . . . . . 303 6. „Komplex Diskontinuierliche“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 a) Gemeinsame Merkmale und Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . 305 b) Ausgewählte Fallbeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 aa) Fallbeispiel 1: Herr G-05 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 bb) Fallbeispiel 2: Herr B-13 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 c) Typische Biografiemuster und Risikokonstellationen . . . . . . . . . . . 314 VI. Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter: Gegenwart und Zukunft . . . 318 1. Einleitung: Generationenwechsel in der Grundsicherung . . . . . . . . . . . 318 2. Risikogruppen der Gegenwart: Mittelfristige Entwicklungsperspektiven  322 a) Familienorientierte Frauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 b) Nicht obligatorisch gesicherte Selbstständige . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 c) Personen mit Zuwanderungshintergrund  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 d) Umbruchsgeprägte Ostdeutsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 e) „Komplex Diskontinuierliche“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 3. Risikogruppen der Zukunft: Mittel- und langfristige Perspektiven . . . 341 a) Langjährig prekär und diskontinuierlich Beschäftigte („Arbeits­ markt-Outsider“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 b) Langjährige Geringverdiener / -innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 4. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 VII. „Altersarmut“ als Gegenstand der aktuellen Alterssicherungspolitik . 352 1. Optionen der Altersarmutsvermeidung: Zur Systematisierung der aktu­ ellen Reformdiskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 a) Sozialpolitische Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 b) Strategien und Instrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 c) Finanzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 d) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 2. Armutsvermeidung durch „Anerkennung von Lebensleistung“? – An­ merkungen zur aktuellen Alterssicherungspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 a) „Kampf gegen Altersarmut“: Ziele und Restriktionen  . . . . . . . . . . 367 b) Von der „Zuschussrente“ zur „Solidarischen Lebensleistungsrente“ . 369 aa) „Rentendialog“ und „Zuschussrente“  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 bb) „RV-Lebensleistungsanerkennungsgesetz“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 372 cc) „Alterssicherungsstärkungsgesetz“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 dd) „Solidarische Lebensleistungsrente“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374 ee) Analyse und Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375

Inhaltsverzeichnis11 c) „Verdient, nicht geschenkt“? – Das RV-Leistungsverbesserungs­ gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 aa) „Mütterrente“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 bb) „Rente ab 63“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382 cc) Verbesserungen bei der Erwerbsminderungsrente . . . . . . . . . . . 384 dd) Anhebung des „Reha-Deckels“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386 ee) Gesamtbewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 d) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388 VIII. Konsequenzen und Handlungsempfehlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 1. Ziele und Handlungsebenen einer lebenslauforientierten und lebensbe­ gleitenden Alterssicherungspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 2. Ermöglichung gelungener (Erwerbs-)Biografien durch soziale Lebens­ laufpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396 a) Bildungspolitik: Investitionen in ein chancengerechteres Bildungs­ system . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398 b) Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik: Abbau der Langzeit­ arbeitslosigkeit, Re-Regulierung des Arbeitsmarktes . . . . . . . . . . . . 401 c) Familien- und Gleichstellungspolitik: Verbesserung der Vereinbar­ keit von Erwerbs- und Fürsorgearbeit für beide Geschlechter . . . . 404 d) Gesundheit und Beschäftigungsfähigkeit: Stärkung von Prävention und Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406 e) Lebensbegleitende Beratung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 3. Aufbau einer lückenlosen Versicherungsbiografie: Universelles Alters­ sicherungssystem mit Mindestbeitrag  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408 4. Nachträgliche Kompensation unzureichender Alterseinkünfte: Stärkung des sozialen Ausgleichs in der GRV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417 5. Bedarfsgerechte und niedrigschwellige Ausgestaltung der Grundsiche­ rung im Alter  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 420 IX. Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455

Tabellenverzeichnis Tabelle   1: Anzahl der Grundsicherungsbezieher / -innen (Alter: 65+) . . . . . . . 38 Tabelle   2: Grundsicherungsempfänger / innen nach Altersklassen (2012). . . . . 39 Tabelle   3: Grundsicherungsempfänger / -innen (Alter: 65+) nach Bundesland (2012). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 Tabelle   4: Grundsicherungsempfänger / -innen (Alter: 65+) nach Geschlecht . 43 Tabelle   5: Grundsicherungsquoten nach Region und Geschlecht (2012). . . . . 43 Tabelle   6: Grundsicherungsempfänger / -innen nach Staatsangehörigkeit (2012). 45 Tabelle   7: Durchschnittliche Brutto- und Nettobedarfe nach Bundesland (2012). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 Tabelle   8: Dimensionen und Risikofaktoren des Lebensverlaufs. . . . . . . . . . . 54 Tabelle   9: Grundsicherungsbezug nach Anzahl der Erwerbsjahre. . . . . . . . . . 58 Tabelle 10: Personen im Alter von 65 und mehr Jahren mit und ohne ­Grundsicherungsbezug nach letzter beruflicher Stellung. . . . . . . . . 58 Tabelle 11: Gesamtnettoeinkommen von Frauen (Alter: 65+). . . . . . . . . . . . . . 59 Tabelle 12: Familienstand der Grundsicherungsbezieher / -innen sowie aller Personen im Alter von 65 und mehr Jahren (2007). . . . . . . . . . . . 60 Tabelle 13: Kinderzahl und persönliches Nettoalterseinkommen von Frauen (Alter: 65+). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 Tabelle 14: Pflege im Rentenzugang (2004). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 Tabelle 15: Projizierte Alterssicherungsanwartschaften nach höchstem Schul­ abschluss, deutsche GRV-Bezieher / -innen der Jahrgänge 1942– 1961. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Tabelle 16: Grundsicherungsbezug nach beruflichem Abschluss. . . . . . . . . . . . 71 Tabelle 17: Beteiligung der Geburtsjahrgänge 1936–1955 an privater Rentenoder Kapitallebensversicherung (1996 – nach soziodemografischen Merkmalen). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Tabelle 18: Beteiligung der Geburtsjahrgänge 1936–1955 an privater Rentenoder Kapitallebensversicherung im Ehepaarkontext (1996) . . . . . . 74 Tabelle 19: Armutsgefährdungsquoten nach Migrationsstatus und soziodemo­ grafischen Merkmalen (2010). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Tabelle 20: Bevölkerung mit Migrationshintergrund und Armutsgefährdung nach ausgewähltem Herkunftsland (2010). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 Tabelle 21: Einkommenskomponenten nach Migrationshintergrund . . . . . . . . . 79

Tabellenverzeichnis13 Tabelle 22: Altersrentenzahlungen an Bestandsrentner / -innen (ohne Vertrags­ rentner), 2012 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Tabelle 23: Armutsgefährdungsquoten ab 65  Jahre (2012) . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Tabelle 24: Verteilung der Fälle nach Geschlecht, Nationalität und Region. . . 84 Tabelle 25: Persönliche Merkmale, Einkünfte und Bedarfe (in Euro / Monat). . 97 Tabelle 26: Erwerbsbiografie: Dauer verschiedener Statusphasen in Jahren. . . 102 Tabelle 27: Familienbiografie: Merkmale und Statusphasen . . . . . . . . . . . . . . . 108 Tabelle 28: Gesundheitsbiografie: Risiko- und Belastungsfaktoren. . . . . . . . . . 114 Tabelle 29: Bildungsbiografie: Bildungsstand, Aus- und Fortbildung. . . . . . . . 120 Tabelle 30: Vorsorgebiografie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 Tabelle 31: Migrationsbiografie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 Tabelle 32: Gesamtrisikoprofil der Fälle. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 Tabelle 33: Fälle und Risikogruppen im Untersuchungssample. . . . . . . . . . . . . 142 Tabelle 34: Familienorientierte (westdeutsche) Frauen im Sample. . . . . . . . . . 146 Tabelle 35: Geschiedene familienorientierte Frauen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Tabelle 36: Verwitwete familienorientierte Frauen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 Tabelle 37: Zusatzinterviews: Finanziell abhängige westdeutsche Frauen (Aus­ wahl) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 Tabelle 38: Ehemalige Selbstständige im Sample. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 Tabelle 39: Ehemalige Selbstständige: Phasen der Erwerbsbiografie . . . . . . . . 223 Tabelle 40: Vorsorgestrategien von ehemaligen Selbstständigen im Grund­ sicherungsbezug. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 Tabelle 41: Zugewanderte Personen im Sample. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Tabelle 42: Ausländer im Alter von 65 und mehr Jahren nach ausgewählten Staatsangehörigkeiten (2013) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Tabelle 43: Arbeitsmigranten der ersten Generation und ihre Angehörigen. . . 234 Tabelle 44: Spätaussiedler / -innen im Untersuchungssample . . . . . . . . . . . . . . . 256 Tabelle 45: Jüdische Kontingentflüchtlinge im Untersuchungssample. . . . . . . . 276 Tabelle 46: Durchschnittliche Rentenzahlbeträge, Bestandsrenten wegen Alters (2013). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Tabelle 47: Ostdeutsche Grundsicherungsbezieher / -innen im Untersuchungs­ sample . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Tabelle 48: „Komplex Diskontinuierliche“ im Untersuchungssample. . . . . . . . 306 Tabelle 49: Durchschnittliche projizierte Anteile und Dauern verschiedener ­Erwerbsstatus im Kohortenvergleich, deutsche GRV-Bezieherinnen alte Bundesländer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327

14 Tabellenverzeichnis Tabelle 50: Anteil der projizierten persönlichen Nettoalterseinkommen im 65.  Lebensjahr unter 700 Euro / Monat nach Geburtskohorten. . . . 340 Tabelle 51: Niedriglohnrisiko nach verschiedenen Merkmalen (2012) . . . . . . . 347 Tabelle 52: Vermeidung von Altersarmut: Lösungsansätze und Leitunterschei­ dungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 Tabelle 53: Eingeplante Mehrausgaben im Rahmen des RV-Leistungsverbesse­ rungsgesetzes in Mrd. Euro (heutige Werte). . . . . . . . . . . . . . . . . . 388 Tabelle 54: Handlungsebenen der Altersarmutsbegrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . 395

Abbildungsverzeichnis Abbildung   1: Grundsicherungsquote (Alter: 65+) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 Abbildung   2: Grundsicherungsquoten nach Bundesländern (2012). . . . . . . . . 41 Abbildung  3: Geschlechtsstruktur der Grundsicherungspopulation und der Gesamtbevölkerung (2012). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 Abbildung   4: Verteilung nach Staatsangehörigkeit (2012). . . . . . . . . . . . . . . . 44 Abbildung   5: Durchschnittliche Nettoaltersrenten und Bruttobedarf der Grundsicherung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Abbildung   6: Zusammensetzung des bundesdurchschnittlichen Bruttobedarfs (2012). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Abbildung   7: Verteilung der Bruttobedarfe (in Euro / Monat  – 2012). . . . . . . 48 Abbildung   8: Verteilung der angerechneten eigenen Einkommen (2012). . . . 49 Abbildung   9: Einkommensarten nach Häufigkeit (2012). . . . . . . . . . . . . . . . . 50 Abbildung 10: Verteilung der Nettobedarfe (2012). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Abbildung  11: Kinderzahl, Frauen im Alter von 65 und mehr Jahren. . . . . . . 61 Abbildung 12: Zugangsrenten wegen voller Erwerbsminderung – Zahlbeträge. 67 Abbildung 13: Beteiligung an Privatvorsorge (gefördert und ungefördert – 2008) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Abbildung  14: Zuzug von (Spät-)Aussiedlern (1985–2012) . . . . . . . . . . . . . . . 247 Abbildung  15: Zuzug von (Spät-)Aussiedlern: Herkunftsgebiete im Vergleich. 248 Abbildung 16: Zuzug jüdischer Kontingentflüchtlinge (1993–2012) . . . . . . . . 273 Abbildung 17: Arbeitslosenquoten (in % aller abhängigen zivilen Erwerbsper­ sonen – 1991–2013). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 Abbildung 18: Erwerbsverlaufstypen von westdeutschen Frauen: Projizierte Anteile nach Kohorten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 Abbildung 19: Erwerbsverlaufstypen von ostdeutschen Frauen: Projizierte An­ teile nach Kohorten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 Abbildung 20: Anteil der Niedriglohnbeschäftigten (bundeseinheitliche Nied­ riglohnschwelle) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 Abbildung 21: Standardrente und Preisentwicklung, alte Bundesländer (2000 = 100). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348

Einleitung Nahezu alle europäischen Sozialstaaten, deren Alterssicherungssystem traditionell von einer starken staatlichen Rentenversicherung dominiert wird, haben in den letzten zwei Jahrzehnten bedeutende strukturelle Reformen im Bereich der Alterssicherung vorgenommen. Will man den übergreifenden Generaltrend dieser Reformen auf einen Begriff bringen, so kann man von einem Übergang vom Sozialversicherungs- zum Mehrsäulenparadigma spre­ chen (Bönker 2005, Bonoli / Palier 2007, Hinrichs / Jessoula 2012), der sich in einer „zunehmende(n) Verlagerung von der bisherigen, mehr oder weni­ ger umfassenden ersten Säule der staatlichen Alterseinkommenssicherung zu einer Mischung aus gekürzter staatlicher Grundversorgung und privater Zusatzvorsorge“ äußert (Ebbinghaus / Schulze 2007: 294). Spätestens mit der Rentenstrukturreform von 2001 ist es auch in der deutschen Alterssiche­ rungspolitik zu einem „doppelten Paradigmenwechsel“ (Rürup 2000, vgl. Schmähl 2011) gekommen: In der gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) wurde das Ziel der Lebensstandardsicherung explizit zugunsten einer Prio­ rität der Beitragsbegrenzung aufgegeben und somit von einer ausgabenori­ entierten Einnahmepolitik auf eine einnahmeorientierte Ausgabenpolitik umgestellt; im Hinblick auf das Gesamtsystem der Alterssicherung wurde eine schrittweise Transformation von dem bisherigen Ein-Säulen-Modell zu einem Mehrsäulenmodell eingeleitet, in dem privatwirtschaftlich- kapitalge­ deckte Vorsorgeformen eine wachsende Rolle einnehmen sollen. Die seit Mitte der 1990er Jahre durchgeführten Reformen der gesetz­ lichen Rentenversicherung beinhalten im Wesentlichen drei Reformvektoren: Erstens eine allgemeine Niveausenkung durch Modifikation der Rentenan­ passungsformel, zweitens eine selektive Ausdünnung und Umgestaltung des Solidarausgleichs und drittens eine Verkürzung der Rentenbezugsdauer durch Verschärfung der Altersübergangsregelungen und Anhebung des ge­ setzlichen Rentenzugangsalters. Das langfristige Leistungsniveau der gesetz­ lichen Rentenversicherung (GRV) wurde durch den Einbau verschiedener Dämpfungsfaktoren in die Rentenanpassungsformel deutlich abgesenkt; in Zukunft wird dabei insbesondere der „Nachhaltigkeitsfaktor“, der die lang­ fristige Verschlechterung des Verhältnisses von Beitragszahlern und Leis­ tungsempfängern in entsprechende Anpassungsdämpfungen übersetzt, zum Tragen kommen. Parallel zu der Senkung des Leistungsniveaus ist auch der soziale Ausgleich in der GRV sukzessive abgebaut worden; dies betrifft insbesondere die rentenrechtlichen Ausgleichsmechanismen für Zeiten der

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Arbeitslosigkeit und Zeiten der Niedriglohnbeschäftigung. Darüber hinaus wurde durch die Abschaffung fast aller (abschlagsfreien) Frühverrentungs­ möglichkeiten sowie die schrittweise Erhöhung des gesetzlichen Rentenein­ trittsalters auf 67 Jahre der Druck in Richtung einer Verlängerung der effek­ tiven Lebensarbeitszeit verschärft (Fröhler et al. 2013). Im Gegenzug wurde durch die Möglichkeit der Entgeltumwandlung in der betrieblichen Altersvorsorge und die steuerliche Förderung der privaten Altersvorsorge eine bewusste Ressourcen- und Bedeutungsverlagerung zugunsten kapitalgedeckter Vorsorgeformen vorgenommen. Das mit der ­ Dämpfung der Rentenanpassungen verbundene langfristige Absinken des Rentenniveaus soll so durch den Aufbau einer privaten und / oder betriebli­ chen Altersvorsorge kompensiert werden. Dem einzelnen Bürger bzw. der einzelnen Bürgerin wurde im Zuge dieser Gewichtsverschiebung mehr Ver­ antwortung für die Gestaltung des eigenen Erwerbslebens, für die Aufrecht­ erhaltung der eigenen Gesundheit und Beschäftigungsfähigkeit sowie den Aufbau einer (zusätzlichen) Alterssicherung übertragen. Zugleich ist die Initiierung, politische Förderung und Rahmung individueller Vorsorgebio­ grafien durch staatliche Marktregulierung sowie finanzielle Anreize in Form von Zulagen und Steuervergünstigungen zu einem zusätzlichen Feld alters­ sicherungspolitischer Betätigung des Staates geworden (Leisering 2007, 2008; Berner et al. 2010). Die Bundesregierung begründet das neue Leitbild der „Lebensstandardsi­ cherung aus drei Säulen“ nicht nur mit der Notwendigkeit der Sicherstellung der nachhaltigen Finanzierung der Alterssicherungssysteme, sondern ver­ weist darüber hinaus auch auf die individuellen Ertragschancen einer „ge­ mischten“ Altersvorsorge im Hinblick auf das zukünftige Gesamtversor­ gungsniveau. So ermittelt der Alterssicherungsbericht 2012 der Bundesre­ gierung (BMAS 2012d) auf der Grundlage ausgewählter modellhafter Bio­ grafietypen und (annahmeabhängiger) Projektionen ein bis zum Jahr 2030 langfristig steigendes Netto-Gesamtversorgungsniveau; Voraussetzung dafür ist allerdings, dass der Rentenzugang erst mit Erreichen der Regelalters­ grenze erfolgt, dass der bestehende Förderrahmen der zusätzlichen Alters­ vorsorge voll ausgeschöpft wird und dass darüber hinaus die im Zuge des Übergangs zur nachgelagerten Besteuerung entstehende Steuerersparnis zur Anlage einer zusätzlichen „Privat-Rente“ genutzt wird. Demgegenüber betonen große Teile der wissenschaftlichen Forschung, dass mit dem Umbau des deutschen Alterssicherungssystems und der politi­ schen Akzentsetzung auf die „stärkere Eigenverantwortung der Versicherten in Fragen der Altersvorsorge“ (Deutscher Bundestag 2005: 47) sowohl das Risiko einer steigenden Ungleichheit als auch die Gefahr einer zunehmenden Armut im Alter verbunden ist (Schmähl 2006, 2011; Bäcker 2008; Hauser

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2007, 2008, 2009b; Hinrichs 2008, 2012). Nachdem die politische, mediale und auch akademische Diskussion der 1990er und 2000er Jahre sehr stark (und oftmals stark vereinseitigend) von Fragen der fiskalischen „Nachhaltig­ keit“ der gesetzlichen Rentenversicherung geprägt war (Brettschneider 2009, 2012b; Schmähl 2011), lässt sich seit etwa 2008 eine allmähliche Verschie­ bung des Diskussionsschwerpunktes hin zu Fragen der „Angemessenheit“ der zukünftigen Alterssicherung feststellen. Vor dem Hintergrund der bereits beschlossenen Reformen in der Alterssicherung und den parallel dazu stattge­ fundenen Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt (Bogedan / Rasner 2008, Kel­ ler / Seifert 2011, Bosch 2012) wird bereits seit Jahren intensiv über die Ge­ fahr steigender Ungleichheit und mangelnder Absicherung im Alter bis hin zu einer Rückkehr der Altersarmut diskutiert (vgl. die Beiträge in Butterwegge et al. 2012, Vogel / Motel-Klingebiel 2013). In der politischen und akademischen Diskussion zirkuliert eine mittler­ weile schwer zu überblickende Zahl an Vorschlägen, wie die Sicherung der Alterseinkommen insbesondere für benachteiligte Gruppen am Arbeitsmarkt verbessert werden kann, um zukünftige Altersarmut zu verringern oder zu vermeiden (Deutscher Bundestag 2010; Systematisierungen finden sich u. a. bei Loose / Thiede 2006, Loose 2008, Bäcker 2008, Riedmüller / Willert 2009, Kumpmann 2011, Frommert 2013). Auch die Bundesregierung hat die Gefahr einer steigenden Altersarmut mittlerweile offiziell anerkannt: So ist bereits im Koalitionsvertrag von 2009 die „Bekämpfung der Altersarmut“ als ein Ziel der zukünftigen Alterssicherungspolitik formuliert worden (CDU / CSU / FDP 2009: 84). Sieht man von der Einführung eines gesetz­ lichen Mindestlohnes ab dem 1.1.2015 ab, der sicherlich einen positiven mittel- und langfristigen Einfluss auf die Entwicklung der Alterseinkünfte im unteren Einkommenssegment haben wird (Bosch 2014, Kalina / Weinkopf 2014), ist allerdings bislang trotz der jahrelangen Diskussion um Altersar­ mut und die Möglichkeiten ihrer Begrenzung auf gesetzgeberischer Ebene relativ wenig geschehen. Im Bereich der Alterssicherungspolitik ist zwar im Frühjahr 2014 erstmals seit Jahrzehnten wieder ein „Leistungsverbesse­ rungsgesetz“ verabschiedet worden (Deutscher Bundestag 2014); die bereits in der vergangenen Legislaturperiode geplante Einführung einer sogenann­ ten „Zuschussrente“ (BMAS 2011) liegt jedoch vorerst auf Eis. Wenn von aktueller oder zukünftiger „Altersarmut“ gesprochen und über geeignete Maßnahmen zu ihrer Verringerung oder Vermeidung diskutiert werden soll, so muss zunächst geklärt werden, welcher Sachverhalt genau gemeint ist, da die Definition von „Altersarmut“ untrennbar mit Werturtei­ len verbunden ist (Bieber / Stegmann 2008, Bäcker 2008, Hauser 2009b). Hier lässt sich im Wesentlichen zwischen relativer Einkommensarmut, wie sie durch die Armutsgefährdungsquote gemessen wird, und Grundsicherungsbedürftigkeit, wie sie auf der Grundlage der Sozialhilfestatistik ermit­

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telt werden kann, unterscheiden (Bäcker 2008, Goebel / Grabka 2011, Seils 2013). Die im wissenschaftlichen Kontext gebräuchlichste Form der Ar­ mutsmessung orientiert sich an dem Konzept der relativen Einkommensar­ mut gemäß der europäischen Sozialberichterstattung (Atkinson et al. 2002); das Armutsrisiko ist hier definiert als ein bedarfsgewichtetes verfügbares Einkommen von weniger als 60 % des Medians der Gesamtbevölkerung.1 Folgt man diesem Konzept relativer Einkommensarmut, so zeigt sich, dass ältere Menschen in Deutschland zumindest bislang keinesfalls stärker von Einkommensarmut betroffen sind als andere Altersgruppen in der Bevölke­ rung. Gemäß den Ergebnissen des Mikrozensus 2012 liegt die Armutsge­ fährdungsquote der Personen im Alter von 65 und mehr Jahren mit 13,6 % leicht unter derjenigen der Gesamtbevölkerung (15,2 %);2 auch die Studie „Leben in Europa“ (EU-SILC 2012) ermittelt für Seniorinnen und Senioren mit 15,0 % eine leicht niedrigere Armutsrisikoquote als für die Gesamtbe­ völkerung (16,1 %) (Deckl 2013). Von diesem Konzept relativer Einkommensarmut abzugrenzen ist die (im Rahmen der vorliegenden Studie im Vordergrund stehende) Abhängigkeit von Leistungen der bedarfsgeprüften Mindestsicherungssysteme, in diesem Falle von Leistungen der 2003 eingeführten Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem vierten Kapitel des zwölften Sozialgesetz­ buchs (SGB XII). Bislang ist Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter in Deutschland vergleichsweise selten: 2012 bezogen nur 2,7 % aller Personen im Alter von 65 und mehr Jahren Leistungen der Grundsicherung. Auch wenn in diesem Zusammenhang sicherlich eine Dunkelziffer von Personen zu berücksichtigen ist, die Anspruch auf die Leistungen hätten, diese aber aus verschiedenen Gründen nicht in Anspruch nehmen (Becker 2012, 2013), handelt es sich hierbei um einen äußerst niedrigen Wert, wie der Vergleich mit der SGB  II  – Quote in der Bevölkerung unter 65  Jahren (2012: 9,3 %) verdeutlicht. Auch wenn Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter somit zumindest aktu­ ell kein akutes und massives Problem zu sein scheint, ist sie für die Sozialund Alterssicherungspolitik dennoch eine besondere Herausforderung. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass der Zustand der Armut bzw. der Hilfebedürftig­ keit im Alter kaum als vorübergehende Phase im Lebensverlauf der betroffe­ 1  Je nach verwendender Datengrundlage und zugrunde gelegtem Einkommens­ konzept fällt die Armutsrisikoschwelle unterschiedlich hoch aus. So lag die bundes­ einheitliche Armutsrisikoschwelle für einen Einpersonenhaushalt im Jahr 2012 laut Mikrozensus-Daten bei einem monatlichen Einkommen von 869 Euro; nach den Daten der Studie „Leben in Europa“ (EU-SILC) lag sie 2012 für einen Einpersonen­ haushalt hingegen bei 993 Euro/Monat (Deckl 2013). 2  Daten der amtlichen Sozialberichterstattung, online abrufbar unter www.amt liche-sozialberichterstattung.de.

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nen Person konzipiert werden kann, die durch geeignete Hilfsmaßnahmen und insbesondere durch Eigenaktivitäten der Betroffenen innerhalb eines ab­ sehbaren Zeitraums überwunden werden kann. Insbesondere die (Re-)Integ­ ration in den ersten Arbeitsmarkt, die im Mittelpunkt entsprechender „Akti­ vierungsmaßnahmen“ im SGB II steht, ist hier gleichsam definitorisch ausge­ schlossen; dies gilt jedenfalls so lange, wie an der Vorstellung eines dreiteili­ gen Lebenslaufes mit institutionalisierter Ruhestandsphase festgehalten wird. Insofern greift eines der zentralen Prinzipien der „klassischen“ Sozialhilfe, nämlich das Prinzip „Hilfe zur Selbsthilfe“, bei älteren Personen nicht, da die Betroffenen praktisch keine Möglichkeit haben, ihre Hilfebedürftigkeit aus eigener Kraft zu überwinden (Bäcker 2001: 712). Jenseits des gesetzlichen Renteneintrittsalters sind in der großen Mehrheit der Fälle keine größeren Veränderungen des Einkommens und des Vermögens mehr zu erwarten. Mit dem Eintritt in den Ruhestand werden keine weiteren Anwartschaften an die diversen Alterssicherungssysteme mehr erworben; die Höhe der regelmäßig bezogenen Renten ist festgelegt und ändert sich nur durch eventuelle Renten­ anpassungen. Sicherlich sind späte Erbschaften oder eine späte Heirat nicht ausgeschlossen; sie dürften aber insgesamt doch eine Ausnahme darstellen. Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter muss somit in der Regel als biografi­ scher „Endzustand“ und damit auch als eine besonders schwerwiegende Form der Armut verstanden werden. Angesichts der Veränderungen am Arbeitsmarkt und in den individuellen Erwerbsbiografien und den kumulativen Wirkungen der Rentenreformen herrscht in der Alterssicherungsforschung eine weitgehende Übereinstim­ mung, dass relative Einkommensarmut und Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter mittelfristig deutlich zunehmen dürften (Trischler 2014); die Entwick­ lung zielführender und ursachenadäquater politischer Strategien zur Begren­ zung der zukünftigen Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter stellt somit eine zentrale sozialpolitische Herausforderung für die nächsten Jahre dar. Trotz der starken Zunahme von Studien und Aufsätzen, die sich auf die eine oder andere Weise mit dem Thema „Altersarmut“ befassen, sind empi­ rische Untersuchungen, die sich explizit auf die detaillierte Analyse der Ursachen individueller Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter richten, bis­ lang jedoch eher selten; zumindest gibt die Bundesregierung im Rahmen einer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage der Fraktion Bündnis 90 / Die Grünen vom November 2011 an, dass ihr „umfassende Studien, die eine Beurteilung der relevanten Ursachen ermöglichen könnten, […] nicht bekannt“ seien (Deutscher Bundestag 2011: 35). Ein großer Teil der aktuellen Forschung konzentriert sich auf die Folgen des Wandels der Erwerbsverläufe für die künftige Alterssicherung (Heien et  al. 2007, Steiner / Geyer 2010, Simonson et  al. 2012, Frommert 2013,

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Trischler 2014); nicht wenige arbeiten dabei mit modellbasieren Fortschrei­ bungen von Lebensläufen, um zukünftige Entwicklungen der Alterseinkünf­ te zu projizieren.3 Zwar erlauben einige der größeren quantitativen Studien zum Zusammenhang zwischen individuellem Erwerbsverlauf und erreichten Altersanwartschaften auch Aussagen über die Eigenschaften „prekärer“ Bio­ grafien; so enthält beispielsweise die Studie „Altersvorsorge in Deutsch­ land“ (AVID 2005) einen kurzen Abschnitt mit Angaben zur Länge ausge­ wählter Biografie-Episoden im unteren Einkommensquintil (Heien et al. 2007: 247–252). Die meisten Studien und Projektionen zielen jedoch eher auf die Entwicklung von Durchschnittswerten ab (Steiner / Geyer 2010, Si­ monson et al. 2012); zudem beziehen sie sich in der Regel auf die Entwick­ lung der Anwartschaften in der GRV, nicht jedoch auf das individuelle Gesamteinkommen im Alter (Trischler 2014). Auch die bislang erarbeiteten Typologien von Versichertenbiografien (Hauschild 2002, Stegmann 2008) bzw. Erwerbsverlaufstypen (Frommert 2013) erlauben zwar allgemeine Aus­ sagen darüber, welche (Erwerbs-)Biografietypen tendenziell mit eher nied­ rigeren (persönlichen) Alterseinkommen verbunden sind; sie sind jedoch nicht spezifisch auf Altersarmut bzw. auf Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter ausgerichtet. Eine empirisch fundierte Typologie von „Grundsiche­ rungsbiografien“ bzw. von spezifischen Risikogruppen in Bezug auf Grund­ sicherungsbedürftigkeit im Alter liegt zumindest bislang nicht vor. An dieser Stelle setzt die vorliegende, qualitativ angelegte Studie an. Sie zielt darauf ab, ein möglichst detailliertes Bild des aktuellen „Grundsiche­ rungsgeschehens“ zu zeichnen und zugleich eine möglichst umfassende Analyse der biografischen Determinanten der Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter vorzunehmen. Gegenstand des empirischen Teils der Untersuchung ist die typisierende Analyse von „prekären“ Lebensverläufen und Altersvor­ sorgebiografien, die im Ergebnis zu einer Inanspruchnahme der Grundsiche­ rung im Alter führen bzw. geführt haben. Die empirische Grundlage bilden 49 biografisch- problemzentrierte Interviews mit grundsicherungsbedürftigen Seniorinnen und Senioren der Geburtsjahrgänge 1938–1947. Die befragten Personen waren zum Interviewzeitpunkt zwischen 65 und 75  Jahre alt und bezogen Leistungen der Grundsicherung im Alter nach dem 4. Kapitel des SGB XII. Ausgehend von der Gruppe der aktuell grundsicherungsbedürfti­ gen Personen werden retrospektiv die charakteristischen Merkmale der Le­ bensverläufe der Betroffenen rekonstruiert und analysiert, um auf diese Weise verallgemeinerbare Risikokonstellationen und Biografiemuster zu identifizieren. 3  Für einen Überblick über die vorliegenden Studien mit Fortschreibungen von Biografien und eine kritische Analyse ihrer Möglichkeiten und Grenzen vgl. Grabka/ Rasner 2013.

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Folgende Fragestellungen stehen dabei im Vordergrund: Inwiefern unter­ scheiden sich die „typischen“ Lebensverläufe der aktuell grundsicherungs­ bedürftigen Personen von denen der Gesamtbevölkerung bzw. der nicht grundsicherungsbedürftigen Bevölkerung im Rentenalter? Lassen sich spe­ zifische Risikokonstellationen und Verlaufsmuster identifizieren, die maß­ geblich für die individuelle Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter gewesen sind? Lassen sich auf dieser Grundlage verschiedene Typen von „Grundsi­ cherungsbiografien“ und damit auch verschiedene Risikogruppen voneinan­ der unterscheiden? Zu guter Letzt: Welche Konsequenzen und Kriterien ergeben sich daraus für die zielgenaue und zielgruppenspezifische Ausge­ staltung einer ursachenadäquaten Strategie zur Vermeidung bzw. Begren­ zung zukünftiger Grundsicherungsbedürftigkeit? Nur vor dem Hintergrund einer umfassenden und detaillierten Analyse der aktuellen Situation und ihrer Hintergründe, so die Grundüberlegung, sind fundierte Annahmen über zukünftige Entwicklungen und Handlungsbedarfe möglich. Die Situation im Alter wird maßgebend durch Entwicklungen in den da­ vorliegenden Lebensphasen geprägt. Die empirische sozialwissenschaftliche Lebenslaufforschung (Kohli 1985, 2003; Mayer 1995, 2001; Allmendinger 1994; Heinz 2000, Leisering et al. 2001, Sackmann 2007, Konietzka 2010, Blossfeld et al. 2014) hat wichtige theoretische und methodische Grundla­ gen für die Analyse institutionell gerahmter Lebensverläufe entwickelt und zugleich den Blick für die sozialpolitischen Konsequenzen institutioneller „Lebenslaufregime“ eröffnet. Gegenüber konventionellen Querschnittsbe­ trachtungen zeichnet sich die Lebensverlaufsperspektive dadurch aus, dass sie nicht mehr nur auf einzelne Lebensabschnitte schaut, sondern den Blick auf das komplexe Ensemble der Faktoren richtet, die einen Einfluss auf unterschiedliche Phasen in Lebensverläufen haben. Individuelle Lebensläufe lassen sich in diesem Zusammenhang als „mehr­ dimensionale, selbstreferenzielle und kumulative Mehrebenenprozesse“ verstehen (Blossfeld et al. 2014: 266). Sie werden einerseits durch soziale, ökonomische, politisch- institutionelle und kulturelle Bedingungen gerahmt, die materielle Anreize und Sanktionen setzen, gesellschaftliche Normalitäts­ standards definieren und zugleich individuelle Erwartungsmuster prägen. Diese institutionellen Rahmenbedingungen des Lebenslaufes befinden sich in einem kontinuierlichen Wandel, von dem verschiedene Geburtskohorten und Teilgruppen innerhalb dieser Kohorten zu unterschiedlichen Zeitpunk­ ten in unterschiedlichem Maße betroffen sind. Individuelle Lebensverläufe können daher nicht unabhängig von gesamtgesellschaftlichen Prozessen betrachtet werden, sondern müssen mit ihnen analytisch in Beziehung ge­ setzt werden. Darüber hinaus ist jedoch zu berücksichtigen, dass Individuen oftmals auf der Grundlage ihrer kumulierten Erfahrungen und Ressourcen handeln: „Die Vorgeschichte der Akteure hat Auswirkungen auf deren künf­

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tige Entscheidungs- und Handlungsprozesse“ (Blossfeld et al. 2014: 268). Auf der Ebene der individuellen Lebensgeschichte gibt es somit auch einen endogenen Kausalzusammenhang, eine immanente Eigenlogik; gerade in der Längsschnittperspektive zeigt sich, dass Ereignisse und Entscheidungen in früheren Lebensabschnitten sehr weitreichende und nicht beabsichtigte langfristige Auswirkungen haben und sich gegenseitig verstärken bzw. ku­ mulieren können. Von besonderer Bedeutung für die vorliegende Studie ist der Aspekt der Mehrdimensionalität des Lebensverlaufes. Lebensläufe sind mehrdimensio­ nale Prozesse, die sich über verschiedene Lebensbereiche erstrecken, zwi­ schen denen Interdependenzen bestehen (Mayer 2001: 447); sie werden „nicht nur durch die Logik des Handelns in einzelnen Lebensbereichen, sondern auch durch Einbettungen und wechselseitige Beziehungen des Han­ delns zwischen Lebensbereichen geprägt“ (Konietzka 2010: 28, Hervorhe­ bung der Autoren). Individuelle Lebensverläufe lassen sich somit analytisch in verschiedene Teilaspekte bzw. Teildimensionen (Arbeit, Familie, Bildung, Gesundheit etc.) unterteilen, zwischen denen komplexe Wechselwirkungen bestehen (können). Diese komplexe Gemengelage aus sich wandelnden in­ stitutionellen und ökonomischen Rahmenbedingungen, gesellschaftlichen und kulturellen Normen, kumulativ- selbstreferenziellen Prozessen und biografischen „Lebensbereichsinterdependenzen“ (Konietzka 2010: 39) gilt es zu berücksichtigen, wenn die biografischen Determinanten der Grundsi­ cherungsbedürftigkeit im Alter in den Blick genommen und geeignete Maß­ nahmen zu ihrer zukünftigen Begrenzung diskutiert werden sollen. Konzeptionell erscheint es daher zielführend, bei der Analyse der biogra­ fischen Determinanten der Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter nicht a priori von (statischen) Risikogruppen auszugehen (z. B. Langzeitarbeitslose, Erwerbsgeminderte, Geringverdiener, ungesicherte Selbstständige etc.), son­ dern vielmehr einen dynamischen und mehrdimensionalen Ansatz zu wäh­ len. Eine solche mehrdimensionale Perspektive auf die individuellen Le­ bensverläufe öffnet den Blick für die Bandbreite der individuellen Risiko­ konstellationen und -kombinationen, die im Ergebnis zur Grundsicherungs­ bedürftigkeit im Alter führen können. Der qualitative Ansatz der Studie ermöglicht es darüber hinaus, die in quantitativen Studien zum Zusammen­ hang von Biografie und Alterseinkommen kaum erfassbare Ebene der sub­ jektiven Deutungsmuster, lebensweltlichen Konstellationen und individuel­ len Handlungsorientierungen der Betroffenen stärker zu berücksichtigen. Die Arbeit ist folgendermaßen aufgebaut: In Kapitel I. wird zunächst das 2003 neu geschaffene und 2005 in das SGB  XII integrierte Leistungssystem der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem 4. Ka­ pitel des SGB XII ausführlich dargestellt, welches den institutionellen Rah­

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men der sozialpolitischen Bearbeitung der finanziellen Hilfsbedürftigkeit im Alter setzt; anschließend werden die aktuellen Daten der Grundsicherungs­ statistik detailliert aufgearbeitet, um einen Überblick über die soziodemo­ grafische Struktur, die Einkommensquellen und die Brutto- und Nettobedar­ fe der heutigen „Grundsicherungspopulation“ zu geben. In Kapitel II. werden ausgewählte Ergebnisse aus der bestehenden Forschungsliteratur zu den biografischen Risikofaktoren für die individuelle Einkommenssituation im Alter in systematisierender Form zusammengefasst. Grundlage der Systema­ tisierung ist ein mehrdimensionales Lebenslaufkonzept, welches neben der Erwerbsbiografie eine Reihe weiterer Biografiedimensionen unterscheidet, die sich im Hinblick auf eine mögliche Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter als biografische Risikodimensionen verstehen lassen. Die in Kapitel I. herausgearbeitete soziodemografische Struktur der aktu­ ellen Grundsicherungspopulation und die in Kapitel II. herausgearbeiteten zentralen biografischen Risiken und Risikodimensionen gehen in die kon­ zeptionellen Grundlagen der empirischen Untersuchung ein, die den Haupt­ teil der vorliegenden Studie bildet. Die Datengrundlage und der methodolo­ gische Ansatz der Untersuchung werden in Kapitel III. beschrieben. Die Darstellung der empirischen Ergebnisse der Studie ist in zwei eigenständige Kapitel aufgeteilt, in denen jeweils eine andere Perspektive im Vordergrund steht: Im Mittelpunkt von Kapitel IV. („Risiken und Risikodimensionen“) steht die Analyse der verschiedenen Risiken und Belastungen, denen die Befragten in ihrem Lebensverlauf ausgesetzt gewesen sind, und die Diskus­ sion ihrer mutmaßlichen kausalen Relevanz für die heutige Grundsiche­ rungsbedürftigkeit der Betroffenen. Hierbei erfolgt eine Differenzierung entlang der verschiedenen biografischen Risikodimensionen, die bereits in Kapitel II. ausführlich beschrieben worden sind. In Kapitel V. („Zentrale Risikogruppen“) werden die untersuchten Fälle nach ausgesuchten biografi­ schen Merkmalen zu Risikogruppen bzw. Typen zusammengefasst, so dass sich ein Panorama der wichtigsten aktuell betroffenen Risikogruppen für Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter ergibt. Diese beiden Perspektiven (Risikodimensionen und Risikogruppen) ergänzen einander; zusammenge­ nommen ergeben sie ein Gesamtpanorama der aktuellen Grundsicherungs­ population im Alter zwischen 65 und 75 Jahren, der zentralen Risikogruppen sowie der biografischen Determinanten ihrer Grundsicherungsbedürftigkeit. Während in den beiden empirischen Kapiteln im Wesentlichen die Ver­ gangenheit (retrospektive Analyse der Lebensverläufe) sowie die Gegenwart des Grundsicherungsgeschehens betrachtet werden, richtet sich der Blick in Kapitel VI. auf die Zukunft und die in den nächsten zwei Jahrzehnten zu erwartenden Entwicklungen. Zu diesem Zweck werden die Ergebnisse der eigenen Empirie, die sich auf die Kriegs- bzw. die unmittelbaren Nach­ kriegskohorten beziehen, in Bezug zu den Ergebnissen der bestehenden

26 Einleitung

Studien und Projektionen gesetzt, die sich mit jüngeren Kohorten beschäf­ tigen, insbesondere mit den sogenannten „Babyboomer“-Kohorten. Es wird ein vorsichtiger Ausblick darauf gegeben, wie sich die empirisch identifi­ zierten Risikogruppen in Zukunft voraussichtlich entwickeln dürften, welche Risikogruppen mittel- und langfristig schrumpfen oder wachsen dürften und welche neuen Risiken und Risikogruppen voraussichtlich hinzukommen werden. Auf der Grundlage der Erkenntnisse aus dem empirischen Hauptteil der Studie werden im Anschluss mögliche sozialpolitische Konsequenzen disku­ tiert. In Kapitel VII. wird zunächst ein knapper, systematisierender Über­ blick über die aktuelle politische und akademische Diskussion hinsichtlich der Optionen zur Begrenzung zukünftiger Altersarmut gegeben, um im Anschluss die diesbezügliche Entwicklung der Alterssicherungspolitik der letzten Jahre kritisch zu analysieren. In Kapitel VIII. wird schließlich ein eigener Vorschlag zur Begrenzung zukünftiger Grundsicherungsbedürftigkeit und finanzieller Abhängigkeit im Alter entwickelt. Dabei handelt es sich um ein Mehrebenenkonzept, das in erster Linie präventiv ausgerichtet ist und eine Antwort auf veränderte Erwerbs- und Lebensverläufe geben will, die an den Ursachen unzureichender Alterssicherungsansprüche ansetzt. Norma­ tiver Ausgangspunkt des Konzepts ist das Mindestsicherungsziel der Ge­ währleistung eines existenzsichernden eigenständigen Alterseinkommens für alle Bürgerinnen und Bürger, das im Wesentlichen durch eine umfassende soziale Lebenslaufpolitik und eine Weiterentwicklung der gesetzlichen Ren­ tenversicherung zu einer Bürgerversicherung mit Mindestbeitragspflicht re­ alisiert werden soll. Die wesentlichen Aussagen und politischen „Kernbot­ schaften“ der Studie werden im abschließenden Kapitel IX. noch einmal zusammengefasst.

I. Grundsicherung und Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter 1. Die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem 4. Kapitel des SGB XII a) Hintergrund und Zielsetzung Die Vermeidung von Einkommensarmut im Alter ist eine wichtige Auf­ gabe der Sozialpolitik. Die gesetzliche Rentenversicherung (GRV) ist als vorleistungsbezogenes Versicherungssystem mit Lohnersatzfunktion aller­ dings nicht auf die Vermeidung von Altersarmut, sondern auf die Versteti­ gung des Einkommens über den Lebenslauf ausgerichtet; die Sicherstellung des soziokulturellen Existenzminimums ist Aufgabe der steuerfinanzierten Mindestsicherungssysteme. Anders als in den meisten anderen europäischen Ländern hast es in Deutschland bis zum Jahr 2003 kein gesondertes Min­ destsicherungssystem für Seniorinnen und Senioren gegeben; die Mindest­ versorgung im Alter war Teil des Systems der allgemeinen Sozialhilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG). Die Einführung einer gesonderten „Grundsicherung“ für Seniorinnen und Senioren ist zwar seit den 1980er Jahren immer wieder kontrovers diskutiert worden (wobei mit dem Begriff der „Grundsicherung“ ganz verschiedene Modelle gemeint sein können, vgl. Bäcker 2001: 698–700); bis zum Regierungswechsel 1998 gab es in dieser Frage jedoch keine Bewegung. Die zum 1.1.2003 erfolgte Einführung der „Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung“ war ein Bestandteil der großen Rentenstrukturreform von 2001 („Riester-Reform“). Ursprünglich hatte die damalige rot-grüne Bundesregierung geplant, eine „armutsfeste“ Mindestsicherung in Form eines bedarfsorientierten und einkommensüberprüften Rentenzuschlags innerhalb der gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) einzuführen; im Koalitionsver­ trag zwischen SPD und Bündnis 90 / Die Grünen vom Oktober 1998 war die Absicht erklärt worden, ein „Konzept für eine bedarfsorientierte soziale Grundsicherung“ zu entwickeln, das „schrittweise eingeführt“ werden sollte (SPD / Bündnis 90 / Die Grünen 1998: 30). Die Option einer Lösung innerhalb der GRV wurde kontrovers diskutiert; seitens der Rentenversicherungsträger wurde unter anderem kritisiert, dass durch den Einbau einer bedürftigkeitsge­ prüften Leistung in die GRV die Grenzen zwischen beitragsfinanzierten Ver­ sicherungssystem und steuerfinanzierten Sozialhilfesystem verwischt würden

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I. Grundsicherung und Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter

und der Zusammenhang zwischen individueller Vorleistung und späterer Rentenleistung verloren gehe, was zu schwerwiegenden Akzeptanzproble­ men der GRV führen könne (Ruland 1999). Zudem wurde die Gefahr gese­ hen, dass es auf diese Weise zu einem schrittweisen Einstieg in eine steuerfi­ nanzierte „Grundrente“ kommen könnte (vgl. Dünn et al. 2003: 254). Im Laufe der langwierigen Diskussionen um die große Rentenstrukturre­ form ist die Bundesregierung schließlich von ihren ursprünglichen Überle­ gungen abgerückt, die bedürftigkeitsgeprüfte Mindestsicherung in die GRV zu integrieren; stattdessen wurde entschieden, die Mindestsicherung in ei­ nem eigenständigen, gegenüber dem BSHG vorrangigen Leistungsgesetz zu regeln (vgl. Hinrichs 2001: 223–226). Durch das Gesetz über eine bedarfsorientierte Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (GSiG), das als Artikel 12 im Altersvermögensgesetz (AVmG) vom 26.6.2001 ent­ halten ist, wurde die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung zum 1.1.2003 als eigenständige, aber dem Sozialhilferecht angeglichene Leistung eingeführt. Durch die gegenüber dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) vorrangigen Leistungen nach dem GSiG sollte die Notwendigkeit der Gewährung von Sozialhilfe für über 65-jährige sowie über 18-jährige voll erwerbsgeminderte Personen im Regelfall vermieden werden (Deut­ scher Bundestag 2001: 48). Träger der Grundsicherung waren gem. § 4 GSiG die Kreise und kreisfreien Städte, in deren Gebiet die antragsberech­ tigte Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Die Grundsicherung enthielt zwar praktisch auch nur einen Sozialhilfeanspruch und keinesfalls eine Grund- oder Mindestrente, sollte jedoch dem Grundsatz nach nicht durch das So­zialamt, sondern durch eine eigene Behörde verwaltet werden. Offizielles Ziel der Einführung der Grundsicherung im Alter war, so die entsprechende Formulierung im Gesetzentwurf zum Altersvermögensgesetz, die „Verhinderung verschämter Armut“ (Deutscher Bundestag 2000: 43). Ausgangspunkt war das Problem, dass gerade ältere Menschen ihren beste­ henden Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem BSHG häufig nicht wahrnahmen, so dass es zu vermeidbaren Unterversorgungen kam. Das Arbeitsministerium ging seinerzeit von einer „Dunkelziffer“ der NichtInanspruchnahme der Sozialhilfe von bis zu 100 % aus, so dass auf einen älteren Menschen, der im Alter Sozialhilfe bezieht, ein älterer Mensch kä­ me, der eine solche ihm zustehende Leistung erst gar nicht beantragt (Ries­ ter 2000: 12). Für die Nichtinanspruchnahme von Leistungen trotz grund­ sätzlicher Berechtigung im Sinne einer „verschämten Altersarmut“ wurden im Wesentlichen drei Gründe ausgemacht: Fehlende oder mangelhafte Infor­ mation, Scham vor dem Gang zum Sozialamt und Angst vor dem Unter­ haltsrückgriff auf die Kinder (Deutscher Bundestag 2000: 43). Durch die Einführung der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsmin­ derung sollten diese Hemmschwellen zumindest ein Stück weit abgebaut



1. Erwerbsminderung nach dem 4. Kapitel des SGB XII29

werden, um dadurch den Grad der Nichtinanspruchnahme und damit das Ausmaß der verschämten Altersarmut zu reduzieren. Erstens sollte die In­ formation der potentiell Leistungsberechtigten über ihre Leistungsansprüche und die Leistungsvoraussetzungen verbessert werden, um die bestehenden Informationslücken und Fehlinformationen bei den Betroffenen zu reduzie­ ren. Im Zusammenhang mit der Beantragung von Grundsicherungsleistun­ gen wurden den Rentenversicherungsträgern neue Aufgaben zugewiesen: Die Rentenversicherungsträger sind nach § 109a SGB VI unter anderem dazu verpflichtet, jeder Neurentnerin und jedem Neurentner, deren / dessen Rentenanwartschaft weniger als 27 Entgeltpunkten entspricht, ein Antrags­ formular auf Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung zuzusen­ den, die Betroffenen gegebenenfalls bei einer Antragsstellung zu unterstüt­ zen sowie gestellte Anträge entgegenzunehmen und an die zuständigen Sozialhilfeträger weiterzuleiten (vgl. Dünn et al. 2003). Zweitens sollte durch den Verzicht auf den in der Sozialhilfe üblichen Rückgriff auf das Einkommen der zum Unterhalt der Eltern verpflichteten Kinder ein wesentlicher Grund für die Nichtinanspruchnahme der Leistung abgeschafft werden. Die Bedürftigkeitsprüfung wurde daher eingeschränkt; das Einkommen der Kinder muss nun nicht mehr in allen Details offen gelegt werden, und Kinder müssen nur noch (Teil-)Unterhalt leisten, wenn sie mehr als 100.000 Euro im Jahr verdienen. Der Verzicht auf den Unter­ haltsrückgriff ist der mit Abstand wichtigste Punkt des GSiG und streng genommen die einzige materiell relevante Verbesserung gegenüber der bis dahin geltenden Regelung, zumal eine Erhöhung des Leistungsniveaus zu keinem Zeitpunkt vorgesehen gewesen ist. Drittens sollte sichergestellt werden, dass im Alter für die Sicherung eines Lebensunterhaltes in Höhe der bisherigen HLU „kein Antrag beim Sozial­ amt mehr erforderlich“ sein sollte (Riester 2000: 12). Da die bisherige So­ zialhilfe in der öffentlichen Wahrnehmung „mit dem Stigma des Randstän­ digen behaftet“ war (Spindler 2010: 259), sollte der Begriff der „Grundsi­ cherung“ gerade auch für ältere Menschen weniger abschreckend als der Begriff „Sozialhilfe“ wirken; die oftmals nicht unwesentliche Hemmschwel­ le des „Bittstellens“ sollte durch die Einrichtung einer neuen, eigenständigen Behörde außerhalb des Sozialamts gesenkt werden. Dieser Punkt war insbe­ sondere bei der Außendarstellung der Reformen relevant. So betonte bei­ spielsweise der damalige Finanzminister Hans Eichel (SPD) im Zusammen­ hang mit der Einführung der Grundsicherung im Alter: „Das ist ein sehr großer Erfolg der Rentenpolitik. Niemand muss dann wegen einer kleinen Rente zum Sozialamt gehen. Der Gang zum Sozialamt ist unwürdig für Menschen, die ein Leben lang gearbeitet haben.“ (BM Hans Eichel, BTProt.14 / 47: 3912, 24.6.1999)

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I. Grundsicherung und Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter

Insgesamt sollte die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung zumindest der offiziellen Intention nach möglichst „niedrigschwellig“ und nicht-stigmatisierend angelegt sein; zudem wollte die Bundesregierung vor dem Hintergrund der durch das Altersvermögensergänzungsgesetz beschlos­ senen Leistungskürzungen deutlich machen, dass die Rente im Rahmen des Gesamtreformpaketes nicht nur „zukunftsfest“, sondern auch „armutsfest“ gemacht werden sollte. Die getroffenen Regelungen zur Grundsicherung im Alter hatten jedoch nicht lange Bestand. Mit dem Gesetz zur Einordnung des Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch vom 27. 12. 2003 wurden die sozialhilferechtlichen Regelungen grundlegend reformiert und in einem neuen Sozialgesetzbuch, dem SGB XII, zusammengefasst. Die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, die 2003 als eine eigenständige, der Sozialhilfe vorge­ lagerte Leistung geschaffen worden war, wurde in diesem Zusammenhang wieder in das Sozialhilferecht zurückgeführt und als 4. Kapitel mit den §§ 41–46 in das SGB  XII eingegliedert, das am 1.1.2005 in Kraft getreten ist.4 Die „Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung“ ist seitdem keine eigenständige Leistung mehr, sondern formal und faktisch Teil der Sozialhilfe und wird dementsprechend auch (wieder) von den Sozialhilfeträ­ gern verwaltet. Mit der Integration der Grundsicherung in das SGB XII ist das zum gro­ ßen sozialpolitischen Fortschritt erklärte Ziel, alten Menschen den sprich­ wörtlichen „Gang zum Sozialamt“ zu ersparen, mehr oder weniger still­ schweigend wieder aufgegeben worden (kritisch dazu: (Trenk-Hinterberger 2007: 544–545). Insgesamt halten sich die konkreten sozialpolitischen Verbesserungen, die mit der 2003 erfolgten Einführung der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung einhergehen, in relativ engen Grenzen: Bedürftige ältere Menschen müssen weiterhin zum Sozialamt, und sie müs­ sen weiterhin eine (allerdings um die Ermittlung der Einkommen der Kinder eingeschränkte) Bedarfsprüfung über sich ergehen lassen. Insofern dürfte die Hemmschwelle, diese Leistung zu beantragen, für viele ältere Menschen vermutlich immer noch groß sein. Becker (2012) kommt daher auf der Grundlage modellbasierter Schätzungen zum Ausmaß der Nichtinanspruch­ nahme der Grundsicherung im Alter durch Seniorinnen und Senioren zu dem Ergebnis, dass das Ziel des GSiG, die verschämte Altersarmut signifi­ kant zu reduzieren, größtenteils verfehlt worden ist. 4  Parallel dazu wurde durch das Vierte Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt („Hartz IV“) vom 24.12.2003 mit der „Grundsicherung für Arbeits­ suchende“ (Arbeitslosengeld II) eine neue Leistung für erwerbsfähige ehemalige Sozial- und Arbeitslosenhilfebezieher/-innen eingeführt, die im Rahmen des neu geschaffenen SGB  II ebenfalls zum 1.1.2005 in Kraft getreten ist.



1. Erwerbsminderung nach dem 4. Kapitel des SGB XII31

b) Ausgestaltung des Leistungsrechts aa) Zugangsvoraussetzungen Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbs­ minderung haben Personen, die entweder das 18. Lebensjahr vollendet ha­ ben und dauerhaft voll erwerbsgemindert sind oder die gesetzliche Regelal­ tersgrenze erreicht haben, sofern sie ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, insbesondere aus ihrem Einkommen und Vermögen, bestreiten können. Obwohl in der amtlichen Statistik wie oftmals auch in der politischen Diskussion zwischen der Gruppe der voll erwerbsgeminderten Bezieher / -innen im Alter von 18 bis 64 Jahren einerseits und der Gruppe der Bezieher / -innen im Rentenalter andererseits unterschieden wird, handelt es sich bei der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nicht um zwei getrennte Leistungssysteme: So wie im SGB VI eine bestehende Erwerbsminderungsrente mit Erreichen der Regelaltersgrenze automatisch in eine Altersrente umgewandelt wird, wird im 4. Kapitel des SGB XII die Leistungsberechtigung wegen dauer­ hafter voller Erwerbsminderung automatisch zu einer Leistungsberechtigung wegen Alters. Die maßgebliche Altersgrenze der Grundsicherung im Alter ist nach § 41 (2) SGB XII an die gesetzliche Regelaltersgrenze in der GRV gekoppelt; sie steigt somit parallel zur Altersgrenzenanhebung in der GRV ab dem Geburtsjahrgang 1947 um jeweils einen Monat pro Jahrgang (ab Jahrgang 1959 um 2 Monate) bis auf 67  Jahre für den Jahrgang 1964 und alle weiteren Jahrgänge. Die Leistungen der Grundsicherung werden nur auf Antrag gewährt und nach § 44 (1) SGB XII in der Regel für jeweils ein Jahr bewilligt; danach ist jedes Jahr ein (in der Praxis meist stark verein­ fachter) Folge- bzw. Verlängerungsantrag zu stellen. bb) Leistungen und anerkannte Bedarfe Die monatlichen Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Er­ werbsminderung werden im Wesentlichen nach Regelsätzen erbracht. Der Regelsatz ist der Betrag, mit dem die laufenden Leistungen für Ernährung, Kleidung, Körperpflege, Hausrat sowie die Bedürfnisse des täglichen Le­ bens bezahlt werden. Die Höhe des Eckregelsatzes ist für alle Mindest­ sicherungssysteme einheitlich geregelt; im Jahr 2014 lag er bei 391 Euro / Monat. Bei (Ehe-)Paaren wird er wegen des gemeinsamen Wirtschaftsvor­ teils etwas niedriger angesetzt; er beträgt dann für beide Partner jeweils 90 % des Eckregelsatzes. Zusätzlich zum Regelsatz werden nach § 35 SGB XII die angemessenen Kosten für Unterkunft, Heizung und zentrale Warmwasserversorgung (KdU) als Bedarf anerkannt. Wenn die Kosten der

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I. Grundsicherung und Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter

Unterkunft die in der Kommune geltende Angemessenheitsgrenze über­ schreiten, werden sie zunächst nur für sechs Monate übernommen; die Be­ troffenen werden aufgefordert, sich eine angemessene Wohnung zu suchen oder die Kosten anders zu senken. Dabei gelten die Grenzen aber nicht pauschal, sondern müssen für den Einzelfall festgesetzt werden. Woh­ nungsbeschaffungskosten, Mietkautionen und Umzugskosten können bei vorheriger Zustimmung übernommen werden, wobei Mietkautionen als Darlehen zu gewähren sind. Neben dem Regelsatz und den Aufwendungen für Unterkunft und Heizung können im Rahmen des SGB XII eine Reihe zusätzlicher regelmäßiger Bedarfe anerkannt werden (Renn / Schoch 2008, Conradis 2013): − Mehrbedarf wegen eingeschränkter Mobilität: Wenn ein Schwerbehinder­ tenausweis mit dem Merkzeichen „G“ oder „aG“ vorliegt, wird nach § 30 (1) SGB XII ein zusätzlicher Mehrbedarf in Höhe von 17 % vom maß­ geblichen Regelsatz anerkannt. − In besonderen Fällen kann nach § 30 (5) SGB  XII auch ein Mehrbedarf für kostenaufwendige Ernährung anerkannt werden (etwa für Diäten bei Diabetes, Magen- und Darmerkrankungen, Krebs usw.). − Nach § 32 (5) SGB  XII müssen die Sozialhilfeträger Aufwendungen für eine (private) Krankenversicherung übernehmen, soweit sie angemessen sind; dies gilt analog auch für die Pflegeversicherung. Die Bewertung der Angemessenheit soll sich im Prinzip nach dem individuellen Versiche­ rungsverhältnis richten; als Richtwert gilt der (vom jeweiligen Kranken­ versicherer auf die Hälfte des Normalsatzes zu reduzierende) Basistarif in der privaten Krankenversicherung. Eine Rückkehr in die gesetzliche Krankenversicherung ist hingegen für Personen im Alter von 55 und mehr Jahren in der Regel ausgeschlossen. − Versicherungsbeiträge für eine Haftpflicht- und / oder Hausratversicherung können vom anzurechnenden Einkommen abgesetzt werden; dies gilt insbesondere dann, wenn der Nachweis einer solchen Versicherung Bestandteil des Mietvertrages ist. − Auch die Beiträge für eine Sterbegeldversicherung können nach § 33 (2) SGB XII vom Einkommen abgesetzt werden. − Der Sozialhilfeträger kann zudem die Kostenübernahme für eine Haushaltshilfe bewilligen, wenn Leistungsberechtigte aufgrund gesundheitli­ cher Beeinträchtigungen auf Hilfe bei der Verrichtung einzelner hauswirt­ schaftlicher Tätigkeiten angewiesen sind (z. B. Einkaufen, Putzen etc.) und es keine anderen Unterstützungsmöglichkeiten gibt (u. a. Hilfe durch Angehörige, Nachbarn etc.). In diesem Falle erhöht sich der Regelsatz der Grundsicherung analog zu den Regelungen in § 27a (4) SGB XII.



1. Erwerbsminderung nach dem 4. Kapitel des SGB XII33

− Unabweisbarer weiterer Bedarf kann nach § 37 SGB  XII auch als Darlehen erbracht werden; die „Rückzahlung“ erfolgt, indem der Sozialhilfe­ träger von dem monatlichen Regelsatz bis zu 5 % einbehält, bis der ausstehende Betrag getilgt ist. Die Gesamtsumme aller anerkannten Bedarfspositionen ergibt den Brutto­ bedarf, also den Betrag, den der jeweilige Antragsteller für seinen Lebens­ unterhalt monatlich benötigt. Der Nettobedarf der / des Leistungsberechtig­ ten, also die Summe, die durch den Sozialhilfeträger konkret ausgezahlt wird, ergibt sich aus der Summe aller regelmäßig anerkannten Bedarfe ab­ züglich des angerechneten (bereinigten) Einkommens. cc) Einkommens- und Vermögensanrechnung Vorhandenes Einkommen muss im Sinne des Nachrangigkeitsprinzips grundsätzlich vorrangig eingesetzt und entsprechend vollständig angerech­ net werden; Freibeträge sind hier nicht vorgesehen. Zum angerechneten Einkommen gehören insbesondere eigene Renten aus der gesetzlichen Ren­ tenversicherung, betrieblicher oder privater Vorsorge, Zinsen oder Mietein­ künfte aus vermieteten Immobilien sowie sonstige regelmäßige Einkünfte. Einkommen aus Erwerbstätigkeit werden zu 70 % angerechnet; 30 % des Erwerbseinkommens (maximal die Hälfte des Regelbedarfs eines Alleinste­ henden) bleiben anrechnungsfrei, wobei hier anders als im SGB II kein Grundfreibetrag existiert. Nach § 82–84 SGB XII gibt es eine Reihe von Einkommen, die bei der Grundsicherung nicht angerechnet werden. Dazu gehören unter anderem Grundrenten nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG), die auch Opfern von Gewalttaten und Bundeswehr-und Zivildienstunfällen bezahlt werden, Entschädigungsleistungen nach dem Bundesentschädigungsgesetz (BEG), Renten für Contergan-Geschädigte in Höhe der Grundrente, diverse Renten für Opfer politischer Verfolgung sowie Schmerzensgeld nach dem Bürger­ lichen Gesetzbuch (BGB). Öffentlich-rechtliche Leistungen, die ausdrück­ lich zu einem anderen Zweck erbracht werden als dem Lebensunterhalt, wie z. B. Erholungshilfe nach dem BVG, Pflegegeld oder Blindengeld, werden ebenfalls nicht bedarfsmindernd angerechnet. Zwar gilt in der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach § 43 (1) SGB XII die ansonsten übliche Vermutung nicht, dass in ei­ nem Haushalt zusammenlebende Personen für einander aufkommen („Un­ terhaltsvermutung“); nichtsdestotrotz sind Einkommen und Vermögen eines nicht getrennt lebenden Ehegatten oder Lebenspartners, die dessen notwen­ digen Lebensunterhalt übersteigen, bedarfsmindernd zu berücksichtigen. Ein zentrales Unterscheidungsmerkmal der Grundsicherung im Alter und bei

34

I. Grundsicherung und Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter

Erwerbsminderung gegenüber der Hilfe zum Lebensunterhalt (HLU) nach dem 3. Kapitel des SGB XII ist die Regelung nach § 43 (3) SGB XII, dass das Einkommen von Kindern oder Eltern der Antragsberechtigten nicht berücksichtigt wird, sofern dies einen jährlichen Betrag von 100.000 Euro nicht überschreitet. Die Vermögensanrechnung der Hilfeempfänger richtet sich nach § 90 SGB XII. Im Grundsatz muss das gesamte verwertbare Vermögen eingesetzt werden, wobei vom Gesetz zahlreiche Ausnahmen definiert werden. So werden kleinere Barbeträge oder sonstige Geldwerte bis zu einem Betrag von 2.600 € nicht angerechnet; für den Ehe- oder Lebenspartner bleiben zusätzlich 614 € anrechnungsfrei. Von der Verwertung freigestellt sind ne­ ben einem gegebenenfalls vorhandenen, „angemessenen“ Hausgrundstück und einem Wohngebäude, das von der leistungsberechtigten Person bewohnt wird, unter anderem ein angemessener Hausrat, Familien- und Erbstücke, „deren Veräußerung für die nachfragende Person oder ihre Familie eine besondere Härte bedeuten würde“, und Gegenstände, „die zur Befriedigung geistiger, insbesondere wissenschaftlicher oder künstlerischer Bedürfnisse dienen und deren Besitz nicht Luxus ist“ (z. B. Bücher, Tonträger, Musik­ instrumente). Grundsicherungsempfänger / -innen sind (anders als beispielsweise Wohn­ geldbezieher / -innen) von der Pflicht zur Zahlung des Rundfunkbeitrags (aktuell 17,98 Euro / Monat) befreit. Von der Zuzahlungspflicht zu bestimm­ ten medizinischen Leistungen sind sie nicht ausgenommen; allerdings wird im Rahmen der Zuzahlungsregelungen nach § 62 (2) SGB V bei der Be­ stimmung der individuellen Belastungsgrenze nur der Regelsatz und nicht das gesamte Haushaltseinkommen zugrunde gelegt. Abhängig vom Wohnort können Bezieher / -innen der Grundsicherung darüber hinaus in den Genuss kommunaler bzw. regionaler Vergünstigungen kommen (u. a. ermäßigte Ein­ tritte in Museen und Freizeiteinrichtungen, verbilligtes „Sozialticket“ für den öffentlichen Nahverkehr etc.). c) Aktuelle Entwicklungen aa) Neuberechnung und Dynamisierung des Regelsatzes Bis 2010 war die jährliche Erhöhung des Regelsatzes der Mindestsiche­ rungssysteme an die zum 1. Juli eines Jahres erfolgende Rentenanpassung ge­ koppelt. „Nullrunden“ bei der Rentenanpassung führten dementsprechend auch zu „Nullrunden“ in den Mindestsicherungssystemen inklusive der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Das Bundesverfas­ sungsgericht hatte in seinem „Hartz-IV-Urteil“ vom Februar 2010 nicht nur



1. Erwerbsminderung nach dem 4. Kapitel des SGB XII

35

die intransparente Berechnung der Regelsätze in den Mindestsicherungssyste­ men, sondern auch deren Kopplung an die Rentenentwicklung für verfas­ sungswidrig erklärt. Die Entwicklung des Allgemeinen Rentenwertes (ARW), so das Bundesverfassungsgericht, sei nicht zuletzt aufgrund der in die Renten­ anpassungsformel eingebauten Dämpfungsfaktoren (Altersvermögensanteil und Nachhaltigkeitsfaktor) „zur realitätsgerechten Fortschreibung des Exis­ tenzminimums nicht tauglich“.5 Die Dynamisierung des Regelsatzes wurde daher im Rahmen des Regelbedarfs-Ermittlungsgesetzes vom März 2011 neu geregelt. Die jährliche Anpassung des Regelsatzes wurde von der Rentenan­ passung abgekoppelt und berechnet sich gemäß § 28a (2) SGB XII nunmehr nach einem Mischindex, in den die Preisentwicklung (bundesdurchschnittli­ che Entwicklung der Preise für regelbedarfsrelevante Güter und Dienstleistun­ gen) zu 70 % und die Lohnentwicklung (Entwicklung der Nettolöhne und -ge­ hälter je beschäftigten Arbeitnehmer nach der Volkswirtschaftlichen Gesamt­ rechnung) zu 30 % einfließen; maßgeblich ist dabei die Veränderungsrate zwischen dem 1. Juli des Vorvorjahres und dem 30. Juni des Vorjahres. Diese Anpassungsregelung scheint geeignet, den Kaufkrafterhalt der Grundsicherungsbezieher / -innen zu gewährleisten. Allerdings ist davon auszugehen, dass der Regelsatz der Grundsicherung aufgrund der Neurege­ lung voraussichtlich Jahr für Jahr stärker ansteigen wird als das Bruttoren­ tenniveau der GRV, da die dämpfende Wirkung des Nachhaltigkeitsfaktors in der GRV in der Grundsicherung nicht ins Gewicht fällt. Die unterschied­ liche Dynamisierung von (Standard-)Rente und Eckregelsatz scheint in der Öffentlichkeit zuweilen schwer vermittelbar und dürfte in Zukunft für (po­ tenziell populistisch eingefärbte) Diskussionen sorgen.6 bb) Volle Finanzierung der Grundsicherung aus Bundesmitteln Eine weitere Änderung bei der Grundsicherung im Alter und bei Er­ werbsminderung hat es im Bereich der Finanzierungsverantwortung gege­ ben. Die Kosten der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung waren bis 2014 grundsätzlich von den Kommunen zu tragen; aus dem Bundeshaushalt gab es bis 2011 lediglich einen geringfügigen Zuschuss, der die durch die gegenüber dem BSHG verbesserte Ausgestaltung der Leistung (u. a. aufgrund des fehlenden Unterhaltsrückgriffs auf Familienangehörige) ausgleichen sollte. Anfang 2011 wurde jedoch im Rahmen des Vermittlungs­ 5  Vgl.

BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Rn. 184. Tendenzen haben sich zuletzt Anfang September 2014 bei der Bekanntgabe der Regelsatzanpassung für 2015 gezeigt. So titelte beispielsweise die BILD-Zeitung am 8.9.2014: „Ist es gerecht, dass Hartz IV stärker steigt als die Rente?“; auch andere Medien beteiligten sich an dieser Diskussion. 6  Diesbezügliche

36

I. Grundsicherung und Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter

verfahrens zur SGB II-Reform („Hartz IV-Kompromiss“) vereinbart, dass der Bund ab 2014 die Finanzierung der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung voll übernimmt, um dadurch einen Beitrag zur Verbes­ serung der kommunalen Finanzsituation zu leisten; im Juni 2011 wurde diese Vereinbarung durch die Gemeindefinanzreformkommission bestätigt und konkretisiert. Die Beteiligung des Bundes an den kommunalen Aufwen­ dungen für die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung wurde von 15 % im Jahr 2011 in drei Schritten (45 % im Jahr 2012, 75 % im Jahr 2013) auf 100 % im Jahr 2014 angehoben. Es wird sich zeigen, ob mit der Übertragung der Kosten der Grundsiche­ rung im Alter und bei Erwerbsminderung auf den Bundeshaushalt auch politische Konsequenzen verbunden sein werden. Zumindest dürfte die Sichtbarkeit der bis 2014 weitgehend in den Kommunalhaushalten „ver­ steckten“ Kosten der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung auf diese Weise zunehmen. Im Jahr 2013 betrugen die Nettoausgaben der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung rund 5,2 Milliarden Euro; gegenüber dem Vorjahr entsprach dies einer Kostensteigerung von rund 10,3 %.7 Angesichts der Tatsache, dass die Ausgaben für dieses Leis­ tungssystem schon seit Jahren verhältnismäßig stark ansteigen, könnte es an dieser Stelle mittelfristig zu Spannungen mit übergeordneten haushaltspoli­ tischen Zielen kommen. 2. Die Entwicklung der Grundsicherungsbedürftigkeit und die s­oziodemografische Struktur der Grundsicherungspopulation Die Entwicklung der Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter und die so­ ziodemografische Struktur der „Grundsicherungspopulation“, also der Be­ zieher / -innen von Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Er­ werbsminderung, lassen sich anhand der Daten der amtlichen Grundsiche­ rungsstatistik als Teil der Sozialhilfestatistik des statistischen Bundesamtes zumindest annäherungsweise ermitteln.8 Die folgenden Ausführungen kon­ zentrieren sich auf die (Teil-)Population der Grundsicherungsbezieher / -in­ nen im Alter von 65 und mehr Jahren. 7  Detaillierte Daten zu den Ausgaben und Einnahmen der Sozialhilfe sind in der Datenbank GENESIS-Online (https://www-genesis.destatis.de) unter dem Code 22111 abrufbar. 8  Zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses der vorliegenden Studie (Oktober 2014) lagen detaillierte Tabellendaten der Grundsicherungsstatistik erst für das Jahr 2012 (Bestandserhebung zum 31.12.) vor. Zum 1. Berichtsquartal 2015 ist die Grund­ sicherungsstatistik von einer dezentralen Jahres- auf eine zentrale Quartalsstatistik umgestellt worden; aktuelle Daten sind in der Datenbank GENESIS-Online (https:// www-genesis.destatis.de) unter dem Code 22151 abrufbar.



2. Die Entwicklung der Grundsicherungsbedürftigkeit37

Hierbei ist allerdings zu beachten, dass die Grundsicherungsstatistik hin­ sichtlich ihres Informationsgehaltes deutliche Einschränkungen aufweist, da im Rahmen dieser Statistik nur eine relativ eingeschränkte Anzahl an Merk­ malen der Leistungsempfänger / -innen erhoben wird und eine ganze Reihe relevanter Informationen fehlt. Diese fehlenden Informationen betreffen insbesondere Angaben zum Haushaltszusammenhang: So sind in der Grund­ sicherungsstatistik weder der Familienstand noch die Lebensform (Haus­ haltsform und Haushaltsgröße) oder die Anzahl der Kinder der Leistungsbe­ rechtigten aufgeführt. Aus den Daten der Grundsicherungsstatistik ist somit nicht ersichtlich, ob die Bezieher / -innen ledig, geschieden, verwitwet oder verheiratet sind, es ist nicht ersichtlich, ob und wenn ja wie viele Kinder sie geboren haben, und es ist nicht ersichtlich, ob sie alleine oder mit meh­ reren Personen in einem Haushalt leben. Die Daten der Grundsicherungssta­ tistik enthalten zudem keine Angaben über die schulische und berufliche Qualifikation, den vorherigen Beruf oder die Anzahl der Versicherungsjahre in der Rentenversicherung der Leistungsbezieher / -innen, so dass keine Rückschlüsse auf die (Erwerbs-)Biografien der Betroffenen möglich sind. Zudem handelt es sich bei den Daten der Grundsicherungsstatistik grund­ sätzlich um Tabellen- und nicht um Individualdaten, so dass hier nur Rand­ verteilungen dargestellt werden können. Eine weitere Einschränkung grundsätzlicher Natur besteht darin, dass in der Grundsicherungsstatistik nur diejenigen Personen aufgeführt sind, die die Leistungen der Grundsicherung im Alter beantragt (und bewilligt be­ kommen) haben; sie erlaubt somit keine Aussagen über die (unbekannte) Gesamtheit der grundsicherungsbedürftigen Personen im Rentenalter, son­ dern nur Aussagen über diejenigen Personen, die ihre Leistungsansprüche tatsächlich geltend gemacht haben. Becker (2012) hat ermittelt, dass es unter den potenziell Leistungsberechtigten Seniorinnen und Senioren nach wie vor eine recht hohe Dunkelziffer der Nichtinanspruchnahme gibt. Diese grundsätzlichen Einschränkungen der Aussagekraft der nachfolgenden Er­ gebnisse gilt es bei ihrer Interpretation zu berücksichtigen. a) Quantitative Entwicklung Die absolute Zahl der Grundsicherungsbezieher / -innen im Alter von 65 und mehr Jahren ist innerhalb von 9 Jahren (2003 bis 2012) von knapp 260.000 auf knapp 465.000 Personen gestiegen; dies entspricht einem An­ stieg von rund 80 %. Ein starker Anstieg der Empfängerzahlen hat sich insbesondere in den ersten Jahren nach der Einführung der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung ergeben; nach der Eingliederung der Grundsicherung im Alter in das 4. Kapitel des SGB  XII zum 1.1.2005 ist

38

I. Grundsicherung und Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter

hier eine gewisse Normalisierung eingetreten. Im Jahr 2012 ist die Zahl der Empfänger um 6,6 % gegenüber dem Vorjahr gestiegen. Tabelle 1 Anzahl der Grundsicherungsbezieher / -innen (Alter: 65+) Gesamt

Männer

Frauen

2003

257.734

 74.748

182.986

2004

293.137

 88.810

204.327

2005

342.855

110.166

232.689

2006

364.535

119.821

244.714

2007

392.368

129.695

262.673

2008

409.958

138.651

271.307

2009

399.837

140.324

259.513

2010

412.081

147.076

265.005

2011

436.210

158.437

277.773

2012

464.836

171.029

293.807

Quelle: Statistisches Bundesamt, Grundsicherungsstatistik 2012.

3,0%

2,7%

2,5% 2,0% 1,7%

1,5% 1,0% 0,5% 0,0%

2003

2004

2005

2006

2007

2008

2009

2010

Quelle: Statistisches Bundesamt, Grundsicherungsstatistik 2012.

Abbildung 1: Grundsicherungsquote (Alter: 65+)

2011

2012



2. Die Entwicklung der Grundsicherungsbedürftigkeit39

Ein kleinerer Teil dieses Anstiegs ist demografisch bedingt, da die An­ zahl der Personen im Alter von 65 und mehr Jahren im Zeitverlauf gene­ rell allmählich steigt. Die absoluten Zahlen relativieren sich ein Stück weit, wenn man die Entwicklung der Grundsicherungsquote betrachtet, d. h. die Entwicklung des Anteils der Grundsicherungsbezieher / -innen im Alter von 65 und mehr Jahren an der gleichaltrigen Bevölkerung: Diese ist zwischen 2003 und 2012 von 1,7 % auf 2,7 % gestiegen. Trotz des deutli­ chen Anstiegs der absoluten Zahlen ist der relative Anteil der Grundsiche­ rungsbezieher / -innen an der Seniorenbevölkerung also vergleichsweise niedrig geblieben. b) Betroffenheit nach Alter Das Durchschnittsalter der Grundsicherungsbezieher / -innen im Alter vom 65 und mehr Jahren belief sich 2012 auf 73,9  Jahre (Männer 72,3  Jahre, Frauen 74,8 Jahre). Im Hinblick auf die Altersstruktur der Grundsicherungs­ population im Vergleich zu der Altersstruktur der Gesamtbevölkerung im Rentenalter zeigt sich, dass insbesondere die Altersklasse 65–70 Jahre in der Grundsicherungspopulation überproportional besetzt ist, während die Alters­ klassen ab 80 eher Jahren unterproportional besetzt sind. Dementsprechend ergeben sich altersbezogene Usnterschiede in den Grundsicherungsquoten. Hier zeigt sich ein linearer Trend: Je jünger die Altersklasse ist, desto höher ist der Anteil der von Grundsicherungsbedürftigkeit betroffenen Personen. Tabelle 2 Grundsicherungsempfänger / innen nach Altersklassen (2012) Anzahl

Grundsicherungsquote

65–70

144.854

3,6 %

70–75

136.562

2,8 %

75–80

 91.040

2,5 %

80–85

  50.569

2,1 %

85 und älter

 41.811

2,0 %

Quelle: Statistisches Bundesamt, Grundsicherungsstatistik 2012; Bevölkerungsfortschreibung (Zensus), eige­ ne Berechnungen.

40

I. Grundsicherung und Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter

c) Regionale Verteilung Hinsichtlich der regionalen Verteilung der Grundsicherungsempfän­ ger / -innen ist festzustellen, dass Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter in erster Linie ein westdeutsches Phänomen ist: Von den rund 465.000 Emp­ fänger / -innen sind nur knapp 38.000 (8,1 %) in den fünf neuen Bundeslän­ dern wohnhaft, weitere 35.000 (7,6 %) leben in Berlin. Tabelle 3 Grundsicherungsempfänger / -innen (Alter: 65+) nach Bundesland (2012)  

Männer

Frauen

Gesamt

Baden-Württemberg

  16.537

  27.558

  44.095

Bayern

  23.345

 38.048

 61.393

Berlin

 14.824

 20.367

  35.191

Brandenburg

   2.583

   4.596

  7.179

Bremen

  2.739

   5.070

  7.809

Hamburg

  8.947

 11.978

  20.925

Hessen

  15.469

  25.474

 40.943

Mecklenburg-Vorpommern

   2.125

  3.808

   5.933

Niedersachsen

  16.957

  29.757

 46.714

Nordrhein-Westfalen

 43.372

 82.726

126.098

Rheinland-Pfalz

  7.019

 13.378

 20.397

Saarland

  2.342

  4.900

  7.242

Sachsen

   3.752

  6.661

 10.413

Sachsen-Anhalt

   2.854

   5.174

  8.028

Schleswig-Holstein

  6.397

 11.036

 17.433

Thüringen

  1.767

  3.276

   5.043

Deutschland

171.029

293.807

464.836

Quelle: Statistisches Bundesamt, Grundsicherungsstatistik 2012.



2. Die Entwicklung der Grundsicherungsbedürftigkeit41

Thüringen Sachsen Brandenburg Sachsen-Anhalt Mecklenburg-Vorpommern Baden-Württemberg Bayern Rheinland-Pfalz Schleswig-Holstein Niedersachsen Saarland Hessen Nordrhein-Westfalen Berlin Bremen Hamburg 0%

1%

2%

3%

4%

5%

6%

7%

Quelle: Statistisches Bundesamt, Grundsicherungsstatistik 2012.

Abbildung 2: Grundsicherungsquoten nach Bundesländern (2012)

Schlüsselt man die bundesdurchschnittliche Grundsicherungsquote von 2,7 % nach einzelnen Bundesländern auf, so zeigen sich hinsichtlich der Verbreitung der Grundsicherungsbedürftigkeit erhebliche regionale Unter­ schiede. In den ostdeutschen Bundesländern sind die Grundsicherungsquo­ ten vergleichsweise niedrig: So sind in Thüringen und in Sachsen gerade mal 1 % der Seniorinnen und Senioren von Grundsicherungsbedürftigkeit betroffen. In den westdeutschen Flächenstaaten hingegen sind die Grundsi­ cherungsquoten um einiges höher; „Spitzenreiter“ ist hier Nordrhein-West­ falen mit einer Quote von 3,5 %. Demgegenüber weisen die drei Stadtstaaten Hamburg, Bremen und Berlin mit 5–6 % die mit Abstand höchsten Grund­ sicherungsquoten auf. Generell sind die Grundsicherungsquoten der Seniorinnen und Senioren in (westdeutschen) Großstädten am höchsten; Grundsicherungsquoten von 6 % und mehr sind hier keine Seltenheit. Die Größenordnungen lassen sich am Beispiel der Stadt Frankfurt am Main, der fünftgrößten Stadt Deutsch­ lands, verdeutlichen: Ende 2012 gab es in Frankfurt 8.431 Grundsicherungs­ bezieher / -innen im Alter von 65 und mehr Jahren (und damit mehr als in ganz Brandenburg, Thüringen, Sachsen-Anhalt oder Mecklenburg-Vorpom­ mern); dies entspricht einer Grundsicherungsquote von 7,6 % (Stadt Frank­ furt am Main 2013: 143). d) Geschlechtsspezifische Verteilung Im Hinblick auf die geschlechtsspezifische Verteilung zeigt sich zunächst, dass Frauen einen deutlich höheren Anteil an der Grundsicherungspopulati­ on ausmachen als Männer; knapp zwei Drittel der Leistungsbezieher / -innen

42

I. Grundsicherung und Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter Grundsicherungsbezieher (Alter 65 +)

36,8%

Gesamtbevölkerung (Alter 65 +)

43,5% 56,5%

63,2%

Männer

Frauen

Männer

Frauen

Quelle: Grundsicherungsstatistik 2012, Mikrozensus 2012, eigene Berechnungen.

Abbildung 3: Geschlechtsstruktur der Grundsicherungspopulation und der Gesamtbevölkerung (2012)

sind weiblichen Geschlechts. Auf den ersten Blick entspricht diese Vertei­ lung dem in der Diskussion oftmals gängigen Bild, nach dem Frauen insge­ samt im Alter deutlich schlechter abgesichert sind als Männer. Das quanti­ tative Übergewicht der Frauen in der Grundsicherung im Alter ist allerdings nur zu einem Teil auf eine schlechtere soziale Absicherung zurückzuführen, sondern vielmehr in erster Linie demografisch bedingt. Dies zeigt sich, wenn man die geschlechtsspezifische Verteilung in der Grundsicherung im Alter mit derjenigen in der Gesamtbevölkerung im Alter von 65 und mehr Jahren vergleicht: Aufgrund der längeren Lebenserwartung ist der Frauen­ anteil auch in der allgemeinen Seniorenpopulation höher als der Männeran­ teil. Die pauschalisierende Aussage „Altersarmut ist vor allem Frauenarmut“ ist insofern ein Stück weit zu relativieren. Betrachtet man die Entwicklung im Zeitverlauf, so zeigt sich zudem, dass die Männer hinsichtlich ihres Anteils an der Grundsicherungspopulation deutlich „aufholen“; ihr Anteil ist von 29 % (2003) auf knapp 37 % (2012) gestiegen. Aussagekräftiger als die relativen Anteile sind jedoch die ge­ schlechtsspezifischen Betroffenheitsquoten. Hierzeigt sich, dass Frauen mit 3,1 % zwar häufiger betroffen sind als Männer (2,3 %), dass sich der Unter­ schied zwischen den Geschlechtern jedoch in Grenzen hält.



2. Die Entwicklung der Grundsicherungsbedürftigkeit43 Tabelle 4 Grundsicherungsempfänger / -innen (Alter: 65+) nach Geschlecht Anteil an Empfängern in %

Betroffenheitsquoten in %

Männer

Frauen

Männer

Frauen

Gesamt

2003

29,0

71,0

1,2

2,1

1,7

2004

30,3

69,7

1,4

2,2

1,9

2005

32,1

67,9

1,7

2,5

2,3

2006

32,8

67,2

1,8

2,6

2,3

2007

33,1

66,9

1,9

2,7

2,4

2008

33,8

66,2

2,0

2,8

2,5

2009

35,1

64,9

1,9

2,7

2,4

2010

35,7

64,3

2,0

2,7

2,4

2011

36,3

63,7

2,2

2,9

2,6

2012

36,8

63,2

2,3

3,1

2,7

Quelle: Statistisches Bundesamt, Grundsicherungsstatistik 2012.

Die Unterschiede zwischen Männern und Frauen sind in den alten Bun­ desländern stärker ausgeprägt als in den neuen Bundesländern; westdeutsche Frauen weisen mit 3,3 % (2012) insgesamt das größte Grundsicherungsbe­ dürftigkeitsrisiko aus. Allerdings bleiben die geschlechtsspezifischen Unter­ schiede auch hier einigermaßen begrenzt. Tabelle 5 Grundsicherungsquoten nach Region und Geschlecht (2012) Männer

Frauen

Gesamt

Alte Bundesländer (ohne Berlin)

2,5 %

3,3 %

3,0 %

Neue Bundesländer (einschl. Berlin)

1,8 %

2,1 %

2,0 %

Deutschland Gesamt

2,3 %

3,1 %

2,7 %

 

Quelle: Statistisches Bundesamt, Grundsicherungsstatistik 2012.

44

I. Grundsicherung und Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter

21,8%

78,2%

Deutsche

Ausländer

Quelle: Grundsicherungsstatistik 2012, eigene Berechnungen.

Abbildung 4: Verteilung nach Staatsangehörigkeit (2012)

e) Betroffenheit nach Staatsangehörigkeit Die eigentliche Spaltungslinie im Hinblick auf die Grundsicherungsbe­ dürftigkeit im Alter verläuft nicht zwischen Männern und Frauen, sondern vielmehr zwischen Deutschen und Ausländern. Der Anteil der Auslän­ der / -innen an der Grundsicherungspopulation ist mit rund 22 % deutlich höher ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung im Rentenalter (ca. 4 %). Dies zeigt sich in einer rund siebenmal höheren Grundsicherungsquote der Ausländer / -innen (rund 14 %) gegenüber der deutschen Bevölkerung (gut 2 %). Innerhalb der Gruppe der Ausländer / -innen unterscheidet die Grundsi­ cherungsstatistik zwischen Personen aus EU-Staaten und Personen aus NichtEU-Staaten. Die Gruppe der EU-Ausländer / -innen ist in absoluten Zahlen mit knapp 12.000 Personen äußerst klein; ihr Anteil an den Ausländer / -innen im Grundsicherungsbezug liegt bei gerade einmal 12 %. Auch ihre Grundsi­ cherungsquote liegt mit 4,3 % nur knapp doppelt so hoch wie diejenige der Deutschen. Ganz anders sieht es hingegen bei den Nicht-EU-Ausländern aus, die den Löwenanteil der Ausländer / -innen im Grundsicherungsbezug ausma­ chen: Mit gut 20 % weisen sie ein zehnmal höheres Grundsicherungsbedürf­ tigkeitsrisiko auf als die deutschen Seniorinnen und Senioren und ein rund fünfmal höheres Risiko als die EU-Ausländer / -innen. Diese Ergebnisse wei­ sen darauf hin, dass es sich bei den Ausländer / -innen im aktuellen Grundsi­ cherungsbezug größtenteils weder um „Gastarbeiter / -innen“ aus südeuropäi­ schen Anwerbestaaten wie Griechenland, Italien, Spanien oder Portugal noch um Personen aus mittel- und osteuropäischen EU-Mitgliedsstaaten wie Po­ len, Bulgarien oder Rumänien handelt; die zentralen „Risikoländer“ dürften



2. Die Entwicklung der Grundsicherungsbedürftigkeit

45

vielmehr die Türkei, die Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawiens so­ wie die Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion sein. Tabelle 6 Grundsicherungsempfänger / -innen nach Staatsangehörigkeit (2012) Anzahl

Grundsicherungsquote

Gesamt

464.836

  2,7 %

Deutsche

363.666

  2,3 %

Ausländer

101.170

14,2 %

– davon EU

  11.985

  4,3 %

– davon nicht EU

  89.185

20,6 %

Quelle: Grundsicherungsstatistik 2012, Statistisches Bundesamt / Ausländerzentralregister 2013, eigene Be­ rechnungen.

f) Entwicklung und Zusammensetzung der individuellen Bedarfe Der bundesdurchschnittliche Bruttobedarf der Grundsicherung im Alter ist seit der Einführung dieser Leistung von 580 Euro / Monat (2003) auf 719 Euro / Monat (2012) und damit um rund 24 % in 9  Jahren gestiegen. Seit 800 759

750 700

650

719

733

716 668

600 550 500

580

2003

2004

2005

2006

Bestandsrente

2007

2008

Zugangsrente

2009

2010

2011

2012

Grundsicherung

Quelle: Statistisches Bundesamt, Grundsicherungsstatistik 2012; Deutsche Rentenversicherung Bund, Ren­ tenversicherung in Zeitreihen.

Abbildung  5: Durchschnittliche Nettoaltersrenten und Bruttobedarf der Grundsicherung

46

I. Grundsicherung und Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter

2009 liegt er geringfügig über dem durchschnittlichen Nettozahlbetrag der GRV-Zugangsrenten wegen Alters. „Kostentreiber“ bei der Entwicklung des Bruttobedarfs ist weniger der Regelsatz (dieser ist zwischen 2003 und 2012 von um ca. 13 % gestiegen), sondern in erster Linie die Kosten der Unterkunft, die im gleichen Zeitraum um rund 38 % gestiegen sind. Aufgrund der Änderungen durch das Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz folgt die jährliche Anpassung des Regelsatzes in den Mindestsicherungssystemen seit 2012 nicht mehr der Rentenanpassung, sondern berechnet sich nach einem Mischindex aus der Preis- und der Lohn­ entwicklung. Daher ist zu erwarten, dass der Regelsatz der Grundsicherung im Alter in Zukunft etwas stärker ansteigen wird als die Brutto- bzw. Net­ tostandardrente der GRV. Tabelle 7 Durchschnittliche Brutto- und Nettobedarfe nach Bundesland (2012) Durchschnittlicher Bruttobedarf

Anstieg 2003–2012

Baden-Württemberg

725

+24,8 %

Bayern

746

+30,4 %

Berlin

687

+15,9 %

Brandenburg

671

+27,8 %

Bremen

736

+12,7 %

Hamburg

795

+18,8 %

Hessen

744

+19,6 %

Mecklenburg-Vorpommern

667

+26,8 %

Niedersachsen

697

+25,1 %

Nordrhein-Westfalen

723

+23,4 %

Rheinland-Pfalz

676

+24,3 %

Saarland

709

+28,4 %

Sachsen

654

+24,1 %

Sachsen-Anhalt

661

+24,2 %

Schleswig-Holstein

724

+24,4 %

Thüringen

650

+27,5 %

Deutschland

719

+24,0 %

 

Quelle: Statistisches Bundesamt, Grundsicherungsstatistik 2003 und 2012; eigene Berechnungen.



2. Die Entwicklung der Grundsicherungsbedürftigkeit47 800 700

719

35

600 500

316

Beiträge KV/PV 16

Mehrbedarfe

400

Kosten der Unterkunft

300 200

100

352

Regelsatz

0 Quelle: Statistisches Bundesamt, Grundsicherungsstatistik 2012; eigene Berechnungen.

Abbildung 6: Zusammensetzung des bundesdurchschnittlichen Bruttobedarfs (2012)

Schlüsselt man den bundesdurchschnittlichen Bruttobedarf von 719 Euro / Monat nach einzelnen Bundesländern auf, so zeigt sich bei der Höhe und Entwicklung der durchschnittlichen Bruttobedarfe eine große Spannweite. Der niedrigste Bruttobedarf findet sich in Thüringen (650 Euro / Monat), der höchste in Hamburg (795 Euro / Monat). Da der Regelsatz bundeseinheitlich ist, sind die Unterschiede in den Bruttobedarfen im Wesentlichen auf die Unterschiede bei den Wohnkosten zurückzuführen.9 In einzelnen deutschen Großstädten, beispielsweise im München oder in Frankfurt, dürften die durchschnittlichen Bruttobedarfe aufgrund des hohen Mietpreisniveaus so­ gar etwas über 800 Euro / Monat liegen. Der Bruttobedarf der Leistungsbezieher / -innen setzt sich nicht nur aus dem Regelsatz und den Kosten der Unterkunft zusammen; im Einzelfall können auch verschiedene zusätzliche Bedarfe hinzukommen. Hierzu gehö­ ren insbesondere Mehrbedarfe wegen Gehbehinderung, kostenaufwändiger Ernährung oder dezentralem Warmwasserbedarf sowie (bei freiwillig bzw. privat Krankenversicherten) die Übernahme der Kranken- und Pflegeversi­ cherungsbeiträge. Der bundesdurchschnittliche Bruttobedarf des Jahres 2012 setzt sich so­ mit aus dem durchschnittlichen Regelsatz (352 Euro / Monat), den durch­ schnittlichen Unterkunftskosten (316 Euro / Monat) sowie folgenden weiteren Komponenten zusammen: 9  Für eine detaillierte Übersicht über die regionale Streuung der Wohnbedarfe im SGB II- und SGB XII-Bezug siehe Kaltenborn (2014).

48

I. Grundsicherung und Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter

− Für 20,6 % der Bezieher / innen mussten Kranken- und Pflegeversiche­ rungsbeiträge übernommen werden. Die durchschnittliche Höhe der Bei­ träge lag bei 168 Euro / Monat; umgerechnet auf alle Leistungsbezie­ her / -innen entspricht das einem Durchschnittsbetrag von 35 Euro / Monat. − 22,7 % der Bezieher / -innen hatten einen Behindertenausweis mit dem Merkzeichen „G“. Der durchschnittliche Mehrbedarf belief sich auf 59 Euro / Monat; umgerechnet auf alle Bezieher / -innen entspricht dies einem Durchschnittsbetrag von gut 13 Euro / Monat. − 19,3 % der Bezieher / -innen hatten einen Mehrbedarf für dezentrale Warmwassererzeugung von pauschal 9 Euro; umgerechnet auf alle Bezie­ her / -innen entspricht dies einem Durchschnittsbetrag von knapp 2 Euro / Monat. − 2 % der Bezieher / -innen hatten einen Mehrbedarf wegen kostenaufwän­ diger Ernährung in Höhe von 45 Euro / Monat; umgerechnet auf alle Leistungsbezieher / -innen entspricht dies einem Durchschnittsbetrag von knapp 1 Euro / Monat. Insgesamt weisen die individuellen Bruttobedarfe eine erhebliche Streu­ ung auf. So weist nur knapp die Hälfte (rund 48 %) der Bezieher / -innen einen monatlichen Bruttobedarf zwischen 600 und 800 Euro auf; rund 24 % der Bezieher / -innen haben einen Bedarf unter 600 Euro / Monat, knapp 28 % hingegen einen Bedarf über 800 Euro / Monat. Fast 5 % der Bezieher / -innen hatten 2012 sogar einen Bruttobedarf von mehr als 1000 Euro / Monat. Es ist zu vermuten, dass es (neben den Beiträgen für eine private Kran­ ken- und Pflegeversicherung, die im Einzelfall bis zu 300 Euro / Monat be­ 30% 25% 20% 15% 10%

5% 0%

0–500

500–600

600–700

700–800

800–900

900–1000

1000 und mehr

Quelle: Statistisches Bundesamt, Grundsicherungsstatistik 2012; eigene Berechnungen.

Abbildung  7: Verteilung der Bruttobedarfe (in Euro / Monat  – 2012)



2. Die Entwicklung der Grundsicherungsbedürftigkeit49

tragen können) insbesondere hohe Wohnkosten sind, die den Bruttobedarf in einzelnen Fällen stark in die Höhe treiben. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die Statistik auch Bezieher beinhaltet, die vorübergehend in einer preislich als „nicht angemessenen“ eingestuften Wohnung wohnen; die Wohnkosten werden in diesen Fällen in der Regel zumindest ein halbes Jahr lang übernommen, bis ein Umzug in eine preiswertere Wohnung veranlasst wird. Zudem werden in bestimmten Fällen, in denen der Auszug aus der Wohnung aus medizinischen oder besonderen sozialen Gründen mit nicht zumutbaren Härten verbunden wäre, die Wohnkosten dauerhaft anerkannt und übernommen. Eine Kombination aus hohen Wohnkosten, zusätzlichen Mehrbedarfen und dem Status der oder des privat Krankenversicherten kann im Einzelfall zu einem individuellen Bruttobedarf von deutlich mehr als 1000 Euro / Monat führen. Vergleichsweise geringe Bruttobedarfe finden sich insbesondere in den neuen Bundesländern sowie bei Personen, die in­ nerhalb von Einrichtungen wie z. B. Senioren- oder Pflegeheimen leben. So lag der durchschnittlichen Bedarf der Empfänger / -innen innerhalb von Einrichtungen im Jahr 2012 mit 669 Euro / Monat deutlich unter demjenigen von Personen außerhalb von Einrichtungen (727 Euro / Monat); letztere machten 2012 rund 86 % der Empfänger / -innen aus. g) Höhe und Verteilung der angerechneten eigenen Einkommen Die durchschnittliche Höhe des eigenen angerechneten Einkommens lag 2012 – bezogen auf alle Grundsicherungsempfänger / -innen im Alter von 65 und mehr Jahren  – bei 326 Euro / Monat. Auch hier zeigt sich eine große 30%

25% 20%

15% 10%

5% 0%

0–100

100–200

200–300

300–400

400–500

500–600

600 und mehr

Quelle: Statistisches Bundesamt, Grundsicherungsstatistik 2012; eigene Berechnungen.

Abbildung 8: Verteilung der angerechneten eigenen Einkommen (2012)

50

I. Grundsicherung und Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter Kein Einkommen GRV-Altersrente GRV-Hinterbliebenenrente Betriebsrente Privatrente

Erwerbsarbeit Privater Unterhalt Übersteigendes Partnereinkommen Sonstiges

0%

10%

20%

30%

40%

50%

60%

70%

80%

Quelle: Statistisches Bundesamt, Grundsicherungsstatistik 2012, eigene Berechnungen.

Abbildung 9: Einkommensarten nach Häufigkeit (2012)

Streuung: Während fast jeder vierte Grundsicherungsbezieher (24,1 %) ein eigenes Einkommen von weniger als 100 Euro im Monat aufwies, bezog ebenfalls rund ein Viertel (27,1 %) ein eigenes Einkommen von mehr als 500 Euro / Monat. Im Hinblick auf die Häufigkeit der verschiedenen Einkommensarten sind folgende Punkte hervorzuheben: − Rund 17 % der Leistungsbezieher / -innen (Männer: 19 %, Frauen: 16 %) hatten keine eigenständigen anrechnungsfähigen Einkünfte. − Rund 73 % der Leistungsbezieher / -innen (Männer 74 %, Frauen 72 %) bezogen eine eigene Altersrente der GRV. Der durchschnittliche Zahlbe­ trag der Altersrente lag bei 347 Euro / Monat (Männer: 361 Euro / Monat, Frauen: 339 Euro / Monat). Dies entsprach bei einem ARW (2012, West) von 28,07 Euro und einem Eigenanteil der Rentner / -innen zur Krankenund Pflegeversicherung von 10,15 % dem Gegenwert von rund 13,8 Ent­ geltpunkten. − 13 % der Bezieher / -innen (Männer: 3 %, Frauen: 19 %) bezogen eine Hinterbliebenenrente der GRV; der durchschnittliche Zahlbetrag lag bei 320 Euro / Monat (Frauen: 332 Euro / Monat; Männer: 204 Euro / Monat). Die Grundsicherungsstatistik erlaubt leider keine Aussagen darüber, wie viele Personen sowohl eine Alters- als auch eine Hinterbliebenenrente beziehen. − 1,7 % der Leistungsbezieher / -innen beziehen Einkünfte aus betrieblichen und 1,1 % Leistungsbezieher / -innen beziehen Einkünfte aus privaten Vor­



2. Die Entwicklung der Grundsicherungsbedürftigkeit

51

sorgesystemen. Zumindest im Augenblick erscheint das zuweilen für die Zukunft befürchtete und aus Anreizgesichtspunkten negativ bewertete Risiko, dass die Erträge aus betrieblicher und privater Vorsorge leistungs­ mindernd auf den individuellen Grundsicherungsbedarf angerechnet wer­ den, somit als eher marginal. h) Höhe und Verteilung der Nettobedarfe Der durchschnittliche Nettobedarf der Bezieher / -innen, also der Betrag, den die Betroffenen tatsächlich vom Sozialhilfeträger ausgezahlt bekommen, lag 2012 im Bundesdurchschnitt bei 393 Euro / Monat. Wie bei der Höhe der Bruttobedarfe und der Höhe der eigenen Einkommen besteht auch bei der Höhe der individuellen Nettobedarfe eine große Streuung: Während knapp 10 % der Grundsicherungsbezieher / -innen einen monatlichen Nettobedarf von unter 100 Euro hatten und somit nicht weit davon entfernt waren, ihren individuellen Bedarf aus eigener Kraft decken zu können, hatte ein knappes Drittel der Leistungsbezieher einen monatlichen Nettobedarf von 500 Euro und mehr. Alles in allem weisen die Daten der Grundsicherungsstatistik somit auf eine große Heterogenität der Grundsicherungspopulation hin. Dies betrifft sowohl die Höhe der individuellen Bruttobedarfs als auch die Höhe des eigenen Einkommens sowie die Höhe des aus der Differenz dieser beiden Größen resultierenden individuellen Nettobedarfs: Unter den Leistungsemp­ fänger / -innen der Grundsicherung im Alter finden sich sowohl Personen mit einem eigenen Einkommen von über 600 Euro, denen nur wenige Euro 20% 18% 16% 14% 12% 10% 8% 6% 4% 2% 0%

0–100

100–200

200–300

300–400

400–500

500–600

600–700

700–800

Quelle: Statistisches Bundesamt, Grundsicherungsstatistik 2012, eigene Berechnungen.

Abbildung 10: Verteilung der Nettobedarfe (2012)

800 und mehr

52

I. Grundsicherung und Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter

fehlen, um ihren Bedarf decken zu können, als auch Personen, die über überhaupt kein eigenes Einkommen verfügen und monatlich 700 oder 800 Euro an Grundsicherungsleistungen beziehen. Insofern scheint es den „typi­ schen“ Grundsicherungsbezieher oder die „typische“ Grundsicherungsbezie­ herin nicht zu geben; das Leistungssystem der Grundsicherung im Alter scheint vielmehr ein Sammelbecken für ganz unterschiedliche Personen bzw. Personengruppen und damit auch für ganz unterschiedliche Biografie­ verläufe und Lebenswege zu sein.

II. Biografische Determinanten der Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter: Ausgewählte Ergebnisse der Forschung 1. Dimensionen und Risikofaktoren im Lebensverlauf Altersarmut und Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter sind in der Regel das Ergebnis des komplexen Zusammenspiels einer Reihe von Faktoren und Konstellationen innerhalb des Lebensverlaufes. Im Mittelpunkt der meisten Studien zu der Thematik „Altersarmut“ steht in der Regel die individuelle Erwerbsbiografie. Altersvorsorge als intertemporale Konsumglättung bein­ haltet notwendigerweise einen Konsumverzicht in Form regelmäßiger Ein­ zahlungen in der Erwerbsphase bzw. in derjenigen Phase des Lebenslaufes, in der ein regelmäßiges Einkommen generiert wird. Je länger und kontinu­ ierlicher ein ausreichendes Erwerbseinkommen zur Verfügung steht, desto größer sind dementsprechend auch die Chancen auf eine kontinuierliche Vorsorge- und Versichertenbiografie. Innerhalb des individuellen Lebensverlaufs lässt sich eine Vielzahl poten­ ziell alterssicherungsrelevanter Übergangs- und Entscheidungspunkte identi­ fizieren; im Hinblick auf das spätere Alterseinkommen geht es hierbei nicht nur um die Frage der Aufnahme, Beendigung oder Fortführung, quantitati­ ven Einschränkung oder qualitativen Veränderung der Erwerbstätigkeit, sondern auch um Fragen der Partnerwahl, der Wahl der Beziehungsform, der Eheschließung und ihrer möglichen Beendigung durch Trennung oder Scheidung, um mögliche Wiederheirat, die Geburt eines oder mehrerer Kin­ der oder die häusliche Pflege von Angehörigen. Zu den ungeplanten und zum Teil auch unvorhersehbaren Ereignissen im Lebensverlauf, die zu Brü­ chen in der individuellen Biografie führen können, können neben dem Verlust des Arbeitsplatzes auch eine ungeplante Schwangerschaft, der Tod des (Ehe-)Partners, Krankheitsphasen, Behinderung oder Pflegebedürftigkeit gehören. Die individuelle Erwerbs- und Versichertenbiografie muss somit immer im Gesamtzusammenhang betrachtet werden. Sie hängt untrennbar mit der Bil­ dungsbiografie, der Gesundheitsbiografie, der Familien- und Partnerschafts­ biografie und gegebenenfalls auch mit der Migrationsbiografie einer Person zusammen. Als Ergebnis der sekundäranalytischen Aufarbeitung und Syste­ matisierung des bestehenden Forschungsstandes zu den potenziellen biogra­

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II. Biografische Determinanten der Grundsicherungsbedürftigkeit

fischen Determinanten der Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter lassen sich insgesamt sieben alterssicherungsrelevante Biografiedimensionen identifizie­ ren, die in der folgenden Überblicksdarstellung aufgeführt werden. Tabelle 8 Dimensionen und Risikofaktoren des Lebensverlaufs Erwerbsbiografie

Familienbiografie

Gesundheitsbiografie

• Langzeitarbeitslosigkeit • Langjähriger Niedrig­ verdienst • Langjährige gering­ fügige Beschäftigung • (Solo-)Selbstständigkeit • Schwarzarbeit • „Stille Reserve“

• Kinderbedingte Unterbrechungen • Angehörigenpflege • Trennung / Scheidung • Verwitwung • Alleinerziehung

• Erwerbsminderung • Behinderung • Unfall / Berufskrankheit • Psychische Probleme • Chronische Erkran­ kungen

Bildungsbiografie

Vorsorgebiografie

Migrationsbiografie

• Fehlender Schul­ abschluss • Fehlender Berufs­ abschluss • Mangelnde Teilnahme an Weiterbildung • Dequalifikations­ prozesse

• Mangelnde Vorsorge­ fähigkeit • Mangelnde Vorsorge­ bereitschaft • Mangelndes Vorsorge­ wissen • Gescheiterte Vorsorge­ strategie

• Später Zuzug • Sprachprobleme • Aufenthaltsrechtliche Probleme • Allgemeine Inte­gra­ tionsprobleme

Sonstige Risikoelemente • Verschuldung, Insolvenz • Soziale Devianz, Kriminalität • Sucht, Obdachlosigkeit • (Selbst-)Exklusionsprozesse, „Schicksalsschläge“ Quelle: Eigene Darstellung.

In den folgenden Abschnitten wird die Bedeutung der einzelnen Biogra­ fiedimensionen im Hinblick auf das individuelle Risiko der Armut bzw. der Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter anhand einiger Ergebnisse der beste­ henden Forschung verdeutlicht. Es handelt sich dabei eher um einen kurso­ rischen Überblick über ausgewählte Ergebnisse als um eine detaillierte Aufarbeitung des Forschungsstandes zu jeder einzelnen Risikodimension, da letzteres den Rahmen der vorliegenden Studie sprengen würde.



2. Erwerbsbiografie

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2. Erwerbsbiografie a) Erwerbsverläufe der Geburtskohorten 1938–1947 Hinsichtlich der Situation auf dem Arbeitsmarkt stellt sich die Lage der zu untersuchenden Geburtsjahrgänge 1938–1947 vergleichsweise positiv dar. So ist für west- und ostdeutsche Männer, aber auch für die Mehrzahl der ostdeutschen Frauen dieser Geburtsjahrgänge eine im Vergleich zu spä­ teren Geburtsjahrgängen kontinuierliche und lange Erwerbsbiografie in so­ zialversicherungspflichtiger Vollzeit typisch, mit vergleichsweise geringen Unterbrechungen durch Arbeitslosigkeitsphasen insbesondere in den ersten zwei Dritteln der Erwerbsbiografie. Insbesondere die westdeutschen Männer dieser Geburtsjahrgänge hatten im Kohortenvergleich mit die besten Voraus­ setzungen für einen langen und kontinuierlichen Erwerbsverlauf, da gerade sie vom Wirtschaftsaufschwung der BRD ab Mitte der 50er Jahre profitieren konnten (Dundler / Müller 2006). Das für das sicherungspolitische Ziel der gesetzlichen Rentenversicherung noch immer maßgebliche Konstrukt des Eckrentners mit 45  Jahren durchgehender Beschäftigung in Vollzeit ist in diesen westdeutschen Jahrgängen daher empirisch häufiger anzutreffen als in früheren oder späteren Kohorten. Westdeutsche Frauen hingegen weisen bezüglich ihrer Erwerbsbiografie gerade in diesen Kohorten noch häufig eine starke Familienorientierung mit entsprechend langen Erwerbsunterbre­ chungen aufgrund von Kindererziehung und Haushaltsführung auf. Charakteristisch für die zu untersuchenden Jahrgänge ist zum einen der gegenüber späteren Kohorten frühe Zeitpunkt des Erwerbseinstiegs. Das durchschnittliche Erwerbseinstiegsalter der 1940 bis 1944 Geborenen lag in Westdeutschland bei 18,9 Jahren (Männer) bzw. 19,4 Jahren (Frauen), in Ostdeutschland mit durchschnittlich 18,5 Jahren (Männer und Frauen) sogar etwas niedriger (Trischler / Kistler 2011). Rund ein Drittel aller sind Ver­ sicherten der Kohorten 1940–1944 sind bereits vor dem 18. Lebensjahr sozialversicherungspflichtig erwerbstätig gewesen; in der Kohortengruppe 1970–1974 trifft dies nur noch auf 10 % der Versicherten zu. Im Vergleich zu späteren Geburtskohorten sind die Jahrgänge zudem in deutlich geringe­ rem Maße von Arbeitslosigkeit betroffen. Stegmann (2009a) hat auf Basis der Versichertenkontenstichprobe (VSKT) ermittelt, dass in den Geburts­ jahrgängen 1938–1945 knapp die Hälfte der GRV-Versicherten (54 % in Westdeutschland und 31 % in Ostdeutschland) in der Erwerbsbiografie kei­ nen einzigen Monat mit Arbeitslosigkeit aufweist (Stegmann 2009a). Während Phasen der Arbeitslosigkeit bei jüngeren Kohorten bereits in der frühen Erwerbsphase weit verbreitet sind (Klammer / Tillmann 2002, Trisch­ ler / Kistler 2011), ist Arbeitslosigkeit bei den Geburtsjahrgängen 1938–1945 eine Erfahrung, die tendenziell eher am Ende der Erwerbsbiografie gemacht

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II. Biografische Determinanten der Grundsicherungsbedürftigkeit

wurde. So weist die Gesamtheit der Versicherten in der frühen Erwerbspha­ se (bis 35 Jahre) durchschnittlich weniger als ein Monat mit Arbeitslosigkeit und in der mittleren Erwerbsphase (35–49 Jahre) weniger als 4 Monate auf; in der späten Erwerbsphase hingegen (ab 50  Jahren) sind es gut 15 Monate (Stegmann 2009a). Hier wird insbesondere der systembedingte Unterschied zwischen west- und ostdeutschen Erwerbsbiografien deutlich: Da es in der DDR offiziell keine Arbeitslosigkeit gab, kommen Arbeitslosigkeitsphasen in der frühen und mittleren Phase der Erwerbsverläufe der ostdeutschen Versicherten der Geburtsjahrgänge 1938–1945 praktisch nicht vor. In der späten Erwerbsphase hingegen sind insbesondere ostdeutsche Versicherte dieser Jahrgänge von Arbeitslosigkeit betroffen: Westdeutsche Versicherte kommen in dieser Phase auf durchschnittlich 11 Monate mit Arbeitslosigkeit (Männer: 13 Monate, Frauen: 9 Monate), ostdeutsche Versicherte hingegen auf rund 27 Arbeitslosigkeitsmonate (Männer: 22 Monate, Frauen: 30 Mo­ nate) (ebd.). Die anhaltend schlechte Arbeitsmarktsituation in den neuen Bundesländern nach der deutschen Einheit hat also deutliche Spuren im letzten Drittel der Erwerbsbiografien der ostdeutschen Versicherten dieser Jahrgänge hinterlassen. Im Hinblick auf die Auswirkungen von Arbeitslosigkeitsphasen in der Erwerbsbiografie auf die späteren Anwartschaften in der GRV zeigt sich, dass sich Arbeitslosigkeit insbesondere bei westdeutschen Männern negativ auf die GRV-Anwartschaften auswirkt.10 Betrachtet man nur westdeutsche Männer der Jahrgänge 1938–1945, die mindestens 25 Jahre mit rentenrecht­ lichen Zeiten aufweisen und somit als „GRV-Kerngesicherte“ bezeichnet werden können, so zeigt sich, dass Versicherte, die in ihrer Erwerbsbiogra­ fie mindestens einmal 12 Monate arbeitslos waren, im Schnitt rund 4 Ent­ geltpunkte weniger als Männer ohne eine solche Arbeitslosigkeitsphase. Es macht allerdings einen erheblichen Unterschied, in welcher Phase des Le­ benslaufs die Arbeitslosigkeit eingetreten ist. Vereinfachend lässt sich sagen: Je früher die Arbeitslosigkeitsphasen im Lebensverlauf liegen, desto stärker ist die negative Wirkung auf die gesamte Versicherungsbiografie und damit auch die Höhe der spätere Rentenanwartschaft in der GRV. Dies trifft wie­ derum insbesondere auf westdeutsche Männer zu: So erreichen Versicherte der Geburtsjahrgänge 1938–1945, die zwischen ihrem 25. und 39.  Lebens­ jahr auf mindestens 12 Monate Arbeitslosigkeit kommen, im Durchschnitt rund 11,5 Entgeltpunkte weniger als GRV-Versicherte, bei denen dies nicht der Fall war. Gerade in jungen Lebensjahren erhöhen Arbeitslosigkeitspha­ sen somit deutlich die Wahrscheinlichkeit, dass ein Versicherungsverlauf 10  Bei ostdeutschen Versicherten dieser Jahrgänge spielen Arbeitslosigkeitsphasen vor dem 40. Lebensjahr praktisch keine Rolle, da sie zum Zeitpunkt der Wiederver­ einigung zwischen 45 und 52 Jahre alt waren.



2. Erwerbsbiografie

57

entsteht, aus dem sich vergleichsweise geringere Rentenanwartschaften er­ geben (Stegmann 2009a). Bei westdeutschen Frauen ist dieser Zusammen­ hang keineswegs so eindeutig: Hier beläuft sich der Unterschied gerade mal auf gut 1 EP.11 Bemerkenswert ist, dass für die Geburtsjahrgänge 1938–1945 längere Arbeitslosigkeitsphasen vor dem 40. Lebensjahr auch in der BRD eine absolute Ausnahme waren: Nur 2,4 % der westdeutschen Männer und 2,7 % der westdeutschen Frauen waren hiervon betroffen. Hier zeigt sich der Effekt der „Vollbeschäftigungsphase“ in der BRD zwischen 1960 und 1973. b) Erwerbsbiografische Besonderheiten der aktuellen Grundsicherungspopulation Im Rahmen der ASID 2011 bzw. des Alterssicherungsberichts 2012 wur­ de auch die Anzahl der Erwerbsjahre für die Gruppe der Grundsicherungs­ bezieher / -innen im Alter von 65 und mehr Jahren ermittelt und mit der entsprechenden Anzahl der Bevölkerung ohne Grundsicherungsbezug vergli­ chen. Erwerbsarbeit ist hier weit gefasst (Vollzeit-, Teilzeit, und geringfügi­ ge Beschäftigung, sowohl abhängige Beschäftigung als auch selbstständige Tätigkeit). Hier zeigt sich erstens ein frappierend hoher Anteil (fast ein Drittel) von Personen in der Grundsicherung, die in ihrem Leben niemals regulär gearbeitet haben. Hierbei kann es sich u. a. auch um Personen han­ deln, bei denen bereits in frühen Lebensjahren eine volle Erwerbsminderung eingetreten ist. Des Weiteren zeigt sich allerdings, dass rund ein Drittel der Grundsicherungsbezieher / -innen durchaus lange Erwerbskarrieren von 30 und mehr Erwerbsjahren vorzuweisen hat. Hier kann es sich einerseits um Personen handeln, die über längere Zeiträume nur in Teilzeit oder geringfü­ gig beschäftigt gewesen sind; bei einem (quantitativ nicht genauer zu be­ stimmenden) Teil dieser Gruppe dürfte es sich allerdings auch um langjäh­ rige Geringverdiener / innen bzw. um Personen mit langjährigen, aber dis­ kontinuierlichen Erwerbsbiografien handeln. Insgesamt zeigt sich eine deutlich niedrigere Erwerbsbeteiligung der Grundsicherungsempfänger / in­ nen gegenüber der Bevölkerung ohne Grundsicherungsbezug. Ehemalige Selbstständige machen laut Alterssicherungsbericht 2012 rund 10 % der Bevölkerung über 65  Jahren aus; rund drei Viertel der Selbststän­ digen dieser Jahrgänge war zwischenzeitlich freiwillig oder obligatorisch GRV-versichert. Bei den ehemaligen Selbstständigen handelt es sich im 11  Hierbei ist allerdings zu beachten, dass das Kriterium der registrierten Arbeits­ losigkeit insbesondere bei westdeutschen Frauen nur eingeschränkt geeignet ist, um tatsächliche unfreiwillige Arbeitslosigkeit abzubilden, da hier eine große „Stille Reserve“ zu vermuten ist, die sich dauerhaft vom Arbeitsmarkt zurückgezogen hat, ohne sich offiziell arbeitslos zu melden.

58

II. Biografische Determinanten der Grundsicherungsbedürftigkeit Tabelle 9 Grundsicherungsbezug nach Anzahl der Erwerbsjahre

Erwerbsjahre

OHNE Grundsicherung

MIT Grundsicherung

0

  3 %

30 %

1–10

  8 %

11 %

10–20

  9 %

15 %

20–30

  9 %

10 %

30–40

20 %

13 %

40 und mehr

50 %

21 %

Quelle: Alterssicherungsbericht 2012, Tab. C.5.3.

Hinblick auf die Einkommenssituation im Alter um eine sehr heterogene Gruppe: Auf der einen Seite stehen die Angehörigen der berufsständischen Versorgungswerke, die ein im Vergleich sehr hohes Alterseinkommen auf­ weisen; auf der anderen Seite stehen ehemalige Selbstständige, die sogar die Grundsicherung im Alter in Anspruch nehmen müssen. Nicht zuletzt die DRV Bund hat darauf hingewiesen, dass der Anteil der nicht obligatorisch abgesicherten Soloselbstständigen im letzten Jahrzehnt massiv zugenommen hat und vor entsprechenden Konsequenzen für die Alterssicherung gewarnt. Die Daten der ASID 2011 zeigen, dass bereits jetzt ehemalige Selbstständi­ ge rund ein Fünftel der Grundsicherungsempfänger / -innen ausmachen. Ehemalige Selbstständige sind mit einer Grundsicherungsquote von 3,7 % somit in etwa doppelt so häufig von Grundsicherungsbedürftigkeit betroffen wie ehemals abhängig Beschäftigte (1,8 %). Tabelle 10 Personen im Alter von 65 und mehr Jahren mit und ohne ­Grundsicherungsbezug nach letzter beruflicher Stellung MIT Grundsicherung

OHNE Grundsicherung

Selbstständiger

20 %

10 %

Arbeiter / Angestellter

80 %

  6 %

Beamter

  0 %

84 %

Quelle: Alterssicherungsbericht 2012, Tab. C.5.3.



3. Familienbiografie

59

3. Familienbiografie a) Familienstatus Unterschiede bei den Alterseinkommen insbesondere von Frauen zeigen sich in Bezug auf den Familienstand. Für die Alterssicherung der meisten heutigen Seniorinnen ist die Ehe relevant. Dies betrifft sowohl Ehefrauen als auch Witwen, die abgeleitete Alterseinkommen ihrer (verstorbenen) Ehe­ männer erhalten. Geringe eigene Alterseinkommen von Rentnerinnen insbe­ sondere in den alten Bundesländern sind meist das Ergebnis der früheren traditionellen geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung. Im Haushaltskontext gesehen müssen sie aber nicht Ausdruck einer unzureichenden Einkom­ menssituation sein. Vergleicht man das persönliche Nettoeinkommen und das äquivalenzge­ wichtete Haushaltsnettoeinkommen von verheirateten und alleinstehenden Frauen, so zeigt sich: Insgesamt stehen hinsichtlich des äquivalenzgewich­ teten Haushaltsnettoeinkommens verheiratete Frauen am besten da; gegen­ über dem persönlichen Nettoeinkommen von 686 EUR beträgt das äquiva­ lenzgewichtete Haushaltsnettoeinkommen 1585 EUR und ist damit höher als das Einkommen der ledigen Frauen mit 1292 Euro. Am zweitbesten stehen verwitwete Frauen da, weil sie häufig eine eigene Rente sowie eine Hinterbliebenenrente beziehen. Dann erst kommen die ledigen Frauen; ge­ schiedene Frauen sind, so das Ergebnis aller vorliegenden Studien, ver­ gleichsweise am schlechtesten gestellt. Tabelle 11 Gesamtnettoeinkommen von Frauen (Alter: 65+) Persönliches Netto­ einkommen in EUR

Äquivalenzgewichtetes Haushaltsnettoeinkommen in EUR

Verheiratet

  686

1.585

Verwitwet

1.334

1.334

Geschieden / Getrennt

1.098

1.098

Ledig

1.263

1.263

Quelle: Alterssicherungsbericht 2012.

Im Rahmen der Studie Alterssicherung in Deutschland (ASID 2007) ist der Familienstand der Grundsicherungsempfänger / -innen (ohne Heimbe­ wohner / -innen) erhoben worden. Die Verteilung der verschiedenen Fami­

60

II. Biografische Determinanten der Grundsicherungsbedürftigkeit Tabelle 12 Familienstand der Grundsicherungsbezieher / -innen sowie aller Personen im Alter von 65 und mehr Jahren (2007) Männer

Frauen

Grund­ sicherungsbezieher

Alle Personen 65 und älter

Grund­ sicherungsbezieher

Alle Personen 65 und älter

verheiratet

60,9 %

75,2 %

26,2 %

43,0 %

verwitwet

  4,7 %

12,8 %

33,2 %

43,6 %

geschieden

21,9 %

  6,8 %

33,6 %

  7,0 %

ledig

12,5 %

  5,2 %

  7,0 %

  6,4 %

Quelle: Eigene Berechnungen nach ASID 2007, Tabellenband 3 (Deutschland), Tab. 3216, 3217, 3167, 3168.

lienstatus lässt sich mit derjenigen der Gesamtbevölkerung 65plus innerhalb der ASID 2007 vergleichen (letztere entspricht relativ genau der entspre­ chenden Verteilung für das Jahr 2007 in der Bevölkerungsstatistik des sta­ tistischen Bundesamtes). Vergleicht man die Verteilung des Familienstands der Grundsicherungsbezieher mit 65 und mehr Jahren mit demjenigen der Grundgesamtheit der über 65-jährigen Personen, so lassen sich signifikante Unterschiede feststellen. Zunächst einmal ist in der Grundsicherung bei Männern wie Frauen der Anteil der verheirateten Personen geringer als in der Grundgesamtheit der Altersgruppe. Besonders auffällig ist, das der An­ teil der geschiedenen Personen sowohl bei den Männern als insbesondere auch bei den Frauen im Grundsicherungsbezug deutlich höher ist als in der Grundgesamtheit. Scheidung scheint also ein durchaus relevanter Risikofak­ tor für Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter zu sein. Ob und inwiefern eine Scheidung ein Altersarmutsrisiko darstellt, hängt sowohl von der jeweiligen individuellen Konstellation als auch von den zum Zeitpunkt der Scheidung herrschenden allgemeinen Rahmenbedingun­ gen ab. Hierzu gehören u. a. das jeweils geltende Familienrecht (Schei­ dungs-, Unterhalts- und Sorgerecht), und auch das Rentenrecht (Versor­ gungsausgleich). Diese rechtlichen Rahmenbedingungen haben sich mehr­ fach geändert [vgl. Kap. V.2.b)]. Witwen stehen hingegen hinsichtlich ihrer Einkommensposition insgesamt relativ gut da (Stegmann / Bieber 2012): In den alten Bundesländern bezie­ hen sie in der Regel nicht nur eine Hinterbliebenenrente der GRV, sondern oftmals auch weitere Hinterbliebenenleistungen (z. B. aus der Betriebsrente des verstorbenen Ehemannes); in den neuen Bundesländern beziehen viele



3. Familienbiografie61

Witwen neben der Hinterbliebenenrente eine nennenswerte eigene Altersren­ te. Witwen stellen somit keine spezifische Risikogruppe für Altersarmut dar. Ein Punkt ist jedoch zu beachten: In der Grundsicherung sind laut ASIDDaten rund 40 % der Frauen verwitwet; laut Grundsicherungsstatistik 2012 erhalten hingegen nur knapp 19 % der Frauen im Grundsicherungsbezug eine Witwenrente der GRV. Somit ist zu vermuten, dass ein nicht unerheb­ licher Teil der verwitweten Frauen im Grundsicherungsbezug keine gesetz­ liche Witwenrente bezieht. Hierbei kann es sich u. a. um die Witwen von ehemaligen Selbstständigen ohne obligatorische Absicherung handeln. Ver­ witwung wird also insbesondere dann zum Armutsrisiko, wenn erstens eine traditionelle geschlechtsspezifische Arbeitsteilung gelebt worden ist (männ­ liches Versorgermodell) und zweitens der verstorbene Ehemann keine aus­ reichende Altersvorsorge aufgebaut hat. b) Kindererziehung Kinder spielen im Lebenslauf der heutigen Seniorinnen noch eine bedeu­ tende Rolle: 89 % aller Frauen im Rentenalter haben laut Alterssicherungs­ bericht 2012 eigene Kinder, nur 11 % sind kinderlos geblieben. In den neuen Ländern sind mit einem Anteil von 10 Prozent etwas weniger Frauen kinderlos geblieben als in den alten Ländern mit 13 Prozent. Rund 30 % der Frauen über 65 haben drei und mehr Kinder. Der Großteil der Kindererziehung und der Pflege von Angehörigen wird von Frauen vorgenommen. Frauen reduzieren ihre Arbeitszeiten oder geben 4 Kinder u. mehr 12%

Kein Kind 11%

3 Kinder 18%

1 Kind 23%

2 Kinder 36%

Quelle: Alterssicherungsbericht 2012.

Abbildung  11: Kinderzahl, Frauen im Alter von 65 und mehr Jahren

62

II. Biografische Determinanten der Grundsicherungsbedürftigkeit Tabelle 13 Kinderzahl und persönliches Nettoalterseinkommen von Frauen (Alter: 65+) Persönl. monatl. Nettoeinkommen in EUR Frauen Gesamt

Frauen West

Frauen Ost

0

1.283

1.331

1.040

1

1.084

1.102

1.028

2

  997

  993

1.011

3

  941

  920

1.021

4 oder mehr

  878

  852

  984

Quelle: Alterssicherungsbericht 2012.

die Erwerbsarbeit für eine bestimmte Zeit ganz auf. Der Wiedereinstieg ins Berufsleben erfolgt oftmals mit Schwierigkeiten und ist mit einem geringe­ ren Gehalt und / oder reduzierter Arbeitszeit verbunden. Der Zusammenhang zwischen Kinderzahl und persönlichem Alterseinkommen von Frauen ist in der Summe dementsprechend negativ: Je mehr Kinder eine Frau hat, desto geringer ist ihr persönliches Alterseinkommen. Dieser Zusammenhang gilt jedoch insbesondere für die alten Länder; für die neuen Länder ist er weniger eindeutig. Stegmann (2005) kommt auf Grundlage der AVID 96 zu dem Ergebnis, dass das projizierte persönliche Nettoalterseinkommen von ostdeutschen Frauen der Jahrgänge 1936–1955 sogar zunächst mit der Kinderzahl ansteigt; erst ab dem dritten Kind redu­ zieren sich die Einkommen wieder. Dies gilt sowohl für alleinstehende als auch für verheiratete Frauen. Dieser Befund lässt sich insbesondere auf die unterschiedlichen Wiedereinstiegsmuster nach Kinderpausen in Ost und West zurückführen: Während in den alten Bundesländern zwei Jahre nach der Geburt des ersten Kindes nur 26 % der Mütter (wieder) erwerbstätig ist, sind es in den neuen Bundesländern 60 %; auch bei Frauen mit 3 und mehr Kindern sind es immerhin noch 40 %. In den neuen Bundesländern ist somit auch bei kinderreichen Frauen ein gelungener beruflicher Wiedereinstieg keine Seltenheit; wo dies nicht der Fall ist, scheinen eher arbeitsmarktbe­ dingte Gründe als „mangelnde“ Erwerbsorientierung relevant zu sein.



3. Familienbiografie63

c) Alleinerziehungsphasen Ein besonderes Zusatzrisiko im Hinblick auf spätere Grundsicherungsbe­ dürftigkeit ist für Phasen der Alleinerziehung anzunehmen. Hiervon sind nach wie vor eher Frauen als Männer betroffen (Ott 2011). So wird u. a. im Dritten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung (BMAS 2008) auf ein stark erhöhtes Armutsrisiko Alleinerziehender hingewiesen. Perso­ nen, die alleinverantwortlich ein oder mehrere Kinder erziehen, können in derselben Zeit oft nur eingeschränkt oder gar nicht einer Erwerbstätigkeit nachgehen, woraus noch lange nach der Alleinerziehenden-Phase Nachteile entstehen können. Fehlende Berufsjahre, geringere Einstiegsgehälter und Beschäftigung unterhalb der tatsächlichen Qualifikationen sind Faktoren, welche die Einkommenssituation in der Erwerbsphase wie auch das spätere Alterseinkommen auch langfristig gesehen negativ beeinflussen können. Zudem gibt es für Gruppe unverheirateter Alleinerziehender weder im Un­ terhaltsrecht noch an anderer Stelle eine Regelung, die mit dem Versor­ gungsausgleich bei geschiedenen Alleinerziehenden vergleichbar wäre; Ott und Werding (2009) argumentieren, dass im gegenwärtig geltenden Ehe-, Familien- und Sozialrecht im Hinblick auf die Alterssicherung von Allein­ erziehenden eine Sicherungslücke existiert. d) Pflegezeiten Stegmann und Mika (2007) haben auf Basis der Vollendeten Versicher­ tenleben (VVL) eine Analyse der Pflegezeiten bei den Frauen des Renten­ zugangs 2004 vorgenommen (siehe nächste Seite). Hier zeigt sich, dass Frauen mit Pflegezeiten in der Versichertenbiografie deutlich weniger Bio­ grafiemonate in sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung aufweisen als Frauen mit ohne Pflegezeiten, dafür deutlich mehr Monate ohne Kontakt zur GRV. Frauen mit Pflegezeiten haben dementsprechend weniger Entgelt­ punkte als Frauen ohne Pflegezeiten (im Schnitt rund 4 EP); der Zusam­ menhang ist in den alten Bundesländern etwas deutlicher ausgeprägt als in den neuen Bundesländern. Hinsichtlich der Ursachen dieser „Schlechterstellung“ pflegender Frauen gegenüber nicht pflegenden Frauen lässt sich zwischen zwei verschiedenen Effekten unterscheiden: − Selektionseffekte liegen dann vor, wenn die Pflegebereitschaft von der Arbeitsmarktsituation abhängt, also Frauen mit besseren Arbeitsmarktein­ kommen seltener pflegen als Frauen mit schlechterem Arbeitsmarktein­ kommen. Pflege bedingt dann nicht eine geringere Erwerbstätigkeit, sondern die ohnehin niedrigere Erwerbstätigkeit begünstigt die Aufnahme einer Pflegetätigkeit.

64

II. Biografische Determinanten der Grundsicherungsbedürftigkeit Tabelle 14 Pflege im Rentenzugang (2004) Frauen OHNE Pflegephasen in der Versichertenbiografie

Frauen MIT Pflegephasen in der Versichertenbiografie

Biografiemonate ohne Kontakt zur GRV

216 Monate

247 Monate

Biografiemonate mit sozialversicherungspfl. Erwerbs­ tätigkeit

250 Monate

176 Monate

Persönliche Entgeltpunke Frauen West

19,2 EP

14,6 EP

Persönliche Entgeltpunke Frauen Ost

33,8 EP

30,0 EP

Quelle: Stegmann / Mika 2007, Datenbasis VVL 2004.

− Kausaleffekte können sowohl während als auch nach der Pflegetätigkeit wirksam werden. Einerseits treten negative Kausaleffekte auf, wenn auf­ grund der Pflege die eigene Berufstätigkeit aufgegeben oder eingeschränkt wird und der damit verbundene Verlust des Entgeltpunkteerwerbs nicht vollständig durch die zusätzlich „gutgeschriebenen“ Entgeltpunkte in der GRV kompensiert wird. Andererseits können negative Kausaleffekte auch nach Beendigung der Pflegetätigkeit auftreten: Diese resultieren aus „Narbeneffekten“, also daraus, dass die Einschränkung der eigenen Be­ rufstätigkeit während der Pflege auch nach Beendigung der Pflegephase zu komparativen Nachteilen und dementsprechend niedrigeren Verdiens­ ten im weiteren Erwerbsverlauf führt. Unger und Rothgang (2011) ermitteln auf Basis der Versichertenkonten­ stichprobe (VSKT) 2007 der DRV, dass der Selektionseffekt einer Pflege­ tätigkeit auf das Absicherungsniveau im Alter insgesamt erheblich höher als der Kausaleffekt. Frauen, die eine nicht erwerbsmäßige Pflegetätigkeit übernehmen, haben während ihrer vorherigen Erwerbskarriere durchgängig weniger Entgeltpunkte erworben als Frauen, die keine Pflegetätigkeit über­ nehmen; der Unterschied liegt bei durchschnittlich 2,7 Entgeltpunkten. Dieser Selektionseffekt wird weniger durch rentenrechtliche Regelungen als vielmehr durch arbeitsmarktbezogene Opportunitätskostenkalküle ausgelöst: Frauen mit niedrigeren Arbeitsmarktchancen übernehmen die Pflege selbst, während Frauen mit besserem Ausbildungs- und Lohnniveau eher auf pro­ fessionelle Pflege setzen.



3. Familienbiografie

65

Das Ausmaß und auch die Richtung des Kausaleffektes hängen hingegen stark vom Alter zu Beginn der Pflegephase ab. Während der Kausaleffekt bei 30–40-Jährigen im Schnitt sogar positiv ist, die Pflege also kausal zu einem leicht höheren Absicherungsniveau führt, ist dies bei den 40–50-Jäh­ rigen und den 50–60-Jährigen (und damit der Mehrheit der Pflegepersonen) umgekehrt: Die Pflege führt kausal zu einem niedrigeren Alterssicherungs­ niveau. Sowohl die positiven wie auch die negativen unmittelbaren kausalen Effekte sind jedoch nicht sehr stark. Unger und Rothgang kommen zu der Interpretation, dass jüngere Pflegepersonen eher in der Lage sind, ihren Erwerbsumfang annähernd aufrechtzuerhalten, so dass die zusätzlichen Ent­ geltpunkte aufgrund der Pflegetätigkeit tendenziell sogar noch „on top“ kommen können. Je länger die Pflegezeit jedoch dauert (und je stärker die Pflegebedürftigkeit der gepflegten Person im Zeitverlauf zunimmt), desto eher wird der Kausaleffekt negativ, da die Erwerbstätigkeit schließlich doch stärker eingeschränkt werden muss. Je älter die Pflegeperson bei Eintritt des Pflegefalls ist, desto eher und stärker reduziert sie schon zu Beginn der Pflege in ihre Erwerbstätigkeit, so dass der negative Kausaleffekt auf das Alterssicherungsniveau hier am stärksten ist. Berechnungen von Czaplicki (2012) auf Basis der Versicherungskonten­ stichprobe (VSKT) 2009 der DRV bestätigen den Befund, dass die Er­ werbsbeteiligung pflegender Frauen in der Regel bereits vor der Pflegetä­ tigkeit deutlich geringer ist als die nicht pflegender Frauen. Je stärker Frauen vor Eintritt des Pflegefalles beruflich engagiert waren, desto wahr­ scheinlicher ist es, dass sie ihre Erwerbstätigkeit nicht für Pflegezeiten einschränken bzw. unterbrechen; familienorientiertere Frauen, die ohnehin eine geringere Erwerbstätigkeit aufweisen, pflegen auch entsprechend häu­ figer. Hinsichtlich dieses Selektionseffektes zeigen sich Unterschiede zwi­ schen alten und neuen Bundesländern: Insbesondere die Erwerbstätigkeit der westdeutschen Frauen hat bereits vor der Pflegeübernahme deutlich abgenommen. Insgesamt bestätigen nahezu alle verfügbaren Studien, dass Frauen mit längeren Erwerbsunterbrechungen bzw. Erwerbseinschränkungen wegen Sorgearbeit (Kindererziehung und Pflege) ein niedrigeres eigenständiges Alterseinkommen aufweisen; zugleich weisen sie jedoch darauf hin, dass das niedrigere persönliche Einkommen der (Ehe-)Frauen in der Regel im Rahmen des Haushaltseinkommens weitgehend kompensiert wird. Ein spe­ zifisches Grundsicherungsrisiko, so könnte man schlussfolgern, entsteht nicht unmittelbar aus einer traditionellen geschlechtsspezifischen Arbeitstei­ lung, sondern vielmehr aus der Kombination eines solchen Arrangements mit zusätzlichen Faktoren (insbesondere Langzeitarbeitslosigkeit oder Er­ werbsminderung des Ehemannes sowie Scheidung).

66

II. Biografische Determinanten der Grundsicherungsbedürftigkeit

Inwiefern und in welchem Maße mit zunehmender Sorgearbeit (und ent­ sprechend abnehmender Erwerbstätigkeit) für Frauen auch ein erhöhtes Ri­ siko der Grundsicherungsbedürftigkeit verbunden ist, ist angesichts der be­ stehenden Datenlage nicht genau abzuschätzen: Bislang liegen für die Gruppe der Grundsicherungsbezieher / -innen keine Daten über die Kinder­ zahl und die im Lebenslauf absolvierten Kindererziehungs- und Pflegezeiten vor. Gleiches gilt für Phasen der Alleinerziehung im Lebenslauf. Die gerin­ geren Grundsicherungsbedürftigkeitsquoten der ostdeutschen Frauen gegen­ über den westdeutschen Frauen weisen jedoch darauf hin, dass institutionel­ le Rahmenbedingungen, die eine weitgehende Beibehaltung der Erwerbstä­ tigkeit auch bei mehreren Kindern und bei Pflegefällen in der Familie er­ möglichen, in Kombination mit einer erhöhten Erwerbsorientierung von Frauen im Sinne eines gleichberechtigten Partnerschaftsmodells, das Be­ dürftigkeitsrisiko im Alter entscheidend reduzieren können. 4. Gesundheitsbiografie Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf das Risiko der Er­ werbsminderung, da dieses (weitaus stärker als das Risiko der Behinderung, vgl. Hauser 2012) als ein zentrales Risiko für spätere Altersarmut bzw. Grundsicherungsbedürftigkeit angesehen werden kann. Für das aktuelle Leistungsgeschehen bei den Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit lassen sich 4 zentrale Trends ausmachen (Bäcker 2012): − Erstens ist der Anteil der EM-Renten im Zeitverlauf stark gesunken. In den 1960er Jahren lag der Anteil der EM-Renten bei Männern zum Teil noch bei bis zu 60 %; der jahrzehntelange Rückgang ist Mitte der 2000er Jahre vorläufig zum Ende gekommen. Lag der Anteil der EMRenten am Rentenzugang 1993 noch bei 25,6 %, so ist dieser Anteil bis 2005 auf 17,5 % gesunken und steigt seitdem langsam wieder an (2011: 20,5 %). Bei Männern ist der Rückgang besonders stark; dies führt (zu­ sammen mit der wachsenden Erwerbsbeteiligung von Frauen) zu einem steigenden Anteil von Frauen beim EM-Zugang (1993: 37,1 %; 2011: 47,2 %). − Zweitens lässt sich ein langfristig leicht sinkendes Zugangsalter feststel­ len (Männer 2000: 52,2 Jahre, 2011: 51,1 Jahre; Frauen 2000: 50,3 Jahre, 2011: 49,9 Jahre) Dies liegt auch an dem strukturellen Wandel der Krank­ heitsbilder, die zur EM führen: Der Anteil psychischer Erkrankungen, die vermehrt auch schon in jüngeren Jahren auftreten, ist kontinuierlich ge­ wachsen (Dannenberg et al. 2009). − Drittens ist der Anteil der Versicherten, die aus einer versicherungspflich­ tigen Beschäftigung heraus eine EM-Rente erhalten, im letzten Jahrzehnt



4. Gesundheitsbiografie67 850

817

800 750

738

700 650

671

629

646 620

600 550

500

2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 EM Gesamt

Männer

Frauen

Quelle: DRV Bund, Rentenversicherung in Zeitreihen 2013.

Abbildung 12: Zugangsrenten wegen voller Erwerbsminderung – Zahlbeträge

gesunken (2000: 54,5 %, 2011: 42,7 %); im Gegenzug erfolgte ein Anstieg des Anteils der Versicherten, die im Jahr vor dem Leistungsfall arbeitslos waren (2011: 38,2 %). Insbesondere der ALG II-Bezug stellt mittlerweile ein zentrales Eintrittstor in die Erwerbsminderung dar (2011: 29,8 %). Dies kann u. a. daran liegen, dass Arbeitnehmer mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen ein besonders hohes Risiko haben, arbeitslos zu wer­ den und zu bleiben. Umgekehrt führt Langzeitarbeitslosigkeit zu einer Gefährdung der physischen und vor allem auch psychischen Gesundheit bzw. verstärkt schon vorhandene Einschränkungen. − Viertens lässt sich ein starkes und kontinuierliches Absinken der Zahlbe­ träge der neu zugehenden Erwerbsminderungsrenten feststellen. Einerseits ist die Biografie von Erwerbsgeminderten zunehmend von instabilen und prekären Erwerbsverläufen geprägt, die zu einer sinkenden Anzahl an persönlichen Entgeltpunkten führen. Andererseits hat die Neuregelung des Erwerbsminderungsrentenrechts zum 1. Januar 2001 zu einer Niveau­ absenkung der EM-Renten geführt. Hier wirkt insbesondere die Einfüh­ rung von Abschlägen bei vorzeitigem Renteneintritt, von denen 96 % der EM-Rentner betroffen sind und die den Netto-Zahlbetrag durchschnittlich um rund 70 Euro senken. Die zeitgleiche Anhebung der Zurechnungszei­ ten gleicht die rentenkürzenden Wirkungen der Abschläge dabei nur teilweise aus. Außerdem wirkt auch bei der EM-Rente die allgemeine Dämpfung der Rentenanpassung durch die Reformen von 2001 und 2004.

68

II. Biografische Determinanten der Grundsicherungsbedürftigkeit

a) Soziale Selektivität des Erwerbsminderungsrisikos Hagen et al. (2010) haben auf Grundlage prozessproduzierter Daten der DRV eine Analyse zu den sozialen Unterschieden beim Zugang in die EMRente durchgeführt. Dabei differenzieren sie das Zugangsrisiko für die drei häufig vorkommenden Diagnosegruppen Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Muskel-Skelett-Erkrankungen und psychische Erkrankungen nach Qualifi­ kationsniveau, Geschlecht und Region. − Bei den EM-Rentenzugängen wegen Herz-Kreislauf-Erkrankungen zeigt sich, dass Männer und Frauen mit niedrigem Qualifikationsniveau ein fast acht- bzw. sechsfach erhöhtes Risiko eines EM-Rentenzugangs haben als Männer und Frauen mit hoher Qualifikation. Bereits in der mittleren Qualifikationsgruppe ist das EM-Renten-Risiko gegenüber der Gruppe mit hoher Qualifikation viermal bzw. dreimal höher. Ostdeutsche Männer und Frauen weisen hier ein deutlich höheres Risiko auf als westdeutsche Männer und Frauen. − Bei den EM-Rentenzugängen wegen Muskel-Skelett-Erkrankungen sind die qualifikationsbezogenen Unterschiede bei den Männern sogar noch höher: Gering qualifizierte Männer tragen ein rund elfmal höheres EMRisiko als hoch qualifizierte Männer; bei gering qualifizierten Frauen ist das Risiko rund fünfmal so hoch wie bei hochqualifizierten Frauen. Aber auch Männer und Frauen mit einem mittleren Qualifikationsniveau tragen noch ein rund neunmal bzw. dreimal so hohes Risiko wie hochqualifizier­ te Männer und Frauen. − Deutliche Qualifikationsunterschiede bestehen schließlich auch bei EMRentenzugängen aufgrund von psychischen Erkrankungen: Bei geringqua­ lifizierten Männern ist das Erwerbsminderungsrisiko mehr als viermal so hoch, bei den gering qualifizierten Frauen mehr als doppelt so hoch wie bei den Hochqualifizierten. b) Soziökonomische Situation der EM-Rentner / -innen Die DRV Bund hat eine große empirische Studie zur „sozioökonomischen Situation von Personen mit Erwerbsminderung“ in Auftrag gegeben. Ziel der Studie war, einen differenzierten Überblick über die Einkommens- und Vermögenssituation von Erwerbsminderungsrentnerinnen und -rentnern im Haushaltskontext zu gewinnen. Der erste Projektbericht liegt seit kurzem vor (Märtin et al. 2012). Folgende Ergebnisse sind hier zentral: − Von allen Personen, die in den Haushalten von Erwerbsminderungsrent­ ner(innen) leben, sind 37 % armutsgefährdet. Im Vergleich dazu sind in der deutschen Bevölkerung (18–64) nach Daten des SOEP 2010 nur



4. Gesundheitsbiografie69

14 Prozent armutsgefährdet. Die Armutsgefährdungsquote liegt dabei in Einpersonenhaushalten mit 49,6 % besonders hoch. − Gut 25 % der Haushalte von Erwerbsminderungsrentnerinnen und -rent­ nern müssen staatliche Leistungen (Wohngeld,  ALG  II / Sozialgeld, Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, Sozialhilfe) in An­ spruch nehmen. Auch hier liegt die Quote in Einpersonenhaushalten mit 27,9 % merklich höher als in Mehrpersonenhaushalten mit 16,3 % − Bei rund 18 % der Personen in den Haushalten von Erwerbsminderungsrent­ ner(innen) liegt bekämpfte Armut vor. Das bedeutet, dass sie auf staatli­ che Mindestsicherungsleistungen (ALG II / Sozialgeld, Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, Sozialhilfe) angewiesen sind. In der Bevölkerung traf das lediglich auf 9 Prozent zu. Ein überdurchschnittliches Armuts- und Grundsicherungsbedürftigkeitsri­ siko besteht bei Alleinlebenden, Personen in Haushalten von Männern mit Erwerbsminderung, Personen ohne deutsche Staatsbürgerschaft und bei Personen ohne Schul- oder ohne Berufsabschluss. c) Ergebnisse der Grundsicherungsstatistik Die individuelle Angewiesenheit auf Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung vor dem 65.  Lebensjahr ist mit einem erhöhten Risiko verbunden, dass auch bei Erreichen des 65.  Lebensjahres weiterhin ein Grundsicherungsbedarf besteht. Ein nicht unwesentlicher Teil  der aktuellen Grundsicherungsbezieher / -innen unter 65  Jahren dürfte somit in der Zukunft „nahtlos“ in die Altersarmut rutschen. Betrachtet man die angerechneten Einkommen der Grundsicherungsbezieher / -innen im Al­ ter zwischen 18 und 64 Jahren in der Grundsicherungsstatistik, so zeigt sich, dass weniger als ein Drittel (31,1 %) der Grundsicherungsbezieher dieser Altersgruppe im Jahr 2012 eine Erwerbsminderungsrente der GRV beziehen. In dieser Hinsicht bestehen zwischen Männern und Frauen sowie zwischen Deutschen und Ausländern keine großen Unterschiede. Rund 35,5 % der Grundsicherungsbezieher / -innen wegen Erwerbsminderung ver­ fügen sogar über überhaupt kein eigenes angerechnetes Einkommen. Insgesamt zeigen diese ausgewählten Ergebnisse, dass Erwerbsminderung aktuell wahrscheinlich das größte Altersarmutsrisiko darstellt und in diesem Bereich der sozialpolitische Handlungsbedarf am dringendsten ist (Rische 2010, Bäcker et  al. 2011, Rische / Kreikebohm 2012). Das zentrale Konzept des Paradigmenwechsels in der Alterssicherung – Rückführung des Leis­ tungsniveaus der Rentenversicherung bei gleichzeitigem Aufbau privater und betrieblicher Altersvorsorge – greift bei den Erwerbsminderungsrenten nicht. Denn es ist vor allem für Risikogruppen (gering Qualifizierte in hoch

70

II. Biografische Determinanten der Grundsicherungsbedürftigkeit

belastenden Berufen mit schlechtem Gesundheitszustand und Vorerkrankun­ gen) nur begrenzt möglich, sich adäquat privat oder betrieblich gegen dieses Risiko abzusichern. Die privaten Versicherer bieten entsprechende Produkte selten an − und wenn, dann zu kaum bezahlbaren Tarifen. Zudem bestehen bei einem Eintritt der Erwerbsminderung in jüngeren Jahren keine Möglich­ keiten, ausreichend lange privat oder betrieblich vorzusorgen. 5. Bildungsbiografie Bildung ist ein zentraler Schlüssel für die Teilhabe- und Verwirklichungs­ chancen in nahezu allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, insbeson­ dere auch für die erfolgreiche Eingliederung in den Arbeitsmarkt. An den verschiedenen Übergängen und „Gelenkstellen“ im Bildungssystem (u. a. Schuleintritt, Wechsel auf eine weiterführende Schule oder von der Schule in die Ausbildung) wirken soziale, migrations- und geschlechtsbedingte Risiko- und Erfolgsfaktoren in besonderer Weise und beeinflussen somit auch die Teilhabeergebnisse im weiteren Lebensweg. Benachteiligungen im Bildungssystem, Bildungsmisserfolge und -abbrüche sowie Bildungsent­ scheidungen, die in Sackgassen führen, können zu kumulierenden negativen Effekten im weiteren Lebensverlauf führen. Hierzu kann im Sinne einer Perspektive lebenslangen Lernens neben einem niedrigen oder fehlenden Schul- bzw. Berufsabschluss auch der mangelnde Teilhabe an Weiterbil­ dungsmöglichkeiten in späteren Phasen der Biografie gehören. Die Bedeutung der individuellen Bildungsbiografie für die spätere Einkom­ menssituation im Alter lässt sich anhand von zwei ausgewählten Ergebnissen verdeutlichen. Frommert / Thiede (2011) haben auf Basis der AVID 2005 eine Projektion der persönlichen Alterssicherungsanwartschaften (inkl. Anwart­ schaften aus betrieblicher und privater Vorsorge) nach höchstem allgemeinbil­ denden Schulabschluss vorgenommen. Hier zeigt sich für Männer und Frauen sowohl in den alten als auch in den neuen Bundesländern ein klarer Trend: Die niedrigsten Alterseinkommen werden von Personen mit dem niedrigsten Bildungsniveau, die höchsten Alterseinkommen von Personen mit hohem Bil­ dungsniveau erreicht. Dieser Trend zeigt sich weitaus deutlicher, wenn man die gesamten Alterssicherungsanwartschaften betrachtet, als wenn nur die An­ wartschaften aus der GRV berücksichtigt werden. Hier kommt zum Tragen, dass insbesondere Personen mit (Fach-)Hochschulreife überdurchschnittliche Einkommen aus Quellen außerhalb der GRV beziehen. Im Rahmen des Alterssicherungsberichts 2012, der in wesentlichen Teilen auf Daten der noch unveröffentlichten ASID 2011 beruht, wurde die Gruppe der Grundsicherungsbezieher / -innen im Alter von 65 und mehr Jahren u. a. im Hinblick auf den höchsten erreichten beruflichen Bildungsabschluss mit der



5. Bildungsbiografie71 Tabelle 15 Projizierte Alterssicherungsanwartschaften nach höchstem Schulabschluss, deutsche GRV-Bezieher / -innen der Jahrgänge 1942–1961 Höchster Schulabschluss

Monatl. Bruttoeinkommen in EUR Männer West

Frauen West Männer Ost

Frauen Ost

Volks- / Hauptschule

1.541

  733

1.045

  846

Mittlere Reife

1.848

  942

1.104

  994

(Fach-)Hochschule

2.081

1.282

1.526

1.335

Gesamt

1.742

  877

1.200

1.057

Quelle: Frommert / Thiede 2011: 440, Basis: AVID 2005, Kaufkraftperspektive.

übrigen Bevölkerung im Alter von 65 und mehr Jahren verglichen. Hier zeigt sich erstens, dass knapp die Hälfte der Grundsicherungsbezieher / -innen kei­ nen beruflichen Abschluss besitzt, gegenüber rund einem Viertel in der übri­ gen Bevölkerung im Seniorenalter. Dies legt den Schluss nahe, dass der Grundstein für eine „Grundsicherungskarriere“ in vielen Fällen bereits wäh­ rend der Kindheit und Jugend bzw. während des Übergangs in das Erwachse­ nenalter gelegt worden ist. Mangelnde schulische und berufliche Qualifikation scheint somit ein zentraler Risikofaktor auch im Hinblick auf spätere Altersar­ mut bzw. Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter zu sein. Zweitens zeigt sich, dass es auch in der Grundsicherungspopulation einen nicht zu vernachlässi­ genden Anteil von Personen mit Hoch- oder Fachhochschulabschluss gibt, der mit rund einem Achtel nicht wesentlich von dem entsprechenden Anteil in der Gesamtbevölkerung abweicht. Der beste Schutz vor Grundsicherungsbedürf­ tigkeit scheint hingegen in der Wahl einer Beamtenlaufbahn zu bestehen. Tabelle 16 Grundsicherungsbezug nach beruflichem Abschluss OHNE Grundsicherung

MIT Grundsicherung

Keine abgeschl. Ausbildung

24 %

46 %

Lehre, Berufsfachschule / Handel, Meister

54 %

36 %

(Fach-)Hochschulabschluss

13 %

12 %

Beamtenausbildung

  3 %

  0 %

Sonstiges

  6 %

  6 %

Quelle: Eigene Darstellung nach Alterssicherungsbericht 2012, Tab. C.5.3.

72

II. Biografische Determinanten der Grundsicherungsbedürftigkeit

6. Vorsorgebiografie Der Aufbau einer zusätzlichen privaten Altersvorsorge ist an bestimmte Voraussetzungen geknüpft. Hier lässt sich zwischen individuellen finanziel­ len Ausgangsbedingungen und individuellen Kompetenzen unterscheiden. Einerseits verfügen viele Personen über keine bzw. nur sehr eingeschränkte finanzielle Spielräume, um eine private Zusatzvorsorge in angemessener Höhe aufzubauen. Zudem kann es an den grundsätzlichen Fähigkeiten feh­ len, sich am komplexen Vorsorgemarkt zu orientieren. Hierbei geht es auch um die Vorsorgebereitschaft, also die Grundeinsicht, überhaupt zusätzlich privat vorsorgen zu müssen. Grundsätzlich ist festzuhalten, dass für die hier untersuchten Geburtsko­ horten 1938–1947 der 2001 beschlossene Aufbau einer Förderung der be­ trieblichen und privaten Altersvorsorge (im Gegensatz zu den ebenfalls beschlossenen Leistungssenkungen in der GRV) keine große Relevanz mehr hat: Die untersuchten Personen waren zum Zeitpunkt der Einführung der Riester-Förderung (1.1.2002) zwischen 55 und 64  Jahren alt, und nur die wenigsten dürften von den Fördermöglichkeiten noch Gebrauch gemacht haben. Die private Altersvorsorge dieser Geburtskohorten hat sich also im Wesentlichen in der vor-Riester-Ära abgespielt. Hier geht es also nicht um die Beteiligung an Entgeltumwandlung und Riesterprodukten, sondern viel­ mehr um die Beteiligung an der „klassischen“ Betriebsrente bzw. der Zu­ satzversorgung des öffentlichen Dienstes in der zweiten Säule sowie der Beteiligung an Kapitallebens- und privaten Rentenversicherungen sowie sonstigen Formen des privaten Vorsorgesparens (u. a. Sparbuch, Bausparver­ trag, Wertpapiere, Fonds) in der dritten Säule. Stegmann und Bieber (2000) haben auf Grundlage der AVID 96 die Be­ teiligung an privaten Kapitallebensversicherungs- und Rentenversicherungen der Geburtsjahrgänge 1936–1955 untersucht. Sie identifizieren eine Reihe von individuellen Merkmalen, die einen negativen Zusammenhang mit der Teilnahme an privater Vorsorge aufweisen. Die drei zentralen Faktoren sind hier geringe schulische und berufliche Qualifikation, niedriges Tätigkeitsni­ veau und niedriger Verdienst. So hatten im Jahr 1996 über 60 % derer, die eine Volksschule besucht, aber keinen beruflichen Abschluss erworben ha­ ben, keine Versicherung; in den anderen Bildungsgruppen waren es lediglich rund 40 %. Analog dazu hatten knapp 60 % der angelernten Arbeiter, hinge­ gen nur 40 % der Fachkräfte im gehobenen Dienst keine Versicherung. Gut 70 % der Personen, die 1996 ein Monatseinkommen unter 1000 DM aufwie­ sen, hatten keine Versicherung; dieser Anteil reduziert sich auf knapp 40 % bei Personen mit einem monatlichen Einkommen von 6.000 DM und mehr.



6. Vorsorgebiografie73 Tabelle 17 Beteiligung der Geburtsjahrgänge 1936–1955 an privater Renten- oder Kapitallebensversicherung (1996  – nach soziodemografischen Merkmalen) Merkmal

Ohne Beteiligung an privater Altersvorsorge in %

Ausbildungsniveau – Volksschule ohne Berufsausbildung

62

– Volksschule mit Berufsausbildung

42

– Mittlere Reife

41

– Abitur / Fachhochschulreife

42

Letztes Tätigkeitsniveau – Angelernter Arbeiter

57

– Facharbeiter / einfache Fachkraft

43

– Meister / Polier / Fachkraft mittlere Position

44

– Fachkraft gehobene Position

38

Monatl. Einkommen (in DM) – Unter 1000

71

– 1000–2000

59

– 2000–3000

52

– 3000–4000

46

– 4000–6000

40

– 6000 und mehr

38

Geschlecht – Männer

34

– Frauen

55

Region – Alte Bundesländer

42

– Neue Bundesländer

46

Quelle: Stegmann / Bieber 2000.

74

II. Biografische Determinanten der Grundsicherungsbedürftigkeit Tabelle 18 Beteiligung der Geburtsjahrgänge 1936–1955 an privater Renten- oder Kapitallebensversicherung im Ehepaarkontext (1996)

Vorsorgebeteiligung

Alte Bundesländer

Neue Bundesländer

Insgesamt

Weder Ehemann noch Ehefrau

  29 %

  33 %

  30 %

Nur Ehefrau

  6 %

  8 %

  6 %

Nur Ehemann

  33 %

  12 %

  28 %

Beide

  33 %

  47 %

  36 %

Insgesamt

100 %

100 %

100 %

Quelle: Stegmann / Bieber 2000.

Betrachtet man neben der Beteiligungswahrscheinlichkeit auch die Ver­ sicherungshöhen, also die Höhe der vertraglich vereinbarten Leistungen aus den Lebens- bzw. Rentenversicherungen, so zeigt sich ein sehr deut­ licher Zusammenhang zwischen dem Bruttoeinkommen und der Versiche­ rungssumme: Je niedriger die Einkommensklasse, desto niedriger die Ver­ sicherungssumme. Dieser lineare Einkommenseffekt zeigt sich auch auf Ehepaar­ebene. Interessant ist, dass sich im Hinblick auf die geschlechtsspezifischen Muster der Vorsorgeteilnahme im Ehepaarkontext deutliche Unterschiede zwischen Ost und West finden: Die Tatsache, dass in der DDR eher ein egalitäres Verständnis hinsichtlich des Lohnerwerbs in der Ehegemein­ schaft vorgeherrscht hat, während das traditionelle Rollenverständnis der Einversorger-Ehe in der BRD stärker fortwirkt, zeigt sich auch in den ge­ schlechtsspezifischen Beteiligungsquoten an der dritten Säule. Während im Westen noch oftmals der Ehemann allein vorsorgt (ein Drittel der Fälle), so scheint im Osten eher der Grundsatz „entweder beide oder keiner von beiden“ zu gelten. Insgesamt zeigt sich für die untersuchten Kohorten: Die Wahrscheinlich­ keit einer mangelnden zusätzlichen Vorsorge ist insbesondere bei denjeni­ gen Gruppen gegeben, die bereits in der GRV nur vergleichsweise geringe Anwartschaften erwerben (Personen mit geringer Qualifikation und / oder geringem Berufsstatus sowie Einkommensschwächere); die sozial selektive Beteiligung an der dritten Säule hat somit einen ungleichheitsverstärkenden Effekt.



6. Vorsorgebiografie

75

Es spricht vieles dafür, dass die von Stegmann und Bieber anhand der AVID 96-Daten für die Geburtsjahrgänge 1936–1955 identifizierten sozialen Ungleichgewichte bei der Beteiligung an der betrieblichen und privaten Vor­ sorge über die Kohorten hinweg weiterhin fortbestehen und sich die soziale Selektivität der dritten Säule auch durch die Einführung der staatlichen För­ derung für betriebliche und private Altersvorsorgeformen seit 2002 nicht we­ sentlich verringert worden ist- trotz des durchaus vorhandenen Umvertei­ lungspotenzials der Riester-Förderung (Loose / Thiede 2013), welche vor al­ lem für Familien mit mehreren Kindern und für Geringverdiener attraktiv ausgestaltet worden ist. Zwar wird der Anteil der kollektiven Systeme der ersten Säule (insbesondere der GRV) am zukünftigen Bruttoalterseinkommen insgesamt zurückgehen und die Anteile der zweiten und dritten Säule werden dementsprechend steigen (Frommert / Heien 2006); nach wie vor bauen sozial weniger privilegierte Personen jedoch weniger oft und geringere Anwart­ schaften auf Alterseinkommen in der zweiten und dritten Säule auf. Nach wie vor funktioniert die betriebliche und private Vorsorge somit in vielerlei Hin­ sicht nach dem Matthäus-Prinzip: wer hat, dem wird gegeben. Ändern wird sich allenfalls der Einfluss der Kinderzahl: So ist (nicht zu­ letzt aufgrund der Ausgestaltung der Förderung) bei der Riester-Rente eher von einer Umkehrung des (vor Einführung negativen) Zusammenhangs zwi­ schen der Anzahl der Kinder und Beteiligung an betrieblicher und privater Vorsorge zu erwarten. Geyer (2011) analysiert auf Grundlage des SOEP für 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0% 1. Quintil ALG IIBezieher

1. Quintil

2. Quintil

3. Quintil

4. Quintil

5. Quintil

Quelle: Promberger et al. 2012.

Abbildung 13: Beteiligung an Privatvorsorge (gefördert und ungefördert – 2008)

76

II. Biografische Determinanten der Grundsicherungsbedürftigkeit

die Jahre 2004 bis 2010 die Teilnahme an der Riester-Rente. Nach zehn Jah­ ren haben weniger als 40 Prozent aller Anspruchsberechtigten einen RiesterVertrag abgeschlossen; insbesondere Geringverdiener, Personen mit niedri­ gem Bildungsabschluss und Migrationshintergrund „riestern“ seltener als der Durchschnitt der Bevölkerung. Die mit der staatlichen Förderung verbunde­ nen Anreize für Geringverdiener „funktionieren“ also nicht in dem erhofften Maße. Besser funktionieren hingegen die Anreize für Familien mit Kindern: Die Zahl der Kinder beeinflusst insbesondere bei Frauen die Wahrscheinlich­ keit des Abschlusses eines Riester-Vertrags stark positiv. Promberger et al. (2012) haben, gestützt auf Daten aus der dritter Welle des „Panel Arbeitsmarkt und soziale Sicherung“ (PASS) des IAB (Befra­ gungszeitpunkt 2008 / 2009), die Beteiligung an privater Vorsorge untersucht (sowohl geförderte als auch nicht geförderte Vorsorge). Auch in den PASSDaten zeigt sich der bekannte Zusammenhang zwischen Einkommen und Privatvorsorge sehr deutlich: Je höher das Einkommen, desto höher ist der Anteil der Sparer, oder umgekehrt: Je niedriger das bedarfsgewichtete Haus­ haltsnettoeinkommen, desto höher ist der Anteil der Nicht-Vorsorgesparer. Diese Unterschiede sind nicht zuletzt der unterschiedlichen Beteiligung an ungeförderten Lebens- und Rentenversicherungen geschuldet, bei denen der Einkommensbias deutlich höher ist als bei den Riester-geförderten Vorsor­ geprodukten. Bemerkenswert ist, dass zum Befragungszeitpunkt 2008 / 2009 nur etwa jeder sechste Arbeitslosengeld-II-Empfänger Sparleistungen für die private Alterssicherung (Riester- geförderte Produkte sowie ungeförderte private Renten- und Kapitallebensversicherungen) erbrachte. ALG II-Bezie­ her betreiben damit nur halb so oft private Vorsorge wie Menschen aus vergleichbaren Einkommensverhältnissen, aber ohne SGB-II-Leistungsbe­ zug. Zusammenfassend lässt sich die Schlussfolgerung ziehen, dass die kapitalgedeckte private Altersvorsorge trotz Riester-Förderung insgesamt nur ein sehr begrenztes Potenzial bietet, die Risiken künftiger Altersarmut zu verringern. 7. Migrationsbiografie  – Bevölkerung mit Migrationshintergrund Hinsichtlich der Migrationsbiografie bzw. dem Faktor „Migrationshinter­ grund“ sind zunächst einige Abgrenzungen zu treffen. Grundsätzlich zählen zu der Bevölkerungsgruppe mit Migrationshintergrund nach Definition des statistischen Bundesamtes „alle nach 1949 auf das heutige Gebiet der Bun­ desrepublik Deutschland Zugewanderten, sowie alle in Deutschland gebore­ nen Ausländer und alle in Deutschland als Deutsche Geborenen mit zumin­ dest einem zugewanderten oder als Ausländer in Deutschland geborenen Elternteil“. 2010 lebten rund 15,7 Millionen Menschen mit Migrationshin­ tergrund in Deutschland; somit hat knapp ein Fünftel (19,3 %) der Gesamt­



7. Migrationsbiografie – Bevölkerung mit Migrationshintergrund77

bevölkerung einen Migrationshintergrund. Etwas mehr als die Hälfte davon, rund 8,6 Millionen haben die deutsche Staatsangehörigkeit; rund 7,1 Millio­ nen sind Ausländer / -innen. Generell weisen Personen mit Migrationshintergrund, so die Ergebnisse des Mikrozensus 2010, über alle Lebensphasen hinweg deutlich höhere, im Durchschnitt mehr als doppelt so hohe Armutsgefährdungsquoten auf als Personen ohne Migrationshintergrund (2010: 26,2 % gegenüber 11,7 %). In der Betrachtung nach sozioökonomischen Merkmalen gelten die bei der Gesamtbevölkerung bekannten Muster (höhere Armutsgefährdungsquoten bei Alleinlebenden, Alleinerziehenden und bei Personen ohne Schulab­ schluss, hingegen in der Summe keine großen Unterschiede zwischen Män­ nern und Frauen) im Prinzip auch für Zuwanderer und ihre Nachkommen, allerdings durchweg auf höherem Niveau. Tabelle 19 Armutsgefährdungsquoten nach Migrationsstatus und soziodemografischen Merkmalen (2010) OHNE Migrationshintergrund

MIT Migrationshintergrund

– Insgesamt

11,7 %

26,2 %

– Männer

11,0 %

25,9 %

– Frauen

12,3 %

26,5 %

– Unter 18 Jahren

12,9 %

30,0 %

– 18 bis 24 Jahre

20,9 %

28,5 %

– 25 bis 49  Jahre

10,5 %

23,6 %

– 50 bis 64  Jahre

10,4 %

23,7 %

– 65  Jahre und mehr

10,7 %

28,7 %

Nach Geschlecht

Nach Alter

Quelle: Fuhr 2012: 551 (Ergebnisse Mikrozensus 2010).

Vergleicht man die Armutsgefährdungsquoten der Personen mit Migra­ tionshintergrund im Hinblick auf die jeweiligen Herkunftsländer, so fällt auf, dass die drei größten Zuwanderergruppen (Türkei, ehemalige Sowjet­ union, ehemaliges Jugoslawien) auch die relativ höchsten Armutsgefähr­ dungsquoten aufweisen.

78

II. Biografische Determinanten der Grundsicherungsbedürftigkeit Tabelle 20 Bevölkerung mit Migrationshintergrund und Armutsgefährdung nach ausgewähltem Herkunftsland (2010) Anzahl

Armutsgefährdungsquote

Türkei

  2.485.000

35,8 %

Ehem. Sowjetunion

 2.413.000

28,9 %

Ehem. Jugoslawien

 1.348.000

25,9 %

Polen

 1.311.000

17,9 %

Italien

   745.000

19,0 %

Rumänien

   428.000

14,4 %

Griechenland

   375.000

21,4 %

Migrationshintergrund Gesamt

15.746.000

26,2 %

Quelle: Fuhr 2012: 559 (Ergebnisse Mikrozensus 2010).

Laut Alterssicherungsbericht 2012, der auf Daten der ASID 2011 beruht, beziehen Migrantinnen und Migranten im Alter ab 65  Jahren in der Regel deutlich niedrigere Nettoalterseinkommen als in Deutschland geborene deut­ sche Seniorinnen und Senioren. Im Durchschnitt stehen ihnen nur etwa drei Viertel des durchschnittlichen Nettoeinkommens von 65-jährigen und älte­ ren Deutschen ohne Migrationshintergrund zur Verfügung. Dies liegt einer­ seits an niedrigeren GRV-Renten, vor allem aber an fehlenden zusätzlichen Einkommen. Nur 25 % der Migranten verfügen im Alter über Einkommen aus Vermögen oder privaten Lebensversicherungen, gegenüber 42 % der deutschen Senioren. Die vergleichsweise niedrigen Alterseinkommen von Zuwanderern könnte darin begründet liegen, dass unter ihnen viele Angehörige der sogenannten Gastarbeitergeneration sind, die vor allem im Niedriglohnbereich tätig waren (u. a. als angelernte Arbeiterinnen und Arbeiter in der Industrie). Auswertun­ gen des Mikrozensus 2010 (Fuhr 2012) zeigten u. a. folgende Ergebnisse: − 52 % der über 65-Jährigen mit Migrationshintergrund waren in ihrem letzten Beruf als Arbeiterinnen oder Arbeiter tätig (gegenüber 33 % bei Personen ohne Migrationshintergrund). − Über 65-Jährige mit Migrationshintergrund haben überdurchschnittlich häufig im produzierenden Gewerbe gearbeitet, während der Anteil der ehemaligen Angestellten, Beamten und Selbstständigen unter ihnen deut­ lich unter jenem in der Gesamtbevölkerung liegt.



7. Migrationsbiografie – Bevölkerung mit Migrationshintergrund79 Tabelle 21 Einkommenskomponenten nach Migrationshintergrund OHNE Migrationshintergrund Einkommenskomponente

MIT Migrationshintergrund

Bezieher- Durchschn. Betrag Bezieher- Durchschn. Betrag quote (nur Bezieher) quote (nur Bezieher)

Eigene GRV

91 %

917 EUR

88 %

827 EUR

Abgeleitete GRV

21 %

668 EUR

21 %

589 EUR

Private Vorsorge

42 %

346 EUR

25 %

329 EUR

Transferleistungen

  3 %

202 EUR

16 %

273 EUR

Durchschnittl. Nettoeinkommen

1386 EUR

1067 EUR

Quelle: Alterssicherungsbericht 2012, Tab. C.4.4.

Differenziert man die Höhe der Altersrentenzahlungen an Bestandsrentne­ rinnen und Bestandsrentner nach Staatsangehörigkeit, so zeigen sich nicht nur große Unterschiede zwischen Ausländer / -innen und Deutschen, sondern auch zwischen verschiedenen ausländischen Staatsangehörigkeiten (Höhne et al. 2014): Während die durchschnittliche Rentenhöhe spanischer oder italienischer Männer vergleichsweise hoch liegt, weisen türkische Männer Tabelle 22 Altersrentenzahlungen an Bestandsrentner / -innen (ohne Vertragsrentner), 2012 Männer

Frauen

Deutschland

1.109

572

Türkei

  742

363

Ehem. Jugoslawien

  873

545

Italien

  963

467

Griechenland

  846

570

Spanien

1.003

479

Portugal

  868

464

Quelle: Höhne et  al. 2014: 15; Datenbasis: Sonderauswertung der DRV Bund.

80

II. Biografische Determinanten der Grundsicherungsbedürftigkeit

das mit Abstand niedrigste Rentenniveau auf; dieses lag im Jahr 2012 mit 742 Euro / Monat nur wenige Euro über dem Grundsicherungsniveau (719 Euro / Monat). Auch die türkischen Frauen beziehen mit Anstand die nied­ rigsten eigenständigen Altersrenten. Insgesamt ergeben sich deutliche Hinweise, dass innerhalb der sehr hete­ rogenen Gruppe der Personen mit Migrationshintergrund bzw. der Auslän­ der / -innen deutliche Unterschiede zwischen den einzelnen Herkunftsländern bestehen. In praktisch allen verfügbaren Statistiken und Studien schneiden Personen aus Nicht-EU-Staaten (hier insbesondere aus der Türkei und aus dem ehemaligen Jugoslawien) hinsichtlich ihrer Alterseinkommen deutlich schlechter ab als Personen aus EU-Anwerbestaaten (Spanien, Griechenland, Italien, Portugal) und Personen aus sonstigen EU-Staaten. Exemplarisch lässt sich dies anhand eines ausgewählten Teilergebnisses einer umfassenden Studie von Mika (2009) verdeutlichen. Im Vergleich des Rentenzugangs verschiedener Migrantengruppen des Jahrgangs 1941 (nur Männer) zeigt sich u. a., dass der Anteil des Rentenzugangs aus Arbeitslo­ sigkeit bei Migranten aus den EU15-Nichtanwerbestaaten am niedrigsten ist (24 %), während er bei Personen aus den klassischen EU-Anwerbestaaten (Spanien, Griechenland, Italien, Portugal) 30 % beträgt. Bei den Personen mit Herkunft aus der Türkei und aus dem ehemaligen Jugoslawien beträgt er hingegen 55 %. Hier drückt sich eine deutlich ungünstigere Beschäfti­ gungsstruktur aus. Umgekehrt sind innerhalb dieses Jahrgangs 15 % der Personen aus EU-Nichtanwerbestaaten, 10 % der Personen aus den Anwer­ bestaaten und nur 5 % der Personen aus der der Türkei und aus dem ehe­ maligen Jugoslawien in eine Altersrente für langjährig Beschäftigte zuge­ gangen. Dies ist zumindest für Personen aus dem ehemaligen Jugoslawien möglicherweise auch auf eine im Durchschnitt kürzere Zugehörigkeitsdauer zur GRV zurückzuführen. Höhne und Schubert (2007) haben auf Basis der Rentenzugangsstatistik 2003 ermittelt, dass hinsichtlich des Erwerbsminderungsrisikos deutliche Unterschiede sowohl zwischen Migranten und autochtoner Bevölkerung als auch zwischen einzelnen Migrantengruppen bestehen. Generell weisen Mi­ granten eine deutlich höhere Erwerbsminderungsquote auf als deutsche Versicherte: Die Quote der Deutschen liegt bei 17,8 %, diejenige der Italie­ ner / -innen bei 23,7 % und die der Türken / -innen hingegen bei 39 %. Her­ vorzuheben ist, dass insbesondere türkische Frauen mit 48,1 % eine extrem hohe Erwerbsminderungsquote aufweisen. Dies kann mehrere Gründe ha­ ben: Aus der Versorgungsforschung ist bekannt, dass Migranten gegenüber der Mehrheitsbevölkerung ein erhöhtes Risiko der medizinischen Fehl- und Unterversorgung aufweisen. Dies geht u. a. auf eine andere Nutzung des Gesundheitssystems zurück (geringere Inanspruchnahme von Vorsorgeunter­



7. Migrationsbiografie – Bevölkerung mit Migrationshintergrund81

suchungen, Arztbesuchen, medizinischen Rehabilitationsmaßnahmen). Mög­ liche Gründe hierfür sind Kommunikationsprobleme und Informationsdefi­ zite, aber auch ein anderes kulturgebundenes Gesundheits- bzw. Krankheits­ verständnis. Insgesamt weisen Ausländer / innen somit ein mehr als dreimal so hohes Altersarmutsrisiko auf als Deutsche: 4 von 10 Ausländerinnen sind im Alter von relativer Einkommensarmut betroffen. Auffallend ist einmal mehr, dass Personen mit türkischer Staatsangehörigkeit von allen Staatsangehörigkeiten die mit großem Abstand höchste Altersarmutsgefährdung aufweisen: im Jahr 2012 war mehr als die Hälfte der türkischen Bevölkerung im Alter von 65 und mehr Jahren einkommensarm. Tabelle 23 Armutsgefährdungsquoten ab 65  Jahre (2012) Männer

Frauen

Insgesamt

Insgesamt

11,3 %

15,5 %

13,6 %

Deutsche

  9,8 %

14,5 %

12,5 %

Ausländer

37,3 %

37,3 %

40,0 %

– Anwerbeländer

39,5 %

39,5 %

41,8 %

– Türkei

53,9 %

53,9 %

54,7 %

– Ehem. Jugoslawien

32,7 %

32,7 %

37,0 %

– Italien

27,8 %

31,3 %

29,0 %

Quelle: Höhne et al. 2014: 17; Datenbasis: Mikrozensus 2012.

III. Daten und Methoden 1. Fallauswahl und Fallgewinnung Das Untersuchungssample der vorliegenden Studie orientiert sich an der soziodemografischen Struktur der Grundgesamtheit der Grundsicherungsbe­ zieher / -innen mit 65 und mehr Jahren (vgl. Kap. I.2.). Eine zentrale, vorab vorgenommene Einschränkung ist allerdings das Alter der Befragten: Da die Studie nicht zuletzt auch darauf abzielt, aus den Biografiemustern der heu­ tigen Grundsicherungsbezieher / -innen Rückschlüsse auf Risiko- und Ver­ laufsmuster zukünftiger Zugangskohorten zu ziehen, erschien es sinnvoll, sich auf die zum Zeitpunkt des Projektbeginns letzten 10 Zugangsjahrgänge der Grundsicherung im Alter zu beschränken, also auf die Personen, die in den Jahren 2003 bis 2012 das 65. Lebensjahr und damit auch das Zugangs­ alter der Grundsicherung im Alter erreicht haben.12 Dies sind Personen der Geburtsjahrgänge 1938–1947, die zum Zeitpunkt des Projektbeginns größ­ tenteils zwischen 65 und 75  Jahre alt gewesen sind. Für die Akquise von geeigneten Interviewpartner / -innen, die mit einem erheblichen Zeitaufwand verbunden gewesen ist, mussten verschiedene Wege beschritten werden. Hierzu sind einerseits Kontakte zu verschiedenen kom­ munalen Einrichtungen der Seniorenberatung und anderen potenziellen Mul­ tiplikatoren und Multiplikatorinnen aufgebaut worden (u. a. AWO, Caritas, Diakonie, aber auch einzelne Kirchengemeinden bzw. Tafeln / Armenküchen), die um Unterstützung bei der Vermittlung von Interviewkandidaten / -innen gebeten wurden. Neben der Ansprache von Multiplikatoren sind auch eigene Flugblätter und Aushänge erstellt worden; diese sind nach Absprache mit den zuständigen Behörden im Umfeld der Sozialämter in Essen und Düsseldorf ausgelegt bzw. ausgehangen worden. Über die persönliche Ansprache poten­ zieller Interviewkandidaten im Umfeld von Tafeln und Armenküchen konn­ ten einige zusätzliche Fälle gewonnen werden. Es hat sich gezeigt, dass über die verschiedenen Wege der Akquise von Interviewpartner / -innen verschie­ dene Teilgruppen stärker angesprochen werden konnten: Während über 12  Aufgrund der stufenweisen Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters, die wirkungsgleich auf die Grundsicherung im Alter übertragen worden ist, gilt das Regelalter von 65 Jahren nur bis einschließlich Jahrgang 1946; für den Jahrgang 1947 gilt die Grenze von 65 Jahren und einem Monat, für den Jahrgang 1948 sind es 65 Jahre und zwei Monate etc.



1. Fallauswahl und Fallgewinnung83

Wohlfahrtsverbände und Senioreneinrichtungen insbesondere westdeutsche Frauen angesprochen werden konnten, die Leistungen der Sozialberatung in Anspruch nehmen, konnten über die Aushänge in den Sozialämtern insbeson­ dere auch männliche Interviewteilnehmer gewonnen werden, die in der Regel eher selten Kontakt zu Senioreneinrichtungen haben. Als unerwartet zeitaufwändig erwies sich die Gewinnung von Interview­ partner / -innen in den ostdeutschen Bundesländern. Dies liegt zum einen sicherlich an den geringen Fallzahlen in den neuen Ländern; zum anderen scheint Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter gemäß der Einschätzung verschiedener kontaktierter Verbände (Caritas, Diakonie, AWO, Volkssolida­ rität) in den neuen Ländern stärker als in den alten Bundesländern ein ge­ wissermaßen „verdrängtes“ Thema zu sein. Die Betroffenen, so drückte es ein Vertreter eines Wohlfahrtsverbandes im Gespräch aus, „machen im Allgemeinen wenig Aufhebens um ihre Situation“; dementsprechend ist auch die Interviewbereitschaft der Betroffenen vergleichsweise gering aus­ geprägt. Zeitaufwändig war insbesondere auch die Gewinnung von Inter­ viewpartner / -innen mit ausländischer Staatsangehörigkeit; hier zeigten sich einerseits deutliche Sprachbarrieren, insbesondere bei Personen mit türki­ scher Herkunft, und teilweise auch eine eingeschränkte Teilnahmebereit­ schaft. Auch hier mussten daher verschiedene Wege zur Fallgewinnung gegangen werden, zumal die Betroffenen oftmals keinen Kontakt zu kom­ munalen Senioreneinrichtungen haben. Insgesamt sind im Rahmen der empirischen Untersuchung 49 Fälle unter­ sucht worden.13 In zwei der 49 Fälle handelte es sich um ein Ehepaar, welches in einer Bedarfsgemeinschaft lebt (d.  h. beide Ehepartner sind grundsicherungsberechtigt); hier wurden beide Ehepartner zunächst gemein­ sam und anschließend separat befragt. Diese beiden Ehepaare, die seit über vier Jahrzehnten verheiratet gewesen sind, wurden angesichts ihrer untrenn­ bar miteinander verknüpften Biografien jeweils als ein Fall behandelt. Im Falle eines weiteren Ehepaars hingegen, bei dem die Ehepartner erst spät (d. h. mit Mitte 50) geheiratet haben und bei denen der deutlich größere Teil der individuellen Biografien nicht miteinander verknüpft gewesen ist, wurden die Befragten als zwei separate Fälle behandelt. Insgesamt besteht das Untersuchungssample somit aus 49 Fällen mit 51 befragten Einzelper­ sonen. Alle befragten Personen im Untersuchungssample waren zum Zeit­ 13  Zur Vertiefung sind darüber hinaus vier ergänzende Interviews mit westdeut­ schen Seniorinnen der Jahrgänge 1938–1947 geführt worden, deren persönliches Alterseinkommen für sich allein genommen nicht existenzsichernd ist, die jedoch über den Haushaltskontext (Einkommen des Ehepartners) abgesichert sind. In diesen Fällen liegt keine Grundsicherungsbedürftigkeit, sondern eine finanzielle Abhängigkeit vor [vgl. hierzu Kap. V.2.d)].

84

III. Daten und Methoden Tabelle 24 Verteilung der Fälle nach Geschlecht, Nationalität und Region Männer

Frauen

Insgesamt

Deutsche (West)

13

22

35

Ausländer (West)

 4

 4

 8

Deutsche (Ost)

 2

 4

 6

Ausländer (Ost)

 0

 0

 0

Insgesamt

19

30

49

Quelle: Eigene Darstellung.

punkt des Interviews 65  Jahre alt und älter. In 43 von 49 Fällen sind die Befragten zwischen 1938 und 1947 geboren. In drei Fällen waren die be­ fragten Personen geringfügig älter (2× Jahrgang 1937, 1× Jahrgang 1936); in zwei weiteren Fällen, in denen jeweils ein Ehepaar befragt wurde, war jeweils einer der beiden Ehepartner 1937 geboren. In zwei Fällen waren die Befragten etwas jünger (1× Jahrgang 1948, 1× Jahrgang 1949). Insgesamt lag das Durchschnittsalter der befragten Personen zum Zeitpunkt des Inter­ views bei 70,4 Jahren. Sieht man von der bewusst vorgenommen Altersbeschränkung ab, orien­ tiert sich die Auswahl der Interviewpartner / -innen weitgehend an der sozio­ demografischen Struktur der Grundsicherungspopulation des Jahres 2012, soweit diese bekannt ist. Angesichts der beschränkten Fallzahl wurden in diesem Zusammenhang drei Kriterien herangezogen: Geschlecht, Nationali­ tät und Wohnort / Region (alte Bundesländer / neue Bundesländer). Hinsicht­ lich des Kriteriums „Geschlecht“ ergibt sich im Untersuchungssample eine Aufteilung in 19 Männer und 30 Frauen (die beiden Ehepaare im Sample wurden hierbei der Kategorie „männlich“ zugeordnet). Diese Relation ent­ spricht relativ genau der geschlechtsspezifischen Verteilung in der Grundsi­ cherungspopulation. Im Hinblick auf das Kriterium „Wohnort / Region“ spiegelt die Verteilung der Fälle im Untersuchungssample die bislang relativ geringe Betroffenheit in den neuen Bundesländern wieder: 43 Befragte kommen aus den alten Bundesländern, 6 Befragte aus den neuen Bundesländern (ohne Berlin). Die Interviews in den alten Bundesländern sind größtenteils in NordrheinWestfalen als bevölkerungsreichstem Bundesland durchgeführt worden; ein gutes Viertel der Grundgesamtheit der heutigen Grundsicherungsempfän­ ger / -innen hat hier seinen Wohnsitz. Fünf weitere Interviewpartner / -innen



2. Interviewführung

85

stammen aus Hessen (Raum Frankfurt / Offenbach). Die Befragten aus den neuen Bundesländern stammen aus Thüringen (4 Fälle), Sachsen-Anhalt (1 Fall) und aus Brandenburg (1 Fall). Die Befragten wohnen in der großen Mehrheit in oder im Umland von Großstädten. Ausländer / -innen sind im Untersuchungssample leicht unterrepräsentiert: In insgesamt 8 der 49 Fälle haben die befragten Personen eine ausländische Staatsangehörigkeit, wobei es sich in einem Fall um ein ausländisches Ehe­ paar handelt, so dass insgesamt 9 Personen mit ausländischer Staatsangehö­ rigkeit befragt worden sind. Die ausländischen Befragten im Sample wohnen alle in den alten Bundesländern und stammen überwiegend bzw. nahezu ausschließlich aus Nicht-EU-Staaten; beides entspricht im Wesentlichen der diesbezüglichen Verteilungsrelationen in der Grundsicherungspopulation. Folgende Staatsangehörigkeiten sind im Sample vertreten: Türkei (3 Fälle), Ukraine (2 Fälle), Russland (1 Fall), Serbien (1 Fall), Ungarn (1 Fall). In zwei weiteren Fällen hat eine Einbürgerung stattgefunden: Ein Befragter hatte ursprünglich die tunesische Staatsangehörigkeit; bei einem befragten Ehepaar hatten beide Ehepartner ursprünglich die ukrainische Staatsangehö­ rigkeit. Weitere Personen im Sample weisen einen eigenen Zuwanderungs­ hintergrund auf, haben jedoch die deutsche Staatsangehörigkeit; hierbei handelt es sich um anerkannte (Spät-)Aussiedler / -innen, die im Rahmen der Zuwanderung gleichsam „automatisch“ die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten haben. Somit ist in insgesamt 14 von 49 Fällen im Sample ein Migrationshintergrund bzw. eine eigene Zuwanderungserfahrung gegeben. Alles in allem dürfte die Struktur des Untersuchungssamples, für das natürlich – dem Charakter einer qualitativen Studie gemäß – keine Reprä­ sentativität im statistischen Sinne in Anspruch genommen werden kann, die soziodemografische Struktur der heutigen Grundsicherungspopulation im Alter zwischen 65 und 75  Jahren einigermaßen realistisch abbilden. 2. Interviewführung Die Interviews wurden zwischen Frühjahr 2013 und Frühjahr 2014 ge­ führt. Je nach Möglichkeit wurden die Interviews entweder in den Räum­ lichkeiten der betreffenden Einrichtung, die den Kontakt hergestellt hat (Seniorenzentrum der AWO, Diakonie, Caritas etc.), in den eigenen Räum­ lichkeiten der Universität Duisburg-Essen oder in der Privatwohnung der befragten Personen durchgeführt. Hinsichtlich der zeitlichen Dauer der In­ terviews war ein Orientierungswert von 90 Minuten vorgegeben. Dieser Richtwert wurde allerdings in vielen Fällen um 15 bis 30 Minuten über­ schritten; in Ausnahmefällen dauerte ein Interview auch länger als 2 Stun­ den. Die Dauer der Interviews hing unter anderem von der Komplexität der

86

III. Daten und Methoden

individuellen Biografie und von der Auskunfts- und der Erzählbereitschaft der befragten Personen (sowie ihrem individuellen Sprechtempo) ab. Bis auf wenige Ausnahmen wurden die Interviews auf Deutsch geführt; bei den türkischen Interviewpartner / -innen und bei einer russischstämmigen Befrag­ ten musste aufgrund ihrer eingeschränkten Deutschkenntnisse ein Dolmet­ scher bzw. eine Dolmetscherin hinzugezogen werden. Aufbau und Durchführung der Interviews orientieren sich an der Methode des „problemzentrierten Interviews“ (Witzel 1985, 2000), wobei im Hin­ blick auf das spezifische Erkenntnisinteresse und die „Zielgruppe“ der vorliegenden Studie einige Modifikationen vorgenommen wurden. Das problemzentrierte Interview (PZI) orientiert sich weitestgehend am theorie­ generierenden Verfahren der „Grounded Theory“ (Glaser / Strauss 1998) und ist sowohl in der Erhebungs- als auch in der Auswertungsphase explizit als „induktiv-deduktives Wechselspiel“ (Witzel 2000, o. S.) angelegt; es ist im vorliegenden Projektzusammenhang als Interviewmethode besonders geeig­ net, da es ermöglicht, die individuellen Lebensverläufe auf eine Art und Weise zu rekonstruieren, dass sowohl das theoretische Vorwissen des For­ schers bzw. der Forscherin als auch die subjektiven Sichtweisen und Deu­ tungsmuster der Befragten im Interview und in der Interpretation einen angemessenen Raum erhalten. Beim problemzentrierten Interview handelt es sich um eine offene, halb­ strukturierte Befragung, die einerseits ähnlich wie beim narrativen Interview die Befragten möglichst frei zu Wort kommen lassen soll, andererseits aber auf die gegebene Problemstellung hin fokussiert ist und daher mit einem Leitfaden arbeitet, der alle wesentlichen Aspekte der Problemstellung ent­ hält, die zuvor bei der theoriegeleiteten Analyse ausgearbeitet wurden. Der Leitfaden hat in diesem Zusammenhang allerdings „nicht die Aufgabe, ein Skelett für einen strukturierten Fragebogen abzugeben“, sondern dient in erster Linie „der Unterstützung und Ausdifferenzierung von Erzählsequen­ zen des Interviewten“ (Witzel 1985: 236–237). Im Mittelpunkt des Inter­ views soll der Gesprächsfaden der befragten Person stehen, während der Leitfaden diesen „lediglich als eine Art Hintergrundfolie begleitet“ (ebd.). Das PZI ist also der Absicht nach weniger als klassisches Frage-AntwortSchema, sondern vielmehr als diskursiv-dialogisches Verfahren gedacht, das einem offenen Gespräch relativ nahe kommen soll. Im Zuge der Gesprächs­ führung soll den Befragten durch Anregung von Narrationen und Erzählse­ quenzen ermöglicht werden, ihre subjektive Perspektive darzustellen bzw. zu entwickeln; zugleich soll der Interviewer sein bestehendes Vorwissen – im Sinne von sensiblisierenden Konzepten – nutzen und dieses in Fragen formuliert in das Gespräch einführen. Die Gesprächsgestaltung erfolgt zum einen über induktiv-„erzählungsgenerierende“ Kommunikationsstrategien



2. Interviewführung87

(Gesprächseinstieg, allgemeine Sondierungen und Ad-hoc-Fragen), zum anderen über deduktiv-„verständnisgenerierende“ Strategien und spezifische Sondierungen (Zurückspiegelungen, Verständnisfragen und Konfrontationen) (Witzel 2000). Hier ist insofern ein nicht zu unterschätzendes Maß an situa­ tiver Flexibilität notwendig, da „der Forscher auf der einen Seite den vom Befragten selbst entwickelten Erzählstrang und dessen immanente Nachfra­ gemöglichkeiten verfolgen muss und andererseits gleichzeitig Entscheidun­ gen darüber zu treffen hat, an welchen Stellen des Interviewablaufs er zur Ausdifferenzierung der Thematik sein problemzentriertes Interesse in Form von exmanenten Fragen einbringen soll“ (Witzel 1985: 236 / 237). Für den vorliegenden Untersuchungszusammenhang wurden die Inter­ views in drei aufeinanderfolgende Teile gegliedert: − ein kurzer, standardisierter Teil, innerhalb dessen die relevanten soziode­ mografischen und Merkmale des Interviewpartners bzw. der Interview­ partnerin abgefragt werden, − der Kernteil, in dem eine detaillierte chronologische Rekonstruktion des Lebensverlaufs vorgenommen wird, sowie − eine abschließende Reflexionsphase, in deren Mittelpunkt die Deutungsund Bewertungsmuster der Betroffenen stehen. Die Befragten wurden im Rahmen der ersten Interviewphase gebeten, ihren aktuellen Grundsicherungsbescheid sowie ihren aktuellsten Rentenbe­ scheid vorzulegen. Auf diese Weise konnten in der ersten Interviewphase alle relevanten Informationen hinsichtlich der Höhe der Netto- und Brutto­ bedarfe, der Kosten der Unterkunft, sonstiger zusätzlicher Bedarfe, der Höhe der GRV-Altersrente bzw. gegebenenfalls der Hinterbliebenenrente sowie weiterer Einkünfte aufgenommen werden. Bis auf zwei Fälle, in de­ nen die Befragten die Dokumente verlegt bzw. an eine Betreuerin abgegeben hatten, haben alle Befragten ihre Unterlagen präsentiert. Detaillierte Versi­ cherungsverläufe, wie sie sich aus dem ersten Rentenbescheid ergeben, konnten hingegen innerhalb des gegebenen zeitlichen und organisatorischen Rahmens in der Regel nicht aufgenommen werden. Weitere Fragen in der ersten Interviewphase beziehen sich unter anderem auf den Familienstand, die Kinderzahl und weitere Merkmale der Betroffenen. Aus der ersten Ge­ sprächsphase heraus, in deren Mittelpunkt die aktuelle Situation der Betrof­ fenen steht, entstand zumeist bereits eine Vielzahl von „Merkposten“ für den späteren Interviewverlauf. Zudem ging es in dieser ersten Gesprächs­ phase immer auch darum, eine vertrauensvolle Atmosphäre zwischen Inter­ viewer und interviewter Person herzustellen. Im Mittelpunkt der zweiten, offen-narrativen Interviewphase stand die Rekonstruktion der für die spätere Absicherung im Alter relevanten Ereig­

88

III. Daten und Methoden

nisse und Entscheidungen in den verschiedenen Phasen der Biografie der befragten Person. Die chronologische Rekonstruktion des Lebensverlaufs folgte im Wesentlichen den „typischen“ Phasen und Statuspassagen indivi­ dueller Lebensverläufe, beginnend mit dem Elternhaus und der frühen Kindheit über die Schulzeit, die Berufswahl, den Berufseinstieg etc. bis hin zum Übergang in die Ruhestandsphase, wobei die spezifische „Eigenlogik“ der individuellen Lebensverläufe zu beachten gewesen ist. Der Interview­ leitfaden, der den Hintergrund des Gesprächs bildet, basiert auf den vorab aus der Analyse der bestehenden Forschungsliteratur ermittelten zentralen biografischen Risikodimensionen (Erwerbsbiografie, Familienbiografie, Ge­ sundheitsbiografie, Bildungsbiografie, Vorsorge- und gegebenenfalls Migra­ tionsbiografie, vgl. Kap.  II.). Die verschiedenen Biografiedimensionen wurden bereits während des chronologischen Durchgangs angesprochen und nach dem chronologischen Durchgang gegebenenfalls noch einmal ausführ­ licher besprochen; von besonderer Bedeutung war dabei die Thematisierung möglicher Wechselwirkungen zwischen den Veränderungen und Ereignissen auf den verschiedenen Dimensionen des Lebensverlaufes. Einzelne Ent­ scheidungssituationen an spezifischen biografischen „Knotenpunkten“, an denen biografisch bedeutsame Weichenstellungen vorgenommen worden sind, wurden im Hinblick auf die Entscheidungsmotive, die Einflussfaktoren und die von den befragten seinerzeit wahrgenommenen Handlungsoptionen detailliert rekonstruiert. Da die meisten Befragten im Laufe ihres Lebens mindestens einmal verheiratet gewesen sind, wurden dort, wo es möglich war und relevant erschien, auch die zentralen Biografiedaten des (Ehe-) Partners abgefragt. Ein grundsätzliches Problem bei der retrospektiven Erhebung von Daten sind Erinnerungsfehler und Erinnerungslücken der Befragten; diese lassen sich niemals gänzlich ausschließen. Die Vielzahl an zu erinnernden Lebens­ phasen und Aspekten des Lebensverlaufes stellt hohe Anforderungen an die Gedächtnisleistung der Befragten, da die relevanten Ereignisse und Ent­ scheidungssituationen zum Teil mehrere Jahrzehnte zurückliegen. Hinzu kommt, dass es sich bei den Befragten um ältere Personen handelt, die zumindest in Einzelfällen kognitiv bereits ein wenig eingeschränkt gewesen sind bzw. während des Interviews leichte Konzentrationsprobleme hatten. Einzelne Interviewpartner / -innen hatten beispielsweise Schwierigkeiten, verschiedene Sozialleistungen terminologisch auseinanderzuhalten, die sie (oder der verstorbene Ehepartner) im Laufe ihres Lebens bezogen haben. Dies bezieht sich insbesondere auf die Unterscheidung zwischen Arbeitslo­ sengeld, Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe (Hilfe zum Lebensunterhalt) oder die Abgrenzung zwischen Sozialhilfe und Wohngeld. Oft wurde zunächst pauschal von „der Stadt“ oder „dem Amt“ gesprochen; andere benutzten Ausdrücke wie „die Aufstockung“, „der Mietzuschuss“ oder ähnliche Um­



2. Interviewführung89

schreibungen. Generell musste die Grundform des problemzentrierten Inter­ views nach Witzel daher auf die spezifischen Eigenschaften der Befragten angepasst werden; insbesondere musste hier in Einzelfällen stärker, als es in der Basisform des problemzentrierten Interviews vorgesehen ist, mit konti­ nuierlichen Nachfragen und Verständnisfragen gearbeitet werden. Nichtsdes­ totrotz konnte nicht jedes biografische Detail im Rahmen eines 90-minütigen Interviews zweifelsfrei geklärt werden. Eine weitere Besonderheit liegt sicherlich darin, dass im Rahmen der Interviews sehr persönliche und zum Teil höchst sensible Sachverhalte be­ handelt wurden (u. a. Krankheit, Scheidung, finanzielle und persönliche Probleme etc.); so sind einzelne Interviewteilnehmerinnen während des In­ terviews beim Durchleben trauriger oder traumatischer Erinnerungen (insbe­ sondere dem Tod des Ehepartners) in Tränen ausgebrochen oder mussten zumindest hart um ihre Fassung ringen. Insofern ist im Rahmen der Inter­ views ein betont wertschätzendes Zuhören und ein im Einzelfall sehr behut­ sames Vorgehen im Umgang mit den befragten Personen wichtig gewesen. Den dritten Teil des Interviews bildet eine abschließende Reflexionspha­ se. Ein solcher Teil ist im Rahmen des PZI zwar nicht ausdrücklich vorge­ sehen, hat sich für die vorliegende Studie jedoch als äußerst sinnvoll erwie­ sen. Die Befragten wurden gebeten, gewissermaßen ein Gesamtfazit ihrer Biografie zu ziehen und die aus ihrer Sicht wichtigsten Knotenpunkte und Ereignisse zusammenzufassen, die für ihre heutige Grundsicherungsbedürf­ tigkeit maßgeblich sind. Hierbei ging es zum einen um die Frage, ob sie im Nachhinein an bestimmten Stellen ihrer Biografie gerne anders gehandelt oder entschieden hätten, d. h. inwiefern sie eigene Fehler sehen, und zum anderen um die Frage, ob und inwiefern die Befragten die Verantwortung für ihren individuellen Lebensverlauf auch bei anderen Personen (beispiels­ weise der Familie oder dem Ehepartner), Organisationen (z. B. früheren Arbeitgebern) oder staatlichen Institutionen sehen. Abschließend wurden die Interviewpartner / -innen zu ihrer aktuellen Lage und den näheren Zukunfts­ perspektiven befragt; hierbei ging es insbesondere um die Wünsche, Ängste und Hoffnungen der Befragten in Bezug auf ihre verbleibenden Lebensjah­ re. Die Interviews wurden aufgezeichnet und vollständig transkribiert. Un­ mittelbar nach jedem Gespräch wurden ergänzende Postskripte erstellt, die gegebenenfalls zusätzliche Informationen der Befragten, die außerhalb des aufgezeichneten Interviews geäußert wurden, sowie persönliche Eindrücke und erste Interpretationsideen des Interviewers enthielten.

90

III. Daten und Methoden

3. Auswertung Das zentrale Erkenntnisinteresse des empirischen Teils der vorliegenden Studie richtet sich auf die detaillierte Analyse der individuellen biografi­ schen Determinanten der Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter. Ein we­ sentliches Ziel der Studie ist, die empirische Bandbreite der verschiedenen „Lebenswege in die Altersarmut“ zu erfassen und zugleich einer stärkeren Systematisierung zuzuführen. Diese Systematisierung erfolgt zum einen im Hinblick auf die verschiedenen biografischen Risikodimensionen, ihre rela­ tive Relevanz und ihre möglichen Wechselwirkungen untereinander; zum anderen zielt die Analyse darauf ab, verallgemeinerbare und insofern „typi­ sche“ Biografiemuster zu identifizieren, die sich zu verschiedenen Biografie­ typen bzw. Risikogruppen verdichten lassen. Die Auswertung der Interviews richtete sich zunächst auf das Verständnis der Einzelfälle. Als erster Auswertungsschritt wurde auf der Grundlage der Interviewtranskriptionen zunächst für jeden Interviewpartner bzw. jede In­ terviewpartnerin ein individueller Steckbrief erstellt, der neben den relevan­ ten soziodemografischen Merkmalen der befragten Person (Geburtsjahr, Geschlecht, Staatsangehörigkeit, Familienstand, Kinderzahl etc.) und ihren regelmäßigen Einkünften und Bedarfen, wie sie im Grundsicherungsbe­ scheid aufgeführt sind, auch eine Kurzbiografie enthält, die einen chronolo­ gischen Überblick über die wichtigsten Daten im Lebensverlauf der befrag­ ten Person gibt. In einem zweiten Schritt wurde für jeden einzelnen Fall ein individuelles Risikoprofil erstellt, indem zunächst jede Teildimension des individuellen Lebensverlaufs (Erwerbsbiografie, Familienbiografie, Gesundheitsbiografie etc.) einzeln daraufhin untersucht worden ist, ob und inwiefern sie Risikound Belastungsfaktoren enthält, die für die heutige soziale Lage der befrag­ ten Person von kausaler Bedeutung gewesen sein könnten. Anschließend wurden die Fälle im Hinblick auf zeitliche bzw. kausale Zusammenhänge zwischen den verschiedenen ermittelten Risiko- und Belastungsfaktoren untersucht; im Rahmen einer interpretativ-rekonstruierenden Auswertung wurde dabei herausgearbeitet, welche Faktoren und Ereignisse (bzw. in der Regel: welche Kombination von Faktoren und Ereignissen) im Ergebnis zur Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter geführt bzw. maßgeblich dazu beige­ tragen haben. Aufbauend auf der Analyse der Einzelfälle ging es anschließend darum, fallübergreifende Strukturen und verallgemeinerbare Zusammenhänge zu ermitteln. Hierzu sind die verschiedenen Biografiedimensionen über alle 49 Fälle hinweg zunächst separat untersucht worden, bevor sie zu einem Ge­ samtrisikoprofil der Fälle zusammengeführt worden sind. Bereits auf dieser



3. Auswertung91

Ebene konnten einige übergreifende Charakteristika und Merkmale der un­ tersuchten „Grundsicherungsbiografien“ herausgearbeitet werden; die Er­ gebnisse der deskriptiven Analyse sind im 5. Kapitel dargestellt. Kern des empirischen Teils der Studie ist die Systematisierung der ver­ schiedenen Lebensverlaufsmuster mit Hilfe der Bildung von Biografietypen; aus sozialpolitischer Perspektive ist neben der Relevanz einzelner Risiken und Belastungsfaktoren immer auch die Frage nach den konkret betroffenen Gruppen und ihren spezifischen Charakteristika relevant. Der Prozess der Typenbildung der vorliegenden Studie orientiert sich am Modell der empirisch begründeten Typenbildung nach Kelle und Kluge (Kluge 2000, Kel­ le / Kluge 2010). Die Konstruktion empirisch begründeter Typologien nach Kelle und Kluge folgt einem Stufenmodell, das aus vier Schritten besteht, innerhalb derer – je nach Forschungsfrage und Art und Qualität des Daten­ materials – verschiedene Auswertungsmethoden und -techniken zum Einsatz kommen können: − Stufe 1: Erarbeitung relevanter Vergleichsdimensionen, − Stufe 2: Gruppierung der Fälle und Analyse empirischer Regelmäßigkei­ ten, − Stufe 3: Analyse inhaltlicher Sinnzusammenhänge und Typenbildung, − Stufe 4: Charakterisierung der gebildeten Typen. Der erste Schritt in diesem Stufenmodell, die Herausarbeitung relevanter Vergleichsdimensionen, lässt sich prinzipiell auf zwei Wegen realisieren: Entweder durch die sukzessive Entwicklung der Kategorien während der Datenanalyse oder unter Heranziehung a priori festgelegter, theoretisch abgeleiteter Kategorien. Letztere Herangehensweise ist im Rahmen der vor­ liegenden Arbeit maßgeblich gewesen: Die im Rahmen der Sekundäranaly­ se der bestehenden Forschungsliteratur herausgearbeiteten zentralen biogra­ fischen Risikofaktoren und Risikodimensionen (vgl. Kap. II.), auf deren Grundlage der Interviewleitfaden erarbeitet worden ist, sowie ihre jeweils fallspezifischen Verknüpfungen und Interdependenzen bilden auch die Grundlage des Analyserasters der theoriegeleiteten Auswertung der Untersu­ chungsfälle. Nichtsdestotrotz wurde darauf geachtet, den Auswertungspro­ zess so offen zu halten, dass mögliche zusätzliche Biografieelemente und Risikofaktoren, die sich aus der Auswertung der Interviews ergeben, gege­ benenfalls in das theoretische Modell integriert werden können. Der zweite Schritt besteht in der Gruppierung der Fälle anhand der definierten Vergleichsdimensionen und der Analyse der zunächst gewissermaßen „provisorisch“ gebildeten Gruppen im Hinblick auf empirische Regelmäßig­ keiten. Dabei sollen die Einzelfälle so gruppiert werden, dass sie innerhalb eines Clusters möglichst ähnlich, von anderen Clustern jedoch möglichst ver­

92

III. Daten und Methoden

schieden sind. Dies impliziert einen doppelten Vergleich: Zum einen müssen die Fälle, die aufgrund einer gemeinsamen Merkmalskombination einer be­ stimmten Gruppe zugeordnet werden, untereinander verglichen werden, um die interne Homogenität der gebildeten Gruppen zu überprüfen; zum anderen müssen die verschiedenen Gruppen miteinander verglichen werden, um zu überprüfen, ob sie eine ausreichend hohe externe Heterogenität aufweisen und sich somit klar genug voneinander abgrenzen lassen. Im vorliegenden Zusammenhang erfolgten die Gruppenbildung, die Ana­ lyse der Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den verschiedenen Ein­ zelfällen sowie die kontrastierenden Analysen zwischen den verschiedenen Gruppen im Wesentlichen auf der Grundlage der ermittelten individuellen Risikoprofile; die Vergleiche bezogen sich unter anderem auf das Vorhan­ densein und die Länge bestimmter Biografieepisoden (z. B. familienbeding­ te Erwerbsunterbrechungen, Phasen der Selbstständigkeit, Arbeitslosigkeit etc.) und die Relevanz bestimmter Risikofaktoren (z. B. niedriger Bildungs­ stand, chronische Krankheit, eigener Zuwanderungshintergrund etc.). Als Produkt dieses Gruppierungsprozesses sind im Untersuchungssample insge­ samt fünf verschiedene Biografietypen bzw. Risikogruppen identifiziert worden,14 die sich durch eine jeweils charakteristische Anordnung verschie­ dener Merkmalsausprägungen und Eigenschaften auszeichnen, wobei inner­ halb einer größeren Teilgruppe nochmals verschiedene, klar voneinander abgrenzbare Untergruppen unterschieden wurden (vgl. Kap. V.). Ein dritter Schritt innerhalb der empirisch begründeten Typenbildung ist die Analyse der inhaltlichen Sinnzusammenhänge, die den empirisch vorge­ fundenen Gruppen bzw. Merkmalskombinationen zugrunde liegen, da ein Ty­ pus sich nicht nur durch nachweisbare empirische Regelmäßigkeiten (Kausal­ adäquanz), sondern darüber hinaus auch durch starke inhaltliche Sinnzusam­ menhänge (Sinnadäquanz) auszeichnet (Kluge 2000, o. S.). Hierbei geht es nicht zuletzt um das Verstehen und Erklären der Bedingungen und Ursachen, die zum Zusammentreffen bestimmter Merkmale geführt oder dieses zumin­ dest entscheidend begünstigt haben. Im Kontext der vorliegenden Studie wurde daher für jede einzelne identifizierte Risikogruppe eine Rekonstruk­ tion der für diese Teilgruppe bzw. diesen Biografietyp maßgeblichen histori­ schen und rechtlichen Rahmenbedingungen vorgenommen; hierbei konnte für jede Gruppe eine gruppenspezifische, strukturelle Risikokonstellation identifiziert werden, die die Biografien praktisch aller Fälle innerhalb der jeweiligen Gruppe auf die eine oder andere Weise beeinflusst hat. 14  Mit dem Begriff „Typus“ werden nach Kluge „die gebildeten Teil- oder Unter­ gruppen bezeichnet, die gemeinsame Eigenschaften aufweisen und anhand der spe­ zifischen Konstellation dieser Eigenschaften beschrieben und charakterisiert werden können“ (Kluge 2000, o. S.).



3. Auswertung93

Der vierte und letzte Schritt der empirischen Typenbildung besteht in der Charakterisierung der gebildeten Typen. Für jede Gruppe sind charakteris­ tische und in diesem Sinne „typische“ Biografiemuster und biografische Risikokonstellationen herausgearbeitet worden; diese werden in Kapitel 6 anhand repräsentativer Fälle illustriert. Selbstverständlich handelt es sich hierbei immer um Verallgemeinerungen, da die Fälle innerhalb eines Typus bzw. innerhalb einer Gruppe zwar wichtige Ähnlichkeiten und Gemeinsam­ keiten aufweisen, jedoch niemals vollkommen gleich sind; es kann insofern immer nur um die „Beschreibung einer Grundtendenz einer Gruppe“ (Steg­ mann 2009b: 67) gehen. Die verschiedenen Typen bzw. Risikogruppen wurden zu guter Letzt mit Bezeichnungen versehen, die jeweils das zentra­ le Charakteristikum der Gruppe umreißen. Die empirischen Ergebnisse der im Rahmen der vorliegenden qualitativen Studie durchgeführten Interviews werden in den folgenden zwei Kapiteln ausführlich dargestellt.

IV. Empirische Ergebnisse (I): Risiken und Risikodimensionen 1. Eigenständige Alterseinkommen und anerkannte Bedarfe Im Mittelpunkt des folgenden Kapitels steht die Analyse der einzelnen biografischen Risiken und Risikodimensionen. Bevor die Lebensverläufe der insgesamt 49 Fälle des Samples ausführlich in den Blick genommen werden, soll jedoch zunächst die finanzielle Situation der Betroffenen näher betrachtet werden, d. h. erstens ihr eigenständiges anrechnungsfähiges Ein­ kommen, zweitens ihr Bruttobedarf, der sich aus dem Regelsatz, den Kosten der Unterkunft (KdU) sowie möglichen Zusatzbedarfen zusammensetzt, und drittens der Nettobedarf, also die Summe, um die der Grundsicherungsträger das individuelle monatliche Einkommen letztlich aufstocken muss. Letzterer Betrag ergibt sich aus der Differenz zwischen dem eigenen angerechneten Einkommen und dem anerkannten Bruttobedarf der befragten Person. Die Übersicht über die angerechneten eigenen regelmäßigen Einkünfte der Befragten zeigt die überragende Bedeutung der Leistungen der gesetz­ lichen Rentenversicherung (GRV) für die Gruppe der Grundsicherungsbe­ zieher / -innen. In 44 von 49 Fällen wird eine GRV-Altersrente bezogen. Bei vier der fünf Fälle, in denen die Befragten keine GRV-Rente bezogen haben, handelt es sich um Zuwanderer / -innen aus der ehemaligen Sowjetunion, die weder Versicherungszeiten nach dem Fremdrentengesetz (FRG) noch ren­ tenrechtliche Zeiten in Deutschland aufweisen. Nur in einem einzigen Fall (Frau B-18) handelt es sich um eine autochtone Deutsche; hier sind die wenigen Versicherungsjahre zu Beginn der Erwerbskarriere im Rahmen ei­ ner sogenannten „Heiratserstattung“ gelöscht worden [vgl. hierzu Kap. V.2.a) bb)].15 Die Betroffene bezieht allerdings eine Witwenrente der GRV. Die durchschnittliche Höhe der GRV-Altersrente, bezogen auf die Gesamtheit der 49 Fälle, beläuft sich auf 397 Euro / Monat (netto); bezogen auf die 44 Fälle mit Rentenbezug liegt die durchschnittliche Höhe des Rentenzahlbe­ trags bei knapp 442 Euro / Monat. In 9 von 49 Fällen (ausschließlich Frauen) wird eine Hinterbliebenenrente der GRV bezogen; diese kommt in 8 von 9 15  Die Namen der Interviewpartner/-innen sind durch ein Kürzel ersetzt worden, welches aus dem ersten Buchstaben des Nachnamens sowie einer zweistelligen Zahl besteht; letztere drückt die chronologische Reihenfolge der Interviews aus.



1. Eigenständige Alterseinkommen und anerkannte Bedarfe 

95

Fällen zu der eigenen GRV-Rente hinzu. Die durchschnittliche Höhe der Witwenrente beträgt bezogen auf die 9 Fälle mit Rentenbezug rund 323 Euro / Monat. Nur 6 von 49 Personen beziehen neben den eigenständigen und / oder abgeleiteten Leistungen der GRV weitere regelmäßige Einkünfte. Bei den sonstigen angerechneten Einkünften handelt es sich in drei Fällen um eine kleine ausländische Rente (Frau K-02 aus Russland, Herr G-05 aus Frank­ reich, Herr S-42 aus Ungarn); in zwei Fällen handelt es sich um Leistungen der Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes (Frau V-14, Frau B-39); in einem Fall wird eine geringfügige bzw. ehrenamtliche Beschäftigung ausge­ übt, deren Aufwandsentschädigung auf die Grundsicherung angerechnet wird (Herr S-35). In keinem einzigen Fall werden hingegen Renten aus privater Altersvorsorge (Lebensversicherung etc.) bezogen. Im Hinblick auf die sonstigen Einkünfte ist zu berücksichtigen, dass zumindest ein Teil der Befragten noch über (in der Regel sehr geringe) zusätzliche Einkünfte ver­ fügt, die dem Grundsicherungsträger allerdings nicht gemeldet worden sind. Hierbei handelt es sich beispielsweise um die Erträge aus Schwarzarbeit in geringfügigem Umfang (z. B. kleinere Näharbeiten oder sonstige haushalts­ nahe Dienstleistungen) oder um gelegentliche Zuwendungen von Kindern, Freunden und Bekannten, die auch die Form geldwerter Vorteile (Kleidung, Möbel, Haushaltsgeräte) annehmen können. Ein Teil der Befragten ist zu­ dem ehrenamtlich tätig (Seniorenbegegnungsstätte etc.) und kommt hier in den Genuss einer kleinen Pauschale oder sonstiger Vergünstigungen. Insge­ samt beläuft sich das eigenständige, angerechnete Alterseinkommen im Durchschnitt der 49 untersuchten Fälle auf rund 470 Euro / Monat. 12 von 49 Fällen (und damit rund ein Viertel der Fälle) weisen ein Einkommen von mehr als 600 Euro / Monat auf; in immerhin 4 von 49 Fällen liegt das ei­ genständige Alterseinkommen über 719 Euro / Monat und damit über der bundesdurchschnittlichen Grundsicherungsschwelle des Jahres 2012. Hinsichtlich des Bruttobedarfes der befragten Personen zeigt sich im Untersuchungssample zunächst einmal eine relativ breite Streuung, wie sie auch die Auswertung der Grundsicherungsstatistik für das Jahr 2012 erge­ ben hat [vgl. Kap. I.2.f)]. Sieht man einmal von den wenigen Fällen ab, in denen die befragten Personen in einem Zweipersonenhaushalt leben und dementsprechend niedrigere individuelle Bedarfe aufweisen, so liegt der niedrigste ermittelte Wert bei 588 Euro / Monat; hierbei handelt es sich um eine ostdeutsche Befragte mit extrem niedrigen Kosten der Unterkunft. Der höchste Wert liegt hingegen bei 1225 Euro / Monat und damit gut doppelt so hoch; hierbei handelt es sich um einen ehemaligen Selbstständigen, der privat krankenversichert ist und zudem relativ hohe Kosten der Unterkunft aufweist. Zwischen diesen beiden Extrembeispielen, die jeweils die äußers­ ten Pole der Verteilung bilden, zeigt sich ein breites Spektrum; der durch­

96

IV. Empirische Ergebnisse (I): Risiken und Risikodimensionen

schnittliche Bruttobedarf der 49 Fälle liegt bei 796 Euro. Dieser Wert ist im Vergleich zum bundesdurchschnittlichen Referenzwert des Jahres 2012 (719 Euro / Monat) relativ hoch. Hierfür dürften mehrere Faktoren relevant sein: − Erstens sind die Interviews in den Jahren 2013 und 2014 vorgenommen worden; der bundesdurchschnittliche individuelle Bruttobedarf dürfte zum Interviewzeitpunkt somit bereits etwas höher gelegen haben als der für das Jahr 2012 ermittelte Wert. So ist allein der Regelsatz zwischen 2012 und 2014 um 17 Euro (von 374 auf 392 Euro) gestiegen; wichtiger noch dürfte allerdings die Entwicklung der Wohn- und Heizkosten gewesen sein. − Zweitens ist ein gutes Drittel der Befragten zum Zeitpunkt des Interviews in Düsseldorf und damit in einer Stadt mit einem vergleichsweise hohen Mietpreisniveau wohnhaft gewesen. − Drittens wohnt ein (gegenüber der Grundgesamtheit wahrscheinlich leicht überproportionaler) Teil der Befragten in Seniorenwohnungen der AWO, Caritas oder Diakonie, die über zusätzlichen Service (z. B. einen Notruf­ knopf) verfügen und daher eine zusätzliche Servicepauschale erheben, so dass die durchschnittlichen Kosten der Unterkunft im Sample vergleichs­ weise hoch ausfallen. Wie bereits in Kap. I. 2. f) beschrieben, setzt sich der individuelle Brut­ tobedarf in vielen Fällen nicht nur aus dem Regelsatz und den Kosten der Unterkunft zusammen, sondern enthält darüber hinaus weitere individuelle Bedarfe; neben den spezifischen Besonderheiten der jeweiligen Kommune (Mietpreisniveau bzw. kommunal festgelegte Mietobergrenze) sind für die Höhe des individuellen Bruttobedarfs somit auch die spezifischen Besonder­ heiten des Einzelfalles maßgeblich. Bei den Befragten im Untersuchungs­ sample sind verschiedene zusätzliche Bedarfe gegeben gewesen, die den Bruttobedarf entsprechend erhöht haben: − Den tendenziell höchsten Bruttobedarf weisen ehemalige Selbstständige auf, die freiwillig bzw. privat krankenversichert sind. Hier werden durch den Sozialhilfeträger auch die Beitragszahlungen zur (privaten) Kranken­ kasse (halber „Basistarif“) übernommen, was den individuellen Grundsi­ cherungsbedarf in der Regel deutlich erhöht. − In vielen Fällen lagen die Kosten für Unterkunft und Heizung relativ hoch. In manchen Fällen bestand für die Wohnung ein Bestandsschutz, da sie bereits seit Jahrzehnten bewohnt wird; in anderen Fällen (Frau M-33, Frau S-37, Herr T-46) stand ein Umzug in eine preisgünstigere Wohnung zum Zeitpunkt des Interviews unmittelbar bevor bzw. wurde bereits vom So­ zialamt angemahnt. In vier Fällen (Frau B-18, Frau R-21, Frau E-40, Herr B-48) ist aus medizinischen Gründen (attestierte psychische Krankheit) ein



1. Eigenständige Alterseinkommen und anerkannte Bedarfe 97

Umzug in eine preisgünstigere Wohnung als unzumutbar erachtet und da­ her im Sinne einer Härtefallregelung eine vollständige Mietübernahme gewährt worden. Ein Mehrbedarf bei dezentraler Wasserversorgung in Höhe von knapp 9 Euro / Monat war in 5 Fällen gegeben. − In rund einem Fünftel der Fälle war ein Mehrbedarf wegen Gehbehinde­ rung (Schwerbehindertenausweis mit Merkzeichen „G“) gegeben, was den Bruttobedarf um 17 % des jeweils geltenden Regelsatzes (rund 65 Euro / Monat) erhöht hat; ein Mehraufwand wegen kostenaufwändiger Ernährung lag hingegen nur einem einzigen Fall (Herr S-30) vor. − In sehr vielen Fällen haben die Betroffenen eine Hausrats- und Haft­ pflichtversicherung abgeschlossen; meistens war diese eine notwendige, vom jeweiligen Vermieter geforderte Voraussetzung für den Mietvertrag. Die durchschnittlichen Kosten lagen in der Regel bei knapp 10 Euro / Mo­ nat. Einige westdeutsche Frauen ohne Zuwanderungshintergrund und mit eigenen Kindern haben zudem eine Sterbegeldversicherung abgeschlos­ sen; die Beiträge lagen bei durchschnittlich ca. 5 Euro / Monat. − In zwei Fällen (Frau M-10, Frau F-16) wurden durch den Sozialhilfeträ­ ger zudem noch Kosten für eine Putzhilfe übernommen; diese lagen bei 80 bis 90 Euro / Monat. − Ein Sonderfall ist schließlich Herr E-50, der an einem kommunalen Pro­ gramm zur „Stabilisierung der Lebenssituation während des Bezugs von Leistungen nach dem 3. und 4. Kapitel SGB XII“ teilnimmt und für die Dauer der Maßnahme vom Sozialhilfeträger monatlich 30 Euro unter der Bezeichnung „Leistungen zur Aktivierung“ erhält. Ebenso wie die Bruttobedarfe weisen auch die Nettobedarfe eine breite Streuung auf; der durchschnittliche Nettobedarf liegt bei 326 Euro / Monat. In 8 von 49 Fällen, und damit in knapp jedem sechsten Fall, lag der indi­ viduelle Nettobedarf unter hundert Euro; den Betroffenen fehlt somit nur ein kleiner Betrag, um die Grundsicherungsbedürftigkeit zu vermeiden. In den meisten dieser Fälle wäre der Bezug von Wohngeld möglicherweise eine Alternative zum Grundsicherungsbezug gewesen; hier hat in der Regel jedoch eine Günstigerprüfung stattgefunden, die zum Ergebnis gekommen ist, dass sich die Betroffenen in der Grundsicherung besser stellen als im Wohngeldbezug. Maßgeblich ist hierbei oftmals die Befreiung von Rund­ funkgebühren gewesen, die für Grundsicherungsbezieher, nicht jedoch für Wohngeldbezieher gilt; je nach Kommune können weitere nicht-monetäre Vergünstigungen oder Ermäßigungen bestehen, die nur für Bezieher von SGB II- oder SGB XII-Leistungen gelten. Die detaillierte Analyse der individuellen Einkommen und der individu­ ellen Brutto- und Nettobedarfe der Betroffenen verdeutlicht noch einmal die

98

IV. Empirische Ergebnisse (I): Risiken und Risikodimensionen Tabelle 25 Persönliche Merkmale, Einkünfte und Bedarfe (in Euro / Monat)

Nr.

Name

Geb.- Region Jahr

Nation

GRV Alter

 1

NettoBedarf

Bruttobedarf

Fr. R-01

1946

West

Deutsch

370





457

  827

 2

Fr. K-02

1947

West

Russisch





219

540

  759

 3

Fr. K-04

1947

West

Deutsch

670





n. B.

n.B .[**]

 4

Hr. G-05 1938

West

Deutsch

140



116

430

  670

 5

Fr. S-08

1944

West

Deutsch

400





380

  780

 6

Fr. M-09 1947

West

Deutsch

380





400

  780

 7

Fr. M-10 1944

West

Deutsch

555

124



337

1.016

 8

Fr. L-11

1944

West

Deutsch

815





 62

  877

 9

Hr. B-13 1946

West

Deutsch

326





446

  772

10

Fr. V-14

1946

West

Deutsch

405



121

300

  826

11

Fr. K-15

1937

West

Deutsch

506





182

  688

12

Fr. F-16

1946

West

Deutsch

300





n. B.

n. B.

13

Fr. B-18

1943

West

Deutsch



630



367

  997

14

Fr. T-19

1939

West

Deutsch

764





 49

  813

15

Fr. T-20

1943

West

Deutsch

373





190

  560   [**]

16

Fr. R-21

1943

West

Ukrainisch







800

  800

17

Fr. G-22

1937

West

Deutsch

633

  4



 91

  736

18

Fr. J-23

1941

West

Deutsch

162

342



262

  766

19

Fr. Z-24

1943

West

Deutsch

149

572



 66

  787

20

Hr. F-25

1946

West

Deutsch

370





337

  707

21

Hr. B-26 1940

West

Deutsch

380





374

  754

22

Hr. S-27

1946

West

Serbisch

550





 91

  560       [**]

23

Hr. N-28 1938

West

Deutsch

489





272

  761

24

Hr. D-29 1946

West

Deutsch

292





499

  791

25

Hr. S-30

West

Ukrainisch







715

  715

1939

GRV Sonstige Witwen Einkünfte



1. Eigenständige Alterseinkommen und anerkannte Bedarfe 99 Nr.

Name

Geb.- Region Jahr

Nation

GRV Alter

26

Fr. S-32

GRV Sonstige Witwen Einkünfte

NettoBedarf

Bruttobedarf

1946

West

Deutsch

379

153



340

  872

27

Fr. M-33 1945

West

Deutsch

340





477

  817

28

Fr. W-34 1946

West

Deutsch

547





287

  834

29

Hr. S-35

1945

West

Deutsch

155



150

536

  840

30

Hr. L-36 1936

West

Deutsch

633





350

  983

31

Fr. S-37

1942

West

Deutsch

 98

209



501

  808

32

Fr. G-38

1941

West

Deutsch

615





150

  765

33

Fr. B-39

1942

West

Deutsch

399



 48

238

  685

34

Fr. E-40

1943

West

Deutsch

200

472



434

1.106

35

Hr. C-41 1946

West

Deutsch

656





253

  909

36

Hr. S-42

1943

West

Ungarisch

404



 67

 91

  562     [**]

37

Hr. + Fr. 1937/ S / K-43 1946/

West

Deutsch [*] –/19





650

  650     [**]

38

Hr. + Fr. 1941/ 1937/ A-44

West

Türkisch

325/ 80





350

  550     [**]

39

Hr. G-45 1939

West

Deutsch

445





780

1.225

40

Hr. T-46

1948

West

Deutsch

426





488

  914

41

Fr. R-47

1938

Ost

Deutsch

486





102

  588

42

Hr. B-48 1949

Ost

Deutsch

759





 71

  821

43

Fr. M-49 1941

Ost

Deutsch

545





310

  854

44

Hr. E-50 1945

West

Deutsch [*]

472





378

  850

45

Fr. H-51

1944

West

Türkisch

162

405



261

  828

46

Fr. S-52

1947

West

Türkisch

674





186

  860

47

Fr. S-53

1947

Ost

Deutsch

582





198

  780

48

Fr. R-54

1946

Ost

Deutsch

642





 61

  703

49

Hr. F-55

1947

Ost

Deutsch

586





255

  841

[*] = eingebürgert; [**] = Bedarfsgemeinschaft (Bedarfe wurden addiert und durch die Anzahl der Personen im Haushalt geteilt). Quelle: Eigene Darstellung.

100

IV. Empirische Ergebnisse (I): Risiken und Risikodimensionen

Tatsache, dass die individuelle Angewiesenheit auf Leistungen der Grundsi­ cherung im Alter immer auf einer dauerhaften Lücke zwischen dem eigenen Einkommen und den eigenen Lebensbedarfen beruht, und dass die Größe dieser Lücke nicht nur durch die Höhe der eigenen Einkünfte, sondern auch durch die Höhe der (offiziell anerkannten) eigenen Bedarfe determiniert wird. Neben den verschiedenen biografischen Risiken, die für ein niedriges eigenständiges Alterseinkommen verantwortlich sein können, stellt die Höhe und Struktur des individuellen Lebensbedarfs somit ein eigenständiges Ri­ siko für Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter dar. Vereinfacht gesagt: Je höher der individuelle Gesamtlebensbedarf ist, desto höher ist das Risiko der Grundsicherungsbedürftigkeit. Da sich die individuellen Bedarfe auch in der Ruhestandsphase noch verändern können, kann es somit durchaus vorkommen, dass Personen, die bei Erreichen der gesetzlichen Regelaltersgrenze aufgrund knapp ausrei­ chender eigener Einkünfte zunächst (noch) nicht grundsicherungsbedürftig bzw. -berechtigt sind, im Zeitverlauf noch in die Grundsicherungsbedürftig­ keit rutschen. Neben der Tatsache, dass die Rentenanpassung langfristig hinter der Preisentwicklung zurückbleibt und die Schere sich im Zeitverlauf für die Betroffenen immer weiter öffnet, sind vor allem zwei Kostenfakto­ ren hervorzuheben, die für Betroffene mit einem erhöhten Risiko des „ver­ späteten“ Eintritts der Grundsicherungsbedürftigkeit verbunden sind: stei­ gende Krankenversicherungsbeiträge bei ehemaligen Selbstständigen, die privat krankenversichert sind und nicht mehr in die gesetzliche Krankenver­ sicherung zurückkehren dürfen, sowie Mieterhöhungen und steigende Heiz­ kosten bei Personen, deren Einkommen knapp oberhalb der Grundsiche­ rungsschwelle liegt. Hier ist allerdings immer auch die Frage, ob und in welcher Höhe individuelle Bedarfe durch den Gesetzgeber bzw. durch den Grundsicherungsträger anerkannt werden; insbesondere bei der Frage der angemessenen Wohnkosten besteht durchaus ein gewisser Ermessensspiel­ raum der zuständigen Sozialbehörde. 2. Erwerbsbiografie Bei der Analyse der Erwerbsbiografien der befragten Personen ist zu­ nächst einmal zu berücksichtigen, dass auf der Grundlage biografisch-prob­ lemorientierter Interviews keine monatsgenaue (und zum Teil auch keine jahresgenaue) Rekonstruktion des Erwerbverlaufs vorgenommen werden kann; in einzelnen Fällen ist es hinsichtlich der exakten Länge einzelner Episoden und ihrer zeitlichen Lage im Lebensverlauf zu erinnerungsbeding­ ten Ungenauigkeiten gekommen, die nicht in jedem Einzelfall restlos geklärt werden konnten. Diese sicherlich unvermeidlichen Ungenauigkeiten betref­ fen in erster Linie Phasen der geringfügigen und / oder befristeten Beschäf­



2. Erwerbsbiografie101

tigung sowie Phasen der Schwarzarbeit, bei denen einige Befragte nur grobe Zeitfenster angeben konnten. Im Hinblick auf die Höhe der späteren GRV-Rente sind jedoch in erster Linie Zeiten der sozialversicherungspflich­ tigen Vollzeitbeschäftigung bzw. der Beschäftigung in (möglichst vollzeitna­ her) Teilzeit relevant: Nur diese Zeiten in der Erwerbsbiografie tragen substanziell zur Erhöhung der eigenen GRV-Rente bei. Phasen der nicht obligatorisch versicherten Selbstständigkeit, Phasen der Schwarzarbeit und auch Phasen der geringfügigen Beschäftigung tragen hingegen nicht bzw. kaum zum Aufbau von GRV-Anwartschaften bei und erhöhen die spätere GRV-Altersrente somit im Ergebnis entweder gar nicht oder zumindest nicht in einem nennenswertem Ausmaß. Im Durchschnitt weisen die 49 untersuchten Fälle nur knapp 15  Jahre in sozialversicherungspflichtiger Voll- oder Teilzeitbeschäftigung auf. Dies ist ein ausgesprochen niedriger Wert, der jedoch der niedrigen durchschnittli­ chen Rentenhöhe der Betroffenen (knapp 400 Euro / Monat) entspricht. Be­ trachtet man die Fälle im Einzelnen, so zeigt sich, dass 43 von 49 Fällen Zeiten der sozialversicherungspflichtigen (bzw. im Sinne des Fremdrenten­ gesetzes anerkannten) Voll- oder Teilzeitbeschäftigung aufweisen.16 Nur 4 von 49 Fällen weisen jedoch Erwerbsbiografien mit mehr als 30 sozial­ versicherungspflichtigen Erwerbsjahren auf; hierbei handelt es sich bis auf eine Ausnahme um (Spät-)Aussiedler / -innen aus der ehemaligen Sowjet­ union. Im Untersuchungssample der vorliegenden Studie finden sich somit praktisch keine langjährig Versicherten. In weiteren 9 Fällen haben die Betroffenen zumindest mehr als 20 sozialversicherungspflichtige Erwerbs­ jahre vorzuweisen; in 5 dieser 9 Fälle handelt es sich dabei um Befragte aus den neuen Bundesländern. Während sich bei den ostdeutschen Befragten und den Zuwanderern aus Osteuropa somit noch der Einfluss der in den früheren sozialistischen Ländern dominierenden Vollbeschäftigungspolitik zeigt, haben insbesondere westdeutsche Befragte ohne Zuwanderungshinter­ grund im Durchschnitt sehr kurze und oftmals mehrfach unterbrochene Er­ werbskarrieren mit vergleichsweise wenigen Jahren in sozialversicherungs­ pflichtiger Beschäftigung gehabt.

16  Weitere vier Fälle weisen zwar (relativ lange) Erwerbskarrieren auf; die Er­ werbsjahre sind jedoch im Gebiet der ehemaligen Sowjetunion geleistet worden und werden nach dem deutschen Rentenrecht nicht anerkannt, da es sich bei den betref­ fenden Personen weder um autochthone Deutsche noch um (Spät-)Aussiedler han­ delt und zwischen dem Herkunftsland und der Bundesrepublik Deutschland kein Sozialversicherungsabkommen besteht. In drei der vier Fälle handelt es sich dabei um jüdische Kontingentflüchtlinge [vgl. Kap. V.4.d)].

102

IV. Empirische Ergebnisse (I): Risiken und Risikodimensionen Tabelle 26 Erwerbsbiografie: Dauer verschiedener Statusphasen in Jahren

Nr.

Name

SVP VZ / TZ

Selbstständig ohne SVP

Schwarzarbeit

Geringfügige /  SVP-freie Beschäftigung

Arbeitslosigkeit /  Transfer­ bezug

Alter bei Ende Erwerbs­ tätigkeit

 1 Fr. R-01

11



 9



 7

62

 2 Fr. K-02

35 [*]







 7

58

 3 Fr. K-04

33 [FRG]





 3

 7

58

 4 Hr. G-05

 5





25

13

54

 5 Fr. S-08

13



 5

mehrere J.

33

45

 6 Fr. M-09

 4

30





10

60

 7 Fr. M-10

15

 1

10

 3

 5

48

 8 Fr. L-11

 9





20

21

63

 9 Hr. B-13

 7





mehrere J.

31

29

10 Fr. V-14

23





mehrere J.

 3

63

11

Fr. K-15

15



mehrere J.



 4

43

12 Fr. F-16

 8



viele J.



 7

47

13 Fr. B-18

 4



2

 5

 –

54

14 Fr. T-19

38 [FRG]







 6

54

15 Fr. T-20

15



 6



10

40

16 Fr. R-21

32 [*]







13

52

17 Fr. G-22

36 [FRG]









60

18 Fr. J-23

 1



viele J.



36

51

19 Fr. Z-24

 –

 1

viele J.





38

20 Hr. F-25

12

24





 9

56

21 Hr. B-26

12

24





 2

63

22 Hr. S-27

25



 3



12

49

23 Hr. N-28

13

37







65

24 Hr. D-29

12

33







65



2. Erwerbsbiografie103 Nr.

Name

SVP VZ / TZ

Selbstständig ohne SVP

Schwarzarbeit

Geringfügige /  SVP-freie Beschäftigung

Arbeitslosigkeit /  Transfer­ bezug

Alter bei Ende Erwerbs­ tätigkeit

25 Hr. S-30

49 [*]









66

26

Fr. S-32

14





11

32

63

27

Fr. M-33

 6

18







52

28

Fr. W-34

19





15

27

67

29

Hr. S-35

 7

13





12

53

30

Hr. L-36

24

16





 6

59

31

Fr. S-37

 4





 2

 6

63

32

Fr. G-38

20

10

mehrere J.





65

33

Fr. B-39

  10,5







    1,5

63

34

Fr. E-40





viele J.

 2

27

37

35

Hr. C-41

15

21





 4

65

36

Hr. S-42

18







19

52

37

Hr. + Fr. S / K-43

39/32 [*]







7 / 16

58 / 49

38

Hr. + Fr. A-44

7/–







29

36

39

Hr. G-45

10

23





 –

53

40

Hr. T-46

12

15

2



15

45

41

Fr. R-47

25









60

42

Hr. B-48

27





 8

13

52

43

Fr. M-49

27

 1

viele J.



13

52

44

Hr. E-50

37







 2

65

45

Fr. H-51

3,5





mehrere J.

19

59

46

Fr. S-52

 6





mehrere J.

 2

63

47

Fr. S-53

24







 8

45

48

Fr. R-54

25







 5

44

49

Hr. F-55

17

10





 8

53

[FRG] = Zeiten nach Fremdrentengesetz; [*] = Zeiten ohne rentenrechtliche Anerkennung. Quelle: Eigene Darstellung.

104

IV. Empirische Ergebnisse (I): Risiken und Risikodimensionen

Ein knappes Drittel der Fälle (16 von 49) weist Zeiten der selbstständigen Erwerbstätigkeit ohne Pflichtmitgliedschaft in der GRV auf. Bei den Män­ nern im Sample ist Selbstständigkeit deutlich öfter verbreitet als bei Frauen: 10 von 19 (und damit rund die Hälfte) der befragten Männer im Sample sind in ihrem Erwerbsverlauf einmal selbstständig gewesen. Bei den Frauen (6 von 32 Fällen) liegt der Anteil der ehemals selbstständigen hingegen bei einem knappen Fünftel und damit deutlich niedriger als bei den Männern. Umgekehrt verhält es sich jedoch bei den Zeiten der geringfügigen bzw. der sonstigen sozialversicherungsfreien Beschäftigung sowie der Schwarzar­ beit: Diese atypischen bzw. irregulären Erwerbsformen finden sich im Sam­ ple hauptsächlich bei den Frauen. Zu den geringfügigen und den sonstigen Beschäftigungsverhältnissen wurden im vorliegenden Zusammenhang neben dem klassischen „Minijob“ auch andere atypische Beschäftigungsformen wie Werk- bzw. Honorarverträge, Aushilfstätigkeiten, Beschäftigungen auf Tages- oder Wochenbasis (Tagelöhner) oder die sozialversicherungsfreie Mitarbeit im Betrieb des Ehepartners bzw. der Eltern gezählt. Insgesamt weisen 15 von 49 Fällen (und damit ein knappes Drittel der Fälle) Zeiten einer geringfügigen bzw. sozialversicherungsfreien abhängigen Beschäfti­ gung auf; in vier Fünfteln dieser Fälle handelt es sich um Frauen. Im Nachhinein ist nicht in jedem Falle abzuschätzen, inwiefern eine (in der Regel vom Zeitvolumen her eher geringfügige) Erwerbstätigkeit, die in den 1970er oder 1980er Jahren „ohne Papiere“ stattgefunden hat, regulär oder irregulär gewesen ist; die Grenze zwischen regulärer (offiziell sozial­ versicherungsfreier) und irregulärer Beschäftigung ist oftmals nicht klar zu ziehen. Schwarzarbeit findet sich bei mindestens 14 der 49 Fälle; auch hier sind es hauptsächlich Frauen, die betroffen sind (12 von 14 Fällen). Bei weiteren Fällen ist eine gelegentliche Schwarzarbeit zumindest zu vermu­ ten; hier ist letztlich die Frage, wo man hinsichtlich der gearbeiteten Stun­ den bzw. der erzielten Verdienste eine Bagatellgrenze ansetzt. Die Gesamt­ länge der Phasen der (ausschließlichen oder zusätzlichen) Schwarzarbeit ist besonders schwer abzuschätzen, da es sich in der Regel um sehr diskonti­ nuierliche bzw. kurze Beschäftigungsverhältnisse bei verschiedenen Arbeit­ gebern gehandelt hat und die Befragten daher nicht selten nur einen groben Zeitraum in ihrer Biografie nennen können (oder wollen), in denen sie „immer wieder mal“, aber in der Regel „ohne Papiere“ gearbeitet haben. Zumindest in einigen Fällen ist Schwarzarbeit auch während des Bezugs von Lohnersatz- und insbesondere von Mindestsicherungsleistungen geleis­ tet worden; in diesen Fällen lag somit der Tatbestand des Sozialleistungs­ missbrauchs vor. Langzeitarbeitslosigkeit und der langjährige Bezug von Lohnersatz- und Mindestsicherungsleistungen sind zentrale Elemente vieler Biografien im



2. Erwerbsbiografie

105

Untersuchungssample; nicht wenige Befragte haben zwischen ihrem 18. und ihrem 65.  Lebensjahr deutlich mehr Zeit in Arbeitslosigkeit bzw. im Trans­ ferbezug verbracht als in sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung. Im Durchschnitt weisen die 49 Fälle rund 10 Jahre mit Zeiten der Arbeitslosig­ keit und des Bezuges von Transferleistungen (Arbeitslosengeld, Arbeitslo­ senhilfe, Sozialhilfe bzw. ab 2005 ALG  II) auf. In einigen Fällen ist es dabei zu einem mehrfachen Wechsel zwischen Arbeitslosigkeit und Be­ schäftigung bzw. Arbeitslosigkeit und Familienphasen gekommen; in einzel­ nen Fällen wurden die Mindestsicherungsleistungen zumindest zeitweise auch als Aufstockung zu Einkünften aus (geringfügiger) Erwerbstätigkeit ausgezahlt. Betrachtet man die zeitliche Verteilung der verschiedenen erwerbsbiogra­ fischen Statusphasen im Lebensverlauf der Betroffenen, so fällt auf, dass kaum einer der Fälle längere Arbeitslosigkeitszeiten zu Beginn der Erwerbs­ karriere aufweist. Bis auf diejenigen Frauen, bei denen es bereits relativ früh im Lebensverlauf zu einer ehe- bzw. familienbedingten Erwerbsunter­ brechung gekommen ist (vgl. den folgenden Abschnitt), hat in den meisten Fällen ein „regulärer“ Eintritt in eine sozialversicherungspflichtige Beschäf­ tigung stattgefunden. Versicherungslücken in der Erwerbseinstiegsphase (16. bis einschließlich 29. Lebensjahr) betreffen somit überwiegend Frauen und sind in der Regel familienbedingt; größere arbeitslosigkeitsbedingte Lücken treten im ersten Drittel der Erwerbsbiografie hingegen eher selten auf. Anders sieht es allerdings im letzten Drittel der Erwerbsbiografie aus: Zwischen dem 50. und dem 65.  Lebensjahr weisen die meisten Fälle nur noch sehr wenige Jahre mit sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung auf. Im Durchschnitt der 49 Fälle liegt das Erwerbsausstiegsalter bei 54,3 Jahren und damit rund 10 Jahre unter der allgemeinen Regelaltersgren­ ze. Berücksichtigt man zudem, dass es sich bei der letzten Erwerbstätigkeit vor dem endgültigen Erwerbsausstieg insbesondere bei Frauen sehr häufig um ein geringfügiges, nicht sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungs­ verhältnis gehandelt hat (während bei einigen Männern eine sozialversiche­ rungsfreie Selbstständigkeit vorgelegen hat), so liegt der Zeitpunkt des Ausstiegs aus sozialversicherungspflichtiger Voll- oder Teilzeitbeschäftigung und damit das Ende der erwerbsbasierten Zahlung von GRV-Beiträgen oft­ mals noch deutlich früher im Erwerbverlauf. Die relativ geringe Bedeutung der sozialversicherungspflichtigen Er­ werbstätigkeit und die außerordentlich hohe Bedeutung der Arbeitslosigkeit im letzten Drittel der Erwerbsphase zeigt sich nicht zuletzt, wenn man den letzten Erwerbsstatus der Befragten vor dem Rentenübergang betrachtet: In 33 von 49 Fällen (und damit in rund zwei Drittel der Fälle) wurden im letzten Jahr bzw. in den letzten Jahren vor dem Zugang in die Alters- oder

106

IV. Empirische Ergebnisse (I): Risiken und Risikodimensionen

Erwerbsminderungsrente Leistungen der Mindestsicherungssysteme (in der Regel ALG II) bezogen; nur in 4 von 49 Fällen erfolgte der Rentenzugang aus sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung. Insgesamt lässt sich somit feststellen, dass im Hinblick auf das Verhältnis der beiden für die individuelle Rentenhöhe maßgeblichen Faktoren „Zeit“ (Anzahl der Beitragsjahre) und „Geld“ (relative Höhe der Beiträge) ein klares Übergewicht des Faktors „Zeit“ gegeben ist. Sicherlich haben viele der der betroffenen Personen im Rahmen ihrer sozialversicherungspflichti­ gen Erwerbstätigkeit nur vergleichsweise niedrige durchschnittliche Entgel­ te erzielt; weitaus entscheidender ist jedoch die äußerst kurze Dauer der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung gewesen. 3. Familienbiografie Betrachtet man zunächst die Lebensformen bzw. die Haushaltsgrößen der 49 Fälle im Untersuchungssample, so fällt als erstes der hohe Anteil von Alleinlebenden auf; in 42 von 49 Fällen (85,7 %) waren die Befragten zum Zeitpunkt des Interviews alleinlebend (Einpersonenhaushalt); nur 7 von 49 Befragten (14,3 %) lebten in einer Paarbeziehung und damit in einem Zwei­ personenhaushalt. Andere Haushaltskonstellationen (z. B. Mehrgenerationen­ haushalte) waren in keinem einzigen Fall gegeben. Wie extrem hoch der Anteil von Alleinlebenden im Sample ist, verdeutlicht der Vergleich mit der Gesamtheit der Personen in dieser Altersgruppe: Gemäß Daten des Mikro­ zensus 2012 sind lediglich 24,4 % und damit nur rund ein Viertel aller Se­ niorinnen und Senioren im Alter zwischen 65 und 75  Jahren alleinlebend (Männer: 16,2 %; Frauen: 31,75 %) (Statistisches Bundesamt 2013). Diese extreme Verteilung ist in Teilen sicherlich einem gewissen Bias zugunsten von alleinlebenden Seniorinnen und Senioren bei der Fallgewin­ nung geschuldet;17 wie bereits erwähnt, enthält die Grundsicherungsstatistik keine Informationen über die Lebensformen bzw. die Haushaltsgrößen der Grundsicherungsbezieher / -innen, so dass an dieser Stelle daher leider keine Aussagen über die diesbezügliche Repräsentativität des Untersuchungssam­ ples getroffen werden können. Die Ergebnisse verschiedener Studien weisen jedoch darauf hin, dass Alleinlebende ein deutlich höheres Armutsrisiko 17  Rund zwei Drittel der Interviewpartner/innen sind über soziale Einrichtungen (z. B. Seniorenbegegnungsstätten) oder über soziale Dienste (z. B. Seniorenbetreu­ ung) vermittelt worden; es ist davon auszugehen, dass solche Einrichtungen und Dienste überwiegend von alleinstehenden Personen genutzt werden. Allerdings weist das restliche Drittel der Interviewpartner/-innen, die sich eigeninitiativ auf Flyer und Aushänge im Sozialamt hin gemeldet haben, hinsichtlich ihrer Lebensformen die gleiche Verteilung auf.



3. Familienbiografie107

aufweisen als Personen, die in einem Paarhaushalt leben (vgl. Kap. II.3.). Es ist somit davon auszugehen, dass Alleinlebende in der aktuellen Grund­ sicherungspopulation zwischen 65 und 75 Jahren gegenüber der Gesamtheit aller Personen in dieser Altersgruppe deutlich überrepräsentiert sind. Hinsichtlich des Familienstandes fällt der sehr hohe Anteil von geschie­ denen Personen auf: In fast der Hälfte der Fälle (23 von 49 Fällen) sind die Befragten zum Zeitpunkt des Interviews geschieden gewesen. Zum Ver­ gleich: Laut Mikrozensus 2012 sind nur rund 6,3 % der Seniorinnen und Senioren der entsprechenden Altersgruppe geschieden. Männer sind beson­ ders häufig geschieden (11 von 19 Fällen); bei Frauen spielt hingegen Verwitwung eine ebenfalls große Rolle (12 von 32 Fällen). Ein Teil der Befragten (ausschließlich Frauen) ist mehrmals geschieden gewesen; addiert man alle in den 49 Fällen erfolgten Scheidungen zu einer Gesamtzahl, so kommen auf die 49 Fälle im Sample insgesamt 40 Scheidungen. Insgesamt ist somit festzustellen, dass ein hoher Anteil der Personen im Untersu­ chungssample vergleichsweise unstete Familien- bzw. Partnerschaftsbiogra­ fien aufweist. Generell ist bei Scheidungen immer die Frage, ob (und wenn ja, wie) die während der Dauer der Ehe erworbenen Anwartschaften aus Alterssiche­ rungssystemen zwischen den Ehepartnern aufgeteilt werden; in der Mehr­ zahl der Fälle werden bei einem Versorgungsausgleich im Ergebnis Anwart­ schaften des Ehemannes auf die Ehefrau übertragen. Für Frauen besteht das Risiko darin, entweder keinen Versorgungsausgleich erhalten zu haben, da die Scheidung vor 1978 und damit vor Einführung des Versorgungsaus­ gleichs stattgefunden hat, oder aber darin, dass auch bei einem tatsächlich durchgeführten Versorgungsausgleich „mangels Masse“ nur geringe zusätz­ liche Anwartschaften übertragen worden sind [vgl. Kapitel V.2.b)]. Generell sind Scheidungen zwar für Frauen finanziell deutlich riskanter als für Män­ ner; jedoch kann eine Scheidung auch für Männer zu einer erheblichen fi­ nanziellen Belastung führen, wenn ein großer Teil der erworbenen individu­ ellen Anwartschaften und der sonstigen Vermögenswerte durch Übertragung an die geschiedene Ehefrau verloren geht. Eine solche Konstellation ist in mindestens zwei Fällen relevant gewesen (Herr L-36, Herr F-55); die spe­ zifische Risikokonstellation bestand in beiden Fällen darin, dass die Er­ werbstätigkeit relativ kurz nach der Scheidung gesundheitsbedingt aufgege­ ben werden musste, so dass die scheidungsbedingten Verluste nicht mehr ausgeglichen werden konnten. Die große Mehrheit der befragten Personen hat eigene Kinder (42 von 49 Fälle). Die durchschnittliche Kinderzahl der Befragten ist mit 1,8 Kindern pro Fall nicht außergewöhnlich hoch. Betrachtet man nur die 32 Frauen im Sample (inklusive der Ehepaare), so ergibt sich eine durchschnittliche Kin­

108

IV. Empirische Ergebnisse (I): Risiken und Risikodimensionen Tabelle 27 Familienbiografie: Merkmale und Statusphasen

Nr.

Name

Familienstand

Haushaltsgröße

Kinder Familienphase

Jahre Allein­ erziehung

Pflege (davon SVP)

Scheidungen

 1

Fr. R-01

G

1

4

18

13



2

 2

Fr. K-02

L

1











 3

Fr. K-04

H

2

2





  3 (3)



 4

Hr. G-05

L

1











 5

Fr. S-08

G

1

2

 5

 6



1

 6

Fr. M-09

G

1

1



14



1

 7

Fr. M-10

W

1

1

10

 9



1

 8

Fr. L-11

G

1

2

14

10



2

 9

Hr. B-13

G

1

1







1

10

Fr. V-14

G

1

1

10





1

11

Fr. K-15

G

1

4

19





4

12

Fr. F-16

G

1

1

18

 8



1

13

Fr. B-18

W

1

1

21



10 (0)



14

Fr. T-19

W

1

3









15

Fr. T-20

H

2

1

15







16

Fr. R-21

W

1







  5 (0)



17

Fr. G-22

W

1

3









18

Fr. J-23

W

1

6

18







19

Fr. Z-24

W

1

1

18



14 (12)



20

Hr. F-25

G

1









1

21

Hr. B-26

G

1

1







1

22

Hr. S-27

H

2

3







1

23

Hr. N-28

G

1

2







1

24

Hr. D-29

G

1

1







1

25

Hr. S-30

H

1

2







1



3. Familienbiografie109 Nr.

Name

Familienstand

Haushaltsgröße

Kinder Familienphase

Jahre Allein­ erziehung

Pflege (davon SVP)

Scheidungen

26

Fr. S-32

W

1

3

17





1

27

Fr. M-33

TR

1

1



14



4

28

Fr. W-34

L

1

2

11

19





29

Hr. S-35

G

1

2





3 (3)

1

30

Hr. L-36

G

1

1







1

31

Fr. S-37

W

1

1

34



5 (5)



32

Fr. G-38

G

1

3

 8

11



1

33

Fr. B-39

W

1

4

31







34

Fr. E-40

W

1

2

44



3 (3)

2

35

Hr. C-41

G

1

1







1

36

Hr. S-42

G

2

1







1

37

Hr. + Fr. S / K-43

H

2

1









38

Hr. + Fr. A-44

H

2

3

–  /  47







39

Hr. G-45

L

1











40

Hr. T-46

G

1









1

41

Fr. R-47

G

1

4

17

 4



3

42

Hr. B-48

TR

1

2









43

Fr. M-49

G

1

4

 6

12



1

44

Hr. E-50

L

1

2









45

Fr. H-51

W

1

4

20







46

Fr. S-52

G

1

3

17





1

47

Fr. S-53

G

1

1

 2

 8



1

48

Fr. R-54

L

1











49

Hr. F-55

G

1

2







1

Familienstand: L = Ledig, H = Verheiratet, G = Geschieden, W = Verwitwet, TR = Getrennt lebend. Quelle: Eigene Darstellung.

110

IV. Empirische Ergebnisse (I): Risiken und Risikodimensionen

derzahl von knapp 2,2 Kindern pro Frau; gegenüber der durchschnittlichen Kinderzahl bei Frauen dieser Geburtskohorten ist dies ein zwar leicht über­ durchschnittlicher, aber zumindest nicht außergewöhnlich hoher Wert.18 Auffällig ist die vergleichsweise hohe Kinderzahl bei den drei türkischen Frauen im Sample, die alle mindestens drei Kinder haben. Viele der befragten Frauen (jedoch keiner der befragten Männer) weisen ehe- und familienbedingte Erwerbsunterbrechungen (Familienphasen) auf. Die genaue Länge dieser Zeiten ist jedoch oftmals schwer abzugrenzen: In vielen Fällen ist keine eindeutige Abfolge von Statusphasen (Ausstieg aus abhängiger Beschäftigung – Phase der Kindererziehung – Wiedereinstieg in abhängige Beschäftigung) festzustellen; die konkreten Verläufe sind oftmals deutlich komplexer und weniger eindeutig zu kategorisieren. Grundsätzlich sind unter „Erwerbsunterbrechung“ diejenigen Zeiten zu verstehen, in denen mindestens 12 Monate lang keine reguläre Beschäftigung (Vollzeit, Teilzeit oder geringfügig) ausgeübt worden ist und in denen die betreffende Person nicht als arbeitssuchend gemeldet war. Viele Frauen haben allerdings wäh­ rend der Familienphase durchaus in einem gewissen Umfang gearbeitet, beispielsweise als (nicht sozialversicherte und in der Regel auch nicht offi­ ziell gemeldete) mithelfende Familienangehörige im Betrieb des Ehepartners oder in der Schattenwirtschaft. Hierzu einige Beispiele: − Frau S-08 hat nach ihrem familienbedingten Ausstieg aus der sozialver­ sicherungspflichtigen Beschäftigung mehrere Jahre lang mit Unterbre­ chungen zusammen mit ihrem Mann als „Hausmeisterehepaar“ gearbeitet; das Zeitvolumen war dabei wechselhaft, die Beschäftigungsverhältnisse nicht sozialversichert. − Frau V-14 hat während der 10jährigen Familienphase zunächst stunden­ weise, später auch halbtags unentgeltlich als mithelfende Familienange­ hörige im Einzelhandelsgeschäft des Ehemannes gearbeitet. − Frau F-16 hat während ihrer Phase der Alleinerziehung und des Sozial­ hilfebezuges jahrelang stundenweise „schwarz“ in einem Kiosk gearbei­ tet. Zweitens ist nicht in jedem Fall eindeutig, ob die Zeiten ohne reguläre Erwerbstätigkeit familiär bedingt gewesen sind, ob sie gesundheitlich be­ dingt gewesen sind oder ob es sich um eine Phase der verdeckten Arbeits­ losigkeit („Stille Reserve“) gehandelt hat; in einzelnen Fällen ist von einer 18  Auswertungen der Rentenbestandsstatistik weisen für die hier interessierenden Jahrgänge ein allmähliches Absinken der durchschnittlichen Kinderzahl pro Frau nach (von rund 2,0 Kindern im Jahrgang 1938 auf rund 1,7 Kinder im Jahrgang 1945); diese Werte beziehen sich allerdings ausschließlich auf deutsche Frauen mit eigenständigem Rentenanspruch, während Ausländerinnen unberücksichtigt bleiben (Stegmann/Mika 2013: 221).



3. Familienbiografie111

jeweils spezifischen Kombination aus familien- gesundheits- und arbeits­ marktbedingten Faktoren auszugehen. Zudem ließe sich auch zwischen kindbedingter Erwerbsunterbrechung (Phasen der Haushaltsführung mit Kindererziehung) und ehebedingter Erwerbsunterbrechung (Phasen der Haushaltsführung ohne Kindererziehung) unterscheiden; letztere ist insbe­ sondere dann gegeben gewesen, wenn in diesem Zeitraum keine Kinder oder Jugendliche unter 18 Jahren mehr im Haushalt gelebt haben. Auch unter Berücksichtigung dieser nicht in jedem Einzelfall restlos auf­ zuklärenden Unschärfen und Ungenauigkeiten lässt sich feststellen, dass insgesamt 23 der 32 befragten Frauen in ihrem Lebensverlauf eine Phase der ehe- bzw. familienbedingten Erwerbsunterbrechung aufweisen, während dies bei keinem einzigen Mann im Sample der Fall war. Die durchschnitt­ liche Länge dieser Familienphasen ist ausgesprochen hoch (gut 18 Jahre bei den 23 betroffenen Frauen); hochgerechnet auf alle 32 Frauen im Untersu­ chungssample beträgt die durchschnittliche Dauer der Familienzeit rund 13 Jahre. 11 von 32 Frauen (und damit rund ein Drittel der Frauen) im Sample weisen Phasen der Alleinerziehung auf; die Alleinerziehungsphase (gerechnet jeweils bis zum 14. Geburtstag des jüngsten Kindes) hat im Schnitt knapp 11 Jahre gedauert. Eine eindeutige positive Korrelation zwi­ schen der Zahl der Kinder und der Länge der Familienphase lässt sich nicht feststellen. Relevant für die Länge der Erwerbsunterbrechung scheint eher die Staatsangehörigkeit bzw. das Herkunftsland der betroffenen Frauen zu sein: So weisen westdeutsche Frauen ohne Zuwanderungshintergrund sowie türkische Frauen die häufigsten und durchschnittlich längsten Familienpha­ sen auf, während Frauen mit Zuwanderungshintergrund aus der ehemaligen Sowjetunion sowie ostdeutsche Frauen tendenziell eher seltene und kurze Familienphasen aufweisen. Hier zeigen sich deutlich die Wirkungen des insbesondere in der alten BRD dominierenden Familienmodells des männ­ lichen Allein- bzw. Hauptverdieners. Im Hinblick auf Zeiten der Pflege ist auffallend, dass nur 7 von 49 Per­ sonen (bis auf eine Ausnahme ausschließlich Frauen) Zeiten der Pflegetä­ tigkeit aufweisen; vier dieser 7 Betroffenen haben ihren Ehepartner gepflegt, 3 Personen haben ein Elternteil gepflegt. Nur ein Teil der tatsächlichen Pflegezeit ist jedoch rentenwirksam in Form des Erwerbs von zusätzlichen GRV-Anwartschaften gewesen. Dies kann zum einen daran liegen, dass die Pflegebedürftigkeit der zu pflegenden Person nicht oder erst verspätet aner­ kannt worden ist; ein anderer Grund ist, dass Teile der Pflegezeiten erst nach dem Rentenzugang der Pflegeperson geleistet worden sind, so dass sie sich nicht mehr erhöhend auf die Rentenanwartschaften ausgewirkt haben. Im Hinblick auf die faktisch geleistete Pflegetätigkeit ist zudem zu berück­ sichtigen, dass zumindest ein Teil der Frauen im Sample aufgrund der ein­ geschränkten Alltagskompetenz des Ehepartners durchaus ein hohes Maß an

112

IV. Empirische Ergebnisse (I): Risiken und Risikodimensionen

Pflege- und Betreuungstätigkeit ausgeübt hat, ohne dass der Pflegebedarf des Ehepartners jedoch dauerhaft die Schwelle überschritten hätte, die von der Pflegeversicherung als Voraussetzung für Leistungen genannt wird. Hierbei hat es sich beispielsweise um die vorübergehende Pflege und Be­ treuung des Ehepartners im Rahmen von Rekonvaleszenzphasen nach Ope­ rationen und Krankenhausaufenthalten gehandelt. Obwohl diese Tätigkeiten in Einzelfällen mit einem erheblichen Zeitaufwand verbunden gewesen sind, handelt es sich formal gesehen nicht um Pflegetätigkeiten im Sinne des SGB XI. Hinsichtlich der Auswirkungen der Pflegetätigkeiten auf das individuelle Alterseinkommen ist zu berücksichtigen, dass die Effekte einer Pflegetätig­ keit grundsätzlich in zwei Richtungen wirken können: Zum einen können Pflegezeiten die individuelle Rentenhöhe im Ergebnis reduzieren, wenn sie dazu führen, dass eine sozialversicherungspflichtige (Vollzeit-)Erwerbstätig­ keit aufgegeben werden muss. Hierbei gilt ähnlich wie bei Phasen der Kindererziehung, dass nicht nur die Einkommenseinbußen in der eigent­ lichen Erwerbsunterbrechungszeit, sondern auch die langfristigen Einkom­ menseffekte der Erwerbsunterbrechung (sogenannte scarring effects) be­ rücksichtigt werden müssen. Zum anderen führen rentenrechtlich anerkann­ te Zeiten der häuslichen Pflege jedoch zunächst einmal zum Erwerb zusätz­ licher Rentenanwartschaften und damit insbesondere dann zur Erhöhung der eigenen GRV-Altersrente, wenn die Pflegeperson zum Zeitpunkt der Auf­ nahme der Pflegetätigkeit langzeitarbeitslos oder in der „stillen Reserve“ gewesen ist. Letztere Konstellation war in der Mehrzahl der Fälle gegeben; die betrof­ fenen Frauen waren in der Regel bereits seit längerem aus dem Erwerbsle­ ben ausgeschieden, so dass durch die Pflegetätigkeit keine Verluste, sondern eher noch (bescheidene) zusätzliche Anwartschaften entstanden sind. Ledig­ lich in einem einzigen Fall wurde aufgrund der Pflegebedürftigkeit des Ehepartners ein bestehendes Beschäftigungsverhältnis aufgegeben; auch in diesem Falle dürften die erworbenen Anwartschaften aus der Pflegetätigkeit im Ergebnis nicht geringer gewesen sein, als es diejenigen aus der aufgege­ benen (Teilzeit-)Beschäftigung gewesen wären. Im Ergebnis lässt sich daher festhalten, dass „offizielle“ Pflegetätigkeiten im Untersuchungssample eher selten vorkommen und sich im Ergebnis überwiegend nicht negativ auf das eigene Alterseinkommen ausgewirkt haben. Zusammenfassend lässt sich somit festhalten, dass das Risiko, aufgrund einer Scheidung oder Verwitwung im Alter alleinstehend zu sein und somit über keine zusätzliche Absicherung und kein zusätzliches Einkommen im Haushaltskontext zu verfügen, für die befragten Männer und Frauen glei­ chermaßen von überragender Bedeutung ist. Alle anderen familienbiografi­



4. Gesundheitsbiografie113

schen Risiken, insbesondere das Risiko der langjährigen ehe- und familien­ bedingten Erwerbsunterbrechung, betreffen hingegen praktisch ausschließ­ lich Frauen, und hier insbesondere westdeutsche Frauen sowie Frauen mit türkischem Zuwanderungshintergrund. 4. Gesundheitsbiografie Die Frage, welche konkrete Relevanz die gesundheitlichen Probleme (auch in Relation zu anderen Faktoren in der Biografie) für das spätere Alterseinkommen gehabt haben, d. h. also ob und in welchem Maße sie die individuelle Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter letztlich verursacht oder mitverursacht haben, ist im Einzelfall nicht immer zweifelsfrei zu beant­ worten und erschließt sich in der Regel erst aus der Interpretation des Gesamtfalls. Besonders schwierig ist es, die möglichen Wechselwirkungen zwischen den gesundheitlichen Problemen und anderen Aspekten der Bio­ grafie einzuschätzen. Solche Wechselwirkungen können insbesondere bei (potenziell) psychosomatisch bedingten Krankheiten relevant sein: Inwie­ fern hat beispielsweise der emotionale Stress, den eine Ehescheidung, der Tod eines Familienangehörigen oder eine längere Zeit der Arbeitslosigkeit möglicherweise bewirkt haben, das Entstehen eines Herzinfarkts oder Schlaganfalls begünstigt? Die Frage nach Ursache und Wirkung lässt sich oftmals nicht zweifelsfrei klären; in einigen Fällen haben die Befragten hier ganz eigene Deutungsmuster bezüglich der Kausalzusammenhänge entwickelt. Bei der (grundsätzlich immer mit einem gewissen Maß an Spekulation verbundenen) Einschätzung der kausalen Relevanz der gesundheitlichen Belastungs- und Risikofaktoren ist insbesondere danach zu fragen, inwie­ fern die gesundheitlichen Probleme zu einer Minderung der Erwerbstätig­ keit, des Einkommens und der damit verbundenen Vorsorgeleistung geführt haben. Hierbei gilt folgender Grundsatz: Je später die Probleme im Le­ bensverlauf eintreten, desto geringer ist in der Regel ihr Einfluss auf das spätere Alterseinkommen. Gesundheitliche Probleme, die erst nach dem Erreichen des Renteneintrittsalters eintreten (Schlaganfälle, Herzinfarkte etc.), mindern zwar in vielen Fällen die Lebensqualität der Betroffenen ganz erheblich und erhöhen (insbesondere im Falle der Gehbehinderung) zum Teil auch den individuellen Bruttobedarf; sie haben jedoch im Nor­ malfall keine kausalen Auswirkungen mehr auf die Tatsache der Grundsi­ cherungsbedürftigkeit selbst. Insofern lassen sich hinsichtlich der Relevanz der gesundheitlichen Faktoren zumindest begründete Tendenzaussagen tref­ fen. Konkret stellt sich das Bild im Untersuchungssample folgendermaßen dar:

114

IV. Empirische Ergebnisse (I): Risiken und Risikodimensionen Tabelle 28 Gesundheitsbiografie: Risiko- und Belastungsfaktoren

Nr.

Name

Gesundheitliche Probleme und Belastungen

Relevanz für Alterseinkommen

 1

Fr. R-01

Rückenbeschwerden (Anfang 50)

Niedrig bis mittel; Probleme haben zur Aufgabe einer VZ-Beschäfti­ gung geführt

 2

Fr. K-02





 3

Fr. K-04





 4

Hr. G-05

Alkoholabhängigkeit; (mit 54) Herzinfarkt

Hoch

 5

Fr. S-08

(mit 45) Herzinfarkt und Schlag­ anfall; Übergewicht, Bluthochdruck (Alkoholmissbrauch?)

Mittel; zum Zeitpunkt des Infarkts schon seit 5  Jahren im Sozialhilfe­ bezug

 6

Fr. M-09

Vorübergehende Depression (Ende 40)

Niedrig

 7

Fr. M-10

(mit 45) leichter Herzinfarkt; (mit 48) Unfall: Senkrechtfraktur Kniegelenk; (mit 48) leichter Schlaganfall; (mit 54) EU-Rente (bei Sozialgericht eingeklagt)

Hoch; zum Zeitpunkt des Infarkts bzw. des Unfalls voll berufstätig

 8

Fr. L-11

(mit 63) Arthritis

Niedrig, da erst kurz vor Renten­ eintritt

 9

Hr. B-13

Psychische Probleme, Trauma (nicht diagnostiziert)

Hoch: Jahrzehntelang nicht in Arbeit vermittelbar

10

Fr. V-14

Behinderung mit 41 (Rücken)

Niedrig; Keine wesentlichen Einschränkungen

11

Fr. K-15

Alkoholmissbrauch; (mit 59) EU-Rente (Wirbelsäule)

Mittel bis niedrig: EM aus Sozialhilfebezug heraus

12

Fr. F-16

(mit 54) EU-Rente (neurologisches Problem, erblich bedingt)

Mittel bis niedrig, zu dem Zeitpunkt bereits langzeitarbeitslos

13

Fr. B-18

(mit) 54 Unfall, komplexer Sprunggelenksbruch, 50 % Behinderung

Mittel bis niedrig: Entscheidend ist 21-jährige Familienphase

14

Fr. T-19





15

Fr. T-20





16

Fr. R-21





17

Fr. G-22







4. Gesundheitsbiografie

115

Nr.

Name

Gesundheitliche Probleme und Belastungen

Relevanz für Alterseinkommen

18

Fr. J-23

(mit 59): 2× Hörsturz, Cortison, 30 kg zugenommen, seitdem stark übergewichtig

Niedrig; entscheidend ist familien­ bedingte Erwerbseinschränkung

19

Fr. Z-24





20

Hr. F-25

(mit 56) Burnout

Mittel bis niedrig; entscheidend ist gescheiterte Selbstständigkeit

21

Hr. B-26

(mit 40) Unfall

Mittel; seit Unfall nur einge­ schränkt erwerbsfähig. Aber: Fehlanlage der Abfindung und Pleite als Gastwirt waren wichtiger

22

Hr. S-27





23

Hr. N-28





24

Hr. D-29

(mit 62) „Wasser in den Beinen“, Gleichgewichtsprobleme

Niedrig; Probleme erst gegen Ende der Erwerbsbiografie

25

Hr. S-30





26

Fr. S-32





27

Fr. M-33

(mit 52) Schlaganfall; (mit Ende 50) Spielsucht, Depression

Hoch; Verlust des Vermögens des Ehepaars

28

Fr. W-34





29

Hr. S-35

Seit Kindheit Autismus, (mit 53) Ausbruch psychische Krankheit

Hoch: Arbeitsfähigkeit war stets eingeschränkt und stand auf der Kippe

30

Hr. L-36

(mit 59) Unfall; Anerkennung 60 % Schwerbehinderung musste gerichtlich erstritten werden.

Hoch; Unfall führt zum Scheitern der Selbstständigkeit, Verschuldung

31

Fr. S-37





32

Fr. G-38





33

Fr. B-39

Arbeitsunfall mit 20; (mit 64) EM-Rente (Darmverschluss)

Mittel bis Hoch (Unfall): Geringe FRG-Anwartschaften wg. gesundheitsbedingt eingeschränkter Erwerbstätigkeit in Rumänien. Erwerbsminderung mit 64 hingegen kaum relevant

34

Fr. E-40





35

Hr. C-41

(mit 64) Schlaganfall

Niedrig, da spät in Erwerbs­ biografie (Fortsetzung nächste Seite)

116

IV. Empirische Ergebnisse (I): Risiken und Risikodimensionen

(Fortsetzung Tabelle 28)

Nr.

Name

Gesundheitliche Probleme und Belastungen

Relevanz für Alterseinkommen

36

Hr. S-42





37

Hr.+Fr. S / K-43





38

Hr.+Fr. A-44

(mit 36) Exzeme an den Armen (Arbeitsbelastung durch Chemika­ lien); Antrag auf EU-Rente jedoch abgelehnt

Hoch: Arbeitsunfähig, danach langzeitarbeitslos

39

Hr. G-45





40

Hr. T-46

(mit Ende 40) Depressionen

Mittel: Wiedereinstieg in Arbeits­ markt verpasst; entscheidend ist jedoch die zuvor gescheiterte Selbstständigkeit

41

Fr. R-47





42

Hr. B-48

(ab 43) Depressionen, (mit 57) EM-Rente

Mittel bis hoch; psychische Probleme in Kombination mit Langzeitarbeitslosigkeit bzw. prekärer Beschäftigung

43

Fr. M-49





44

Hr. E-50

(mit 50): leichter Herzinfarkt

Niedrig; keine größeren Einschrän­ kungen bei Erwerbstätigkeit

45

Fr. H-51

(mit Ende 50) Rücken- und Kniebeschwerden

Niedrig; geringfügige Beschäfti­ gung wurde eingestellt, aber keine großen finanziellen Konsequenzen

46

Fr. S-52

(mit Anfang 60) Gelenkschmerzen

Niedrig; Erwerbstätigkeit wurde (erst) mit 63 eingestellt

47

Fr. S-53

Alkoholabhängigkeit, (mit 53) EU-Rente

Hoch

48

Fr. R-54

(mit 49) Psychische Krankheit (Schizophrenie), EU-Rente

Hoch bis mittel; zum Zeitpunkt der EU schon 5  Jahre arbeitslos

49

Hr. F-55

(mit 52) Psychische Krankheit (manische Depression)

Hoch: Verlust des Vermögens, Scheitern der Selbstständigkeit

Quelle: Eigene Darstellung.

− In 20 von 49 Fällen spielten gesundheitliche Probleme in der Biografie der Befragten praktisch keine Rolle. − In weiteren 10 Fällen ist es im Lebensverlauf zwar zu gewissen ge­ sundheitlichen Belastungen und Problemen gekommen; diese haben je­



4. Gesundheitsbiografie117

doch nur einen schwachen Einfluss auf das spätere Alterseinkommen gehabt. − In 9 Fällen stellen die Gesundheitsprobleme einen zusätzlichen erschwe­ renden Faktor in der individuellen Risiko- und Belastungskonstellation dar, sind aber für sich allein genommen nicht entscheidend für die Grundsicherungsbedürftigkeit gewesen. − In rund 10 Fällen (und damit bei immerhin einem Fünftel der Fälle) lassen sich die Gesundheitsprobleme hingegen als mehr oder weniger zentrale Ursache der Grundsicherungsbedürftigkeit verstehen. Diese übergreifende Einschätzung berücksichtigt allerdings nur Belas­ tungs- und Risikofaktoren in der eigenen Gesundheitsbiografie der Betrof­ fenen; in vielen Fällen sind jedoch auch gesundheitliche Probleme des (Ehe-)Partners relevant für das spätere Alterseinkommen gewesen. Dies gilt insbesondere für einen Teil der (westdeutschen) Frauen, die sich im Ehe­ kontext an einem männlichen „Ernährermodell“ orientiert haben: Hier ist es oftmals zu erheblichen gesundheitlichen Problemen des Ehemanns gekom­ men (Unfälle, chronische Krankheiten, Erwerbsminderung), die das verfüg­ bare Haushaltseinkommen deutlich eingeschränkt und die spätere Grund­ sicherungsbedürftigkeit der (in der Regel dann verwitweten) Ehefrau im Ergebnis zumindest mitverursacht haben. Betrachtet man die verschiedenen gesundheitsbiografischen Belastungsund Risikofaktoren im Einzelnen, so zeigt sich folgendes Bild: − Nur in 7 von 49 Fällen ist vor dem Erreichen der Regelaltersgrenze eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (bzw. ab 2001 wegen voller Erwerbs­ minderung) bezogen worden. In diesem Zusammenhang ist allerdings zu berücksichtigen, dass ein Teil der Befragten die besonderen versiche­ rungsrechtlichen Voraussetzungen für den Bezug einer EM- bzw. EURente (mindestens 36 Monate mit Pflichtbeiträgen in den letzten 5 Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung) nicht erfüllt hat; dies gilt insbesonde­ re für Selbstständige, die rund ein Fünftel der Befragten ausmachen. In einigen weiteren Fällen wurde eine EU / EM-Rente beantragt, jedoch nicht bewilligt. Auffallend ist, dass die volle Erwerbsminderung (bzw. der die volle Erwerbsminderung auslösende Grund) nur in zwei von sieben Fäl­ len während der Erwerbstätigkeit eingetreten ist; in den anderen fünf Fällen sind die Betroffenen zum Zeitpunkt des Eintritts der Erwerbsmin­ derung bereits seit mehreren Jahren arbeitslos gewesen. − Schwere Unfälle sind in 5 von 49 Fällen vorgekommen. Dort, wo sie eingetreten sind, waren sie mit erheblichen Konsequenzen verbunden: Bei zwei der 5 Betroffenen führte der Unfall zu einer dauerhaften Ein­ schränkung der (sozialversicherungspflichtigen) Erwerbstätigkeit; bei drei der fünf Betroffenen führte der Unfall im Ergebnis sogar zum dauerhaften

118

IV. Empirische Ergebnisse (I): Risiken und Risikodimensionen

Erwerbsausstieg. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass es in keinem der fünf Fälle zum Bezug einer Unfallrente gekommen ist. − Eine hervorgehobene Bedeutung in der Gesundheitsbiografie der Befrag­ ten kommt psychischen Problemen zu; diese bilden insgesamt wohl den wichtigsten und häufigsten Risikofaktor in den untersuchten Fällen. Be­ zieht man Alkohol- und sonstige Suchtprobleme mit ein, so handelt es sich in 8 der 10 Fälle, bei denen die gesundheitlichen Probleme der Be­ troffenen für die heutige Grundsicherungsbedürftigkeit zentral gewesen sind, um psychische und nicht um körperliche Probleme. In vielen wei­ teren Fällen ist es zu Nervenzusammenbrüchen, Depressionsphasen, per­ sönlichen Lebens- und Sinnkrisen, aber auch zu dauerhaften psychoso­ zialen Handicaps gekommen; diese sind jedoch oftmals nicht als solche (an-)erkannt und behandelt worden, sondern unterhalb der Schwelle einer medizinischen Intervention geblieben. − In einer Reihe von Fällen haben Alkoholprobleme direkt oder indirekt eine Rolle gespielt: Während in zwei Fällen eine ausgeprägte eigene Alkoholkrankheit festzustellen ist, ist in zwei anderen Fällen eher von einem gemeinsamen Alkoholmissbrauch im Ehe- bzw. Partnerschaftskon­ text auszugehen. In zwei oder drei weiteren Fällen hat der fortgesetzte Alkoholmissbrauch des Ehepartners zu finanziellen Problemen, Eheschei­ dungen und dementsprechenden psychischen Belastungen der Befragten geführt. Insgesamt ist davon auszugehen, dass Alkoholprobleme in einer Reihe weiterer Fälle eine (größere oder kleinere) Rolle gespielt haben dürften; da es sich hier allerdings um ein durchaus heikles Thema han­ delt, welches im Rahmen von Interviews aufgrund der zumindest bei einem Teil der Befragten gegebenen Neigung zu sozial erwünschtem Antwortverhalten nicht immer leicht zu erfassen ist; können hier nur Mutmaßungen angestellt werden. Ein wichtiger Aspekt bei der Analyse der individuellen Gesundheitsbio­ grafien ist die Frage der offiziellen Anerkennung von chronischen Krank­ heiten und damit verbundenen Leistungsansprüchen durch die jeweils zu­ ständigen Versorgungsträger. Diese Anerkennung ist in vielen Fällen nicht reibungslos erfolgt, sondern mit erheblichen Unklarheiten und teilweise mehrjährigen juristischen Auseinandersetzungen verbunden gewesen. Dies gilt insbesondere für die Bewilligung einer vollen Erwerbsminderungsrente, die in einigen Fällen eingeklagt werden musste, in anderen Fällen hingegen gescheitert ist. Hier ist des Öfteren eine Situation eingetreten, in der die Betroffenen faktisch dauerhaft zu krank für eine existenzsichernde Beschäf­ tigung, jedoch offiziell „zu gesund“ für die Erwerbsminderungsrente gewe­ sen sind; der Ausstieg aus dem Erwerbsleben erfolgte hier in der Regel über die Langzeitarbeitslosigkeit und nicht über eine anerkannte Erwerbsminde­



5. Bildungsbiografie119

rung. Mehrere Befragte berichteten zudem über Konflikte mit dem Versor­ gungsamt bei der Festsetzung des Grades der Behinderung (GdB); im Hinblick auf das Alterseinkommen ist dabei insbesondere relevant, ob es zur Anerkennung einer vorhandenen Gehbehinderung und der damit verbun­ denen Mehrbedarfe in der Grundsicherung im Alter kommt oder nicht. Insgesamt ist bei einer nüchternen Betrachtung davon auszugehen, dass die individuelle Initiative und die individuelle „Konfliktfähigkeit“ im Umgang mit Ärzten, medizinischen Diensten, Krankenkassen und Behörden im Hin­ blick auf die Erfolgschancen bei der Anerkennung krankheitsbezogener Ansprüche eine zentrale Rolle spielt; neben das individuelle Krankheitsrisi­ ko tritt somit in vielen Fällen auch das Risiko mangelnder Artikulationsund Durchsetzungsfähigkeit. 5. Bildungsbiografie In der frühkindlichen Sozialisation, der schulischen Ausbildung und der beruflichen Erstausbildung werden die Grundlagen für die spätere Erwerbs­ karriere gelegt; die erreichten Bildungs- und Ausbildungsqualifikationen sind mitentscheidend für die Art der Beschäftigung, die Stellung im Beruf sowie das dabei erzielte Einkommen und die Erwerbsdauer. Bei der Analy­ se der Bildungsbiografien der befragten Personen ist zu beachten, dass die Pflichtschulzeit bei den hier betrachteten Geburtsjahrgängen in den 1940er und 1950er Jahren stattgefunden hat; die Personen im ­Untersuchungssample sind von der „Bildungsexpansion“ und den diversen Bildungsreformen der 1960er und 1970er Jahre noch nicht betroffen gewesen. Vereinfacht gesagt, war der bildungsbiografische „Normalfall“ in diesen Geburtskohorten der Abschluss der Volksschule und eine daran anschließende dreijährige Lehre bzw. Ausbildung; ein Hochschulstudium kam deutlich seltener vor als das Fehlen einer Berufsausbildung (vgl. Konsortium Bildungsberichterstattung 2006: 225). Im Untersuchungssample findet sich im Hinblick auf die Bil­ dungsabschlüsse der Befragten folgende Verteilung: − 11 Personen (9 Frauen, 2 Männer) haben keinen berufsqualifizierenden Bildungsabschluss; davon haben mindestens vier Personen auch keinen (Volks-)Schulabschluss. Eine Befragte aus der Türkei war zudem An­ alphabetin. − 27 Personen haben einen mittleren Bindungsstand; davon haben 26 Per­ sonen mindestens eine Lehre bzw. eine Berufsausbildung abgeschlossen, während eine weitere Person (Frau G-38) das Abitur gemacht hat. − 11 Personen haben einen hohen Bildungsstand; 10 Personen haben ein abgeschlossenes Hochschulstudium, davon sogar eine Person eine Promo­ tion (Herr S-35); eine weitere Person (Herr B-48) hat einen DDR-Meis-

120

IV. Empirische Ergebnisse (I): Risiken und Risikodimensionen Tabelle 29 Bildungsbiografie: Bildungsstand, Aus- und Fortbildung

Nr.

Name

Bildungsstand

Berufsausbildung

Fort- und Weiter­bildungen

Umschulungen /  Kurse (Arbeitsamt)

 1

Fr. R-01

M

Friseurin





 2

Fr. K-02

H

Studium Informatik



(Sprachkurs)

 3

Fr. K-04

H

Studium Medizin



(Sprachkurs)

 4

Hr. G-05

N







 5

Fr. S-08

N







 6

Fr. M-09

H

Studium Anglistik, Politik

Journalismus, Shiatsu-Massagen



 7

Fr. M-10

N







 8

Fr. L-11

M

Hauswirtschaft, Schneiderin

Direktrice, Buchhaltung



 9

Hr. B-13

M

Fleischer, KfzMechaniker

Berufskraftfahrer

10

Fr. V-14

M

Einzelhandels­ kauffrau

Kosmetikerin

Umschulung Industriekauffrau

11

Fr. K-15

M

Einzelhandels­ kauffrau





12

Fr. F-16

M

Fotolaborantin





13

Fr. B-18

M

Einzelhandels­ kauffrau





14

Fr. T-19

M

Technikum





15

Fr. T-20

N







16

Fr. R-21

M

Technikum





17

Fr. G-22

H

Studium (Sprachen)



(Sprachkurs)

18

Fr. J-23

M

Floristin, Hauswirtschaft





19

Fr. Z-24

M

Hauswirtschaft





20

Hr. F-25

M

Kaufmann





21

Hr. B-26

M

Elektriker





22

Hr. S-27

M

Elektriker



23

Hr. N-28

H

Studium BWL





24

Hr. D-29

M

Einfacher Postdienst

Taxi-Schein



25

Hr. S-30

H

Studium Ingenieur



(Sprachkurs)



5. Bildungsbiografie121 Nr.

Name

Bildungsstand

Berufsausbildung

Fort- und Weiter­bildungen

Umschulungen /  Kurse (Arbeitsamt)

26

Fr. S-32

M

Einzelhandels­ kauffrau





27

Fr. M-33

M

Einzelhandels­ kauffrau





28

Fr. W-34

M

Einzelhandels­ kauffrau



Schulung Sekretärin

29

Hr. S-35

H

Studium Pädagogik

Therapeut



30

Hr. L-36

M

Klempner

Kaufmänn. Kurse



31

Fr. S-37

N







32

Fr. G-38

M

Abitur





33

Fr. B-39

N







34

Fr. E-40

N







35

Hr. C-41

H

Studium Psychologie

Coaching

-

36

Hr. S-42

M

Polsterer



Elektronik

37

Hr. + Fr. S / K-43

H / H

Studium Ingenieur / Studium Russ. Literatur



(Sprachkurse)

38

Hr. + Fr. A-44

M / N

Mechaniker/–



Lagerfachhelfer, Elektriker

39

Hr. G-45

M

Industriekaufmann

Gewerbefach­ schule

-

40

Hr. T-46

M

Bürokaufmann





41

Fr. R-47

N







42

Hr. B-48

H

Müller, Koch, Kaufmann (Meister)

Taxi-Schein

Altenpfleger

43

Fr. M-49

M

Schneiderin



PC-Kurs

44

Hr. E-50

N



Taxi-Schein



45

Fr. H-51

N







46

Fr. S-52

N







47

Fr. S-53

M

Gastronomie





48

Fr. R-54

M

Bürokauffrau



Büromanagement

49

Hr. F-55

H

Studium Ingenieur

BWL



Bildungsstand: N = Niedrig, M = Mittel, H = Hoch. Quelle: Eigene Darstellung.

122

IV. Empirische Ergebnisse (I): Risiken und Risikodimensionen

terbrief. Unter den Befragten mit Hochschulabschluss finden sich zum einen Personen, die aus dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion zuge­ wandert sind [insbesondere jüdische Kontingentflüchtlinge, vgl. Kap. V.4.d)], und zum anderen Personen, die im Laufe ihrer Erwerbsbio­ grafie längere Zeit selbstständig gewesen sind. Die Verteilung der Bildungsabschlüsse im Untersuchungssample der vor­ liegenden Studie weicht damit mehr oder weniger deutlich von der Vertei­ lung ab, die im Kontext des Alterssicherungsberichtes 2012 anhand der Daten der ASID 2011-Studie für die aktuelle Grundsicherungspopulation ermittelt worden ist (vgl. Kap. II.5.): Zum einen gibt es im Sample deutlich weniger Personen ohne berufsqualifizierenden Abschluss, zum anderen deutlich mehr Personen mit einem Hochschulabschluss, als es nach den diesbezüglichen Ergebnissen des Alterssicherungsberichtes zu erwarten ge­ wesen wäre. Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass sich die im Alterssicherungsbericht aufgeführten Werte auf die Gesamtheit der Grund­ sicherungsbezieher / innen im Alter von 65 und mehr Jahren beziehen, wäh­ rend das Untersuchungssample praktisch ausschließlich aus 65–75-jährigen Personen besteht; die unterschiedliche Referenzgruppe kann zumindest ei­ nen Teil der Unterschiede erklären. Im Hinblick auf die individuelle Bildungsbiografie der befragten Perso­ nen spielt die Herkunftsfamilie eine nicht unwesentliche Rolle; zumindest in einigen Fällen zeigt sich ein deutlicher Einfluss sowohl der Bildungsas­ pirationen der Eltern als auch der sozialen und ökonomischen Situation der Familie in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg auf die Schullaufbahn und die anschließende Ausbildungs- und Berufswahl der „Trümmerkinder“. Viele Personen im Sample sind als Halbwaise (d. h. in der Regel ohne den im Krieg gefallenen Vater) aufgewachsen; einige Personen haben aus ver­ schiedenen Gründen einen Teil ihrer Kindheit bei Verwandten oder in einer Pflegefamilie verbracht. Viele der Befragten sind daher nach eigenen Anga­ ben in finanziell sehr beengten und oftmals prekären Verhältnissen aufge­ wachsen. In einigen Fällen lassen sich schichtspezifische Benachteiligungen beim Bildungszugang beobachten: Die ursprünglichen Bildungs- und Berufswün­ sche der befragten Person konnten nicht realisiert werden, da beispielsweise das Schulgeld nicht bezahlt werden konnte, die Betroffenen im elterlichen Betrieb mitarbeiten mussten, oder möglichst schnell Geld verdient werden musste, um den elterlichen Haushalt finanziell zu entlasten (u. a. Frau M-10, Frau Z-24). In einzelnen Fällen sind neben den verfügbaren finanziellen Ressourcen aber auch die niedrigen und zudem teilweise geschlechtsspezi­ fisch selektiven Bildungsaspirationen der Eltern entscheidend gewesen. So berichtet Frau S-08, ihre Mutter hätte ihr seinerzeit eine Lehre als Drogistin



5. Bildungsbiografie123

mit der Begründung verboten, dass sie „sowieso heiraten“ werde; Frau B-18 berichtet, ihr Vater hätte sowohl ein angebotenes Stipendium für den Be­ such der (damals noch kostenpflichtigen) Realschule als auch ein weiteres Stipendium für eine Ausbildung als Modezeichnerin für seine Tochter abge­ lehnt, da sich „ein anständiger Bergmann eben nichts schenken lässt“. Deutliche Benachteiligungen beim Bildungszugang finden sich insbeson­ dere auch bei den drei türkischen Frauen im Sample; hier setzen die Zu­ gangsbarrieren allerdings bereits beim Schulbesuch an. Neben der Herkunft aus einem ländlichen Gebiet und der zu diesem Zeitpunkt noch nicht flä­ chendeckenden Versorgung mit Schulen in der Türkei zeigen sich hier klare geschlechtsspezifische Rollenmuster; den betroffenen Frauen wurden Tätig­ keiten im Haushalt bzw. auf dem Feld zugewiesen, während ihre (späteren) Ehemänner in der Regel eine Ausbildung erhalten haben. Insgesamt zeigt sich somit bei einem Teil der Fälle, und hier insbesondere bei Frauen, ein nicht unerhebliches Maß an Fremdbestimmung bei der Gestaltung der eige­ nen Bildungsbiografie und der damit zusammenhängenden Berufswahl; auf diese Weise sind die individuellen Entwicklungspotenziale oftmals nicht ausgeschöpft worden. Ein weiteres bildungsbiografisches Risiko, von dem insbesondere west­ deutsche Frauen betroffen gewesen sind, ist das Risiko des frühen (fami­ lienbedingten) Erwerbsausstiegs nach der erfolgreichen Beendigung einer Lehre bzw. Ausbildung. In einigen Fällen haben die betroffenen Frauen relativ früh geheiratet und Kinder bekommen, sind aus ihrem erlernten Be­ ruf ausgeschieden und haben danach praktisch nie wieder in ihrem erlernten Beruf gearbeitet. Bei diesen Bildungsabschlüssen und Zertifikaten, die zwar erworben wurden, die jedoch im Anschluss kaum eingesetzt worden sind, kann man von ungenutzten Qualifikationen bzw. nicht „amortisierten“ Bil­ dungsinvestitionen sprechen. Die fehlende Berufserfahrung aufgrund des frühen Erwerbsausstiegs hat sich in einzelnen Fällen auch erschwerend beim Versuch des Wiedereinstiegs ausgewirkt; zudem ist es in einzelnen Fällen auch zu Dequalifikationsprozessen aufgrund der langen Erwerbsun­ terbrechung gekommen. Im Hinblick auf die fehlende „Rendite“ von Bildungsinvestitionen lässt sich zudem feststellen, dass die in einigen Fällen durch das Arbeitsamt fi­ nanzierten Umschulungen und Kurse bei den betroffenen Personen kaum positive Auswirkungen auf die Beschäftigungschancen gehabt haben; kaum eine der im Rahmen dieser Maßnahmen erworbenen Qualifikationen ist später auch tatsächlich auf dem ersten Arbeitsmarkt eingesetzt worden. In diesem Zusammenhang ist aufgrund der Schilderungen der Betroffenen davon auszugehen, dass zumindest einzelne Bildungs- und Qualifizierungs­ maßnahmen, die die Betroffenen während längerer Arbeitslosigkeitsphasen

124

IV. Empirische Ergebnisse (I): Risiken und Risikodimensionen

absolviert haben, eher eine Art Ersatz- bzw. „Alibifunktion“ gehabt haben, als dass sie wirklich konsequent auf die Reintegration in den ersten Arbeits­ markt ausgerichtet gewesen wären. Ein weiteres Phänomen, das auch mit ungenutzten Bildungsinvestitionen zu tun hat, betrifft in erster Linie diejenigen Personen, die in fortgeschritte­ nem oder bereits rentennahem Alter aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland zugewandert sind. Hier war es oftmals so, dass die im Heimat­ land erworbenen, zum Teil sehr hohen Qualifikationen auf dem deutschen Arbeitsmarkt kaum eingesetzt werden konnten. Der Grund war dabei in der Regel nicht in erster Linie die mangelnde Anerkennung ausländischer Bil­ dungs- und Berufsabschlüsse; maßgeblich waren hier eher alters- und sprachbedingte Barrieren, zum Teil auch aufgrund von technischen Unter­ schieden bzw. veralteten Standards. Dort, wo die Betroffenen in Deutsch­ land überhaupt noch gearbeitet haben, sind sie daher in der Regel deutlich unterhalb ihres Qualifikationsniveaus beschäftigt gewesen. Zusammenfassend lässt sich hinsichtlich der potenziellen bildungsbiogra­ fischen Determinanten der Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter festhalten, dass nur ein Teil der Befragten im vorliegenden Sample in dieser Hinsicht Defizite aufweist. Dort, wo bildungsbiografische Defizite und Fehlentschei­ dungen festzustellen sind, ist nicht allein das Risiko fehlender oder zu niedriger Qualifikationen relevant gewesen, sondern oftmals auch das Risi­ ko ungenutzter bzw. nicht nutzbarer Qualifikationen. Mit anderen Worten: Die Betroffenen waren oftmals nicht einfach nur unter-, sondern eher fehl­ qualifiziert. Hierbei haben auch Fragen des biografischen timings von Bil­ dungsaktivitäten eine Rolle gespielt: Je älter die Betroffenen gewesen sind, desto weniger Nutzen ist (bzw. wäre) mit zusätzlichen Bildungsanstrengun­ gen im Hinblick auf das spätere Alterseinkommen verbunden gewesen. 6. Vorsorgebiografie Die Analyse der individuellen Vorsorgebiografien bezieht sich schwer­ punktmäßig auf Formen der Altersvorsorge und / oder des Vermögensaufbaus außerhalb der gesetzlichen Rentenversicherung, also auf betriebliche und private Altersvorsorge, Immobilienerwerb und sonstige Vorsorgeformen. Hierbei ist auch danach zu fragen, ob nennenswerte Erbschaften oder sons­ tige Einkünfte bestehen, auf die im Alter zurückgegriffen werden kann. Generell bezieht nur ein verschwindend geringer Anteil der Grundsiche­ rungsbezieher / -innen Leistungen aus betrieblichen oder privaten Altersvor­ sorgesystemen [vgl. Kap. I.2.g)]. Im Untersuchungssample der vorliegenden Studie findet sich dementsprechend keine einzige Person mit Leistungen aus Systemen der privaten Vorsorge oder der betrieblichen Altersvorsorge in der



6. Vorsorgebiografie

125

Privatwirtschaft; lediglich zwei Personen (Frau V-14, Frau B-39) haben ei­ nige Jahre lang im öffentlichen Dienst gearbeitet (beide als Angestellte in einem Kindergarten) und beziehen daher bescheidene Leistungen der Zu­ satzversorgung des öffentlichen Dienstes. Die Tatsache, dass keine einzige Person im Sample zum Interviewzeitpunkt Leistungen aus privaten Vorsor­ gesystemen bezogen hat, bedeutet jedoch nicht, dass keine einzige Person in ihrem Lebenslauf zusätzliche Altersvorsorge betrieben hätte. Im Hinblick auf die private Vorsorgetätigkeit lässt sich hier vielmehr grob zwischen zwei Gruppen unterscheiden: − Die erste, größere Gruppe, hat niemals eine betriebliche oder private Altersvorsorge betrieben, da es entweder an den finanziellen Ressourcen (Vorsorgefähigkeit), an der individuellen Vorsorgebereitschaft oder an den institutionell gegebenen Vorsorgemöglichkeiten gefehlt hat. Dies betrifft gut zwei Drittel der Fälle (31 von 49 Fällen). − Die zweite, kleinere Gruppe (18 von 49 Fällen), hat sehr wohl private Vorsorge betrieben, zum Teil sogar in durchaus beachtenswerter Höhe; in diesen Fällen ist es allerdings zu einer vorzeitigen Auflösung des jewei­ ligen Vorsorgevertrages, zu einer Pfändung oder zu einem Totalverlust des Vermögens gekommen, so dass man hier von einer im Ergebnis ge­ scheiterten Vorsorgestrategie sprechen muss. Bei der Gruppe der Personen ohne zusätzliche Vorsorge im Lebensverlauf ist es sicherlich nicht einfach und nicht in jedem Einzelfalle möglich, im Nachhinein die Gründe für die unterbliebene private Vorsorge zweifelsfrei zu ermitteln, zumal die Grenzen zwischen mangelnder Vorsorgefähigkeit, mangelnder Vorsorgebereitschaft und mangelndem Vorsorgewissen (finan­ cial literacy) teilweise nicht eindeutig sind. Sicherlich ist in vielen Fällen davon auszugehen, dass die individuelle Vorsorgefähigkeit bzw. die Vorsor­ gefähigkeit im Ehepaarkontext aufgrund niedriger oder fehlender laufender Einkünfte, Langzeitarbeitslosigkeit und / oder Transferbezug über weite Strecken des Lebensverlaufs nicht gegeben gewesen ist; dort, wo die finan­ ziellen Ressourcen über Jahrzehnte hinweg nur mit Mühe und Not für die Bestreitung des Lebensunterhalts ausgereicht haben, wäre eine private Al­ tersvorsorge sicherlich vollkommen illusorisch gewesen. Komplizierter ist die exakte Erörterung der Umstände bei einigen west­ deutschen Frauen ohne Zuwanderungshintergrund, bei denen sich der (in der Regel mittlerweile verstorbene oder geschiedene) Ehemann um die Fi­ nanzen und damit auch die Altersvorsorge des Ehepaars gekümmert hat; hier konnten die Befragten nicht in jedem Fall angeben, ob und in welchem Umfang eine private Altersvorsorge zu einem bestimmten Zeitpunkt bestan­ den hat und ob bzw. wann und warum diese aufgelöst worden ist. In diesen Fällen ist im Hinblick auf die befragte Person zumindest von einem man-

126

IV. Empirische Ergebnisse (I): Risiken und Risikodimensionen Tabelle 30 Vorsorgebiografie

Nr.

Name

Mangelnde Vorsorgefähigkeit

Mangelnde Vorsorgebereitschaft

Betriebliche, private und sonstige Altersvorsorge

 1

Fr. R-01

x



 2

Fr. K-02

x



 3

Fr. K-04

x



 4

Hr. G-05

x



 5

Fr. S-08

 6

Fr. M-09

 7

Fr. M-10

x



 8

Fr. L-11

x



 9

Hr. B-13

x



10

Fr. V-14

x

Zusatzversorgung öffentlicher Dienst (121 Euro / Monat)

11

Fr. K-15

x



12

Fr. F-16

x



13

Fr. B-18

14

Fr. T-19

15

Fr. T-20

16

Fr. R-21

x



17

Fr. G-22

x



18

Fr. J-23

x



19

Fr. Z-24

x



20

Hr. F-25

Konkurs, Pfändung LV / RV

21

Hr. B-26

spekulative Anlagestrategie, Totalverlust

22

Hr. S-27

23

Hr. N-28

Alles in eigene Firma investiert, Verlust

24

Hr. D-29

LV eingefroren, aufgelöst und in eigene Firma investiert

BAV: Wartezeit wg. Unkenntnis knapp unterschritten; kleine LV kurz vor Rente aufgelöst, Einrichtung gekauft x



Fonds und LV wg. finanzieller Probleme aufgelöst x

– Kleine BAV–Witwenrente wg. Wiederheirat verloren

x





6. Vorsorgebiografie127 Nr.

Name

Mangelnde Vorsorgefähigkeit

Mangelnde Vorsorgebereitschaft

25

Hr. S-30

x



26

Fr. S-32

x



27

Fr. M-33

28

Fr. W-34

29

Hr. S-35

LV eingefroren, später wg. finanzieller Probleme aufgelöst

30

Hr. L-36

LV und Immobilie bei Scheidung bzw. bei Konkurs verloren

31

Fr. S-37

32

Fr. G-38

33

Fr. B-39

x

Zusatzversorgung öffentlicher Dienst (48 Euro / Monat)

34

Fr. E-40

x



35

Hr. C-41

36

Hr. S-42

x



37

Hr. + Fr. S / K-43

x



38

Hr. + Fr. A-44

x



39

Hr. G-45

Spekulative Anlagestrategie, großer Verlust, mehrere LV / RV ab ca. 52 aufgelöst und bis Rentenbeginn aufgezehrt

40

Hr. T-46

LV bei Konkurs gepfändet

41

Fr. R-47

Kleine LV wg. Scheidung vorzeitig aufgelöst

42

Hr. B-48

x



43

Fr. M-49

x



44

Hr. E-50

45

Fr. H-51

x



46

Fr. S-52

x



x x

Betriebliche, private und sonstige Altersvorsorge

Immobilien / Vermögen verloren wg. Spielsucht Ehemann –

x

– LV vorzeitig aufgelöst (Startkapital Selbstständigkeit Tochter)

LV eingefroren, später wg. finanzieller Probleme aufgelöst

x



(Fortsetzung nächste Seite)

128

IV. Empirische Ergebnisse (I): Risiken und Risikodimensionen

(Fortsetzung Tabelle 30)

Nr.

Name

Mangelnde Vorsorgefähigkeit

Mangelnde Vorsorgebereitschaft

Betriebliche, private und sonstige Altersvorsorge

47

Fr. S-53

x



48

Fr. R-54

x



49

Hr. F-55

Alles in eigenes Unternehmen investiert, Unternehmen aufgelöst, Immobilien gepfändet

BAV = Betriebliche Altersvorsorge; LV = Lebensversicherung; RV = private Rentenversicherung. Quelle: Eigene Darstellung.

gelnden Vorsorgewissen bzw. einer mangelnden finanziellen Allgemeinbil­ dung auszugehen. Eine spezifische Besonderheit betrifft die insgesamt 8 Fälle, bei denen die Befragten (in der Regel bereits in fortgeschrittenem Alter) aus Osteuropa bzw. aus dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion zugewandert sind: Hier ist die fehlende Vorsorgefähigkeit nicht nur auf individuell fehlende Res­ sourcen bzw. auf das allgemein niedrige Wohlstandsniveau in den Her­ kunftsländern zurückzuführen, sondern auch darauf, dass vor 1991 / 1992 innerhalb des im Herkunftsland gegebenen politischen und institutionellen Rahmens eine private Altersvorsorge jenseits des staatlichen Alterssiche­ rungssystems für breite Bevölkerungskreise institutionell nicht vorgesehen gewesen ist. In abgeschwächter Form trifft dies auch auf die 6 Befragten aus den neuen Bundesländern zu; hier ist nur in einem einzigen Fall (Herr F-55, der nach der Wende ein kleines Kapital geerbt und dies zum Aufbau einer eigenen Firma genutzt hat) private Vorsorge betrieben worden. Die Vorsorge für das eigene Alter, so zeigen einige der untersuchten Fäl­ le, steht insbesondere bei knappen finanziellen Ressourcen immer in einer Finanzierungskonkurrenz mit anderen, zu einem gegebenen Zeitpunkt mög­ licherweise als wichtiger erachteten Zielen. So haben einige der Befragten angegeben, ihre finanziellen Reserven nicht für die eigene Altersvorsorge, sondern überwiegend für die Unterstützung der eigenen Kinder verwendet zu haben: Frau G-38 beispielsweise hat unter anderem die Selbstständigkeit einer ihrer Töchter finanziell unterstützt, während Herr E-50 das Studium seiner jüngsten Tochter finanziert hat. Insgesamt ist in mehreren Fällen zumindest ein Teil der verfügbaren finanziellen Ressourcen für Bildungsund Weiterbildungsaktivitäten der bereits volljährigen Kinder ausgegeben worden. In einigen Fällen könnte man jedoch durchaus von einer fehlenden Eigenverantwortung oder zumindest von einem kurzsichtigen Verhalten im



6. Vorsorgebiografie129

Sinne einer Minderschätzung (bzw. einer kompletten Ausblendung) zukünf­ tiger Bedürfnisse sprechen: − Frau M-09, freiberufliche Musikerin und Journalistin, hat auf eine Erb­ schaft spekuliert und daher keine Altersvorsorge betrieben; hier spielt zum Teil auch mangelndes Vorsorgewissen (konkret: das Wissen um die Absicherungsmöglichkeiten als Musikerin in der Künstlersozialkasse) bzw. eine ausgesprochene Gegenwartsorientierung eine Rolle. − Frau M-33, die zwischenzeitlich als Besitzerin eines kleinen Bordells sehr hohe Einkünfte hatte, hat zwischenzeitlich einen sehr aufwändigen und teuren Lebensstil gepflegt und sich zum Teil auch auf die finanziel­ len Ressourcen ihrer (wechselnden) Ehemänner verlassen. − Im Fall von Frau S-37, die in ihrem Leben kaum selbst berufstätig ge­ wesen ist, ist die mangelnde Vorsorgebereitschaft des 16 Jahre älteren Ehemannes ausschlaggebend gewesen, der als arrivierter Kunstsachver­ ständiger sicherlich über ausreichende Mittel für eine private (Hinterblie­ benen-)Vorsorge verfügt hätte, diese jedoch vollkommen vernachlässigt hat. Betrachtet man nun die Gruppe derjenigen Personen, die in ihrem Le­ benslauf auf die eine oder andere Weise eine private Vorsorge bzw. einen Vermögensaufbau betrieben haben, so ist zunächst einmal auffallend, dass es sich dabei überwiegend um Personen handelt, die in ihrer Erwerbsbio­ grafie (längere) Zeiten der Selbstständigkeit aufweisen. Hier ist es im Zu­ sammenhang mit der Selbstständigkeit oftmals zu einem Ausstieg aus der GRV gekommen; die private Altersvorsorge, die überwiegend in Form einer Lebensversicherung bzw. einer privaten Rentenversicherung erfolgt ist, hat­ te somit in der Regel keine ergänzende, sondern vielmehr eine ersetzende Funktion (vgl. Kap. V.3.). In der Mehrzahl der Fälle sind die bestehenden Vorsorgeverträge aufgrund akuter finanzieller Probleme vorzeitig aufgelöst worden, wodurch oftmals mehr oder weniger hohe Verluste entstanden sind. In einigen Fällen ist die Lebensversicherung auch im Zusammenhang mit einem Konkurs bzw. einer Insolvenz gepfändet worden. Eine dritte Variante besteht darin, dass die ursprünglich bestehende Trennung zwischen Privatund Betriebsvermögen aufgegeben worden ist, so dass alle verfügbaren fi­ nanziellen Ressourcen in das eigene Unternehmen geflossen und letztlich durch den Konkurs bzw. die Auflösung des Betriebs verloren gegangen sind. Im Ergebnis ist das Vorsorgeziel, d. h. der Bezug eines regelmäßigen (und nach Möglichkeit existenzsichernden) Einkommens in der Ruhestands­ phase, in keinem einzigen dieser Fälle erreicht worden. Im Hinblick auf die erweiterten Möglichkeiten der Altersvorsorge bzw. der Vermögensbildung ist hervorzuheben, dass nur 5 von 49 befragten Per­ sonen zwischenzeitlich (anteilig) eine Immobilie besessen haben; mit Aus­

130

IV. Empirische Ergebnisse (I): Risiken und Risikodimensionen

nahme von Frau B-39, einer rumänischen Spätaussiedlerin, die gemeinsam mit ihrem Ehemann ihr Haus bei der Übersiedlung nach Deutschland für einen ausgesprochen niedrigen Betrag verkauft hat, sind in den anderen Fällen auch diese Vermögenswerte im Zuge von Konkursen, Pfändungen und / oder Scheidungen verloren gegangen. Erbschaften haben nur in den wenigsten Fällen eine Rolle gespielt. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass betriebliche und private Al­ tersvorsorge in gut zwei Dritteln der Fälle im Untersuchungssample keine Rolle gespielt hat; der mit Abstand wichtigste Grund hierfür war die man­ gelnde Vorsorgefähigkeit, wobei in einzelnen Fällen auch mangelndes Vor­ sorgewissen und mangelnde Vorsorgebereitschaft hinzugekommen sind. In immerhin einem knappen Drittel der Fälle wurde hingegen durchaus Alters­ vorsorge betrieben, die jedoch im Ergebnis gescheitert ist. Maßgeblich war hier insbesondere die Kombination aus dem allgemeinen unternehmerischen Risiko der Selbstständigkeit (Konkurs, Insolvenz) und den spezifischen Vorsorgerisiken, die mit privaten Lebens- und Rentenversicherungen ver­ bunden sind (vorzeitige Auflösung, Pfändung). 7. Migrationsbiografie Bei der großen Mehrzahl der befragten Personen im Untersuchungssam­ ple handelt es sich um autochthone Deutsche ohne Zuwanderungserfahrung. Zum Zeitpunkt des Interviews hatten nur 8 von 49 Befragten eine ausländi­ sche Staatsangehörigkeit; in zwei weiteren Fällen war in der Vergangenheit eine Einbürgerung vorgenommen worden. In 14 von 49 Fällen (knapp 30 %) liegt jedoch ein Migrationshintergrund vor; die 14 Betroffenen verfügen ausnahmslos über eine eigene Zuwanderungserfahrung. Die zugewanderten Personen sind entweder Arbeitsmigranten („Gastarbeiter“) der ersten Gene­ ration, Spätaussiedler oder jüdische Kontingentflüchtlinge (vgl. Kap. V.4.). In insgesamt 8 Fällen sind die Zuwanderer erst in fortgeschrittenem, renten­ nahem oder sogar bereits im Rentenalter nach Deutschland eingewandert; die Betroffenen haben somit den Großteil ihrer Erwerbsphase nicht in Deutschland, sondern in ihrem Herkunftsland verbracht und hatten in Deutschland somit schon rein zeitlich gesehen kaum noch die Möglichkeit, durch eigene Erwerbsarbeit Rentenanwartschaften aufzubauen. In allen 8 Fällen stammen die betreffenden Personen aus ehemaligen Ostblockstaa­ ten. Es handelt sich in diesen Fällen in der Regel entweder um Spätaussied­ lerinnen (4 Fälle) oder um jüdische Kontingentflüchtlinge (3 Fälle); einen Sonderfall bildet Frau R-21, die als Ehefrau eines (mittlerweile verstobenen) abgelehnten Spätaussiedlerbewerbers keinen eigenen Spätaussiedlerstatus besitzt.



7. Migrationsbiografie131

Der wesentliche Unterschied zwischen dem Aussiedler- und dem Kon­ tingentflüchtlingsstatus besteht darin, dass (Spät-)Aussiedler in der Regel Anspruch auf Leistungen nach dem Fremdrentengesetz (FRG) haben und ihre im Herkunftsland zurückgelegten Erwerbsjahre rentenrechtlich aner­ kannt werden, während jüdische Kontingentflüchtlinge von FRG-Leistungen ausgeschlossen sind [vgl. Kap. V.4.d)]. Insgesamt haben somit 4 der 8 spät zugewanderten Personen (Fr. K-02, Fr. R-21, Herr S-30 und das Ehepaar S / K-43) keinen Anspruch auf Leistungen nach dem FRG. Eine dieser vier Personen (Frau K-02) bezieht eine kleine russische Rente; drei dieser vier Personen stammen jedoch aus der Ukraine und damit aus einem Herkunfts­ land, mit dem Deutschland bislang noch kein funktionierendes bilaterales Sozialversicherungsabkommen abgeschlossen hat und das grundsätzlich keine Renten ins Ausland überweist. Die in diesen Fällen gegebene Kombi­ nation aus spätem Zuzug, fehlendem (Spät-)Aussiedlerstatus und Herkunft aus einem nicht von Sozialversicherungsabkommen erfassten Land ist von zentraler Bedeutung für die heutige Grundsicherungsbedürftigkeit dieser Personen. In 12 von 14 Fällen haben die zugewanderten Personen zum Zeitpunkt ihrer Einreise nach Deutschland nur über schlechte bzw. rudimentäre, zum Teil sogar über gar keine Deutschkenntnisse verfügt; lediglich zwei deutsch­ stämmige Spätaussiedlerinnen (Frau T-19 und Frau B-39) hatten praktisch keine Sprachprobleme. Nur ein Teil der Befragten hat nach der Zuwande­ rung Sprach- bzw. Integrationskurse erhalten, um die bestehenden Sprach­ defizite abzubauen. Bemerkenswerterweise waren dies praktisch ausschließ­ lich Spätaussiedler und Kontingentflüchtlinge, die in den 1990er und 2000er Jahren in fortgeschrittenem Alter eingereist sind; die „Gastarbeiter“ der ersten Generation und ihre Angehörigen, die Ende der 1960er / Anfang der 1970er Jahre zugewandert sind, haben hingegen in der Regel keine Sprachoder Integrationskurse erhalten. In einer Reihe von Fällen ist es aufgrund der gegebenen Sprachbarrieren zu Integrationsproblemen auf dem deutschen Arbeitsmarkt gekommen; diese waren jedoch im Hinblick auf das spätere Alterseinkommen nicht in jedem Fall relevant, da ein Teil der Betroffenen ohnehin bereits in rentennahem Alter zugewandert ist. Besonders relevant waren die Sprachprobleme bei den „Gastarbeitern“ aus der Türkei und ihren Ehefrauen, die schon in ver­ hältnismäßig jungen Jahren nach Deutschland gezogen sind [vgl. Kap. V.4.b)]; hier ist es zum Teil zu Problemen im Umgang mit Arbeitgebern, Behörden etc. gekommen, die sich nachteilig auf die eigene Erwerbsbiografie und das spätere Alterseinkommen ausgewirkt haben. Insbesondere die Ehefrauen haben aufgrund der mangelnden Sprachkenntnisse nur über sehr einge­ schränkte Arbeitsmarktoptionen verfügt.

132

IV. Empirische Ergebnisse (I): Risiken und Risikodimensionen Tabelle 31 Migrationsbiografie

Nr.

Name

Eigene Zuwanderungserfahrung

Später Zuzug

Sprachbarrieren

Statusprobleme

Deutsche mit Jahren im Ausland

 1

Fr. R-01











 2

Fr. K-02

x

x

x





 3

Fr. K-04

x

x

x





 4

Hr. G-05









x

 5

Fr. S-08











 6

Fr. M-09











 7

Fr. M-10











 8

Fr. L-11











 9

Hr. B-13











10

Fr. V-14











11

Fr. K-15











12

Fr. F-16











13

Fr. B-18











14

Fr. T-19

x

x







15

Fr. T-20











16

Fr. R-21

x

x

x

x



17

Fr. G-22

x

x

x





18

Fr. J-23











19

Fr. Z-24











20

Hr. F-25











21

Hr. B-26











22

Hr. S-27

x



(x)

x



23

Hr. N-28











24

Hr. D-29











25

Hr. S-30

x

x

x







7. Migrationsbiografie133 Nr.

Name

Eigene Zuwanderungserfahrung

Später Zuzug

Sprachbarrieren

Statusprobleme

Deutsche mit Jahren im Ausland

26

Fr. S-32









x

27

Fr. M-33











28

Fr. W-34











29

Hr. S-35











30

Hr. L-36











31

Fr. S-37











32

Fr. G-38











33

Fr. B-39

x

x







34

Fr. E-40











35

Hr. C-41









x

36

Hr. S-42

x

x

(x)

(x)



37

Hr.+Fr. S / K-43

x

x

x





38

Hr.+Fr. A-44

x



x





39

Hr. G-45











40

Hr. T-46











41

Fr. R-47











42

Hr. B-48











43

Fr. M-49











44

Hr. E-50

x



(x)





45

Fr. H-51

x



x





46

Fr. S-52

x



x





47

Fr. S-53











48

Fr. R-54











49

Hr. F-55











Quelle: Eigene Darstellung.

134

IV. Empirische Ergebnisse (I): Risiken und Risikodimensionen

In drei Fällen hatten die Zuwanderer kleinere oder größere Probleme hinsichtlich ihres aufenthaltsrechtlichen Status: − Frau R-21 aus der Ukraine, die im Alter von 52  Jahren zusammen mit ihrem deutschstämmigen Ehemann zugewandert ist, hat aufgrund der Nicht-Anerkennung ihres Ehemannes als Spätaussiedler keinen eigenen Status nach dem Bundesvertriebenengesetz (BVFG) erhalten; sie hatte somit jahrelang keinen gesicherten Aufenthaltsstatus und auch keine Ar­ beitserlaubnis. Angesichts ihres fortgeschrittenen Alters bei der Zuwande­ rung, den mangelnden Sprachkenntnissen und dem fehlenden Anspruch auf eine „Fremdrente“ sind die aufenthaltsrechtlichen Probleme für die Grundsicherungsbedürftigkeit der Betroffenen jedoch nur von untergeord­ neter Bedeutung gewesen. − Herr S-27 aus Serbien (zum Zuwanderungszeitpunkt noch: Jugoslawien) ist nach 20-jähriger ununterbrochener Erwerbstätigkeit in Deutschland Anfang der 1990er Jahre für ein Jahr nach Serbien gereist, um seine Mutter zu pflegen. Hierdurch hat er seine Arbeits- und Aufenthaltsgeneh­ migung verloren; er erhielt eine Aufforderung zur Ausreise und stand zwischenzeitlich kurz vor der Ausweisung, die er nur durch die Heirat mit einer deutschen Frau vermeiden konnte. Aufgrund der mehrjährigen erzwungenen Erwerbsunterbrechung kam es zur dauerhaften Langzeitar­ beitslosigkeit; in diesem Falle stellen die aufenthaltsrechtlichen Probleme somit den zentralen Grund für die heutige Grundsicherungsbedürftigkeit dar. − Herr S-42 aus Ungarn ist als Asylbewerber zugewandert; bis zur Aner­ kennung als Asylberechtigter nach ca. 3 Jahren hatte er nur eine proviso­ rische und eingeschränkte Arbeitserlaubnis. In den 1980er Jahren galt Herr S-42 als staatenlos; erst mit dem Eintritt Ungarns in die EU erhielt er eine unbegrenzte Aufenthaltserlaubnis. Der jahrelang ungeklärte auf­ enthaltsrechtliche Status hat sich jedoch nicht unmittelbar negativ auf die Arbeitsmarktchancen des Betroffenen ausgewirkt, so dass die Relevanz für die heutige Grundsicherungsbedürftigkeit in diesem Falle eher als gering einzuschätzen ist. Abgesehen von den zugewanderten Personen finden sich im Sample noch ein paar weitere Fälle, in denen Migrationsbewegungen eine Rolle gespielt haben. In drei Fällen haben die Befragten einige Jahre im Ausland ver­ bracht: − Herr G-05 hat 5  Jahre in Frankreich (bzw. als Angehöriger der Fremden­ legion überwiegend in Tunesien) gearbeitet; in dieser Zeit hat er sich einen Anspruch auf eine kleine französische Sonderrente erworben, so dass sich die Zeit im Ausland sogar eher positiv auf das eigenständige Alterseinkommen ausgewirkt hat.



8. Risiken und Risikodimensionen: Zusammenfassung

135

− Frau S-32, die mit einem Jordanier verheiratet gewesen ist, hat im Rah­ men von zwei Aufenthalten insgesamt 6 Jahre in Jordanien verbracht, wo sie nicht erwerbstätig gewesen ist. Die Pendelbewegung von Deutschland nach Jordanien und zurück hat sicherlich zu ihrer insgesamt eher diskon­ tinuierlichen Erwerbsbiografie beigetragen, ist aber wahrscheinlich nicht von zentraler Bedeutung für die heutige Grundsicherungsbedürftigkeit gewesen. − Herr C-41 hat die letzten 4  Jahre seiner Erwerbskarriere als freiberufli­ cher Coach in Österreich gearbeitet. Aufgrund seiner äußerst angespann­ ten Situation hat Herr C-41 jedoch seine Pflichtbeiträge zur österreichi­ schen Pensionsversicherungsanstalt nicht bezahlt, so dass in dieser Zeit keine Anwartschaften erworben wurden, sondern vielmehr Schulden ge­ genüber dem Sozialversicherungsträger entstanden sind. Da diese Episode nur kurz gewesen ist, bliebt ihr Einfluss auf das heutige Alterseinkommen jedoch sehr begrenzt. Darüber hinaus ist es in zwei Fällen (Herr G-05, Frau M-10) zu einer innerdeutschen Migration (Flucht aus der DDR in die BRD) gekommen; die beiden Betroffenen haben aufgrund ihres niedrigen Alters, fehlender Quali­ fikationen und fehlenden familiären Rückhalts große Probleme bei der Inte­ gration in den westdeutschen Arbeitsmarkt gehabt, so dass die Übersiedlung insgesamt als eher nachteilig angesehen werden muss. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Personen mit eigener Zuwanderungserfahrung im Sample typischerweise mit erheblichen Sprach­ barrieren konfrontiert gewesen sind, die ihre Arbeitsmarktchancen und zum Teil auch ihre allgemeine gesellschaftliche Integration stark behindert ha­ ben. Die zuwanderungsbedingten Sprach- und Integrationsprobleme sind als biografische Determinante der Grundsicherungsbedürftigkeit allerdings in erster Linie bei den (türkischen) Arbeitsmigrantinnen und -migranten der ersten Generation relevant gewesen. Bei den bereits in fortgeschrittenem Alter zugewanderten Spätaussiedlern und Kontingentflüchtlingen sind Sprach- und Arbeitsmarktprobleme zwar auch gegeben gewesen, fallen al­ lerdings in der Gesamtbetrachtung als Kausalfaktor weniger stark ins Ge­ wicht. Entscheidend ist in diesen Fällen eher die rentenrechtliche Bewertung der Erwerbsbiografie im Herkunftsland gewesen. 8. Risiken und Risikodimensionen: Zusammenfassung Fasst man die in den vorangegangenen Abschnitten vorgenommene, de­ taillierte Analyse der verschiedenen Dimensionen der individuellen Biogra­ fien und der mit diesen Dimensionen verknüpften spezifischen Risiken und potenziellen Belastungen zu individuellen Gesamtrisikoprofilen zusammen,

136

IV. Empirische Ergebnisse (I): Risiken und Risikodimensionen

so zeigt sich, dass jeder einzelne der 49 untersuchten Fälle eine eigene, spezifische Kombination von Risiken und Belastungen aufweist. In den wenigsten Fällen lässt sich die individuelle Grundsicherungsbedürftigkeit dabei auf lediglich eine einzige Ursache bzw. ein einziges Risiko zurück­ führen; die individuelle Grundsicherungsbedürftigkeit ist vielmehr in der Regel multifaktoriell bedingt. Im Mittelpunkt der biografischen Determinanten der Grundsicherungsbe­ dürftigkeit steht sicherlich die Erwerbsbiografie; 42 von 49 Fällen weisen diesbezügliche Belastungen auf. Zumindest für die 7 aus der ehemaligen ­Sowjetunion bzw. ihren Nachfolgestaaten zugewanderten Personen lässt sich jedoch feststellen, dass ihre im Herkunftsland zurückgelegten, relativ langen und kontinuierlichen Erwerbskarrieren in den meisten Fällen bereits für sich genommen ausgereicht hätten, um die individuelle Grundsicherungsbedürf­ tigkeit zu vermeiden, wenn die betreffenden Arbeitsjahre rentenrechtlich voll anerkannt und wie in Deutschland absolvierte Jahre behandelt worden wären. In diesen Fällen ist daher streng genommen nicht von einer gescheiterten Erwerbsbiografie zu sprechen; vielmehr ist es der Migrationshintergrund der Betroffenen, der für die unzureichenden Alterseinkünfte verantwortlich ist. In einer Reihe von weiteren Fällen sind zwar keine ausreichenden Ren­ tenanwartschaften durch eigene Erwerbstätigkeit aufgebaut worden; das ei­ gentliche Scheitern und der eigentliche Grund für die heutige Grundsiche­ rungsbedürftigkeit sind jedoch in anderen Aspekten der Biografie, beispiels­ weise im Scheitern der Partnerschaft zu suchen. Generell ist rund die Hälfte der Fälle von Risiken und Belastungen in der Familien- und Partner­ schaftsbiografie betroffen; in 23 von 26 Fällen handelt es sich bei den Be­ troffenen um Frauen. Somit weisen rund zwei Drittel der Frauen im Samp­ le familienbiografische Belastungen auf; typischerweise handelt es sich dabei um Kinderbetreuungspflichten, die zu erheblichen Einschränkungen der Erwerbsarbeit geführt haben, sowie um die langfristigen Konsequenzen von Scheidungen. In 20 von 49 Fällen haben gesundheitliche Belastungen eine Rolle ge­ spielt; das Spektrum reicht hier von psychischen Problemen über Unfälle und chronische Krankheiten bis hin zur Erwerbsminderung. Die tatsächliche Relevanz der gesundheitlichen Probleme lässt sich nicht in jedem Einzelfall verlässlich abschätzen; es ist davon auszugehen, dass in rund einem Fünftel der Fälle die Gesundheitsprobleme von ausschlaggebender Bedeutung ge­ wesen sind. Ein unmittelbarer negativer Effekt von Belastungsfaktoren auf der Bil­ dungsdimension auf das spätere Alterseinkommen lässt sich nur für wenige Fälle nachweisen; auch hier ist immer die Frage zu stellen, inwiefern die Betroffenen bei einem höheren Bildungsstand in ihrem Erwerbsleben tat­



8. Risiken und Risikodimensionen: Zusammenfassung137

sächlich mehr Jahre sozialversicherungspflichtige gearbeitet bzw. besser verdient und somit auch höhere Anwartschaften erworben hätten. Wie be­ reits im entsprechenden Teilkapitel erwähnt, weicht die Verteilung der Bil­ dungsniveaus im Untersuchungssample allerdings erheblich von dem Vertei­ lungsmuster ab, dass andere Studien für die Gruppe der Grundsicherungs­ empfänger im Rentenalter ermittelt haben, so dass die diesbezüglichen Er­ gebnisse der vorliegenden Studie zumindest ein Stück weit unter Vorbehalt zu betrachten sind. Die Vorsorgebiografie ist insbesondere dort relevant gewesen, wo die Betroffenen zwischenzeitlich selbstständig und in dieser Zeit nicht in der GRV pflichtversichert gewesen sind, da die private Altersvorsorge in diesen Fällen ersetzenden und nicht lediglich ergänzenden Charakter gehabt hat. Das Scheitern der Vorsorgebiografie ist in rund einem Fünftel der Fälle von ausschlaggebender Bedeutung für die spätere Grundsicherungsbedürftigkeit gewesen. In der Mehrzahl der Fälle war die Migrationsbiografie nicht relevant. Bei den insgesamt 14 Fällen mit eigenem Migrationshintergrund muss zwischen den verschiedenen Zuwanderergruppen und ihren spezifischen rechtlichen Statusmerkmalen stärker differenziert werden, als dies in diesem Kapitel getan worden ist; dies wird im folgenden Kapitel nachgeholt (vgl. Kap. V.4.). Es lässt sich jedoch festhalten, dass in den meisten der 14 Fälle mit Mi­ grationshintergrund sprachliche Probleme, oftmals in Kombination mit Inte­ grationsproblemen auf dem deutschen Arbeitsmarkt, eine mehr oder weniger wichtige Rolle gespielt haben. Sonstige Risikofaktoren sind nur in wenigen Fällen relevant gewesen; in diesen Fällen handelt es sich meistens um Alkohol- und sonstige Suchtpro­ bleme sowie im weitesten Sinne um abweichendes Verhalten der Betroffe­ nen; maßgeblich ist hier in der Regel eine starke Kumulation von Risiko­ faktoren gewesen, die zu sozialen Ausgrenzungsprozessen geführt hat (vgl. Kap. V.6.). Bei allen Unterschieden in den individuellen Risikoprofilen weisen die 49 Fälle im Untersuchungssample jedoch eine Reihe grundsätzlicher Gemein­ samkeiten auf. Diese lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: − Erstens sind aufgrund zu kurzer bzw. stark lückenhafter (oder größtenteils im Ausland absolvierter) Erwerbsbiografien keine ausreichenden Anwart­ schaften in der gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) aufgebaut wor­ den. Hält man sich die Tatsache vor Augen, dass aktuell rund 28,5  Jahre sozialversicherungspflichtiger Vollzeiterwerbstätigkeit mit Durchschnitts­ verdienst notwendig sind, um eine GRV-Altersrente in Höhe der Grund­ sicherungsschwelle zu erzielen, so sind die meisten Befragten im Rahmen ihrer Erwerbsbiografie noch nicht einmal in die Nähe eines solchen

138

IV. Empirische Ergebnisse (I): Risiken und Risikodimensionen Tabelle 32 Gesamtrisikoprofil der Fälle

Nr.

Name

Erwerb

Familie

Gesundheit

Bildung

Vorsorge

Migration

Sons­ tiges

 1

Fr. R-01

x

x

(x)









 2

Fr. K-02











x



 3

Fr. K-04











x



 4

Hr. G-05

x



x

x





x

 5

Fr. S-08

x

x

x

(x)







 6

Fr. M-09

x







x





 7

Fr. M-10

x

x

x

x

x





 8

Fr. L-11

(x)

x











 9

Hr. B-13

x

(x)

x







x

10

Fr. V-14

(x)

x











11

Fr. K-15

x

(x)

x









12

Fr. F-16

x

(x)

x









13

Fr. B-18

x

x

x









14

Fr. T-19











x



15

Fr. T-20

(x)

x



(x)







16

Fr. R-21











x



17

Fr. G-22











x



18

Fr. J-23

(x)

x











19

Fr. Z-24

x

x











20

Hr. F-25

x



(x)



x





21

Hr. B-26

x



(x)



x





22

Hr. S-27

x









x



23

Hr. N-28

x







x





24

Hr. D-29

(x)

x





x





25

Hr. S-30











x



26

Fr. S-32

x

x







(x)





8. Risiken und Risikodimensionen: Zusammenfassung139 Nr.

Name

Erwerb

Familie

Gesundheit

Bildung

Vorsorge

Migration

Sons­ tiges

27

Fr. M-33

x

(x)

x



x



x

28

Fr. W-34

x

x











29

Hr. S-35

x



x



x





30

Hr. L-36

x

(x)

x



x





31

Fr. S-37

x

x



(x)







32

Fr. G-38

x

x





x





33

Fr. B-39

x

x

x

(x)



x



34

Fr. E-40

x

x



x







35

Hr. C-41

x



(x)



x





36

Hr. S-42

x













37

Hr.+Fr. S / K-43

-









x



38

Hr.+Fr. A-44

x

– / x

x

– / x



x



39

Hr. G-45

(x)







x





40

Hr. T-46

x







x





41

Fr. R-47

(x)

x



(x)







42

Hr. B-48

x



x









43

Fr. M-49

x

x











44

Hr. E-50

(x)





(x)

x

x



45

Fr. H-51

x

x



x



x



46

Fr. S-52

x

x



x



x



47

Fr. S-53

(x)



x







x

48

Fr. R-54

x



x









49

Hr. F-55

(x)



x



x





Quelle: Eigene Darstellung.

140

IV. Empirische Ergebnisse (I): Risiken und Risikodimensionen

Wertes gekommen. Hier ist ganz eindeutig nicht die Höhe der durch­ schnittlichen Verdienste während der sozialversicherungspflichtigen Er­ werbsjahre relevant gewesen (obwohl die Entgelte in vielen Fällen eher niedrig gewesen sind); entscheidend ist vielmehr die geringe durch­ schnittliche Anzahl der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsjahre, die im Durchschnitt der 49 Fälle bei gerade einmal 15  Jahren liegt. − Zweitens ist im Ergebnis auch keine ausreichende (zusätzliche) Altersvor­ sorge außerhalb der GRV, beispielsweise im Rahmen betrieblicher oder privater Vorsorgesysteme, getroffen worden. Während in zwei Drittel der Fälle keine Vorsorgefähigkeit oder -bereitschaft gegeben war, ist es in immerhin einem knappen Drittel der Fälle zu einem Scheitern der indivi­ duellen Vorsorgestrategie, zu einer vorzeitigen Aufzehrung oder gar ei­ nem kompletten Verlust der Vorsorgeersparnisse gekommen. In 47 von 49 Fällen werden daher faktisch überhaupt gar keine Leistungen aus betrieb­ licher oder privater Altersvorsorge bezogen. − Drittens kann das nicht existenzsichernde eigene Einkommen der Betrof­ fenen in keinem einzigen Fall im Haushaltskontext kompensiert, d. h. durch ausreichende Alterseinkünfte eines (Ehe-)Partners ausgeglichen werden. In 42 von 49 Fällen sind die Befragten alleinlebend; knapp die Hälfte der Befragten ist geschieden, ein weiteres Viertel ist verwitwet. Welche spezifische Kombination von Risiko- und Belastungsfaktoren auch immer im individuellen Lebensverlauf maßgeblich gewesen ist: Im Ergebnis haben die drei zentralen Formen der individuellen Versorgung im Alter (Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung, Einkünfte aus be­ trieblicher bzw. privater Vorsorge und Vermögensbildung sowie Absicherung im Haushaltskontext durch den Ehepartner) in den hier untersuchten Fällen weder alleine noch in ihrem Zusammenspiel ein ausreichendes, d. h. exis­ tenzsicherndes Einkommensniveau gewährleistet.

V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen 1. Einleitung und Überblick Während im vorangegangenen Kapitel die verschiedenen biografischen (Risiko-)Dimensionen und die Häufigkeit und Relevanz der einzelnen Risi­ ko- und Belastungsfaktoren im Mittelpunkt der fallübergreifenden Analyse standen, soll sich der Blick im nachfolgenden Kapitel stärker auf die betrof­ fenen Personen selbst und ihre individuellen „Lebengeschichten“ richten. Hierbei geht es insbesondere um die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwi­ schen den Einzelfällen und die Frage, inwiefern sich im Hinblick auf die vielfältigen persönlichen Lebenswege, die letztlich zur individuellen Grund­ sicherungsbedürftigkeit im Alter geführt haben, übergreifende „Cluster“ bzw. Biografietypen identifizieren und im Sinne konkreter Risikogruppen voneinander abgrenzen lassen. Zu diesem Zweck sind die 49 Fälle des Untersuchungssamples im Rah­ men eines mehrstufigen Verfahrens der empirisch begründeten Typenbildung im Hinblick auf die relevanten Vergleichsdimensionen erfasst, anhand em­ pirischer Regelmäßigkeiten gruppiert, im Hinblick auf inhaltliche Sinnzu­ sammenhänge analysiert und schließlich hinsichtlich „typischer“ Biografie­ muster charakterisiert worden (vgl. Kap. III.3.). Als Ergebnis der empirisch begründeten Typenbildung lassen sich innerhalb des Untersuchungssamples folgende Teilgruppen unterscheiden: − Die größte Gruppe im Untersuchungssample bilden „familienorientierte“ Frauen, d. h. Frauen, deren Lebensmodell sich im Ehekontext an einem männlichen Haupt- bzw. Alleinverdienermodell ausgerichtet hat und de­ ren Erwerbs- und Versichertenbiografie daher größere Lücken aufgrund von ehe- und familienbedingten Erwerbsunterbrechungen aufweist. Hier­ bei handelt es sich um ein Modell, das im Wesentlichen in der alten BRD gelebt worden ist; dementsprechend kommen 15 der insgesamt 16 Frauen in dieser Gruppe aus den alten Bundesländern. − Eine zweite Gruppe, die eher männlich dominiert ist, wird von den ehe­ maligen Selbstständigen gebildet. Die Personen in dieser Gruppe haben gemeinsam, dass sie in ihrer Erwerbsbiografie längere Phasen der nicht obligatorisch rentenversicherten Selbstständigkeit aufweisen und ihre Versichertenbiografie in der GRV entsprechende Lücken aufweist. Diese Gruppe umfasst insgesamt 11 Fälle, davon 10 Männer und eine Frau.

142

V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen Tabelle 33 Fälle und Risikogruppen im Untersuchungssample

I Familienorientierte Frauen

II Ehemalige Selbstständige

Frau Frau Frau Frau Frau Frau Frau Frau Frau Frau Frau Frau Frau Frau Frau Frau

Frau Herr Herr Herr Herr Herr Herr Herr Herr Herr Herr

R-01 S-08 L-11 V-14 K-15 F-16 B-18 T-20 J-23 Z-24 S-32 W-34 S-37 G-38 E-40 R-47

M-09 F-25 B-26 N-28 D-29 S-35 L-36 C-41 G-45 T-46 F-55

III Zugewanderte Personen

IV Umbruchsgeprägte Ostdeutsche

Arbeitsmigranten der ersten Generation Herr S-27 Herr S-42 Herr / Frau A-44 Herr E-50 Frau H-51 Frau S-52

Herr B-48 Frau M-49 Frau R-54

V Komplex Diskontinuierliche Herr Frau Herr Frau Frau

G-05 M-10 B-13 M-33 S-53

(Spät-)Aussiedler Frau K-02 Frau T-19 Frau R-21 Frau G-22 Frau B-39 Jüdische Kontingentflüchtlinge Frau K-04 Herr S-30 Herr / Frau S / K-43

Quelle: Eigene Darstellung.

− Eine dritte große Gruppe bilden Personen mit Zuwanderungshintergrund (14 Fälle, davon 4 Männer, 8 Frauen und 2 Ehepaare). Ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit (6 Fälle mit deutscher, 8 Fälle mit ausländischer Staatsangehörigkeit) weisen alle diese Personen eine eigene Zuwande­ rungserfahrung auf, sind also aus dem Ausland nach Deutschland zuge­ wandert. Innerhalb der Gruppe der Zuwanderer lässt sich zwischen drei relevanten Untergruppen unterscheiden: Arbeitsmigranten („Gastarbeiter“) der ersten Generation, die zwischen 1955 und 1973 (Anwerbephase) eingereist sind, und ihre Ehepartner (6 Fälle), (Spät-)Aussiedler bzw. ihre Ehepartner, die in den 1990er und 2000er Jahren in fortgeschrittenem Alter zugewandert sind (5 Fälle), sowie jüdische Kontingentflüchtlinge und ihre Ehepartner, die ebenfalls nach 1990 in fortgeschrittenem Alter zugewandert sind (3 Fälle).



1. Einleitung und Überblick143

− Umbruchsgeprägte Ostdeutsche bilden die vierte und mit drei Fällen (zwei Frauen, ein Mann) die kleinste Gruppe im Untersuchungssample. Die Personen in dieser Gruppe zeichnen sich dadurch aus, dass sie aus den neuen Bundesländern stammen, im Zusammenhang mit den ökono­ mischen Umbrüchen und der strukturellen Massenarbeitslosigkeit nach der Wiedervereinigung einen deutlichen „Knick“ in ihrer Erwerbsbiogra­ fie hinnehmen mussten und dementsprechend nach 1990 große Lücken in ihrer Versichertenbiografie aufweisen. − Die fünfte und letzte Teilgruppe im Untersuchungssample ist schließlich die Gruppe der „Komplex Diskontinuierlichen“ (5 Fälle, davon 2 Männer und 3 Frauen). Die Personen in dieser Gruppe haben gemeinsam, dass sie besonders diskontinuierliche Biografien aufweisen und dass es in ihren Lebensverläufen besonders häufig zu Risikokumulationen, Brüchen und Verwerfungen auf verschiedenen Biografiedimensionen gekommen ist. An dieser Einteilung fällt zunächst einmal auf, dass es im Rahmen der vorliegenden Typologie keine eigenständige Teilgruppe der „langjährigen Geringverdiener“, keine Gruppe der „Langzeitarbeitslosen“ und auch keine Gruppe der „Erwerbsgeminderten“ gibt- allesamt Risikogruppen, die in der politischen und medialen Diskussion um Altersarmut in der Regel an pro­ minenter Stelle genannt werden. Diese auf den ersten Blick möglicherweise überraschende Tatsache lässt sich allerdings inhaltlich begründen. So zeigt die Analyse der individuellen Erwerbsbiografien (vgl. Kap. IV.2.), dass sich zumindest im Untersuchungssample der vorliegenden Studie kaum Personen befinden, die das Kriterium der langjährigen sozialversicherungspflichtigen (Vollzeit-)Erwerbstätigkeit erfüllen, sieht man einmal von den (Spät-)Aus­ siedlern und den jüdischen Kontingentflüchtlingen ab, die ihr Arbeitsleben überwiegend auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion verbracht haben. Unter denjenigen, die ihr Leben überwiegend in Deutschland verbracht ha­ ben, findet sich hingegen nur ein einziger Fall mit mehr als 30 Beitragsjah­ ren. Im vorliegenden Sample gibt es somit faktisch keine langjährigen Geringverdiener. Das Kriterium der Langzeitarbeitslosigkeit hingegen ist in rund 80 % der Fälle gegeben, so dass es als prägendes Unterscheidungsmerkmal für die Typenbildung praktisch ausscheidet. Relevant für die Unterscheidung ver­ schiedener Typen ist weniger die Tatsache der Langzeitarbeitslosigkeit selbst, sondern vielmehr ihr jeweiliger Hintergrund: Folgt die Phase der Langzeitarbeitslosigkeit einer längeren familienbedingten Erwerbsunterbre­ chung oder vielmehr einer längeren Phase der Selbstständigkeit? Ist die Langzeitarbeitslosigkeit dem Zuwanderungshintergrund der betreffenden Person, den Strukturbrüchen des ostdeutschen Arbeitsmarktes oder vielmehr individuellen Sonderfaktoren wie beispielsweise einem längeren Gefängnis­ aufenthalt der befragten Person geschuldet? Langzeitarbeitslosigkeit ist so­

144

V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen

mit ein biografisches Risiko, dass in mehreren Teilgruppen des Samples vorkommt und dabei jeweils in einem anderen Gesamtkontext steht. Ähnliches trifft auch auf das (in 7 von 49 Fällen gegebene) Merkmal der Erwerbsminderung zu. Grundsätzlich ist bei jeder Typenbildung darauf zu achten, dass sich die Elemente innerhalb eines Typus möglichst ähnlich sind (interne Homogenität), während sich die verschiedenen Typen voneinander möglichst stark unterscheiden (externe Heterogenität). Im Falle des Risikos der Erwerbsminderung ergibt die fallvergleichende Kontrastierung, dass sich sowohl der individuelle biografische Entstehungskontext der Erwerbsminde­ rung als auch ihre jeweilige Relevanz für das spätere Alterseinkommen zwischen den betroffenen Fällen so stark unterscheiden, dass es angesichts dieser Heterogenität nicht sinnvoll wäre, die betroffenen Personen zu einer Gruppe der „Erwerbsgeminderten“ zusammenzufassen. Selbstverständlich weisen auch die im Rahmen der vorliegenden Typolo­ gie unterschiedenen Teilgruppen vor dem Hintergrund der grundsätzlichen Komplexität und Mehrdimensionalität individueller Biografien ein beträcht­ liches Maß an interner Heterogenität auf, was sich angesichts der geringen Fallzahl und der Vielzahl der zu berücksichtigenden Merkmale kaum ver­ meiden lässt. Nichtsdestotrotz lässt sich zeigen, dass sich die gebildeten Typen und ihre jeweils maßgeblichen Merkmalskombinationen nicht nur durch nachweisbare empirische Regelmäßigkeiten (Kausaladäquanz), son­ dern insbesondere auch durch starke inhaltliche Sinnzusammenhänge (Sinn­ adäquanz) auszeichnen.19 In den folgenden Abschnitten werden die verschiedenen Teilgruppen des Untersuchungssamples näher beschrieben und analysiert. Die Teilkapitel folgen alle der gleichen Grundstruktur: Zunächst werden in einem ersten Schritt die gemeinsamen Merkmale und die biografierelevanten (renten­ rechtlichen sowie gegebenenfalls historischen und / oder zuwanderungsrecht­ lichen) Rahmenbedingungen der jeweiligen Teilgruppe knapp umrissen, dann werden in einem zweiten Schritt ausgewählte, repräsentative Fallbei­ spiele präsentiert, um dann in einem dritten Schritt fallübergreifende Bio­ grafiemuster und Risikokonstellationen herauszuarbeiten, die als „typisch“ für die betreffende Teilgruppe gelten können.

19  Zu den Kriterien der Kausal- und Sinnadäquanz bei der empirisch begründeten Typenbildung vgl. Kluge (2000).



2. Familienorientierte Frauen

145

2. Familienorientierte Frauen a) Gemeinsame Merkmale und Rahmenbedingungen Familienorientierte (westdeutsche) Frauen bilden innerhalb der weiblichen Bezieherinnen der Grundsicherung im Alter die quantitativ wohl mit Ab­ stand größte Gruppe. Sie weisen typischerweise Erwerbsbiografien auf, die von dem eher „männlich“ geprägten Biografietypus einer kontinuierlichen Vollzeiterwerbstätigkeit mit langjähriger und (nahezu) lückenloser Beitrags­ zahlung erheblich abweichen. Die Frauen, die dieser Gruppe zuzuordnen sind, weisen typischerweise vier Merkmale auf: − Es besteht mindestens eine mehrjährige Lücke in der Versichertenbiografie, die durch Nicht-Erwerbsarbeit bzw. durch sozialversicherungsfreie Arbeit (insbes. Schwarzarbeit) geprägt ist. − Diese Beitragslücke ist familienbedingt, d. h. sie ist im Wesentlichen auf den Ehekontext, auf Haushaltsführung, Kinderbetreuungsverpflichtungen oder Pflegetätigkeiten zurückzuführen. − Der familienbedingte Ausstieg aus der sozialversicherungspflichtigen Er­ werbstätigkeit stellt einen maßgeblichen Faktor für das nicht existenzsichernde eigenständige Einkommen im Alter dar. − Es wird keine bzw. keine ausreichende zusätzliche Absicherung über den Haushaltskontext erzielt, d. h. es besteht kein bzw. kein ausreichendes zusätzliches Einkommen eines unterhaltspflichtigen Partners, durch das die Grundsicherungsbedürftigkeit vermieden werden kann. Die Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter wird in dieser Gruppe im Wesentlichen durch eine Kombination von zwei Faktoren verursacht: Zum einen die mittel- und unmittelbaren finanziellen Konsequenzen der ehebzw. familienbedingten Einschränkung der eigenen Erwerbs- und Vorsorge­ biografie und zum anderen das Fehlen eines Ehe- oder Lebenspartners, der das fehlende eigene Einkommen im Alter dauerhaft ausgleicht. Innerhalb dieser Grundkonstellation familienbiografisch bedingter ungenügender ei­ genständiger Altersvorsorge und fehlenden (ausreichenden) Partnereinkom­ mens existieren vielfältige Varianten; in vielen Fällen sind weitere Risiko­ faktoren (insbesondere hinsichtlich der eigenen Gesundheitsbiografie) hin­ zugekommen. Bis auf eine Ausnahme verfügen alle „familienorientierten“ Frauen im Untersuchungssample über eine eigene GRV-Altersrente; diese ist jedoch mit einem durchschnittlichen Zahlbetrag von ca. 355 Euro / Monat sehr niedrig. Berücksichtigt man zudem, dass diesem Betrag in der Regel auch Kindererziehungs- und Pflegezeiten, sonstige Ausgleichstatbestände (insbesondere für Arbeitslosigkeit) und in einigen Fällen auch Anwartschaf­ ten aus einem Versorgungsausgleich zugrunde liegen, so zeigt sich, dass aus

146

V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen Tabelle 34 Familienorientierte (westdeutsche) Frauen im Sample

Nr.

Name

Geb.

Fam.stand

Kinder

Scheidung

Verwitwung

GRV Alter

GRV Witwen

2. / 3. Säule

 1

R-01

1946

G

4

2



370





 2

S-08

1944

G

2

1



400





 3

L-11

1944

G

2

2



815





 4

V-14

1946

G

1

1



405



121

 5

K-15

1937

G

4

4



506





 6

F-16

1946

G

1

1



300





 7

B-18

1943

W

1



1



630



 8

T-20

1943

H

1



1

380





 9

J-23

1941

W

6



1

162

342



10

Z-24

1943

W

1



1

149

572



11

S-32

1946

W

3

1

1

379

153



12

W-34

1946

L

2





547





13

S-37

1942

W

1



1

 98

209



14

G-38

1941

G

3

1



615





15

E-40

1943

W

2

1

1

200

472



16

R-47

1938

G

4

3



486





Familienstand: H = verheiratet, L = Ledig, W = Verwitwet, G = Geschieden. Quelle: Eigene Darstellung.

eigener Erwerbstätigkeit heraus nur äußerst geringe durchschnittliche Ren­ tenanwartschaften erworben worden sind. Die Höhe der individuellen GRV-Altersrente bestimmt sich im Wesent­ lichen aus der Anzahl der Beitragsjahre (Faktor Zeit) und der durchschnitt­ lichen Höhe der verbreitragten Entgelts (Faktor Geld). Betrachtet man die Erwerbs- und Versicherungsbiografien der „familienorientierten“ Frauen im vorliegenden Sample, so zeigt sich, dass in praktisch allen Fällen der Faktor Zeit entscheidend gewesen ist. Zwar haben viele Frauen im Rahmen ihrer Erwerbskarriere oftmals für eher niedrige Stundenlöhne gearbeitet; von weitaus größerem Gewicht ist aber die Tatsache, dass die meisten Betroffe­ nen nur sehr wenige Jahre in sozialversicherungspflichtiger (Vollzeit-)Be­



2. Familienorientierte Frauen147

schäftigung gewesen sind. So hat (bis auf eine Ausnahme) keine der insge­ samt 15 Frauen in dieser Gruppe länger als 15 Jahre in sozialversicherungs­ pflichtiger Vollzeit gearbeitet; rechnet man die sozialversicherungspflichtigen Erwerbsjahre (Voll- und Teilzeit) der Frauen in dieser Teilgruppe überschlä­ gig in Vollzeitäquivalente um, so ergibt sich ein geschätzter Durchschnitts­ wert von gerade einmal 10 Jahren. Die Gruppe der hier unter dem Oberbegriff „familienorientiert“ zusam­ mengefassten Frauen ist in sich durchaus heterogen; weitere Unterteilungen sind daher sinnvoll, wobei die Differenzierungsmöglichkeiten angesichts der niedrigen Fallzahlen begrenzt sind. Hier lassen sich zunächst einmal zwei große Gruppen identifizieren, die einen Großteil der Fälle abdecken: verwitwete Frauen und geschiedene Frauen. In unserem Sample weisen diese beiden Gruppen deutliche Unterschiede hinsichtlich der Höhe und der Zu­ sammensetzung des eigenen, anrechnungsfähigen Einkommens auf. Be­ trachtet man zunächst nur die eigene Altersrente der GRV, so liegt diese bei den geschiedenen Frauen (487 Euro / Monat) im Durchschnitt deutlich höher als bei den verwitweten Frauen (165 Euro / Monat). Dies ist einerseits auf eine höhere Erwerbsbeteiligung der Geschiedenen gegenüber den Verwitwe­ ten zurückzuführen (insbesondere aufgrund eines häufigeren Wiedereinstiegs in das Erwerbsleben im Sinne des Drei-Phasen-Modells), beruht in einzel­ nen Fällen aber auch auf zusätzlichen Anwartschaften, die bei der Scheidung im Rahmen eines Versorgungsausgleiches übertragen worden sind. Die durchschnittliche GRV-Altersrente der geschiedenen Grundsicherungsbezie­ herinnen im Untersuchungssample lag damit nur knapp unter dem Durch­ schnitt des durchschnittlichen Zahlbetrags der Altersrente der westdeutschen Frauen im Rentenbestand 2012 (508 Euro, vgl. DRV Bund 2013). Im Hinblick auf das durchschnittliche anrechnungsfähige Gesamteinkom­ men der Grundsicherungsbezieherinnen zeigt sich allerdings, dass das Ein­ kommen der Witwen im Untersuchungssample (577 Euro / Monat) etwas höher liegt als dasjenige der Geschiedenen (504 Euro / Monat), da erstere in der Regel zwei Renten beziehen: Eine eigene Altersrente und eine abgelei­ tete Witwenrente. Bei den verwitweten Grundsicherungsempfängerinnen, die zwei Renten beziehen, liegt die das anrechnungsfähige Gesamteinkom­ men daher oftmals nur vergleichsweise knapp unter der dem durchschnitt­ lichen Bruttobedarf der Grundsicherung. Die beiden Teilgruppen der Geschiedenen und der Witwen unterscheiden sich jedoch nicht nur hinsichtlich ihres eigenen Einkommens, sondern zu­ mindest der Tendenz nach auch hinsichtlich der diesem Einkommen typi­ scherweise zugrunde liegenden Biografiemuster. In diesem Zusammenhang ist die Unterscheidung zwischen einem Zwei-Phasen-Modell und einem Drei-Phasen-Modell der Erwerbstätigkeit sinnvoll, wobei die Übergänge zwischen beiden Biografietypen empirisch letztlich immer fließend sind. Im

148

V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen

Rahmen des Zwei-Phasen-Modells wird die in der ersten Phase ausgeübte Erwerbstätigkeit zu einem bestimmten Zeitpunkt, in der Regel mit dem Eintritt in die Ehe oder mit der Geburt des ersten Kindes, dauerhaft aufge­ geben; es besteht (zumindest zum Zeitpunkt des Erwerbsaustritts) keine oder zumindest keine ausdrückliche Absicht, wieder in das Erwerbsleben zurückzukehren. Die zweite Phase, die im Prinzip bis zum Renteneintritt dauert, ist durch Familienarbeit und Haushaltsführung geprägt. Im Rahmen des Drei-Phasen-Modells stellt die Phase der Nicht-Erwerbstätigkeit zumin­ dest der ursprünglichen Absicht nach nur eine vorübergehende Episode dar; zu einem bestimmten Zeitpunkt (häufig dann, wenn der Betreuungsbedarf der Kinder aufgrund ihres Alters bereits etwas abgenommen hat), wird in einer dritten Phase der Erwerbsbiografie der Wiedereinstieg in das Erwerbs­ leben angestrebt. Dieser Wiedereinstieg kann in Vollzeit, in Teilzeit oder über geringfügige Beschäftigung erfolgen und kann im Hinblick auf das angestrebte Beschäftigungsvolumen und die angestrebte Beschäftigungssta­ bilität mehr oder weniger erfolgreich verlaufen. Selbstverständlich handelt es sich hier um stark vereinfachende Ideal­ typen. In der Realität können diese beiden Grundmodelle sehr ähnlich aussehen, etwa dann, wenn sich Frauen, deren Biografie zunächst einem Zwei-Phasen-Modell entspricht, schließlich doch noch dazu entscheiden, wieder auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen zu wollen, oder wenn Frauen, die zunächst ein Drei-Phasen-Modell angestrebt haben, der Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt nicht gelingt und sie sich in die „stille Reserve“ zurück­ ziehen. Zudem ist es in der Realität oftmals so, dass die individuellen Biografien deutlich komplexer und diskontinuierlicher sind, als es die Pha­ senheuristik eines Zwei- oder Drei-Phasen-Modells nahelegt. Nichtsdestotrotz lässt sich in einer ersten Annäherung festhalten, dass das Zwei-Phasen-Modell zumindest der Tendenz nach eher der Teilgruppe der verwitweten Frauen entspricht, während in der Teilgruppe der geschiedenen Frauen eher ein Drei-Phasen-Modell vorherrscht. Die Teilgruppe der ge­ schiedenen Frauen hat das besondere gemeinsame Merkmal, dass in der Regel nach der (ersten) Scheidung (mindestens) eine Phase der Alleinerzie­ hung gegeben gewesen ist; was bei den verwitweten Frauen nicht der Fall war. Die Teilgruppe der geschiedenen Frauen ließe sich somit auch als Teilgruppe der ehemaligen Alleinerziehenden bezeichnen. Bei der Teilgrup­ pe der verwitweten Frauen spielt im letzten Jahrzehnt vor Erreichen des gesetzlichen Renteneintrittsalters hingegen häufig die Pflege bzw. die Be­ treuung des gesundheitlich beeinträchtigten Ehemanns eine wichtige Rolle, was bei den geschiedenen Frauen in der Regel nicht der Fall ist. Bevor die beiden Teilgruppen und die einzelnen Fälle näher betrachtet werden, sollen zunächst einige der wichtigsten gesetzlichen und gesell­ schaftlichen Rahmenbedingungen aufgeführt werden, die die Lebensläufe



2. Familienorientierte Frauen149

der westdeutschen Frauen der Geburtskohorten 1938–1947 beeinflusst und vor allem ihre rentenrechtliche Bewertung maßgeblich geprägt haben. Zu nennen sind hier neben den Entwicklungen des Ehe- und Familienrechts insbesondere rentenrechtliche Regelungen wie die sogenannte „Heiratser­ stattung“, die Anerkennung von Kindererziehungszeiten, die Rente nach Mindestentgeltpunkten und der Versorgungsausgleich, auf den im Kapitel zur Teilgruppe der geschiedenen Frauen näher eingegangen wird. aa) Rollenmuster im Ehe- und Familienrecht Die rechtliche Stellung verheirateter Frauen in der BRD hat sich im Zeit­ verlauf deutlich gewandelt. In den Anfangsjahren der BRD in mancherlei Hinsicht noch das Ehe- und Familienrecht des späten 19. Jahrhunderts: Nach § 1354 BGB stand dem Ehemann „die Entscheidung in allen das gemeinschaftliche eheliche Leben betreffenden Angelegenheiten zu“; die ­ Ehefrau war nach § 1356 BGB „berechtigt und verpflichtet, das gemein­ schaftliche Hauswesen zu leiten“ und darüber hinaus auch zu „Arbeiten im Hauswesen und im Geschäfte des Mannes […] verpflichtet, soweit eine solche Tätigkeit nach den Verhältnissen, in denen die Ehegatten leben, üb­ lich ist“. Der Ehemann durfte über das Vermögen und auch über das Ein­ kommen aus der Erwerbstätigkeit der Frau verfügen; er hatte schließlich auch das Recht, unter bestimmten Voraussetzungen über einen von ihm beantragten Entscheid des Vormundschaftsgerichtes eine Berechtigung zur Kündigung eines außerhäuslichen Berufsverhältnisses der Ehefrau zu erwir­ ken und dieses dann fristlos zu kündigen (§ 1358 BGB). Diese Regelungen, die in offenem Widerspruch zum verfassungsmäßigen Gleichheitsgebot nach Art.3 (2) standen, wurden durch das zum 1.7.1958 in Kraft getretene Gesetz über die Gleichberechtigung von Mann und Frau größtenteils aufgehoben: Das „Letztentscheidungsrecht“ des Ehemanns in allen Eheangelegenheiten wurde ersatzlos gestrichen, der Ehemann durfte nicht mehr allein den Wohnsitz und die Wohnung bestimmen, und Frauen durften ihr in die Ehe eingebrachtes Vermögen selbst verwalten. Auch das Recht des Ehemannes auf Kündigung des Arbeitsverhältnisses der Ehefrau wurde aufgehoben. Das bis dahin vorherrschende Leitbild der „Hausfrauen­ ehe“ wurde durch das Gleichstellungsgesetz von 1958 jedoch (noch) nicht offiziell aufgegeben; der einschlägige § 1356 BGB lautete in der von 1958 bis 1977 geltenden Fassung folgendermaßen: „Die Frau führt den Haushalt in eigener Verantwortung. Sie ist berechtigt, er­ werbstätig zu sein, soweit dies mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar ist. Jeder Ehegatte ist verpflichtet, im Beruf oder Geschäft des anderen Ehegatten mitzuarbeiten, soweit dies, nach den Verhältnissen, in denen die Ehegatten leben, üblich ist.“

150

V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen

Offiziell wurde das Leitbild der „Hausfrauenehe“ erst 19 Jahre später, im Rahmen des zum 1.7.1977 getretenen Ersten Gesetzes zur Reform des Eheund Familienrechts, endgültig aufgegeben. Seitdem gibt es für eine Ehe keine gesetzlich vorgeschriebene Aufgabenteilung mehr; die Ehegatten sol­ len die Haushaltsführung nach dem neu gefassten § 1356 BGB nunmehr „im eigenen Einvernehmen“ regeln (Partnerschaftsprinzip). Zu dem Zeit­ punkt, als die meisten westdeutschen Frauen des Untersuchungssamples zum ersten Mal geheiratet haben, also in etwa Mitte der 1960er Jahre, war das Gleichberechtigungsgesetz von 1958 erst einige Jahre in Kraft. Viele Rollenleitbilder und Leitvorstellungen, die bis 1958 rechtlich kodifiziert gewesen waren, sind zu diesem Zeitpunkt in der sozialen Praxis noch hoch relevant gewesen und haben die wechselseitigen Erwartungen und die damit verbundene Rollenteilung vieler junger Ehepaare entscheidend geprägt. bb) Heiratserstattung Von spezifischer Bedeutung für die westdeutschen Frauen der Geburts­ kohorten 1938–1947 ist eine rentenrechtliche Regelung, die schon vor fast 50 Jahren abgeschafft worden ist: die sogenannte „Heiratserstattung“. Im Zu­ ge der großen Rentenreform von 1957 wurde die (1945 weitgehend abge­ schaffte) Möglichkeit für weibliche Versicherte, sich aus Anlass ihrer Heirat den Arbeitnehmeranteil der bis zur Heirat während einer eigenen Berufstätig­ keit eingezahlten Rentenversicherungsbeiträge auszahlen zu lassen, wieder eingeführt. Das bis dahin bestehende Versicherungsverhältnis wurde bei der Erstattung der Beiträge aufgelöst; die vom Arbeitgeber an die Rentenversi­ cherung abgeführten Anteile gingen den Frauen, die sich für eine Heiratser­ stattung entschieden hatten, verloren. Dieser Regelung lag die Vorstellung zugrunde, dass verheiratete Frauen keine eigenständige Alterssicherung mehr benötigten, da sie nunmehr über den Ehemann abgesichert und auch im Alter versorgt seien. Die Heiratserstattung war somit rentenrechtlicher Ausdruck des zu dieser Zeit noch vorherrschenden traditionellen Ernährermodells. Angesichts der zunehmenden Erwerbstätigkeit und der wachsenden Be­ deutung einer eigenständigen Alterssicherung von Frauen wurde jedoch immer deutlicher, dass diese Regelung sozial- und gleichstellungspolitisch kontraproduktiv war. Die Möglichkeit der Heiratserstattung wurde daher durch das Finanzänderungsgesetz 1967 zum 1.1.1968 endgültig abgeschafft; spätestens für Frauen, die nach 1950 geboren sind, spielt diese Regelung somit keine Rolle mehr. Die Abschaffung der Heiratserstattung markiert den Übergang von der rentenrechtlichen Förderung eines Zwei-Phasen-Modells weiblicher Erwerbstätigkeit hin zu der Anerkennung der gesellschaftlichen Realität des Drei-Phasen-Modells (Noll 2010: 292–301). So heißt es in der entscheidenden Passage im Entwurf des Finanzänderungsgesetzes 1967:



2. Familienorientierte Frauen

151

„Der Vorschlag zielt darauf ab, die Rechtsstellung der berufstätigen Frau in der sozialen Rentenversicherung zu verbessern. Dem entspricht ein Bedürfnis nach einer erhöhten Absicherung in der Sozialversicherung. Diesem Bedürfnis trägt der vorgeschlagene Wegfall der Beitragserstattung Rechnung. Die Erfahrung lehrt, dass zahlreiche Frauen nach der Eheschließung weiterarbeiten oder in einem spä­ teren Alter erneut eine Beschäftigung aufnehmen.“ (BT-Drs. 5 / 2149, 20.10.1967, S. 27)

Um den betroffenen Frauen die Chance zu geben, die nachteiligen Folgen einer früheren Heiratserstattung zu korrigieren, wurde mit dem Dritten Rentenversicherungs-Änderungsgesetz vom 28. Juli 1969 unter bestimmten Voraussetzungen die Möglichkeit der Nachentrichtung von Beiträgen eröff­ net. Das Recht auf die Nachentrichtung von Beiträgen war dabei jedoch an die Wiederaufnahme einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung gekoppelt: Vor der Nachzahlung mussten mindestens 24 Kalendermonate lang Beiträge an die GRV entrichtet worden sein. Mit dem RRG’92 wurde die Möglichkeit der Beitragsnachzahlung noch einmal erleichtert (§ 282 SGB VI): Da inzwischen auch Kindererziehungszeiten rentensteigernd und rentenbegründend wirkten, wurde eine dauerhafte Rückkehr in das Erwerbs­ leben nicht mehr zur Voraussetzung der Nachzahlungsmöglichkeit gemacht. Die erleichterte Möglichkeit der Nachzahlung war jedoch bis zum 31. De­ zember 1995 befristet; seit dem 1.1.1996 besteht überhaupt keine Möglich­ keit der Nachentrichtung mehr. Die Bedingungen der Beitragsnachzahlung waren für die betroffenen Versicherten sehr vorteilhaft ausgestaltet: Beitragsbemessung und Beitrags­ bewertung orientierten sich an den Nominalwerten desjenigen Jahres, für das die freiwilligen Beiträge gelten sollten; da der nominale Durchschnitts­ verdienst aller Versicherten in diesen Jahren erheblich niedriger gelegen hatte als zum Zeitpunkt der Nachzahlung, war die Nachentrichtung von Bei­ trägen mit einer hohen „internen Rendite“ verbunden. Stegmann und Mika gehen daher von einer „sehr hohen Inanspruchnahme der Wiedereinzah­ lungsoption“ aus (Stegmann / Mika 2009: 6); im Rentenzugang des Jahres 2004 weisen immerhin 12 % der Frauen Nachzahlungen für die Heiratser­ stattung auf. Der Anteil und die Anzahl derjenigen Frauen, die zwischen 1957 und 1967 eine Heiratserstattung in Anspruch genommen und die Beiträge später nicht nachgezahlt haben, lassen sich anhand der Statistik der Rentenversicherungsträger nicht quantifizieren; Stegmann und Mika gehen davon aus, „dass diese Gruppe nicht sehr groß ist“ (ebd.). Zumindest ein Teil dieser „Dunkelziffer“ findet sich allerdings heute in der Grundsicherungsbedürftigkeit wieder: Insgesamt sieben der 18 nicht zugewanderten westdeutschen Frauen im Untersuchungssample (sechs von 15 Frauen in der Gruppe der familienorientierten Frauen) haben die Mög­ lichkeit der Heiratserstattung in Anspruch genommen, ohne zu einem spä­

152

V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen

teren Zeitpunkt die Möglichkeit der Beitragsnachentrichtung zu nutzen. Die Initiative hierzu ging nicht selten vom Ehemann aus; in einzelnen Fällen bekam die Frau den ausgezahlten Betrag gar nicht zu Gesicht, da der Ehe­ mann in der Ehegemeinschaft das Geld verwaltet hat. In anderen Fällen hat das Ehepaar gemeinsam entschieden, die Möglichkeit der Heiratserstattung zu nutzen. In nahezu allen Fällen wurde von dem ausgezahlten Geld im Rahmen der Gründung eines gemeinsamen Hausstandes ein Teil der Woh­ nungseinrichtung (Küchenmöbel, Schlafzimmer) finanziert. Die Heiratser­ stattung hatte somit die faktisch Rolle einer Mitgift, einer „Aussteuer zu Lasten der Alterssicherung der Frau“ (Noll 2010: 292). Die Versicherungsbiografien der betroffenen Frauen weisen somit zu Be­ ginn eine mehr oder weniger große Beitragslücke auf. Die Heiratserstattung hat in den meisten Fällen sicherlich zur späteren Grundsicherungsbedürftig­ keit beigetragen; die konkreten Einbußen bei den individuellen Rentenan­ wartschaften halten sich in der Regel jedoch in Grenzen, da zumeist relativ früh geheiratet worden ist und der Heiratserstattung somit nur wenige Ver­ sicherungsjahre unmittelbar zum Opfer gefallen sind. Inwiefern die Heirats­ erstattung in Einzelfällen allerdings dazu geführt hat, dass die versiche­ rungsrechtlichen Voraussetzungen für die Rente nach Mindestentgeltpunkten nicht erfüllt worden sind, konnte auf Grundlage der verfügbaren Angaben und Informationen der Befragten nicht festgestellt werden. cc) Kindererziehungszeiten Durch das Hinterbliebenenrenten- und Erziehungszeiten-Gesetz (HEZG) vom 11.7.1985 ist zur Verbesserung der eigenständigen sozialen Sicherung der Frau die erstmalige Anrechnung von Kindererziehungszeiten für die ersten zwölf Monate nach der Geburt eingeführt worden. Die Erziehung von Kindern wurde somit erstmals als eine eigene Rentenanwartschaften begrün­ dende bzw. rentensteigernde Leistung anerkannt; auf diese Weise wurde auch die bis dahin ausschließlich erwerbsarbeitsbezogene Rentensystematik zumindest ein Stück weit durchbrochen. Im Laufe der Jahre ist die renten­ rechtliche Anerkennung der Kindererziehung in der GRV stückweise ausge­ baut worden; so ist u. a. durch das RRG’92 eine Verlängerung der Anrech­ nung von Kindererziehungszeiten auf drei Jahre für ab 1992 geborene Kinder erfolgt. Frauen der Jahrgänge 1938–1947 haben jedoch zumindest bis zum Jahr 2014 nicht von der verbesserten Anerkennung der Kinderer­ ziehungsleistung profitiert, da ihre Kinder ausnahmslos vor 1992 geboren worden sind; vereinfacht ausgedrückt, haben die Frauen der untersuchten Jahrgänge in der GRV bislang nur einen Entgeltpunkt (netto rund 25 Eu­ ro / Monat) pro Kind erhalten, während Frauen, die Kinder ab 1992 geboren haben, drei Entgeltpunkte (netto rund 75 Euro / Monat) pro Kind erhalten.



2. Familienorientierte Frauen

153

Im Rahmen des im Mai 2014 verabschiedeten RV-Leistungsverbesserungs­ gesetzes, welches zum Zeitpunkt der Durchführung der Interviews mit den Betroffenen noch nicht in Kraft getreten war, werden die anrechenbaren Kindererziehungszeiten für vor 1992 geborene Kinder allerdings nunmehr um ein Jahr erhöht, so dass für jedes vor 1992 geborene Kind nunmehr zwei Entgeltpunkte in der RV „gutgeschrieben“ werden. Der monatliche Nettozahlbetrag der Altersrente erhöht sich damit auch für die grundsiche­ rungsbedürftigen Frauen der untersuchten Jahrgänge um etwas mehr als 25  Euro pro Kind. dd) Rente nach Mindesteinkommen /  Rente nach Mindestentgeltpunkten Die Rente nach Mindesteinkommen wurde erstmals mit dem RRG’72 eingeführt. Für Versicherte mit mindestens 25 anrechenbaren Versicherungs­ jahren wurden vor 1973 liegende Pflichtbeitragszeiten, in denen das Ein­ kommen niedriger als 75 % des Durchschnitts gelegen hatte, fingiert auf 75 % angehoben. Durch das RRG’92 wurde diese Regelung in modifizierter Form für niedrige Pflichtbeitragszeiten bis 1991 verlängert (§ 262 SGB VI); Anspruchsvoraussetzung sind nunmehr nicht mehr 25 Beitrags-, sondern 35 Versicherungsjahre, zu denen neben Zeiten der Erwerbstätigkeit auch Kin­ derberücksichtigungs- und Pflegezeiten gezählt werden. Die gegenwärtige Regelung der Rente nach Mindestentgeltpunkten ist auf vor 1992 liegende Pflichtbeitragszeiten mit niedrigem Entgelt begrenzt. Im Zeitverlauf nimmt die quantitative Bedeutung der Rente nach Mindesteinkommen in den Ren­ tenzugängen daher kontinuierlich ab; spätestens für die Geburtsjahrgänge ab Mitte der 1970er Jahre spielt diese Regelung keine Rolle mehr. Durch die Anhebung der niedrigen Pflichtbeiträge von langjährig Versi­ cherten sollten nicht zuletzt Niedriglöhne von Frauen ausgeglichen werden. Die Rente nach Mindesteinkommen ist somit eine Regelung, von der in erster Linie Frauen älterer Geburtsjahrgänge profitieren (können). Im Ren­ tenbestand 2010 wurden rund 22,1 % der Versichertenrenten von Frauen (alte Bundesländer: 20,3 %, neue Bundesländer: 28,7 %) durch die Renten­ berechnung nach Mindestentgeltpunkten aufgestockt; bei Männern lag dieser Anteil bei lediglich 3,2 % (vgl. Deutscher Bundestag 2012: 8–9). Es ist zu vermuten, dass zumindest ein kleiner Teil der „familienorientierten“ Frauen im Untersuchungssample von der Rente nach Mindesteinkommen profitiert hat; dies betrifft tendenziell eher geschiedene als verwitwete Frauen. Ein nicht unwesentlicher Teil der Frauen dieses Clusters dürfte die versiche­ rungsrechtlichen Voraussetzungen für die Höherbewertung allerdings nicht erfüllt haben. Zudem ist die positive Wirkung der Rentenberechnung nach Mindestentgeltpunkten bei geringem Arbeitsentgelt quantitativ eher be­

154

V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen

grenzt: Frauenrenten, die von der Regelung profitiert haben, wurden im Rentenbestand 2010 durchschnittlich um knapp 80 Euro erhöht (ebd.). b) Teilgruppe „Geschiedene Frauen“ aa) Gemeinsame Merkmale und Rahmenbedingungen Die erste der beiden großen Untergruppen innerhalb der Gruppe der fa­ milienorientierten Frauen bilden die geschiedenen Frauen. Die zu dieser Teilgruppe gehörenden Frauen haben neben den größeren ehe- bzw. famili­ enbedingten Lücken in der Versicherungsbiografie und dem aktuell fehlen­ den Partnereinkommen gemeinsam, dass sie − aktuell den Familienstand „geschieden“ aufweisen, − in der Regel nach der Scheidung zeitweilig oder dauerhaft alleinerziehend gewesen sind und − als eigenes, anrechnungsfähiges Einkommen in der Regel nur eine (nicht existenzsichernde) eigene GRV-Altersrente beziehen. Im Untersuchungssample finden sich sieben Fälle, die diesem Muster (zum Teil mit Abstrichen) entsprechen; hinzu kommt ein weiterer Fall einer ledigen Alleinerziehenden mit zwei Kindern (Frau W-34), der aufgrund ei­ ner langen Alleinerziehendenphase deutliche Ähnlichkeiten zu diesem Mus­ ter aufweist. Im Durchschnitt waren die 7 Frauen dieses Subclusters rund 18 Jahre ihres Lebens offiziell verheiratet; das Alter bei der (ersten) Heirat lag zwischen 18 und 24 Jahren. Keine der Frauen ist kinderlos geblieben; die durchschnittliche Kinderzahl liegt bei 2,4 Kindern. Das durchschnittli­ che anrechnungsfähige Alterseinkommen dieser Gruppe liegt bei ca. 500 Euro. Trotz der erheblichen Unterschiede im Detail weisen die Lebensver­ läufe der Frauen innerhalb der Teilgruppe der Geschiedenen eine Reihe von Parallelen auf. Folgt man der Heuristik des Drei-Phasen-Modells, so lassen sich für jede Phase bzw. jeden Übergang zwischen zwei Phasen typische Risikokonstellationen identifizieren, die jeweils zumindest bei einem Teil der Fälle gegeben waren. Sieht man einmal von der stark geschlechtsspezifisch geprägten Berufs­ wahl (Friseurin, Schneiderin, Einzelhandelskauffrau etc.) ab, die für west­ deutsche Frauen dieser Jahrgänge keinesfalls außergewöhnlich ist, zeigen sich in der Phase des Berufseinstiegs noch keine größeren Auffälligkeiten: Nur eine der sieben Frauen hat keine abgeschlossene Berufsausbildung; keine der sieben Frauen weist zu Beginn ihrer Erwerbsbiografie nennens­ werte Phasen der Arbeitslosigkeit auf. Ein wichtiges erwerbsbiografisches Risiko, das allerdings nicht nur die Geschiedenen, sondern die Gruppe der familienorientierten Frauen generell



2. Familienorientierte Frauen

155

betrifft, liegt darin, dass die erste Phase der sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit in der Regel relativ kurz ausgefallen ist, da die Heirat und die Geburt des ersten Kindes schon in jungen Jahren erfolgt und in der Regel mit einem zunächst mehr oder weniger vollständigen Erwerbsausstieg verbunden gewesen sind. Noch deutlichere negative Konsequenzen hatte die Inanspruchnahme der Heiratserstattung (ohne spätere Nutzung der Nachzah­ lungsmöglichkeit); dies war in drei Fällen gegeben. Im Ergebnis sind in fünf von sieben Fällen in der ersten Phase der Erwerbsbiografie keine oder nur sehr geringe Rentenanwartschaften erworben worden. Bei der Wahl des Ehepartners und des Zeitpunkts der Ehe haben in einzel­ nen Fällen ungewollte bzw. ungeplante Schwangerschaften eine Rolle ge­ spielt, ohne die es wahrscheinlich nicht (oder zumindest nicht zu diesem frü­ hen Zeitpunkt) zu einer Heirat gekommen wäre (Frau R-01, Frau V-14, Frau F-16). In diesen Fällen haben die in den 1960er Jahren geltenden rechtlichen Rahmenbedingungen und gesellschaftlichen Moral- und Normalitätsvorstel­ lungen die Heiratsentscheidung stark beeinflusst: Es wurde in erster Linie geheiratet, damit das Kind nicht unehelich auf die Welt kommt.20 Da zwi­ schen den beiden Ehepartnern keine auf Dauer tragfähige romantische Liebe vorhanden war, standen die unter solchen Voraussetzungen geschlossenen Ehen von Anfang an unter einem erhöhten Risiko des Scheiterns. Mit Ausnahme von Frau L-11, die eine behinderte Tochter zu versorgen hatte, sind praktisch alle Frauen in der Teilgruppe der Geschiedenen im Laufe ihrer Ehe(n) zumindest einige Zeit erwerbstätig gewesen. Sozialver­ sicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse spielten hierbei jedoch nur eine untergeordnete Rolle: Nur zwei von sieben Frauen haben während ihrer Ehephase erwerbsarbeitsbasierte Anwartschaften in der GRV aufge­ baut, die zudem auch sehr geringfügig ausgefallen sind. Neben „offiziel­ ler“ geringfügiger Beschäftigung und anderen, legalen Varianten sozialver­ sicherungsfreier Tätigkeit war Schwarzarbeit in dieser Teilgruppe die mit Abstand wichtigste Beschäftigungsform während der Ehe. Letztere hatte den Vorteil großer Flexibilität; in der Wahrnehmung der Befragten waren die Grenzen zum „Gefallen unter Freunden“ dabei oftmals fließend. Zwei der sieben Frauen sind zudem über Jahre hinweg als mitarbeitende Ehefrau tätig gewesen; Frau V-18 war Teil eines „Hausmeisterehepaars“ mit wech­ selnden Anstellungen, bei dem (wenn überhaupt) allenfalls der Ehemann 20  Anders als in der DDR, wo die juristische Gleichstellung ehelicher und unehe­ licher Kinder bereits 1950 erfolgt war, wurden uneheliche Kinder in der BRD bis 1970, als das das Gesetz über die Stellung der nichtehelichen Kinder („Nichteheli­ chengesetz“) in Kraft getreten ist, rechtlich erheblich diskriminiert; die vollständige rechtliche Gleichstellung von nichtehelichen und ehelichen Kindern ist streng ge­ nommen erst durch das 1998 in Kraft getretene Kindschaftsrechtsreformgesetz er­ folgt (Berg/Sonnenfeld 2012).

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V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen Tabelle 35 Geschiedene familienorientierte Frauen

Geburtsjahr

R-01

S-08

L-11

V-14

K-15

F-16

G-38

1946

1944

1944

1946

1937

1946

1941

(Volksschule)

Schneiderin

Einzelhandelskauffrau

Einzelhandelskauffrau

Fotolaborantin

(Abitur)

Schule / Ausbildung Friseurin

Ehen

2

1

2

1

4

1

1

Kinder

4

2

2

1

4

1

3

Alter bei Geburt der Kinder

18, 21, 23

27, 32

30, 33

22

19, 22, 25, 28

21

22, 25, 28

Alter bei Heirat

18, 24

24

24, 30

22

21, 25, 43, 47

21

22

Heiratserstattung







ja



ja

ja

Scheidung ohne Versorgungsausgl.

1967, 1972



1973



1958, 1974

1973

1972

Scheidung mit Versorgungsausgl.



1982

2000

1985

1984, 1996





21, 26

40

29, 44 / 56 (Trennung)

39

21, 37, 47, 58

27

31

Alter der Kinder bei Scheidung

3, 3, 6, 8 (2. Ehe)

8, 13

11, 14 (Trennung 2. Ehe)

17

9, 11, 15, 18 (2. Ehe)

6

3, 6, 9

Alleinerziehend (jüngstes Kind unter 14 Jahren)

21–23, 26–37

40–46

44–54 wg. behinderter Tochter



(Pflege– familie)

27–35

31–42

SVP Besch. vor Heirat



9 J. VZ

9 J. VZ

5 J. VZ

3 J. VZ 4–5 J. VZ 2 J. TZ

SVP Besch. während der Ehe



4 J. VZ



(5 J. geringf.)

ca. 4 J. TZ





SVP Besch. nach Scheidung

8 J. VZ, 3 J. TZ



(19 J. geringf.)

18 J. VZ

6 J. VZ

4 J. VZ

14 J.VZ, 4 J. TZ

SV- freie Besch. / Schwarzarbeit

7 J. schwarz

viel schwarz, Mitarbeit Ehemann



Mitarbeit Ehemann

diskont. schwarz

diskont. schwarz

10 J. selbstst., schwarz

Leistungsbezug Mindestsicherung

28 J. (diskont.)

33 J. (32–65)

21 J. (44–65)

ca. 3 J. ca. 4 J. (diskont.) (diskont.)

17 J. (27–44)



Alter bei Scheidung



Alter bei Ende der Erwerbstätigkeit Gesundheit

GRV + BAV / PAV

2. Familienorientierte Frauen

157

R-01

S-08

L-11

V-14

K-15

F-16

G-38

62

45

63

63

43

47

66

(ca.50  – Rücken)

45  – Herz­ infarkt, Schlag­ anfall

54  – EU Neurol.



370

400

300

615

(63 – (41 – Beh. 59  – EU Arthritis) Skelett) Skelett

815

405 +121

506

Quelle: Eigene Darstellung.

„mit Papieren“ gearbeitet hat; Frau V-14 hat im unentgeltlich im Betrieb ihres Ehemannes mitgearbeitet. Frau G-38 schließlich hat ihre zwischen­ zeitliche Selbstständigkeit als Gastronomin auf Druck des Ehemannes be­ reits nach zwei Jahren aufgegeben und fortan nur noch sporadisch schwarz­ gearbeitet. Für die unmittelbaren Folgen der Ehescheidung für die spätere Altersver­ sorgung der geschiedenen Frauen ist von erheblicher Bedeutung, ob die Scheidung vor oder nach der durch das Erste Gesetz zur Reform des Eheund Familienrechts vorgenommenen Einführung des Versorgungausgleichs zum 1.7.1977 durchgeführt worden ist. Ziel des seit 1977 im Rahmen des Ehescheidungsprozesses standardmäßig durchgeführten Versorgungsaus­ gleichs21 ist, dass die geschiedenen Ehegatten gleichmäßig an den während der Ehe erworbenen Rentenanwartschaften und Altersvorsorgeansprüchen beteiligt werden; diese werden grundsätzlich als gemeinschaftliche Leistung und gemeinsam erworbenes Vermögen betrachtet, das beiden Ehepartnern zu gleichen Teilen gehört. Falls beide Ehepartner Versorgungsanrechte er­ worben haben, kommt es zu einem gegenseitigen Ausgleich der Anrechte: Sämtliche in der Ehe erworbenen Versorgungsanrechte werden addiert und dann hälftig geteilt. Der Rentenanspruch des Partners, der während der Ehezeit höhere Rentenanwartschaften erworben hat, wird um die Hälfte der Differenz gekürzt (Malus), während sich der Rentenanspruch des anderen Partners um diesen Betrag erhöht (Bonus), so dass im Ergebnis beide Ehe­ partner gleich hohe Versorgungsansprüche aus der Ehezeit haben. Für den Ehepartner, der den Ausgleich erhält, wirkt sich dieser auch auf die Warte­ zeit bis zum Erreichen des Rentenzugangsalters aus. Von dieser Regelung 21  Seit dem 1.1.2009 gilt für den Versorgungsausgleich das neu gefasste Versorgungsausgleichsgesetz, welches gegenüber dem bis dahin geltenden Recht eine Reihe inhaltlicher Veränderungen (u. a. das Prinzip der systeminternen Teilung aller Anrechte) beinhaltet (vgl. Wagner 2011).

158

V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen

profitiert somit der während der Ehezeit nicht oder nur eingeschränkt er­ werbstätige Partner, in der Regel also nach wie vor eher die Ehefrau. Bei Ehen, die bis zum 30.06.1977 geschieden wurden, wurde hingegen kein Versorgungsausgleich durchgeführt. Im Fall der Ehescheidung sah das Recht als Hinterbliebenenversorgung lediglich die sogenannte „Geschiede­ nenwitwenrente“ (Witwenrente und Witwerrente an vor dem 1. Juli 1977 geschiedene Ehegatten nach § 243 SGB VI) vor; diese wurde (und wird) jedoch nur gezahlt, solange keine neue Ehe oder eingetragene Lebenspart­ nerschaft eingegangen wird. Ehefrauen, die sich während der Ehezeit haupt­ sächlich dem Haushalt und der Kindererziehung gewidmet und dafür die eigene berufliche Karriere zurückgestellt hatten, waren daher mit Blick auf ihre spätere Rente stark benachteiligt, da sie in dieser Zeit keine oder nur geringe eigene Rentenanwartschaften erwerben konnten. Drei der sieben Frauen der Teilgruppe sind noch vor der Einführung des Versorgungsausgleichs und damit nach „altem“ Scheidungsrecht geschieden worden (Frau R-01, Frau F-16, Frau G-38). Die Einführung des Versor­ gungsausgleichs kam für diese Frauen zu spät: Sie sind im Hinblick auf ihre spätere Altersversorgung praktisch mit leeren Händen aus ihrer Ehe ausgeschieden, sieht man einmal von den angerechneten Kindererziehungs­ zeiten (1 Jahr für vor 1992 geborene Kinder) ab. Zwei weitere Frauen sind erst nach der Einführung des Versorgungsausgleiches geschieden worden; im Sample finden sich zudem auch zwei Fälle mehrfach geschiedener Frau­ en, bei denen sowohl eine Scheidung vor Einführung des Versorgungsaus­ gleichs als auch eine Scheidung nach Einführung des Versorgungsausgleichs durchgeführt worden ist (Frau L-11, Frau K-15). Die Durchführung eines Versorgungsausgleiches bedeutet allerdings nicht zwangsläufig eine deutli­ che Verbesserung der eigenen Altersvorsorge: So ist es in zwei Fällen dazu gekommen, dass die im Rahmen des Versorgungsausgleichs vom Ehepartner übertragenen Anwartschaften trotz einer längeren Ehedauer eher gering ge­ blieben sind, da während der Ehedauer auch der Ehemann nur geringe Anwartschaften erworben hat und die „Verteilungsmasse“ daher vergleichs­ weise klein war (Frau S-08, Frau V-14). Letztlich hat nur eine von sieben Frauen (Frau L-11 bei ihrer zweiten Scheidung) in nennenswertem Ausmaß vom Versorgungsausgleich profitiert. Im Hinblick auf die Einkommenssituation nach der Scheidung war für einige der interviewten Frauen auch die Tatsache relevant, dass eine Schei­ dung nach dem alten Eherecht vor 1977, in dessen Rahmen bei Eheschei­ dungen noch das Schuldprinzip galt, am Widerstand eines der beiden Ehe­ partner scheitern konnte; erst seit der im Rahmen des Eherechtsreformge­ setzes 1977 vorgenommenen Einführung des Zerrüttungsprinzips kann die Scheidung grundsätzlich nicht mehr durch das „Veto“ des verlassenen Partners verhindert werden. Im Rahmen des alten Scheidungsrechts war der



2. Familienorientierte Frauen

159

scheidungswillige Ehepartner dadurch gewissermaßen „erpressbar“: Um die Zustimmung des anderen Ehepartners zur Scheidung zu erlangen, musste er unter Umständen empfindliche Zugeständnisse hinsichtlich des nacheheli­ chen Unterhalts machen. In der Regel waren es zwar eher die Ehefrauen, die eine Scheidung ablehnten; es kam jedoch auch der umgekehrte Fall vor, dass sich Ehefrauen durch den Verzicht auf Unterhalt gewissermaßen von ihrem Ehemann „freikaufen“ mussten, um aus der Ehe austreten zu können. Diese Konstellation war in zwei Fällen (Frau F-16 und 2. Scheidung von Frau K-15) gegeben. Die dritte Phase der Erwerbsbiografie ist durch Alleinerziehung nach der Scheidung und die Frage des Wiedereinstiegs in den Arbeitsmarkt nach der zum Teil langjährigen Familienphase geprägt. Sechs von sieben Frauen waren nach ihrer Scheidung alleinerziehend mit mindestens einem, zum Teil auch mehreren Kindern im schulpflichtigen Alter; bei der siebten Frau (Frau V-14) war die Tochter zum Zeitpunkt der Scheidung bereits fast voll­ jährig. Hinsichtlich der individuellen Ressourcen und Hemmnisse nach der Scheidung (Alter, verwertbare Qualifikationen, Betreuungsbedarf der Kinder und Möglichkeiten seiner Deckung, Gesundheitszustand etc.), der vorhande­ nen Erwerbsorientierung und des tatsächlichen Arbeitsmarkterfolgs bestehen zwischen den einzelnen Fällen erhebliche Unterschiede; letztlich hat jedoch keine der geschiedenen Frauen nach ihrer (letzten) Scheidung bis zum Ren­ teneintritt kontinuierlich in sozialversicherungspflichtiger Vollzeit gearbeitet. Zwei Frauen (Frau V-14 und Frau G-38) haben waren nach der Scheidung immerhin fast zwei Jahrzehnte sozialversicherungspflichtig beschäftigt; eine weitere Frau (Frau R-01) bringt es auf 11 Jahre mit sozialversicherungs­ pflichtiger Beschäftigung. Insgesamt bildet jedoch der unvollständige oder gescheiterte Wiedereinstieg in das Erwerbsleben nach der familienbedingten Nichterwerbsphase ein weiteres gemeinsames Biografiemerkmal der Teil­ gruppe der geschiedenen Frauen. In der Mehrheit der Fälle haben staatliche Transferleistungen (Hilfe zum Lebensunterhalt, Arbeitslosenhilfe, in den letzten Jahren zum Teil sogar noch ALG II) über weite Strecken, zum Teil über Jahrzehnte hinweg, die wichtigste bzw. einzige Einnahmequelle der betroffenen Frauen gebildet; die häufigste Lebenssituation der Frauen nach ihrer Scheidung war die der Alleinerziehenden im Sozialhilfebezug. Diese spezifische Konstellation weist typischerweise mehrere eng miteinander verknüpfte Elemente auf, die die Überwindung der Hilfsbedürftigkeit im Ergebnis verzögert bzw. ganz verhindert haben. Auf der einen Seite war das Arbeitsangebot der betroffe­ nen Frauen aufgrund mangelnder Kinderbetreuungsmöglichkeiten sowohl hinsichtlich der Arbeitszeiten als auch hinsichtlich der regionalen Mobilität eingeschränkt; zudem waren die bestehenden Qualifikationen nach der Nichterwerbsphase aufgrund vielfältiger technischer und fachlicher Verände­

160

V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen

rungen oftmals veraltet bzw. entwertet. In einigen Fällen dürfte sich auch das Alter der Betroffenen negativ auf die individuellen Arbeitsmarktchancen ausgewirkt haben. Auf der anderen Seite erhielten alleinerziehende Sozialhilfebezieherinnen, bei denen die Aufnahme einer Vollzeitbeschäftigung aufgrund ihrer Kinder­ betreuungspflichten nicht als zumutbar galt und die von den kommunalen Sozialverwaltungen im Rahmen des BSHG betreut worden, in der Regel eher selten Leistungen der Arbeitsförderung; es handelte sich hier überwie­ gend um Ermessensleistungen, auf die kein individueller Rechtsanspruch bestand. Bis in die 1990er Jahre hinein gab es somit weder hinsichtlich des „Förderns“ noch hinsichtlich des „Forderns“ einen besonderen Ehrgeiz ge­ genüber alleinerziehenden Frauen. Während der Ehemann noch für den fi­ nanziellen Unterhalt der minderjährigen Kinder zur Verantwortung gezogen wurde, fungierte bei der geschiedenen Ehefrau in der Regel das Sozialamt als „Ernährerersatz“ (Ott / Strohmeier 2003: 7); die Angewiesenheit auf be­ darfsgeprüfte Mindestsicherungsleistungen stellte insofern lediglich eine Fortsetzung der bereits in der Ehe bestehenden „Ernährerabhängigkeit“ (ebd.: 12) der Mutter dar. Wegen des relativ hohen effektiven „Anspruchslohns“, über den alleiner­ ziehende Mütter im Sozialhilfebezug durch die Kombination aus Unterhalts­ leistung, Hilfe zum Lebensunterhalt und gegebenenfalls Mehrbedarfszu­ schlägen für jüngere Kinder verfügten, waren die Anreize zur Überwindung der Hilfebedürftigkeit durch sozialversicherungspflichtige Erwerbstätigkeit insbesondere in den Fällen, in denen angesichts der eigenen Qualifikationen allenfalls schlecht bezahlte Arbeitsplätze erreichbar waren, stark begrenzt. Aus einigen Interviews wird deutlich, dass die Option „Sozialhilfe plus Schwarzarbeit“ aufgrund der scheinbar nicht sehr strengen Kontrollen und des daher relativ geringen Risikos, des Sozialmissbrauchs überführt zu wer­ den, vor diesem Hintergrund eine durchaus attraktive Option zur Maximie­ rung des verfügbaren Haushaltseinkommens dargestellt hat (Frau R-01, Frau S-08, Frau F-16). Je länger die Phase „Alleinerziehend mit Sozialhilfebe­ zug“ angedauert hat, desto schwieriger ist allerdings auch der Wiederein­ stieg in den ersten Arbeitsmarkt geworden, so dass sich in einigen Fällen die Abhängigkeit von der Sozialhilfe verfestigt und auch nach dem Auszug der volljährigen Kinder fortbestanden hat. In einigen Fällen in der Teilgrup­ pe wurde der Wiedereinstieg zudem durch gesundheitliche Probleme er­ schwert, die im Ergebnis zu einem Rückzug aus dem Arbeitsmarkt geführt haben (Frau S-08, Frau K-15, Frau F-16). Generell spielen gesundheitliche Probleme im letzten Drittel der Erwerbsbiografie bei der Teilgruppe der geschiedenen Frauen eine größere Rolle als bei der Teilgruppe der Witwen; bei letzteren treten die gesundheitlichen Probleme oftmals erst nach dem Tod des Ehemanns auf.



2. Familienorientierte Frauen161

bb) Ausgewählte Fallbeispiele (1) Fallbeispiel 1: Frau S-08 Frau S-08, geboren 1942 in Düsseldorf, 2 Töchter, ist seit ihrem 40. Le­ bensjahr (1982) geschieden. Sie bezieht eine GRV-Altersrente von ca. 400 Euro / Monat und rund 380 EUR / Monat aus der Grundsicherung im Alter; ihr monatlicher Bruttobedarf (inkl. Mehrbedarf wegen Behinderung, Aus­ weis mit Merkzeichen „G“) beträgt rund 780 Euro. Nach der Volksschule hat Frau S-08 keine Lehre oder Ausbildung genossen, sondern musste als Fünfzehnjährige direkt als „Angelernte“ im Lager eines großen Kaufhauses arbeiten. Grund dafür war die finanziell angespannte Situation ihres Eltern­ hauses (alleinerziehende Mutter). Bis zu ihrem 27. Lebensjahr, als das erste Kind geboren wurde, war Frau S-08 insgesamt rund 11 Jahre sozialversi­ cherungspflichtig in Vollzeit als Lageristin beschäftigt. Frau S-08 hat 1966, mit 24 Jahren, geheiratet; die Ehe dauerte insgesamt 16 Jahre. Die Berufs­ tätigkeit wurde nach Angaben von Frau S-08 nicht zuletzt auf Wunsch des Ehemannes aufgegeben: Die Kosmetikfirma, bei der Frau S-08 zuletzt als Lageristin arbeitete, verlegte ihren Sitz von Düsseldorf nach Köln; der Ehe­ mann nahm dies zum Anlass, sich gegen die Fortführung der Erwerbstätig­ keit auszusprechen. Der Grund für das Scheitern der Ehe war nach Angaben von Frau S-08 die Alkoholkrankheit des Ehemannes. Diese hat zu einem beruflichen und finanziellen Abstieg sowie häufigen Stellen- und Wohnungsverlusten ge­ führt. Der ursprünglich als Facharbeiter in Vollzeit angestellte und verhält­ nismäßig gut verdienende Ehemann verlor zunächst seine Anstellung bei einem Automobilzulieferkonzern. Es folgten wechselnde Anstellungen als Hausmeister; hierbei fungierte Frau S-08 teilweise als mitarbeitende Ehe­ frau. Diese Anstellungen als Hausmeister bzw. Hausmeisterehepaar waren oftmals mit einer Hausmeisterwohnung verbunden, so dass der jeweilige Verlust der Stelle auch mit dem Verlust der Wohnung einherging. Innerhalb von 16 Jahren Ehe ist die Familie insgesamt achtmal umgezogen. Bereits während der Ehe wurden daher regelmäßig Leistungen der Sozialhilfe (überwiegend einmalige Beihilfen bei wirtschaftlichen Notlagen, Kleiderbei­ hilfen etc.) bezogen; die Familie wurde zudem vom Jugendamt betreut. Frau S-08 hat im Laufe der Ehe, in der es durch die Alkoholkrankheit des Ehe­ mannes immer wieder zu dramatischen Szenen gekommen ist, zweimal die Scheidung eingereicht, diese aber jeweils wieder zurückgezogen. Erst beim dritten Mal, anlässlich einer erneuten Entzugstherapie des Ehemannes, wur­ de die Scheidung tatsächlich vollzogen. Da die wechselnden Anstellungen des Ehemannes bzw. des Ehepaares überwiegend nicht sozialversichert ge­ wesen sind, haben sowohl Frau S-08 als auch ihr Ehemann während ihrer

162

V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen

Ehe kaum eigene erwerbsbezogene Anwartschaften in der GRV aufgebaut. Dementsprechend fielen auch die auf Frau S-08 übertragenen Anwartschaf­ ten im Rahmen des bei der Scheidung (1982) durchgeführten Versorgungs­ ausgleichs sehr gering aus. Zum Zeitpunkt der Scheidung war Frau S-08 40 Jahre alt; die beiden Töchter waren 13 und 8  Jahre alt. In den 25  Jahren zwischen der Schei­ dung und dem Renteneintritt hat Frau S-08 praktisch keine sozialversiche­ rungspflichtige Tätigkeit mehr ausgeübt. Der Lebensunterhalt setzte sich zunächst aus Unterhaltszahlungen des Ehemannes (bzw. Unterhaltsvor­ schuss durch das Jugendamt), Hilfe zum Lebensunterhalt sowie gelegent­ licher Schwarzarbeit als Putzfrau zusammen. Im 45.  Lebensjahr, 5  Jahre nach der Scheidung, kam es in kurzer Folge zu einem Herzinfarkt und einem Schlaganfall. Frau S-08 ist von ihrer Jugend an stark übergewichtig und neigt zu Bluthochdruck; im Interview deutet sie zudem einen im Ehe­ verlauf eingetretenen Co-Alkoholismus an. Sie selbst macht einen erhöhten emotionalen Stress für ihren Herzinfarkt verantwortlich, da in diesem Jahr ihre Mutter, mit der sie als Einzelkind sehr eng verbunden gewesen war, gestorben ist und zudem ein scheinbar sehr belastender (Zwangs-)Umzug anstand. Nach der gesundheitsbedingten Zäsur wurde keine Erwerbsunfä­ higkeitsrente beantragt, sondern weiterhin Sozialhilfe bezogen. Versuche, Frau S-08 auf einen belastungsgerechten Arbeitsplatz zu vermitteln, waren nicht erfolgreich; Frau S-08 hatte allerdings nach eigenen Angaben auf­ grund ihres Gesundheitszustandes auch selbst keinen Antrieb mehr, berufs­ tätig zu sein, und verhielt sich dementsprechend bei der Beschäftigungssu­ che eher passiv: A Nee, ich muss dazu sagen, ich musste eine Zeit lang alle drei … alle drei Wochen oder alle drei Monate? Zum Arbeitsamt. Und belegen, dass ich nichts an Arbeit gefunden hatte. Die waren wohl daran interessiert, dass ich Arbeit fand. Aber das war nichts. I Wenn jemand einen Herzinfarkt gehabt hat, liegt es ja eigentlich nahe, dass er nicht mehr arbeitet, oder? A Ja, die haben aber immer versucht, irgendwie eine Arbeit zu finden, eine sitzende Tätigkeit oder was nicht so belastend war, haben aber Gott sei Dank nichts gefunden. […] I

Sie wollten aber auch jetzt nicht unbedingt?

A Nee, es ging ja auch nicht mehr. Ich hatte ja die Pflicht noch für mein klei­ neres Mädchen aufzukommen. Die Große hat ja schon gearbeitet. Ja, ich habe mich immer so irgendwo da durchgewurschtelt, sage ich mal.

Mit 65  Jahren (2007) ist Frau S-08 in Rente gegangen. Ihre GRV-Al­ tersrente basiert im Wesentlichen auf den 11 bis 12 Jahren sozialversiche­ rungspflichtiger Vollzeitbeschäftigung vor der Geburt des ersten Kindes sowie den Kindererziehungszeiten für ihre 2 Kinder. Ein kleiner Teil der



2. Familienorientierte Frauen163

Altersrente beruht auf übertragenen Anwartschaften aus dem Versorgungs­ ausgleich. Da Frau S-08 länger bei einer großen Kaufhauskette beschäftigt war, wäre sie beinahe in den Genuss einer kleinen betrieblichen Altersvor­ sorge gekommen. Aufgrund eines Arbeitgeberwechsels wurden jedoch die damaligen Voraussetzungen der Mindestzugehörigkeit zum Betrieb (10 Jah­ re) knapp verfehlt: Frau S-08 war insgesamt nur rund 9 Jahre im betref­ fenden Betrieb beschäftigt. Seinerzeit wurde sie über diese Zusammenhän­ ge jedoch nicht informiert, so dass im Ergebnis keine Leistungen aus der betrieblichen Altersvorsorge bezogen werden. Trotz ihrer über Jahrzehnte hinweg angespannten finanziellen Lage hat Frau S-08 eine kleine Lebens­ versicherung angespart. Diese wurde jedoch kurz vor dem Renteneintritt als Einmalbetrag ausgezahlt; von dem niedrigen vierstelligen Betrag wur­ den ein elektrisches Seniorenbett und andere Einrichtungsgegenstände ge­ kauft. Im Fall von Frau S-08 sind im Wesentlichen zwei Faktoren für den spä­ teren Grundsicherungsbezug verantwortlich gewesen: Ihre gescheiterte Ehe und ihre gesundheitlichen Probleme. Frau S-08 hat aufgrund ihrer Ehe ihre sozialversicherungspflichtige Erwerbstätigkeit aufgegeben; im Verlauf der Ehe hat sie zwar immer wieder gearbeitet, jedoch in der Regel entweder als mitarbeitende Ehefrau oder in Schwarzarbeit. Da auch der Mann überwie­ gend „ohne Papiere“ gearbeitet hat, ist Frau S-08 auch beim Versorgungs­ ausgleich so gut wie leer ausgegangen. Zudem war sie im Verlauf ihrer 16-jährigen Ehe mit einem Alkoholiker großen psychosozialen Belastungen ausgesetzt. Inwiefern die Folgen dieser Belastungen auch zu ihrem späteren gesundheitlichen Zusammenbruch (Herzinfarkt und Schlaganfall mit 45) beigetragen haben, lässt sich nicht mit Sicherheit bestimmen; im Ergebnis ist es aufgrund der gesundheitlichen Probleme jedenfalls nicht mehr zu ei­ nem Wiedereinstieg in eine sozialversicherungspflichtige Voll- oder Teilzeit­ beschäftigung gekommen. (2) Fallbeispiel 2: Frau L-11 Frau L-11, geboren 1944 im Oberbergischen Kreis (NRW), zweimal ge­ schieden, zwei Kinder, bezieht eine GRV-Altersrente von 815 Euro / Monat, die durch die Grundsicherung im Alter um 62 Euro aufgestockt wird. Ihr Bruttobedarf liegt bei insgesamt 877 Euro / Monat. Der relativ hohe Bedarf ist durch die vergleichsweise hohen Kosten der Unterkunft (gut 480 Euro) begründet; da Frau L-11, die schon seit Jahrzehnten Mindestsicherungsleis­ tungen bezieht, schon lange in ihrer Wohnung lebt, besteht hier trotz der zwischenzeitlich deutlich gestiegenen Mietkosten ein Bestandsschutz. Der Lebensverlauf von Frau L-11 folgt im Wesentlichen einem Drei-Phasen Modell:

164

V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen

− Die erste Phase (vom 16. bis zum 30. Lebensjahr) ist durch die Lehre zur Schneiderin, eine anschließende Weiterbildung zur Direktrice sowie ins­ gesamt 9 Jahre Beschäftigung in Vollzeit geprägt. − Die familienbedingte Nichterwerbsphase dauerte insgesamt 14  Jahre (vom 30. bis zum 44. Lebensjahr); in dieser Zeit wurde gar keine Er­ werbstätigkeit ausgeübt. − Der Wiedereinstieg erfolgte über langjährige geringfügige Beschäftigung. Dies ist in erster Linie durch den erhöhten Betreuungsbedarf der jünge­ ren, geistig behinderten Tochter bedingt. Nach der Volksschule und dem einjährigen Besuch einer Hauswirtschafts­ schule absolvierte Frau L-11 eine Schneiderlehre sowie eine Weiterbildung zur Direktrice. Anschließend war sie zunächst in einem Modeatelier, später in einem Mode- und Lederwarengeschäft in Vollzeit beschäftigt. Mit 24 heiratete sie ihren ersten Ehemann (selbstständiger Architekt); die Erwerbs­ tätigkeit wurde zunächst fortgesetzt. Frau L-11 erlitt bei ihrer ersten Schwangerschaft im Alter von 26 Jahren eine Fehl- bzw. Totgeburt; dies war ein sehr traumatisches Erlebnis, zumal von ärztlicher Seite davon aus­ gegangen wurde, dass Frau L-11 keine Kinder mehr bekommen konnte. Dies führte zu einer einjährigen Depressionsphase und zum vorübergehen­ den Ausstieg aus dem Erwerbsleben. In diesem persönlichen Schicksals­ schlag liegt eine erste große Zäsur, da Frau L-11 seitdem nicht mehr in ihren erlernten Beruf zurückgekehrt ist und es zudem kurze Zeit später zu einem Scheitern der Ehe kam. Die Scheidung erfolgte 1973; Frau L-11 war zu diesem Zeitpunkt 29 Jahre alt. Der Ehemann, der mehrere Immobilien­ projekte betrieb, hatte sich allerdings zwischenzeitlich stark verschuldet; Frau L-11 wurde hier in Mithaftung genommen, so dass sie letztlich nicht nur ohne nennenswerte Unterhaltansprüche, sondern zunächst auch mit Schulden aus ihrer ersten, fünfjährigen Ehe kam. Frau L-11 hatte noch während ihrer ersten Ehe wieder eine Vollzeitstelle in der Buchhaltung eines Wohlfahrtsverbandes aufgenommen; hier arbeitete sie über drei Jahre lang. 1974, im Alter von 30 Jahren, heiratete sie ihren zweiten Ehemann, der ebenfalls in der Buchhaltung arbeitete. Im gleichen Jahr bekam Frau L-11 trotz der ungünstigen medizinischen Prognose ihr erstes Kind, worauf die ihre Erwerbstätigkeit aufgab; die Familienphase sollte insgesamt 14 Jahre dauern. Drei Jahre später wurde ihr zweites Kind, eine Tochter, geboren. Diese Tochter war von Geburt an geistig behindert, in den ersten Jahren nahezu durchgehend krank und hatte bis weit über das 18. Lebensjahr hinaus einen außerordentlich hohen Betreuungsbedarf. Nach der Trennung vom zweiten Ehemann (nach Angaben von Frau L-11 ein Alkoholiker) im Jahr 1988 war Frau L-11 alleinerziehend. Ihre beiden Kinder waren zu diesem Zeitpunkt 11 und 14 Jahre, sie selbst 44 Jahre alt.



2. Familienorientierte Frauen

165

Frau L-11 nahm nach der Trennung eine geringfügige Beschäftigung im Einzelhandel an; in der restlichen Zeit wurde die aufwändige Betreuung der Tochter organisiert. Frau L-11 hielt es in diesem Zusammenhang für ratsam, ihre Tochter nicht in eine ganztägige Sonderschule zu geben, da die Tochter ihrer Ansicht nach dadurch überfordert gewesen wäre. Das Einkommen der Bedarfsgemeinschaft (zuerst Frau L11 und ihre beiden Kinder, später nur noch Frau L11 und ihre Tochter) setzte sich in wechselnden Anteilen aus Unterhaltszahlungen des Ehemannes, den Einkünften aus der geringfügigen Beschäftigung sowie aufstockender Sozialhilfe zusammen. Das übergeord­ nete Ziel von Frau L11 ist gewesen, dass ihre Tochter im Erwachsenenalter selbstständig leben kann, was ihr letztlich auch geglückt ist: Die Tochter lebt mittlerweile in einer eigenen Wohnung, hat eine feste Anstellung und steht insofern auf eigenen Beinen. Frau L-11 hat ihre Erwerbstätigkeit auch nach dem Auszug ihrer Tochter nicht mehr ausgeweitet. Hierbei spielte auch eine Rolle, dass die lange Phase der Nichterwerbstätigkeit bzw. der lediglich geringfügigen Beschäftigung zu einer deutlichen Abwertung der beruflichen Qualifikationen geführt hat; so war etwa eine Rückkehr zu einer Tätigkeit in der Buchhaltung angesichts der in der Zwischenzeit stattgefundenen Umbrüche (EDV) kaum noch möglich. Im Alter von 63 Jahren hat Frau L-11 auch die geringfügige Beschäftigung aus gesundheitlichen Gründen (Arthritis) aufgegeben, so dass vom 63. bis zum 65.  Lebensjahr der komplette Lebensunterhalt durch ALG  II bestritten worden ist. Frau L-11 ist bewusst erst mit 65 in Rente gegangen (2009), um Abschläge zu vermeiden. Im Hinblick auf ihre GRV-Altersrente hat Frau L11 stark vom Versorgungsausgleich bei ihrer zweiten Scheidung profitiert. Nach eigener Einschätzung von Frau L11 beruhen ca. drei Viertel ihrer GRV-Al­ tersrente von 815 Euro auf Anwartschaften, die im Rahmen des Versorgungs­ ausgleiches übertragen worden sind. Hierbei war maßgeblich, dass die fakti­ sche Trennung vom zweiten Ehemann zwar 1988, die offizielle Scheidung aber erst im Jahr 2000 stattgefunden hat, so dass im Rahmen des Versor­ gungsausgleiches insgesamt 26 Ehejahre berücksichtigt worden sind. Insgesamt waren im Fall von Frau L-11 im Wesentlichen zwei Gründe für die Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter entscheidend: Erstens die Tatsa­ che, dass sowohl die erste als auch die zweite Ehe gescheitert sind, und zweitens die Entscheidung von Frau L-11, ihr eigenes Erwerbsleben zu­ gunsten der „Lebensaufgabe“ der Betreuung ihrer behinderten Tochter zu­ rückzustellen. Zu berücksichtigen ist allerdings auch, dass die GRV-Alters­ rente von Frau L-11 mit 815 Euro / Monat eigentlich deutlich über dem bundesdurchschnittlichen Bruttobedarf der Grundsicherung (2012: 719 Eu­ ro / Monat) liegt; hier spielen die in der Kommune geltende Mietkostenober­ grenze sowie der im Fall von Frau L-11 geltende individuelle Bestands­ schutz eine wichtige Rolle.

166

V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen

(3) Fallbeispiel 3: Frau V-14 Frau V-14, geboren 1946 in NRW, geschieden, eine Tochter, bezieht eine GRV-Altersrente von 405 Euro / Monat sowie eine Betriebsrente (Zusatzver­ sorgung des öffentlichen Dienstes) von 121 Euro / Monat. Zusätzlich bezieht sie monatlich 300 Euro Grundsicherungsleistung; ihr Bruttobedarf liegt bei insgesamt 826 Euro (inklusive Mehrbedarf wegen Gehbehinderung und Servicepauschale für betreutes Wohnen). Nach der Volksschule und einer Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau hat Frau V-14 zunächst knapp 5 Jah­ re in Vollzeit als Verkäuferin in einem Kaufhaus gearbeitet; im Alter von 22 Jahren hat sie geheiratet und ihre Erwerbstätigkeit aufgegeben. Nach Angaben von Frau V-14 wollte sie ihren Ehemann seinerzeit eigentlich gar nicht heiraten; maßgeblich war jedoch, dass sie bereits schwanger war und das Kind nicht alleine aufziehen wollte: A Ja, ich wollte ja, ich habe mich ja am Altar umgedreht und wollte ja sagen: Nee, ich will den nicht. Aber das gab ja früher nicht so was, wie es heute gibt. Ich hätte den nie geheiratet. Ich hatte keine Eltern, keinen. I Das heißt aber, letzten Endes haben Sie sich doch irgendwo verpflichtet ge­ fühlt … A Ja, für das Kind auch.

Frau V-14 machte von der Möglichkeit der Heiratserstattung Gebrauch. Die anschließende Familienphase dauerte 10 Jahre (vom 22. bis zum 32. Lebensjahr). Innerhalb dieser 10 Jahre war Frau V-14 jedoch ca. 6 bis 7 Jahre als mitarbeitende Ehefrau ohne Entgelt und ohne Anmeldung bei der Sozialversicherung im Obst-und Gemüsegeschäft ihres Mannes tätig. Als die Tochter die Grundschule beendet hatte, hat Frau V-14 eine eigene Selbstständigkeit angestrebt. Der Ehemann hat zwar der Finanzierung einer zweijährigen privaten Ausbildung zur Kosmetikerin (vom 33. bis zum 35.  Lebensjahr) zugestimmt, jedoch anschließend sein ursprünglich gegebe­ nes Versprechen, das für die von Frau V-14 angestrebte Eröffnung eines eigenen Kosmetiksalons notwendige Startkapital zur Verfügung zu stellen, angesichts einer vorgeblich verschlechterten finanziellen Situation nicht eingehalten, so dass diese Weiterbildungsmaßnahme letztlich umsonst gewe­ sen ist. Frau V-14 arbeitete anschließend ca. 5  Jahre in Teilzeit in einem anderen Obst- und Gemüsegeschäft. 1985, im Alter von 39  Jahren, ließ sich Frau V-14 von ihrem Ehemann scheiden. Da der Ehemann als Inhaber einer Obst- und Gemüsehandlung überwiegend selbstständig und nur wenige Jahre sozialversicherungspflich­ tig beschäftigt gewesen war, wurden beim Versorgungsausgleich nur sehr geringe GRV-Anwartschaften aufgeteilt. Eine Lebensversicherung oder an­ dere Formen privater Altersvorsorge existierten offiziell nicht, so dass Frau V-14 beim Versorgungsausgleich im Prinzip leer ausgegangen ist; nach ihrer



2. Familienorientierte Frauen167

Schätzung beruhen nur rund 30 Euro ihrer GRV-Altersrente auf Anwart­ schaften aus dem Versorgungsausgleich. Frau V-14 geht davon aus, dass ihr Ehemann, der in der Ehe und dem Betrieb die volle Kontrolle über alle Finanzen (inklusive der Einnahmen der Ehefrau) hatte, rechtzeitig vor der Scheidung bestehende Vermögenswerte auf einem Konto in Holland ver­ steckt hat; dies habe sie Jahre später über ihre Tochter herausgefunden. Diese Angaben können nicht nachgeprüft werden; es erscheint zumindest ungewöhnlich, dass im Rahmen des Versorgungsausgleiches trotz einer Ehedauer von 17 Jahren faktisch kaum Altersvorsorgeanwartschaften über­ tragen worden sind. Ihre Ehe ist für Frau V-14 insofern ein ausgesprochen schlechtes Geschäft gewesen, als dass ihr erstens durch die Heiratserstattung Versicherungsjahre verloren gegangen sind, zweitens ihre Mitarbeit im Be­ trieb des Ehemannes während der Familienphase nicht sozialversichert war und ihr drittens im Rahmen des Versorgungsausgleiches praktisch keine Anwartschaften übertragen worden sind. Frau V-14 ist im Hinblick auf ihre Altersversorgung somit mit leeren Händen aus ihrer Ehe herausgegangen. Nach ihrer Scheidung machte Frau V-14 zunächst eine Umschulung zur Industriekauffrau; in diesem Bereich hat sie allerdings keine Beschäftigung gefunden. Die einzige Tochter war zum Zeitpunkt der Scheidung bereits 17 Jahre alt, so dass es hier keine kindbedingten Einschränkungen gegeben hat. Frau V-14 hat in der Phase der Arbeitslosigkeit nach ihrer Umschulung eine starke Eigeninitiative bei der Suche nach einer Arbeitsstelle entwickelt; schließlich fand sie im Alter von 42 Jahren eine Anstellung als (angelernte) Kindergärtnerin in einem städtischen Kindergarten, wo sie insgesamt 14  Jahre gearbeitet hat (zunächst 25 Stunden / Woche, später 30 Stun­ den / Woche, zuletzt in Vollzeit). Frau V-14 hatte nach eigener Einschätzung insofern Glück, als dass zu diesem Zeitpunkt (1986 / 1987) verstärkt Perso­ nal für den Ausbau der kommunalen Kindergärten gesucht wurde und auch Frauen ohne pädagogische Ausbildung eingestellt wurden. Im Alter von 56  Jahren wurde Frau V-14 jedoch gekündigt; diese Kündi­ gung war, so das Ergebnis eines fast dreijährigen, von Frau V-14 im Ergeb­ nis gewonnenen arbeitsgerichtlichen Verfahrens, unrechtmäßig. Frau V-14 spricht in diesem Zusammenhang von Mobbing: Die neue, erheblich jünge­ re Leiterin der Einrichtung habe versucht, ältere und nicht pädagogisch qualifizierte Frauen aus der Einrichtung herauszudrängen, um ein „frisches“ Team aufzubauen. Der Klage von Frau V-14 auf Wiedereinstellung wurde stattgegeben; von ihrem 59. bis zum 63.  Lebensjahr war sie als Museums­ wärterin in Vollzeit tätig. Mit 63 Jahren ist Frau V-14 schließlich abschlags­ frei in die Altersrente für Schwerbehinderte gegangen; ihr war bereits mit Anfang 40 eine Wirbelsäulenverkrümmung diagnostiziert worden, die sie jedoch ihren Angaben zufolge während ihres Erwerbslebens nicht weiter eingeschränkt hat.

168

V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen

Für die jetzige Grundsicherungsbedürftigkeit von Frau V-14 ist in der Gesamtschau entscheidend gewesen, dass sie im Zusammenhang mit ihrer gescheiterten Ehe bis zu ihrem 40. Lebensjahr fast keine GRV-Anwartschaf­ ten erworben und auch keine zusätzliche Vorsorge erworben hat. Hier kam eine Kombination aus Heiratserstattung, mehrjähriger sozialversicherungs­ freier Mitarbeit im Betrieb des Ehemanns und fehlender Ansprüche aus dem Versorgungsausgleich trotz 17-jähriger Ehe zum Tragen. Diese Lücke konn­ te in den verbleibenden 23 Jahren bis zum Renteneintritt durch eigene Er­ werbstätigkeit nicht mehr geschlossen werden; hierbei spielten auch die nach der Familienphase deutlich verringerten Arbeitsmarktchancen eine Rolle. (4) Fallbeispiel 4: Frau F-16 Frau F-16, geboren 1946 in NRW, geschieden, ein Sohn, absolvierte nach dem Abschluss der Volksschule eine zweijährige Ausbildung zur Fotolabo­ rantin sowie eine einjährige Weiterqualifikation zur Color-Fachlaborantin. Nach 4–5  Jahren sozialversicherungspflichtiger, allerdings relativ niedrig entlohnter Beschäftigung heiratete sie 1967 mit 21 Jahren. Nach eigenen Angaben „musste“ sie damals heiraten, „da ein Kind unterwegs war“; ohne die zu diesem Zeitpunkt ungeplante Schwangerschaft hätte sie ihren Ehe­ mann (Elektriker) nach eigener Einschätzung nicht unbedingt geheiratet. Frau F-16 machte bei ihrer Heirat von der Möglichkeit der Heiratserstattung Gebrauch; hierdurch wurden 4–5  Jahre sozialversicherungspflichtige Be­ schäftigung als Fotolaborantin „gelöscht“. Nicht zuletzt auf Wunsch ihres Ehemannes stieg sie zunächst vollständig aus dem Erwerbsleben aus. Die Familienphase dauerte 6 Jahre, vom 21. bis zum 27. Lebensjahr; es folgte die Scheidung mit 27 Jahren. Der Sohn war zu diesem Zeitpunkt 6 Jahre alt. Im Rahmen der Scheidung, die im Jahr 1973 und damit noch vor Ein­ führung des Versorgungsausgleichs stattgefunden hat, musste Frau F-16 auf eigene Unterhaltsansprüche gegenüber dem Ehemann verzichten, um seine Zustimmung der Scheidung zu erhalten. Frau F-16 hat nach der Scheidung insgesamt 17 Jahre lang keine sozial­ versicherungspflichtige Erwerbstätigkeit aufgenommen. Sie berichtet, sie habe zwar durchaus nach einer Stelle gesucht, dies habe aber „irgendwie nicht geklappt“. Zwar war nach Einschätzung von Frau F-16 die Möglich­ keit der außerhäuslichen Betreuung des Sohnes auch in den Nachmittags­ stunden im Prinzip gegeben, da es in der Nähe einen Kinderhort mit langen Öffnungszeiten gab. Auch gab es über die Jahre hinweg einige Arbeitsgele­ genheiten, allerdings oftmals ohne soziale Absicherung bzw. zu relativ ge­ ringem Gehalt. Frau F-16 wollte indes nicht mehr zurück in ihren erlernten Beruf, da ihr die Arbeit zu schlecht bezahlt war.



2. Familienorientierte Frauen169

In gewisser Hinsicht hat Frau F-16 eine „ganz oder gar nicht“-Strategie verfolgt: Sie wollte eine sozialversicherte Vollzeittätigkeit mit „anständiger“ Bezahlung oder gar keine (offizielle) Anstellung. Entscheidend dürfte hier­ bei gewesen sein, dass die Aufnahme einer offiziellen, vergleichsweise ge­ ring bezahlten sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit im Vergleich zum Status Quo keinen großen Gewinn an verfügbarem Einkommen ge­ bracht hätte. Frau F-16 hat sich, so wird aus dem Interview deutlich, nach ihrer Scheidung mit einem Einkommensmix aus laufender Hilfe zum Le­ bensunterhalt und Unterhaltsleistungen des Ehemannes für den Sohn eini­ germaßen eingerichtet; hinzu kamen gelegentliche Einnahmen aus Schwarz­ arbeit, u. a. in einem Kiosk. Sowohl der Druck seitens der kommunalen Sozialverwaltung, eine existenzsichernde Arbeit aufzunehmen, als auch die Kontrollen hinsichtlich nicht gemeldeter Zusatzverdienste waren in diesem Zeitraum offensichtlich vergleichsweise schwach. Frau F-16 gibt an, sie hätte in dieser Zeit auch versucht, „einen neuen Mann zu finden“, was al­ lerdings ebenfalls „irgendwie nicht geklappt“ hat. Nichtsdestotrotz hat Frau F-16 im Alter von 44 Jahren für insgesamt vier Jahre noch eine Anstellung in Vollzeit bei einem kleinen Fotogeschäft ge­ funden; die Anstellung endete, als das Geschäft geschlossen wurde. In den folgenden Jahren bezog Frau F-16 Arbeitslosengeld bzw. Arbeitslosenhilfe. Mit Anfang 50 kamen gesundheitliche Probleme; Frau F-16 hatte eine erb­ lich bedingte neurologische Erkrankung (Hydrocephalus internus). Mit 54  Jahren wurde eine Erwerbsunfähigkeitsrente gewährt, die allerdings so niedrig war, dass sie von Anfang an durch Leistungen der Sozialhilfe auf­ gestockt werden musste. Die gesundheitlichen Probleme und die damit verbundene Invalidität mit Mitte 50 waren, so zeigt die Analyse der Ge­ samtbiografie, zwar ein sehr erschwerender Faktor, aber nicht der entschei­ dende Grund für die spätere Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter. Größe­ res Gewicht hatte die lange Phase der Nichterwerbstätigkeit bzw. der nicht sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit zwischen dem 21. und dem 44. Lebensjahr. Frau F-16 war im Prinzip seit ihrer Scheidung mit 27 Jah­ ren nahezu durchgängig auf den Bezug von aufstockenden Mindestsiche­ rungsleistungen angewiesen; diese Abhängigkeit von der Sozialhilfe bildet gewissermaßen einen roten Faden ihres Lebensverlaufs. (5) Fallbeispiel 5: Frau W-34 Frau W-34, geboren 1946 in Essen, 2 Töchter, hat in ihrem Leben nie geheiratet. Ihre Biografie weist jedoch deutliche Parallelen zu den Biogra­ fiemustern der geschiedenen Frauen auf. Frau W-34 erhält zum Zeitpunkt des Interviews eine GRV-Altersrente von 547 Euro / Monat sowie 287 Eu­ ro / Monat aus der Grundsicherung im Alter; ihr Bruttobedarf (inkl. Hausrat-

170

V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen

und Haftpflichtversicherung) beträgt 834 Euro / Monat. Da die Kosten der seit 30  Jahren bewohnten, 75 Quadratmeter großen Wohnung über der An­ gemessenheitsgrenze liegen, muss Frau W-34 einen Teil ihrer Mietkosten aus dem Regelsatz bestreiten. Nach der Volksschule absolvierte Frau W-34 eine Lehre als Einzelhan­ delskauffrau. Sie arbeitete seitdem in Vollzeit als Verkäuferin in einem großen Kaufhaus. 1969, im Alter von 23 Jahren, wurde die erste Tochter geboren. Frau W-34 hat den Vater des Kindes jedoch nicht geheiratet, da dieser bereits verheiratet war und eine Scheidung von seiner (kinderlosen) Ehefrau u. a. aus finanziellen Gründen ablehnte. 1974 bekam Frau W-34 vom gleichen Mann eine weitere Tochter. Frau W-34, die im Interview auf die privaten Hintergründe dieser für die damalige Zeit eher ungewöhnlichen Beziehungskonstellation nicht näher eingehen möchte, war somit ledige, alleinerziehende Mutter von zwei unehelichen Kindern. Nach der Geburt der ersten Tochter arbeitete Frau W-34 zunächst weiterhin in Vollzeit; nach der Geburt der zweiten Tochter reduzierte sie ihr Stundenvolumen ein we­ nig, blieb jedoch in vollzeitnaher Teilzeit. Der Kindsvater bezahlte regelmä­ ßig Unterhalt für die beiden Kinder; die Betreuung der beiden Kinder während der Nachmittage wurde von der Mutter übernommen. 1978, im Alter von 32 Jahren, hat Frau W-34 jedoch ihre Anstellung aufgegeben und sich aus dem Erwerbsleben zurückgezogen; ihre beiden Töchter waren zu diesem Zeitpunkt 4 und 9 Jahre alt. Grund war, dass aufgrund des fortgeschrittenen Alters und zunehmender gesundheitlicher Einschränkungen der Mutter die Betreuungsmöglichkeit für die beiden Kin­ der entfiel und es keine annähernd gleichwertige Betreuungsalternative gab: A Und dann ging das nicht mehr mit meiner Mutter. Da hatte die so einen leichten Schlaganfall und so. Und die Kinder waren auch meines Erachtens zu anspruchsvoll. Wenn man ein Kind hat, was in den Kindergarten geht und eins in der Grundschule und die Frau, die ist da über, ja gut, 70 Jahre. Über 70 war sie sogar schon. Dann ging das nicht. Dann habe ich da aufgehört und habe Sozialhilfe bekommen.

Bei der Entscheidung, das Erwerbsleben zugunsten der Betreuung ihrer Kinder aufzugeben, spielte neben dem Mangel an Betreuungsalternativen auch eine Rolle, dass ihr von verschiedener Seite dazu geraten wurde, sich auf die Betreuung der Kinder zu konzentrieren. A […] Ich hatte nachher noch mal mit der Rektorin der Grundschule gesprochen und die hat gesagt, wenn Sie da in den sauren Apfel beißen, das ist natürlich schwierig, sagt sie. Aber es ist für Ihre Kinder von Vorteil, dass Sie dann doch zu Hause bleiben.

Die familienbedingte Nicht-Erwerbsphase dauerte 11 Jahre, vom 32. bis zum 43. Lebensjahr. Nach dem Tod des Vaters der beiden Kinder (1980) bezogen die beiden Töchter eine Halbwaisenrente; diese war höher als der



2. Familienorientierte Frauen171

vorherige Unterhalt durch den Vater. Frau W-34 bezog weiterhin Sozialhil­ fe; angesichts der relativ hohen Halbwaisenrente der Töchter handelte es sich laut Frau W-34 um eine eher geringe Aufstockung. Nachdem die älteste Tochter volljährig geworden war, begann Frau W-34, sich um einen Wiedereinstieg ins Erwerbsleben zu bemühen. Über das Ar­ beitsamt bekam sie eine Anstellung (Vollzeit) als Pförtnerin in einem Kran­ kenhaus vermittelt, die zunächst auf ein Jahr befristet war und dann um ein weiteres Jahr verlängert wurde. Anschließend arbeitete sie als Aushilfe in einem Bekleidungsgeschäft und erhielt aufstockende Arbeitslosen- bzw. Sozialhilfe. Vom 46. bis zum 53. Lebensjahr arbeitete sie insgesamt 7 Jahre in Vollzeit als Verkäuferin in einem Bekleidungsgeschäft. Hier wurde sie im Zuge eines Inhaberwechsels betriebsbedingt gekündigt (1999); sie erhielt nach einem arbeitsgerichtlichen Verfahren eine Abfindung. Seitdem ist es Frau W-34 nicht mehr gelungen, eine sozialversicherungspflichtige Volloder Teilzeitbeschäftigung zu finden. Nach einigen ABM- und Qualifikati­ onsmaßnahmen des Arbeitsamtes hat Frau W-34 seit ihrem 55.  Lebensjahr geringfügig als Tagesmutter gearbeitet und erhielt zusätzlich aufstockende Arbeitslosenhilfe (ab 2005 ALG II). Frau W-34 ist erst mit 67 Jahren in den Grundsicherungsbezug gekommen, da sie vom 65. bis zum 67.  Lebensjahr ihre GRV-Altersrente durch eine geringfügige Beschäftigung sowie aufsto­ ckendes Wohngeld ergänzt hat. Erst als die geringfügige Beschäftigung gesundheitsbedingt aufgegeben wurde, wurde Grundsicherung beantragt; das Wohngeld ist dementsprechend entfallen. In der Gesamtbetrachtung folgt der Lebensverlauf von Frau W. dem klas­ sischen Drei-Phasen-Modell: Die erste Erwerbsphase dauerte 12 Jahre (vom 20. bis zum 32. Lebensjahr), die familienbedingte Nichterwerbsphase dau­ erte 11 Jahre (vom 32. bis zum 43. Lebensjahr). Der Wiedereinstieg ist letztlich nur teilweise gelungen: In der dritten Phase (vom 43. bis zum 65.  Lebensjahr) wurden insgesamt noch knapp 9  Jahre in sozialversiche­ rungspflichtiger Vollzeit gearbeitet; die verbleibenden Jahre wurden mit geringfügiger Beschäftigung und aufstockender Mindestsicherung bestritten. Eine Besonderheit des Falles von Frau W-34 ist sicherlich die ungewöhn­ liche Konstellation als ledige Alleinerziehende von zwei Kindern: Frau W-34 ist die einzige Frau im Untersuchungssample, die den Familienstand „ledig“ aufweist. Laut Daten des Mikrozensus 2012 sind insgesamt gerade einmal 1,3 % der Frauen im Alter zwischen 65 und 75  Jahren alleinstehend und ledig. Grundsätzlich weist Frau L-34 eine (zumindest innerhalb der Gruppe der „familienorientierten“ Frauen) vergleichsweise starke Erwerbs­ orientierung auf: Nach der Geburt der beiden Kinder wurden Beruf und Familie zunächst erfolgreich miteinander vereinbart. Dies war jedoch nur aufgrund der Betreuungsmöglichkeit durch die Großmutter der Kinder mög­

172

V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen

lich; als diese wegfiel, war die Vereinbarkeit nicht mehr gegeben, und die Erwerbstätigkeit wurde aufgegeben. Hier zeigt sich somit das „typische“ Vereinbarkeitsproblem von Alleinerziehenden angesichts fehlender passge­ nauer öffentlicher Betreuungsmöglichkeiten. Weiterhin typisch für die Situ­ ation von Alleinerziehenden ist, dass der Einkommensmix des Haushaltes während der Nichterwerbsphase aus einer Kombination von Kindesunterhalt (später: Halbwaisenrente) und aufstockender Sozialhilfe bestand. In diesem Sinne war die Situation der ledigen Frau W-34 durchaus mit der Situation vieler geschiedener alleinerziehender Frauen mit späterem Grundsicherungs­ bedarf vergleichbar. Neben dieser ersten, unfreiwilligen Erwerbsunterbrechung aufgrund feh­ lender Kinderbetreuungsmöglichkeiten ist für die spätere Grundsicherungs­ bedürftigkeit jedoch auch von großer Bedeutung, dass Frau W-34 nach ei­ nem zunächst einigermaßen erfolgreich verlaufenen Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt eine betriebsbedingte Kündigung erhalten hat. Grundsätzlich hätte die gesundheitlich weitgehend unbelastete Frau W-34 ihr bestehendes Beschäftigungsverhältnis als Verkäuferin gerne bis zum Renteneintritt fort­ geführt. In diesem Falle wäre die Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter mit hoher Wahrscheinlichkeit vermeidbar gewesen. Nach dem Verlust ihrer Festanstellung war der Arbeitsmarkt Ende der 1990er Jahre für die mittler­ weile 53-jährige Frau W-34 weitgehend verschlossen; die verschiedenen integrationsorientierten Maßnahmen des Arbeitsamtes blieben letztlich er­ folglos. Zu dem verschärften Vereinbarkeitsproblem von Alleinerziehenden kam in diesem Fall also noch das erhöhte Arbeitsmarktrisiko älterer Arbeit­ nehmer / -innen (50 plus) hinzu. c) Teilgruppe „Verwitwete Frauen“ aa) Gemeinsame Merkmale und Rahmenbedingungen Neben den geschiedenen Frauen bilden die verwitweten Frauen die zwei­ te große Teilgruppe innerhalb der Gruppe der familienorientierten Frauen. Neben dem nicht ausreichenden eigenständigen Alterseinkommen und der fehlenden Kompensation durch ein Partnereinkommen bildet der Familien­ stand „verwitwet“ das wichtigste gemeinsame Merkmal dieser Gruppe. Im Untersuchungssample finden sich insgesamt sechs Fälle, die sich dieser Teilgruppe zurechnen lassen. Hinzu kommt ein siebter Fall (Frau T-20), bei dem die von der Verwitwung betroffene Frau ein zweites Mal geheiratet hat und daher den aktuellen Familienstand „verheiratet“ aufweist. Die Frauen, die zu dieser Untergruppe gehören, zeichnen sich dadurch aus, dass sie in der Regel zwei GRV-Renten beziehen: Sie beziehen sowohl eine eigene GRV-Altersrente als auch eine abgeleitete GRV-Witwenrente.



2. Familienorientierte Frauen173

Trotz des Bezuges zweier Renten ist das Gesamtalterseinkommen im Ergeb­ nis jedoch nicht hoch genug, um ein Einkommen oberhalb des individuellen Bruttobedarfs zu erzielen. Die eigene Altersrente aus der GRV ist in dieser Teilgruppe auch im Vergleich zu den übrigen Grundsicherungsbezieherinnen extrem niedrig. Während der durchschnittliche monatliche Zahlbetrag der eigenen GRV-Altersrente bei denjenigen Grundsicherungsbezieherinnen, die überhaupt eine GRV-Altersrente beziehen (das sind etwas über 70 % aller Grundsicherungsbezieherinnen mit 65 und mehr Jahren) im Jahr 2012 oh­ nehin nur bei 339 Euro lag, liegt der Durchschnittsbetrag bei den westdeut­ schen Witwen im Sample bei gerade einmal 165 Euro. Darüber hinaus basiert die ohnehin äußerst niedrige eigene GRV-Alters­ rente oftmals nicht in erster Linie auf eigener Erwerbstätigkeit, sondern überwiegend auf sozialen Ausgleichstatbeständen (Kindererziehungs- und Pflegezeiten). Auch in der Teilgruppe der Witwen ist keine der befragten Frauen kinderlos geblieben; die durchschnittliche Kinderzahl lag bei 2,3 Kindern. Drei von sechs Frauen weisen zudem auch Zeiten der Pflegetätig­ keit auf, die sich rentensteigernd auswirken. Zwei von sechs Frauen sind vor ihrer durch Verwitwung beendeten Ehe bereits einmal verheiratet gewe­ sen (Frau S-32 und Frau E-40); während Frau S-32 vor und während ihrer ersten Ehe einige Jahre sozialversicherungspflichtig beschäftigt gewesen ist, hat Frau E-40 aus ihrer ersten Ehe zumindest geringfügige Anwartschaften aus dem Versorgungsausgleich übertragen bekommen. Maßgeblich für die in der Teilgruppe der Geschiedenen extrem niedrige eigene Altersrente ist die Tatsache, dass die verwitweten Frauen in der Re­ gel eine Erwerbsbiografie aufweisen, die nicht einem Drei-Phasen-Modell, sondern eher einem Zwei-Phasen-Modell folgt. Es handelt sich also um oftmals sehr kurze Erwerbsbiografien, die kaum mit sozialversicherungs­ pflichtiger Erwerbstätigkeit verbunden gewesen sind. Die meisten Frauen dieser Teilgruppe haben sehr früh geheiratet: Fünf von sechs Frauen waren im Alter von 21 Jahren bereits verheiratet. In drei von sechs Fällen die Möglichkeit der Heiratserstattung genutzt worden. Die durch die Heiratser­ stattung eingetretene Minderung der eigenen GRV-Altersrente war in allen drei Fällen allerdings eher gering, da relativ früh geheiratet wurde; auch wenn die Heiratserstattung unterblieben oder es zu einer nachträglichen Nachzahlung der Beiträge gekommen wäre, hätte dies das eigene, anrech­ nungsfähige Einkommen nur unwesentlich erhöht. Im Hinblick auf die erste Phase der Ausbildungs- und Berufswahl zeigt sich auch in der Teilgruppe der verwitweten Frauen zunächst einmal eine stark geschlechtsspezifisch geprägte Wahl (Hauswirtschafterin, Einzelhan­ delskauffrau, Floristin); grundsätzlich ist der zumindest einjährige Besuch einer Hauswirtschaftsschule in diesen Geburtsjahrgängen weit verbreitet gewesen. Stärker als bei der Gruppe der Geschiedenen zeigen sich hier

174

V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen Tabelle 36 Verwitwete familienorientierte Frauen B-18

J-23

Z-24

S-32

S-37

E-40

Geburtsjahr

1941

1941

1943

1946

1942

1943

Schule /  Ausbildung

Einzelhandelskauffrau

Haus­wirtschaft, Floristin

Hauswirtschaftsschule

Einzelhandelskauffrau

(Volksschule)

(Volksschule)

Ehen

1

1

1

2

1

2

Anzahl Kinder

1

6

1

3

1

2

Alter bei Geburt der Kinder

22

20, 21, 25, 26, 27, 29

19

23, 29, 42

24

21

Alter bei Heirat

21

21

19

20, 28

24

18

Heiratserstattung

ja

ja

ja







Dauer der Familienphase

21 Jahre (22–43)

20–65

19–65

(diskont.)

34 Jahre (24–58)

18–65

SVP Besch. vor Heirat

4 J. VZ

2 J. TZ



5 J. VZ, 4 J. TZ

1 J. VZ









5 J. VZ

3 J. TZ



gelegentl. schwarz

11 J. geringf.

2 J. geringf.

viel schwarz

SVP Besch. während der Ehe SV- freie Besch. / Schwarz­ arbeit

4,5 J. viel SV-frei, SV-frei, viel schwarz 2 J. schwarz

Gesundheits­ biografie des Ehemanns

Unfall (55); EU–Rente (58); Schlaganfall (63); Krebs, Pflege­ stufe II (67); Tod (72)

Wirbelsäule (45); chronische Krankheit (53); Krebs (63); Tod (65)

Rheuma (40); Wirbelsäule; EU-Rente (59); Pflege­ stufe II (61); Krebs (72); Tod (74)

Krebs (57) Tod (60)

10 J.



14 J.



4–5 J.



(ab 57 Wohngeld)

36 J. (29–65)

(ab 51 Wohngeld)

32 J. (diskont.)

(ab 56 Wohngeld) ca 6 J. (59–65)

27 J. (38–65)

67

63

67

60

67

68

BAV / PAV

vorzeitig aufgelöst

vorzeitig aufgelöst









GRV Altersrente + GRV Witwenrente

0 + 630

162 + 342

149 + 572

379 + 153

98 + 209

200 + 472

Pflege des Ehemanns Leistungsbezug Mindestsicherung

Alter bei Tod des Ehemanns

Quelle: Eigene Darstellung.

Demenz Wirbelsäule (55); Krebs, (45); Pflege­ Behinderung stufe II (78); 60 %; Tod (68) Tod (83)



2. Familienorientierte Frauen

175

jedoch auch bildungsbiografische Risiken: So haben sowohl Frau S-37 als auch Frau E-40 ihre Ausbildung (Kunstschule / Lehre als Einzelhandels­ kauffrau) abgebrochen und sind daher ohne Ausbildung geblieben; in bei­ den Fällen war von Anfang an keine einigermaßen klare Berufsperspektive gegeben. Zwei weitere Frauen konnten ihre ursprünglichen Ausbildungsund Berufswünsche aufgrund der finanziellen Situation und / oder der Bil­ dungsaspirationen des Elternhauses nicht verwirklichen (Frau B-18, Frau Z-24). Der mit der Heirat oder spätestens mit der Geburt des ersten Kindes er­ folgende Erwerbsaustritt ist hier von Anfang an weniger als Erwerbsunter­ brechung, sondern eher als dauerhafter Erwerbsaustritt angelegt; eine Wie­ deraufnahme der Erwerbstätigkeit wurde in den meisten Fällen zwar nicht kategorisch ausgeschlossen, aber zumindest vorläufig nicht angestrebt. Dort, wo es dennoch zu einem Wiedereintritt in das Erwerbsleben gekommen ist, ist dieser eher rudimentär geblieben und zumeist über geringfügige und versicherungsfreie Beschäftigung oder über Schwarzarbeit erfolgt. Insge­ samt spielen sozialversicherungsfreie Tätigkeiten und Schwarzarbeit in dieser Teilgruppe eine größere Rolle als reguläre sozialversicherungspflich­ tige Erwerbsarbeit. Drei von sechs Frauen geben an, ihr Ehemann habe sich grundsätzlich in der Rolle des Alleinernährers gesehen und daher ausdrück­ lich keine dauerhafte außerhäusliche Erwerbstätigkeit seiner Ehefrau ge­ wünscht (Frau B-18, Frau S-37, Frau E-40); hier wurde das Rollenmodell der Haus- und Ehefrau gewissermaßen „passiv“ angenommen. In zwei Fällen beruhte die „Hausfrauenlaufbahn“ aber auch auf einer mehr oder weniger bewussten, „freien“ Entscheidung der Befragten: Während Frau J-23, die in ihrer Ehe sechs Kinder geboren hat, sich von Anfang an ziel­ gerichtet auf den Hausfrauenberuf vorbereitet hat, begründet Frau Z-24 ihre Entscheidung mit der zumindest zunächst nicht gegebenen wirtschaftlichen Notwendigkeit für einen Zuverdienst. Der ehe- bzw. familienbedingte weitgehende Verzicht auf eine eigene Erwerbskarriere bildet jedoch nur die eine Seite der Medaille. Gegenüber den Millionen von (westdeutschen) Frauen der entsprechenden Geburtsjahr­ gänge, deren Lebensentwurf sich an einem traditionellen Ernährermodell orientiert hat und die in diesem Rahmen auch ihre Altersversorgung im Wesentlichen von ihrem Ehemann abhängig gemacht haben, liegt das zent­ rale zusätzliche Armutsrisiko in dieser Untergruppe in der Gesundheitsbio­ grafie und der damit verbundenen Erwerbsbiografie des Ehepartners begrün­ det. Eine Ausnahme bildet der Fall von Frau S-32, die in zweiter Ehe mit einem langzeitarbeitslosen Nicht-EU-Ausländer verheiratet gewesen ist; hier stand nicht die Gesundheitsbiografie des Ehemannes, sondern seine Er­ werbsbiografie im Mittelpunkt.

176

V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen

In allen anderen Fällen wurde die Erwerbsfähigkeit des Ehemanns in der zweiten Hälfte seiner Erwerbsbiografie durch gesundheitliche Probleme (Unfall, dauerhafte Erkrankung, vorzeitige Erwerbsminderung und / oder Pflegebedürftigkeit) zum Teil erheblich eingeschränkt. In zwei Fällen kam es zum Bezug einer Erwerbsunfähigkeits- bzw. Erwerbsminderungsrente; in drei Fällen ist im weiteren Zeitverlauf eine Pflegebedürftigkeit eingetreten. In vielen Fällen kam es zudem zu komplexen, zum Teil auch gerichtlich ausgefochtenen Konflikten mit Krankenkassen, Berufsgenossenschaften und / oder Rentenversicherungsträgern über den anzuerkennenden Grad der Behinderung, der Pflegebedürftigkeit oder der Minderung der Erwerbsfähig­ keit. In drei von sechs Fällen haben die gesundheitlichen Probleme des Ehemanns bereits deutlich vor seinem 50.  Lebensjahr begonnen; die ge­ sundheitsbedingten Einschränkungen führten zu längeren Erwerbsunterbre­ chungen, Operationen und Krankenhausaufenthalten, an die sich nicht selten längere Phasen der Arbeitslosigkeit angeschlossen haben. Da der Ehemann aufgrund seiner gesundheitsbedingten Einschränkungen die ihm zugewiesene Rolle als „Ernährer“ nicht mehr ausfüllen und die Ehefrau den Verdienstausfall kaum durch eigene Erwerbstätigkeit kompen­ sieren konnte, kam es in den meisten Fällen zu einem deutlichen Einbruch des Haushaltseinkommens und im weiteren Zeitverlauf zur Angewiesenheit des Ehepaars auf staatliche Transferleistungen (Wohngeld, später HLU / ALG II). Für die spätere Grundsicherungsbedürftigkeit der Ehefrau ist von entscheidender Bedeutung gewesen, dass die gesundheitsbedingte Ein­ schränkung oder Aufgabe der Erwerbsarbeit und des damit verbundenen Erwerbs von Rentenanwartschaften auch die spätere abgeleitete GRV-Wit­ wenrente der Ehefrau gemindert hat. So bezogen die sechs Frauen der Teilgruppe zum Zeitpunkt des Interviews im Durchschnitt eine Witwenrente von nur 396 Euro / Monat; der durchschnittliche Zahlbetrag der Witwenrente in Westdeutschland im Rentenbestand 2012 lag demgegenüber bei 576 Eu­ ro / Monat (DRV Bund 2013). Hinzu kommt, dass bestehende Vermögens­ werte, Ersparnisse und Altersvorsorgeverträge, soweit vorhanden, aufgrund der zunehmend angespannten finanziellen Situation in der Regel vorzeitig aufgelöst werden mussten (Frau B-18, Frau J-23). Die Gesundheitsprobleme des Ehemannes haben in der Regel zu einer starken zeitlichen Bindung der Ehefrau geführt, die einen (angesichts der langen Erwerbsunterbrechung ohnehin sehr schwierigen) Wiedereintritt in den Arbeitsmarkt praktisch unmöglich gemacht haben. Für die betroffenen Frauen wurde die Krankengeschichte des Ehepartners ab einem bestimmten Zeitpunkt oftmals zur entscheidenden Größe, an der das eigene Leben aus­ gerichtet wurde; im Mittelpunkt stand die im Zeitverlauf immer intensiver werdende Betreuung und Pflege des Ehemanns und die diesbezügliche Kommunikation mit Ärzten, Krankenhäusern, Berufsgenossenschaften, Ren­



2. Familienorientierte Frauen177

tenversicherungs- und Rehabilitationsträgern und sonstigen Behörden (Ar­ beits- und Sozialamt). Die Orientierung und Ausrichtung an der Erwerbs­ biografie des Ehemannes wurde somit durch die Ausrichtung an seiner Gesundheits- bzw. Krankheitsbiografie abgelöst. In praktisch allen sechs Fällen erfolgte der Tod des Ehemannes kurz vor oder kurz nach der eigenen Verrentung; die betroffenen Frauen waren zu diesem Zeitpunkt zwischen 60 und 68 Jahren alt. Insbesondere diejenigen Frauen, die ihren Ehemann bis zu seinem Tode gepflegt haben, berichten in diesem Zusammenhang von hohen psychischen Belastungen und Situatio­ nen der Überforderung. Eine wesentliche Gefahr liegt hier in der zeitlichen Kumulation von persönlichen und finanziellen Umbrüchen: Erstens führt der Tod des Ehemannes zum Verlust der zentralen Bezugsperson und bei einer gerade zum Lebensende hin noch einmal deutlich intensivierten Pfle­ getätigkeit auch zum Wegfall der zentralen „Lebensaufgabe“. Mit dem Ende der Pflegetätigkeit kommt es zweitens auch zu einem Wegfall des Pflege­ geldes als Einkommensquelle; hier müssen Grundsicherungsleistungen neu beantragt oder zumindest neu kalkuliert werden. Drittens erfolgt nach einer gewissen Karenzzeit nicht selten die Aufforderung seitens des Grundsiche­ rungsträgers, angesichts der für eine alleinstehende Person nicht mehr ange­ messenen Größe und Kosten der Wohnung eine kleinere und häufig auch weiter außerhalb gelegene Unterkunft zu beziehen. Gerade der letzte Punkt führt nicht selten zu starken Verlustängsten und entsprechenden Konflikten mit den Grundsicherungsträgern. bb) Ausgewählte Fallbeispiele (1) Fallbeispiel 1: Frau B-18 Frau B-18, geboren 1943 in Essen (NRW), eine Tochter, ist seit ihrem 67. Lebensjahr (2010) verwitwet. Frau B-18 bezieht keine eigene GRV-Al­ tersrente, aber eine GRV-Witwenrente in Höhe von 630 Euro / Monat sowie aufstockende Grundsicherung in Höhe von 367 Euro / Monat. Ihr Bruttobe­ darf liegt somit bei knapp 1000 Euro / Monat. Dieser hohe Bedarf hängt damit zusammen, dass Frau B-18 aufgrund einer attestierten psychischen Erkrankung nach dem Tod ihres Ehemannes in der bisherigen, an sich deut­ lich zu teuren ehelichen Wohnung verbleiben darf; die deutlich über der Mietkostenobergrenze liegenden Kosten der Wohnung werden aufgrund des vorliegenden Härtefalles vom Grundsicherungsträger voll übernommen. Nach der Volksschule und einer Lehre als Einzelhandelskauffrau im Be­ reich Schreibwaren war Frau B-18 insgesamt 4 Jahre in Vollzeit in einem Schreibwaren-Großhandel tätig. Zum diesem Zeitpunkt hatte sich Frau B-18 nach eigenen Angaben innerhalb des Betriebes als „gute Fachkraft“ etabliert

178

V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen

und bereits ein gewisses Maß an organisatorischer Verantwortung übertra­ gen bekommen. Nach ihrer Heirat mit 21 Jahren (1964) hat sie ihre Berufs­ tätigkeit jedoch auf Wunsch ihres Ehemannes aufgegeben und von der Möglichkeit der Heiratserstattung Gebrauch gemacht. A Ja, mit 21 habe ich geheiratet, und da habe ich dann, weil mein Mann das so wollte, auch den Beruf an den Nagel gehangen, weil er war dann auch der Meinung, dass er die Familie alleine durchbringen muss, wie das ja zu dem Zeitpunkt noch war. (Frau B-18)

Mit 22 Jahren bekam Frau B-18 ihre Tochter. Die Familienphase dauerte insgesamt 21 Jahre (vom 22. bis zum 43. Lebensjahr). Der 6 Jahre ältere Ehemann hat als Monteur relativ gut verdient; Frau B-18 hat sich um die Finanzen des Ehepaars gekümmert. Private Vorsorge wurde intensiv betrie­ ben: Es gab sowohl ein klassisches Sparbuch als auch eine fondsgebundene Lebensversicherung als auch zusätzliche private Rentenfonds. A Ja, das hat mein Mann mir alles überlassen. Der sagte immer: Wenn ich nach Hause komme, habe ich keine Lust mehr noch darüber nachzudenken. Also ich hatte dann Rentenfonds, ja, die lagen eigentlich ziemlich hoch sogar. Ich kann aber nicht mehr sagen, in welchem Umfang das war. Dann hatten wir eine fondsgebundene Lebensversicherung. Sparbuch war vorhanden. Also wie gesagt, wir haben schon eigentlich gut gelebt.

Der Wiedereinstieg in die Erwerbstätigkeit erfolgte mit 43 Jahren: Frau B-18, die sich seit ihrer Jugend intensiv mit der Lokalgeschichte ihrer Hei­ matstadt beschäftigt hatte, erhielt einen Honorarvertrag (Teilzeit) im Rah­ men eines heimatkundlichen Projekts ihrer Kommune. Dieser Vertrag wurde jedoch kurz vor Ablauf der Frist von 5 Jahren gekündigt, nach deren Ablauf ein Rechtsanspruch auf Festanstellung bestanden hätte. Während dieser Zeit war Frau B-18 nicht in der gesetzlichen Rentenversicherung pflichtversi­ chert. Nach einer vierjährigen Nichterwerbsphase ist Frau B-18 im Alter von 52  Jahren erneut in die Berufstätigkeit eingestiegen: Sie arbeitete zwei Jahre in Teilzeit als Verkäuferin im Einzelhandel. Hier wurde allerdings „schwarz“ gearbeitet; Frau B-18 gibt an, das Arbeitsentgelt sei vollumfäng­ lich benötigt worden, um die Weiterbildung der einzigen Tochter (zu diesem Zeitpunkt bereits 30 Jahre alt und verheiratet) zu finanzieren: A Und zwar habe ich mir das Geld aber so auszahlen lassen, weil ich das da­ mals brauchte für meine Tochter, die hat nämlich eine sehr gute Ausbildung genossen, die ist Fremdsprachenkorrespondentin und Übersetzerin auch. Und wir haben ihr das alles bezahlt. BAföG kriegten wir nicht, weil mein Mann genau einen Pfennig über dem Satz war. Da mussten wir alles selber zahlen. Und deswegen bin ich dann auch noch mal kurz in den Beruf rein, was mei­ nem Mann gar nicht gepasst hat, weil er immer noch meinte, von wegen, er müsste alles selber bestreiten.

Diese Tätigkeit wurde beendet, als Frau L-18 im Straßenverkehr einen Unfall ohne Fremdeinwirkung erlitt, der zu einem komplizierter Sprungge­



2. Familienorientierte Frauen179

lenksbruch geführt hat, so dass die stehende Tätigkeit im Verkauf nicht mehr ausgeübt werden konnte. Seit ihrem 54.  Lebensjahr ist Frau L-18 somit keiner Erwerbstätigkeit mehr nachgegangen; in den folgenden Jahren trat die Betreuung des gesundheitlich zunehmend angeschlagenen Ehemanns in den Vordergrund. Der Ehemann hat 1992, im Alter 55 Jahren, bei der Arbeit als Installateur auf einer Baustelle einen schweren Unfall erlitten, der zu bleibenden Folge­ schäden (Blutgerinnsel im Kopf) geführt hat. Frau B-18 war zu diesem Zeitpunkt 49 Jahre alt. Der Ehemann erhielt zunächst drei Jahre lang eine Verletztenrente der Berufsgenossenschaft (Minderung der Erwerbsfähigkeit von 30 %) und schließlich eine EU-Rente, die 2002 in eine Altersrente um­ gewandelt wurde. Der Prozess der Anerkennung der Erwerbunfähigkeit bzw. Erwerbsminderung hat sich über Jahre hingezogen. Durch den Unfall wurde die Arbeitsfähigkeit Ehemannes deutlich verringert. Da (als Ergebnis der medizinischen Begutachtung) zunächst keine EU-Rente bewilligt wurde (diese musste später „eingeklagt“ werden), kam es zu einer erheblichen Verringerung des Haushaltseinkommens, die durch die Unfallrente nicht kompensiert werden konnte. In der Folge kam es nach Schilderung von Frau B-18 zu einem „sozialen Abstieg“. Im Laufe der Jahre mussten die bestehenden Altersvorsorgeverträge (Rentenfonds, Lebensversicherung, zu­ letzt auch das Sparbuch) schrittweise aufgelöst und der Erlös zur Bestrei­ tung des Lebensunterhalts eingesetzt werden. Im Jahr 2000, mit 63 Jahren, erlitt der Ehemann einen Schlaganfall; es kam zu einer halbseitigen Lähmung. Der durch den Unfall ohnehin bereits psychisch angeschlagene Ehemann hat nach Angaben von Frau B-18 auf­ grund des Schlaganfalls eine tiefgreifende Wesensveränderung durchgemacht und sich gegenüber der Umwelt zunehmend abgeschottet. Spätestens ab diesem Zeitpunkt musste Frau B-18, die zu diesem Zeitpunkt 57  Jahre alt war, ihren Mann intensiv betreuen. Einige Jahre später erkrankte der Ehe­ mann schließlich an Darmkrebs. Nach Angaben von Frau B-18 ist es im Zuge der Krebstherapie zu mehreren schwerwiegenden Behandlungsfehlern gekommen, die den Zustand des Ehemannes extrem verschlechtert haben. Frau B-18 und ihr Mann haben diesbezüglich Prozesse in mehreren Instan­ zen geführt, die jedoch alle verloren gegangen bzw. ergebnislos versandet sind. Diese Prozesse, die parallel zu der Versorgung des Ehemannes durch­ geführt wurden, haben Frau B-18 nach eigenen Angaben sehr viel Energie gekostet. Frau L-18 übernahm die Pflege und Betreuung ihres Ehemannes weitgehend alleine; Leistungen der Pflegeversicherung wurden über Jahre hinweg nicht gewährt. Kurz vor dem Tod des Ehemanns wurde zwar die Pflegestufe III bewilligt; der Ehemann ist jedoch verstorben, bevor die Leis­ tungen zur Auszahlung kamen. In den letzten Jahren vor dem Tod des Ehemannes hatte das Ehepaar von der Rente des Ehemannes und zusätzli­

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V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen

chem Wohngeld gelebt; seit dem Tod des Ehemannes (2010), also seit ihrem 67. Lebensjahr, bezieht Frau L-18 eine GRV-Witwenrente sowie Leistungen der Grundsicherung im Alter. Die Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter ist in diesem Fall im Wesent­ lichen auf zwei Faktoren zurückzuführen. Zum einen hat Frau B-18 im Zuge ihrer Heirat auf eine eigene Erwerbskarriere weitgehend verzichtet (Zwei-Phasen-Modell), wofür weniger die Kindererziehung (das Ehepaar hatte nur eine Tochter) als vielmehr die explizite Präferenz des Ehemannes für ein „starkes“ Versorgermodell maßgeblich gewesen ist; als Konsequenz dieser Entscheidung verfügt sie über keine eigenen Anwartschaften aus der GRV. Zum anderen hat die fast zwei Jahrzehnte dauernde, komplexe Krank­ heitskarriere des Ehemannes (Arbeitsunfall, Schlaganfall, Krebserkrankung, Pflegebedürftigkeit, Gerichtsprozesse) im Zeitverlauf zu massiven Einkom­ mensverlusten und einem Verlust des Vorsorgevermögens geführt, so dass der verstorbene Ehemann seiner Witwe nur die (für sich allein genommen nicht existenzsichernde) abgeleitete Hinterbliebenenrente der GRV hinterlas­ sen konnte. Zusammenfassend handelt es sich hier somit um einen Fall, bei dem die Kombination aus Versorgerehe bzw. Zwei-Phasen-Modell und Krankheit des Ehemannes zu einer Grundsicherungsbedürftigkeit der Hin­ terbliebenen geführt haben. (2) Fallbeispiel 2: Frau J-23 Frau J-23, geboren 1941 in Essen (NRW), 6 Kinder, ist seit ihrem 63. Le­ bensjahr (2004) verwitwet. Neben einer GRV-Altersrente (162 Euro) bezieht auch eine GRV-Witwenrente (342 Euro) sowie 262 Euro Grundsicherung. Ihr Bruttobedarf (inkl. einer Hausrat- und Haftpflichtversicherung sowie einer Servicepauschale für betreutes Wohnen der AWO) beläuft sich auf insgesamt 766 Euro. Frau J-23 hat bei ihrer Heirat 1962 (mit 21 Jahren) von der Möglichkeit der Heiratserstattung Gebrauch gemacht. Hierdurch wurden drei Jahre Lehre als Floristin, ein Jahr Besuch der Hauswirtschafts­ schule sowie 2 Jahre vollzeitnahe sozialversicherte Teilzeitbeschäftigung (Hauswirtschafterin in einem Hotel), also insgesamt 6 Versicherungsjahre, aus der GRV-Versichertenbiografie „gelöscht“. Man kann im Fall von Frau J-23 insofern von einem biografischen Zwei-Phasen-Modell sprechen, als dass Frau J-23 nach ihrer Heirat nicht mehr sozialversicherungspflichtig erwerbstätig gewesen ist und somit keine auf eigener Erwerbsarbeit beru­ henden Rentenanwartschaften aufgebaut hat. Die eigene GRV-Altersrente beruht praktisch ausschließlich auf den Kindererziehungszeiten für die ins­ gesamt 6 Kinder, die Frau J-23 zwischen dem 20. und dem 29. Lebensjahr in kurzer Folge bekommen hat.



2. Familienorientierte Frauen181

Hervorzuheben ist, dass Frau J-23 trotz ihrer 6 Kinder über viele Jahre hinweg in durchaus nennenswertem Umfang erwerbstätig gewesen ist; ihre Beschäftigung war jedoch immer sozialversicherungsfrei. Hierbei handelte es sich in der Regel um Aushilfstätigkeiten im Einzelhandel (z. B. Blumen­ geschäft), z. T. auch um Heimarbeit, Näharbeiten und diverse Putzstellen in Privathaushalten und Kleinbetrieben. Viele dieser geringfügigen und befris­ teten Arbeiten wurden vom Arbeitsamt (Schnelldienst) vermittelt; sie waren in der Regel nicht steuer- oder sozialversicherungspflichtig, da sie zum Teil nur für einen Tag oder eine Woche ausgelegt waren. Zum Teil handel­ te es sich auch um Schwarzarbeit, die Frau J-23 später auch über Zeitungs­ annoncen etc. fand. Frau J-23 hat zwischenzeitlich, als der Ehemann (Jahr­ gang 1939), der als Maurer ohnehin eher unterdurchschnittlich verdiente, seine Erwerbstätigkeit gesundheitsbedingt einschränken musste und das jüngste Kind schon 10 Jahre alt war, auch als nahezu alleinige Familiener­ nährerin gewirkt. Sie hat dabei nach eigenen Angaben zwischenzeitlich „bis zu 5 Stellen in der Woche“ (gleichzeitig) gehabt und ist „Montags bis frei­ tags arbeiten gegangen“. Für den Aufbau einer eigenständigen (privaten) Altersvorsorge gab es keinerlei Möglichkeit, da jeglicher Verdienst unmittelbar und vollständig für die Bestreitung des Lebensunterhalts der insgesamt achtköpfigen Familie (zwei Erwachsene, 6 Kinder) benötigt wurde, so dass (bis auf einen „Not­ groschen“) kaum Ersparnisse gebildet werden konnten. Trotz der geringen und zurückgehenden Einkünfte des Ehemannes und den generell geringen Einnahmen des Familienhaushaltes legte Frau J-23, die (so lässt sich ihren Schilderungen entnehmen) das eigentliche „Oberhaupt“ der Familie gewe­ sen ist, großen Wert darauf, durch sparsames Haushalten einen bescheidenen Lebensstandard aufrecht zu erhalten und ihren Kindern eine höhere Bildung zu ermöglichen. Angesichts der Anzahl der Kinder hat das Gehalt des Ehemannes als Maurer nicht ausgereicht, um den Lebensunterhalt der Familie zu bestreiten; die Familie war somit die meiste Zeit über auf zusätzliche, aufstockende Leistungen der Sozialhilfe angewiesen. Die gesundheitlichen Probleme des Ehemannes (Rücken / Skelett) begannen bereits kurz nach dem 40.  Lebens­ jahr. 1984 (im Alter von 45  Jahren) hatte der Ehemann eine hoch riskante, letztlich geglückte Operation an der Wirbelsäule. Trotz der anhaltenden Rückenprobleme wurde keine EU / BU-Rente beantragt; der Ehemann hatte vielmehr das Ziel, so lange und umfangreich wie möglich erwerbstätig zu bleiben. Später kamen Magenprobleme hinzu; bei einer schweren Operation wurde der Magen teilweise entfernt. Ab 1992 (mit 53) war der Ehemann gesundheitsbedingt langzeitarbeitslos; es wurden allenfalls gelegentliche Aushilfstätigkeiten (Sozialversicherungsfrei / Schwarzarbeit) vorgenommen.

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V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen

Im Jahr 2002 (mit 63 Jahren) ist der Ehemann an Lungenkrebs erkrankt (Chemotherapie), 2004 (mit 65 Jahren) ist er gestorben. Er war zwar insbe­ sondere in seinen letzten Lebensjahren in wachsendem Maße betreuungsbe­ dürftig, aber niemals pflegebedürftig im Sinne des SGB XI. Da die Renten­ anwartschaften des Ehemannes aufgrund seines grundsätzlich niedrigen Verdienstes, seiner gesundheitsbedingten Langzeitarbeitslosigkeit und dem vorzeitigen Rentenzugang mit Abschlägen (Altersrente bei Arbeitslosigkeit oder nach Altersteilzeit mit 60) insgesamt sehr niedrig ausgefallen sind, beträgt die GRV-Witwenrente nur 342 Euro. Im Hinblick auf die biografischen Determinanten der Grundsicherungsbe­ dürftigkeit kommen in diesem Fall zwei Faktoren zum Tragen. Maßgeblich war einerseits sicherlich die (auch für die damalige Zeit) außerordentlich hohe Kinderzahl, die dazu geführt hat, dass die Familie stets an der Armuts­ grenze gelebt hat. Der wechselnde Zuverdienst von Frau J-23 fand vor diesem Hintergrund notgedrungen sozialversicherungsfrei bzw. irregulär statt, so dass hier keine individuellen Rentenanwartschaften aufgebaut wer­ den konnten. Der zweite ausschlaggebende Punkt war die Tatsache, dass der Ehemann bereits mit 45 Jahren massive gesundheitliche Probleme hatte, die zu Einkommenseinbußen, zur späteren Langzeitarbeitslosigkeit und zu einer dementsprechend niedrigen GRV-Witwenrente geführt haben. (3) Fallbeispiel 3: Frau Z-24 Frau Z-24, 1943 im Kreis Warendorf (NRW) geboren, ein Sohn, ist seit ihrem 67. Lebensjahr (2010) verwitwet. Ihre eigene GRV-Altersrente von 150 Euro / Monat beruht nahezu ausschließlich auf Kindererziehungszeiten (1 Kind) und Pflegezeiten (14 Jahre Pflege des Ehemannes, durchgehend Pflegestufe  II). Die Höhe ihrer GRV-Witwenrente entspricht mit knapp 570 Euro ziemlich genau dem durchschnittlichen monatlichen Zahlbetrag der Witwenrente (West) des Rentenbestandes 2012 (576 Euro). Das eigene Ein­ kommen liegt mit rund 720 Euro somit nur knapp unter dem persönlichen Bruttobedarf (ca. 790 Euro inkl. einer Hausrat- und Haftpflichtversicherung, einer Sterbegeldversicherung sowie einer Servicepauschale für betreutes Wohnen der AWO), so dass der Nettobedarf der Grundsicherung nur etwa 70 Euro beträgt. Die Biografie von Frau Z-24 folgt im Prinzip einem Zwei-Phasen-Modell mit stark verkürzter erster Phase. Nach einer dreijährigen Hauswirtschafts­ lehre hat sie mit 19 geheiratet und ihr erstes Kind bekommen (weitere Kinder waren gewünscht, aber aus medizinischen Gründen nicht möglich). Bei der Heirat mit 19 Jahren wurde die Möglichkeit der Heiratserstattung genutzt, wobei hier allerdings lediglich die drei Jahre der Hauswirtschafts­



2. Familienorientierte Frauen183

lehre „gelöscht“ wurden. Ein Einstieg in das Erwerbsleben fand somit streng genommen gar nicht erst statt. Frau Z-24 ist nach der Heirat und der Geburt ihres Sohnes nicht mehr sozialversicherungspflichtig erwerbstätig gewesen und hat dies im Grundsatz auch nicht angestrebt: A Ich bin nebenbei ein bisschen putzen gegangen, um ein paar Mark zu kriegen. Aber dass ich wieder richtig auf Steuerkarte arbeiten gehen würde, da habe ich nie dran gedacht, nein.

Die Priorität von Frau Z-24 lag eindeutig auf ihrer Rolle als Mutter und Ehefrau, in deren Rahmen allenfalls Platz für eine geringfügige sozialversi­ cherungsfreie Beschäftigung war: A Nein, da habe ich jedes Mal nur eine Stelle gehabt. Das wäre mir dann zu viel geworden. weil der Sohn ja dann auch mittags nach Hause kam zum Essen und der Mann kam, also das wollte ich dann nicht. Da habe ich nur eine gehabt immer. Das war zwei Mal die Woche, aber das eine Mal hat mir gereicht.

Als der einzige Sohn 1980 aus dem Haushalt auszog, war Frau Z-24 erst 37 Jahre alt. In den 16 Jahren zwischen dem Auszug des Sohnes und dem Eintritt der Pflegebedürftigkeit des Ehemannes (Frau Z-24 war zu diesem Zeitpunkt 53  Jahre alt) gab es jedoch keine Bestrebungen, eine sozialversi­ cherungspflichtige Erwerbstätigkeit aufzunehmen. Die geringfügige sozial­ versicherungsfreie Tätigkeit wurde eingestellt, als der Ehemann pflegebe­ dürftig wurde. Der 8 Jahre ältere Ehemann, gelernter Modellschlosser, hat nach einer verlängerten Zeit bei der Bundeswehr (Stabsunteroffizier) nicht in seinem gelernten Beruf, sondern als Lieferfahrer für ein Lebensmittelunternehmen gearbeitet; im Laufe seiner Erwerbstätigkeit hat er eher unterdurchschnitt­ lich verdient. Eine betriebliche Altersvorsorge war in dem Unternehmen nicht gegeben. Er bekam bereits in etwa ab seinem 40. Lebensjahr erste gesundheitliche Beschwerden (Rheuma), später dann Probleme mit der Wir­ belsäule (in einer Operation wurden ihm 7 Schrauben eingesetzt), es folgte eine Operation an der Hüfte (künstliches Hüftgelenk), später eine Operation am Knie (künstliches Kniegelenk). Die Erwerbstätigkeit wurde zunächst fortgesetzt; die Krankheitsphasen wurden jedoch zunehmend länger; ab dem 59.  Lebensjahr (1994) wurde eine Erwerbsunfähigkeitsrente bezogen. Mit 61 Jahren wurde der Ehemann zum Pflegefall (Pflegestufe II) und musste insgesamt 14 Jahre lang gepflegt werden. Im Alter von 72 wurde Darm­ krebs diagnostiziert, mit 74 ist der Ehemann gestorben. In den 14 Jahren seiner Pflegebedürftigkeit war der Ehemann nach Angaben von Frau Z-24 insgesamt 33 Mal im Krankenhaus; in den letzten zwei Jahren musste eine 24-Stunden-Pflege geleistet werden; Pflegestufe III wurde beantragt, der Ehemann ist jedoch vor der Entscheidung gestorben. Frau Z-24 hat die Pflege ihres Ehemannes größtenteils alleine bestritten.

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V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen

Im Hinblick auf das spätere Alterseinkommen kommt noch ein weiteres Element hinzu: Im Jahr 1980 hat sich das Ehepaar auf Wunsch des Eheman­ nes, der immer schon Gastronom werden wollte, kurzzeitig selbstständig gemacht und die Pacht einer Wirtschaft übernommen. Die Selbstständigkeit ist jedoch bereits innerhalb eines Jahres gescheitert und hat zu einer hohen Verschuldung geführt. Frau Z. hat die Kreditverträge seinerzeit mit unter­ schrieben, so dass sie auch mit in Haftung gewesen ist. Die Schulden wur­ den über einen Zeitraum von fast 30 Jahren abgetragen; es wurde ein nicht unwesentlicher Teil des Einkommens (bis zur Pfändungsgrenze) einbehalten. Der Schuldendienst endete, als Frau Z-24 nach dem Tod ihres Ehemannes mit 67 Jahren in die Grundsicherung gekommen ist. Der Schuldendienst hat den Lebensstandard des Ehepaars nachhaltig gesenkt; dies dürfte dazu bei­ getragen haben, dass auch in der Zeit, als der Ehemann noch gesund gewe­ sen ist, eine private Altersvorsorge (etwa in Form einer Lebensversicherung) unterblieben ist. Insgesamt waren somit drei Faktoren für die Grundsicherungsbedürftig­ keit entscheidend. Der wichtigste Grund ist sicherlich, dass Frau Z-24 mit ihrer Heirat ihre Erwerbstätigkeit dauerhaft aufgegeben und somit auf den Aufbau einer eigenen Alterssicherung vollständig verzichtet hat. Zweitens reicht auch die abgeleitete GRV-Witwenrente aufgrund der gesundheitsbe­ dingt verkürzten Erwerbskarriere des erwerbsgeminderten Ehemannes nicht aus, um das soziokulturelle Existenzminimum zu sichern. Drittens ist durch die gescheiterte Selbstständigkeit und der damit einhergehenden Verschul­ dung auch der finanzielle Spielraum für eine private Altersvorsorge nicht gegeben gewesen. (4) Fallbeispiel 4: Frau S-37 Frau S-37, geboren 1942 in Frankfurt, ein Sohn, ist seit ihrem 67. Le­ bensjahr (2009) verwitwet und lebt im Main-Kinzig-Kreis (Hessen). Sie bezieht eine eigene GRV-Altersrente von 98 Euro, eine GRV-Witwenrente von 209 Euro sowie 501 Euro Grundsicherung. Ihr Bruttobedarf beträgt insgesamt 808 Euro. Frau S-37 ist in ihrem Leben kaum sozialversiche­ rungspflichtig erwerbstätig gewesen. Ihre GRV-Altersrente beruht im We­ sentlichen auf Kindererziehungszeiten (1 Kind), sowie auf ca. 4 Jahren Pflegezeit (Pflege des Ehemannes, zunächst Pflegestufe II, zuletzt Pflege­ stufe III). Hinzu kommen drei Jahre Teilzeitbeschäftigung als Kulturjour­ nalistin bei einer lokalen Tageszeitung. Ihr Ehemann war als Sachverstän­ diger für Orientteppiche, später auch als Händler bzw. Auktionator für Kunstgegenstände, die meiste Zeit seines Erwerbslebens selbstständig und nicht in der GRV versichert; dementsprechend niedrig fällt auch die GRVWitwenrente aus.



2. Familienorientierte Frauen

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Frau S-37 hat in ihrer Kindheit und Jugend über Jahre hinweg in einem katholischen Kinderheim bzw. Internat gelebt, da ihre nach dem Krieg ver­ witwete Mutter (freiberufliche Journalistin) mit der Erziehung der insgesamt 5 Kinder überfordert war. Nach dem Hauptschulabschluss und einem Jahr auf der Handelsschule hat Frau S-37 das Internat mit der mittleren Reife verlassen. Einen expliziten eigenen Berufswunsch hatte sie zu diesem Zeit­ punkt nicht. Nach einem Jahr Erwerbstätigkeit als Stenotypistin, bei der sie aufgrund mangelnder Leistungsmotivation entlassen wurde, hat sie, finan­ ziert über ein Stipendium, ein Kunststudium an einer staatlichen Kunsthoch­ schule begonnen; dieses hat sie jedoch aufgrund von psychologischen Schwierigkeiten mit bestimmten Lerninhalten (Abscheu vor Aktzeichnung) letztlich abgebrochen. Frau S-37 beschreibt sich selbst in dieser frühen Lebensphase als ausgesprochen schüchterne und unselbstständige Person. Ihr Ehemann, den sie mit 18 Jahren kennengelernt und mit 24 Jahren ge­ heiratet hat, als das erste Kind unterwegs war, war 16 Jahre älter und für die ohne Vater aufgewachsene Frau S-37 nach eigenen Angaben „wie eine Vaterfigur“. Das Ehepaar war zwischenzeitlich vergleichsweise wohlhabend und hat sich in gutsituierten, kunstinteressierten gesellschaftlichen Kreisen bewegt. Nach der Heirat und der Geburt des Kindes 1966 (mit 24 Jahren) hat Frau S-37 ihre Erwerbstätigkeit komplett eingestellt. Sie ging einer künstlerischen Tätigkeit als passionierte Hobby-Malerin nach; diese Tätigkeit wurde vom Ehemann gefördert (u. a. wurden Studienreisen und Privatstunden bei einem Kunstprofessor finanziert). Frau S-37 hat als Malerin zuweilen auch eigene Ausstellungen in kleinerem Rahmen gehabt, bei denen eigene Bilder ver­ kauft wurden; eine künstlerische Karriere im Sinne einer existenzsichernden Erwerbstätigkeit wurde jedoch nicht angestrebt. Leitend war hier die Vor­ stellung, dass die Erwerbstätigkeit verheirateter Frauen nur bei mangelndem Haushaltseinkommen notwendig und berechtigt, ansonsten aber überflüssig sei: A Sie müssen sich das so vorstellen, in den sechziger Jahren, wenn da ein Mann gut genug verdient hat, da ist keine Frau arbeiten gegangen. Es sei denn, sie war Ärztin oder hat einen akademischen Beruf gehabt, den sie gerne gemacht hat. Erstens mal hätte ich gar nicht gewusst, was soll ich machen? Ich war doch irgendwie eine Künstlerin. Und mein Mann, der wollte auch immer, dass ich künstlerisch tätig bin. Ich habe dann auch noch in Frankfurt später dann Kurse besucht. Also mein Mann hat sehr darauf geachtet, dass ich meinen künstlerischen Beruf ausübe. Aber frei. I Es gehörte anscheinend zum guten Ton, dass man sagt, ich verdiene so viel, dass meine Frau nicht arbeiten muss? A Ja, das war damals … da haben eben nur die Frauen gearbeitet, wo der Mann wenig verdient hat. Das wäre absolut verpönt gewesen, dass eine Frau, die auch noch ein Kind hat und einen Haushalt, arbeiten geht. Das war einfach

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V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen ein Unding. Das war gesellschaftlich nicht … das wäre nicht gegangen. Das hätte meinem Mann seinen Stolz verletzt. Wenn ich jetzt eine Frau gewesen wäre, die unbedingt hätte arbeiten gehen wollen. Dann hätte mein Mann das akzeptiert, aber so eine Frau war ich nicht.

Im Alter von 58  Jahren, nach 34  Jahren Erwerbsunterbrechung, hat Frau S-37 noch einmal versucht, auf den Arbeitsmarkt zurückzukehren. Hierbei spielte nach eigenen Angaben durchaus auch der Wunsch eine Rolle, sich selbst, ihrem Ehemann und ihrem sozialen Umfeld „etwas zu beweisen“. Sie arbeitete zunächst zwei Jahre geringfügig, später drei Jahre in Teilzeit als Kulturjournalistin bei der lokalen Tageszeitung. Diese Tä­ tigkeit wurde als persönlich sehr befriedigend und bereichernd empfun­ den; die Erwerbstätigkeit wurde jedoch eingestellt, als der Ehemann pfle­ gebedürftig wurde. Der Ehemann begann bereits Anfang der 1980er Jahre (mit ca. 55 Jahren) Symptome einer Demenz aufzuweisen. Hinzu kamen ein steigender Alko­ holkonsum und Veränderungen des Charakters. Die Demenz wurde lange Zeit nicht als solche diagnostiziert, zumal das Krankheitsbild in den 1980er Jahren noch nicht so bekannt war. Angesichts der fortschreitenden Krank­ heit des Ehemannes arbeitete Frau S-37 ihrem Mann immer öfter bei seiner Arbeit als Sachverständiger zu, u. a. bei der Verfassung bzw. Verschriftli­ chung von Expertisen. Wegen der fortschreitenden Krankheit des Ehemanns kam es nichtdestotrotz zu immer größeren Verdienstausfällen und immer unregelmäßigerem Einkommen, so dass zunächst ergänzendes Wohngeld, später schließlich ergänzende Sozialhilfe bezogen werden musste. Frau S-37 war zu diesem Zeitpunkt (1998) bereits 56 Jahre alt, ihr Ehemann 72 Jahre. 2005 trat die Pflegebedürftigkeit des Ehemannes ein; 2009 ist der Ehemann schließlich an Nierenkrebs gestorben. Frau S-37 hat die Pflege ihres Ehe­ mannes größtenteils allein übernommen; zuletzt handelte es sich um eine 24-Stunden-Betreuung. Im Hinblick auf die biografischen Determinanten der Grundsicherungsbe­ dürftigkeit kommen im Fall von Frau S-37 drei Faktoren zusammen: Erstens hat Frau S-37 ihre Erwerbstätigkeit mit der Heirat komplett aufgegeben und sich in allen finanziellen Belangen voll und ganz auf ihren deutlich älteren Ehemann verlassen. Hinzu kam zweitens die vorzeitige Erkrankung des Ehemannes, die zu einem deutlichen Einkommensverlust und zum Bezug von Mindestsicherungsleistungen bereits vor dem Rentenalter geführt hat. Drittens hat der Ehemann, laut Frau S-37 „überhaupt kein Geldmensch“, trotz seiner zwischenzeitlich guten Verdienste und der Tatsache, dass er 16 Jahre älter war als seine Ehefrau und davon ausgehen musste, vor seiner Frau zu sterben und diese als Witwe zurückzulassen, weder für sich selbst noch für seine Ehefrau ausreichend vorgesorgt: Es ist weder eine Immobilie angeschafft noch eine Lebensversicherung abgeschlossen worden.



2. Familienorientierte Frauen187 A Das Wort Rente und so was, das war in unserem Sprachgebrauch überhaupt nicht vorhanden. Mein Mann hat dann später immer gesagt, in meinem Beruf kann ich arbeiten, bis ich in die Kiste springe, hat er immer gesagt. Und auf einmal fing er dann an, dement zu werden.

Stattdessen wurde zwischenzeitlich ein zwar nicht übertrieben luxuriöser, aber durchaus gediegener Lebensstil gepflegt: So berichtet Frau S., die mit den Finanzen des Ehepaars zeitlebens wenig zu tun hatte, von einer „teuren Mietwohnung in Frankfurt“; sie erwähnt darüber hinaus, man sei über Jah­ re hinweg „abends auch viel ausgegangen“. A Nur irgendwann hat mein Mann, als er dann schon anfing dement zu werden, da hat er auf einmal Bedenken gekriegt. Was willst du denn machen, wenn du dich nicht mehr … und das war für ihn ganz fürchterlich. Er hat auch immer gesagt, ich habe nicht für dich gesorgt, ich habe nichts für dich. Und hat sich also beschimpft deswegen. Ich habe immer gesagt, mach dir doch keine Sorgen, ich komme schon zurecht, das Leben geht weiter.

(5) Fallbeispiel 5: Frau E-40 Frau E-40, geboren 1943 in Frankfurt (Hessen), verwitwet, 2 Kinder, ist zweimal verheiratet gewesen; die erste Ehe wurde geschieden. Sie bezieht eine GRV-Altersrente von 200 Euro / Monat sowie eine GRV-Witwenrente von 472 Euro / Monat. Zuzüglich erhält sie 434 Euro / Monat aus der Grundsi­ cherung; ihr monatlicher Bruttobedarf liegt bei 1.106 Euro. Der überaus hohe Bedarf liegt an den unverhältnismäßig hohen Kosten der Unterkunft, die alles in allem 724 Euro betragen. Hier liegt ein medizinisch- psychosozialer Här­ tefall vor; Frau E-40 berichtet, sie würde bereits seit 30 Jahren in ihrer jetzi­ gen Wohnung wohnen und hätte „beim Gesundheitsamt geklärt“, dass sie aus der Wohnung nicht ausziehen müsse. Die Kosten der Unterkunft werden da­ her in voller Höhe vom Grundsicherungsträger übernommen. Frau E-40 hat in ihrem Leben kaum sozialversicherungspflichtig gearbei­ tet. Sie hat keine Berufsausbildung; eine begonnene Lehre als Schuhverkäu­ ferin wurde seinerzeit wegen Konflikten mit dem Ausbildungsbetrieb nach zwei Jahren abgebrochen. Frau E-40 hat bereits mit 18 Jahren geheiratet; nach mehreren Fehlgeburten bekam sie mit 21 Jahren ihr erstes Kind. Bis zur Geburt des Kindes hatte sie sozialversicherungsfrei als Aushilfe (Bedie­ nung in einer Gastwirtschaft) gearbeitet. Nicht zuletzt auch auf Wunsch des Ehemannes, der als Gerüstbauer arbeitete, wurde nach der Geburt des Kin­ des die Erwerbstätigkeit (bis auf gelegentliche Schwarzarbeit in der Gastro­ nomie) weitgehend eingestellt. I

Sie haben dann in den Jahren, nachdem Sie geheiratet haben, aber selber nicht gearbeitet? A Nein. Mein Mann hat immer gesagt, du bleibst zu Hause, du hast dein Kind, erzieh dein Kind und das ist dann in Ordnung.

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V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen

Frau E-40 ließ sich 1973 im Alter von 30 Jahren von ihrem ersten Mann scheiden, heiratete den gleichen Mann jedoch 1976 (mit 33 Jahren) erneut. 1980 ließ sich Frau E-40 schließlich endgültig von ihrem ersten Mann schei­ den. Während die erste Scheidung noch vor Einführung des Versorgungsaus­ gleichs erfolgt war, wurde bei der zweiten Scheidung ein Versorgungsaus­ gleich vorgenommen; hierbei wurden aber nur die vier gemeinsamen Jahre der zweiten Ehe berücksichtigt, so dass die im Rahmen des Versorgungsaus­ gleichs übertragenen Anwartschaften sehr niedrig gewesen sind. Das Jahr 1980 war ein Jahr des privaten Umbruchs: Frau E-40, die zu diesem Zeit­ punkt offiziell noch mit ihrem ersten Mann verheiratet war, wurde von ihrem späteren zweiten Ehemann schwanger; auf die Scheidung vom ersten Ehe­ mann folgten unmittelbar die Heirat mit zweiten Ehemann und die Geburt des zweiten Kindes. Frau E-40 war zu diesem Zeitpunkt 37 Jahre alt. Auch in dieser Ehe stand die Rolle als Mutter im Vordergrund: I Dann waren Sie also 31 Jahre verheiratet, mit Ihrem zweiten Mann. Haben Sie in dieser Zeit noch mal gelegentlich gearbeitet, oder eigentlich gar nicht? A Ja, am wenigsten. Er wollte es auch nicht – ich hatte zwei Männer, die woll­ ten nicht, dass ich arbeite. Wenn du ein Kind hast, dann bist du fürs Kind da.

Zu Beginn der Ehe hatte sich der gleichaltrige Ehemann, der zuvor als Fahrer bei einer Brauerei gearbeitet hatte, vorübergehend als Gastronom selbstständig gemacht; Frau E-40 arbeitete unentgeltlich im Betrieb mit. Die Selbstständigkeit wurde mangels wirtschaftlichen Erfolgs bereits nach 2 Jahren aufgegeben; hierdurch sind allerdings keine größeren Schulden entstanden. Im Laufe der Jahre verschlechterte sich allerdings der Gesund­ heitszustand des zweiten Ehemannes aufgrund von Rücken- und Bandschei­ benproblemen. Es kam jedoch nicht zum Bezug einer Erwerbsunfähigkeits­ rente, sondern zu einem langjährigen Bezug von Arbeitslosen- bzw. Sozial­ hilfe (zuletzt ALG II). Seit der zweiten Hälfte der 1980er Jahre (Frau E-40 hat Schwierigkeiten, sich an genaue Jahreszahlen zu erinnern) war das Ehepaar bzw. die Familie nahezu durchgehend auf staatliche Transferleis­ tungen angewiesen. Frau E-40 hat im Laufe der zweiten Ehe, als das zwei­ te Kind etwas älter war, immer wieder einmal „schwarz“ in der Gastronomie gearbeitet, um das Haushaltseinkommen zu verbessern; sie erfüllte somit zwischenzeitlich den Tatbestand des Sozialleistungsmissbrauchs. Hierbei wurde sie auch einmal erwischt, ging aber angesichts des überschaubaren Volumens der nicht gemeldeten Einkünfte letztlich straffrei aus. Vom 53. bis zum 56.  Lebensjahr pflegte Frau E-40 ihre Mutter (erst Pflegestufe  II, zu­ letzt III) bis zu ihrem Tod. Maßgeblich für die Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter ist in diesem Fall erstens die Orientierung an einem Modell der „Hausfrauenehe“ und der damit verbundene Verzicht auf eine eigene Erwerbskarriere gewesen. Hier­ bei hat sicherlich auch eine Rolle gespielt, dass die Geburtsjahre der beiden



2. Familienorientierte Frauen189

Kinder sehr weit (16 Jahre) auseinanderliegen, so dass in dem Alter, in dem nach einer Kindererziehungsphase ein Wiedereinstieg in sozialversiche­ rungspflichtige Erwerbstätigkeit hätte erfolgen können, erneut ein schul­ pflichtiges Kind zu betreuen war. Frau E-40 scheint aber auch generell eine eher gering ausgeprägte eigene Erwerbsorientierung aufgewiesen zu haben. Die dementsprechend kleine eigene GRV-Altersrente der Frau E-40 basiert daher nicht auf eigener sozialversicherungspflichtiger Erwerbstätigkeit, son­ dern auf Kindererziehungszeiten, auf geringfügigen übertragenen Anwart­ schaften aus dem Versorgungsausgleich sowie aus Pflegezeiten für die Pflege ihrer Mutter. Die abgeleitete Hinterbliebenenrente vom zweiten Ehemann ist, und hier liegt der zweite für die Grundsicherungsbedürftigkeit entscheidende Faktor, aufgrund der gesundheitsbedingt langen Erwerbslo­ sigkeitszeiten des verstorbenen Ehemannes eher niedrig. Eine private Alters­ vorsorge stand aufgrund der der über Jahrzehnte hinweg schlechten finanzi­ ellen Situation des Ehepaars niemals zur Debatte. Zu berücksichtigen ist allerdings auch, dass Frau E-40 ein eigenes anrechnungsfähiges Einkommen von immerhin 672 Euro / Monat aufweist, womit sie nicht weit unter dem bundesdurchschnittlichen Bruttobedarf der Grundsicherung im Alter (Ende 2012: 719 Euro / Monat) liegt; eine Besonderheit dieses Falles ist der extrem hohe individuelle Bruttobedarf aufgrund der ungewöhnlich hohen Unter­ kunftskosten. (6) Fallbeispiel 6: Frau T-20 Aufgrund des abgeleiteten Charakters der Hinterbliebenenrente sind die partnerschaftsbiografischen Optionen verwitweter Frauen eingeschränkt: Die Witwenrente entfällt bei einer Wiederheirat. Frauen, die nach dem Tod ihres Ehepartners erneut eine dauerhafte Beziehung eingehen wollen, haben somit die Wahl, entweder auf eine mögliche Wiederheirat zu verzichten, um den Anspruch auf ihre Witwenrente nicht zu verlieren, oder aber trotzdem er­ neut zu heiraten und dadurch auf ihre Witwenrente zu verzichten. Diese Konstellation ist im Fall von Frau T-20 (geb. 1943) eingetreten: Nach dem 1996 eingetretenen Tod ihres ersten Ehemannes, der Busfahrer bei einem kommunalen Verkehrsbetrieb gewesen war, bezog Frau T-20, zum Zeitpunkt ihrer Verwitwung 53  Jahre alt, eine GRV-Hinterbliebenenrente von umgerechnet 700 Euro sowie eine betriebliche Witwenrente von rund 100 Euro. Bereits nach zwei Jahren heiratete Frau T-20 jedoch erneut; sie verlor dadurch ihre kompletten abgeleiteten Ansprüche, die für sich alleine genommen bereits das soziokulturelle Existenzminimum im Alter gesichert hätten. Frau T-20 war sich der negativen rentenrechtlichen Konsequenzen ihrer Entscheidung nach eigenen Angaben zu diesem Zeitpunkt nicht be­ wusst. Neben der grundsätzlichen emotionalen Sicherheit der Ehe war für

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V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen

ihren Wunsch nach schneller Wiederheirat u.  a. auch der pragmatische Grund entscheidend, dass sie mit ihrem neuen Partner zusammenziehen wollte und sich durch den Trauschein bessere Chancen auf dem Wohnungs­ markt ausgerechnet hat. Da Frau T-20 in ihrem Leben nur ca. 15  Jahre in sozialversicherungs­ pflichtiger Vollzeit (und zusätzlich einige Jahre in der Schattenwirtschaft) gearbeitet und sich danach in Absprache mit ihrem ersten Ehemann aus dem Arbeitsmarkt zurückgezogen hat, bezieht sie selbst nur eine GRV-Altersren­ te von 372 Euro; der zweite Ehemann, der aus dem ehemaligen Jugoslawi­ en stammt und lange Zeit arbeitslos gewesen ist, bezieht seinerseits nur eine GRV-Rente von rund 550 Euro. Im Ergebnis ist Frau T-20 zusammen mit ihrem zweiten Ehemann nun auf ergänzende Leistungen der Grundsi­ cherung im Alter angewiesen. d) Exkurs: Finanziell abhängige Frauen Das wichtigste gemeinsame Merkmal der „familienorientierten“ Frauen im Untersuchungssample besteht darin, dass ihre Lebensverläufe bzw. Le­ bensentwürfe sich an einem (in einigen Fällen noch traditionellen, in ande­ ren Fällen bereits ansatzweise modernisierten) männlichen „Ernährermodell“ ausgerichtet haben. Dieses Modell zeichnet sich durch eine asymmetrische geschlechtsspezifische Arbeitsteilung im Ehekontext aus und ist für die (Ehe-)Frauen mit dem Verzicht auf eine „volle“ eigene Berufslaufbahn und damit einhergehend mit dem weitgehenden Verzicht auf eine eigenständige existenzsichernde Absicherung sowohl in der Erwerbs- als auch in der Ru­ hestandsphase verbunden. Die finanziellen Konsequenzen eines solchen Lebensentwurfs, der für viele westdeutsche Frauen älterer Geburtsjahrgänge maßgeblich gewesen und (in der modifizierten bzw. „modernisierten“ Vari­ ante) auch heute noch von großer Bedeutung ist, zeigen sich unter anderem in der Höhe der Altersrenten von Frauen in der GRV: So weisen 72,5 % (und damit fast drei Viertel) der westdeutschen Rentnerinnen im Rentenbe­ stand 2012 eine GRV-Altersrente auf, deren Nettozahlbetrag unterhalb von 700 Euro / Monat und damit unterhalb des bundesdurchschnittlichen Brutto­ bedarfs der Grundsicherung im Alter dieses Jahres (719 Euro / Monat) liegt.22 22  Eigene Berechnungen auf Grundlage der Schichtungstabellen der Rentenbe­ standsstatistik 2012 (DRV Bund 2013). In diesem Wert sind allerdings mehrere Hunderttausend Auslandsrenten und ins Inland an Ausländerinnen gezahlte (Ver­ trags-)Renten sowie Renten an (Spät-)Aussiedlerinnen enthalten. Zudem ist zumin­ dest ein Teil der betroffenen Seniorinnen nicht hauptsächlich über die GRV, sondern über berufsständische Versorgungssysteme oder die Beamtenversorgung abgesichert. Über weitere eigenständige Alterseinkünfte sagt die Rentenbestandsstatistik grund­ sätzlich nichts aus.



2. Familienorientierte Frauen191

Die Tatsache, dass zumindest bislang nur ein äußerst kleiner Prozentsatz der westdeutschen Seniorinnen von Grundsicherungsbedürftigkeit betroffen ist, weist darauf hin, dass das unzureichende eigenständige Alterseinkom­ men der betroffenen (Ehe-)Frauen in fast allen Fällen im Haushaltskontext durch das Einkommen des (Ehe-)Partners aufgefangen wird. Nach dem Tod des Ehepartners beziehen die betroffenen Frauen zudem im Regelfall zu­ sätzlich zu ihrer (niedrigen) eigenen Altersrente eine abgeleitete Hinterblie­ benenrente der GRV (oder eines anderen Alterssicherungssystems), die entscheidend dazu beiträgt, dass die Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter im Ergebnis vermieden werden kann. Hier liegt insofern keine Grundsiche­ rungsbedürftigkeit, sondern vielmehr eine finanzielle Abhängigkeit vor. Ein unzureichendes (d. h. für sich allein genommen nicht existenzsichern­ des) eigenständiges Alterseinkommen und die daraus resultierende finanzi­ elle Abhängigkeit vom Ehepartner als Familienernährer und Versorger (so­ wie gegebenenfalls später von der abgeleiteten Hinterbliebenensicherung) schränkt die Handlungsoptionen der betroffenen Frauen in mehrfacher Weise ein. Dies betrifft zum einen die Option der Trennung bzw. Scheidung bei (noch) verheirateten Frauen; trotz der bestehenden Regelungen des Un­ terhaltsrechts und des rentenrechtlichen Versorgungsausgleichs erscheint eine Scheidung vielen eigentlich scheidungswilligen Frauen als finanziell zu riskant, so dass sie sich oftmals mit der gegebenen Situation arrangieren (müssen). Zum anderen betrifft es bei verwitweten Frauen die Option einer erneuten Heirat, da mit der Wiederheirat der Anspruch auf die abgeleitete Hinterbliebenenrente entfällt. Gleichwohl ist allerdings davon auszugehen, dass der Tatbestand der finanziellen Abhängigkeit von einem großen Teil der betroffenen Frauen in subjektiver Perspektive, insbesondere bei einer als stabil betrachteten Partnerschaft, als größtenteils unproblematisch empfun­ den wird. Um die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den Biografiemustern von tatsächlich grundsicherungsbedürftigen und von lediglich finanziell abhängigen Frauen deutlicher herauszuarbeiten, sind im Kontext der vorlie­ genden Studie einige ergänzende Interviews mit westdeutschen Seniorinnen der Geburtsjahrgänge 1938–1947 geführt worden, bei denen eine finanzielle Abhängigkeit vom Ehemann vorliegt. Die Betroffenen haben zwar ein un­ zureichendes, d. h. nicht existenzsicherndes eigenständiges Alterseinkom­ men, sind jedoch im Haushaltskontext soweit versorgt, dass sie keine Leistungen der Grundsicherung im Alter in Anspruch nehmen müssen. Im Folgenden sollen drei exemplarische Fälle in komprimierter Form vorgestellt werden: − Frau Z-01, geboren 1944, verheiratet, 2 Kinder, bezieht eine GRV-Al­ tersrente von 315 Euro / Monat. Nach dem Besuch der Volksschule muss­

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V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen

Tabelle 37 Zusatzinterviews: Finanziell abhängige westdeutsche Frauen (Auswahl) Fr. Z-01

Fr. Z-02

Fr. Z-03

Geburtsjahr

1944

1947

1939

Kinderzahl

2

2

2

Familienstand

Verheiratet

Verheiratet

Verheiratet

Berufsausbildung

keine

Biologielaborantin, ­Informatikerin

Kauffrau (private Schule)

Dauer der Familienphase

15  Jahre

13 Jahre

16 Jahre

Dominierende ­Beschäftigungsform

Geringfügige Beschäftigung

Teilzeit

Vollzeit

Eigenständiges ­Alterseinkommen

315 EUR

595 EUR

680 EUR

Haushaltseinkommen (geschätzt)

2000 EUR

2400 EUR

1900 EUR

Quelle: Eigene Darstellung.

te sie zunächst als mithelfende Familienangehörige in der Landwirtschaft arbeiten und konnte daher keine reguläre Ausbildung absolvieren. Mit 20 Jahren besuchte sie einen Schreibmaschinen- und Stenokurs und ar­ beitete anschließend 12 Jahre in Vollzeit bei verschiedenen Arbeitgebern als Schreib- und Bürohilfskraft. Nach einer betriebsbedingten Kündigung mit 32 Jahren besuchte sie ein Jahr lang die Handelsschule und machte dort einen Abschluss als kaufmännische Angestellte. Im gleichen Jahr heiratete sie (der Ehemann war Speditionskaufmann) und bekam im folgenden Jahr ihr erstes Kind, so dass sie nach der Ausbildung nicht in den erlernten Beruf eingestiegen ist, zwei Jahre später wurde das zwei­ te Kind geboren. Die Familienphase hat insgesamt 15  Jahre gedauert; neben den beiden Kindern wurde dabei zumindest zwischenzeitlich auch die Mutter versorgt. Der Zeitpunkt des Wiedereinstiegs wurde zudem durch vorübergehende gesundheitliche Probleme (Nervenleiden / Muskel­ zuckungen im Gesicht) um ca. 2  Jahre verzögert. Mit Anfang 50 ver­ suchte Frau Z-01 wieder auf den Arbeitsmarkt zurückzukehren und ab­ solvierte hierfür einen Computerkurs; der Wiedereinstieg in eine sozial­ versicherungspflichtige Beschäftigung ist jedoch letztlich nicht gelungen, so dass sie insgesamt noch 16 Jahre in verschiedenen geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen gearbeitet hat. Insgesamt zeigt sich hier



2. Familienorientierte Frauen193

somit das Muster eines Drei-Phasen-Modells mit Wiedereinstieg über geringfügige Beschäftigung. − Frau Z-02, geboren 1947, verheiratet, zwei Kinder, bezieht eine GRVAltersrente von 595 Euro / Monat. Nach dem Abschluss der Realschule machte sie eine Ausbildung als Biologielaborantin; der ursprüngliche Wunsch, Abitur zu machen und Lehrerin zu werden, konnte aufgrund der finanziellen Situation des Elternhauses nicht realisiert werden. Frau Z-02 arbeitete insgesamt 8 Jahre in Vollzeit als Biologielaborantin, bis sie sich mit 28 Jahren aufgrund einer Allergie beruflich umorientieren musste. Sie machte eine Umschulung zur Informatikerin, arbeitete jedoch nur wenige Monate in ihrem neuen Beruf, da sie zwischenzeitlich geheiratet hatte und ihre Berufstätigkeit aufgab, um an den Wohnort des Ehemannes zu ziehen. Das erste Kind bekam sie mit 31 Jahren, das zweite mit 33 Jah­ ren. Die Erwerbsunterbrechung dauerte insgesamt 13 Jahre (vom 30. bis zum 43. Lebensjahr); da der Ehemann als Vertriebler oftmals den Wohn­ ort wechseln musste, kam es zu mehreren Umzügen. Mit 43 Jahren stieg Frau Z-02 zunächst über eine zweijährige Halbtagsbeschäftigung wieder in die Berufstätigkeit ein; anschließend gab sie ein knappes Jahr lang Computerkurse auf selbstständiger Basis. Da die angestrebte Selbststän­ digkeit jedoch letztlich nicht erfolgversprechend erschien, machte sie eine vom Arbeitsamt finanzierte Fortbildung zur kaufmännischen Angestellten; von ihrem 46.  Lebensjahr bis zu ihrem Renteneintritt mit 65  Jahren ar­ beitete sie in Teilzeit (ca. 16 Stunden / Woche) als Bürokraft in einem mittelständischen Maschinenbaubetrieb. Insgesamt zeigt sich hier das Muster eines Drei-Phasen-Modells mit Wiedereinstieg über Teilzeitbe­ schäftigung. − Frau Z-03, geboren 1939, verheiratet, 2 Kinder, bezieht eine GRV-Alters­ rente von rund 590 Euro / Monat sowie ZVöD-Leistungen in Höhe von 90 Euro / Monat. Nach der mittleren Reife besuchte sie eine private kaufmän­ nische Schule; bereits mit 17 Jahren hatte sie ihre erste Anstellung als Bürokraft in Vollzeit. Sie heiratete mit 23 Jahren; der Ehemann war Personalleiter in einem Warenhaus. Ihre Erwerbstätigkeit gab Frau Z-03 mit 24 auf, als das erste Kind geboren wurde; das zweite Kind wurde drei Jahre später geboren. Die Familienphase dauerte insgesamt rund 16 Jahre (vom 23. bis zum 39. Lebensjahr); innerhalb dieser Zeit gab es aufgrund beruflicher Veränderungen des Ehemannes mehrere Wohnort­ wechsel. Anschließend glückte Frau Z-03 zunächst der Wiedereinstieg in Vollzeit als Sekretärin an einer Universität. Aufgrund eines schweren Verkehrsunfalles mit 44 Jahren musste Frau Z-03 jedoch mehrere Jahre pausieren; anschließend konnte sie aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr in Vollzeit arbeiten. Stattdessen arbeitete sie bis zu ihrem vorgezo­ genen Renteneintritt mit 62  Jahren rund 15  Jahre in Teilzeit als Sekretä­

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V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen

rin in einem Krankenhaus. Insgesamt zeigt sich auch in diesem Fall das Grundmuster des Drei-Phasen-Modells; der Wiedereinstieg ist zwar zu­ nächst über eine Vollzeitbeschäftigung erfolgt, insgesamt dominiert in der dritten Phase jedoch die Teilzeitbeschäftigung. Die drei hier exemplarisch ausgewählten Fallbeispiele weisen eine ganze Reihe von biografischen Gemeinsamkeiten auf. Zunächst sind die ursprüng­ lichen persönlichen Ausbildungs- und Berufsziele der Befragten aufgrund der Bildungsaspirationen und der finanziellen Situation des Elternhauses größtenteils unerfüllt geblieben; die Priorität lag auf einem möglichst schnellen Zugang zum Arbeitsmarkt. Bei den realisierten Abschlüssen und Berufskarrieren handelt es sich somit immer ein Stück weit um eine „zweit­ beste Lösung“; die persönliche Identifikation mit dem „gewählten“ Beruf ist dementsprechend nicht besonders stark ausgeprägt. Die Befragten haben generell keine längerfristigen Karrierepläne für sich selbst formuliert, son­ dern die eigene Karriere früher oder später für diejenige des Mannes und für die Kindererziehung in den Hintergrund gestellt. Diese Prioritätenset­ zung äußert sich u. a. in der Bereitschaft zu mehrmaligen, durch die Erfor­ dernisse der Berufskarriere des Ehemanns bedingten Umzügen, die häufig mit einer Aufgabe der eigenen Beschäftigung verbunden gewesen sind. Neben einer starken Betonung der Mutterrolle spielt für die Länge der Er­ werbsunterbrechung auch eine wichtige Rolle, dass keine unmittelbare Notwendigkeit für eine eigene Erwerbstätigkeit vorliegt, da das Einkommen des Ehemannes für den Lebensunterhalt der Familie ausreicht. Nach einer mehr als ein Jahrzehnt langen ehe- bzw. kindererziehungsbe­ dingten Phase der Nicht-Erwerbstätigkeit gelingt der Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt nicht bzw. nicht im angestrebten Ausmaß; neben dem fortge­ schrittenen Alter sind hierfür auch Dequalifizierungsprozesse während der Erwerbsunterbrechung maßgeblich, die durch Fort- und Weiterbildungen nicht voll ausgeglichen werden können. Hinzu kommt aufgrund der Kinder­ betreuungspflichten und der unzureichenden Betreuungsinfrastruktur eine eingeschränkte zeitliche Flexibilität und regionale Mobilität und des Ar­ beitsangebots. Der Wiedereinstieg wird zum Teil auch durch gesundheitliche Probleme erschwert. Im Ergebnis zeigt sich eine Erwerbs- und Versiche­ rungsbiografie, die durch Vollzeitbeschäftigung in der (kurzen) ersten Phase, eine daran anschließende große Beitragslücke in der zweiten Phase und eine reduzierte Beitragsleistung in der dritten Phase gekennzeichnet ist. Keine der befragten Frauen hat eine eigenständige private Altersvorsorge betrieben; die Verantwortung für die Organisation der Altersvorsorge bzw. für finanzielle Angelegenheiten generell hat in allen Fällen praktisch aus­ schließlich beim Ehemann gelegen. Insgesamt ist festzustellen, dass die hier exemplarisch vorgestellten Bio­ grafien finanziell abhängiger Frauen starke Ähnlichkeiten mit den Biogra­



2. Familienorientierte Frauen

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fien der grundsicherungsbedürftigen (familienorientierten) Frauen in unse­ rem Sample aufweisen; dies gilt insbesondere für die Bildungs- und die Erwerbsdimension, aber auch für die Vorsorgedimension und zum Teil auch für die Gesundheitsdimension. Die beiden entscheidenden Unterschiede zwischen den befragten finanziell abhängigen Frauen und den befragten familienorientierten Frauen im Grundsicherungsbezug betreffen erstens die Stabilität der Ehe und zweitens die im Großen und Ganzen „gelungene“ Erwerbsbiografie des Ehemannes. So sind alle drei finanziell abhängigen Beispielfrauen weder verwitwet noch geschieden, sondern mit ihrem jeweils ersten Ehemann schon mindestens drei oder sogar vier Jahrzehnte lang verheiratet; sie erfüllen somit (anders als die meisten grundsicherungsbe­ dürftigen Frauen) das Kriterium der lebenslangen „Normalehe“. Der zweite entscheidende Unterschied zu den grundsicherungsbedürftigen Frauen liegt darin, dass der Ehepartner weder vorzeitig gestorben noch dauerhaft krank und / oder langzeitarbeitslos geworden ist. In den drei Beispielfällen liegt das eigenständige Alterseinkommen des Ehemannes zwischen 1200 und 1800 Euro / Monat; daraus lässt sich schließen, dass die Ehemänner der befragten Frauen eine mehr oder weniger „volle“ Erwerbskarriere mit langjähriger sozialversicherungspflichtiger Vollzeittätigkeit aufweisen (und in den Regel auch zusätzliche Vorsorge betrieben haben), so dass sie das Kriterium einer (männlichen) „Normalbiografie“ erfüllen. Die individuelle Grundsicherungsbedürftigkeit wird somit im Wesentli­ chen dadurch vermieden, dass im Ehepaarkontext die beiden zentralen Normalitätsannahmen des Ernährermodells (lebenslange Ehe und „volle“ Erwerbskarriere des Ehemannes) erfüllt sind. Die betroffenen Frauen sind zwar finanziell abhängig von ihrem Ehemann, insgesamt jedoch materiell relativ gut versorgt: Das gemeinsame Haushaltseinkommen der drei Ehepaa­ re liegt zwischen 1900 und 2400 Euro und damit nicht nur weit über der Grundsicherungsschwelle, sondern auch mehr oder weniger deutlich ober­ halb der Armutsrisikoschwelle (2012: knapp 1500 Euro für einen Paarhaus­ halt). In allen Beispielfällen hätte die Ehefrau im Falle des Todes des Ehemannes zudem Anspruch auf eine abgeleitete Hinterbliebenenrente der GRV, die zusammen mit der eigenen Altersrente dafür sorgen würde, dass die individuelle Grundsicherungsbedürftigkeit auch im Falle der Verwitwung nicht eintritt. Zugespitzt formuliert, besteht der wesentliche Unterschied zwischen den grundsicherungsbedürftigen und den finanziell abhängigen Frauen somit darin, dass es letzteren gelungen ist, ihre mangelnde Absiche­ rung über den Arbeitsmarkt durch eine Absicherung über den „Heiratsmarkt“ zu kompensieren.

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V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen

e) Typische Biografiemuster und Risikokonstellationen Die in den vorangegangenen Abschnitten aufgeführten detaillierten Fall­ beispiele verdeutlichen zunächst, dass es innerhalb der Gruppe der hier als „familienorientiert“ bezeichneten, überwiegend westdeutschen Frauen eine erhebliche Bandbreite von Lebensverläufen und Risikokonstellationen gibt. Die gewählte Bezeichnung „familienorientiert“ ist dabei nicht so zu verste­ hen, dass alle betroffenen Frauen von Anfang an eine hohe Familien- bzw. eine geringe Erwerbsorientierung aufgewiesen hätten. Dies war zwar bei einigen Befragten durchaus der Fall; in vielen anderen Fällen ist die eheund familienbedingte Einschränkung der eigenen Erwerbstätigkeit hingegen das Ergebnis einer ganzen Reihe von individuellen wie auch gesellschaft­ lichen Faktoren und Bedingungen. Gerade bei der Gruppe der familien­ orientierten Frauen ist zudem zu beachten, dass ihre Lebensverläufe eng mit den Lebensverläufen ihrer (früheren) Ehepartner verknüpft gewesen sind (linked lives), so dass diese nach Möglichkeit in die Analyse mit einzube­ ziehen sind. Die Analyse der Fallbeispiele in den beiden Teilgruppen der geschiedenen und der verwitweten Frauen im Grundsicherungsbezug und ihre Kontrastie­ rung mit der Vergleichsgruppe der finanziell abhängigen Frauen ohne Grundsicherungsbezug machen deutlich, dass das Ernährer- bzw. Versorger­ modell auf bestimmten Normalitätsannahmen und Stabilitätsvoraussetzun­ gen beruht und nur bei Erfüllung dieser Bedingungen ein ausreichendes Alterseinkommen der (Ehe-)Frau gewährleistet ist. Zwei Punkte sind hier zentral: − Erstens muss die Partnerschaft im Ehekontext stabil bleiben, da das Ver­ sorgermodell auf der Normalitätsfiktion einer lebenslangen „Normalehe“ basiert. Scheidungen sind in der Regel für beide Ehepartner mit finanzi­ ellen Einbußen verbunden, wobei diese bei Frauen nach wie vor deutlich stärker ins Gewicht fallen. − Zweitens muss der Ehemann seine ihm innerhalb dieses Modells zuge­ wiesene Rolle als Ernährer auch erfüllen (können): Er muss im Kontext seiner Erwerbstätigkeit ein stabiles Einkommen generieren, dass ausreicht, um sowohl in der Erwerbs- als auch in der Nacherwerbsphase die Le­ benshaltungskosten des Haushalts zu decken („Normalarbeitsverhältnis“ und „Familienlohn“). Ob ihm dies gelingt, ist in erster Linie von seinem Arbeitsmarkterfolg und damit auch von seiner Gesundheit und Beschäf­ tigungsfähigkeit abhängig. Es handelt sich bei dem Versorgermodell somit um eine riskante bzw. fragile Konstellation, die auf einen Allein- bzw. Haupternährer zugeschnit­ ten ist und mit der Stabilität der Partnerschaft einerseits sowie der Einkom­



2. Familienorientierte Frauen197

mensstabilität des Ernährers andererseits steht und fällt. Die beiden zentralen Risiken des männlichen Ernährer- bzw. Versorgermodells, das dauerhafte Scheitern der Ehe (Scheidung) und der dauerhafte (gesundheitsbedingte) Ausfall des Versorgers, bilden dementsprechend auch das jeweils identitäts­ bestimmende Merkmal der beiden Untergruppen der geschiedenen und der verwitweten familienorientierten Frauen. In beiden Teilgruppen zeigt sich, dass die Ehefrauen und Mütter, die ihre Erwerbstätigkeit ehe- und familien­ bedingt dauerhaft eingeschränkt, unterbrochen oder gar abgebrochen haben, hiermit eine ganz entscheidende biografische Weichenstellung vorgenom­ men haben, die sich im Nachhinein oftmals nur noch schwer korrigieren lässt. Mit dem Scheitern des bisherigen Lebensmodells sind in vielen Fällen deutliche soziale Abstiegsprozesse verbunden; finanzielle Abhängigkeit, so zeigen die Fallstudien, bildet oftmals die Vorstufe der Grundsicherungsbe­ dürftigkeit. Die betroffenen Frauen haben aufgrund ihrer langen Nicht-Erwerbstätig­ keit, ihres fortgeschrittenen Alters, ihrer fehlenden bzw. mittlerweile veral­ teten Qualifikationen, ihrer allgemeinen Arbeitsmarktferne sowie oftmals auch aufgrund ihrer fehlenden Selbstsicherheit und Selbstständigkeit große Schwierigkeiten, den Weg in ein existenzsicherndes sozialversicherungs­ pflichtiges Beschäftigungsverhältnis (zurück) zu finden. Die weiterhin be­ stehenden Betreuungsaufgaben, sei es im Fall der geschiedenen und in der Regel alleinerziehenden Frauen die Betreuung und Erziehung der Kinder oder im Fall der Ehefrauen mit dauerhaft arbeitsunfähigem Ehemann die häusliche Pflege und Krankenbetreuung, kommen erschwerend hinzu, da sie die räumliche Mobilität und die zeitliche Flexibilität der Betroffenen und damit auch ihre Verfügbarkeit für den Arbeitsmarkt zum Teil entscheidend reduzieren. In der Konsequenz kommt es sowohl in der Gruppe der geschie­ denen Alleinerziehenden als auch in der Gruppe der noch verheirateten Mütter und Hausfrauen oftmals zur dauerhaften Abhängigkeit von Mindest­ sicherungsleistungen; die Sozialhilfe fungiert dabei nicht selten als dauer­ hafter „Ernährerersatz“ (Ott / Strohmeier 2003: 7). Die Analyse der vorliegenden Fälle zeigt zudem, dass die individuelle Grundsicherungsbedürftigkeit in der Mehrzahl der Fälle nicht allein auf die Kombination einer ehe- bzw. familienbedingten dauerhaften Einschränkung der Erwerbstätigkeit und dem Scheitern der Ehe bzw. dem gesundheitsbe­ dingten Ausfall des (Haupt-)Ernährers zurückzuführen ist, sondern dass zu dieser prekären Grundkonstellation oftmals noch weitere Risiken und nega­ tive Umstände hinzukommen. Hierbei kann es sich zum einen um allgemei­ ne Arbeitsmarktrisiken handeln (z. B. Insolvenz des Arbeitgebers, Geschäfts­ aufgabe, Umstrukturierungen etc.); häufiger jedoch weisen die betroffenen Frauen im letzten Drittel ihrer Erwerbsbiografie eigene gesundheitliche Einschränkungen und Erkrankungen auf, die ihre Erwerbsfähigkeit deutlich

198

V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen

mindern. Ein weiterer zentraler Risikofaktor, der in den meisten aktuellen Studien zu den Erwerbsbiografien und Alterseinkommensperspektiven von Frauen (BMFSFJ 2011, Heien et al. 2012, Frommert et al. 2013) bislang nur unzureichend berücksichtigt worden ist, ist das hohe Ausmaß an Schwarzarbeit in den Erwerbsbiografien der „familienorientierten“ Frauen. Wie die Fallanalysen zeigen, stellte der nicht angemeldete Zusatzverdienst „unter der Hand“ angesichts der in der Regel stark eingeschränkten Ver­ dienstchancen und des drohenden Transferentzugs bei Aufnahme einer regu­ lären Beschäftigung insbesondere für langjährige Sozialhilfeempfängerinnen mit minderjährigen Kindern die attraktivste Option dar, um das aktuell verfügbare Einkommen zu maximieren. Die typische Kombination bzw. Kumulation von Risikofaktoren in der Gruppe der familienorientierten Frau­ en lässt sich somit stark vereinfachend zu folgender „Risikoformel“ zusam­ menfassen: Dauerhafte Einschränkung der regulären eigenen Erwerbstätigkeit + Scheitern der Ehe oder „Versorgungsunfähigkeit“ bzw. Tod des (Ehe-)Partners + Zusätzliche Faktoren (insbes. eigene Gesundheitsprobleme)       =  Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter.

3. Ehemalige Selbstständige a) Gemeinsame Merkmale und Rahmenbedingungen Selbstständige bilden in Deutschland nicht nur hinsichtlich ihrer Einkom­ menssituation, sondern auch hinsichtlich der institutionellen Ausgestaltung ihrer Alterssicherung eine sehr heterogene Gruppe, denn bislang gibt es in Deutschland keine flächendeckende Verpflichtung aller Selbständigen, für das Alter vorzusorgen. Da die deutsche Rentenversicherung trotz diverser Reformen bis heute im Wesentlichen eine Arbeitnehmerversicherung geblie­ ben ist, ist nur ein kleiner Teil der Selbstständigen in der GRV pflichtver­ sichert. Dabei handelt es sich um bestimmte Gruppen von „arbeitnehmer­ ähnlichen“ bzw. als „schutzbedürftig“ eingestuften Selbständigen; hierzu gehören u. a. Hauslehrer und Erzieher, Pflegepersonen, die keinen versiche­ rungspflichtigen Arbeitnehmer beschäftigen, Hebammen und Entbindungs­ pfleger / -innen, Seelotsen; Künstler und Publizisten, Gewerbetreibende, die in die Handwerksrolle eingetragen sind, und arbeitnehmerähnliche Selbstän­ dige („Scheinselbständige“), die keinen versicherungspflichtigen Arbeitneh­ mer beschäftigen und auf Dauer und im Wesentlichen nur für einen Arbeit­ geber tätig sind. Selbständig tätige Handwerker können sich von der Versi­ cherungspflicht befreien lassen, wenn für sie mindestens 18 Jahre lang Pflichtbeiträge entrichtet wurden.



3. Ehemalige Selbstständige199

Ein weiterer Teil der Selbstständigen ist in anderen obligatorischen Al­ terssicherungssystemen der ersten Säule pflichtversichert. Zu nennen sind hier erstens die Alterssicherung der Landwirte, zweitens die berufsständi­ schen Versorgungssysteme für die verkammerten Berufe (Ärzte, Zahnärzte, Tierärzte, Apotheker, Architekten, Rechtsanwälte, Notare sowie Steuerbera­ ter und Steuerbevollmächtigte, Wirtschaftsprüfer und vereidigte Buchprüfer) sowie drittens die seit Mitte der 1980er Jahre existierende Künstlersozial­ kasse für Künstler, Musiker und Publizisten. Die große Mehrheit (rund 80 %) der aktuell rund 4,3 Millionen Selbstständigen ist jedoch nicht obli­ gatorisch für das Alter abgesichert (SVR 2011: Zf. 525) und erwirbt daher während der selbstständigen Erwerbstätigkeit in der Regel auch keine zu­ sätzlichen Entgeltpunkte in der GRV. Ob und in welchem Maße sich Selbst­ ständige außerhalb der bestehenden Pflichtversicherungssysteme eigenver­ antwortlich für das Alter absichern, hängt sowohl von ihrer Vorsorgefähig­ keit als auch von ihrer Vorsorgebereitschaft ab; die diesbezügliche Datenla­ ge ist allerdings nach wie vor unzureichend. Gemäß den Daten der ASID 2011 finden sich in Deutschland hochgerech­ net rund 1,7 Millionen Personen im Alter von 65 und mehr Jahren, die im Verlauf ihrer Erwerbsbiografie selbstständig tätig gewesen sind; das sind rund 10,6 % aller 65-Jährigen und Älteren (Bundesregierung 2012: 69). Rund 90 % dieser ehemaligen Selbstständigen leben in den alten Bundeslän­ dern. Gut drei Viertel (77 %) der ehemaligen Selbstständigen beziehen Al­ terssicherungsleistungen aus der GRV (75 % in den alten Bundesländern, 99 % in den neuen Bundesländern); 18 % beziehen Leistungen aus der Al­ terssicherung der Landwirte, und knapp 6 % beziehen Alterssicherungsleis­ tungen aus der berufsständischen Versorgung. Im Hinblick auf das Risiko der Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter ergibt sich aus den Daten der ASID 2011, dass ehemalige Selbstständige in der Grundsicherung im Alter überproportional vertreten sind: Der Anteil der Selbstständigen beträgt hier hochgerechnet fast 20 % (genau: 19,7 %, vgl. Bundesregierung 2012: 82). Die im Rahmen der vorliegenden Studie zu der Gruppe der ehemaligen Selbstständigen gerechneten Personen haben gemeinsam, dass sie im Laufe ihrer Erwerbsbiografie zumindest eine gewisse Zeit lang selbstständig er­ werbstätig und in dieser Zeit nicht in der GRV pflichtversichert gewesen sind, und dass diese Phase der Selbstständigkeit für ihre Erwerbs- und Vorsorgebiografie prägend gewesen ist. Dieses Abgrenzungskriterium be­ deutet nicht zwangsläufig, dass die Phase der Selbstständigkeit den größten Teil der Erwerbsphase eingenommen haben muss; es bedeutet aber, dass die unmittelbaren und mittelbaren Folgen der Selbstständigkeit von großer, häufig entscheidender Bedeutung für das spätere Alterseinkommen gewesen sind. Nach diesem Kriterium lassen sich insgesamt 11 der 49 Befragten in unserem Sample der Teilgruppe der ehemaligen Selbstständigen zurechnen.

200

V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen Tabelle 38 Ehemalige Selbstständige im Sample

Nr.

Name

Geb.

Fam.- Beruf / Branche stand

Mit /  Jahre ohne GRV 2. / 3. Bruttoohne SVP, Alter bei Alter Säule bedarf Besch. Beginn / Ende

 1

Fr. M-09

1947

G

Musikerin, Journalistin

Solo

23 J. (30–53)

380



  780

 2

Hr. F-25

1946

G

Versicherungs­ agent

Solo

24 J. (29–53)

370



  707

 3

Hr. B-26

1940

G

Elektro­ installateur, Gastwirt

Solo

24 J. (39–63)

380



  754

 4

Hr. N-28

1938

G

Bauunterneh­ mer, Reini­ gungsfirma, Bauzubehör

Mit 26 J. (39–65) Besch.

489



  761

 5

Hr. D-29

1946

G

Taxi­ unternehmer

Mit 33 J. (32–65) Besch.

292



  791

 6

Hr. S-35

1945

G

Psychologe

Solo

17 J. (36–53)

155



  840

 7

Hr. L-36

1936

G

Gastwirt

Solo

18 J. (24–27; 43–58)

633



  983

 8

Hr. C-41

1946

G

Psychologe /  Coach

Solo

20 J. (44–64)

656



  909

 9

Hr. G-45

1939

L

Versicherungs­ agent

Solo

33 J. (25–33; 40–65)

445



1.225

10

Hr. T-46

1948

G

BeleuchtungsMit 16 J. (34–50) technik Besch.

426



  914

11

Hr. F-55

1947

G

Einzelhandel (Bekleidung)

586



  841

Mit 15 J. (43–58) Besch.

Familienstand: L = Ledig, G = Geschieden; ohne SVP = ohne Sozialversicherungspflicht. Quelle: Eigene Darstellung.

Hinsichtlich der soziodemografischen Merkmale der ehemaligen Selbst­ ständigen im Sample fällt zunächst auf, dass 10 der 11 Personen in dieser Teilgruppe männlichen Geschlechts sind; zumindest für die in der vorlie­ genden Studie untersuchten Geburtskohorten lässt sich vermuten, dass es sich bei den ehemaligen Selbstständigen im Grundsicherungsbezug größten­ teils um westdeutsche Männer handelt. Umgekehrt ist auch davon auszuge­ hen, dass ehemalige Selbstständige unter den westdeutschen Männern im



3. Ehemalige Selbstständige201

Grundsicherungsbezug die augenblicklich wohl quantitativ größte Teilgrup­ pe bilden. Des Weiteren fällt auf, dass bis auf eine Ausnahme alle ehema­ ligen Selbstständigen im Sample geschieden sind; alle 11 Personen sind zudem aktuell alleinlebend. Das Spektrum der abgedeckten Branchen und der ausgeübten Berufe ist relativ breit. Nur vier ehemalige Selbstständige haben sozialversicherungs­ pflichtige Mitarbeiter beschäftigt; davon haben zwei Personen einen Kleinbe­ trieb geführt (Herr D-29 als Taxiunternehmer mit maximal 8 Mitarbeitern, Herr T-46 als Inhaber einer Spezialfirma für Lichttechnik mit maximal 7 Mit­ arbeitern). Zwei weitere Personen haben einen etwas größeren Betrieb ge­ führt: Herr N-28 war zwischenzeitlich Inhaber einer Reinigungsfirma mit bis zu 200 (überwiegend geringfügig beschäftigten) Mitarbeiter / -innen und spä­ ter Inhaber eines kleinen mittelständischen Familienunternehmens für Bauzu­ behör mit ca. 20 Mitarbeitern; Herr F-55 hat eine kleine Kette für Berufsbe­ kleidung mit zwischenzeitlich bis zu 14 Filialen aufgebaut. Die restlichen sieben ehemaligen Selbstständigen haben allenfalls zeitweise Aushilfen be­ schäftigt (dies gilt insbesondere für Herrn B-26 und Herrn L-36 als Gastwir­ te), so dass „Solo-Selbstständige“ in dieser Gruppe die Mehrheit bilden. Alle Befragten waren im Rahmen ihrer Erwerbsbiografie über einen länge­ ren Zeitraum hinweg von der Sozialversicherungspflicht befreit. Das Lebens­ alter beim Eintritt in die Selbstständigkeit und dem damit verbundenen Ende der Sozialversicherungspflicht variiert zwischen den einzelnen Betroffenen stark und liegt im Durchschnitt bei knapp 36 Jahren; die Länge des sozialver­ sicherungsfreien Zeitraumes liegt im Durchschnitt bei ca. 23 Jahren.23 Wäh­ rend ein kleinerer Teil der Befragten bis zum (teilweise vorgezogenen) Ren­ teneintritt selbstständig geblieben ist (wenn auch häufig bei deutlich redu­ ziertem Aktivitätsgrad in den letzten Erwerbsjahren), hat der größere Teil die Selbstständigkeit vorzeitig beendet; in der Regel erfolgt im Anschluss an die Selbstständigkeitsphase hier der Bezug von Mindestsicherungsleistungen. Bei der Betrachtung des eigenen angerechneten Alterseinkommens fällt auf, dass alle ehemaligen Selbstständigen im Sample eine GRV-Altersrente beziehen; somit sind alle Betroffenen zumindest eine Zeit lang sozialversi­ cherungspflichtig beschäftigt gewesen. Die durchschnittliche Nettorentenhö­ he beträgt in dieser Gruppe 437 Euro / Monat. Keine der 11 Personen verfügt hingegen über regelmäßige Einnahmen aus einem berufsständischen Vorsor­ gesystem, aus betrieblicher oder privater Altersvorsorge; die Altersrente der GRV stellt somit für alle Personen in dieser Gruppe das einzige anrech­ 23  Die Länge des Zeitraums, in dem keine Sozialversicherungspflicht bestand, kann in einigen Fällen aufgrund der Komplexität der Biografie nur annähernd ge­ schätzt werden; Zeiten der Ausbildung, des Studiums sowie des Bezugs von staat­ lichen Mindestsicherungsleistungen sind hierbei grundsätzlich nicht berücksichtigt.

202

V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen

nungsfähige eigene Einkommen aus einem Altersvorsorgesystem dar. Für 10 von 11 Personen ist die GRV-Altersrente das einzige eigene Alterseinkom­ men überhaupt; nur eine einzige Person (Herr S-35) bezieht zusätzlich noch geringfügige Einkünfte aus ehrenamtlicher Tätigkeit. Die Betroffenen in der Gruppe der ehemaligen Selbstständigen weisen mit 866 Euro / Monat einen gegenüber allen anderen Gruppen im Sample deutlich erhöhten durchschnittlichen Bruttobedarf auf. Die in Einzelfällen extrem hohen individuellen Bedarfe sind dabei in erster Linie auf die von der Grundsicherung zu übernehmenden Kranken- und Pflegeversicherungs­ beiträge für freiwillig bzw. privat Krankenversicherte zurückzuführen. Diese beliefen sich im Jahr 2012 gemäß Grundsicherungsstatistik auf durchschnitt­ lich knapp 170 Euro / Monat, können bei Privatversicherten jedoch deutlich höher liegen; im Fall von Herrn G-45 liegt der Beitrag zur privaten Kran­ ken- und Pflegeversicherung beispielsweise bei rund 330 Euro / Monat. b) Ausgewählte Fallbeispiele aa) Fallbeispiel 1: Herr F-25, ehemaliger Versicherungsmakler Herr F-25, geboren 1946 in Düsseldorf, geschieden, keine Kinder, bezieht eine GRV-Altersrente von 370 Euro / Monat, die von der Grundsicherung mit 337 Euro / Monat aufgestockt wird. Sein Bruttobedarf liegt bei 707 Euro / Mo­ nat. Nach einer Lehre als Großhandelskaufmann war Herr F-25 insgesamt rund 10 Jahre sozialversicherungspflichtig in Vollzeit beschäftigt. Er arbeite­ te im kaufmännischen Bereich und wechselte einige Male die Anstellung. Die Arbeitgeber- und Branchenwechsel (Kunststoff, Stahl, Papier, Versiche­ rungen) waren dabei stets mit beruflichen und finanziellen Verbesserungen verbunden. Nach einer kurzen Zeit als selbstständiger Außendienstmitarbeiter bei einer Versicherung hat sich Herr F-25 schließlich 1975, mit 29 Jahren, als Versicherungsmakler / Mehrfachagent (Selbstständiger Handelsvertreter nach § 84 HGB) selbstständig gemacht. Diese Tätigkeit wurde rund 10 Jahre, bis zum 39.  Lebensjahr, ausgeübt. Herr F25 hat sich bei Eintritt in die Selbst­ ständigkeit nicht freiwillig in der GRV weiter versichert, da er private, kapi­ talgedeckte Altersvorsorge für deutlich rentabler hielt: A Das habe ich deshalb nicht gemacht, weil das wäre rein wirtschaftlich dumm gewesen, also zum damaligen Zeitpunkt. Rein wirtschaftlich dumm, weil ich habe eine bessere Rendite privat. Das haben zwar viele Leute damals anders gesehen, aber ich habe mir das gesagt …

Der Umstieg von der gesetzlichen Rentenversicherung auf private Alters­ vorsorge wurde seinerzeit jedoch durchaus überlegt und strategisch ange­ gangen. Herr F-25 hat sorgfältig darauf geachtet, zunächst die damals noch



3. Ehemalige Selbstständige203

geltende Wartezeit von 180 Monaten erfüllt zu haben, bevor er die Beitrags­ zahlung in die GRV eingestellt hat. Nach einer anfänglichen Durststrecke konnte sich Herr F-25 im Rahmen seiner Selbstständigkeit finanziell immer weiter verbessern; zwischenzeitlich hat er außerordentlich gut verdient (nach eigenen Angaben in einzelnen Spitzenmonaten bis zu 15.000  DM brutto). Als jedoch 1985 durch den Konkurs eines Geschäftspartners ein größeres Geschäft geplatzt ist und hohe Regressforderungen (insgesamt rund 500.000 DM) entstanden sind, kam es zum Konkurs, zur Pfändung und Verschuldung. Herr F-25, zu diesem Zeitpunkt 39 Jahre alt, haftete voll mit seinem Privatvermögen: A Ich war lange drin und habe gut verdient, auf einmal ist folgendes passiert. Betriebliche Altersversorgung mit 50-Mann-Betrieb ist Konkurs gegangen, das Unternehmen. Und die ganzen Mitarbeiter, die ich versichert hatte über die betriebliche Altersversorgung, Krankenversicherung und so weiter, ja, da muss ich dann auch über die Haftung drei bis vier Jahre zurückzahlen, die Provi­ sion – anteilmäßig. I Das war ein Riesenbetrag … A Das war ein Riesenbetrag, ja. […] Da bin ich nicht mehr aufgestanden. Das war ein Hammer.

Die private Rentenpolice ist bei dem Konkurs in die Konkursmasse einge­ gangen, so dass es zu einem Totalverlust der Altersvorsorge gekommen ist: A Ich habe nachher bis zu 1.000 Mark im Monat privat gezahlt in die Renten­ versicherung. Das habe ich leider verloren. Das habe ich mir damals nicht absegnen lassen über eine betriebliche Altersversorgung. Das war mein Fehler. Und deswegen ist das auch in die Konkursmasse mit reingeflossen. Weil das alles so lief. Es lief ja alles wunderbar von Jahr zu Jahr. Und das konnte man nicht absehen.

Hier kam hinzu, dass die bestehende Versicherungspolice auf Druck der Bank vorzeitig und mit einem dementsprechend sehr hohen Verlust gekün­ digt werden musste: A Ich habe der Bank damals, wo ich dann diese wirtschaftlichen Schwierigkei­ ten hatte, meine Rentenpolice als Sicherheit gegeben. Und die Bank hat mich dann gezwungen, damit ich Kredit kriege, die zu kündigen. Da habe ich na­ türlich auch noch mal 40, 50 Prozent Verlust gehabt. Kam auch noch dazu. I

Weil es zu früh war. Man muss es ja durchhalten?

A Richtig. Ich habe gesagt, kann ich das nicht weiter einfach ruhen lassen und dann übertrage ich die? – Geht nicht. Wir wollen das Geld sofort haben.

Auf den Konkurs folgte zunächst eine Phase der Depression und des Sozialhilfebezuges: A Ich war erst mal zwei Jahre oder was, da war mit mir nichts mehr anzufangen. Klar, psychisch, das belastet. Ich habe alles verloren. Alles! Alles weg. Die Möbel werden abgeholt, alles raus. Alles weg, was überhaupt nicht geht.

204

V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen

Anschließend war Herr F-25, der nach seiner eidesstattlichen Versiche­ rung nicht mehr unter eigenem Namen als Handelsvertreter agieren durfte, noch gut 12 Jahre als Subunternehmer eines anderen Agenten sozialversi­ cherungsfrei im Versicherungsgeschäft tätig; hierbei wurde ein eher geringes Einkommen unterhalb des Pfändungsfreibetrages erzielt. Diese Tätigkeit wurde schließlich eingestellt, da nach Einschätzung von Herrn F-25 ab Mitte / Ende der 1990er Jahre angesichts der wachsenden Konkurrenz durch Direktvertrieb und Internet für freiberufliche Makler „gar nichts mehr lief mit Versicherungen“. Insgesamt dauerte die Selbstständigkeitsphase somit 24 Jahre (vom 29. bis zum 53. Lebensjahr). Der angestrebte Wiedereinstieg in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung ist letztlich gescheitert. Vom 53. bis zum 56. Lebensjahr ging Herr F-25 gering bezahlten Tätigkeiten als Telefonverkäufer (für Anzeigen, Kabelbinder, Systemlotto etc.) nach, die in der Regel auf 6 oder 9 Monate befristet waren und sich mit Phasen der Arbeitslosigkeit abgewechselt haben. Diese nach Aussage von Herrn F-25 auf „Ausbeutung“ basierenden, zum Teil erfolgsabhängig bezahlten Tätig­ keiten erwiesen sich als psychisch zunehmend belastend: A Ja, hat auch damit zu tun, weil man ist ausgebrannt. Wenn man das neun Monate macht, einen Telefonjob, und ruft dann jeden Tag drei- bis vierhundert Leute an und immer nein, nein, nein, das ist verständlich, dass man dann ausgebrannt ist.

Herr F-25 sah allerdings angesichts seines Alters und seiner Qualifika­ tionen für sich kaum noch andere Beschäftigungsmöglichkeiten als im Be­ reich Verkauf / Vertrieb. Hier waren die Verdienstmöglichkeiten jedoch seiner Wahrnehmung nach selbst bei einer Beschäftigung in Vollzeit sehr begrenzt: A Ich könnte auch heute noch Jobs bekommen. Nur es würde sich nicht rechnen. Dann würde ich 800 Euro brutto bekommen als Telefonverkäufer, als Gehalt, das sind dann 600 netto, und ich darf dann acht Stunden am Tag mir den Mist da anhören. Das ist wie im Sklavenhandel.

Angesichts der fehlenden Perspektiven hat Herr F-25 seine Erwerbstätig­ keit im Alter von 56  Jahren schließlich vollends aufgegeben; nach eigenen Angaben machte er kurze Zeit später auch von der sogenannten „58-er Regelung“ Gebrauch, so dass er bis zum Eintritt in die Grundsicherung im Alter mit 65  Jahren (2011) erst Arbeitslosenhilfe und ab dem 59.  Lebens­ jahr (2005) Arbeitslosengeld II bezogen hat. Von seinem 49. bis zu seinem 61.  Lebensjahr war Herr F-25 verheiratet; die Scheidung und der Versor­ gungsausgleich hatten allerdings nach Angaben von Herrn F-25 „mangels Masse“ (auch seine Ehefrau war Geringverdienerin bzw. „Aufstockerin“) so gut wie gar keinen Einfluss auf das spätere Alterseinkommen. Insgesamt folgt die Biografie von Herrn F-25 somit einem 3-PhasenModell, wie es für viele ehemalige Selbstständige in der Grundsicherung im Alter typisch ist:



3. Ehemalige Selbstständige

205

− Phase 1: Lehre, 10  Jahre sozialversicherungspflichtige Vollzeittätigkeit. − Phase 2: 24  Jahre Selbstständigkeit; Konkurs, Schulden, Verlust der Al­ tersvorsorge. − Phase 3: gescheiterter Wiedereinstieg; 3 Jahre diskontinuierlicher Gering­ verdienst, 10 Jahre Arbeitslosigkeit. Das eigenständige Alterseinkommen von Herrn F-25 basiert größtenteils auf der ersten Phase seines Arbeitslebens, als er kontinuierlich relativ hohe Beiträge in die GRV eingezahlt hat; die daraus resultierenden Anwartschaf­ ten konnten in der dritten Phase, die überwiegend durch Arbeitslosigkeit geprägt war, nur noch in geringfügigem Ausmaß erhöht werden. In der zweiten Phase sind jedoch trotz zwischenzeitlich erheblicher Vorsorgean­ strengungen im Ergebnis keine späteren Alterseinkünfte generiert worden. bb) Fallbeispiel 2: Herr L-36, ehemaliger Gastwirt Herr L-36, geboren 1936 in Kassel, zweimal geschieden, keine Kinder (seine einzige Tochter ist bei einem Verkehrsunfall gestorben), lebt in einer Kleinstadt im ländlichen Nordhessen. Seine GRV-Altersrente von 633 Euro wird durch Grundsicherungsleistungen in Höhe von 350 Euro aufgestockt; sein Gesamtbedarf beinhaltet einen Mehrbedarf wegen Behinderung (Merk­ zeichen G) sowie Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung und liegt somit bei 983 Euro / Monat. Er hat einen Behindertenausweis mit dem Merkzeichen G. Nach seinem Realschulabschluss absolvierte Herr L-36 eine Lehre als Gas-Wasser-Installateur und Klempner. Anschließend bildete er sich parallel zu seiner Beschäftigung als Installateur auf einer Abendschule weiter; dort erlernte er kaufmännische Grundlagen. Herr L-36 heiratete bereits mit 22 Jahren zum ersten Mal; die Ehe sollte rund 20 Jahre halten. Bis zu seinem 43. Lebensjahr war Herr L-36 erst als Sanitärtechniker, später über­ wiegend als kaufmännischer Angestellter beschäftigt. Zwischen seinem 24. und seinem 27. Lebensjahr war Herr L-36 rund 3 Jahre als selbstständiger Handelsvertreter (sozialversicherungsfrei) tätig. In den letzten Jahren vor dem Einstieg in die Selbstständigkeit war Herr L-36 als Prokurist in einem Ingenieursbüro angestellt. Diese verantwortungsvolle Tätigkeit war sehr gut bezahlt; nach eigenen Angaben verdiente Herr L-36 Anfang der 1980er Jahre rund 5000  DM / Monat, was zu diesem Zeitpunkt in etwa der damali­ gen Höhe der Beitragsbemessungsgrenze entsprach. 1978 erfolgte die Schei­ dung von der ersten Ehefrau. Zu diesem Zeitpunkt war der rentenrechtliche Versorgungsausgleich gerade neu eingeführt worden; im Rahmen des Ver­ sorgungsausgleichs sind nach überschlägiger Schätzung von Herrn L-36 ca. 12 Entgeltpunkte an die Ehefrau übertragen worden.

206

V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen

Der Beginn der Selbstständigkeit als Gastronom erfolgte ein Jahr später (1979); Herr L-36 war zu diesem Zeitpunkt 43 Jahre alt. Herr L-36 und seine spätere zweite Ehefrau (die Heirat erfolgte 1982) pachteten ein Wirts­ haus mit gutbürgerlicher Küche. Die zweite Ehefrau brachte eigene Erfah­ rungen und Qualifikationen aus dem Gastronomiebereich mit. Zu Beginn der Selbstständigkeit hat Herr L-36 noch eine Zeit lang parallel in dem Ingenieursbüro und abends in der Gastwirtschaft gearbeitet. Der Firmenin­ haber des Ingenieursbüros war mit diesem Doppelengagement nicht einver­ standen und hat ihm daraufhin die Kündigung ausgesprochen, gegen die Herr L-36 Widerspruch eingelegt hat. Es kam zu einem arbeitsgerichtlichen Verfahren, in dessen Rahmen schließlich ein Vergleich geschlossen wurde. Im Ergebnis wurde eine Abfindungszahlung vereinbart, die auch die bis dahin existierenden Betriebsrentenanteile umfasste. Die mit der Ehefrau nunmehr gemeinsam in Vollzeit betriebene Wirtschaft lief in der Folge aus­ gesprochen gut. Herr L-36 stellte die Beitragszahlung zur GRV ein und schloss eine Lebensversicherung ab: I

Wenn Sie damals als Prokurist 5.000 Mark im Monat verdient haben, dann muss das Gastronomie-Projekt anscheinend sehr vielversprechend gewesen sein?

A Das war sehr vielversprechend. Dann kam eben dazu, dass der Steuerberater, den man ja üblicherweise dann vor Beginn aufsucht und von dem man sich beraten lässt, gesagt hat: Auf keinen Fall weiter in die BfA die Rente einzah­ len, macht eine Lebensversicherung! Im Laufe der Zeit haben wir dann in Österreich ein Haus erworben, was auch nicht voll bezahlt war, finanziert war, wir haben dann hier in […] eins erworben und ich habe dann eben in dieser Tätigkeit, Selbstständigkeit nicht weiter in die Rentenkasse gezahlt. Das ist die zweite Krux, warum eben sich dieser Datenstand wie heute darstellt.

Nach rund 10 Jahren gemeinsamer erfolgreicher Betriebsführung kam es allerdings im Jahr 1990 zur Scheidung von der zweiten Ehefrau, da diese sich nach Angaben von Herrn L-36 für einen neuen Partner entschieden hatte. Herr L-36 war zu diesem Zeitpunkt 54  Jahre alt. Es wurde eine Gü­ tertrennung vorgenommen; das Ehepaar hatte im Laufe der Ehe zwei Häuser (eines am Wohnort und eines in Österreich) erworben, die zu diesem Zeit­ punkt noch nicht vollständig abbezahlt waren. Das Haus in Österreich ging an die Ehefrau, das Haus in Deutschland an Herrn L-36. Auch die beste­ hende Lebensversicherung wurde im Rahmen des Versorgungsausgleichs bzw. der Gütertrennung vorzeitig aufgelöst und aufgeteilt; der Rückkauf der Lebensversicherung war dabei mit nicht unerheblichen Verlusten verbunden. Durch den Ausstieg der geschiedenen Ehefrau, die die Küche im gemein­ samen Betrieb verantwortet hatte, musste Herr L-36 den Betrieb nun alleine führen. Die Arbeitsabläufe im auf zwei Personen zugeschnittenen Betrieb wurden schwieriger, die finanzielle Kalkulation wurde schärfer; Herr L-36



3. Ehemalige Selbstständige207

versuchte die entstandene Lücke zum Teil auch durch eigene Mehrarbeit zu kompensieren. 1995, mit 59  Jahren, hatte Herr L-36 einen folgenreichen Unfall: Er stürzte während der Arbeit mit einem vollen Bierfass beladen die Kellertreppe seines Wirtshauses hinunter. In der Folge musste Herr L-36 seine Erwerbstätigkeit aufgrund erheblicher Rücken- und Bandscheibenpro­ bleme aufgeben. Er bekam jedoch weder eine EU-Rente der GRV noch eine Unfallrente der Berufsgenossenschaft zugesprochen. Aufgrund der faktischen Arbeitsunfähigkeit kam es zu einem Einbruch der Einnahmen bei weiterhin laufenden hohen Fixkosten des Betriebes. Herr L-36 suchte fast ein Jahr lang erfolglos nach einem Nachpächter für die Wirtschaft; in die­ sem Zeitraum entstanden erhebliche Verbindlichkeiten. Um seine Bank­ schulden abzutragen, musste Herr L-36 sein noch nicht voll abbezahltes Haus vorzeitig und somit unter Wert verkaufen. Im Ergebnis beendete Herr L-36 seiner Selbstständigkeitsphase weitgehend schuldenfrei, hatte aber praktisch sein gesamtes bis dahin aufgebautes Vermögen inklusive Immobi­ lienbesitz und privater Altersvorsorge aufgebraucht; er verfügte zudem über keine regelmäßigen Einnahmen mehr. Herr L-36 bezog seit dem Ende seiner Selbstständigkeit Sozialhilfe. Der Zugang in die Altersrente erfolgte mit 63 Jahren (1999) über die Altersren­ te für Schwerbehinderte. Der maßgebliche Grad der Behinderung (60 %) musste im Zuge des Verrentungsvorgangs zunächst mit Unterstützung des VdK vor dem Sozialgericht gegen das Versorgungsamt erstritten werden: Ursprünglich war vom zuständigen Versorgungsamt nur ein Grad der Behin­ derung von 30 % anerkannt worden. Die Altersrente wird seitdem durch ergänzende Sozialhilfe bzw. seit 2003 durch Leistungen der Grundsicherung im Alter aufgestockt. Im Rückblick identifiziert Herr L-36 mehrere strategische Fehlentschei­ dungen: Die wichtigste Fehlentscheidung ist seiner Ansicht nach gewesen, mit Mitte 40 gleichsam „ohne Not“ aus seinem gut bezahlten und voll ab­ gesicherten Beschäftigungsverhältnis auszusteigen und stattdessen den Schritt in die Selbstständigkeit zu gehen. Hier hat Herr L-36 nach eigener Einschätzung „auf das falsche Pferd gesetzt“. Ein zweiter Fehler liegt seiner Ansicht nach in der Entscheidung, die Beitragszahlungen zur GRV einzu­ stellen und seine Altersvorsorge privat zu organisieren. Im Nachhinein be­ trachtet wäre es besser gewesen, in der GRV freiwillig versichert zu bleiben und hier zumindest Mindestbeiträge eingezahlt zu haben. Herr L-36 spricht in diesem Zusammenhang von einer „Fehlberatung“ durch seinen damaligen Steuerberater, der den Umstieg auf private, kapitalgedeckte Altersvorsorge seinerzeit dringend empfohlen habe. Im Hinblick auf das spätere Altersein­ kommen waren die beiden Scheidungen mit nicht unerheblichen finanziellen Nachteilen verbunden; entscheidend war aber letztlich der Unfall, der letzt­ lich zum Scheitern der Existenz geführt hat.

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V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen

Insgesamt folgt der Lebenslauf von Herrn L-36 im Grundsatz dem bereits erläuterten Drei-Phasen-Modell der gescheiterten Selbstständigkeit: Auch hier wurde in der ersten Phase der abhängigen Beschäftigung relativ gut und insgesamt überdurchschnittlich verdient; der Schritt in die Selbststän­ digkeit erfolgte aus einer Position der Stärke heraus. Die Phase der Selbst­ ständigkeit war zunächst mit einem wirtschaftlichen Aufstieg und einer Phase relativen Wohlstands verbunden, der nach dem Unfall allerdings in einen herben Abstieg umgeschlagen ist. Das Scheitern der Selbstständigkeit ist in diesem Fallbeispiel nicht auf unternehmerische Fehlentscheidungen, sondern auf einen Arbeitsunfall als einschneidendes Ereignis zurückzufüh­ ren. Im Fall von Herrn L-36 ist die dritte Phase des versuchten Wiederein­ stiegs in eine abhängige Beschäftigung aufgrund des fortgeschrittenen Alters bei der Beendigung der Selbstständigkeitsphase und der gesundheitlichen Probleme des Betroffenen weitgehend entfallen. Zu den Besonderheiten dieses Fallbeispiels gehören die negativen finanziellen Konsequenzen der beiden Scheidungen und der damit verbundenen Versorgungsausgleiche bzw. Gütertrennungen. Auch in diesem Fallbeispiel fällt auf, dass die verschiedenen, außerhalb der GRV betriebenen Formen der Vorsorge (betriebliche Altersvorsorge, private Altersvorsorge sowie Vermögensbildung durch Immobilienerwerb) durch das Scheitern der Selbstständigkeit letztlich vor dem Erreichen des Renteneintrittsalters zwangsweise aufgelöst worden sind; im Ergebnis be­ ruht das eigene Alterseinkommen somit lediglich auf den in der ersten Phase der Erwerbsbiografie erworbenen GRV-Anwartschaften. cc) Fallbeispiel 3: Herr T-46, ehemaliger Inhaber einer Spezialfirma für Beleuchtungstechnik Herr T-46, geboren 1948 in Erfurt, geschieden, keine Kinder, bezieht eine GRV-Altersrente von 426 Euro / Monat; diese wird durch Grundsicherungs­ leistungen in Höhe von 488 Euro / Monat aufgestockt, so dass sich ein Ge­ samtbedarf von 914 Euro / Monat ergibt. Der vergleichsweise hohe Brutto­ bedarf ist durch die Kosten der Unterkunft (über 500 Euro / Monat), und hier insbesondere durch die hohen Heizkosten (Nachtstromspeicher) verursacht. Zudem werden die Kosten einer Haftpflicht- und Hausratsversicherung vom Sozialamt übernommen, da sie als Auflage im Mietvertrag stehen. Da die örtliche Mietkostenobergrenze aktuell überschritten wird, hat das Grundsi­ cherungsamt den Umzug in eine preisgünstigere Wohnung angeordnet, so dass sich der Bruttobedarf in Zukunft etwas reduzieren dürfte. Herr T-46 ist in Düsseldorf aufgewachsen; nach dem Besuch der Grund­ schule wechselte er auf das Gymnasium, wo er allerdings nach eigenen



3. Ehemalige Selbstständige209

Angaben „nicht gut mitgekommen“ ist. Mit 15  Jahren ging er vom Gym­ nasium ab und besuchte stattdessen zwei Jahre lang eine private Handels­ schule, die er mit der mittleren Reife abschloss. Anschließend absolvierte er eine Ausbildung zum Bürokaufmann im Einzelhandel; 1968, im Alter von mit 20 Jahren, erhielt er seinen Kaufmannsgehilfenbrief. Ab 1969, nach der Bundeswehrzeit, hatte Herr T-46 mehrere sozialversicherungs­ pflichtige Beschäftigungsverhältnisse als Bürokaufmann; sein Ziel war es, „in verschiedene Bereiche hineinzuschauen“. Im Laufe der Zeit speziali­ sierte er sich dabei zunehmend auf die Bereiche Betriebsbuchhaltung und Kostenrechnung. Zunächst war er einige Monate bei einer Lebensversicherung angestellt, dann zwei oder drei Jahre bei einer Zeitarbeitsfirma. Danach wechselte er zu einem Maschinenbauunternehmen; schließlich arbeitete er bei einem großen Süßwarenhersteller in Düsseldorf, wo er innerhalb relativ kurzer Zeit zum Leiter der Abteilung Kostenrechnung / Kalkulation aufstieg. Zudem war Herr T-46 gewerkschaftlich engagiert, wurde Mitglied des Betriebsrats, schließlich stellvertretender Betriebsratsvorsitzender und Mitglied des Wirt­ schaftsausschusses. In dieser Doppelfunktion als Arbeitnehmervertreter und Teil des Managements saß er nach eigenen Angaben „zwischen allen Stüh­ len“ und wurde der Geschäftsleitung „auf Dauer recht unbequem“; sein Arbeitsvertrag wurde Ende 1976 schließlich in gegenseitigem Einvernehmen aufgelöst. Herr T-46 handelte eine Abfindung von 15.000  DM aus. Parallel zu seiner Erwerbstätigkeit war Herr T-46 in den 1970er Jahren Sänger in einer Rockband. Diese musikalische Tätigkeit bildet den Hinter­ grund für die 1977 aufgenommene Selbstständigkeit: Zusammen mit dem Keyboarder seiner Band gründete Herr T-46 einen kleinen Vertrieb für Be­ leuchtungsanlagen, Lichteffekte und sonstige Bühnenausstattung. Mit der Geschäftsidee, moderne Beleuchtungstechnik aus Großbritannien und den USA zu importierten und damit Musikgruppen und Veranstaltungsorte in Deutschland auszustatten, betraten Herr T-46 und sein Teilhaber seinerzeit Neuland. 1979 wurde in einem Hinterhof in Düsseldorf das erste eigene Büro mit Lager eröffnet; 1981 machte die Firma bereits einen Umsatz von umgerechnet rund einer Million Euro. Es folgte die Umwandlung von der GbR zur GmbH. 1982 stieg der Geschäftspartner aus; Herr T-46 wurde zum alleinigen Gesellschafter. Das Unternehmen prosperierte in den 1980er Jahren erheblich; die kleine Spezialfirma, die lediglich zwischen vier und sieben feste Mitarbeiter hatte, installierte Lichtanlagen in vielen bekannten Diskotheken und Liveclubs, war europaweit tätig und gehörte nach Anga­ ben von Herrn T-46 in ihrer Branche zu den bekanntesten Firmen in Deutschland. Herr T-46 war seinerzeit auch entscheidend an der Gründung eines Verbandes für professionelle Licht- und Tontechnik beteiligt, der bis heute existiert; er erinnert sich, unter anderem sogar einmal die Beleuch­

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V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen

tung für eine große Feier des Kanzleramtes in Bonn konzipiert und instal­ liert zu haben. Die Firma arbeitete überwiegend mit Fremdkapital, um Ware zu kaufen und zu investieren; Herr T-46 berichtet, er habe sich von den kreditgeben­ den Banken zunehmend unter Druck gesetzt gefühlt, seinen Umsatz und sein Kreditvolumen von Jahr zu Jahr zu steigern und dementsprechend zu expandieren. Im Jahr 1990 kam es zu einem Bruch: Die Hausbank von Herrn T-46 kündigte ohne Vorwarnung eine bestehende Kreditlinie und forderte kurzfristig den vollen ausstehenden Betrag ein. Herr T-46 berichtet, er hätte später durch den Gerichtsvollzieher erfahren, dass die betreffende Bank aufgrund eines Personalwechsels im Vorstand eine neue Geschäftspo­ litik eingeschlagen und in diesem Zusammenhang auf breiter Fläche ihre Engagements im mittelständischen Bereich gekündigt hätte, was nach Ein­ schätzung von Herrn T-46 eine Reihe von Existenzen vernichtet haben dürfte. Herr T-46 meldete Konkurs an; er wählte dabei eine relativ komplexe rechtliche Konstruktion, in deren Rahmen bestimmte Sach- und Vermögens­ werte auf ein Nebenunternehmen übertragen werden konnten, das offiziell auf den Namen seiner damaligen Lebensgefährtin lief. Ein erklärtes Ziel von Herrn T-46 war dabei, im Zuge der Liquidation seines Unternehmens die Verbindlichkeiten bei den (oftmals persönlich bekannten) Zulieferern und Geschäftspartnern so vollständig wie möglich zu bedienen, die kredit­ gebende Bank hingegen möglichst leer ausgehen zu lassen, was auch weit­ gehend gelungen ist. Insgesamt hat Herr T-46 durch den Konkurs massive finanzielle Verluste erlitten; er musste seine Geschäftstätigkeit jedoch nicht vollends aufgeben, sondern eröffnete bereits kurze Zeit später zusammen mit seiner Lebensgefährtin ein kleines Ladenlokal für Lichttechnik in un­ mittelbarer Nähe seines ehemaligen Standorts. Herr T-46 konnte somit (bei deutlich reduziertem Geschäftsvolumen) zunächst in seiner Branche tätig bleiben. In dieser Zeit hat Herr T-46 nach eigenen Angaben „aber mal so richtig malocht“, um den Betrieb aufrecht zu erhalten. Diese Phase relativer Stabilität sollte jedoch nur gute drei Jahre dauern. Die Lebensgefährtin von Herrn T-46 hatte nämlich im Zeitverlauf eine aus­ geprägte Alkoholabhängigkeit entwickelt, die immer deutlicher zum Vor­ schein kam. Dadurch kam auch das von Herrn T-46 im Zuge des damaligen Konkurses ersonnene Geschäftskonstrukt ins Wanken, nach dem offiziell nicht Herr T-46, sondern eben seine Lebensgefährtin die Inhaberin und Geschäftsführerin des Betriebes war: Da die Lebensgefährtin zwischenzeit­ lich manchmal mehrere Tage verschollen war, konnten u. a. notwendige Unterschriften nicht geleistet werden; zudem kam es zu finanziellen Unre­ gelmäßigkeiten. Herr T-46 entschloss sich daraufhin, das Geschäft zu ver­



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kaufen; er konnte dabei noch einen Verkaufserlös von umgerechnet 80.000 Euro erzielen. Es folgte eine Phase beruflicher und persönlicher Orientierungslosigkeit, die insgesamt rund fünf Jahre gedauert hat. Die Alkoholkrankheit seiner zwischenzeitlich in die Psychiatrie eingewiesenen Lebensgefährtin und die damit verbundenen persönlichen Konflikte haben Herrn T-46 zunehmend aus der Bahn geworfen; er berichtet, er sei in dieser Zeit, die für ihn „der blanke Horror“ gewesen sei, „rasant gealtert“. In den ersten Jahren nach seiner Geschäftsaufgabe bekam Herr T-46 noch durchaus lukrative Angebo­ te, in anderen Unternehmen der Branche mitzuarbeiten, die er jedoch ab­ lehnte, da er den festen Plan gefasst hatte, nach Spanien auszuwandern und dort auf den kanarischen Inseln eine neue Existenz aufzubauen. Dieser Plan erwies sich jedoch aufgrund verschiedener Umstände letztlich als undurch­ führbar; in der Zwischenzeit erzielte Herr T-46 kein nennenswertes eigenes Erwerbseinkommen, sondern zehrte von den finanziellen Reserven. Im Zuge der langwierigen Trennung von seiner Lebensgefährtin mietete Herr T-46 zudem zwischenzeitlich eine zweite Wohnung an und richtete diese relativ aufwändig ein, wodurch weitere finanzielle Ressourcen verbraucht wurden. Insgesamt hat Herr T-46 aufgrund seiner privaten Probleme und seines durchaus angeschlagenen psychischen Zustands den Zeitpunkt und die Ge­ legenheit für einen Wiedereinstieg in das Erwerbsleben verpasst; innerhalb weniger Jahre war der Erlös aus dem Verkauf des Geschäfts aufgebraucht. 1998, im Alter von 50  Jahren, musste sich Herr T-46 erstmals arbeitslos melden und Sozialhilfe beantragen. Seine Vermittlungschancen in den ersten Arbeitsmarkt wurden seitens des Arbeitsamtes jedoch mit dem Verweis auf sein Alter und die mehrjährige Erwerbsunterbrechung als eher gering einge­ stuft, was für Herrn T-46 einen harten Realitätsschock bedeutete: A Da ist man sauer natürlich. Das ist die erste Reaktion. Dann die nächste Re­ aktion ist … oder das Nächste ist, dass man merkt, dass tatsächlich die Zeiten sich innerhalb kurzer Zeit rasant verändert haben. Das war auch so zu der Zeit. Also ganz schnell ging das irgendwie alles. Und dass die Realität tat­ sächlich anders aussieht, als ich sie glaubte im Kopf zu haben, so muss ich das mal beschreiben.

In den folgenden 15 Jahren bis zu seinem Renteneintritt im Jahr 2013 hat Herr T-46 keine dauerhafte Arbeit mehr gefunden bzw. durch das Arbeits­ amt vermittelt bekommen; seine Situation hat sich auch mit der Einführung des SGB II und den damit verbundenen „Aktivierungsmaßnahmen“ nicht wesentlich verbessert. Insgesamt ist Herr T-46 von den Vermittlungsbemü­ hungen seitens des Arbeitsamtes bzw. Jobcenters schwer enttäuscht: A So, und das ist der eigentliche Knackpunkt, der ist eigentlich, dass ich niemals eine zweite Chance gekriegt habe! Das ist der eigentliche Knackpunkt. Dass ich Fehler gemacht habe logischerweise. Jeder macht Fehler. Auch von dritter

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V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen Seite, wo ich nichts machen konnte. Auch solche Dinge gab es. Gibt es auch in jedem Leben. Aber dass man dann keine Chance mehr hat, was zu machen, dass man einfach sagt: Du bist zu alt! Von unserer Seite kommt nichts mehr! Und es kam auch nie was.

In der Gesamtbetrachtung weist die Erwerbs- und Vorsorgebiografie von Herrn T-46 somit eine für ehemalige Selbstständige im Grundsicherungsbe­ zug typische dreiteilige Struktur auf: − In der ersten Phase seiner Erwerbsbiografie war Herr T-46 insgesamt rund 13 Jahre sozialversicherungspflichtig beschäftigt (von 1969 bis 1982); insbesondere in den Jahren 1973–1977 hat er sehr gut verdient und dementsprechend hohe Beiträge in die GRV eingezahlt. Seine heuti­ ge GRV-Rente beruht im Wesentlichen auf dieser ersten Phase vor Beginn der Selbstständigkeit. − In der zweiten, von der Selbstständigkeit geprägten Phase wurde weiter­ hin Altersvorsorge betrieben. Als Herr T-46 zum beherrschenden Gesell­ schafter-Geschäftsführer seines Unternehmens wurde und die Sozialversi­ cherungspflicht daher nicht mehr gegeben war, verzichtete er auf Rat seines Steuerberaters auf die freiwillige Weiterversicherung in der GRV. Seine Altersversorge beruhte seitdem auf einer betrieblichen Altersvorsor­ ge (Direktversicherung) und einer privaten Lebensversicherung. Beide Verträge sind im Zuge des Konkursverfahrens jedoch aufgelöst bzw. von der Gläubigerbank gepfändet worden, so dass ein Totalverlust des bis dahin aufgebauten Altersvorsorgevermögens eingetreten ist. − In der dritten Phase des gescheiterten Wiedereinstiegs in den Arbeits­ markt und der damit verbundenen Langzeitarbeitslosigkeit sind hingegen bis auf die Pflichtversicherungszeiten während des ALG II-Bezugs keine nennenswerten Anwartschaften mehr aufgebaut worden. Am Beispiel von Herrn T-46 zeigt sich zum einen exemplarisch, wie schwer für langjährig Selbstständige nach dem Scheitern der Selbstständig­ keit der Wiedereinstieg in den „regulären“ Arbeitsmarkt sein kann; mit dem Scheitern der Selbstständigkeit sind oftmals auch persönliche Probleme verbunden, die einen raschen Wiedereinstieg deutlich erschweren können. Zudem zeigt sich, wie risikobehaftet gerade bei Selbstständigen, die hohe Ausgaben und Fixkosten haben, eine private Altersvorsorge über Lebensver­ sicherungen ist: Obwohl Herr T-46 im Laufe seines Erwerbslebens viel Geld umgesetzt hat und mit seiner Firma ein gutes Jahrzehnt lang außerordentlich erfolgreich gewesen ist, sind in dieser Lebensphase im Ergebnis keine Al­ terseinkünfte generiert worden. Die einzigen sicheren Einkünfte, die letzt­ lich verblieben sind, sind die eher bescheidenen GRV-Anwartschaften aus den ersten Erwerbsjahren.



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dd) Fallbeispiel 4: Herr D-29, ehemaliger Taxiunternehmer Herr D-29, geboren 1946 in Norditalien als Sohn eines italienischen Va­ ters und einer deutschen Mutter, geschieden, ein Sohn, lebt in einer Groß­ stadt in NRW. Er bezieht zum Zeitpunkt des Interviews eine Altersrente von 292 Euro / Monat sowie 499 Euro / Monat aus der Grundsicherung; sein Bruttobedarf beläuft sich auf 791 Euro / Monat. Die Kosten der Unterkunft liegen aktuell um rund 70 Euro über der zulässigen Kostenobergrenze, so dass das Grundsicherungsamt den Umzug in eine billigere Wohnung fordert bzw. mit einer entsprechenden Kürzung der Zahlungen droht. Herr D-29 hat die ersten sechs Jahre seines Lebens in Italien verbracht; der aus Norditalien stammende Vater hatte in den 1930er Jahren eine Eis­ diele in Deutschland betrieben, eine deutsche Frau geheiratet und war bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges mit seiner Familie wieder zurück nach Italien gezogen. Nach dem frühen Tod des Vaters ist die alleinerziehende Mutter Anfang der 1950er Jahre mit insgesamt 4 Kindern wieder nach Deutschland gezogen. Herr D-29, der von Geburt an zunächst die italieni­ sche Staatsangehörigkeit hatte, erhielt mit 14 Jahren die deutsche Staatsan­ gehörigkeit. Nach dem Besuch der Volksschule begann er bereits mit 14 Jahren eine Ausbildung im einfachen Postdienst; mit 17 Jahren war er zunächst Postschaffner zur Anstellung, mit 19 Jahren Postschaffner und nach 18monatiger Bundeswehrzeit Postoberschaffner. Herr D-29 berichtet, dass er mit seinem Beruf als „kleiner Postbeamter“ aufgrund der sehr nied­ rigen Bezahlung und des niedrigen Berufsprestiges nie zufrieden war. Ur­ sprünglich hatte er eine Tätigkeit im kaufmännischen Bereich angestrebt; der Einstieg in eine kaufmännische Ausbildung ist ihm jedoch nicht gelun­ gen, entsprechende Bewerbungen sind fehlgeschlagen. Im Alter von 22 Jahren kündigte Herr D-29 sein Arbeitsverhältnis bei der Post und wurde Verkaufsfahrer bei einem Getränkehandel. Hier war der Nettoverdienst nahezu doppelt so hoch wie in seiner vorherigen Tätigkeit. Nach zwei Jahren wechselte er zu einem internationalen Lebensmittelunter­ nehmen, wo er ein weiteres Jahr als Verkaufsfahrer gearbeitet hat. Das deutsche Werk des Unternehmens wurde jedoch geschlossen, so dass Herr D-29 mit 25 Jahren erstmals kurzzeitig arbeitslos war. Zu diesem Zeitpunkt machte Herr D-29 einen Taxischein und arbeitete einige Monate in Festan­ stellung als Taxifahrer. Er begann eine zweijährige Umschulung zum Daten­ verarbeitungskaufmann und arbeitete nebenberuflich weiter als Taxifahrer, bestand jedoch die Abschlussprüfung der IHK nicht. Vom 28. bis zum 32. Lebensjahr arbeitete er zwar im Datenverarbeitungsbereich, jedoch als einfacher Maschinenbediener („Operator“) und nicht wie angestrebt als Kaufmann. 1978, mit 32 Jahren, machte sich Herr D-29 als Taxiunterneh­ mer (Kleinbetrieb) selbstständig. Er stellte die Beitragszahlungen in die

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V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen

GRV ein und schloss eine Lebensversicherung ab. Dabei achtete er sorgfäl­ tig darauf, die damalige Mindestversicherungszeit in der GRV von 15  Jah­ ren erfüllt zu haben: A Damals war das Gesetz so, also ich kenne mich bestens aus. Damals musste man 180 Monate, also 15  Jahre haben bei der Rentenversicherung, um über­ haupt einen Anspruch haben zu können auf Rente. Das ist später auf fünf Jahre runtergesetzt worden. […] Mein Ziel war erst mal diese 15  Jahre voll­ zukriegen. Und zufälligerweise kam das hin. Ich hatte genau 180 Monate, das war irre! Das war genau das, was ich brauchte. Und dann habe ich angefan­ gen, als ich mich im Mai 1978 selbstständig gemacht habe, habe ich angefan­ gen mit einer Lebensversicherung.

1986, mit 39 Jahren, heiratete Herr D-29, ein Jahr später kam der erste und einzige Sohn. Die Ehe scheiterte jedoch bereits nach wenigen Jahren; Herr D-29 macht dafür die Tatsache verantwortlich, dass sich seine Ehefrau einer christlichen Sekte angeschlossen hat. Die Trennung erfolgte im Jahr 1992 (Herr L-29 war zu diesem Zeitpunkt 46 Jahre alt), die Scheidung hingegen erst im Jahr 2001; Herr D-29 hat nach der Trennung somit 9 Jah­ re gewartet, ehe er die Scheidung einreichte. Dies war in erster Linie dem Kampf um das Sorgerecht für den gemeinsamen Sohn geschuldet. A Ich bin ein ganz emotionaler Mensch und aufgrund meiner Erfahrung in mei­ ner Kindheit, dass ich keinen Vater hatte und ich hatte ja jetzt einen eigenen Sohn. Ich konnte einfach den Gedanken nicht ertragen, dass sie neu heiratet schnell, womöglich einen Zeugen Jehovas. Oder wahrscheinlich, und der sitzt dann am Tisch mit meinem Sohn, und mein Sohn sagt zu dem dann Papa.“ (Interview Herr D-29)

Das Sorgerecht lag zunächst ausschließlich bei der Ehefrau; es folgte ein äußerst langwieriger, fast 10 Jahre dauernder Sorgerechtsstreit, an dessen Ende Herr D-29 vor dem Oberlandesgericht das gemeinsame Sorgerecht erstritt. Im Jahr 1992 musste sich Herr D-29 zudem einer schweren Opera­ tion der Bauchspeicheldrüse unterziehen; seitdem ist er Diabetiker und be­ sitzt er einen Behindertenausweis (50 %). Herr D-29 führt seine gesundheit­ lichen Probleme auf psychosomatische Ursachen im Zusammenhang mit seiner Trennung zurück. Die lange Trennungsphase hatte auch Konsequen­ zen für die Altersvorsorge, denn im Hinblick auf einen späteren Versor­ gungsausgleich hat Herr D-29 seine Lebensversicherung nach der Trennung beitragsfrei gestellt, um die später bei der Scheidung zu leistende Zahlung an seine Ehefrau zu minimieren. A Auf jeden Fall habe ich mich 2001 erst scheiden lassen und habe in dem Zusammenhang, weil ich mich ja auch schon erkundigt hatte, gewusst, wenn ich noch nicht geschieden bin und getrennt lebe, so partizipiert der Ehepartner auch bei Trennung immer noch von der Lebensversicherung zum Beispiel. I

Solange Sie verheiratet sind, sind Sie ja quasi eine Zugewinngemeinschaft …



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A Richtig, und das wusste ich. Und deswegen habe ich schon ziemlich schnell nach der Trennung aufgehört mit den Zahlungen an die Lebensversicherung. Die kann man ja dann aussetzen oder wie auch immer.

Herr D-29 hat somit nur 14 Jahre voll in seine Lebensversicherung ein­ gezahlt. Im Rahmen des Versorgungsausgleichs erhielt die Ehefrau ihren entsprechenden Anteil der Ansprüche aus der Lebensversicherung; im Ge­ genzug hat Herr D-29 nach eigener Schätzung in etwa einen GRV-Entgelt­ punkt von seiner Frau übertragen bekommen (diese hatte während der Trennungsphase ca. 2 Jahre sozialversicherungspflichtig gearbeitet). Herr D-29 zahlte zudem bis zu dessen 21. Lebensjahr Unterhalt für seinen Sohn; er gibt an, den Unterhaltsbetrag immer möglichst knapp gehalten zu haben. Sein durchschnittliches Einkommen als Taxiunternehmer lag über viele Jahre hinweg ohnehin nicht wesentlich oberhalb der unterhaltrechtlichen Selbstbehaltsgrenze. Hier kam zum Tragen, dass der kleine Taxibetrieb aufgrund hoher Fix­ kosten und begrenzter Umsätze nur zu geringen Verdiensten geführt hat. In seinem Taxiunternehmen hatte Herr D-29 zwischenzeitlich acht fest ange­ stellte Mitarbeiter, für die er stets ordnungsgemäß die entsprechenden So­ zialversicherungsbeiträge abgeführt hat. Für sich selbst hat Herr D-29 in dieser Zeit allerdings so gut wie gar keine Altersvorsorge betrieben: A Das ist auch noch der Witz an der ganzen Sache. Ich sage das jetzt mal mit meinen Worten: Ich habe acht Menschen in der Blütezeit am Kacken gehalten. Und selber bin ich abgekackt, weil ich für meine Altersversorgung nichts gemacht habe.

Mit 58  Jahren ließ sich Herr D-29 seine Lebensversicherung vorzeitig auszahlen. Den Erlös investierte er in das eigene Unternehmen, das seiner rückblickenden Einschätzung zufolge bereits zu diesem Zeitpunkt „eigent­ lich nicht mehr profitabel“ war. Die Entscheidung, ein drittes Taxi anzu­ schaffen, hat sich letztlich als unternehmerische Fehlentscheidung herausge­ stellt, da die dadurch erhöhten Fixkosten nicht durch entsprechende Umsatz­ steigerungen ausgeglichen werden konnten. Ab dem 63. Lebensjahr bekam Herr D-29 zudem zunehmende gesundheitliche Probleme (Wassereinlage­ rungen in den Beinen), so dass er seine Erwerbstätigkeit einschränken und 2011, im Alter von 65 Jahren, schließlich aufgeben musste. Der Taxibetrieb wurde verkauft. Von dem eher bescheidenen Erlös wurde ein Großteil der bis dahin aufgelaufenen Schulden abbezahlt; zudem wurde ungefähr ein halbes Jahr bis zum Renteneintritt finanziell überbrückt, so dass das beste­ hende Restvermögen beim Renteneintritt vollständig aufgebraucht war. Bis heute hat Herr D-29 noch Restschulden beim Finanzamt; er erwägt aktuell, eine Privatinsolvenz zu beantragen. Für die jetzige Grundsicherungsbedürftigkeit von Herrn D-29 sind meh­ rere Faktoren relevant gewesen. Vordergründig hat Herr D-29 im Laufe

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V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen

seiner gesamten Erwerbsbiografie nur relativ geringe Einkünfte erzielt; zu­ dem hatte er gegen Ende seines Arbeitslebens gesundheitliche Probleme. Wichtiger jedoch sind mehrere biografische Weichenstellungen gewesen, die auf eigenen (Fehl-)Entscheidungen beruhen. Eine erste wichtige Weichen­ stellung lag darin, dass Herr D-29 seine Tätigkeit bei der Bundespost auf­ gegeben hat, die zwar vergleichsweise gering entlohnt, dafür aber sicher gewesen ist und die zudem nach einer endgültigen Verbeamtung im Alter zum Bezug einer Beamtenpension berechtigt hätte. Eine zweite, im Alter von 32 Jahren vorgenommene Weichenstellung lag darin, mit dem Einstieg in die Selbstständigkeit aus der GRV auszusteigen; dies dazu geführt, dass die GRV-Rente nur auf den 15 Versicherungsjahren zwischen seinem 17. und seinem 32. Lebensjahr beruht und mit knapp 300 Euro entsprechend niedrig ausfällt. Eine eindeutige Fehlentscheidung, die Herr D-29 rückblickend auch be­ reut, bestand darin, nach der Trennung von seiner Ehefrau über ein Jahr­ zehnt hinweg die Zahlungen in seine Lebensversicherung und damit seine private Vorsorgetätigkeit weitgehend einzustellen. Die letzte Fehlentschei­ dung bestand schließlich darin, die bestehende Lebensversicherung vorzeitig aufzulösen und in das nicht (mehr) profitable eigene Unternehmen zu inves­ tieren; dies hatte letztlich den Verlust einer ausreichenden Absicherung im Alter zur Folge. Gerade in diesem Fall zeigen sich die typischen Vorsorge­ risiken, die mit einer (letztlich freiwilligen) privaten Lebensversicherung verbunden sind: Die Möglichkeit, die Beitragszahlung zwischenzeitlich ru­ hen zu lassen, und die Möglichkeit, den Versicherungsvertrag vorzeitig aufzulösen, können zu erheblichen finanziellen Einbußen im Alter führen, wenn von ihnen unüberlegt Gebrauch gemacht wird. Im Fall von Herrn D-29 zeigt sich zudem, dass die üblicherweise empfohlene strikte Trennung von Betriebs- und Privatvermögen in der Praxis oftmals nicht eingehalten wird bzw. eingehalten werden kann. ee) Fallbeispiel 5: Frau M-09, ehemalige Musikerin und Journalistin Frau M-09, geboren 1947 in Hamburg, geschieden, ein Sohn, bezieht eine GRV-Altersrente von rund 380 Euro / Monat, die durch Grundsiche­ rungsleistungen von etwa 400 Euro / Monat aufgestockt wird; ihr Bruttobe­ darf beträgt somit rund 780 Euro / Monat. Frau M-09 ist als einziges Kind einer relativ wohlhabenden Familie aufgewachsen; ihr Vater war selbststän­ diger Vertriebsleiter bei einer großen Tageszeitung, die er nach dem Krieg mit aufgebaut hatte. Nach der mittleren Reife hat Frau M-09 bei eben dieser Zeitung zunächst eine dreijährige Ausbildung zur Verlagskauffrau absolviert, die sie mit 19 Jahren beendet hat. Parallel dazu hat Frau M-09 bereits seit



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früher Jugend ein starkes Interesse für Musik entwickelt und u. a. autodidak­ tisch Gitarre spielen gelernt. Dem Wunsch des Vaters, langfristig beruflich in seine Fußstapfen zu treten, hat sie letztlich nicht entsprochen; nach der abgeschlossenen Ausbildung verbrachte sie zunächst mit Freunden ein hal­ bes Jahr in Südspanien, wo sie gegen Unterkunft und Verpflegung in Tou­ ristenklubs Musik machte. Anschließend verbrachte Frau M-09 ein Jahr in San Francisco, wo sie als Au-pair arbeitete. In dieser Zeit (1967 / 1968) hat sie die dortige Hippie-Bewegung intensiv miterlebt. Zurück in Deutschland entschloss sie sich zunächst, ihr Abitur auf einer Abendschule nachzuholen; parallel dazu arbeitete sie in diesem Zeitraum in vollzeitnaher Teilzeit als Verlagskauffrau bei einer Hamburger Zeitung. 1971, mit 24 Jahren, begann sie ein Studium der Anglistik und Politologie auf Lehramt in Hamburg, das sie in Marburg fortsetzte. In Marburg war sie stark in der linken, studentischen Politik- und Kulturszene aktiv, spielte als Musikerin in Bands und engagierte sich in Theaterprojekten. Während des Studiums lernte sie auch ihren späteren, ebenfalls politisch aktiven Ehe­ mann (Politologe, Soziologe und Historiker) kennen, den sie nach dem 1977 erfolgten Abschluss des Studiums kurz vor ihrem 30. Geburtstag heiratete. Das Ehepaar zog nach Düsseldorf, da der mittlerweile promovierte Ehe­ mann dort eine Anstellung gefunden hatte. Frau M-09 arbeitete zunächst ein Jahr lang in Teilzeit als Englischlehrerin in einer Berufsschule; parallel dazu war sie im Köln als Sängerin einer Rockgruppe aktiv. Mit dem zuneh­ menden Erfolg der Band und der realen Aussicht auf einen Plattenvertrag und eine Musikerkarriere haben die Bandmitglieder Ende der 1970er Jahre allesamt ihre bestehenden Arbeitsverhältnisse gekündigt, um sich voll und ganz der Musik zu widmen. Nach rund eineinhalb Jahren trennte sich Frau M-09 jedoch im Streit von der Band, so dass es zum erhofften Durchbruch schließlich doch nicht gekommen ist. In dieser Zeit lebten Frau M-09 und ihr zwischenzeitlich eher mäßig verdienender Ehemann unter anderem auch von einer kleinen Erbschaft, die Frau M-09 nach dem Tod ihrer Mutter erhalten hatte. Zu dieser Zeit haben sich Frau M-09 keine Gedanken um ihre Altersvorsorge gemacht, sondern ganz in der Gegenwart gelebt. Für Frau M-09 war in diesem Zusammenhang sehr relevant, dass sie davon ausging, als einziges Kind einer recht wohlhabenden Familie einmal eine relativ üppige Erbschaft zu erhalten, so dass die eigene Altersvorsorge im Prinzip mehr als gesichert erschien: A Und da haben wir nicht üppig, aber fröhlich gelebt. Waren jedes Jahr in der Toskana und waren auf irgendwelchen Festivals und was weiß ich. Und wir haben uns in dem Alter – oder ich jedenfalls – überhaupt keine Gedanken darüber gemacht, wie wird es mal sein, wenn ich 60 oder älter bin? Zumal ich … und die Geschichte gehört schon dazu, natürlich davon ausgegangen bin, als Einzelkind, ich werde mal zwei Häuser erben. Das ist ein ganz schö­

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V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen nes Gefühl. Dass es dann alles nicht dazu kam, ist jetzt eine andere Geschich­ te … Aber das macht einen irgendwie relaxter, ne?

1981, nach dem Ende der Band, wurde der gemeinsame Sohn geboren; Frau M-09 war zu diesem Zeitpunkt 34 Jahre alt. Frau M-09 berichtet, sie und ihr Mann hätten grundsätzlich eine „freie“ Ehe jenseits enger bürger­ licher Konventionen geführt; da der Ehemann auch politisch sehr stark engagiert war, lebten die Eheleute über längere Zeit räumlich voneinander getrennt. Insgesamt war Frau M-09 mit ihrem Ehemann 9 Jahre verheira­ tet; der Ehemann war in dieser Zeit überwiegend sozialversicherungs­ pflichtig beschäftigt, während Frau M-09 überwiegend freiberuflich tätig gewesen ist. Die Scheidung erfolgte schließlich im Jahr 1986; zuvor war es bereits zu einer Trennung gekommen, in deren Verlauf beide Ehepartner neue Beziehungen angefangen hatten. Frau M-09 drängte erst auf die Scheidung, als die neue Lebenspartnerin ihres Ehemannes schwanger wur­ de. Im Zusammenhang mit der Scheidung verzichtete sie sowohl auf den nachehelichen Unterhalt als auch auf einen rentenrechtlichen Versorgungs­ ausgleich: A Wir haben uns getrennt. Und ja, er hatte dann eine neue Freundin, ich hatte einen neuen Freund. Aber wir waren noch verheiratet. Ich habe allerdings dann 86 auf Scheidung bestanden, als seine Frau äh Freundin schwanger wurde. Weil ich irgendwie so emotional das Gefühl hatte, jetzt sind wir … also da ist jetzt was, was nicht mehr passt, wenn wir weiter verheiratet sind. Und dann habe ich eben bei der Scheidung auch auf sämtliche Ansprüche verzichtet. Ich war jung genug und auch stolz genug, um mir zu denken, ich will von dem kein Geld. Weder Unterhalt noch irgendwie sonst. Also fürs Kind schon, ja. Aber für mich nicht, und scheiß auf Rente und alles – so war das eben.“

Frau M-09 war zum Zeitpunkt 39 Jahre alt, der gemeinsame Sohn war 5  Jahre alt. In den 1980er Jahren arbeitete Frau M-09 einerseits als Musi­ kerin mit Solo-Auftritten insbesondere im Umfeld der Frauen- und Frie­ densbewegung, anderseits als freiberufliche Hörfunkjournalistin mit Schwer­ punkt Popmusik bei verschiedenen Rundfunksendern. Frau M-09 hat eine kleine journalistische Zusatzausbildung gemacht; neben den Hörfunkbeiträ­ gen schrieb sie auch Kulturartikel für gewerkschaftliche bzw. gewerk­ schaftsnahe Publikationen. Zudem absolvierte Frau M-09 Anfang der 1990er Jahre auch eine Ausbildung zur Shiatsu-Masseurin (asiatische Massage- und Akupressurtechnik); mehrmals im Jahr führte sie in gewerkschaftlichen Bildungseinrichtungen entsprechende Kurse für Betriebsräte und Gewerk­ schaftsmitarbeiter durch. Zusammen mit dem (nicht immer regelmäßig fließenden) Kindesunterhalt des Ex-Mannes reichte das durch diese ver­ schiedenen Tätigkeiten erzielte Einkommen im Ergebnis aus, um den Le­ bensunterhalt zu bestreiten. Frau M-09 geht rückblickend davon aus, dass im Rahmen ihrer in Volumen und Verdienst im Zeitverlauf stark variieren­



3. Ehemalige Selbstständige219

den Arbeit für den öffentlichen Rundfunk zumindest teilweise auch Sozial­ versicherungsbeiträge gezahlt worden sind („halt immer so klein-klein“), kann sich aber an diesbezügliche Details nicht mehr erinnern. Im Verlauf der 1990er Jahre verschlechterte sich die berufliche und per­ sönliche Situation von Frau M-09 jedoch zunehmend. Einerseits wurde aufgrund von Einsparungen und Umstrukturierungen beim öffentlichen Rundfunk die Auftragslage schlechter; andererseits fühlte sich Frau M-09 angesichts ihrer vielfältigen beruflichen „Baustellen“ zunehmend ausge­ brannt und hatte zudem auch das Gefühl, die Erziehung ihres Sohns zu vernachlässigen. Zur gleichen Zeit wurde Frau M-09 auch klar, dass sie anders als erwartet keine nennenswerte Erbschaft erhalten würde, da ihr Vater zwischenzeitlich erneut geheiratet, die bestehenden Immobilien ver­ kauft und seine (deutlich jüngere) zweite Ehefrau als Universalerbin einge­ setzt hatte. Frau M-09 war somit „quasi enterbt“; letztlich hat sie aus dem Erbe ihres Vaters „keinen Pfennig gesehen“. Zusammenfassend berichtet Frau M-09 von einer allgemeinen Lebens- und Sinnkrise, die sie mit Mit­ te / Ende Vierzig hatte; in dieser Zeit musste sie erstmals Arbeitslosengeld bzw. Arbeitslosenhilfe beantragen. In den folgenden Jahren kam es kam zum mehrmaligen Bezug von Arbeitslosenhilfe im Wechsel mit Berufstätig­ keit, oftmals im 6-Monats-Turnus. Ende der 1990er Jahre kam die musikalische Karriere von Frau M-09 noch einmal in Fahrt, als sie zusammen mit ihrem Ex-Mann und einem langjährigen Bekannten ein Musikkabarett-Trio gründete; hier kam es über einige Jahre hinweg zu Engagements auf etablierten (Kleinkunst-)Bühnen im Raum Düsseldorf und NRW. Auch hier kam es nach einigen Jahren in­ des zu Ermüdungserscheinungen, Auftragsrückgängen und persönlichen Spannungen; die im Streit erfolgte Auflösung dieses Trios im Jahr 2008 (Frau M-09 war 60 Jahre alt) bildet den Schlusspunkt ihrer Karriere als Musikerin. Von 2008 bis zu ihrem Renteneintritt mit 65  Jahren (2012) be­ zog Frau M-09 Arbeitslosengeld II; es kam hier und dort noch zu verein­ zelten künstlerischen Projekten, aus denen jedoch keine dauerhaften Einnah­ men mehr erzielt werden konnten. Betrachtet man die Erwerbs- und Vorsorgebiografie von Frau M-09 im Gesamtzusammenhang, so zeigt sich einerseits ein „künstlertypisches“ Mus­ ter der Erwerbsbiografie und der daraus resultierenden Altersbezüge: Ein insgesamt vergleichsweise niedriges und zudem über den Lebensverlauf stark schwankendes Erwerbseinkommen, das sich aus mehreren Quellen speist, führt zu einem Alterseinkommen, welches unterhalb des Grundsiche­ rungsniveaus liegt und zudem überwiegend auf sozialversicherungspflichti­ ger Beschäftigung beruht, die nicht unmittelbar im künstlerischen Bereich angesiedelt gewesen ist (vgl. Haak 2009).

220

V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen

Im Fall von Frau M-09 muss man zudem auch von einer starken Gegen­ wartpräferenz und einem myopischen Verhalten hinsichtlich der eigenen Altersvorsorge sprechen. Hier ist zunächst der freiwillige Verzicht auf den rentenrechtlichen Versorgungsausgleich nach der Scheidung zu nennen; da die Ehe allerdings nur 9 Jahre gedauert hat und die mögliche „Umvertei­ lungsmasse“ dementsprechend eher niedrig gewesen ist, fällt dieser Punkt nicht besonders stark ins Gewicht. Wichtiger ist, dass Frau M-09 über mehr als zwei Jahrzehnte hinweg keine nennenswerte Altersvorsorge betrieben hat; ursächlich war hier das (letztlich fehlgeleitete) Vertrauen auf eine hohe spätere Erbschaft, welches eigene Altersvorsorgebemühungen als unnötig erscheinen ließ. Hinzu kam aber auch ein mangelndes Wissen über die spezifischen Absicherungsmöglichkeiten für selbstständige Künstler in der deutschen Sozialversicherung. So wurde die Möglichkeit, als Musikerin in die Künstlersozialkasse (KSK) einzutreten, erst im Jahr 2000, mit 53  Jah­ ren, genutzt: I

Wissen Sie noch, a) wie Sie das mit der KSK rausgefunden haben, und b) wie dann Ihre Entscheidung war, da reinzugehen?

A Über meinen Ex-Gatten, mit dem ich ja lange nichts zu tun hatte, aber wir dann ja gemeinsam Musik angefangen haben zu machen. Der war […] in der KSK, als Journalist nämlich. Und der sagte: Sag mal, bist du bescheuert? Wieso bist du da nicht drin? Ja, und dann habe ich mir gedacht, okay, be­ scheuert war gestern, jetzt gehe ich da rein.

Hinzu kommt schließlich noch, dass die in der KSK gegebene Möglich­ keit der Selbsteinschätzung des Bruttoeinkommens dahingehend genutzt wurde, ein möglichst geringes Einkommen anzugeben und die Beitragszah­ lungen entsprechend niedrig zu halten, was ein für KSK-Mitglieder nicht untypisches Verhalten sein dürfte: A […] das habe ich nämlich auch falsch gemacht. Man muss ja bei der KSK sich selber einschätzen, was man so im Jahr verdient. Und ich habe das na­ türlich immer ganz, ganz niedrig gesetzt, so dass ich gerade noch drin sein konnte, weil ich dachte, so, dann habe ich jetzt im Moment mehr. Es ist aber letztendlich idiotisch. Man sollte schon sagen, okay, dann beiße ich lieber mir in die linke Arschbacke, aber zahle ein bisschen mehr ein, [räuspert] weil sich das hinterher vielleicht rechnet. Aber das habe ich nie gemacht.

Das Beispiel der Biografie von Frau M-09 illustriert somit eine Risiko­ konstellation, die für viele „moderne“ Solo-Selbstständige insbesondere im kreativen Bereich typisch sein dürfte: Da sich das Einkommen aus einem „Cafeteria-System“ variabler Bausteine zusammensetzt und zudem stark schwankt, kommt eine langfristige Vorsorgeplanung oftmals nicht zustande, wird verschoben oder verdrängt; die langfristigen Kosten der Altersvorsorge werden in die eigene Kalkulation nicht einbezogen und „eingepreist“. Wenn es mit zunehmendem Alter nicht zu einer beruflichen Etablierung kommt,



3. Ehemalige Selbstständige221

stößt dieses „Geschäftsmodell“ zudem an seine Grenzen, da die mit ständi­ ger Auftragsakquise, variablen Arbeitszeiten und teilweise hohen Mobilitätsund Flexibilitätsanforderungen verbundene Belastung mit den Jahren immer stärker ins Gewicht fällt. Eine insgesamt prekäre Erwerbsbiografie führt im Ergebnis oftmals zu einem unzureichenden eigenständigen Alterseinkom­ men, das nicht in jedem Falle durch ein zusätzliches Partnereinkommen oder sonstige Einkünfte ausgeglichen werden kann. c) Typische Biografiemuster und Risikokonstellationen aa) Das „Drei-Phasen-Modell“ gescheiterter Selbstständigkeit Betrachtet man die Erwerbs- und Lebensverläufe der in sich sehr hetero­ genen Gruppe der ehemaligen Selbstständigen in vergleichend- typisierender Perspektive, so zeigen sich ungeachtet der vielfältigen Unterschiede zwi­ schen den individuellen Verläufen deutliche Gemeinsamkeiten. Zumindest in groben Zügen lässt sich hier ein „typisches“ Biografiemuster skizzieren, dass man (in Analogie zum weiblichen 3-Phasen-Modell) als Drei-PhasenModell der gescheiterten Selbstständigkeit bezeichnen könnte: − Phase 1: Abhängige, sozialversicherungspflichtige Beschäftigung. − Phase 2: Selbstständigkeit (kein Kontakt zur GRV). − Phase 3: Gescheiterte Versuche des Wiedereinstieg in abhängige Beschäf­ tigung, Bezug von Mindestsicherungsleistungen, Vermögensverzehr. Die einzelnen Phasen sind insofern nicht immer leicht voneinander abzu­ grenzen, als dass sie sich teilweise überlappen können. So kann beispiels­ weise eine Selbstständigkeit insbesondere in der Anfangsphase noch parallel zu einer abhängigen Beschäftigung ausgeführt werden. In einigen Fällen wechseln sich auch Phasen der abhängigen Beschäftigung und der Selbst­ ständigkeit mehrmals ab; ähnliches gilt in einigen Fällen für Phasen der Selbstständigkeit und der Arbeitslosigkeit. Nicht in jedem Falle lässt sich ein klares Ende der Selbstständigkeitsphase festlegen; dies gilt insbesondere dann, wenn die Selbstständigkeit bis zum Renteneintrittsalter in zumeist stark reduziertem Umfang noch aufrecht erhalten wird und in diesem Sinne eher allmählich ausläuft als mit einem Mal aufhört. Es handelt sich hier also um ein idealtypisches Modell, welches die zum Teil recht komplexen Lebensverläufe der einzelnen Fälle stark vereinfacht und insofern lediglich einen Orientierungsrahmen bildet. Zunächst einmal ist festzustellen, dass die Gruppe der ehemaligen Selbst­ ständigen im Vergleich mit den anderen Teilgruppen des Samples (bis auf die Gruppe der jüdischen Kontingentflüchtlinge) den mit Abstand höchsten

222

V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen

durchschnittlichen Bildungsgrad aufweist: Immerhin 5 von 11 Personen in dieser Gruppe haben ein abgeschlossenes Studium (Frau M-09, Herr N-28, Herr S-35, Herr C-41, Herr F-55), die anderen sechs zumindest eine abge­ schlossene Berufsausbildung. Mindestens die Hälfte der Befragten haben während ihres Berufslebens zudem weitere Qualifikationen erworben, bei­ spielsweise im kaufmännischen Bereich oder durch fachliche Fortbildungen. Wie bereits zu Beginn dieses Kapitels dargestellt, weisen praktisch alle ehemaligen Selbstständigen zwischen dem Abschluss ihrer Ausbildung bzw. ihres Studiums und dem Beginn ihrer Selbstständigkeitsphase eine mehr oder weniger ausgedehnte Phase der sozialversicherungspflichtigen Be­ schäftigung auf: Nur drei von elf Befragten haben ihre (erste) Selbstständig­ keit vor ihrem 30. Lebensjahr begonnen (Herr F-25, Herr N-28, Herr G-45); drei Befragte haben sich sogar erst nach ihrem 40. Geburtstag „voll“ selbst­ ständig gemacht (Herr L-36, Herr C-41, Herr F-55). Der erste Abschnitt der Erwerbsbiografie findet somit in praktisch allen Fällen zunächst in abhän­ giger Beschäftigung statt. Bis auf wenige Fälle, in denen die Betroffenen aus einer Unternehmerfa­ milie stammen (Herr N-28, Herr G-45), ist die Selbstständigkeit nicht von Anfang an geplant gewesen, sondern hat sich erst im Laufe der Erwerbskar­ riere als Option ergeben. Nicht alle, aber viele Befragte sind dabei von einer relativ starken Position aus in die Selbstständigkeit gegangen; oftmals haben sie sich in den Jahren ihrer abhängigen Beschäftigung beruflich und finan­ ziell kontinuierlich verbessert und in ihrem letzten Beschäftigungsverhältnis vor dem Eintritt in die Selbstständigkeit bereits relativ gut verdient (so u. a. Herr F-25, Herr L-36, Herr T-46, Herr F-55). Diese Aufstiegsprozesse fan­ den überwiegend in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre und in der ersten Hälfte der 1970er Jahre statt, also innerhalb einer wirtschaftlichen Prospe­ ritäts- und Vollbeschäftigungsphase. Nur in vergleichsweise wenigen Fällen ist die Selbstständigkeit gleichsam „aus der Not geboren“ wie im Fall von Herrn B-26, der sich als Elektriker aus der Arbeitslosigkeit heraus selbst­ ständig gemacht hat, oder Herrn S-35, der als Psychotherapeut aufgrund seiner Spezialisierung auf alternative Therapieansätze eher geringe Chancen auf eine Festanstellung hatte. Die im Durchschnitt gut zwei Jahrzehnte dauernde Selbstständigkeit ist nicht selten durch eine ausgeprägte Expansionsphase im ersten Jahrzehnt gekennzeichnet, in der Umsätze und Gewinne kontinuierlich gesteigert wer­ den und die Betroffenen ein vergleichsweise hohes Wohlstandsniveau auf­ bauen können (u. a. Herr F-25, Herr N-28, Herr C-41, Herr T-46, Herr F-55). Die Phase der „aktiven“ Selbstständigkeit endet jedoch in den meis­ ten Fällen bereits vor Erreichen des gesetzlichen Renteneintrittsalter bzw. dem individuellen Renteneintritt. In den meisten Fällen ist die Selbststän­ digkeit mehr oder weniger deutlich gescheitert: Rund die Hälfte der Befrag­



3. Ehemalige Selbstständige223 Tabelle 39 Ehemalige Selbstständige: Phasen der Erwerbsbiografie Phase 1 (Überwiegend abhängige Beschäftigung)

Phase 2 (Selbstständigkeit)

Phase 3 (Überwiegend Transferbezug bzw. Vermögensverzehr)

S

Verlagskauffrau, Berufsschullehrerin

(32–60) Musikerin, Journalistin (z. T. mit Transferbezug)

(60–65) Transferbezug

Hr. F-25

A

Bürokaufmann, Einkäufer, Büroleiter

(29–52) Versicherungsagent (z. T. als Subunternehmer)

(53–56) Telefonverkäufer (Callcenter) (56–65) Transferbezug

 3

Hr. B-26

A

Elektriker (zwischenzeitl. 2–3 Jahre arbeitslos)

(39–56) Elektriker, (56–58) Gastwirt

(58–67) Elektriker (reduzierter Umfang)

 4

Hr. N-28

A

Unternehmensberater, Mitarbeiter Knie­ schonerhersteller

(29–58) Bauunternehmer, Gebäudereinigung, Knie­ schonerhersteller

(58–65) kleinere geschäftl. Projekte, Vermögensverzehr

 5

Hr. D-29

A

Postbote, Verkaufs­ fahrer, Operator

(32–63) Taxiunter­ nehmer

(63–65) Vermögens­ verzehr

 6

Hr. S-35

S

Langes Studium, Dozent (VHS), pädagogischer Mitarbeiter

(36–53) Eigene therapeut. Praxis (mit Unterbrechungen)

(53–55) Krankheit, (56–65) Transferbezug

 7

Hr. L-36

A

Handelsvertreter, Prokurist Ingenieurs­ büro

(43–58) Gastwirt

(59–63) Transferbezug

 8

Hr. C-41

S

Lohnbuchhalter (z. T. in ltd. Funktion), langes Studium, Sachbearbeiter

(44–64) Selbst. Coach

(64–65) Klinik / Reha, Vermögensverzehr

 9

Hr. G-45

A

Angestellter /  Geschäftsführer eines Kinobetriebs

(25–33; 40–65) Versicherungsagent

(52–65) Vermögens­ verzehr

10

Hr. T-46

A

Bürokaufmann (z. T. in leitender Funktion)

(34–46) Beleuchtungsfirma, später Ladenlokal

(46–50) Vermögensverzehr, (50–65) Transferbezug

11

Hr. F-55

S

Geschäftsführer Möbelkombinat

(43- ca. 55) Einzel­handelskette Berufskleidung

(52–65) lange Klinikaufenthalte, Transferbezug

Nr.

Name

Bildungsabschluss

 1

Fr. M-09

 2

Bildungsabschluss: S = Abgeschl. Studium; A = Abgeschl. Berufsausbildung. Quelle: Eigene Darstellung.

224

V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen

ten hat zu einem bestimmten Zeitpunkt der Biografie Konkurs bzw. Pri­ vatinsolvenz anmelden müssen; Lokale und Betriebe mussten geschlossen, Inventar musste verkauft, Vermögen musste aufgelöst werden. Viele Betrof­ fene sind bis heute durch hohe Schulden belastet. Ein zweites, weniger häufig vorkommendes Muster ist dasjenige des allmählichen Auslaufens der Selbstständigkeit, bei dem die Aktivitäten und Einnahmen in den letzten Jahren vor dem Renteneintritt immer weiter zurückgehen und immer stärker auf das vorhandene Restvermögen zurückgegriffen werden muss, um den Lebensunterhalt bzw. die laufenden Kosten zu decken. Die Gründe für das letztliche Scheitern der Selbstständigkeit sind vielfäl­ tig; oftmals handelt es sich nicht um eine zentrale Ursache, sondern um ein Zusammenwirken mehrerer Faktoren. Das Spektrum dieser Faktoren um­ fasst dabei u. a. allgemeine Marktmechanismen (Herr D-29 als „kleiner“ Taxiunternehmer), zunehmende Auftragslosigkeit (Frau M-09 als Musikerin und Journalistin), unglückliche Zufälle (im Fall von Herrn F-25 der uner­ wartete Konkurs eines Großkunden), Konflikte mit der Hausbank (Herr T-46), riskante Geschäftsmodelle (Herr G-45, der sich an der Börse verspe­ kuliert hat), verlorene Gerichtsprozesse (Herr N-28, der den elterlichen Betrieb an seine Tochter abtreten musste), betriebswirtschaftliche Fehlkal­ kulationen (Herr B-26 als unerfahrener Gastwirt, Herr C-41 als Coach mit zwei Wohnungen und großem Dienstwagen) sowie gesundheitliche Proble­ me. So hatte Herr L-36 einen Betriebsunfall, der letztlich zum Konkurs seiner Gastwirtschaft führte; Herr S-35 und Herr F-55 wurden psychisch krank und mussten ihre Erwerbstätigkeit daher aufgeben. In den wenigsten Fällen ist den Betroffenen nach dem Ende ihrer Selbst­ ständigkeit der (zumindest vorübergehende) Wiedereinstieg in den allgemei­ nen Arbeitsmarkt geglückt. Neben gesundheitlichen Einschränkungen hat hier insbesondere das zumeist bereits fortgeschrittene Alter eine wichtige Rolle gespielt. 7 von 11 ehemaligen Selbstständigen haben zwischen dem Ende ihrer Selbstständigkeitsphase und ihrem Renteneintritt bedarfsgeprüfte Mindestsicherungsleistungen (Sozialhilfe bzw. ALG II) erhalten; 4 der 11 Betroffenen haben hingegen die letzten Jahre vor dem Renteneintritt noch durch Vermögensverzehr (u. a. aus vorzeitig aufgelösten Lebensversicherun­ gen) und / oder durch selbstständige Erwerbstätigkeit auf reduziertem Niveau überbrückt, ohne Mindestsicherungsleistungen in Anspruch zu nehmen. Spätestens bis zum Renteneintritt haben jedoch auch diese Personen ihr verbleibendes Vermögen nahezu vollständig aufgebraucht, so dass die Grundsicherung im Alter beantragt werden musste.



3. Ehemalige Selbstständige

225

bb) Selbstständige und ihre Altersvorsorge Wie bereits beschrieben, weisen praktisch alle ehemaligen Selbstständigen im Sample vor dem Beginn ihrer Selbstständigkeit zunächst eine mehrjährige Phase sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung auf. In vielen Fällen ha­ ben die Betroffenen in dieser ersten Phase ihrer Erwerbsbiografie deutlich mehr als einen Entgeltpunkt pro Jahr in der GRV erworben; das spätere per­ sönliche Alterseinkommen beruht bei nahezu allen Betroffenen praktisch aus­ schließlich auf den in dieser Phase erworbenen Anwartschaften. Zu den unmittelbaren Folgen der Selbstständigkeit gehört in der Regel der Wegfall der Versicherungspflicht und der der damit verbundene Ausstieg aus der gesetzlichen Rentenversicherung. Die allermeisten Selbstständigen haben die Befreiungsmöglichkeit aus der GRV genutzt und stattdessen eine private Vorsorge gewählt, da sie davon ausgegangen sind, dass diese ihnen mehr finanzielle Vorteile bietet die gesetzliche Rentenversicherung. In vie­ len Fällen berichten die Befragten, ihr Bank-, Versicherungs- bzw. Steuer­ berater habe den Ausstieg aus der GRV dringend empfohlen und gleichsam als „alternativlos“ dargestellt (Herr L-36, Herr T-46); in zwei Fällen (Herr F-25 und Herr G-45) waren die Betroffen ohnehin selbst Versicherungs­ agenten. Der Ausstieg aus der GRV ist dabei oftmals ganz bewusst termi­ niert worden, um die Mindestversicherungszeit von damals 15  Jahren ein­ zuhalten (u. a. Herr F-25 und Herr D-29). Die meisten Befragten haben ihre persönliche Altersvorsorge dabei im Wesentlichen auf eine private Lebens- bzw. Rentenversicherung gestützt. Interessanterweise spielt die eigene Immobilie hingegen nur in wenigen Fällen eine Rolle. Zumindest in den ersten bzw. in den erfolgreichen Jahren der Selbstständigkeit haben viele der Befragten auch relativ hohe Beiträge in ihre Versicherungsverträge eingezahlt. Viele der Befragten haben sich jedoch zu einem bestimmten Zeitpunkt ihrer Selbstständigkeit dazu gezwun­ gen gesehen, ihre bestehenden Versicherungsverträge ruhen zu lassen, da sie die Beitragszahlungen nicht mehr leisten konnten; andere mussten ihre Le­ bensversicherung sogar vollständig auflösen. Die erzwungene vorzeitige Kündigung der Versicherungspolice ist dabei oft mit enormen Verlusten verbunden gewesen. Hier zeigt sich, dass die sprichwörtliche Trennung von Privat- und Be­ triebsvermögen, die Trennung von privater Altersvorsorge und Unterneh­ men, in der Praxis der Selbstständigkeit oftmals nicht aufrecht zu erhalten ist. Dies gilt beispielsweise, wenn für einen Bankkredit Sicherheiten hinter­ legt werden müssen; mehrere Betroffene berichten zudem, dass sie im Rahmen ihres Geschäftsverkehrs immer wieder gezwungen waren, persön­ liche Haftungsklauseln zu unterschreiben, ohne die der Kredit bzw. das

226

V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen Tabelle 40 Vorsorgestrategien von ehemaligen Selbstständigen im Grundsicherungsbezug

Nr.

Name

Individuelle Vorsorgestrategie

Vorsorgeergebnis

 1

Fr. M-09

Keine Vorsorge für nötig gehalten, da größere Erbschaft erwartet

Keine Erbschaft (Enterbung)

 2

Hr. F-25

Private Rentenversicherung

Bei Konkurs aufgelöst bzw. gepfändet

 3

Hr. B-26

Spekulative Anlage in Fonds

Fehlanlage, Totalverlust

 4

Hr. N-28

Alle Ressourcen in das eigene Unternehmen gesteckt

Verlust des Unternehmens nach innerfamiliärem Rechtsstreit

 5

Hr. D-29

Lebensversicherung

Eingefroren, mit 58 aufgelöst, in eigene Firma investiert

 6

Hr. S-35

Lebensversicherung

Eingefroren, mit 50 zur Deckung laufender Kosten aufgelöst

 7

Hr. L-36

Lebensversicherung, Immobilien

Bei Scheidung aufgelöst bzw. bei Konkurs verloren

 8

Hr. C-41

Lebensversicherung

Eingefroren, später aufgelöst, um Schulden zu bedienen

 9

Hr. G-45

Mehrere Lebens- / Renten­ versicherungen

ab ca. 52 aufgelöst und bis Rentenbeginn aufgezehrt

10

Hr. T-46

Betriebliche Altersvorsorge (Direktversicherung) + private Lebensversicherung

Beide Verträge bei Konkurs gepfändet

11

Hr. F-55

Eigenes Unternehmen, Immobilie

Unternehmen aufgelöst, Immobilien gepfändet

Quelle: Eigene Darstellung.

Geschäft nicht zustande gekommen wären (Herr F-25, Herr N-28, Herr G-45). Auch der GmbH-Status schützt somit nicht in jedem Fall vor dem Verlust der Altersvorsorge. Diejenigen Betroffenen, die ihre Lebensversiche­ rung nicht bereits während der Selbstständigkeitsphase eingefroren bzw. aufgelöst oder im Rahmen eines Konkurses durch Pfändung verloren haben, sind gezwungen gewesen, ihr eigentlich für die Altersphase gedachtes Vor­ sorgevermögen bereits vor dem Renteneintritt weitgehend aufzubrauchen. Gerade in der Gruppe der über Jahrzehnte hinweg nicht obligatorisch in der GRV abgesicherten ehemaligen Selbstständigen zeigt sich daher das bemerkenswerte Ergebnis, dass sich das eigene Alterseinkommen praktisch



3. Ehemalige Selbstständige227

ausschließlich aus der GRV-Altersrente zusammensetzt, dass also die Leis­ tungen eben jenes Systems, das in der Mehrzahl der Fälle aufgrund ver­ meintlich besserer Alternativen freiwillig verlassen wurde, das einzige Einkommen darstellen, das den Betroffenen im Alter sicher verbleibt. Die erwarteten Leistungen aus den seinerzeit wesentlich attraktiver, da flexibler und renditestärker erscheinenden privatwirtschaftlich-kapitalgedeckten Vor­ sorgeformen hingegen sind im Zuge der gescheiterten Selbstständigkeit in allen hier untersuchten Fällen vollständig verloren gegangen bzw. vorzeitig aufgebraucht worden. Ein Teil der Betroffenen urteilt daher rückblickend im Interview, dass eine allgemeine Versicherungspflicht auch für Selbstständige in ihrem Fall durchaus sinnvoll gewesen wäre. So argumentiert beispielsweise Herr D-29, ehemaliger Taxiunternehmer: A Es müsste für Selbstständige, Freiberufler, Beamte und so weiter auch eine Einzahlungspflicht geben in die Rentenversicherung. […] Und wenn diese Pflicht bestanden hätte bei mir schon, dann hätte ich doch eingezahlt. Dann hätte ich müssen! […] So aber überlässt man dem Einzelnen das, und dann wird er da [Anm.: an der Alterssicherung] immer zuerst dran sparen. Wenn er kein Geld hat, wird er immer erst an der eigenen Lebensversicherung [spa­ ren] … weil Krankenversicherung möchte man auch nicht sparen. […] Min­ destrente und Pflicht für Selbstständige, dass das nicht Gesetz ist, das ist für mich so gravierend. […] Wenn das gewesen wäre, dann würde ich hier viel­ leicht gar nicht sitzen – oder mit Sicherheit nicht.

Die Gruppe der ehemaligen Selbstständigen unterscheidet sich insofern von praktisch allen anderen Gruppen in unserem Sample, als dass einige Personen in dieser Gruppe zwischenzeitlich durchaus wohlhabend gewesen sind, eine eigene Immobilie und / oder ein repräsentatives Auto besessen haben und zum Teil auch Kapital gebildet hatten; die „Fallhöhe“ ist gerade in diesen Fällen deutlich höher als im Durchschnitt der hier untersuchten Fälle. Zumindest für einen Teil der ehemaligen Selbstständigen in unserem Sample gilt, dass ihr eigenständiges, durch Erwerbsarbeit verdientes Ge­ samtlebenseinkommen durchaus dazu ausgereicht hätte, um im Sinne einer intertemporalen Konsumglättung auch in der Altersphase über ein Einkom­ men oberhalb der Grundsicherungsschwelle verfügen zu können. In einigen Fällen ist der notwendige Konsumverzicht während der „guten“ Jahre der Erwerbsphase sicherlich nicht hoch genug gewesen; in anderen Fällen wur­ de die Altersvorsorge jedoch durchaus rational und konsequent betrieben. In allen Fällen sind die außerhalb der GRV betriebenen Vorsorgebemühungen im Ergebnis jedenfalls größtenteils umsonst gewesen, da sie die individuel­ le Grundsicherungsbedürftigkeit nicht haben verhindern können.

228

V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen

4. Zugewanderte Personen a) Ältere Personen mit Zuwanderungshintergrund: Ein Überblick Nach Daten des Mikrozensus 2012 beträgt der Anteil der Personen mit Migrationshintergrund im Alter von 65 und mehr Jahren an der gleichalte­ rigen Bevölkerung rund 9,2 %; knapp 1,6 Millionen Personen im Alter von 65 und mehr Jahren weisen somit einen Migrationshintergrund auf (Statis­ tisches Bundesamt 2013). Über 97 % der Seniorinnen und Senioren mit Migrationshintergrund haben eine eigene Migrationserfahrung, sind also Zuwanderer der ersten Generation. Mehr als die Hälfte der älteren Personen mit Migrationshintergrund (rund 56 %) haben die deutsche Staatsangehörig­ keit. Hierbei handelt es sich zum einen um (Spät-)Aussiedler / innen, die bei ihrer Zuwanderung automatisch die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten haben (39 %), sowie im ehemalige Ausländer, die die deutsche Staatsange­ hörigkeit durch Einbürgerung erhalten haben (17 %). Rund 44 % der älteren Personen mit Migrationshintergrund haben eine ausländische Staatsangehö­ rigkeit; hierbei handelt es sich in einem hohen Anteil, wenn auch bei weitem nicht ausschließlich, um Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten („Gast­ arbeiter“) der ersten Generation. Sieht man von den umfangreichen Flucht- und Vertreibungsbewegungen nach dem Zweiten Weltkrieg sowie den innerdeutschen Wanderungen ab, die im vorliegenden Zusammenhang nicht von Interesse sind, so lassen sich in der Zuwanderungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland zwei zen­ trale Zuwanderungsbewegungen identifizieren: Diejenige der „Gastarbeiter“ der ersten Generation, sie sich im Wesentlichen in der „Anwerbephase“ zwischen 1955 und 1973 vollzogen hat (wobei auch nach 1973 viele Ehe­ partner und Angehörige im Rahmen des Familiennachzugs nach Deutsch­ land gekommen sind), und diejenige der (Spät-)Aussiedler, die ihren Höhe­ punkt zwischen Ende der 1980er und Mitte der 1990er Jahre gehabt hat und mittlerweile stark abgeebbt ist. Diese beiden Zuwanderergruppen bilden den Löwenanteil der heutigen Seniorinnen und Senioren mit Zuwanderungshin­ tergrund. Nach der Öffnung der Grenzen 1990 ist es generell zu einer ver­ stärkten Zuwanderung ausländischer Personen gekommen; hierbei spielt die Zuwanderung aus humanitären Gründen eine große Rolle. Unter diesen verschiedenen Zuwanderungsgruppen (Asylbewerber, Bürgerkriegsflüchtlin­ ge etc.) finden sich ältere Menschen jedoch vergleichsweise selten. Einen Sonderfall bildet hingegen die Gruppe der jüdischen Kontingentflüchtlinge, die aufgrund besonderer zuwanderungsrechtlicher Regelungen nach 1991 zugewandert sind, da sich ein relativ hoher Anteil der Zuwanderer aus die­ ser Gruppe mittlerweile bereits im Rentenalter befindet. Im Zusammenhang



4. Zugewanderte Personen229 Tabelle 41 Zugewanderte Personen im Sample Nr.

Name

Geburts- Nationalität jahr

Jahr der Zuwanderung

Alter bei Zuwanderung

Zuwanderergruppe

 1

Fr. K-02

1947

Russland

2005

58

Jüdische ­Kontingentflüchtl.

 2

Fr. K-04

1947

Deutschland

2004

58

(Spät-)Aussiedler

 3

Fr. T-19

1939

Deutschland

1994

54

(Spät-)Aussiedler

 4

Fr. R-21

1943

Ukraine

1995

52

(Spät-)Aussiedler

 5

Fr. G-22

1937

Deutschland

1997

60

(Spät-)Aussiedler

 6

Hr. S-27

1946

Serbien

1970

24

Arbeitsmigranten

 7

Hr. S-30

1939

Ukraine

2005

66

Jüdische Kontingent­flüchtl.

 8

Fr. B-39

1942

Deutschland

1994

52

(Spät-)Aussiedler

 9

Hr. S-42

1943

Ungarn

1971

28

Arbeitsmigranten

10

Hr. / Fr. S / K-43

1937 /  1946

Deutschland

1995

58 / 49

Jüdische Kontingent­flüchtl.

11

Hr. / Fr. A-44

1941 /  1937

Türkei

1970 / 1971

29 / 34

Arbeitsmigranten

12

Hr. E-50

1945

Deutschland

1967

22

Arbeitsmigranten

13

Fr. H-51

1944

Türkei

1971

27

Arbeitsmigranten

14

Fr. S-52

1947

Türkei

1969

22

Arbeitsmigranten

Quelle: Eigene Darstellung.

der vorliegenden Studie lassen sich innerhalb der Gesamtpopulation der Seniorinnen und Senioren mit Migrationshintergrund somit drei relevante Gruppen von älteren Zuwanderern unterscheiden: − Arbeitsmigranten („Gastarbeiter“) der ersten Generation, − (Spät-)Aussiedler / -innen, − jüdische Kontingentflüchtlinge. Im Untersuchungssample finden sich insgesamt 14 Fälle, bei denen eine eigene Zuwanderungserfahrung aus dem Ausland vorliegt; dabei handelt es sich um 12 Einzelpersonen sowie um zwei Ehepaare. Sechs Fälle lassen sich der Gruppe der Arbeitsmigranten der ersten Generation zuordnen, wäh­ rend es sich in fünf Fällen um (Spät-)Aussiedler / -innen und in drei Fällen

230

V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen

um jüdische Kontingentflüchtlinge handelt. In den folgenden Abschnitten werden diese drei Zuwanderergruppen jeweils separat beschrieben und im Hinblick auf typische Risikokonstellationen und Biografiemuster analysiert. b) Arbeitsmigranten der ersten Generation und ihre Angehörigen aa) Historische und migrationspolitische Rahmenbedingungen Vor dem Hintergrund des starken Wachstums und des zunehmenden Ar­ beitskräftebedarfs der deutschen Nachkriegswirtschaft verfolgte die Bundes­ regierung ab Mitte der 1950er Jahre eine Politik der gezielten, kontrollierten Anwerbung ausländischer Arbeitnehmer / -innen aus Südeuropa bzw. aus dem Mittelmeerraum. Die Anwerbephase begann 1955 mit einem bilateralen Abkommen mit Italien. Danach folgten Anwerbeabkommen mit Spanien (1960), Griechenland (1960), der Türkei (1961), Marokko (1963), Südkorea (1963), Portugal (1964), Tunesien (1965) und Jugoslawien (1968). Die An­ werbepolitik war auf eine befristete Zuwanderung ausgerichtet; zumindest in der Anfangszeit galt das „Rotationsprinzip“, dem zufolge einem tempo­ rären Arbeitsaufenthalt in der Bundesrepublik die Rückkehr in das jeweilige Herkunftsland folgen sollte. Bei der Arbeitskräfterekrutierung im Rahmen des Anwerbeverfahrens wurden u. a. Gesundheitsprüfungen vorgenommen, die die Arbeitsfähigkeit der zugewanderten Arbeitskräfte sicherstellen soll­ ten; zudem gab es Altersbeschränkungen und (z. T. je nach Herkunftsland) weitere spezifische Selektionskriterien. Zu beachten ist allerdings, dass nicht alle Arbeitsmigranten der ersten Generation im Rahmen des Anwerbeverfahrens zugewandert sind, da es neben den standardisierten Rekrutierungsverfahren im Rahmen der bilatera­ len Anwerbeabkommen auch andere, alternative Zuwanderungspfade nach Deutschland gegeben hat (vgl. Oltmer 2013: 39). So gab es zum einen die Möglichkeit, sich direkt bei einem deutschen Unternehmen zu bewerben bzw. von einem deutschen Unternehmen im Heimatland rekrutiert zu wer­ den, sich mit einem schriftlichen Arbeitsplatzangebot des betreffenden Un­ ternehmens bei der deutschen Botschaft vorzustellen und dort ein Visum zu erhalten, das zur Einreise und zur Arbeitsaufnahme berechtigte („zweiter Weg“). Eine weitere, oft genutzte Zugangsmöglichkeit bestand darin, zu­ nächst über ein Touristenvisum nach Deutschland einzureisen und sich dann vor Ort um einen Arbeitsplatz und damit verbunden um eine Aufenthaltsund Arbeitsgenehmigung zu bemühen („dritter Weg“). Bei den angeworbenen Arbeitskräften handelte es sich zunächst überwie­ gend um jüngere, männliche Migranten im erwerbsfähigen Alter; sie wurden häufig als un- und angelernte Arbeitskräfte an Großbetriebe im verarbeiten­



4. Zugewanderte Personen231 Tabelle 42 Ausländer im Alter von 65 und mehr Jahren nach ausgewählten Staatsangehörigkeiten (2013) Staat / Herkunftsgebiet

Anzahl

Männer

Frauen

Anteil an ausländischer Bevölkerung mit 65 und mehr Jahren

Türkei

217.467

117.415

100.052

28,32 %

Ehem. Jugoslawien

125.494

  70.651

  54.843

16,34 %

Italien

 71.701

 46.962

 24.739

  9,34 %

Ehem. Sowjetunion

  52.285

 20.801

 31.484

  6,81 %

Griechenland

  50.662

 28.077

  22.585

  6,6 %

Spanien

 17.934

  9.472

  8.462

  2,34 %

Polen

 16.143

  6.360

  9.783

  2,1 %

Portugal

 14.941

  8.200

  6.741

  1,95 %

Sonstige Staaten

201.214

103.460

  97.754

26,21 %

Gesamt

767.841

411.398

356.443

100 %

Sonstige Staaten: u. a. Österreich (41.357), Niederlande (28.261), USA (15.432), Vereinigtes Königreich (14.489), Frankreich (12.756). Quelle: Statistisches Bundesamt / Ausländerzentralregister 2014, eigene Berechnungen.

den Gewerbe (Eisen-, Stahl- und Automobilindustrie) und im Bergbau ver­ mittelt und dort für körperlich beanspruchende Tätigkeiten in Fließbandund / oder Schichtarbeit eingesetzt. Auch die in geringerem Ausmaß ange­ worbenen Frauen übten oftmals Tätigkeiten am Fließband aus (u. a. in der Nahrungsmittelindustrie); zudem verrichteten sie häufig Hilfsarbeiten im Reinigungs- und Küchenbereich. Bis zum Jahr 1973, als vor dem Hinter­ grund des „Ölpreisschocks“ die Anwerbephase für beendet erklärt wurde, war die Zahl der ausländischen Erwerbstätigen auf rund 2,6 Millionen an­ gewachsen (Oltmer 2013: 39); rund ein Viertel davon waren Frauen. Der Anwerbestopp im Jahre 1973 sorgte zwar dafür, dass die Gesamtzahl der ausländischen Arbeitnehmer vorerst zurückging. Bedingt durch das Familienzusammenführungsgesetz, das im Frühjahr 1974 in Kraft trat und beson­ ders von den türkischen Arbeitern in Anspruch genommen wurde, nahm die Zahl jedoch wieder deutlich zu. Das quantitativ häufigste Muster des Fami­ liennachzugs war dabei dasjenige der Ehefrau, die (gegebenenfalls mit be­ reits im Herkunftsland geborenen Kindern) zu ihrem bereits seit einiger Zeit in Deutschland ansässigen und erwerbstätigen Ehemann zog.

232

V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen

Die ersten zahlenmäßig umfangreicheren Kohorten von ehemaligen „Gast­ arbeitern“ sind bereits Ende der 1990er Jahre in das Rentenalter gekommen; die allerjüngsten Arbeitsmigranten, die 1973 noch kurz vor dem Anwerbe­ stopp mit 18 Jahren eingereist sind, gehören zum Geburtsjahrgang 1955, wer­ den also ca. 2020 das gesetzliche Renteneintrittsalter erreicht haben. Ein nicht unwesentlicher Teil der Arbeitsmigranten der ersten Generation befin­ det sich somit bereits im Ruhestand. Wie die Daten der Bevölkerungsstatistik für das Jahr 2013 zeigen, stammen rund zwei Drittel der Ausländer / -innen im Alter von 65 und mehr Jahren aus den ehemaligen „Anwerbestaaten“, also aus der Türkei, den Nachfolgestaaten Jugoslawiens, Italien, Griechenland, Spanien und Portugal, wobei die beiden letztgenannten Herkunftsländer quantitativ keine große Rolle spielen. Unter den Nicht-Anwerbestaaten stel­ len Personen aus den Nachfolgestaaten der UdSSR die größte Gruppe dar, wobei es sich hier zu einem nicht unwesentlichen Teil um Asylberechtigte sowie um jüdische Kontingentflüchtlinge handeln dürfte. Betrachtet man nur die Senioren aus den sechs ehemaligen Anwerbestaa­ ten, so fällt auf, dass (anders als bei der Gesamtbevölkerung im Rentenal­ ter) Männer (54,6 %) gegenüber Frauen (43,6 %) leicht überwiegen; dies ist bei anderen Herkunftsländern, beispielsweise bei den Seniorinnen und Se­ nioren aus der ehemaligen Sowjetunion oder aus Polen, nicht der Fall. Die Tatsache, dass im Rahmen der Gastarbeiteranwerbung überwiegend männ­ liche Arbeitskräfte rekrutiert wurden, spiegelt sich somit noch heute in der in der demografischen Struktur der Seniorenpopulation aus diesen Staaten wieder. bb) Ausgewählte Fallbeispiele Im Untersuchungssample der vorliegenden Studie finden sich insgesamt sechs Fälle (drei Männer, zwei Frauen und ein Ehepaar), die der Gruppe der Arbeitsmigranten der ersten Generation (und ihrer nachgezogenen Familien­ angehörigen) zugerechnet werden können. In drei der sechs Fälle (Ehepaar A-44, Frau H-51, Frau S-52) fand die Zuwanderung im Rahmen des An­ werbeabkommens zwischen Deutschland und der Türkei (bzw. im Rahmen des Familiennachzugs) statt. In den anderen drei Fällen (Herr S-27, Herr S-42, Herr E-50) sind die Befragten außerhalb des offiziellen Anwerbever­ fahrens zugewandert: Herr S-27 ist über ein Touristenvisum eingereist, Herr E-50 über ein Arbeitsplatzangebot eines deutschen Unternehmens. Herr S-42 bildet in gewisser Hinsicht einen Sonderfall, da er seinerzeit über das Asylverfahren aus Ungarn in die BRD zugewandert ist; sowohl hinsichtlich seines Zuwanderungszeitpunktes (1971) und -alters (28) als auch hinsicht­ lich seiner Erwerbsbiografie weist er jedoch deutliche Ähnlichkeiten zu der Gruppe der Arbeitsmigranten auf, so dass er im Kontext der vorliegenden



4. Zugewanderte Personen233

Studie der (erweiterten) Gruppe der Arbeitsmigranten der ersten Generation zugerechnet werden kann. In allen sechs Fällen hat die Zuwanderung Ende der 1960er bzw. Anfang der 1970er Jahre und somit im „Anwerbezeitraum“ stattgefunden; alle Zu­ wanderer / -innen (mit Ausnahme von Frau A-44) waren zum Zeitpunkt ihrer Zuwanderung jünger als 30 Jahre. Die Befragten leben somit alle seit über 40 Jahren in Deutschland und haben den Großteil ihrer Erwerbsbiografie bzw. ihrer „aktiven“ Jahre in Deutschland verbracht. Nur in einem der sechs Fälle ist es zu einer Einbürgerung gekommen (Herr E-50); Herr S-27, der als Jugoslawe nach Deutschland eingereist ist (und sich nach eigenen An­ gaben nach wie vor als Jugoslawe fühlt), hat mittlerweile einen serbischen Pass. Hinsichtlich der Erwerbsbiografie zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen den einzelnen Betroffenen; hierbei fällt auf, dass die drei Perso­ nen bzw. Fälle mit türkischen Zuwanderungshintergrund kaum sozialversi­ cherungspflichtige Beschäftigungszeiten, dafür aber vergleichsweise lange Zeiten der Beschäftigung außerhalb der Sozialversicherungspflicht (gering­ fügige Beschäftigung, Schwarzarbeit) aufweisen. Bei den nicht-türkischen Zuwanderern zeigt sich hingegen ein etwas höherer Anteil sozialversiche­ rungspflichtiger Beschäftigung. Da türkische „Gastarbeiter“ der ersten Generation und ihre Ehepartner innerhalb der ausländischen Bevölkerung im Rentenalter die bei weitem größte Gruppe darstellen, konzentrieren sich die ausführlichen Falldarstel­ lungen in diesem Teilkapitel auf die drei Fälle mit türkischem Zuwande­ rungshintergrund. Zuvor sollen jedoch die Erwerbsbiografien der drei nichttürkischen Zuwanderer zumindest knapp skizziert werden: − Herr S-27, gelernter Elektriker, hat nach seiner Zuwanderung zunächst 21 Jahre ohne größere Unterbrechungen in sozialversicherungspflichtiger Vollzeit als Elektriker gearbeitet; dabei hat er mehrmals den Arbeitgeber und den Wohnort gewechselt. Der biografische Bruch kam im Jahr 1991, als er für ein Jahr nach Serbien zurückgekehrte, um seine Mutter zu pflegen: Seine Aufenthaltserlaubnis war zwischenzeitlich erloschen und wurde zunächst nicht verlängert, so dass Herr S-27 mehrere Jahre lang nicht erwerbstätig sein durfte und von der Ausweisung bedroht war. Nach dieser aufenthaltsrechtlich bedingten mehrjährigen Erwerbsunterbrechung ist der dauerhafte Wiedereinstieg in sozialversicherungspflichtige Er­ werbstätigkeit auch wegen des fortgeschrittenen Alters nicht mehr ge­ glückt; Herr S-27 blieb bis zu seinem Renteneintritt insgesamt 12 Jahre arbeitslos. − Herr S-42, gelernter Polsterer und Sattler, hat eine stark diskontinuierli­ che Erwerbsbiografie, in der sich Zeiten der Beschäftigung mit Phasen

234

V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen Tabelle 43 Arbeitsmigranten der ersten Generation und ihre Angehörigen Hr. S-27

Hr. S-42

Hr. E-50

Hr. / Fr. A-44

Fr. H-51

Fr. S-52

1946

1943

1945

1941 / 1937

1944

1947

Herkunftsland

Ehem. Jugoslawien

Ungarn

Tunesien

Türkei

Türkei

Türkei

Staatsangehörigkeit

Serbien

Ungarn

Deutsch (eingeb.)

Türkei

Türkei

Türkei

Jahr der ­Zuwanderung

1970

1971

1967

1970 / 1971

1971

1969

Alter bei ­Zuwanderung

24

28

22

29 / 34

27

22

Familienstand

Verheiratet

Geschieden

Ledig

Verheiratet

Haushaltsform

Paarhaushalt

Paarhaushalt

Alleinlebend

Paarhaushalt

Alleinlebend

Alleinlebend

1

1

1

3

4

3

Elektriker

Polsterer

keine

Mechaniker/ keine

keine

keine

Jahre in SVP Beschäftigung

25

 18

 37

7 / –

3 ½

  6

Beschäftigung ohne SVP

 3



  4



19

 20

Jahre in Transferbezug

12

 19

  2

27

21

  2

GRV-Alter

550

404

472

325 / 80

162

674

GRV-Witwen









405



Sonstige Einkünfte



Ungarische Rente: 69









560 (Bedarfsgem.)

562 (Bedarfsgem.)

850

550 / 550 (Bedarfsgem.)

828

860

Geburtsjahr

Kinder Berufsausbildung

Bruttobedarf

Verwitwet Geschieden

SVP = Sozialversicherungspflicht. Arbeits- und Transferbezugszeiten teilweise geschätzt. Quelle: Eigene Darstellung.



4. Zugewanderte Personen

235

der Arbeitslosigkeit häufig abwechseln; er war nach eigener Schätzung insgesamt bei mehr als 12 Firmen in verschiedenen Bundesländern be­ schäftigt. Bei den verschiedenen Beschäftigungsverhältnissen handelte es sich überwiegend um zeitlich befristete, schlecht bezahlte Hilfstätigkeiten (Montage, Fahrdienste), die zudem häufig über Zeitarbeitsfirmen abgewi­ ckelt wurden. Der Übergang aus der prekären Randzone des Arbeitsmark­ tes in eine gesicherte Festanstellung ist aus verschiedenen Gründen (In­ solvenzen, betriebsbedingte Kündigungen, Standortverlagerungen etc.) immer nur temporär geglückt; dabei haben sicherlich auch eigene strate­ gische Fehlentscheidungen bei der Arbeitsplatzsuche und der Arbeitge­ berwahl eine Rolle gespielt. Im Ergebnis setzt sich seine Erwerbsbiogra­ fie in etwa zu gleichen Teilen aus sozialversicherungspflichtiger Beschäf­ tigung und Phasen der Arbeitslosigkeit zusammen. − Herr E-50, der in Tunesien keine Berufsausbildung absolviert hat, hat in Deutschland mehrere Jahrzehnte als Taxifahrer gearbeitet; er war bis auf eine kurze Phase der Selbstständigkeit überwiegend abhängig beschäftigt. Für seine niedrige GRV-Rente gibt es drei Gründe: Erstens hat Herr E-50 als Taxifahrer über weite Strecken hinweg eher schlecht verdient. Hinzu kommt zweitens, dass in einigen seiner Beschäftigungsverhältnisse ohne sein Wissen faktisch keine Meldung zur Sozialversicherung erfolgt ist und keine Beiträge entrichtet wurden, so dass hier Lücken in der Versi­ cherungsbiografie entstanden sind. Drittens ist es immer wieder auch vorgekommen, dass Herr E-50 und sein jeweiliger Arbeitgeber die im Taxigewerbe gegebenen (semi-)legalen Möglichkeiten genutzt haben, den zu verbeitragenden Teil des Gesamtgehaltes möglichst niedrig zu halten. Die Erwerbsbiografien der drei nicht-türkischen Arbeitsmigranten im Sample decken somit nahezu die gesamte Palette der in der einschlägigen Literatur genannten Arbeitsmarkt- und Altersarmutsrisiken ab: Langzeitar­ beitslosigkeit (Herr S-27), prekäre Beschäftigung und „perforierte“ Erwerbs­ biografien (Herr S-42) sowie langjähriger Geringverdienst in Kombination mit Ausweichstrategien bei der Beitragsentrichtung (Herr E-50). Die Alters­ rente der GRV, die aus solchen Erwerbs- und Versicherungsbiografien resul­ tiert, liegt in etwa im Bereich zwischen 400 und 550 Euro und somit deutlich unter dem Niveau der Grundsicherung. Es erscheint plausibel, dass gerade in solchen Fällen aufgrund eingeschränkter Verdienste und dement­ sprechend eingeschränkter Vorsorgefähigkeit in der Regel auch kaum An­ sprüche aus betrieblichen oder privaten Vorsorgesystemen aufgebaut werden. Im Folgenden werden nun die drei Fälle mit türkischem Zuwanderungs­ hintergrund ausführlicher dargestellt und analysiert, um für diese Teilgruppe zu einem möglichst umfassenden Bild zu kommen.

236

V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen

(1) Fallbeispiel 1: Ehepaar A-44, zugewandert aus der Türkei Herr und Frau A-44, verheiratet, drei Kinder, sind 1970 (Herr A-44) bzw. 1971 (Frau A-44) nach Deutschland zugewandert. Herr A-44, geboren 1941 in Mardin (südöstliche Türkei), bezieht eine GRV-Altersrente von 325 Euro; Frau A-44, geboren 1937 in Istanbul, bezieht eine Altersrente von rund 80 Euro. Diese Einkünfte werden durch Grundsicherungsleistungen in Höhe von knapp 700 Euro aufgestockt; der Bruttobedarf des Ehepaars liegt bei rund 1100 Euro. Herr A-44 besuchte in der Türkei zunächst eine Militärschule, wo er eine Ausbildung zum Panzermechaniker absolvierte. Im Kontext der politischen Umbrüche und verschiedener Putschversuche in der Türkei wurde er 1965, im Alter von 24 Jahren, aus der türkischen Armee entlassen, fand aber zeitnah eine Anstellung beim Zollamt in Istanbul, wo er bis zu seiner Über­ siedlung nach Deutschland im Jahr 1970 bleiben sollte. Frau A-44 besuchte in der Türkei zunächst die Grund- und dann die Mittelschule, verließ letz­ tere aber vorzeitig im Alter von 14 Jahren, um ihre kranke Mutter zu be­ treuen; diese Tätigkeit übte sie bis zu ihrer Heirat aus. Die Heirat von Herrn und Frau A-44 fand 1967 statt; Herr A-44 war zum Zeitpunkt der Heirat 26 Jahre alt, Frau A-44 war 4 Jahre älter. 1968 wurde das erste Kind gebo­ ren. Herr A-44 erinnert sich, dass er sich anlässlich seiner Heirat seine bislang eingezahlten Rentenbeiträge erstatten ließ, um die Hochzeit zu fi­ nanzieren, was er im Nachhinein als klaren Fehler bezeichnet. Bereits kurz nach seiner Entlassung beim Militär hatte sich Herr A-44 bei einer Anwerbestelle der türkischen Anstalt für Arbeit und Arbeitsvermitt­ lung angemeldet, um im Rahmen des Anwerbeabkommens nach Deutsch­ land einwandern zu können. 1970, fünf Jahre nach Antragsstellung, wurde Herrn A-44 die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland gewährt. Gemäß der ursprünglichen Planung sollte der Arbeitsaufenthalt in Deutschland nur von kurzer Dauer sein: A (Herr A-44): Ich wollte normalerweise – ich war schon zufrieden mit meinem Leben und meinem Beruf als Zollbeamter. Ich wollte nur ein kleines Auto. Ein VW  – Und nur wegen dem Kleinwagen. Ich dachte 4–5 Monate, ich ar­ beite und kaufe mir so ein VW Käfer und fahre wieder zurück. Das war eine Dummheit von mir … Ich hatte einen festen Job, ich habe einen Fehler ge­ macht, weil ich das Auto haben wollte. Und dann dachte ich, gehe ich zurück und arbeite wieder [als Zollbeamter].

Herr A-44 reiste 1970, vorerst alleine, in die Bundesrepublik Deutschland ein; er erhielt eine Anstellung als Fräser und Montagearbeiter bei einem mittelständischen Traktor-Hersteller in Nordrhein-Westfalen. Relativ bald stellte sich heraus, dass der ursprünglich gefasste Plan nicht funktionieren würde:



4. Zugewanderte Personen237 I

Sie wollten aber gar eigentlich nicht so lange bleiben?

A Ja, ich wollte es nicht. Aber in dieser Zeit, wie ich dachte, musste ich das Geld nach Istanbul zu meiner Frau und meinem Kind schicken, für die Miete. Was ich gedacht hatte mit sparen, habe ich nicht geschafft. […] Da war es so: Nach einem Jahr konnte ich nicht mehr zurück zu meinem alten Job. Ich hatte gekündigt und habe meine Stelle verloren. Da habe ich gedacht, wenn ich zurückgehe müsste ich mir einen neuen Job suchen.

1971, etwas mehr als ein Jahr nach der Einreise von Herrn A-44, zog Frau A-44 mit dem gemeinsamen Kind nach. In Deutschland war sie nicht erwerbstätig; 1972 wurde das zweite Kind geboren, 1976 das dritte Kind. Die im Prinzip nach wie vor geplante Rückwanderung in die Tür­ kei wurde zunächst verschoben. 1977 kam es zu einem Einschnitt: Herr A-44, der zu diesem Zeitpunkt 36 Jahre alt war und in Deutschland bis dahin rund 7 Jahre in Vollzeit gearbeitet hatte, wurde aufgrund einer all­ ergischen Hauterkrankung für längere Zeit arbeitsunfähig. Herr A-44 be­ richtet, er sei an seinem Arbeitsplatz mit gesundheitsschädlichen Stoffen in Kontakt gekommen, insbesondere mit Schneideölen und flüssigen Kühlschmierstoffen, die beim Drehen, Bohren und Fräsen eingesetzt wer­ den. Der fortgesetzte Hautkontakt führte zu allergischen Reaktionen (tro­ ckene, juckende Ekzeme) an Händen und Armen, die eine Weiterarbeit auf Dauer unmöglich machten und insgesamt über Jahre hinweg eine er­ hebliche gesundheitliche Belastung darstellten. Nach dem anderthalbjähri­ gen Bezug von Krankengeld sprach sein Arbeitgeber die Kündigung aus. Zuvor hatte es seitens des Arbeitgebers weder Überbrückungs- noch Ein­ gliederungsmaßnahmen gegeben; auch eine ärztliche Anzeige wegen Ver­ dachts auf Berufskrankheit beim Unfallversicherungsträger ist nicht er­ folgt. Herr A-44 nahm die Kündigung (ohne Abfindung) letztlich hin, ohne Rechtsmittel einzulegen: A Ich bin nicht zum Gericht gegangen, weil ich kein Deutsch konnte. Wenn ich mal zum Rechtsanwalt gegangen wäre! Ich war mit der Kündigung einver­ standen. Einfach so. Ich dachte, dann suche ich eine andere Arbeit.

Herr A-44 gibt an, seinerzeit nicht über seine Rechtsansprüche aufgeklärt worden zu sein, was er nicht zuletzt auch auf seine schlechten Deutsch­ kenntnisse zurückführt: A Wegen den Gesetzen und wegen der Sprache. Ich habe nicht viel verstanden. Die hätten mich nicht einfach entlassen können und ich hätte eine Abfindung bekommen. Aber ich wusste nicht, dass es sowas wie eine Abfindung gibt. Dann habe ich einfach unterschrieben. I Wenn Sie besser deutsch gesprochen hätten, wäre es wohl nicht so einfach gewesen, Sie zu entlassen? A Ja, dann sowieso. Dann hätten die mich erst gar nicht entlassen können – erst recht nicht ohne Abfindung. Da haben die mir nicht die Wahrheit gesagt.

238

V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen

Herr A-44 erhielt zunächst zwei Jahre lang Arbeitslosengeld und an­ schließend Arbeitslosenhilfe. Der 1981 gestellte Antrag auf Berufsunfähig­ keitsrente wurde abgelehnt; Herr A-44 gibt an, seine Hautkrankheit sei als nicht schwerwiegend genug eingestuft worden, um die Berufsunfähigkeit zu erhalten. 1983 vermittelte ihm das Arbeitsamt eine 6-monatige Umschulung zum Lagerfachhelfer; der erhoffte Wiedereinstieg in eine sozialversiche­ rungspflichtige Beschäftigung blieb dennoch aus. Auch nach einer zweiten Umschulung zum Elektriker (1987) kam es trotz vielfältiger Bemühungen nicht zu einer erfolgreichen Arbeitsvermittlung. I Gab es Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen oder andere Maßnahmen vom Ar­ beitsamt, dass Sie irgendwo arbeiten können? A Ja, ich habe es versucht. Das Arbeitsamt hat mich zu irgendwelchen Firmen geschickt, die haben mich aber nicht genommen. Also ich habe es immer versucht … I Wie ist das mit Ihrer Gesundheit gewesen? Wurde es wieder besser? Hätten Sie wieder voll arbeiten können? A Ich war danach, nach 1989 oder was. Ich habe immer wieder gesucht. Ich musste arbeiten, ich hatte drei Kinder. Die Kinder gingen zur Schule. Ich habe mich immer geschämt immer von Stadt zu leben – das war nicht so meine Art; aber bei mir gab es keine andere Möglichkeit. Ich habe keinen Job gefunden. So ist es gelaufen …

Der Wiedereinstieg in eine dauerhafte sozialversicherungspflichtige Be­ schäftigung ist Herrn A-44 bis zu seinem Renteneintritt nicht mehr gelun­ gen. Auch Frau A-44 war in den Jahrzehnten bis zu ihrem Renteneintritt nicht erwerbstätig; zu ihren mangelnden Sprachkenntnissen und Qualifika­ tionen kamen im Zeitverlauf chronische Rückenbeschwerden sowie eine Diabetes hinzu. Generell spielen die sprachlichen Defizite eine zentrale Rolle für die vielfältigen Integrationsprobleme des Ehepaars A-44: So muss­ ten Herr und Frau A-44 Ehepaar immer wieder Bekannte und Freunde dar­ um bitten, ihnen beim Ausfüllen von Formularen, bei Behördengängen oder Arztbesuchen zu helfen. Später übernahmen die Kinder diese Aufgabe. Insgesamt fühlen sich Herr und Frau A-44 nach eigenen Angaben in Deutschland auch nach 40 Jahren noch immer als „Mensch zweiter Klasse“. Eine Rückkehr in ihr Heimatland kommt für sie jedoch nicht mehr in Frage: A2 (Frau A-44, übersetzt): Jetzt sind wir alt, unsere Kinder und Enkel sind hier. Unsere Geschwister und Bekannten in der Türkei sind auch alle alt gewor­ den. Nun, wir sind nicht die Jüngsten. Nehmen wir an, wir würden wieder zurückreisen. Wir sind beide alt und krank – was würde denn passieren, wenn einem von uns etwas passieren würde? Wer würde uns helfen? Wer würde vorbeischauen? Ich könnte aufgrund meiner Krankheit nicht einmal aus dem Haus, um einzukaufen. Ich habe ja gar nicht das Geld oder ein festes Einkommen, um mir eine Betreuerin zu leisten. Das ist unmöglich. Jetzt sind und bleiben wir hier, bis wir sterben werden. Wenn wir krank sind,



4. Zugewanderte Personen239 kommt unsere Tochter vorbei und begleitet uns zum Arzt. Wenn wir einkau­ fen müssen, kommt mein Sohn vorbei. Ein Anruf genügt. Natürlich ist die Türkei unsere Heimat, aber die meisten Menschen, die wir gekannt haben, sind verstorben. Keiner wäre bei uns. A Und hinzu kommt, dass wir in unserer Heimat die Almancılar [Anm. „Die Deutschen“] sind. Da wirst du behandelt wie ein Fremder.

(2) Fallbeispiel 2: Frau H-51, zugewandert aus der Türkei Frau H-51, verwitwet, 4 Kinder, wurde 1944 in einem kleinen Dorf bei Zonguldak an der türkischen Schwarzmeerküste geboren und ist 1971 nach Deutschland zugewandert; von ihrem 2012 verstorbenen Ehemann, Arbeits­ migrant der ersten Generation, lebte sie zum Zeitpunkt seines Todes bereits seit rund 10 Jahren getrennt. Sie bezieht eine GRV-Altersrente von 162 Euro / Monat sowie eine Witwenrente von 405 Euro / Monat, die durch Grundsicherungsleistungen von 261 Euro / Monat aufgestockt werden. Ihr bruttobedarf liegt bei 828 Euro / Monat; sie hat einen Behindertenausweis mit dem Merkzeichen „G“. Frau H-51 ist in einer ländlich-bäuerlichen Umgebung aufgewachsen. Ihre Kindheit hat sie gemeinsam mit ihrer Schwester bei ihren Großeltern verbracht, da ihre Mutter nach dem frühen Tod ihres Vaters erneut geheira­ tet hatte und ihr zweiter Ehemann die Kinder aus erster Ehe nicht akzep­ tierte. Frau H-51 gibt an, dass sie aufgrund der großen räumlichen Entfer­ nung die Schule nicht besuchen konnte; sie unterstützte stattdessen ihre Großeltern bei der Arbeit auf dem Feld und in ihrem kleinen Bauernhof. Frau S-51 kann daher bis heute nicht lesen und schreiben. Im Alter von 16 Jahren wurde Frau H-51 mit einem zehn Jahre älteren Mann verheiratet, zu dem ein entfernter Verwandtschaftsgrad bestand; sie berichtet, angesichts ihrer familiären Situation hätte es keine Alternativen zu dieser Heirat gege­ ben. Ihr erstes Kind bekam Frau H-51 im Jahr 1963, mit 19  Jahren. Im gleichen Jahr wanderte ihr Ehemann, der in der stark durch den Berg­ bau geprägten Region Zonguldak als Bergmann gearbeitet hatte, im Rahmen des Anwerbeabkommens in das Ruhrgebiet aus, wo er als ebenfalls als Bergmann tätig war. Frau H-51, die bei der Migrationsentscheidung keiner­ lei Mitspracherecht hatte, blieb mit ihrem Kind zunächst bei den Schwie­ gereltern, die wie ihre Großeltern einen kleinen Bauernhof hatten, und half dort bei der Feldarbeit. 1969, mit 25  Jahren, bekam sie ihr zweites Kind. Der Ehemann unterstütze die Familie finanziell, wobei das Geld jedoch nicht an Frau H-51, sondern an die Eltern des Ehemannes überwiesen und von diesen verwaltet wurde. Erst 1971, über 7 Jahre nach der Übersiedlung ihres Mannes, wurde Frau H-51 schließlich aufgrund ihres wiederholten Drängens und gegen den Wunsch ihrer Schwiegereltern nach Deutschland

240

V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen

geholt; zu diesem Zeitpunkt war sie 27 Jahre alt, ihre beiden Kinder waren 2 und 8 Jahre alt. A [Übersetzt:] Die Stadt war echt etwas Neues. Ich kannte ja nichts anderes außer mein Dorf. Und dann konnten wir ja die Sprache nicht. Selbst beim Einkaufen mussten wir mit Fingern auf Lebensmittel zeigen. Aber wir hatten türkische Nachbarn, mit denen haben wir uns dann angefreundet.

In Deutschland bekam Frau H-51 zwei weitere Kinder, die 1974 und 1976 geboren wurden. Der Ehemann war in der Zwischenzeit nach einem Arbeitsunfall vom Bergwerk in ein Presswerk in Essen gewechselt, wo er insgesamt rund 17  Jahre lang als Schichtarbeiter tätig war. Frau H-51 be­ richtet von einer insgesamt eher unglücklichen Ehe; der Ehemann habe die Familie tyrannisiert und einen nicht unwesentlichen Teil des verfügbaren Geldes für sich allein beansprucht. Grundsätzlich habe der Ehemann zwar immer wieder bekräftigt, eines Tages in die Türkei zurückkehren zu wollen; es sei ihm jedoch nicht zuletzt aufgrund seiner Neigung zum Glücksspiel nicht gelungen, größere Ersparnisse zu bilden, so dass eine Rückkehr in die Türkei nicht ohne Weiteres möglich gewesen sei: A [Übersetzt:] Er sagte immer, dass wir zurückgehen werden. Aber er hat es nicht geschafft, ausreichend Geld zu sparen. Er hatte die Gewohnheit, das Geld für Glücksspiele auszugeben. Da konnten wir ja nicht ohne Geld wieder zurück. Er wollte ja nicht auf mich hören.

Als das jüngste Kind 1982 eingeschult wurde, versuchte Frau H-51 (zu diesem Zeitpunkt etwa 38 Jahre alt), auf dem deutschen Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Sie arbeitete zunächst knapp 3 Jahre lang halbtags als Reini­ gungskraft in einem Krankenhaus, bis sie nach eigenen Angaben „ohne Grund“ entlassen wurde; sie erstritt eine Abfindung von damals rund 1.500  DM. Danach arbeitete sie einige Monate in einem Presswerk, wo sie allerdings schnell wieder entlassen wurde. Diese knapp 3 ½  Jahre zwischen ihrem 38. und ihrem 42. Lebensjahr sind die einzigen Jahre, in denen Frau H-51 sozialversicherungspflichtig beschäftigt war. Im Anschluss arbeitete sie einige Jahre lang im Rahmen geringfügiger, sozialversicherungsfreier Beschäftigungsverhältnisse als Reinigungskraft, u. a. an Schulen, in einem Kino sowie in Büros. Frau H-51 berichtet, sie sei im Rahmen ihrer ver­ schiedenen Beschäftigungsverhältnisse in der Regel relativ schlecht entlohnt und aufgrund ihres türkischen Hintergrunds von Kollegen und Vorgesetzten oftmals auch eher schlecht behandelt worden; angesichts ihrer sehr einge­ schränkten Sprachkenntnisse und ihrer nicht vorhandenen Qualifikationen hätte es jedoch kaum Alternativen gegeben. Im Jahr 1985 bekam der Ehemann gesundheitliche Probleme und musste an der Lunge operiert werden; 1986, im Alter von 52  Jahren, bekam er die volle Erwerbsunfähigkeitsrente zugesprochen. Frau H-51 war zu diesem Zeitpunkt 42 Jahre alt, das jüngste Kind war 10 Jahre alt. Da die relativ



4. Zugewanderte Personen241

niedrige Rente des Ehemannes für den Lebensunterhalt nicht ausreichte, bezog die Familie aufstockende Sozialhilfe; Frau H-51 hat seitdem bis zum heutigen Tage praktisch ununterbrochen Mindestsicherungsleistungen (So­ zialhilfe, ALG II, Grundsicherung im Alter) bezogen. Nachdem Mitte der 1990er Jahre auch die jüngste Tochter ausgezogen und das Ehepaar auf sich allein gestellt war, kam es zu wachsenden Spannungen in der Ehe bis hin zur häuslichen Gewalt. Frau H-51 gibt an, sie habe vor dem Hintergrund ihrer eigenen Kindheitserfahrungen ihren Mann lange Zeit nicht verlassen wollen, damit die Kinder nicht unter der Trennung leiden. Im Jahr 2003, im Alter von 59  Jahren, erfolgte in gemeinsamen Einvernehmen die Trennung des Ehepaares; auf eine offizielle Scheidung wurde jedoch aus verschiede­ nen Gründen verzichtet. Der Ehemann zog aus der gemeinsamen Wohnung aus und lebte zwischenzeitlich in der Türkei. Frau H-51 ist ihrer Erinnerung nach etwa mit 61  Jahren auf Rat ihres Sachbearbeiters beim Jobcenter in die vorgezogene Altersrente (mit Ab­ schlägen) gegangen, zumal sie in den letzten Jahren vor ihrem Renteneintritt kaum noch Arbeit gefunden hatte und zudem unter Rücken- und Kniebe­ schwerden litt. Seit 2009 bezieht sie Leistungen der Grundsicherung im Alter. Seit dem Tod ihres Ehemanns im Jahr 2012 bezieht Frau H-51 zu­ sätzlich zu ihrer kleinen eigenen Altersrente eine GRV-Witwenrente, die jedoch vollständig mit ihrem Grundsicherungsbedarf verrechnet wird, so dass ihr Einkommen unverändert geblieben ist. In der Gesamtschau ist der Lebensverlauf von Frau H-51 durch ein hohes Maß an Fremdbestimmung geprägt. Bis zu der Trennung von ihrem Ehe­ mann im Alter von fast 60 Jahren durfte sie kaum eigene Entscheidungen treffen, sondern musste sich der Entscheidungsgewalt ihrer Großeltern, später ihrer Schwiegereltern und schließlich ihres Ehemannes unterwerfen. Im Nachhinein bereut sie ihre Übersiedlung nach Deutschland daher keines­ wegs; trotz ihrer Angewiesenheit auf Grundsicherungsleistungen und ihrer bescheidenen finanziellen Ressourcen genießt sie in ihrer Ruhestandsphase als Alleinlebende nun ein bislang nicht gekanntes Maß an Freiheit und Selbstbestimmung; ihre Kinder und Enkelkinder leben größtenteils auch in Deutschland und besuchen sie häufig, so dass sie insgesamt mit ihrer ­Situation durchaus zufrieden ist. (3) Fallbeispiel 3: Frau S-52, zugewandert aus der Türkei Frau S-52, geschieden, drei Kinder, wurde 1947 in der türkischen Provinz Yozgat (Mittelanatolien) geboren und ist 1971 im Rahmen des Familien­ nachzugs in die Bundesrepublik zugewandert. Sie bezieht eine GRV-Alters­ rente von 674 Euro, die durch Grundsicherungsleistungen von 186 Eu­

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V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen

ro / Monat zu einem Gesamtbedarf von rund 860 Euro / Monat aufgestockt wird; der relativ hohe Bruttobedarf ist in erster Linie auf die vergleichswei­ se hohen Kosten der Wohnung (hier insbesondere der Nebenkosten) zurück­ zuführen. Ähnlich wie Frau H-51 ist Frau S-52 im ländlich-bäuerlichen Raum auf­ gewachsen; auch sie lebte jahrelang bei ihren Großeltern, nachdem ihre Eltern sich getrennt hatten, und half bei der Arbeit auf dem Bauernhof und auf dem Feld mit. Wie die meisten anderen Mädchen in ihrem Dorf hat auch sie aufgrund der weiten Entfernung keine Schule besucht; anders als Frau H-51 hat sie sich jedoch nach eigenen Angaben nachträglich selbst Lesen und Schreiben beigebracht. Mit 18  Jahren wurde Frau S-52 mit ei­ nem entfernten Verwandten verheiratet, der im gleichen Dorf wohnte. Nach Angaben von Frau S-52 handelte es sich zwar um eine arrangierte Ehe; dennoch sei durchaus beiderseitige Liebe vorhanden gewesen. Der Ehemann von Frau S-52, der zwei Jahre älter war, hatte eine Ausbildung als Schwei­ ßer absolviert. Nach seinem zweijährigen Militärdienst bewarb er sich bei der türkischen Anstalt für Arbeit und Arbeitsvermittlung für die Arbeit in der BRD. In der Zwischenzeit zog das Ehepaar nach Istanbul, da es dem Ehemann gelungen war, eine Anstellung als Schweißer in dem dortigen Werk eines großen deutschen Automobilherstellers zu erhalten. Die Einrei­ sezusage kam angesichts der guten Referenzen relativ schnell; 1969, im Alter von 24 Jahren, zog der Ehemann nach Hattingen (Ruhr), wo er als Schweißer bei einem größeren Unternehmen arbeitete. Frau S-52 war während der Zeit in Istanbul nicht erwerbstätig, zumal ihr Mann bei dem deutschen Arbeitgeber bereits relativ gut verdiente; als der Mann nach Deutschland übersiedelte, zog sie zunächst zu ihren Schwieger­ eltern nach Yozgat zurück. Frau S-52 gibt an, sie und ihr Ehemann seien sich grundsätzlich einig gewesen, dass der Aufenthalt in Deutschland nur von begrenzter Dauer sein sollte. Der ursprüngliche Plan bestand darin, dass der Ehemann innerhalb von zwei Jahren möglichst viel Geld verdienen sollte, um in der Türkei eine selbstständige Existenz als Schweißer aufbau­ en zu können. Obwohl der Ehemann als Facharbeiter in Hattingen relativ gut verdiente, war es ihm jedoch nicht möglich, eine größere Summe anzu­ sparen. Frau S-52 führt dies darauf zurück, dass ihr Ehemann in Deutsch­ land einen „sehr großzügigen“ Lebenswandel (Nachtleben etc.) gepflegt habe; zudem habe er seine Familie in der Türkei unterstützen müssen und dabei u. a. die Hochzeiten seiner vier Geschwister finanziert. 1971, zwei Jahre nach der Übersiedlung ihres Ehemannes, zog daher auch Frau S-52, zu diesem Zeitpunkt 24 Jahre alt, nach Deutschland. In Deutschland bekam Frau S-52 in kurzer Folge drei Kinder (geboren 1973, 1975 und 1978); der Gedanke an eine baldige Rückkehr hat sich nach ihren Angaben dadurch relativ bald erledigt. Als das jüngste Kind einge­



4. Zugewanderte Personen243

schult wurde, fing Frau S-52 an, zunächst in geringem Umfang als Reini­ gungskraft zu arbeiten; sie war zu dem Zeitpunkt 37 Jahre alt. Mit zuneh­ mendem Alter der Kinder konnte Frau S-52 ihr Arbeitsvolumen allmählich ausbauen; sie gibt an, aufgrund ihrer positiven Art trotz fehlender Sprach­ kenntnisse keine Schwierigkeiten gehabt zu haben, entsprechende Beschäf­ tigungsmöglichkeiten zu finden. Ihr Ehemann war jedoch dagegen, diese Arbeitsverhältnisse offiziell zu machen (mit Steuerkarte und Sozialversiche­ rung), da er befürchtete, bei einer regulären Erwerbstätigkeit seiner Ehefrau in eine ungünstigere Steuerklasse zu rutschen und größere Abzüge bei sei­ nem Gehalt hinnehmen zu müssen: A Ich wollte mich immer weiterentwickeln und auch immer mit Papier arbeiten, aber mein Mann stand mir da im Weg.

Aufgrund des Widerstandes ihres Ehemanns hat Frau S-52 daher während ihrer Ehe kaum sozialversicherungspflichtig, sondern überwiegend geringfü­ gig bzw. schwarz gearbeitet. Sie hatte allerdings ein eigenes Konto und konn­ te über das von ihr erwirtschaftete Geld frei verfügen. Der Ehemann war hingegen in Deutschland praktisch durchgehend in sozialversicherungspflich­ tiger Vollzeit erwerbstätig, bis er 2004, mit 59 Jahren, in Folge eines Arbeits­ unfalls vorzeitig in Rente gehen musste (volle Erwerbsminderung). Etwa zur gleichen Zeit ließ Frau S-52 sich von ihrem Mann scheiden. Frau S-52 gibt an, ihr Mann habe während ihrer 38-jährigen Ehe mehrere Affären gehabt; der Kinder zuliebe hätte sie ihre Eheprobleme jedoch für sich behalten, bis sie die Situation nicht mehr ausgehalten habe. Im Zuge der Scheidung einig­ ten sich Frau S-52 und ihr Ehemann außergerichtlich auf eine Unterhaltsre­ gelung; der Ehemann übernahm in diesem Rahmen die kompletten Kosten der Wohnung. Nach ihrer Scheidung weitete Frau S-52, mittlerweile 57 Jahre alt, ihre Erwerbstätigkeit noch einmal aus und arbeitete noch einige Jahre in sozialversicherungspflichtiger Teilzeit als Reinigungskraft. Erst als sie mit 63 Jahren zunehmende Gelenkschmerzen hatte, stellte sie ihre Erwerbstätig­ keit ein und bezog fortan aufstockende ALG II-Leistungen; bis dahin hatte sie keinen Kontakt zum Mindestsicherungssystem gehabt. 2013, mit 65 Jah­ ren, wechselte sie vom ALG II- in den Grundsicherungsbezug. Im Ergebnis beruht die eigene Altersrente von Frau S-52 nur zu einem kleinen Teil auf eigener Erwerbstätigkeit (sowie den Kindererziehungszeiten für ihre drei Kinder); der Großteil ihrer Anwartschaften (Frau S-52 schätzt den Betrag auf ungefähr 500 Euro) resultiert vielmehr aus dem rentenrecht­ lichen Versorgungsausgleich. Frau S-52 fühlt sich nach eigenen Angaben nach ihrer Scheidung durchaus befreit und versucht, ihre verbleibenden Lebensjahre noch möglichst abwechslungsreich zu gestalten. Rückblickend ist sie der Meinung, dass sie ihre bestehenden Erwerbsmöglichkeiten in Deutschland besser hätte nutzen können und müssen; insbesondere hätte sie ihrer Ansicht nach die deutsche Sprache schneller und gezielter erlernen

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V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen

müssen, da ihre fehlenden Sprachkenntnisse insbesondere im alltäglichen Leben oftmals eine Barriere dargestellt haben. cc) Typische Biografiemuster und Risikokonstellationen Die drei Fälle mit türkischem Zuwanderungshintergrund weisen vielfälti­ ge Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten auf, die im Folgenden näher her­ ausgearbeitet werden sollen. Dabei ist zunächst einmal festzuhalten, dass es sich bei den drei Fallbeispielen letztlich um die Zuwanderungsgeschichte von Ehepaaren und nicht von Einzelpersonen handelt. Auch wenn Frau H-51 und Frau S-52 mittlerweile alleinlebend sind, so sind beide Frauen dennoch im Ehekontext zugewandert und waren zudem mehr als 40 Jahre verheiratet. In allen drei Fällen fanden die Partnerwahl und die Heirat im Heimatland und damit vor der Zuwanderung nach Deutschland statt; in zwei von drei Fällen waren vor der Zuwanderung auch bereits Kinder zur Welt gekom­ men. Alle drei Fälle folgen der Konstellation „männliche Pioniermigration mit weiblichem Familiennachzug“, wobei die Übersiedlung der Ehefrauen in allen drei Fällen nicht von Anfang an vorgesehen gewesen war, sondern sich erst aus den Umständen ergeben hat. Die Zuwanderung nach Deutsch­ land war in allen drei Fällen zumindest ursprünglich nicht als dauerhafte Auswanderung, sondern als zeitlich befristeter Arbeitsaufenthalt (des Ehe­ mannes) geplant. Die Zuwanderungsmotivation und die damit verbundenen Migrationsziele waren in erster Linie finanzieller Natur: Während Herr A-44 Konsumwünsche befriedigen wollte (Kauf eines deutschen Automo­ bils), wollte der Ehemann von Frau H-52 mit dem ersparten Geld eine ei­ gene Existenz in der Türkei aufbauen. Auch der Ehemann von Frau H-51 ist zunächst davon ausgegangen, innerhalb eines überschaubaren Zeitraums in die Türkei zurückkehren. Der ursprüngliche Plan, in Deutschland innerhalb relativ kurzer Zeit rela­ tiv hohe Ersparnisse bilden zu können, hat sich in allen drei Fällen nicht durchführen lassen. Die Zuwanderer sind hier oftmals von unrealistischen Vorstellungen und Erwartungshaltungen über die Lebenshaltungskosten und Verdienstmöglichkeiten in Deutschland ausgegangen; zudem wurden die Kosten der doppelten Haushaltsführung offensichtlich nicht in jedem Falle ausreichend einkalkuliert. Die Entscheidung für den Familiennachzug mar­ kiert insofern die Aufgabe des Ursprungsplans, ohne dass in jedem Falle ein Alternativplan entwickelt worden wäre; mit der Geburt weiterer Kinder ist die Realisierung der Rückehrabsicht immer weiter verschoben worden. Auffallend ist, dass alle drei türkischen Ehemänner (Herr A-44, der Ehe­ mann von Frau H-51 und der Ehemann von Frau S-52) ihre Erwerbstätigkeit



4. Zugewanderte Personen

245

aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig aufgeben mussten. Während der Ehemann von Frau H-51 mit 52  Jahren und der Ehemann von Frau S-52 mit 59 in die Erwerbsunfähigkeits- bzw. Erwerbsminderungsrente zugegan­ gen sind, wurde Herr A-44 bereits mit 36 Jahren arbeitsunfähig, ohne jedoch eine Erwerbsminderungsrente beziehen zu können. In zwei von drei Fällen steht die Erwerbsunfähigkeit in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der ausgeübten Erwerbsarbeit bzw. den dort vorherrschenden Arbeitsbedin­ gungen: Während Herr A-44 als Fräser gesundheitsgefährdenden Stoffen ausgesetzt war, hatte der Ehemann von Frau S-52 einen Arbeitsunfall, der zu bleibenden Schäden an einem Arm geführt hat. Inwiefern die Gesund­ heitsprobleme des Ehemanns von Frau H-51, der zunächst in einem Berg­ werk und danach rund 20 Jahre als Schichtarbeiter in einem Presswerk gearbeitet hat, in einem Zusammenhang mit arbeitsbedingten Belastungen steht, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. In jedem Falle zeigt sich hier jedoch das Muster, dass die bei guter, im Rahmen des Anwerbeverfahrens sogar geprüfter Gesundheit zugewanderten Männer in Deutschland als Fab­ rikarbeiter verhältnismäßig schweren Arbeitsbedingungen ausgesetzt gewe­ sen sind und gesundheitsbedingt vorzeitig aus dem Erwerbsleben ausschei­ den müssen. Die Erwerbsbiografie in Deutschland wird somit sowohl am Anfang (Einwanderung mit Mitte / Ende 20) als auch am Ende (vorzeitiger Ausstieg) verkürzt. Bei näherer Betrachtung der Lebensverläufe der drei türkischen Frauen werden die Gemeinsamkeiten der drei Fälle besonders deutlich. Alle drei Frauen haben in ihrem Herkunftsland nicht nur keine Berufsausbildung, sondern noch nicht einmal einen Schulabschluss erworben; Frau H-51 ist sogar Analphabetin. Der fehlende Zugang zu formaler Bildung ist mit einem hohen Maß an innerfamiliärer Fremdbestimmung einhergegangen; dies be­ trifft zum Teil auch die Partnerwahl. Im Ehekontext zeigt sich von Anfang an ein deutliches Bildungs- und Machtgefälle zwischen dem vergleichswei­ se mobilen Ehemann, der eine abgeschlossene Berufsausbildung aufweist und zudem die Militärzeit außerhalb seines Wohnorts absolviert hat, und der weitgehend nicht-mobilen Ehefrau, die ihren Geburtsort und ihren familiä­ ren Kontext bis zur Ausreise nach Deutschland kaum verlassen hat. Alle drei Frauen sind im Rahmen des Familiennachzugs nach Deutschland geholt worden, ohne ein Wort Deutsch zu sprechen; auch in Deutschland haben sie weder Sprach- oder Integrationskurse noch andere Hilfestellungen zur Inte­ gration erhalten. In allen drei Fällen zeigt sich im Ehekontext zudem ein ausgeprägt tradi­ tionelles (im Fall von Frau H-51 geradezu patriarchalisches) Rollenver­ ständnis und eine dementsprechende Orientierung an einer starken Variante des Ernährermodells, in deren Rahmen eine eigene Erwerbstätigkeit in nennenswertem Umfang von Anfang an nicht vorgesehen ist. Alle drei Frau­

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V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen

en weisen daher eine allenfalls rudimentäre eigene Erwerbsbiografie auf; dort, wo eine Erwerbstätigkeit ausgeübt wurde, ist diese in der Regel ge­ ringfügig, schlecht bezahlt, sozialversicherungsfrei und / oder in der Schat­ tenwirtschaft angesiedelt gewesen. Somit sind über eigene Erwerbstätigkeit auch kaum Anwartschaften in der GRV aufgebaut worden; die bestehenden Anwartschaften basieren überwiegend auf Kindererziehungszeiten und / oder auf der Erwerbstätigkeit des Ehemannes (Versorgungsausgleich, Witwenren­ te). Spiegelbildlich zur äußerst schwachen Erwerbsbeteiligung zeigt sich eine vergleichsweise hohe Kinderzahl: Alle drei Frauen haben mindestens drei Kinder aufgezogen (Frau H-51 sogar vier Kinder). Insgesamt weisen die drei türkischen Frauen im Sample – für sich allein betrachtet – somit deutliche Ähnlichkeiten mit der Gruppe und dem Risiko­ profil der (überwiegend westdeutschen) „familienorientierten Frauen“ auf; es handelt sich hier gewissermaßen um eine migrationsspezifisch eingefärb­ te, „radikale“ Variante dieses Typs. Die für das Profil der familienorientier­ ten Frauen maßgebliche Risikoformel „weitgehender Verzicht auf eigene Erwerbstätigkeit (traditionelles Versorgermodell) plus Scheitern der Ehe bzw. gesundheitsbedingter Ausfall des Versorgers“ kommt auch hier (in verstärktem Maße) zum Tragen; hinzu kommt als entscheidender dritter Faktor das Sprach- und Qualifikationsdefizit, durch das die eigene Beschäf­ tigungs- und Erwerbsfähigkeit massiv eingeschränkt ist. Ein Modell familiärer Arbeitsteilung, das besonders starr auf den männ­ lichen Alleinernährer zugeschnitten ist und bei gesundheits- oder arbeits­ marktbedingten Verdienstausfällen des Ehemanns kaum Anpassungsmög­ lichkeiten bietet, ist grundsätzlich stark risikobehaftet. Dies gilt jedoch umso mehr, wenn der designierte Familienernährer auf dem Arbeitsmarkt eine eher schwache, strukturell benachteiligte Position innehat. Die für einen nicht unwesentlichen Teil der türkischstämmigen Arbeitsmigranten ­ der ersten Generation typische Kombination aus massiven und auch nach Jahrzehnten anhaltenden sprachlichen Defiziten, mangelnder Bildung insbe­ sondere der Frauen, traditionellen Familien- und Geschlechterrollen und erhöhten Gesundheits- und Arbeitslosigkeitsrisiken der Ehemänner ist, wie die vorliegenden Fallbeispiele zeigen, mit einem erhöhten Risiko späterer Altersarmut verbunden, von dem die Frauen in besonderem Maße betroffen sind.



4. Zugewanderte Personen247

c) (Spät-)Aussiedler und ihre Angehörigen aa) Historische, zuwanderungs- und rentenrechtliche Rahmenbedingungen (Spät-)Aussiedler / -innen sind neben den Arbeitsmigranten der ersten Ge­ neration und ihren Angehörigen die zahlenmäßig größte Zuwanderergruppe in Deutschland. Nach Daten des Mikrozensus lebten im Jahr 2012 insgesamt ca. 3,219 Millionen (Spät-)Aussiedler in Deutschland; davon waren ca. 616.000 Personen (19,1 %) im Rentenalter (65  Jahre und mehr). Der Anteil der (Spät-)Aussiedler an der Gesamtbevölkerung im Rentenalter beträgt 3,6 %; im Teilsegment der Senioren mit Zuwanderungshintergrund beträgt der Anteil 44,5 % (Statistisches Bundesamt 2013: 55–62). Von 1950 bis Mitte der 1980er Jahre sind ca. 1,5 Mio. Vertriebene und Aussiedler in die Bundesrepublik übergesiedelt. In diesem Zeitraum vollzog sich der Zuzug von durchschnittlich ca. 30.000 Aussiedlern pro Jahr bis auf wenige Ausnahmen gegen Ende der 1950er Jahre ohne größere Schwankun­ gen. In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre nahmen die Zuwanderungszah­ len in Folge der politischen Veränderungen und der damit verbundenen schrittweisen Lockerung der Ausreiseregelungen in den Staaten des ehema­ ligen Ostblocks jedoch rasant zu; ab etwa 1988 kann man von einer Explo­ sion der Aussiedlerzuwanderung sprechen. Der Höhepunkt der Zuzugszahlen wurde in den Jahren 1989 und 1990 erreicht, als 377.000 bzw. 397.000 Aussiedler registriert wurden. Seitdem sind die Zuzugszahlen stetig zurück­ 400000 350000 300000 250000 200000 150000 100000

0

1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012

50000

Quelle: Bundesverwaltungsamt (BVA).

Abbildung  14: Zuzug von (Spät-)Aussiedlern (1985–2012)

248

V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen

300.000

250.000

200.000

150.000

100.000

50.000

0

ehem. UdSSR

Polen

Rumänien

Quelle: Bundesverwaltungsamt (BVA).

Abbildung  15: Zuzug von (Spät-)Aussiedlern: Herkunftsgebiete im Vergleich

gegangen: Im Jahr 2000 sank der Zuzug erstmals auf unter 100.000 Perso­ nen; 2006 sank der Zuzug unter 10.000 Personen, und 2012 wurden weniger als 2.000 Aussiedlerzuzüge registriert. Insgesamt sind seit 1985 somit rund 3,2 Millionen (Spät-)Aussiedler nach Deutschland zugewandert. Nicht nur die Größenordnung, sondern insbesondere auch die Zusammen­ setzung des Aussiedlerzuzuges nach Herkunftsgebieten hat sich seit Beginn der 1990er-Jahre stark verändert. Bis Ende 1992 ist die Aussiedlerzuwande­ rung im Wesentlichen aus drei Staaten bzw. Gebieten erfolgt: Polen, Rumä­ nien und der ehemaligen UdSSR. Zuwanderung aus weiteren mittel- und osteuropäischen Ländern wie dem ehemaligen Jugoslawien, Ungarn und der Tschechoslowakei (CSSR / CSFR) haben demgegenüber quantitativ nur eine untergeordnete Rolle gespielt. Bei den seit 1993 zugewanderten Spätaus­ siedler / -innen handelt es sich hingegen nahezu ausschließlich um Personen aus UdSSR-Nachfolgestaaten, von denen rund 90 % entweder aus Kasachs­ tan (927.000 Zuwanderer zwischen 1992 und 2012) oder aus Russland (702.000 Zuwanderer im gleichen Zeitraum) stammen. Ein kleinerer Teil der Zuwanderer stammt aus anderen ehemaligen Sowjetrepubliken (u. a. aus Kirgisistan und der Ukraine).



4. Zugewanderte Personen249

(1) Entwicklung des Zuwanderungsrechts Die rechtlichen Rahmenbedingungen der Aussiedlerzuwanderung haben sich durch eine Vielzahl von Reformen seit 1990 deutlich gewandelt. Ange­ sichts der rapide steigenden Zuwanderungszahlen der Jahre 1989 / 1990 hat der Gesetzgeber seit 1990 mit einer Reihe von Maßnahmen reagiert, die zu einer stärkeren Steuerung und Begrenzung der Aussiedlerzuwanderung und damit letztlich zu einer Begrenzung der Kosten für die öffentlichen Haus­ halte führen sollten. Das Zuwanderungsrecht für Aussiedler bzw. Spätaus­ siedler, welches seit 1953 im Bundesvertriebenengesetz (BVFG) geregelt ist, wurde mehrfach geändert. Zu den wichtigsten gesetzgeberischen Maß­ nahmen in diesem Bereich gehören das Aussiedleraufnahmegesetz (in Kraft zum 1.7.1990), das Kriegsfolgenbereinigungsgesetz (in Kraft seit 1.1.1993) und das Zuwanderungsgesetz (in Kraft seit 1.1.2005). Bis Mitte 1990 durften Antragssteller, die eine Ausreisegenehmigung ih­ res Staates besaßen, mit einer sogenannten „Übernahmegenehmigung“ (Ge­ nehmigung der Einreise in die Bundesrepublik zwecks Überprüfung der Aussiedlereigenschaft) in die Bundesrepublik einreisen. Während ihr Aus­ siedlerstatus im Registrierverfahren geprüft wurde, waren die Antragssteller somit bereits im Lande und erhielten gegebenenfalls staatliche Leistungen. Seit dem Inkrafttreten des Aussiedleraufnahmegesetzes zum 1.7.1990 müs­ sen Antragssteller hingegen zunächst im Herkunftsland bleiben und dürfen erst dann (und nur dann) in die BRD einreisen, wenn das Bundesverwal­ tungsamt (BVA) das Vorliegen der Aufnahmevoraussetzungen (vorläufig) geprüft und gegebenenfalls einen Aufnahmebescheid erteilt hat. Nach der Einreise erfolgt dann im Rahmen des Bescheinigungsverfahrens die ab­ schließende Statusfeststellung. Durch das am 21.12.1992 beschlossene Kriegsfolgenbereinigungsgesetz (KfbG), das auf den Festlegungen im so genannten „Asylkompromiss“ ba­ siert und am 1.1.1993 in Kraft getreten ist, wurde das Bundesvertriebenen­ gesetz entscheidend modifiziert. Die beiden wichtigsten Änderungen sind die gesetzliche Neufassung des Aussiedler- bzw. Spätaussiedlerstatus und die Begrenzung (Kontingentierung) der Aufnahmegenehmigungen. Der bis dahin maßgebliche Status des „Aussiedlers“, der neben der deutschstämmi­ gen Person gegebenenfalls auch ihre nicht-deutschstämmigen Ehepartner und Angehörigen umfasst hatte, wurde abgeschafft und durch den Status des „Spätaussiedlers“ ersetzt, der nur noch an deutschstämmige Personen verge­ ben wird. Im Bundesvertriebenen- und Flüchtlingsgesetz (BVFG) werden Spätaussiedler und ihre Familienangehörigen seitdem in drei Kategorien eingeteilt:

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V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen

– § 4 BVFG: Deutschstämmige Personen, die die Voraussetzungen des § 6 BVFG („Bekenntnis zum deutschen Volkstum“) erfüllen, erhalten den Status des Spätaussiedlers und damit auch die Rechtstellung eines Deut­ schen nach Art. 116 GG. Nur dieser Personenkreis hat Anspruch auf die Rente nach dem Fremdrentengesetz (FRG). – § 7 BVFG: Zu dieser Kategorie gehören die nicht-deutschstämmigen Ehegatten der Spätaussiedler (wobei die Ehe zum Zeitpunkt der Ausreise mindestens drei Jahre bestanden haben muss) sowie diejenigen Abkömm­ linge (Kinder und Enkelkinder) der Spätaussiedler, die die Voraussetzun­ gen des § 4 BVFG (z. B. auf Grund mangelnder Deutschkenntnisse) nicht erfüllen. Für diesen Personenkreis gelten erleichterte Einbürgerungsmög­ lichkeiten; sie bekommen jedoch keine Rente nach dem FRG. – § 8 BVFG: Die sonstigen nicht- deutschstämmigen Familienangehörigen des Antragstellers, insbesondere die Ehegatten der Abkömmlinge (d. h. die Schwiegersöhne und -töchter der Spätaussiedler), haben Ausländersta­ tus. Auch sie können keine Rente nach dem FRG bekommen. Zudem wurde eine Kontingentierung der jährlichen Zuwanderungszahlen vorgenommen: Die jährliche Höchstgrenze wurde zunächst auf 225.000 Zuzüge pro Jahr (+ / – 10 %) festgelegt. Durch die dementsprechende Verzö­ gerung der administrativen Bearbeitung der Aufnahmeanträge entstand beim BVA ein enormer „Bearbeitungsstau“ (Bade / Oltmer 2003: 29); die Aufnah­ meverfahren haben alles in allem oftmals 4 bis 5  Jahre gedauert. Die jähr­ liche Höchstgrenze der Zuzugsgenehmigungen wurde durch das Haushaltssanierungsgesetz vom 22.12.1999 auf rund 100.000 Personen pro Jahr ab­ gesenkt. Die Anerkennung der deutschen „Volkszugehörigkeit“ nach § 6 BVFG ist seit dem Kriegsfolgenbereinigungsgesetz eng mit dem Kriterium der Be­ herrschung der deutschen Sprache aufgrund familiärer Vermittlung verbun­ den; der Nachweis der deutschen Abstammung allein genügt nicht mehr. Um diese Aufnahmevoraussetzung zu überprüfen, hat das BVA ab Mitte 1996 mit dem Aufbau eines „Sprachtestregimes“ (Hensen 2009: 56) begon­ nen. Seitdem muss jeder Spätaussiedlerbewerber bereits im Herkunftsland einen verpflichtenden Sprachtest ablegen, um einen Aufnahmebescheid zu erhalten; dabei muss er unter Beweis stellen, dass er ein „einfaches Ge­ spräch“ in deutscher Sprache führen kann. Die Erhebung und Niveaubestim­ mung der vorzuweisenden Sprachkenntnisse sind in der Praxis mit zum Teil erheblichen verwaltungstechnischen und rechtlichen Schwierigkeiten verbunden gewesen; das Ergebnis einer in der Regel ca. 30minütigen, durch Verwaltungsangestellte des BVA im „Fließbandverfahren“ abgewickelten Anhörung des deutschstämmigen Spätaussiedlerbewerbers entschied im Einzelfall über das Zuwanderungsschicksal eines gesamten Familienver­



4. Zugewanderte Personen

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bunds. Die Einführung verbindlicher Sprachtest als „deutlich abschreckend wirkende(r) Barriere“ (Bade / Oltmer 2003: 29) hat einen erheblichen Ein­ fluss auf den Rückgang der Aussiedlerzahlen gehabt (Ohliger 1998, Stöltig 2005): Rund 50 Prozent der Aufnahmeantrage sind seitdem wegen unzurei­ chender Deutschkenntnisse abgelehnt worden. Das Kriterium der Beherr­ schung der deutschen Sprache als Voraussetzung für die Einräumung des Spätaussiedlerstatus und die bestehende Praxis der „Sprachtests“ sind durch das Spätaussiedlerstatusgesetz vom 30.8.2001 nochmals ausdrücklich be­ kräftigt worden. Die Verpflichtung zur Durchführung eines Sprachtests bezog sich zu­ nächst nur auf die deutschstämmigen Spätaussiedlerbewerber; nicht-deutsch­ stämmige Ehegatten und Abkömmlinge konnten bis zum Jahr 2004 noch ohne eigene Sprachprüfung in den Aufnahmebescheid eines anerkannten Spätaussiedlerbewerbers einbezogen werden. Der Anteil der Antragsteller deutscher Herkunft, die den Status des Spätaussiedlers nach § 4 BVFG er­ halten, ist zwischen 1993 und 2004 von 78 % auf nur noch 19 % abgesun­ ken; dementsprechend ist der Anteil der in die Aufnahmebescheide einbezo­ genen Ehegatten und Abkömmlinge (§ 7 Abs. 2 BVFG) sowie sonstiger Angehöriger (§ 8 Abs. 2 BVFG) stark angestiegen. Durch die Einbeziehung der Spätaussiedler in das zum 1.1.2005 in Kraft getretene Zuwanderungsgesetz sind die nicht-deutschstämmigen Ehegatten und Abkömmlinge jedoch hinsichtlich der erforderlichen Sprachkenntnisse weitgehend Ausländern gleichgestellt worden: Um in den Aufnahmebescheid des Spätaussiedlers einbezogen zu werden, müssen auch sie nunmehr einen Sprachtest bestehen. Seitdem ist die im Zeitverlauf ohnehin abnehmende Spätaussiedlermigration nochmals rapide gesunken und mittlerweile fast zum Erliegen gekommen. (2) Entwicklung des Fremdrentenrechts Parallel zu den vielfältigen Veränderungen des Zuwanderungsrechtes hat der Gesetzgeber auch eine ganze Reihe von Veränderungen im Fremdren­ tenrecht vorgenommen. Das deutsche Fremdrentenrecht, das zunächst als Fremdrenten- und Auslandsrentengesetz (FAG) im Jahr 1953 eingeführt und durch das Fremdrenten- und Auslandsrenten-Neuregelungsgesetz (FANG) vom Februar 1960 zum heutigen Fremdrentengesetz (FRG) weiterentwickelt worden ist, folgte über Jahrzehnte hinweg der Leitidee, Vertriebene und Flüchtlinge voll in das Wirtschafts- und Sozialsystem der Bundesrepublik Deutschland zu integrieren. Im Sinne dieses Eingliederungsprinzips werden die Leistungsberechtigten daher rentenrechtlich so behandelt, als hätten sie ihr Versicherungsleben nicht im Herkunftsland, sondern in Deutschland verbracht. Die rentenrechtlichen Zeiten, die in den Herkunftsländern zu­ rückgelegt wurden, werden als Zeiten der Erwerbstätigkeit in die Konten

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V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen

der deutschen Rentenversicherung aufgenommen; den Beitragszeiten werden dabei Tabellenwerte zugeordnet, die dem entsprechen sollen, was vergleich­ bare Versicherte in Deutschland durchschnittlich verdient haben. Um zu einer möglichst realitätsbezogenen Einkommensfeststellung zu gelangen, wird dabei sowohl zwischen Qualifikationsgruppen und Tätigkeiten als auch zwischen Wirtschaftsbereichen unterschieden (vgl. Grotzer 2011: 676–691). Eine volle Gleichstellung der vergangenen Arbeitstätigkeit im Herkunfts­ gebiet führt allerdings häufig zu vergleichsweise hohen Rentenansprüchen, da die Leistungsberechtigten in der Regel aus Volkswirtschaften mit hohem Beschäftigungsstand und niedriger Arbeitslosigkeit zugewandert sind. Insbe­ sondere weibliche (Spät-)Aussiedler haben im Durchschnitt deutlich voll­ ständigere Erwerbsbiografien als westdeutsche Frauen der entsprechenden Geburtskohorten, wodurch sich eine faktische Besserstellung der FRG-Be­ rechtigten ergab. Angesichts des massiven Anstiegs des Aussiedlerzuwande­ rung nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und der damit verbundenen Kosten sah der Gesetzgeber an dieser Stelle Handlungsbedarf; ab 1991 wurden die gesetzlichen Anerkennungs- und Rentenberechnungsvorschriften des FRG daher mehrfach zuungunsten der Leistungsberechtigten verändert. Zunächst wurde durch das Rentenüberleitungsgesetz (RÜG) vom 25.7.1991 für alle Rentenneuzugänge ab dem 1.8.1991 ein pauschaler Ab­ schlag in Höhe von 30 Prozent auf die nach dem Fremdrentengesetz ermit­ telten Entgeltpunkte eingeführt; die für Beitrags- und Beschäftigungszeiten auf der Grundlage des Fremdrentengesetzes ermittelten Entgeltpunkte wur­ den mit dem Kürzungsfaktor 0,7 multipliziert. Das Eingliederungsprinzip wurde auf diese Weise dahingehend modifiziert, dass sich die Bewertung der im Herkunftsgebiet zurückgelegten Zeiten nicht mehr an durchschnittli­ chen westdeutschen Verhältnissen, sondern an strukturschwachen Gebieten und an der Einkommensstruktur der DDR orientiert. Die mit dem RÜG begonnene Absenkung der FRG-Leistungen wurde durch das Wachstumsund Beschäftigungsförderungsgesetz (WFG) vom 25.9.1996 fortgesetzt und beschleunigt. Zum einen wurde der bestehende Pauschalabschlag auf die FRG-Entgeltpunkte von 30 auf 40 Prozent erhöht (Multiplikation der Ent­ geltpunkte mit dem Kürzungsfaktor 0,6) und der betroffene Personenkreis erweitert. Damit wurden von dem Rentenabschlag alle nach dem 6. Mai 1996 Zugezogenen und alle nach dem Fremdrentengesetz Berechtigten mit einem Rentenbeginn ab dem 1. Oktober 1996 erfasst (§ 22 Abs. 4 FRG).24 24  Diese Kürzungswirkung der Abschläge wird allerdings dadurch abgeschwächt, dass auch bei den FRG-Anwartschaften gegebenenfalls die Reglungen der Rente nach Mindesteinkommen bzw. nach Mindestentgeltpunkten angewendet werden, durch die vor 1992 erworbene Anwartschaften für niedrig entlohnte Zeiten der Er­ werbstätigkeit unter bestimmten Voraussetzungen um bis zu 50 % angehoben wer­



4. Zugewanderte Personen

253

Darüber hinaus wurde für alle Rentenneuzugänge ab dem 1.10.1996 eine pauschale Begrenzung der maximal anrechenbaren Entgeltpunkte aus aner­ kannten Zeiten aus dem Herkunftsland auf höchstens 25 Entgeltpunkte (EP) bei Alleinstehenden und höchstens 40 EP bei Ehepaaren und eingetragenen Lebenspartnerschaften eingeführt (§ 22b FRG). Die Kappung auf maximal 25 EP für Alleinstehende gilt auch, wenn bei einer Person zwei Renten nach dem FRG zusammenfallen, wenn also zu der eigenen Alters- oder EMRente noch eine Hinterbliebenenrente hinzukommt. Dies bedeutet im Ein­ zelfall, dass eine auf FRG-Zeiten beruhende Hinterbliebenenrente bei Über­ schreiten der 25 EP-Schwelle entsprechend gekürzt oder gegebenenfalls sogar komplett gestrichen wird. Auch bei Ehepaaren, die gemeinsam bis zu 40 EP erzielen können, dürfen für jeden (Ehe-)Partner maximal 25 EP an­ gerechnet werden, so dass eine vergleichsweise niedrige Rente des einen Ehepartners nur begrenzt durch eine vergleichsweise hohe Rente des ande­ ren Ehepartners ausgeglichen werden kann. Die maximal erreichbare Netto­ rente aus FRG-Zeiten liegt somit sowohl bei Alleinstehenden als auch bei Ehepaaren mehr oder weniger deutlich unterhalb des durchschnittlichen Bruttobedarfs der Grundsicherung. Alle Anwartschaften, die nach der Zu­ wanderung „regulär“ in Deutschland erworben worden sind, sind von der Kürzung und der Kappung hingegen nicht betroffen, sondern werden zu­ sätzlich voll berücksichtigt. Die mit dem WFG vollzogene „endgültige Abkehr vom Eingliederungs­ prinzip“ (Grotzer 2011: 678) und die faktische Deckelung der „Fremdren­ ten“ auf einen Wert, der unterhalb des bundesdurchschnittlichen Bruttobe­ darfs der Grundsicherung im Alter liegt, führen dazu, dass nach 1996 zuge­ wanderte Spätaussiedler / -innen selbst bei vergleichsweise langen und kon­ tinuierlichen Erwerbskarrieren im Herkunftsgebiet einem erhöhten Risiko unzureichender Alterseinkommen ausgesetzt sind. Hinzu kommt, das mit dem Kriegsfolgenbereinigungsgesetz und seiner Differenzierung zwischen Spätaussiedlern nach § 4 BVFG und nicht-deutschstämmigen Ehepartnern nach § 7 BVFG der Kreis der FRG-Leistungsberechtigten deutlich verklei­ nert worden ist: Für die seit dem 1.1.1993 zugewanderten Personen gilt, dass nur noch die nach § 4 BVFG anerkannten Spätaussiedler FRG-Leistun­ gen erhalten; ihre nicht- deutschstämmigen Ehepartner sind hingegen von FRG-Leistungen ausgeschlossen. Nach 1993 eingereiste „gemischte“ Ehe­ paare, bei denen ein Ehepartner deutschstämmig ist und der andere nicht, haben somit ein deutlich niedrigeres gemeinsames Renteneinkommen als vergleichbare Ehepaare, die bis zum 31.12.1992 zugewandert sind.

den. Tatsächlich haben zwischen 85 % und 92 % der FRG-Rentner der Zuzugskohor­ ten ab 1993 von dieser Regelung profitiert (Baumann/Mika 2012: 148).

254

V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen

(3) Konsequenzen für die Altersrenten Aufgrund der vielen, eng miteinander verknüpften Änderungen sowohl des Zuwanderungs- als auch des Fremdrentenrechts seit 1990 ist die GRVRente bei (Spät-)Aussiedern besonders stark von der zum individuellen Zuwanderungszeitpunkt jeweils geltenden Rechtslage abhängig. Da sowohl das Zuwanderungsrecht als auch die sozial- und rentenrechtlichen Regulie­ rungen am Kriterium des Zuwanderungszeitpunktes anknüpfen, können unterschiedliche Zuwanderungszeitpunkte auch bei ansonsten ähnlichen Erwerbsbiografien und persönlichen Eigenschaften zu enormen Unterschie­ den bei der späteren GRV-Rente führen. Auswertungen der Rentenbestands­ statistik (Baumann / Mika 2008: 482; 2012: 149) zeigen insbesondere bei Männern sowie im Ehepaarkontext einen deutlichen Zusammenhang zwi­ schen dem Zuwanderungszeitpunkt und der Höhe der GRV-Rente: Aussied­ ler, die bis 1992 zugezogen sind und daher überwiegend noch nicht von Abschlägen betroffen sind, erhalten im Durchschnitt eine deutlich höhere Rente als Spätaussiedler, die zwischen 1993 und 1995 zugezogen sind und daher eine Kürzung ihrer FRG-Anwartschaften um 30 % hinnehmen müs­ sen; für nach 1996 Zugezogene, bei denen die FRG-Anwartschaften um 40 % gekürzt und gegebenenfalls auf 25 Entgeltpunkte gedeckelt werden, sinkt der Median der GRV-Altersrenten auch im Ehepaarkontext unter das Niveau der Grundsicherung im Alter. Die Auswirkungen der verschlechterten rechtlichen Rahmenbedingungen auf die persönlichen Altersrenten der (Spät-)Aussiedler sind jedoch nicht nur vom individuellen Zuzugszeitpunkt, sondern insbesondere auch vom individuellen Zugangsalter abhängig, denn die GRV-Altersrente von (Spät-) Aussiedlern berechnet sich durch die Addition der im Herkunftsland erwor­ benen FRG-Anwartschaften und der nach der Zuwanderung zusätzlich in Deutschland erworbenen GRV-Anwartschaften. Je älter die zugewanderte Person zum Zeitpunkt ihrer Einreise gewesen ist, desto größer ist der Teil der Erwerbs- und Versicherungsbiografie, der noch im Herkunftsland absolviert worden ist; entsprechend stärker wirken sich die Verschlechterun­ gen des Fremdrentenrechts auf die persönliche GRV-Rente aus. Insofern sind die stärksten Auswirkungen bei denjenigen Spätaussiedlern zu erwar­ ten, die seit 1996 in fortgeschrittenem bzw. rentennahem Alter oder bereits im Rentenalter zugewandert sind, da sie einerseits voll von den Rentenkür­ zungen getroffen werden, zugleich aber kaum noch die Möglichkeit zum Erwerb zusätzlicher Rentenanwartschaften in Deutschland haben.



4. Zugewanderte Personen

255

bb) Ausgewählte Fallbeispiele Im Untersuchungssample befinden sich insgesamt fünf Personen, die der Gruppe der Spätaussiedler / -innen und ihrer Angehörigen zugerechnet wer­ den können. Alle fünf Personen sind Frauen; vier davon stammen aus dem Gebiet der ehemaligen UdSSR und eine aus Rumänien (Frau B-39). Alle fünf Frauen sind nach 1992 eingewandert (zwei davon nach 1996); vier Frauen haben den Status der Spätaussiedlerin nach § 4 BVFG und dement­ sprechend die deutsche Staatsangehörigkeit, während es sich im fünften Fall (Frau R-21) um die Witwe eines abgelehnten Spätaussiedlerbewerbers mit ukrainischer Staatsangehörigkeit handelt, die keinen eigenen Status nach dem BVFG besitzt. Alle fünf Frauen sind in bereits fortgeschrittenem bzw. rentennahem Alter (zwischen 52 und 60  Jahren) zugewandert. Sie sind zudem alle nicht allei­ ne, sondern zusammen mit ihrem Ehepartner eingereist. Auch die Ehepart­ ner, die zum Teil auch selbst den Spätaussiedlerstatus innehaben bzw. inne­ hatten, waren im Jahr des Zuzugs bereits in rentennahem Alter (zwischen 52 und 63); vier der fünf Frauen sind mittlerweile verwitwet und leben ­allein. Bis auf eine Ausnahme (Frau B-39) haben alle Frauen eine abge­ schlossene Berufsausbildung oder sogar ein abgeschlossenes Studium und können eine lange und durchgängige Erwerbskarriere mit mehr als 30 Er­ werbsjahren in ihrem jeweiligen Herkunftsland vorweisen, haben jedoch nach der Übersiedlung nach Deutschland keine nennenswerte Erwerbstätig­ keit mehr ausgeübt. Stattdessen haben drei von fünf Frauen vom Zeitpunkt ihres Zuzugs bis zu ihrem Renteneintritt durchgängig bedarfsgeprüfte Min­ destsicherungsleistungen (Sozialhilfe bzw. ALG II) bezogen. Bis auf Frau B-39, deren Alterseinkommen sich aus mehreren Quellen zusammensetzt, haben alle anderen Personen der Teilgruppe außer ihrer GRV-Rente kein nennenswertes zusätzliches Einkommen; Frau R-21 verfügt über gar kein eigenes Einkommen und bezieht ihren kompletten Unterhalt aus der Grund­ sicherung im Alter. Insgesamt decken die Fälle im Sample innerhalb der möglichen Fallkonstellationen bei (Spät-)Aussiedler / innen durchaus eine große Bandbreite ab, wie die nachfolgenden Fallbeispiele zeigen werden.

256

V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen Tabelle 44 Spätaussiedler / -innen im Untersuchungssample Fr. K-04

Fr. T-19

Fr. R-21

Fr. G-22

Fr. B-39

1946

1939

1943

1937

1942

Verheiratet

Verwitwet

Verwitwet

Verwitwet

Verwitwet

Russland (Westsibirien)

Russland/ Kasachstan

Ukraine/ Kasachstan

Russland/ Ukraine

Rumänien (Banat)

Ausbildung

Medizinstudium

Technikum

Technikum

Studium (Sprachen)

(keine)

Beruf (Herkunftsland)

Epidemiologin

Ausbilderin Gas / Heizung

Chemielaborantin

Grundschuldirektorin

(Hausfrau/ Hilfskraft)

Arbeitsjahre in Herkunftsland

33

38

32

36

2,5

Jahr des Zuzugs

2004

1994

1995

1997

1994

Alter bei Zuzug

58

54

52

60

52

Alter Ehepartner bei Zuzug

63

57

57

56

52

BVFG-Status

§ 4

§ 4



§ 4

§ 4

BVFG-Status Ehepartner

§ 7

§ 7

(abgelehnt)

§ 4

§ 4

Erwerbstätigkeit in Deutschland

3 J. Minijob







2,5 J. VZ; 8 J. TZ

Mindestsiche­ rungsbezug

7 J. (58–65)

6 J. (54–60)

durchgängig seit Zuzug



Ehemann: 1,5 J. HLU

Alter bei Renteneintritt

65

60 (Altersrente für Frauen)

(kein Renten­ eintritt)

60 (Altersrente für Frauen)

63 (volle EM)

Eigene GRV-Rente

670 EUR

764 EUR



635 EUR

207 EUR

Weiteres Einkommen







GRV Witwe 4 EUR

GRV Witwe 399 EUR, rumän. Rente 14 EUR, BAV 34 EUR

(Bedarfsgem.)

49 EUR

800 EUR

91 EUR

238 EUR

Geburtsjahr Familienstand Geburtsort/ Herkunftsgebiet

Grundsicherung

Quelle: Eigene Darstellung.



4. Zugewanderte Personen

257

(1) Fallbeispiel 1: Frau T-19, zugewandert aus Kasachstan Frau T-19, geboren 1939 in der südrussischen Republik Dagestan (Nordkau­ kasus), verwitwet, 3 Kinder, ist anerkannte Spätaussiedlerin nach § 4 BVFG. Ihre GRV-Altersrente von 764 Euro / Monat wird von der Grundsicherung im Alter um 49 Euro / Monat aufgestockt. Frau T-19 wohnt in einer Seniorenwoh­ nung der AWO, die u. a. mit einem Notrufservice ausgestattet ist und daher ca. 430 Euro / Monat kostet; ihr Bruttobedarf beträgt somit 813 Euro / Monat. Die deutschstämmige Familie von Frau T-19 stammt ursprünglich aus dem Wolgagebiet; beide Elternteile sind jedoch bereits Ende der 1920er Jahre in den Kaukasus übergesiedelt, wo Frau T-19 als älteste von insge­ samt fünf Geschwistern auch geboren wurde. 1942 (Frau T-19 war seinerzeit 3 Jahre alt) ist die Familie dann aus dem Kaukasus nach Qaraghandy (deutsch: Karaganda), einer großen Industriestadt in Kasachstan gezogen. Nachdem sie die damalige Pflichtschulzeit von 7 Schuljahren absolviert hatte, arbeitete Frau T-19 zunächst als Küchenhelferin in einem staatlichen Kinderhort. 1948, mit 18 Jahren, heiratete sie einen russischstämmigen Kraftfahrer, der ebenfalls erst 18 Jahre alt war; aus dieser ersten Ehe, die bereits nach drei Jahren geschieden wurde, gingen zwei Töchter (geboren 1957 und 1960) hervor. Nach der Scheidung mit 21  Jahren war Frau T-19 insgesamt 9 Jahre lang alleinerziehend mit zwei Töchtern; in der Zeit hat sie weiterhin in Vollzeit gearbeitet. Parallel zu ihrer Berufstätigkeit besuch­ te Frau T-19 die Abendschule, wo sie mit 24 Jahren ihr Technikum erwarb. 1969, im Alter von 30 Jahren, heiratete sie zum zweiten Mal; diese Ehe sollte insgesamt 41 Jahre, bis zum Tod des Ehemanns im Jahr 2010, halten. Der drei Jahre ältere Ehemann, von Beruf Bergmann, war (wie schon der erste Ehemann) nicht deutschstämmig, sondern Russe. Frau T-19 berichtet, ihre Eltern seien grundsätzlich streng dagegen gewesen, dass ihre Tochter einen nicht-deutschstämmigen Ehepartner nimmt: A Meine Eltern waren ja dagegen. Hauptsache, muss ich sagen. Wir waren eine ganz deutsche Familie. Und ich war die Erste, die das alles kaputt gemacht hat. Der war ein Russe.

1973 wurde das dritte Kind von T-19 geboren. Nach dem Erwerb des Technikums wechselte Frau T-19 zu einem großen Industriebetrieb, wo sie bis zu ihrer 1994 erfolgten Übersiedlung nach Deutschland als Ausbilde­ rin / Berufsschullehrerin für angehende Heizungsinstallateure gearbeitet hat. Insgesamt hat Frau T-19 somit in ihrem Herkunftsland rund 38 Arbeitsjahre absolviert. 1994, im Alter von 54  Jahren, ist Frau T-19 schließlich gemein­ sam mit ihrem Ehemann nach Deutschland übergesiedelt. Frau T-19 beschreibt im Interview rückblickend, wie Ende der 1980er Jahre der Wunsch nach einer möglichst schnellen Übersiedlung von Kasach­

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V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen

stan nach Deutschland innerhalb kurzer Zeit ihre ganze Familie (fünf Ge­ schwister mit Ehepartnern und Kindern sowie die noch lebende Mutter) erfasst hat. Anders als ihre ausgesprochen ausreisewilligen jüngeren Ge­ schwister, die ihre Übersiedlung nach Deutschland bereits unmittelbar nach dem Mauerfall aktiv vorantrieben, hat Frau T-19 hinsichtlich ihrer eigenen Ausreise hingegen zunächst stark gezögert. Ihren Angaben zufolge spielte für sie dabei eine wichtige Rolle, dass sie nicht ohne ihre Kinder und En­ kelkinder nach Deutschland übersiedeln wollte. Da ihre drei erwachsenen Töchter bereits (mit russischen Männern) verheiratet waren und selber Kin­ der hatten, war dies jedoch nicht ohne weiteres möglich. Das unterschiedlich ausgeprägte Auswanderungsinteresse sorgte für Spannungen und Konflikte im Familienverbund: A Und wissen Sie was, das hat sich so zwischen Geschwister und zwischen Verwandte, das hat sich so verschlechtert alles … Ich bin ja die Älteste; die Kinder sind ja alle von meinen Händen aufgewachsen. Und jetzt wollte jeder … jeder wollte schneller! Jeder hat sich … jeder hat diesen Mann und diesen. Die haben da alle angefangen! Ich habe meiner Mutter gesagt: Weißt du was, ich fahre nicht mit. – Ja, warum? – Ja, ich sage, ich habe doch die Kinder erwachsen. Ich habe ja schon Enkel gehabt, die sind ja schon halb russisch, halb deutsch … Ich kann das nicht. Ich muss … wenn ich schon fahre, dann muss ich die sofort [mitnehmen]! Dass die Kinder auch was … etwas von hier auch haben.

Der tieferliegende Grund für das Zögern von Frau T-19 scheint jedoch gewesen zu sein, dass sie eigentlich gar nicht aus Kasachstan fortziehen und das Leben, dass sie sich dort aufgebaut hatte, nicht aufgeben wollte: I Haben Sie 1991 lange überlegt, ob Sie den Antrag stellen, oder war das für Sie klar? A Nein, persönlich für mich war das nicht klar. I

Denn soweit war ja eigentlich alles in Ordnung?

A Ja, das meine ich ja! Mein russischer Mann, der hatte ja als Bergmann schon seine Rente gehabt. Aber der hat dazu gearbeitet. Meine Kinder, die zwei, die waren schon verheiratet. Die haben schon Kinder gehabt. Und ich konnte ja nicht einfach … und die Mutter, die Schwester, die waren ja alle wie ver­ rückt! Die andere Schwester, die wollte sofort, und die konnte auch … bei ihnen, bei meinen Geschwistern, waren die Kinder alle noch ganz klein. […] Und das Problem war … in mir lag das Problem. Ich sage, ich komme nicht mit. Ich will nicht. Ich habe eine gute Arbeit gehabt. Meine Kinder … meine Tochter, die Mittelste, ist hoch ausgebildet an einer Universität. Die hat gear­ beitet, die war Schulleiterin … Ich konnte die nicht so einfach da raus[holen] … ja?

Anfang 1992 sind daher zunächst die Mutter und die mittlere Schwester samt Ehemann und Kind, die ihren Antrag bereits 1990 gestellt hatten, nach Deutschland übergesiedelt. Mitte 1991 hat Frau T-19 trotz ihres Widerwil­



4. Zugewanderte Personen

259

lens schließlich doch noch einen Aufnahmeantrag für sich, ihren Mann und ihre älteste Tochter samt Ehemann und Kind gestellt. Zwischen dem Zeit­ punkt der Antragsstellung und der Erteilung des Aufnahmebescheids (1994) vergingen jedoch knapp drei Jahre; in dieser Zeit hatte sich die geltende Rechtslage durch das Inkrafttreten des Rentenüberleitungsgesetzes und ins­ besondere des Kriegsfolgenbereinigungsgesetzes stark verändert, was Frau T-19 allerdings erst bei ihrer Einreise erfuhr. Anders als ihre Mutter und ihre jüngere Schwester erhielt Frau T-19 nicht mehr den Status der Aussied­ lerin, sondern denjenigen der Spätaussiedlerin nach § 4 BVFG; ihre nach dem FRG erworbenen Rentenanwartschaften wurden nicht mehr voll, son­ dern nur noch zu 70 % berücksichtigt. Ihr nicht-deutschstämmiger Ehemann hingegen erhielt nur den Status des Angehörigen nach § 7 BVFG; damit war er von nahezu allen für Spätaussiedler reservierten Leistungen (insbesonde­ re einer späteren deutschen Altersrente nach dem FRG) ausgeschlossen. Für Frau T-19 ist dabei bis heute subjektiv belastend, dass sie und ihr Ehemann im Vergleich zu ihrer Schwester und ihrem Ehemann trotz gleicher Voraus­ setzungen (in beiden Fällen handelte es sich um eine „gemischte“ Ehe) rechtlich und finanziell deutlich schlechter gestellt und somit gewisserma­ ßen für ihre späte Zuwanderung „bestraft“ worden sind: A Die Menschen sind ja verschieden. Der eine hat sich großartig ausgemacht, der hat das Geld alles in seinem Sack, und du bist nichts – so was. In der Familie darf man so was nicht.

Während für den in Kasachstan bereits verrenteten Ehemann, der zum Zeitpunkt der Einreise nach Deutschland 57 Jahre alt war und kaum deutsch sprach, seitens des Arbeits- bzw. Sozialamts von Anfang an keine nennens­ werten Eingliederungs- und Vermittlungsbemühungen mehr unternommen worden sind, war Frau T-19 zunächst noch gewillt, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen. Da über die Vermittlung des Arbeitsamtes für Frau T-19 je­ doch keine passende Arbeitsstelle zu finden war und sich ihre Verdienst­ chancen insgesamt eher schlecht darstellten, stellte sie ihre diesbezüglichen Bemühungen bald wieder ein. Hier kam einerseits zum Tragen, dass unmit­ telbare Anreize zur Erwerbaufnahme im Rahmen der Bedarfsgemeinschaft mit ihrem Ehemann kaum gegeben waren, da mögliche Erwerbeinnahmen durch entsprechende Kürzungen des Transfereinkommens größtenteils wie­ der neutralisiert worden wären. Frau T-19 gibt zudem an, ihre Bemühungen um eine Arbeitsstelle auch aus Rücksicht auf den Ehemann eingestellt zu haben: A Aber ich wollte ja was machen. Und dann habe ich mir das ganz überlegt gut, bin zur Leihfirma gegangen und der Mann hat auch gesagt, ach wissen Sie, ich kann für Sie etwas finden. So Küchenarbeit oder so. Und hat er mir das ausgerechnet, was ich da bekomme. Ja, und da habe ich … dachte ich, mein Gott, ja, jetzt bekomme ich die 400 von hier, und die 400 von meinem Mann

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V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen werden abgezogen, und was sagt dann mein Mann dazu? Da wäre der ja … da regt er sich ganz auf und sagt, ja wegen mir musst du jetzt zur Arbeit gehen. Da habe ich mich abgesagt.

1999, im Alter von 60 Jahren, ist Frau T-19 schließlich abschlagsfrei in die vorgezogene Altersrente für Frauen gegangen; das Ehepaar lebte seit­ dem von der Altersrente von Frau T-19 sowie der aufstockenden Sozialhil­ fe (ab 2003: Grundsicherung im Alter) des Ehemannes. Seit 2010 ist Frau T-19 verwitwet; da ihr Mann keinen Anspruch auf eine eigene FRG-Rente hatte, hat Frau T-19 nach seinem Tod auch keinen Anspruch auf eine Wit­ wenrente. Für die Grundsicherungsbedürftigkeit von Frau T-19 sind im Wesentli­ chen zwei Gründe ausschlaggebend. Der erste und wichtigste Grund ist si­ cherlich der Zuwanderungszeitpunkt nach 1992. Hätte Frau T-19 nicht mit dem Aufnahmeantrag gezögert und wäre sie so wie ihre Schwester zusam­ men mit ihrem Ehemann bereits vor 1993 nach Deutschland zugewandert, so hätten sie und ihr Ehemann beide noch den Aussiedlerstatus erhalten. Sie hätte evtl. eine ungekürzte Rente bezogen, die für sich alleine schon Grund­ sicherungsbedürftigkeit vermieden hätte; auch ihr nicht-deutschstämmiger Ehemann hätte seine Arbeitsjahre als FRG-Zeiten anerkannt bekommen und im Alter eine GRV-Rente bezogen, die mit großer Wahrscheinlichkeit über der Grundsicherungsschwelle gelegen hätte. Zudem hätte Frau T-19 nach dem Tod des Ehemannes zusätzlich zu ihrer Altersrente noch eine Witwen­ rente erhalten. Im Fall von Frau T-19 zeigen sich somit deutlich die nega­ tiven Konsequenzen des Kriegsfolgenbereinigungsgesetzes für nach 1992 zugewanderte, „gemischte“ Ehepaare. Ein zweiter Punkt ist allerdings, dass Frau T-19 trotz ihrer vergleichswei­ se guten Sprachkenntnisse und ihres guten Gesundheitszustandes ihre ver­ bleibenden „aktiven“ Jahre in Deutschland nicht dazu genutzt hat, um durch Erwerbsarbeit zusätzliche Anwartschaften in der GRV aufzubauen. Aktuell fehlen Frau T-19 nur wenige Euro zur Deckung ihres (vergleichsweise ho­ hen) persönlichen Bruttobedarfs; hätte Frau T-19 in Deutschland noch ein paar Jahre gearbeitet (ca. 5  Jahre in Teilzeit hätten wohl genügt), hätte ihre heutige Grundsicherungsbedürftigkeit mit großer Wahrscheinlichkeit ver­ mieden werden können. (2) Fallbeispiel 2: Frau B-39, zugewandert aus Rumänien Frau B-39, Spätaussiedlerin nach § 4 BVFG, verwitwet, 4 Kinder, wurde 1942 in Groß-Jetscha (heute Iecea Mare), einem Dorf im nordwestlichen Zipfel Rumäniens, geboren; sie gehört zur Bevölkerungsgruppe der „Bana­ ter Schwaben“. Aktuell wohnt sie in Offenbach (Hessen). Ihr Alterseinkom­ men speist sich aus mehreren Quellen: Sie bezieht zum einen eine GRV-



4. Zugewanderte Personen261

Altersrente von 207 Euro / Monat sowie eine GRV-Witwenrente von 399 Euro / Monat. Darüber hinaus bezieht sie auch noch eine deutsche Betriebs­ rente von 34 Euro / Monat sowie eine kürzlich erst zuerkannte rumänische Rente von 14 Euro / Monat (alle Werte gerundet). Ihr Einkommen von 654 Euro wird durch Grundsicherungsleistungen in Höhe von 238 Euro / Monat aufgestockt, so dass sich ein Gesamtbruttobedarf von 892 Euro / Monat er­ gibt. Frau B-39 hat einen Behindertenausweis mit dem Merkzeichen „G“; zudem erhebt die AWO als Betreiberin des Seniorenwohnheims, in dem Frau B-39 lebt, eine monatliche Betreuungspauschale von 52 Euro. Frau B-39 ist beidseitig deutscher Abstammung. Nachdem Rumänien gegen Ende des Zweiten Weltkriegs unter sowjetischen Einfluss geriet, wur­ de zu Beginn des Jahres 1945 ein Großteil der deutschstämmigen Bevölke­ rung im arbeitsfähigen Alter für mehrere Jahre nach Russland zur Zwangs­ arbeit deportiert. Auch die Eltern von Frau B-39, die zu diesem Zeitpunkt 2 Jahre alt war, waren betroffen; der Vater, ein gelernter Barbier, kam für ca. fünf Jahre in die Gegend von Dnipropetrowsk (heute Ukraine), die Mut­ ter nach Sibirien. Frau B-39 wuchs in dieser Zeit bei ihren Großeltern auf. Beide Eltern haben die Deportation überlebt; zuerst kehrte die Mutter in das Heimatdorf zurück, dann der Vater. Frau B-39 besuchte insgesamt 7 Jahre lang die rumänische Schule; mit 14 wurde sie jedoch schwer krank (Ge­ sichtslähmung), so dass sie das deutsche Gymnasium nicht länger besuchen und keinen Schulabschluss machen konnte. Gesundheitlich wieder genesen, begann sie Ende 1959, mit 17  Jahren, als Hilfsarbeiterin auf einer Baustel­ le zu arbeiten. 1962, kurz vor ihrem 20. Geburtstag, erlitt sie bei der Arbeit einen schweren Unfall (Stromschlag), der zu bleibenden Schäden an einem Fuß geführt und im Zeitverlauf mehrere Operationen nach sich gezogen hat. Die verschwindend geringen rumänischen Rentenansprüche von Frau B-39 stammen aus diesem kurzen Zeitraum zwischen 1959 und 1962. 1963 heiratete Frau B-39 ihren gleichaltrigen, mittlerweile verstorbenen Ehemann, mit dem sie insgesamt 33 Jahre verheiratet bleiben sollte. Der Ehemann arbeitete insgesamt 32 Jahre als gelernter Traktor- und Transport­ fahrer und war beruflich in ganz Rumänien unterwegs. Frau B-39 bekam insgesamt vier Kinder: 1964 (mit 22), 1966 (mit 24), 1969 (mit 27), 1970 (mit 28). Das dritte Kind ist bereits 1977, im Alter von 8 Jahren, an einem angeborenen Herzfehler verstorben. Frau B-39 war die meiste Zeit über nicht erwerbstätig; der älteste Sohn war jahrelang schwer krank (Hirnhaut­ entzündung) und musste intensiv gepflegt werden. In den 1970er Jahren (an die genauen Jahreszahlen kann sie sich nicht mehr erinnern) arbeitete Frau B-39 zwischenzeitlich als Tagelöhnerin bei einer nahegelegenen landwirt­ schaftlichen Produktionsgenossenschaft; in diesem Rahmen wurden aller­ dings keine Rentenanwartschaften erworben. Die Familie besaß einen klei­ nen Hof und pflanzte ihr Gemüse selbst an; Frau B-39 gibt an, ihr Mann

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V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen

hätte in seinem Beruf „ganz ordentlich“ verdient, und insgesamt hätte die Familie über weite Strecken einen im Rahmen der allgemeinen Verhältnisse durchaus akzeptablen Lebensstandard gehabt. Mit dem fortschreitenden wirtschaftlichen Niedergang Rumäniens unter der Diktatur von Nicolae Ceauşescu verschlechterten sich in den 1980er Jahren allerdings die Lebensverhältnisse auch in den deutschen Siedlungs­ gebieten zunehmend. Es kam zu immer gravierenderen Versorgungsengpäs­ sen und immer strengeren Rationierungen; Frau B-39 beschreibt die letzten Jahre der Ceauşescu-Diktatur, insbesondere die Jahre 1987–1989, als Zeit der akuten Lebensmittelknappheit. Nach der rumänischen Revolution und der Hinrichtung Ceauşescus (Dezember 1989) verbesserte sich die Lage im Banat keineswegs; es gab große politische Unruhen, in deren Rahmen die deutsche Bevölkerung massiv unter Druck geriet. Innerhalb kürzester Zeit wanderte ein Großteil der deutschstämmigen Bevölkerung aus Groß-Jetscha wie auch aus den übrigen „deutschen“ Dörfern des Banats aus. Der älteste Sohn der Familie war bereits Anfang 1990 übergesiedelt, die Tochter ein wenig später; Frau B-39 und ihr Ehemann, die ihrer Heimat sehr verbunden waren und zunächst nicht auswandern wollten, bekamen erst 1994 ihre „RU-Nummer“, den Aufnahmebescheid des BVA. Nach Angaben von Frau B-39 gehörten sie und ihr Ehemann Ende 1994 fast zu den allerletzten Deutschen, die ihren Heimatort verlassen haben. Der Besitz in Groß-Jetscha (das eigene Haus sowie das geerbte Haus ihrer Eltern) wurde verkauft; von dem bescheidenen Erlös (umgerechnet ca. 4000 D-Mark) wurde die Einrich­ tung der ersten eigenen Wohnung in Deutschland finanziert. Frau B-39 und ihr Mann, zum Zeitpunkt ihrer Übersiedlung nach Deutsch­ land beide 52 Jahre alt, wurden im Raum Offenbach angesiedelt, wo bereits ihre Kinder lebten. Während Frau B-39 umgehend in eine Arbeitsstelle vermittelt werden konnte, wurde ihr Ehemann, der bereits in Rumänien mit Bluthochdruck und Herzproblemen zu kämpfen hatte, aufgrund seines Ge­ sundheitszustands als nicht arbeitsfähig eingestuft. Er bezog zunächst Sozi­ alhilfe; zugleich wurde ein Antrag auf EU-Rente gestellt. Noch vor Beendi­ gung des Verfahrens, im März 1996, starb der Ehemann an einem Herzin­ farkt. Die beantragte EU-Rente wurde schließlich noch nachträglich und rückwirkend anerkannt; die entsprechende Rentennachzahlung (Frau B-39 schätzt den Gesamtbetrag auf ca. 10.000 D-Mark) wurde dem Sozialhilfe­ träger überwiesen (Erstattungsanspruch). Frau B-39 war in Deutschland insgesamt noch knapp 11 Jahre, von ihrem 52. bis zu ihrem 63.  Lebensjahr, erwerbstätig. Sie arbeitete zunächst 2 ½  Jahre befristet in Vollzeit in einer Wäscherei der AWO. 1997 wechselte sie in eine Teilzeittätigkeit in Festanstellung als Putzfrau in einem evan­ gelischen Kindergarten, die sie 8 Jahre lang ausübte; ihre kleine Betriebs­



4. Zugewanderte Personen263

rente stammt aus dieser Zeit. Parallel zu ihrer Teilzeittätigkeit bezog Frau B-39 eine GRV-Witwenrente. 2005, einige Monate vor ihrem 63.  Geburts­ tag, musste sich Frau B-39 einer schweren Operation unterziehen (Darmver­ schluss); zum 1.1.2006 bekam sie eine Rente wegen voller Erwerbsminde­ rung zugesprochen, die Ende 2007 in eine Altersrente umgewandelt worden ist. Frau B-39 befindet sich seit 2010 in der Privatinsolvenz: Nach dem Tod ihres Ehemannes hat Frau B-39 die gemeinsame, für eine Person zu teure Wohnung zunächst noch relativ lange gehalten; um die steigende Miete zahlen zu können, hat sie einen Bankkredit aufgenommen, den sie nicht zurückzahlen konnte. Nach eigenen Angaben zahlt Frau B-39 aktuell noch einen Teil der mit dem Insolvenzverfahren verbundenen Anwaltskosten in kleinen Monatsraten ab. Im Fall von Frau B-39 kommen somit mehrere Faktoren zusammen: Erstens ist Frau B-39 nicht zuletzt aufgrund ihrer gesundheitlichen Proble­ me und ihres schweren Arbeitsunfalls eine eigenständige Erwerbskarriere in Rumänien weitgehend verwehrt geblieben. Neben der Betreuung ihrer vier Kinder musste Frau B-39 zudem auch den kleinen heimischen Hof bewirt­ schaften, der für die Subsistenz der Familie nicht unwichtig gewesen ist. Im Ergebnis hat Frau B-39 in ihrem Herkunftsgebiet keine bzw. nur sehr gerin­ ge eigene Rentenanwartschaften nach dem FRG aufbauen können. Zweitens haben die nach der Übersiedlung nach Deutschland verbleibenden Jahre bis zu ihrem vorzeitigen Renteneintritt wegen voller Erwerbsminderung nicht mehr ausgereicht, um größere eigene Anwartschaften in der GRV aufzubau­ en; der Eintritt der Erwerbsminderung im Alter von 63 Jahren hat dabei für sich allein genommen keinen großen Einfluss mehr auf das Alterseinkom­ men gehabt. Drittens ist der Ehemann von Frau B-39 bereits mit 53  Jahren verstorben; die abgeleitete Witwenrente, die sich aus seinen FRG-Zeiten ergibt, ist mit knapp 400 Euro nicht hoch genug, um zusammen mit der eigenen Altersrente von Frau B-39 ihren Bedarf zu sichern. Hierbei kommt auch zum Tragen, dass die FRG-Anwartschaften des Ehemannes aufgrund seines (zumindest für die Gruppe der Rumänen) sehr späten Zuwanderungs­ zeitpunktes (Ende 1994) nur zu 70 % berücksichtigt werden, so dass auch die daraus abgeleitete Witwenrente entsprechend niedriger ausfällt. Maßgeb­ lich für die heutige Grundsicherungsbedürftigkeit sind jedoch insgesamt weniger zuwanderungs- und rentenrechtliche Faktoren, sondern vielmehr die Kumulation gesundheitsbiografischer Risiken bei Frau B-39 und ihrem Ehemann.

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V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen

(3) Fallbeispiel 3: Frau R-21, zugewandert aus Kasachstan Frau R-21, geboren 1943 in der Region Kiew (Ukraine), verwitwet, keine Kinder, stellt innerhalb der Gruppe der Spätaussiedlerinnen einen Sonderfall dar: Als nicht-deutschstämmige Witwe eines abgelehnten wolgadeutschen Spätaussiedlerbewerbers mit ukrainischer Staatsangehörigkeit hat sie keinen eigenen oder abgeleiteten Spätaussiedlerstatus nach dem BVFG, sondern als lediglich eine ausländerrechtliche Aufenthaltsbefugnis, die in regelmäßigen Abständen erneuert wird. Als praktisch einzige Befragte in unserem gesam­ ten Untersuchungssample verfügt sie über kein eigenes anrechenbares Ein­ kommen; ihr (aufgrund einer relativ hohen Wohnungsmiete leicht erhöhter) Bruttobedarf von rund 800 Euro / Monat wird komplett von der Grundsiche­ rung getragen. Frau R-21 ist in einem Dorf unweit von Tschernobyl in der Oblast Kiew geboren und zur Schule gegangen. Angesichts der schlechten Wirtschaftsla­ ge in dieser ländlichen Region zog sie nach Beendigung der Schulzeit An­ fang der 1960er Jahre von der Ukraine nach Schesqasghan (Zentralkasach­ stan). Dort arbeitete sie zunächst in einem Kindergarten, besuchte jedoch parallel die Abendschule und machte dort ihr Technikum. 1963, mit 20 Jah­ ren, begann sie ihre insgesamt 32-jährige Tätigkeit als Chemielaborantin im Labor eines großen Hüttenwerks. Im gleichen Jahr heiratete sie ihren fünf Jahre älteren, deutschstämmigen Ehemann. Dieser kam aus einer ursprüng­ lich wolgadeutschen Familie, die sich nach ihrer Deportation nach Sibirien letztlich in Kasachstan niedergelassen hat. Der Ehemann, der wie Frau R-21 in der Abendschule sein Technikum gemacht hat, hat sich im Zeitverlauf vom einfachen Bauarbeiter (Metallschweißer) zum Vorarbeiter / Bauleiter hochgearbeitet. Da er einen als gefährlich bzw. körperlich anstrengend ein­ gestuften Beruf ausgeübt hat, durfte er 1993 bereits mit 55 (statt mit 60) Jahren in Rente gehen. Bis auf den aus medizinischen Gründen nicht erfüllbaren Kinderwunsch kamen die Eheleute nach Angaben von Frau R-21 bis zum Zusammenbruch der UdSSR in Kasachstan an sich gut zurecht. Frau R-21 berichtet jedoch von einer zunehmend instabilen politischen Situation insbesondere nach der Ende 1991 proklamierten Unabhängigkeit Kasachstans. Der Druck auf Deutsche wurde in Kasachstan zunehmend stärker; Nachbarn begannen, den deutschstämmigen Ehemann als „Faschist“ zu beschimpfen und mehr oder weniger offen zur Ausreise aufzufordern. Zudem war auch die ökonomische Situation nicht zufriedenstellend, da es immer häufiger zu Unregelmäßigkei­ ten und Verzögerungen bei den staatlichen Lohn- und Rentenzahlungen (und zuletzt auch zu Engpässen bei der Lebensmittelversorgung) kam. Die Initi­ ative zur Aussiedlung nach Deutschland ging vor diesem Hintergrund vom Ehemann aus; eine ältere Schwester des Ehemannes war bereits 1993 nach



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Deutschland übergesiedelt. Frau R-21, die sich als hoch qualifizierte Fach­ arbeiterin sehr mit ihrem Beruf identifizierte, war zunächst gegen die Über­ siedlung nach Deutschland; in den Diskussionen mit ihrem Ehemann wies sie vor allem auf die fehlenden Sprachkenntnisse beider Eheleute hin. Nichtsdestotrotz wurde 1994 der Aufnahmeantrag gestellt. Das Antragsverfahren lief zunächst vergleichsweise schnell; zwischen Antragsstellung und der Erteilung der Einreiseerlaubnis ist gerade mal ein Jahr vergangen. Ende 1995 zogen Frau R-21 und ihr Ehemann nach Deutschland; sie war zu dem Zeitpunkt 52 Jahre alt, ihr Ehemann 57 Jahre. Das Ehepaar wollte ursprünglich gerne nach Meschede (Ostwestfalen) zie­ hen, wo die Schwester des Ehemanns wohnte; da Meschede zu diesem Zeitpunkt jedoch keine Spätaussiedler mehr annahm, zogen Frau R-21 und ihr Ehemann letztlich nach Essen. Vor seiner Einreise nach Deutschland hatte der Ehemann von Frau R-21, der einen kasachischen Pass mit deut­ scher Nationalitäteneintragung hatte, keinen Nachweis seiner Deutschkennt­ nisse erbringen müssen; in Essen wurde im Rahmen des Bescheinigungsver­ fahrens jedoch eine Anhörung (Sprachtest) seitens der lokalen Ausländerbe­ hörde vorgenommen. Frau R-21 berichtet, ihr Ehemann habe während der Anhörung eine Reihe von Fragen zu seinem Geburtsort etc. beantworten müssen; da sich der Ehemann diesbezüglich unsicher gewesen sei, habe er für das Gespräch einen Dolmetscher hinzugezogen. Eben dies ist mit großer Wahrscheinlichkeit bei der Bewertung seiner Sprachkenntnisse zu seinen Ungunsten ausgelegt worden. Im Ergebnis hat der Ehemann den Sprachtest nicht bestanden, so dass sein Aufnahmeantrag nach dem BVFG abgelehnt wurde. Somit erhielt auch Frau R-21 nicht den Status der Ehepartnerin eines Spätaussiedlers nach § 7 BVFG. Der Ehemann war über die für ihn voll­ kommen unerwartete und unverständliche Ablehnung maßlos enttäuscht und verbittert; das nachfolgende Widerspruchsverfahren hat sich insgesamt über sieben Jahre hingezogen, blieb jedoch letztlich erfolglos. Die unzureichenden Deutschkenntnisse des Ehemanns von Frau R-21 sind vor dem historischen Hintergrund des Vertreibungsschicksals der Wol­ gadeutschen in Russland zu betrachten. Das Jahr 1941 markiert für die Gruppe der Wolgadeutschen eine bedeutende Zäsur: Nach dem Angriff Deutschlands auf die Sowjetunion ordnete Stalin an, die Autonome Sozia­ listische Sowjetrepublik der Wolgadeutschen aufzulösen und die deutsche Bevölkerung an der Wolga zwangsweise umzusiedeln. Durch die Deportati­ on ist es bei vielen Personen, die im frühen Kindesalter umgesiedelt worden sind, nicht oder nur zu einem unvollständigen Erlernen der deutschen Spra­ che gekommen. Eben dies war auch bei dem 1938 geborenen Ehemann von Frau R-21 der Fall, dessen Familie nach Sibirien deportiert wurde, als er drei Jahre alt war. Beide Eltern wurden zur mehrjährigen Zwangsarbeit in der sogenannten „Trudarmee“ eingezogen, so dass in den für den Spracher­

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V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen

werb entscheidenden Jahren keine deutschsprachige Bezugsperson vorhan­ den gewesen ist. Anders als seine 9 Jahre ältere Schwester, die den größten Teil ihrer Kindheit noch vor 1941 im Wolgagebiet verbracht und dort noch Deutsch gelernt hat, ist es bei dem Ehemann von Frau R-21 somit nicht zu einem Erlernen der deutschen Sprache im familiären Umfeld gekommen. Durch diese Umstände ist es auch zu einer zuwanderungsrechtlichen Un­ gleichbehandlung der beiden Geschwister gekommen: Während die ältere Schwester bei ihrer 1993 erfolgten Zuwanderung nach Deutschland ohne größere Probleme als Spätaussiedlerin nach § 4 BVFG anerkannt wurde, ist dies dem 1995 zugewanderten Ehemann von Frau R-21 trotz identischer Abstammung allein aufgrund seiner mangelnden Sprachkenntnisse verwehrt geblieben. Frau R-21 hat dadurch seit ihrer Einreise nach Deutschland praktisch konstant in einem Zustand der Statusunsicherheit gelebt. Ihre Aufenthalts­ befugnis wurde jährlich bzw. zweijährlich verlängert. Frau R-21 berichtet von Angst und schlaflosen Nächten in den Zeiten, in denen die Verlänge­ rung jeweils wieder anstand. Aufgrund der fehlenden bzw. stark einge­ schränkten Arbeitserlaubnis ist Frau R-21, die anders als ihr fünf Jahre äl­ terer und gesundheitlich zunehmend angeschlagener Ehemann durchaus noch arbeitsfähig war, in Deutschland keiner sozialversicherungspflichtigen Arbeit nachgegangen. Der Zusatz „Erwerbstätigkeit nur mit Genehmigung von Ausländerbehörde gestattet“ wurde in ihrem Aufenthaltstitel erst im Jahr 2007 gestrichen; Frau R-21 war zu diesem Zeitpunkt bereits 64 Jahre alt. Kurz vor Erreichen des Rentenalters war sie noch einige Monate als Putzfrau in geringfügiger Beschäftigung tätig; ihre Einkünfte wurden antei­ lig auf die ALG II-Leistungen angerechnet. 2008 erreichte sie das Rentenal­ ter und wechselte vom ALG II-Bezug in den Bezug der Grundsicherung im Alter. Der Ehemann ist 2011 nach langer und schwerer Krankheit verstorben. Die Liste seiner Krankheiten reicht von Herzproblemen und Bluthochdruck über Diabetes und Gicht bis hin zum Blasenkrebs. Frau R-21 hat ihren Ehemann in den letzten Jahren gepflegt; hierbei fielen jedoch keine ren­ tenrechtlichen Pflegezeiten an, da Frau R-21 bereits selbst im Rentenalter war. Frau R-21 geht davon aus, das zumindest ein Teil der gesundheitli­ chen Probleme ihres Ehemannes psychosomatisch bedingt gewesen ist. Die Nichtanerkennung als Deutscher war nach Einschätzung von Frau R-21 gewissermaßen ein fortgesetzter Unrechtszustand, an dem ihr Ehemann „zerbrochen“ ist; jahrelange Verfahren in mehreren Instanzen sowie die weiterbestehende Statusunsicherheit haben den Ehemann stark demorali­ siert. Der Fall von Frau R-21 und ihrem verstorbenen Ehemann verdeutlicht exemplarisch die individuellen Härten, die mit der zunehmenden Verschär­



4. Zugewanderte Personen267

fung des Zuwanderungsrechts und der Anerkennungspraxis für (Spät-)Aus­ siedler und ihre Angehörigen verbunden sein können. Der nicht bestandene Sprachtest des Ehemannes war für das weitere Schicksal des Ehepaars von entscheidender Bedeutung: Wäre der Ehemann von Frau R-21, der als Fach­ arbeiter gut 35 Arbeitsjahre in Kasachstan vorzuweisen hatte, als Spätaus­ siedler nach § 4 BVFG anerkannt worden, hätte er eine (mit einem Abschlag von 30 % versehene) FRG-Rente erhalten. Frau R-21 hätte zwar keine eige­ ne FRG-Rente, aber nach dem Tod des Ehemannes zumindest eine abgelei­ tete Witwenrente erhalten. Zudem wäre sie als Ehegattin nach § 7 BVFG anerkannt worden und hätte somit einen gesicherten Aufenthaltsstatus und eine unbeschränkte Arbeitserlaubnis erhalten. Sowohl der Ehemann von Frau R-21 als insbesondere auch Frau R-21 selbst hätten bei einem erfolg­ reichen Aufnahmeantrag zudem die Chance gehabt, durch Erwerbsarbeit in Deutschland (zusätzliche) Anwartschaften in der GRV zu erwerben. Im Er­ gebnis hätte die heutige Grundsicherungsbedürftigkeit von Frau B-21 somit möglicherweise vermieden werden können. cc) Typische Biografiemuster und Risikokonstellationen (Spät-)Aussiedler / -innen haben eine zweigeteilte (Erwerbs-)Biografie: Der erste Teil der Biografie „spielt“ im Herkunftsland, der zweite Teil in Deutschland. Je älter die Personen bei der Zuwanderung sind, desto stärker hängt die spätere Altersrente von dem Erwerbsverlauf im Herkunftsland und seiner rentenrechtlichen Bewertung ab. Bei den im Sample enthaltenen Spätaussiedlerinnen im Grundsicherungsbezug handelt es sich ausschließ­ lich um Personen, die in fortgeschrittenem bzw. rentennahem Alter nach Deutschland eingereist sind; die wenigen Jahre in Deutschland, in denen die Betroffenen noch im erwerbsfähigen Alter waren, konnten hier kaum noch zum Erwerb zusätzlicher Rentenanwartschaften genutzt werden. Da die Befragten zudem weder eine nennenswerte Rente aus ihrem Herkunftsland beziehen noch über sonstige Vermögenswerte verfügen, beruhen ihre ange­ rechneten Alterseinkommen nahezu ausschließlich auf eigenen oder abgelei­ teten Anwartschaften nach dem Fremdrentengesetz. Die kombinierten Effek­ te der Verschärfung des Zuwanderungsrechtes und der parallelen Verschlech­ terung des Fremdrentengesetzes zeigen sich daher deutlich in den einzelnen Fallbeispielen; dies gilt umso mehr, wenn man den (Ehe-)Paarkontext be­ rücksichtigt: − Zuwanderungsrechtlich sind sowohl Frau G-04 als auch Frau T-19 von den Folgen des Kriegsfolgenbereinigungsgesetzes betroffen, da ihre nichtdeutschstämmigen Ehemänner nach § 7 BVFG keinen eigenen Spätaus­ siedlerstatus besitzen und somit keinen Anspruch auf FRG-Rente haben. Die GRV-Rente dieser beiden Spätaussiedlerinnen reicht bzw. reichte als

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V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen

einziges Haushaltseinkommen somit bei Weitem nicht aus, um den Le­ bensbedarf des Ehepaares zu decken. Hinzu kommt, dass beim Tod des Ehemannes kein Anspruch auf Witwenrente besteht. Frau R-21, die kei­ nen eigenen Spätaussiedlerstatus besitzt, ist insbesondere von der Ver­ schärfung der behördlichen Anerkennungspraxis im Rahmen der Umset­ zung des Zuwanderungsrechts betroffen: Da ihr Ehemann aufgrund des nicht bestandenen Sprachtests nicht als Spätaussiedler nach § 4 BVFG anerkannt worden ist, erhielt er keine Rente nach dem FRG; somit erhält Frau R-21 nach seinem Tod auch keine Hinterbliebenenrente. Zudem erhielt Frau R-21 über mehrere Jahre hinweg keine Arbeitserlaubnis und keinen gesicherten Aufenthaltsstatus, was ihre Integration erheblich er­ schwert hat. − Rentenrechtlich sind sowohl Frau T-19 und Frau B-39, die nach 1992 zugewandert sind, von der durch das Rentenüberleitungsgesetz vorge­ nommenen Kürzung der FRG-Anwartschaften auf 70 % betroffen; Frau K-04 und Frau G-22, die nach 1996 zugewandert sind, sind darüber hin­ aus von der durch das Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz vorgenommenen Kürzung auf der FRG-Anwartschaften auf 60 % sowie on der Deckelung der FRG-Anwartschaften auf maximal 25 Entgeltpunk­ te betroffen. Dadurch sind sowohl Frau K-04 als auch Frau G-22, beide Akademikerinnen, trotz einer langen und durchgängigen Erwerbskarriere im gehobenen Dienst (Frau K-04 als Abteilungsleiterin im öffentlichen Gesundheitsdienst, Frau G-22 als Schuldirektorin) im Alter auf Grund­ sicherungsleistungen angewiesen. Insgesamt verdeutlichen die verschiedenen Fallbeispiele, dass aufgrund der massiven rechtlichen Einschnitte bei Spätaussiedlerinnen und Spätaus­ siedlern auch vergleichsweise lange Erwerbskarrieren im Herkunftsland oftmals nicht zu einem individuellen Rentenanspruch oberhalb der Grund­ sicherungsschwelle führen. Bei Alleinstehenden und Ehepaaren, die nach 1996 zugewandert sind, liegen die FRG-Anwartschaften aufgrund der De­ ckelungsregelung sogar in jedem Falle unterhalb des Grundsicherungsni­ veaus. Dort, wo keine weiteren Einkünfte bestehen (was bei Personen, die in rentennahem Alter zuziehen, häufig der Fall ist), ist Altersarmut dadurch gewissermaßen „vorprogrammiert“. Die in den 1990er Jahren beschlossenen, einschneidenden Kürzungen im Bereich des Fremdrentenrechts sind seinerzeit nicht zuletzt mit der Notwen­ digkeit der Begrenzung der „Lohnebenkosten“ und der Steigerung der „Wettbewerbsfähigkeit“ der deutschen Wirtschaft begründet worden; hierzu sollten sowohl der Haushalt der GRV als auch der Bundeshaushalt „entlas­ tet“ werden (vgl. u. a. BT-Drs. 13 / 4610). Durch die beschlossenen Kosten­ dämpfungsmaßnahmen ist jedoch zugleich auch ein erhöhtes Maß an späte­ rer Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter bei der Gruppe der Spätaussied­



4. Zugewanderte Personen269

ler / -innen „produziert“ bzw. mehr oder weniger bewusst in Kauf genommen worden. Die durch das politisch (mit-)erzeugte erhöhte Grundsicherungsri­ siko dieser Gruppe bedingten Mehrausgaben in der Grundsicherung im Alter werden allerdings durch die eingesparten Leistungen in der GRV um ein Vielfaches übertroffen. Im Hinblick auf die zukünftige Entwicklung in diesem Bereich ist zu­ nächst festzustellen, dass sowohl die absolute Zahl als auch das relative Gewicht der Zugänge in die GRV mit Zeiten nach dem FRG insbesondere in den 2000er Jahren stark gesunken sind. Dies hängt allerdings nicht zu­ letzt auch mit demografischen Faktoren zusammen, die in der Gruppe der Aussiedler besonders stark zum Tragen gekommen sind (kriegs- bzw. depor­ tationsbedingt schwache Geburtsjahrgänge der 1940er Jahre). In der mittle­ ren Frist werden jedoch wieder deutlich mehr (Spät-)Aussiedler neu in die GRV zugehen; es handelt sich hier um die auch im Vergleich zur übrigen deutschen Bevölkerung sehr geburtenstarken Aussiedlerjahrgänge zwischen 1950 bis ca. 1965, die in etwa zwischen 2015 und 2032 das jeweils gelten­ de gesetzliche Rentenalter erreichen werden (Baumann / Mika 2012: 134– 136). Insbesondere bei denjenigen Personen, die nach 1996 in mittlerem Alter zugezogen sind und noch einen großen Teil ihres Erwerbslebens im Her­ kunftsland verbracht haben, könnte es aufgrund der Verschlechterungen des FRG und der vergleichsweise ungünstigen Perspektiven vieler Spätaussied­ ler auf dem deutschen Arbeitsmarkt verstärkt zu Konstellationen kommen, in der sowohl die im Herkunftsland nach dem FRG erworbenen Anwart­ schaften als auch die in Deutschland erworbenen Rentenanwartschaften so niedrig ausfallen, dass in der Summe keine armutsvermeidende GRV-Rente erzielt werden kann. Berücksichtigt man zudem, dass im Rahmen der Spät­ aussiedlerzuwanderung ab 1993 auch eine große Zahl nicht- deutschstäm­ miger Ehepartner und Angehöriger nach Deutschland gekommen ist, die keine eigenständigen Ansprüche auf eine GRV-Rente nach dem FRG haben, so liegt die Vermutung nahe, dass es in dieser Zuwanderergruppe in den nächsten 15  Jahren verstärkt zu unzureichenden Alterseinkommen bis hin zur Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter kommen wird. Angesichts der Tatsache, dass der Zuzug von Spätaussiedler / -innen seit 2005 praktisch zum Erliegen gekommen ist, dürfte jedoch zumindest in langfristiger Perspektive auch der Zustrom von (Spät-)Aussiedlern und ihren Angehörigen in die Grundsicherung im Alter deutlich abnehmen.

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V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen

d) Jüdische Kontingentflüchtlinge aa) Historische und zuwanderungsrechtliche Rahmenbedingungen Eine dritte, weitaus kleinere Gruppe von Zuwanderern, die jedoch auf­ grund ihrer spezifischen Merkmale ein besonders hohes Grundsicherungsbe­ dürftigkeitsrisiko aufweist, ist die Gruppe der sogenannten jüdischen „Kon­ tingentflüchtlinge“, die seit 1991 im Rahmen spezifischer Zuwanderungsre­ gelungen nach Deutschland zugewandert sind.25 Im Zuge der deutschen Wiedervereinigung und des Zerfalls der sozialistischen Staaten in Osteuropa wurde ausreisewilligen Jüdinnen und Juden aus der ehemaligen Sowjetunion Anfang der 1990er Jahre offiziell ermöglicht, nach Deutschland einzureisen und hier ihren Lebensmittelpunkt zu finden. Im Kontext der historischen Verantwortung für die Verbrechen des Nationalsozialismus ging es hier zum einen um eine politisch- humanitäre Geste der Versöhnung bzw. „Wieder­ gutmachung“; ein weiterer Gesichtspunkt war zum anderen das Ziel des Erhalts und der Stärkung der Lebensfähigkeit der jüdischen Gemeinden in Deutschland. Im Januar 1991 beschlossen Bund und Länder nach Verhandlungen mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland eine offizielle Zuwanderungsrege­ lung für diesen Personenkreis; hierzu wurde das bestehende Gesetz über Maßnahmen für im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen aufgenommene Flüchtlinge (HumHAG) auch auf jüdische Zuwanderer aus der UdSSR aus­ geweitet. Maßgeblich für die Anerkennung als jüdischer Kontingentflüchtling in Deutschland ist demgemäß die Eintragung der jüdischen Nationalität in den in der damaligen UdSSR ausgestellten Personendokumenten; hierfür kommt neben der Geburtsurkunde, die eine jüdische Mutter oder einen jüdi­ schen Vater belegt, insbesondere auch der sogenannte „fünfte Punkt“ im so­ wjetischen Pass in Frage, der die (gegebenenfalls jüdische) Nationalität der betreffenden Person festhält. Nicht-jüdische Ehepartner und minderjährige 25  Der Sammelbegriff „Kontingentflüchtlinge“ bezeichnet Zuwanderer, die im Rahmen einer humanitären Aktion oder aus übergreifenden politischen Gründen über eine Übernahmeerklärung des Bundesinnenministeriums in Deutschland aufgenom­ men werden. Sie durchlaufen nach § 23 AufenthG kein Asylverfahren, sondern er­ halten mit ihrer Ankunft sofort eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen. Ihren Wohnsitz in Deutschland können sie allerdings nicht frei wählen; vielmehr werden sie (ähnlich wie Aussiedler/-innen bzw. Spätaussiedler/-innen) in festgeleg­ ten Anteilen (Kontingenten) auf die verschiedenen Bundesländer verteilt. Zu den in Deutschland lebenden Kontingentflüchtlingen gehören neben der Gruppe der jüdi­ schen Zuwanderer, die die mit Abstand größte Gruppe bilden, u. a. auch die Gruppe der Anfang der 1980er aufgenommenen Bootsflüchtlinge aus Vietnam, die Gruppe der um 1990 herum aufgenommenen Flüchtlinge aus Albanien sowie die Gruppe der seit 2013 aufgenommenen syrischen Bürgerkriegsflüchtlinge.



4. Zugewanderte Personen271

Kinder können mit aufgenommen werden. Die getroffene Regelung richtet sich somit nicht nach den weitaus strengeren Bestimmungen des jüdischen Religionsgesetzes (Halacha), nach denen im Prinzip nur der- oder diejenige als Jude gilt, der oder die eine jüdische Mutter hat. Als Konsequenz dieser Bestimmung ist ein nicht unwesentlicher Teil der jüdischen Kontingentflücht­ linge nicht jüdisch im Sinne des jüdischen Religionsge­setzes. Jüdische Zuwanderer haben uneingeschränkt Zugang zum deutschen Ar­ beitsmarkt; sie erhalten eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung sowie eine Arbeitserlaubnis und damit auch den Zugang zu deutschen Sozialleis­ tungen. Eine automatische Einbürgerung bei Zuzug findet jedoch nicht statt, so dass jüdische Zuwanderer in der Regel ihre bisherige Staatsangehörigkeit (z. B. Russland, Ukraine) behalten. Grundsätzlich besteht nach einer Aufent­ haltsdauer von 8 Jahren und der Erfüllung weiterer Voraussetzungen aller­ dings die Option der Einbürgerung, so dass davon auszugehen ist, dass ein Teil der ursprünglich russischstämmigen jüdischen Zuwanderer inzwischen die deutsche Staatsbürgerschaft erworben hat. Ähnlich wie bei der Gruppe der (Spät-)Aussiedler ist das Antrags- und Aufnahmeverfahren für den Personenkreis der jüdischen Kontingentflücht­ linge relativ komplex und kann im Einzelfall mehrere Jahre in Anspruch nehmen. Zudem wurden auch für die jüdischen Zuwanderer die zuwande­ rungsrechtlichen Bestimmungen im Zeitverlauf verschärft, um den Zuzug dieses Personenkreises stärker zu steuern und im Ergebnis zu reduzieren. Der entscheidende Einschnitt erfolgte hier durch das 2004 verabschiedete Zuwanderungsgesetz, in dessen Rahmen u. a. auch das bis dahin bestehende HumHAG zum 31.12.2004 aufgehoben wurde. Neue Rechtsgrundlage für die Aufnahme jüdischer Zuwanderer ist seitdem das am 1.1.2005 in Kraft getretene Aufenthaltsgesetz (AufenthG), hier insbesondere § 23 („Aufent­ haltsgewährung durch die obersten Landesbehörden; Aufnahme bei beson­ ders gelagerten politischen Interessen“). Mit Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes wurde das spezifische Aufnah­ meverfahren für jüdische Zuwanderer im Laufe des Jahres 2005 durch Be­ schlüsse der Innenministerkonferenz neu geregelt; die Zuständigkeit wurde von den Länderbehörden auf das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) verlagert. Seitdem müssen jüdische Zuwanderer (mit Ausnahme der anerkannten Opfer nationalsozialistischer Verfolgung) neben dem Nach­ weis ihrer jüdischen Abstammung drei Aufnahmevoraussetzungen erfüllen: − Nachweis der absehbar eigenständigen Sicherung des Lebensunterhalts, um den dauerhaften Bezug von Sozialleistungen zu vermeiden. Dazu wird für den Antragsteller durch das BAMF eine Sozial- und Integra­ tionsprognose erstellt, bei der auch die familiäre Situation berücksichtigt werden soll.

272

V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen

− Nachweis von Grundkenntnissen der deutschen Sprache (Prüfungszeugnis A1). Ehegatten und ältere Kinder, die mit dem Zuwanderungsberechtigten aufgenommen werden, müssen ebenfalls Grundkenntnisse der deutschen Sprache nachweisen, wobei Härtefallregelungen zur Anwendung kommen können. − Nachweis, dass die Möglichkeit zur Aufnahme in einer jüdischen Ge­ meinde im Bundesgebiet besteht. Dieser Nachweis erfolgt in der Regel durch eine Stellungnahme der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) unter Einbeziehung der Union der progressiven Juden (UpJ). Zwischen 1993 und 2012 sind nach Daten des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) insgesamt 205.674 jüdische Kontingentflüchtlinge nach Deutschland zugewandert. Für die Jahre 1991 und 1992 sind keine Angaben zu den Zuzügen, sondern nur zu der Anzahl der Aufnahmezusagen der Länder verfügbar (1991: 12.583; 1992: 15.879). Insgesamt sind seit 1991 somit rund 220.000 Menschen jüdischer Abstammung im Rahmen dieser Regelungen nach Deutschland gekommen. Die Mitgliederzahl der jüdischen Gemeinden und Landesverbände in Deutschland hat sich seit 1990 nach Angaben der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland in etwa vervierfacht und liegt in den letzten Jahren relativ konstant bei gut 100.000 Mitgliedern (ZWST 2014). Die 2005 beschlossene Verschärfung der gesetzlichen Aufnahmekriterien hat sich sehr deutlich auf die Zuwande­ rung ausgewirkt: Lag die jährliche Zuwanderung zwischen 1993 und 2005 bei durchschnittlich rund 15.000 Personen, sind seit 2006 im Durchschnitt nur noch etwa 1.000 Personen pro Jahr zugewandert; im Jahr 2012 waren es sogar weniger als 500 Personen. Hinsichtlich ihrer soziodemografischen Struktur weist die Gruppe der jüdischen Kontingentflüchtlinge gegenüber anderen Zuwanderergruppen zwei Besonderheiten auf: Ein vergleichsweise hohes formales Bildungs- und Qualifikationsniveau und ein vergleichsweise hohes Alter bei der Zuwande­ rung nach Deutschland. Generell genießt Bildung in der jüdischen Tradition eine hohe Wertschätzung; Schätzungen zufolge sind über 70 % der zuge­ wanderten Erwachsenen dieser Gruppe Akademiker (Tröster 2013: 81). Viele der jüdischen Zuwanderer haben naturwissenschaftliche und techni­ sche Berufe; auch ein relativ hoher Anteil künstlerischer Berufe ist zu verzeichnen. Gerade auch in dieser Gruppe zeigt sich jedoch die Schwierig­ keit, dass die in der ehemaligen UdSSR erworbenen Bildungsabschlüsse und Qualifikationen in Deutschland oftmals nicht (voll) anerkannt bzw. auf dem deutschen Arbeitsmarkt nicht nachgefragt wurden, so dass jüdische Zuwanderer relativ häufig von Arbeitslosigkeit betroffen sind (Haug / Schi­ many 2005).



4. Zugewanderte Personen273 20.000 18.000 16.000 14.000 12.000 10.000 8.000

6.000 4.000 0

1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012

2.000

Quelle: BAMF, Migrationsbericht 2013.

Abbildung 16: Zuzug jüdischer Kontingentflüchtlinge (1993–2012)

Neben den oftmals ungenügenden Sprachkenntnissen spielt dabei auch das verhältnismäßig hohe Durchschnittsalter der jüdischen Zuwanderer eine Rolle: Gemäß einer Auswertung aller zwischen 1991 und 2004 erteilten Aufnahmezusagen (Haug / Wolf 2007: 12) waren 21 % der erfolgreichen Antragsteller (rund 45.000 Personen) 50 bis 64  Jahre alt; 23 % der Antrag­ steller (rund 49.000 Personen) waren 65  Jahre und älter. Somit waren ins­ gesamt gut 90.000 Personen und damit fast 45 % aller jüdischen Zuwanderer zum Zeitpunkt ihrer Antragstellung schon älter als 50  Jahre. Der Anteil an älteren Personen unter den jüdischen Zuwanderern ist damit deutlich höher als bei anderen Zuwanderergruppen wie (Spät-)Aussiedlern und Arbeitsmi­ granten; er liegt sogar etwas höher als der Anteil älterer Personen in der Gesamtbevölkerung. Aufgrund ihres relativ hohen Zuwanderungsalters und ihrer Integrationsprobleme auf dem deutschen Arbeitsmarkt konnten viele jüdische Zuwanderer daher in Deutschland nur noch in sehr eingeschränkten Maße erwerbstätig sein und dementsprechende Anwartschaften in der GRV aufbauen. Im Hinblick auf das Risiko der Altersarmut bzw. der Grundsicherungsbe­ dürftigkeit im Alter ist dabei von besonderer Bedeutung, dass jüdische Kontingentflüchtlinge anders als (Spät-)Aussiedler keinen Anspruch auf „Fremdrenten“ nach dem FRG haben, da diese ausschließlich deutschen bzw. deutschstämmigen Zuwanderern vorbehalten sind. Beschäftigungszei­ ten im Herkunftsland begründen somit in Deutschland in der Regel keinen Rentenanspruch, da mit vielen Ländern der ehemaligen Sowjetunion trotz jahrelanger Verhandlungen bis heute weder Sozialversicherungsabkommen

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V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen

bestehen noch von dort tatsächliche Ausgleichszahlungen in die deutsche Rentenversicherung zu erwarten sind. Während nach dem Rentenrecht der Russischen Föderation bestehende Rentenansprüche auch nach Ausreise ins Ausland weitergewährt werden und die Russische Föderation mittlerweile auch tatsächlich Renten ins Ausland auszahlt, zahlt beispielsweise die ­Ukraine grundsätzlich keine Renten ins Ausland. Ohnehin sind die Renten­ ansprüche aus dem Herkunftsland in der Regel so niedrig, dass sie zur Si­ cherung des Lebensunterhaltes in Deutschland nur wenig beitragen können bzw. könnten: So lag die durchschnittliche Altersrente in Russland im Jahr 2013 bei ca. 240 Euro / Monat (Auswärtiges Amt 2014); die durchschnitt­ liche Altersrente in der Ukraine lag bei rund 120 Euro / Monat. Die vorhandene Datenlage über die Sozialstruktur der jüdischen Zuwan­ derer ist insgesamt eher lückenhaft; weder zur Bildungs- und Berufsstruktur noch zur Integration in den Arbeitsmarkt bzw. zur Abhängigkeit von Sozi­ alleistungen liegen bislang repräsentative und verlässliche Daten vor (vgl. Haug / Wolf 2006: 74–78). Dies liegt unter anderem daran, dass das Merk­ mal „jüdische Nationalität“ bzw. „jüdische Religionszugehörigkeit“ in der amtlichen und behördlichen Statistik nicht gesondert ausgewiesen wird. Bislang existieren daher auch keine verlässlichen Daten darüber, wie viele jüdische Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion bereits im Rentenal­ ter sind und wie viele von ihnen Leistungen der Grundsicherung im Alter beziehen. Der Zentralrat der Juden hat die Zahl der Betroffenen auf bis zu 60.000 Personen beziffert (Zentralrat der Juden 2013), ohne diese Zahl je­ doch näher zu belegen. Zusammenfassend lässt sich jedenfalls festhalten, dass die Gruppe der nach 1991 als „Kontingentflüchtlinge“ aus den Gebieten der ehemaligen UdSSR zugewanderten Juden und ihrer Angehörigen innerhalb der Gesamt­ heit der Personen mit Zuwanderungshintergrund eine vergleichsweise kleine Sondergruppe darstellt, die jedoch aufgrund ihrer Besonderheiten von allen Gruppen das mit Abstand höchste Grundsicherungsrisiko aufweist. Vor die­ sem Hintergrund sind in den letzten Jahren wiederholt Forderungen nach einer besseren sozialpolitischen Absicherung der jüdischen Kontingent­ flüchtlinge erhoben worden (Zentralrat der Juden 2013). Kerngedanke der diesbezüglichen Initiativen ist dabei die rentenrechtliche Gleichstellung der jüdischen Kontingentflüchtlinge mit den (Spät)Aussiedler / -innen durch Ein­ beziehung in das Fremdrentenrecht (Deutscher Bundestag 2013). Bislang sind diese Initiativen jedoch erfolglos geblieben.



4. Zugewanderte Personen

275

bb) Ausgewählte Fallbeispiele Im Untersuchungssample finden sich insgesamt drei Fälle, in denen ein jüdischer Zuwanderungshintergrund vorliegt: Frau K-02, die 2005 alleine nach Deutschland zugewandert ist und auch heute noch alleinstehend ist, Herr S-30, der mit seiner nicht-jüdischen Ehefrau ebenfalls 2005 zugewan­ dert ist, und das Ehepaar S / K-43, die beide eine jüdische Abstammung haben und bereits 1995 zugewandert sind. Während Frau K-02 und Herr S-30 ihre russische bzw. ukrainische Staatsangehörigkeit bislang behalten haben und eine mögliche Einbürgerung zumindest bislang nicht aktiv vor­ antreiben, haben Herr und Frau S / K-43 die Möglichkeit der Einbürgerung nach 8 Jahren umgehend genutzt. Hinsichtlich ihrer soziodemografischen Merkmale weisen die drei Fälle in der Teilgruppe der jüdischen Kontingentflüchtlinge einige Gemeinsamkeiten auf. Alle Personen in dieser Gruppe stammen aus Großstädten (Frau K-02 aus Moskau, Herr S-30 und das Ehepaar S / K-43 aus Odessa); alle vier befragten Einzelpersonen in dieser Gruppe haben zudem ein abgeschlosse­ nes Hochschulstudium. Die in verschiedenen Studien nachgewiesene hohe Akademikerquote bei den jüdischen Zuwanderern zeigt sich somit auch im Untersuchungssample. Praktisch alle befragten Personen mussten im Laufe ihres Lebens aufgrund ihrer jüdischen Herkunft einige Benachteiligungen hinnehmen. Dies gilt u. a. auch für den Zugang zu höherer Bildung: Frau G-02 musste trotz überdurchschnittlicher Noten insgesamt 6 Jahre auf einen Studienplatz warten, Frau K-43 immerhin drei Jahre. Herr S-30 durfte sein Studium erst nach einigen Arbeitsjahren und einem abgeschlossenen Tech­ nikum beginnen. Teilweise konnten bestehende Berufswünsche aufgrund der abstammungsbedingten Beschränkungen nicht realisiert werden: Während Frau K-02 ursprünglich Sprachwissenschaftlerin werden wollte, wollte Frau S / K-43 ursprünglich eine journalistische Laufbahn einschlagen. Alle Befragten haben in ihrem Herkunftsland ein langes Arbeitsleben absolviert und waren zudem bis unmittelbar vor ihrer Übersiedlung nach Deutschland erwerbstätig. Eine Besonderheit ist dabei auch, dass drei von vier befragten Personen ihr Studium als Abendstudium, d. h. parallel zu ei­ ner Erwerbstätigkeit absolviert haben. Die Anzahl der abgeleisteten Arbeits­ jahre variiert zwischen 32 (Frau S / K-43) und fast 50  Jahren (Herr S-30). Auffallend ist zudem, dass drei von vier Befragten in den letzten Jahren vor ihrer Übersiedlung nach Deutschland in ihrem jeweiligen Beruf eine leitende Position innehatten: Frau K-02 leitete als Informatikerin eine Ab­ teilung mit 20 Mitarbeitern, Herr S-30 war technischer Direktor in einer Technologiefirma, und Herr S / K-43 leitete als Ingenieur eine Abteilung mit 6 Mitarbeitern. Zum Zeitpunkt ihrer Zuwanderung waren alle Befragten

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V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen Tabelle 45 Jüdische Kontingentflüchtlinge im Untersuchungssample Fr. K-02

Hr. S-30

Ehepaar S / K-43

1947

1939

1937 / 1946

Herkunftsgebiet

Russland

Ukraine

Ukraine

Staatsangehörigkeit

Russisch

Ukrainisch

Deutsch ­(eingebürgert)

Jahr der Zuwanderung

2005

2005

1995

Alter bei Zuwanderung

58

66

58 / 49

Familienstand

Ledig

Verheiratet

Verheiratet

Haushaltsform

Alleinlebend

Paarhaushalt

Paarhaushalt



2

1

Studium ­(Bibliotheks- und Informationswesen)

Technikum (Messtechnik), Studium (Ingenieur)

Technikum (Metallverarbei­ tung), Studium (Ingenieur) / Studium (Russische Sprache und Literatur)

Abteilungsleiterin Informatik, Buchhalterin

Technischer Direktor in Technologie­ unternehmen

Ingenieur (Maschinenbau) /  Schullehrerin

Arbeitsjahre im Herkunftsgebiet (geschätzt)

35

49

39 / 32

Erwerbstätigkeit in Deutschland





– / 6 Monate Aushilfstätigkeit

Eigenes Alters­ einkommen

Russische Altersrente (219 EUR)



– / GRV 19 EUR



Behinderung (Merkzeichen G); Kostenaufwändige Ernährung

Freiwilliger Krankenkassen­ beitrag (Frau K-43)

760

715 (Bedarfs­ gemeinschaft)

584 / 717 (Bedarfs­ gemeinschaft)

Geburtsjahr

Kinder Bildungsabschluss

Beruf im Herkunfts­ gebiet

Zusätzliche Bedarfe

Bruttobedarf Grundsi­ cherung in EUR Quelle: Eigene Darstellung.



4. Zugewanderte Personen277

bereits in fortgeschrittenem bzw. rentennahem Alter; Herr S-30 war zum Zeitpunkt seiner Zuwanderung sogar bereits im Rentenalter. Zudem haben alle Befragten zum Zeitpunkt ihrer Einreise allenfalls rudimentäre Deutsch­ kenntnisse gehabt. Daher wurde in Deutschland praktisch in keinem Fall noch eine Erwerbstätigkeit ausgeübt; sogar für Frau S / K-43, die zum Zeit­ punkt ihrer Einreise knapp 50  Jahre alt war, konnte in den rund 15  Jahren bis zum Erreichen des Rentenalters bis auf eine kurze Aushilfstätigkeit in einer Waldorfschule keine Arbeit gefunden werden. In allen drei Fällen haben die Betroffenen somit seit dem Zeitpunkt ihrer Zuwanderung unun­ terbrochen Mindestsicherungsleistungen bezogen; dementsprechend sind in Deutschland auch praktisch keine Rentenanwartschaften aufgebaut worden. Während Frau S-02 mittlerweile eine kleine russische Altersrente geltend gemacht hat, beziehen sowohl Herr S-30 als auch das Ehepaar S / K-43 keine Altersrente aus ihrem Herkunftsland Ukraine und haben somit prak­ tisch keine eigenen Alterseinkünfte, so dass ihr Lebensunterhalt voll von der Grundsicherung im Alter getragen werden muss. (1) Fallbeispiel 1: Frau K-02, zugewandert aus Russland Frau K-02, geboren 1947 in Moskau, ledig, keine Kinder, ist 2005 als jü­ discher Kontingentflüchtling nach Deutschland zugewandert; sie besitzt wei­ terhin die russische Staatsangehörigkeit. Frau K-02 bezieht eine russische Rente von 219 Euro / Monat, die durch Grundsicherungsleistungen von rund 540 Euro aufgestockt wird; ihr Bruttobedarf liegt somit bei rund 760 Euro. Frau K-02 ist in Moskau aufgewachsen und hat ihr ganzes Leben bis zur Übersiedlung nach Deutschland in Moskau verbracht. Nach ihrer Schulzeit musste Frau K-02 zunächst mehrere Jahre warten, bis sie ihr Hochschulstu­ dium beginnen durfte. Ursprünglich wollte sie Sprachwissenschaften studie­ ren, was aber nicht möglich gewesen ist. Sie berichtet, sie hätte sich an ihrer Wunsch-Universität insgesamt fünfmal erfolglos beworben, sei aber jedes Mal trotz bestandener Aufnahmeprüfung abgelehnt worden. In der Zwischenzeit arbeitete sie im Informationszentrum eines Forschungsinstituts für Energiewissenschaften. Schließlich hat sie einen Studienplatz an der technischen Fakultät einer Kunsthochschule bekommen, wo sie Bibliotheksund Informationswesen studiert hat. Nach dem Abschluss ihres Studiums, mit 29 Jahren, arbeitete Frau K-02 zunächst einige Jahre in einem Unter­ nehmen der Energiewirtschaft, bevor sie 1980, mit 33 Jahren an das damals größte energiewissenschaftliche Forschungsinstitut der Sowjetunion wech­ selte. Hier leitete sie die Abteilung für technische Informationsdienste; zu­ letzt war sie Vorgesetze von rund 20 Mitarbeitern. Frau K-02 hat in ihrem Leben nie geheiratet und eine eigene Familie gegründet; sie hat allerdings zwei Pflegekinder (Söhne einer chronisch er­

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V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen

krankten Cousine zweiten Grades) großgezogen, die mittlerweile in den USA bzw. in Israel leben. Ihre Zwei-Zimmer-Wohnung in Moskau teilte sie zudem mit ihrer Mutter sowie mit einem Cousin und seiner Familie, so dass sie insgesamt trotz ihrer guten beruflichen Position in sowohl räumlich als auch finanziell äußerst beengten Verhältnissen gelebt hat. Mit dem Ende der UdSSR verschlechterten sich auch die Perspektiven für das staatliche For­ schungsinstitut, das nach mehreren Jahren drastischer Mittelkürzungen und kontinuierlichen Stellenabbaus schließlich 1995 endgültig geschlossen wur­ de. Frau K-02, zu diesem Zeitpunkt 48 Jahre alt, wechselte zunächst für einige Jahre in die Privatwirtschaft, wo sie nach einer kurzen Umschulungs­ phase im Bereich Rechnungswesen und Finanzbuchhaltung gearbeitet hat. 1999, mit 52  Jahren, wurde sie Buchhalterin bei einer Hilfsorganisation für Senioren in Moskau, wo sie bis zu ihrer Ende 2005 erfolgten Übersiedlung nach Deutschland auch geblieben ist. Frau K-02 berichtet, sie hätte schon länger überlegt, nach Deutschland überzusiedeln; der Zeitpunkt war gekom­ men, nachdem ihre beiden Pflegekinder volljährig waren und auch ihre pflegebedürftige Mutter, die sie in den letzten Jahren betreut hatte, gestor­ ben war. Das Antrags- und Aufnahmeverfahren hat nach Angaben von Frau K-02 etwa ein Jahr gedauert und verlief relativ reibungslos; in ihrem Fall sind die 2005 eingeführten, verschärften Aufnahmekriterien (Sprach- und Einkom­ mensnachweise, Einladung einer jüdischen Gemeinde) offensichtlich noch nicht zur Anwendung gekommen. Sie wollte ursprünglich nach Dortmund, da dort bereits Verwandte von ihr wohnten, kam aber letztlich nach Düssel­ dorf, wo noch Kontingente frei waren. Frau K-02 war zwar bei ihrer Ein­ reise durchaus davon ausgegangen, in Deutschland noch einige Jahre zu arbeiten; aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters und der eher bescheidenen Sprachkenntnisse wurde in ihrem Fall jedoch von der 58er-Regelung Ge­ brauch gemacht: A Aber nein, ich kann nicht sagen, dass ich gesucht die Arbeit, das kann ich nicht sagen. Weil in Arbeitsamt hat mir … Sie haben mir gesagt, dass es ist viel junge Leute arbeitslos, deswegen … Nachdem, dass sie gesagt haben, habe ich einen Brief bekommen vom Arbeitsamt. Dort hat man mir in einem Zimmer eingeladen … Und als ich dahin gekommen bin, das war auch im Arbeitsamt, sie haben mir gesagt: Wenn Sie diese Papiere unterschreiben, dann können Sie keine Arbeit suchen. Ich kann keine Arbeit suchen. Und wir im Arbeitsamt müssen Ihnen keine Arbeit aussuchen. Verstehen Sie? Ich habe gefragt: Ich muss das machen? Sie haben gesagt: Sowieso haben wir keine Arbeit. Ich habe das unterschrieben.

Frau K-02 hat somit seit ihrer Einreise von bedarfsgeprüften Mindestsi­ cherungsleistungen gelebt; 2012, mit 65  Jahren, ist sie aus dem ALG  IIBezug in die Grundsicherung im Alter gewechselt. Im Falle von Frau K-02 kommt allerdings ein spezifisches Problem zum Tragen, von dem insbeson­



4. Zugewanderte Personen279

dere in den letzten Jahren viele Grundsicherungsbezieher / -innen aus Russ­ land betroffen sind, nämlich das Problem der (rückwirkenden) Anrechnung der von der Russischen Föderation nach Deutschland ausgezahlten Renten auf die Grundsicherung im Alter. Grundsätzlich gehören Rentenansprüche aus Russland (bis auf wenige Ausnahmen) zu den anrechnungspflichtigen Einkommen nach § 82 SGB XII, die sich bedarfsmindernd auf die Höhe der deutschen Grundsicherungsleistungen auswirken; die Leistungsberechtigten sind daher dazu verpflichtet, bestehende Ansprüche gegen den Russischen Rentenfonds geltend zu machen und Rahmen der Einkommensprüfung an­ zugeben. Bei Fehlangaben, die zu unrechtmäßigem Leistungsbezug führen, können unter Umständen empfindliche Straf- und Rückzahlungsforderungen geltend gemacht werden. Bei der Umsetzung dieses Prinzips besteht ein gewisser Ermessensspielraum der kommunalen Sozialhilfeträger, der von Kommune zu Kommune unterschiedlich genutzt wird. Eben dieses Problem ist auch bei Frau K-02 aufgetreten: Da sie nach eigenen Angaben davon ausgegangen war, ihre russische Rente nicht nach Deutschland „mitnehmen“ zu können, hat sie ihre russischen Rentenansprü­ che bei ihrer Übersiedlung nach Deutschland der Moskauer Hilfsorganisati­ on übertragen, für die sie zuletzt gearbeitet hatte. Frau K-02 gibt an, sie sei zu keinem Zeitpunkt darüber informiert worden, dass sie sich eigeninitiativ um die Auszahlung ihrer russischen Rente nach Deutschland hätte kümmern müssen. Während der knapp 7 Jahre ihres ALG II-Bezuges ist Frau K-02 ihres Wissens nach nicht nach möglichen Rentenansprüchen aus Russland gefragt worden; erst beim Eintritt in die Grundsicherung im Alter wurde festgestellt, dass schon seit Jahren ein nicht eingelöster Anspruch auf eine russische Rente besteht und Frau K-02 somit unrechtmäßig zu hohe Min­ destsicherungsleistungen bezogen hat. Im Ergebnis wurde Frau K-02 nicht nur dazu aufgefordert, ihre russischen Rentenansprüche umgehend geltend zu machen, sondern es wurde zugleich auch eine Rückzahlungsforderung von 1.800 Euro erhoben, die Frau K-02 nun in 36 Monatsraten zu je 50 Euro abtragen muss; dieser Betrag wird bei den monatlichen Grundsiche­ rungszahlungen automatisch einbehalten. (2) Fallbeispiel 2: Herr S-30, zugewandert aus der Ukraine Herr S-30, geboren 1939 in Odessa (Ukraine), verheiratet, zwei Kinder, ist 2005 im Alter von 66  Jahren als jüdischer Kontingentflüchtling nach Deutschland zugewandert; er besitzt nach wie vor die ukrainische Staatsan­ gehörigkeit. Er lebt mit seiner zweiten, 14 Jahre jüngeren, gemeinsam mit ihm zugewanderten nicht-jüdischen ukrainischen Ehefrau zusammen. Herr S-30 ist schwerbehindert (Behindertenausweis Merkzeichen G), hat einen zusätzlichen Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Ernährung und ist pfle­

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V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen

gebedürftig (Pflegestufe 1). Er bezieht 715 Euro / Monat von der Grundsi­ cherung im Alter; seine Ehefrau bezieht Arbeitslosengeld II in Höhe von 620 Euro / Monat. Zusätzlich bezieht seine Ehefrau noch Pflegegeld in Höhe von 235 Euro / Monat. Das Gesamteinkommen des Ehepaars beläuft sich somit auf ca. 1.550 Euro / Monat; die gemeinsame Wohnung (Diakonie-Se­ niorenwohnung mit Servicepauschale) kostet in etwa 580 / Monat. Herr S-30 ist in Odessa aufgewachsen. Er berichtet, seine Familie sei über Generationen hinweg Opfer stalinistischer Unterdrückung gewesen: Sein Großvater wurde erschossen, seine Großmutter, sein Onkel und auch sein Vater haben eine Zeitlang im Gefängnis gesessen. Herr S-30 wurde aufgrund seiner jüdischen Abstammung hinsichtlich des Zugangs zu höherer Bildung zunächst stark benachteiligt. Da ihm nach seinem Schulabschluss der direkte Zugang zum Studium verwehrt wurde, machte er zunächst das Technikum mit der Spezialisierung zum Messtechniker. Dann wurde er nach Omsk (Sibirien) zur Arbeit eingeteilt. Parallel dazu absolvierte er ein Abend- bzw. Fernstudium in Maschinenbau; in Sibirien leistete er zudem seinen dreijährigen Militärdienst ab. Nach seinem Militärdienst setzte er sein Studium fort und erwarb schließlich mit 30 Jahren sein Diplom als Ingenieur. 1961, im Alter von 22 Jahren, heiratete Herr S-30 zum ersten Mal; aus dieser Ehe gingen zwei Töchter hervor, die mittlerweile in den USA und in Israel leben. 1986 wurde Herr S-30 geschieden; weder die Ehe noch die Scheidung haben allerdings nennenswerte Konsequenzen für das spätere Alterseinkommen gehabt. Nach seinem Studium arbeitete Herr S-30 in einem Technologieunterneh­ men mit ca. 50 Mitarbeitern, das sich auf die Montage, Um- und Nachrüs­ tung von elektronischen Bohr- und Fräsmaschinen spezialisiert hatte; hier stieg er innerhalb relativ kurzer Zeit zum technischen Direktor auf. Er war beruflich jahrelang im gesamten Sowjetraum und teilweise auch im westli­ chen Ausland unterwegs, um die Installation von Anlagen zu leiten; nach eigenen Angaben war er bis zu 300 Tage im Jahr auf Dienstreise. Herr S-30 berichtet, er habe schon in den 1980er Jahren angesichts seiner guten Qua­ lifikationen von deutschen Arbeitskollegen den Rat bekommen, nach Deutschland auszuwandern (bzw. seinerzeit noch: zu flüchten); er habe diesen Gedanken zwar erwogen, aber letztlich doch verworfen, da ihm die Perspektiven insgesamt zu unsicher gewesen seien. Nach der politischen Wende und der Auflösung der UdSSR Ende 1991 war Herr S-30 zunächst noch durchaus optimistisch hinsichtlich der politischen und ökonomischen Entwicklungsperspektiven der Ukraine. Diese Hoffnun­ gen haben sich jedoch nicht erfüllt; nach Einschätzung von Herrn S-30 sind die alten, korrupten Eliten in der Ukraine bis heute weitgehend an der Macht geblieben. Ab 1992 wurde das ehemals staatliche Unternehmen, in dem Herr



4. Zugewanderte Personen281

S-30 bis dahin gearbeitet hatte, privatisiert und von einigen ehemaligen An­ gestellten des Unternehmens, zu denen auch Herr S-30 gehörte, weiterge­ führt. Im Laufe der 1990er und 2000er Jahre nahmen die Auftragseingänge jedoch stark ab, so dass immer mehr Angestellte entlassen werden mussten oder von selbst gingen. Zuletzt bestand die Firma nur noch aus einer Hand­ voll fest angestellter Mitarbeiter; die Einnahmen waren nach Abzug aller Kosten dementsprechend eher niedrig und schwankten zudem stark. Die ukrainische Rente, die Herr S-30 seit seinem 60. Lebensjahr bezog, hätte für sich genommen keinesfalls ausgereicht, um den Lebensunterhalt ab­ zudecken (sie betrug nach Angaben von Herrn S-30 umgerechnet gerade ein­ mal 25 Dollar im Monat); so dass Herr S-30 zusätzlich zu seiner Rente bis zu seiner Ausreise nach Deutschland mit 66 Jahren weiterhin erwerbstätig blieb. Herr S-30 gibt an, er und seine zweite Ehefrau seien in den Jahren vor ihrer Ausreise aus der Ukraine zwar „nicht vor Hunger gestorben“, aber die Ein­ kommenssituation sei insgesamt doch sehr unbefriedigend gewesen; das Ein­ kommen habe nicht gereicht, um größere Ersparnisse zu bilden. Die Ehefrau von Herrn S-30 hat als Leiterin der Anzeigenabteilung bei einer Tageszeitung nach eigenen Angaben rund 50 Dollar im Monat verdient; sie berichtet, ihr Gehalt sei zudem zunehmend unregelmäßig ausgezahlt worden. Die Entscheidung zur Übersiedlung nach Deutschland ist bereits im Jahr 2000 gefallen. Herr S-30 und seine heutige zweite Ehefrau, die bereits 10 Jahre ohne Trauschein zusammengelebt und an sich nicht vorgehabt hatten, zu heiraten, da sie auf die Ehe an sich keinen großen Wert legten, entschlossen sich, zu heiraten, um auch der Ehefrau die Einreise nach Deutschland zu ermöglichen. 2001 wurde der Antrag gestellt. Herr S-30 berichtet von diversen Komplikationen im Zusammenhang mit dem An­ tragsverfahren, das insgesamt vier Jahre gedauert hat. Da Herr S-30 noch vor dem Krieg geboren war, war seine jüdische Abstammung nicht in sei­ nem ukrainischen Pass vermerkt, so dass Herr S-30 eine Vielzahl von Be­ scheinigungen (Stammbaum etc.) beibringen musste, was viel Zeit und an­ gesichts notwendiger Übersetzungsarbeiten und Reisen von Odessa nach Kiew auch viel Geld gekostet hat. Herr S-30 und seine nicht-jüdische Ehefrau waren im Rahmen des Aufnahmeverfahrens jedoch nicht dazu ge­ zwungen, einen Sprachtest abzulegen; sie mussten auch keinen Einkom­ mensnachweis erbringen, da sie über eine offizielle Einladung einer jüdi­ schen Gemeinde verfügten. Nichtsdestotrotz haben Herr S-30 und seine Frau bereits in Odessa Sprachkurse am dortigen Goethe-Institut belegt und das Zertifikat der deutschen Sprache A1 erworben. In Deutschland hat Herr S-30 seit seiner Einreise im Jahr 2005 nicht mehr gearbeitet. Grundsätzlich hätte er gerne noch gearbeitet, da er in den ersten Jahren nach seiner Einreise noch keine gesundheitlichen Beschwer­

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V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen

den hatte. Dies war jedoch insbesondere aufgrund der sprachlichen Barriere nicht möglich: I

Als Sie nach Deutschland gekommen sind, 66 Jahre alt, war Ihre Gesundheit da noch in Ordnung? A Ja. […] Und ich möchte arbeiten noch, wann ich komme. Aber ich kann ar­ beiten nur in russische Firma. Wie kann ich übersetzen, was ich kann. In Deutschland mit meiner deutschen Sprache kann ich das nicht.

Auch die Ehefrau von Herrn S-30, die zum Zeitpunkt der Zuwanderung 52  Jahre alt gewesen ist, hat aufgrund der Sprachbarriere nach eigenen Angaben kaum eine Chance auf dem deutschen Arbeitsmarkt gehabt. Seit ihrer Einreise hat sie gemeinsam mit ihrem Ehemann einen insgesamt drei­ jährigen Integrationskurs besucht und weitere Maßnahmen des Arbeitsamtes (Computerkurs, Bewerbungstraining) absolviert; zudem ist sie ehrenamtlich in einem Altersheim tätig. Mittlerweile 60 Jahre alt und seit 8 Jahren im ALG II-Bezug, geht sie nicht mehr davon aus, in Deutschland noch einmal regulär erwerbstätig zu sein, zumal sie mittlerweile viel Zeit auf die Betreu­ ung ihres schwerkranken Ehemanns verwenden muss. Sie wird somit vor­ aussichtlich in ca. 5 Jahren aus dem SGB  II in die Grundsicherung im Alter überwechseln. Seit 2010 hat sich der Gesundheitszustand von Herrn S-30 massiv ver­ schlechtert. Er ist an Magen- und Speiseröhrenkrebs erkrankt; seit 2010 musste er sich mehreren schweren Operationen (u. a. Entfernung des Ma­ gens) sowie einer Chemotherapie unterziehen. Insgesamt ist Herr S-30 mit seiner Entscheidung, nach Deutschland überzusiedeln, jedoch sehr zufrie­ den. Durch seine Übersiedlung nach Deutschland profitiert er neben der materiellen Sicherheit insbesondere von den Leistungen des deutschen Ge­ sundheitssystems, ohne die er nach eigener Einschätzung „schon längst tot“ wäre. Im Interview drücken er und seine Frau daher ihre große Dankbarkeit gegenüber dem deutschen Staat aus: A2 (Ehefrau): Er fragte immer, warum Deutschland bezahlt mir Rente und Uk­ raine nein? [lacht] Und das ist … ja, weiß nicht. A (Herr S-30): 50  Jahre ich arbeite in Ukraine. In Deutschland arbeite ich … keine Arbeit. Und bezahlen mehr wie Ukraine, mehr als Ukraine gibt mir Pension … Ich verstehe nicht. Und ich muss nur sagen: Vielen Dank! Ich kann nicht helfen, dieses Deutschland … ich habe … ich kann nicht. Aber ich will.

cc) Sozialpolitische Perspektiven Die Teilgruppe der jüdischen Zuwanderer genießt unter den verschiede­ nen nicht-deutschstämmigen Zuwanderergruppen einen gewissen Sondersta­ tus, der sich aus der historischen Verantwortung Deutschlands ergibt. Zu­



4. Zugewanderte Personen283

mindest bis 2005 lagen für diese Gruppe im Hinblick auf ihre zuwande­ rungsrechtliche und sozialpolitische Behandlung daher „relativ privilegierte Integrationsvoraussetzungen vor“ (Tröster 2013: 81). Bei der Beurteilung des Integrationserfolgs muss sicherlich berücksichtigt werden, dass gerade in den 1990er Jahren die allgemeine wirtschaftliche Lage in Deutschland relativ angespannt und die Aufnahmefähigkeit des Arbeitsmarktes daher letztlich auch stark begrenzt gewesen ist. Auch wenn die Gruppe der jüdischen Zuwanderer mittlerweile auch in der veröffentlichten Meinung zunehmend als sozialpolitische Problemgrup­ pe identifiziert und thematisiert wird (Kamann 2013), so kann jedoch zu­ mindest für die im Rahmen der vorliegenden Studie befragten Betroffenen festgestellt werden, dass der Zuzug nach Deutschland trotz ihrer Grundsi­ cherungsbedürftigkeit eine enorme, kaum zu überschätzende Verbesserung ihrer persönlichen Lebenslage bedeutet hat. Dies betrifft nahezu alle Le­ bensbereiche, insbesondere die Rechts- und Statussicherheit (und damit auch die rein physische Sicherheit), die finanziellen Ressourcen und die Ausstattung mit Wohnraum. So beschreiben Herr und Frau S / K-43 die Le­ bensverhältnisse in ihrer damaligen Gemeinschaftswohnung (Kommunalka) in Odessa und den Wechsel nach Deutschland folgendermaßen: A Wir sind Leute, welche haben gewohnt in Kommunalka, kennen Sie, was bedeutet? Ein Flur, unsere Zimmer- ein Zimmer, zweite Zimmer für zweite Familie, dritte Zimmer für dritte Familie, vierte Zimmer für vierte Familie. Eine Toilette für 20 Leute. In Odessa, das war unsere Wohnung. Ohne Toilet­ te, ohne Wasser, nicht heiße – kalte Wasser wir haben nur eine Stunde pro Tag. Abend. […] Und jetzt in Deutschland für uns Paradies!

Die Befragten berichten zudem übereinstimmend, dass angesichts der gerade auch in den letzten Jahren stark gestiegenen Lebenshaltungskosten die in Russland bzw. in der Ukraine gewährte Altersrente nicht zur Siche­ rung des sozialen Existenzminimums ausreicht; insbesondere in der Ukraine herrscht augenblicklich bittere Altersarmut. Von unschätzbarer Bedeutung für die Befragten ist schließlich die gegenüber der Situation in ihrem Her­ kunftsland deutlich bessere medizinische Versorgung in Deutschland; so­ wohl im Fall von Herrn S-30, der an Krebs erkrankt ist, als auch im Fall von Herrn S / K-43, der seit 1996 insgesamt vier Herzinfarkte überlebt hat, stellt die Übersiedlung nach Deutschland eine im wahrsten Sinne des Wor­ tes lebensverlängernde Maßnahme dar. Ähnlich wie bei der Gruppe der (Spät-)Aussiedler / -innen ist jedoch auch für die jüdischen Kontingentflüchtlinge die Tür nach Deutschland, die 1991 noch weit offen stand, mittlerweile allenfalls noch angelehnt. Durch die 2005 wirksame Neuregelung der Aufnahmevoraussetzungen ist die Zuwanderung dieser Gruppe im Ergebnis stark gedrosselt worden, was letztlich auch die (unausgesprochene) Zielsetzung der Gesetzesänderung gewesen sein dürfte.

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V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen

Da der Zuzug von jüdischen Kontingentflüchtlingen seit einigen Jahren fast komplett zum Erliegen gekommen ist, handelt es sich um eine weitgehend abgeschlossene Zuwanderung. Die Gruppe der jüdischen Kontingentflücht­ linge der „ersten Generation“ wird somit demografisch bedingt mittel- und langfristig deutlich schrumpfen. So wie bei anderen Zuwanderergruppen auch, wird die Zukunft der zweiten Generation bereits in Deutschland aufge­ wachsener Menschen mit jüdischem Zuwanderungshintergrund entscheidend von ihrer Integration in das Bildungssystem und den Arbeitsmarkt abhängen; zumindest hinsichtlich ihrer Qualifikationen und Bildungsaspirationen bringt die Teilgruppe der jüdischen Kontingentflüchtlinge in diesem Zusammen­ hang vergleichsweise gute Voraussetzungen mit. Insgesamt dürfte der Anteil der jüdischen Kontingentflüchtlinge an der Grundsicherungspopulation daher in den nächsten Jahrzehnten deutlich abnehmen. 5. Umbruchsgeprägte Ostdeutsche a) Historische und rentenrechtliche Rahmenbedingungen Im Zuge der deutschen Wiedervereinigung kam es auch in der Alterssiche­ rung der damaligen DDR zu einem Systemwechsel. Die zentrale „Systement­ scheidung“ (Kerschbaumer 2011: 22), die gesetzlichen Rentenversicherung nach bundesdeutschem Recht auch in Ostdeutschland einzuführen, wurde bereits im Staatsvertrag („Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirt­ schafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik“) vom 18.5.1990 festgeschrieben. Mit dem zur Umsetzung dieser Festlegung des Staatsvertrags von der da­ maligen DDR-Regierung erlassenen Rentenangleichungsgesetz vom 28.6. 1990 wurde innerhalb des DDR-Rentenrechts bereits ein großer Schritt in Richtung des westdeutschen Systems gemacht: Zum 1. Juli 1990 wurden die Renten der DDR im Verhältnis 1:1 auf D-Mark umgestellt; die Durchschnitts­ rente nach 45 Versicherungsjahren wurde auf 70 % des ostdeutschen Netto­ lohns angehoben und nach westdeutschem Vorbild gemäß der (ostdeutschen) Nettolohnentwicklung dynamisiert. Im Gegenzug wurde die Rentenversiche­ rung aus dem übrigen Staatshaushalt herausgelöst; erstmals wurde ein eigen­ ständiger Rentenversicherungsbeitrag auf westdeutschem Niveau erhoben. Die für bestimmte Berufsgruppen bestehenden Zusatz- und Sonderversor­ gungssysteme wurden geschlossen und in die Rentenversicherung überführt. Im Einigungsvertrag („Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR über die Herstellung der Einheit Deutschlands“) vom 31.8.1990 wurde das mittelfristige Ziel festgelegt, mit der schrittweisen Angleichung der Löhne und Gehälter in den neuen Bundesländern auch eine Angleichung



5. Umbruchsgeprägte Ostdeutsche

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der Renten zu verwirklichen. Auf dieser Grundlage wurde im Juli 1991 das Rentenüberleitungsgesetz („Gesetz zur Herstellung der Rechtseinheit in der gesetzlichen Renten- und Unfallversicherung“) verabschiedet, das zum 1.1.1992 in Kraft getreten ist. Mit der Einführung des SGB VI wurden zum 1.1.1992 rund vier Millionen Renten für rund 3,1 Millionen Rentnerinnen und Rentner aus den neuen Bundesländern umgestellt; Löhne und Erwerbs­ biografien ehemaliger DDR-Bürger werden seitdem im Grundsatz so behan­ delt, als ob die Betroffenen im damaligen Westdeutschland gelebt hätten. Wegen der nach wie vor bestehenden und insbesondere in der ersten Hälfte der 1990er Jahre noch enormen Lohnunterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland gelten in der Rentenversicherung seit 1992 jedoch unter­ schiedliche Rechengrößen in den alten und den neuen Bundesländern. Die Rentenberechnung in Ostdeutschland erfolgt dabei in einem zweistufigen Ver­ fahren. Zunächst werden die in den neuen Bundesländern erzielten Brutto­ arbeitsentgelte mit einem gesetzlich festgelegten, jährlich aktualisierten Faktor hochgewertet, der den Abstand zwischen dem Durchschnittsentgelt Ost und dem Durchschnittsentgelt West abbildet (§ 256 a SGB  VI in Ver­ bindung mit Anlage 10 des SGB VI); im Durchschnitt der letzten Jahre sind die Bruttoentgelte Ost auf diese Weise um ca. 17 % hochgewertet worden. In einem zweiten Schritt werden die ermittelten Entgeltpunkte jedoch mit einem gegenüber dem westdeutschen Referenzwert niedrigeren aktuellen Rentenwert (Ost) multipliziert, so dass die Effekte der Höherwertung der Bruttoeinkommen dadurch größtenteils wieder ausgeglichen werden. Der aktuelle Rentenwert (Ost) muss im Rahmen der jährlichen Rentenan­ passung allerdings mindestens genauso stark angehoben werden wie der ak­ tuelle Rentenwert West, damit die angestrebte Angleichung der Rentenwerte nicht durch eine schlechtere Lohnentwicklung im Beitrittsgebiet wieder hin­ ter das bereits erreichte Niveau zurückfällt (§ 255a Absatz 2 SGB VI). Diese „Schutzklausel Ost“ hat dazu beigetragen, dass die Standardrente in Ost­ deutschland in den letzten Jahren etwas stärker gestiegen ist als in West­ deutschland. Mit der Rentenanpassung zum 1. Juli 2014 ist der aktuelle Ren­ tenwert (Ost) auf nunmehr 26,39 Euro gestiegen; er liegt mittlerweile bei 92,2 % des aktuellen Rentenwerts in den alten Ländern (28,14 Euro). Insgesamt handelt es sich bei der Rentenberechnung in den neuen Bun­ desländern um einen relativ umständlichen, den massiven ökonomischen Niveauunterschieden zwischen der alten BRD und der DDR geschuldeten Mechanismus, der für Laien schwer zu durchschauen ist und daher immer wieder zu Missverständnissen und politischen Kontroversen führt. Die nach wie vor nicht vollzogene gesetzliche Vereinheitlichung der Rentenberech­ nung und -anpassung in West- und Ostdeutschland ist daher schon seit langem ein erklärtes Ziel der wechselnden Bundesregierungen. Auch im

286

V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen

aktuellen Koalitionsvertrag ist vorgesehen, die Vereinheitlichung des Ren­ tenrechts weiter voranzutreiben; die „Renteneinheit“ soll durch ein geplantes „Rentenüberleitungsabschlussgesetz“ bis zum Jahr 2020 vollendet werden (CDU / CSU / SPD 2013: 53). Bislang hat die Bundesregierung hierzu aller­ dings noch keine konkreten Pläne vorgelegt. Ungeachtet der noch immer nicht abgeschlossenen Vereinheitlichung des Rentenrechts lässt sich feststellen, dass die Übertragung des westdeutschen Rentenrechtes auf die „neuen“ Bundesländer einen bemerkenswerten Aus­ druck der kollektiven innerdeutschen Solidarität darstellt, der nach wie vor mit einem nicht unerheblichen Einkommenstransfer von West- nach Ost­ deutschland verbunden ist;26 ostdeutsche Seniorinnen und Senioren können daher im Großen und Ganzen durchaus als Gewinner der Wiedervereinigung angesehen werden. Die Umstellung auf das westdeutsche System mit seiner engen Bindung der Rentenhöhe an die vorangegangene Erwerbsbiografie war insbesondere für diejenigen ostdeutschen Geburtsjahrgänge äußerst günstig, die zum Zeit­ punkt der Wiedervereinigung bereits verrentet oder zumindest in rentenna­ hem Alter waren. Sie profitierten bei der Rentenberechnung zum einen von ihren meist langen und größtenteils unterbrechungsfreien Erwerbsbiografien in der DDR; dies gilt insbesondere für die ostdeutschen Frauen, unter denen der Anteil langjährig Erwerbstätiger deutlich höher war als in der alten Bundesrepublik. Zum anderen profitierten sie insbesondere in der ersten Hälfte der 1990er Jahre vermittelt über die Rentenanpassung von den da­ mals sehr starken Lohnerhöhungen in den neuen Bundesländern, ohne dabei die wachsenden Beschäftigungsrisiken noch mittragen zu müssen. Im Er­ gebnis liegen die durchschnittlichen Altersrenten im ostdeutschen Rentenbe­ stand bereits seit 1995 konstant über denjenigen in den alten Bundesländern. Im Jahr 2013 lag der durchschnittliche Zahlbetrag der Bestandsrente wegen Alters in den ostdeutschen Bundesländern rund 22 % höher als in den west­ deutschen Bundesländern; bei den Männern betrug die Differenz 9,3 %, bei den Frauen sogar ganze 47,5 %.27 26  Berechnungen der Deutschen Rentenversicherung Bund kommen für das Jahr 2009 auf ein innerdeutsches Transfervolumen von 14,3 Mrd. Euro (Reineke 2012). 27  Bei dem Vergleich der Rentenhöhen in den alten und den neuen Bundesländern ist allerdings zu berücksichtigen, dass zum Kreis der ostdeutschen Rentenbezieher auch Mitglieder einer ganzen Reihe von Berufsgruppen mit vergleichsweise hohem Einkommen gehören, die in Westdeutschland nicht in der GRV, sondern in berufs­ ständischen Versorgungswerken bzw. über die Beamtenversorgung abgesichert sind. In den ostdeutschen Renten sind somit auch Teile der Anwartschaften aus den in der DDR seinerzeit bestehenden Zusatz- und Sonderversorgungssystemen enthalten, wo­ durch die statistisch ausgewiesene Durchschnittsrente in den neuen Bundesländern entsprechend höher ausfällt.



5. Umbruchsgeprägte Ostdeutsche287 Tabelle 46 Durchschnittliche Rentenzahlbeträge, Bestandsrenten wegen Alters (2013) West

Ost

Differenz in EUR

Differenz in %

Männer

1003

1096

 93

  9,3 %

Frauen

  512

  755

243

47,5 %

Gesamt

 734

 896

162

22,1 %

Quelle: DRV Bund, Rentenbestandsstatistik 2013.

Gerade für die Menschen in den östlichen Bundesländern gilt jedoch, dass die Leistungen der GRV nicht nur die wichtigste, sondern oftmals auch die einzige Einkommensquelle im Alter darstellen, da zusätzliche Einkom­ mensquellen wie Lebensversicherungen, Betriebsrenten und sonstige Kapi­ taleinkünfte nach wie vor eher selten sind. Gemäß den Ergebnissen der Studie „Alterssicherung in Deutschland 2011“ (ASID 2011) stammen 91 % des gesamten Bruttoeinkommensvolumens der heutigen Ruhestandsgenera­ tionen in den neuen Ländern aus Zahlungen der GRV, während der entspre­ chende Wert in den alten Bundesländern nur 58 % beträgt (Bieber et  al. 2013: 54). Insgesamt weisen ostdeutsche Seniorinnen und Senioren daher im Durchschnitt geringere Haushaltseinkommen auf als westdeutsche Rent­ nerinnen und Rentner; bei Ehepaaren lag der Einkommensunterschied im Jahr 2011 bei rund 20 % (2.537 Euro / Monat in Westdeutschland gegenüber 2.019 Euro / Monat in Ostdeutschland). Die vergleichsweise langen und geschlossenen Erwerbsbiografien und die relativ egalitäre Einkommensverteilung in der DDR wirken zumindest bei den jetzigen ostdeutschen Bestandsrentnerinnen und Bestandsrentnern noch stark nach. Die im Vergleich zu den alten Bundesländern geringere Sprei­ zung der Rentenanwartschaften trägt wesentlich dazu bei, dass ostdeutsche Seniorinnen und Senioren vergleichsweise selten von Grundsicherungsbe­ dürftigkeit betroffen sind: So lagen die Grundsicherungsquoten in den fünf neuen Ländern ohne Berlin im Jahr 2012 zwischen 1 % (Thüringen, Sach­ sen) und 1,6 % (Mecklenburg-Vorpommern), während sie in den westdeut­ schen Flächenstaaten zwischen 2,1 % (Baden-Württemberg) und 3,5 % (Nordrhein-Westfalen) und damit in etwa doppelt so hoch lagen. Die Arbeitsmarktsituation in Ostdeutschland hat sich nach der Wiederver­ einigung jedoch radikal geändert. Die Arbeitslosenquote in den neuen Bun­ desländern ist im Durchschnitt der Jahre 1991 bis 2013 mit rund 16,3 % rund doppelt so hoch gewesen wie in den alten Bundesländern (8,5 %); im Jahr 2013 lag sie mit 11,6 % immer noch rund 5 Prozentpunkte höher als in Westdeutschland. Die schlechte ostdeutsche Arbeitsmarktentwicklung

288

V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen 25 %

20 % 15 % 10 % 5%

0%

Deutschland

West

Ost

Quelle: Bundesagentur für Arbeit, Arbeitslosigkeit im Zeitverlauf 2014.

Abbildung 17: Arbeitslosenquoten (in % aller abhängigen zivilen Erwerbspersonen – 1991–2013)

nach der Wiedervereinigung und der damit verbundene Wandel der Er­ werbsbiografien haben bei den jüngeren Kohorten deutliche Spuren hinter­ lassen; mittlerweile kommen zunehmend Menschen ins Ruhestandsalter, bei denen ein längerer Teil ihres beruflich aktiven Lebens nach der deutschen Vereinigung stattgefunden hat und deren Erwerbsbiografien demgemäß von größerer Einkommensungleichheit und zunehmenden Zeiten der Arbeitslo­ sigkeit geprägt sind. Auswertungen der Mikrodaten der Rentenzugangsstatistik (Frommert / Him­ melreicher 2010, Himmelreicher 2013) zeigen, dass insbesondere die männ­ lichen Rentnerzugänge in Ostdeutschland im Zeitverlauf einen deutlichen Rückgang ihrer Rentenanwartschaften aufweisen. So sind die Entgeltpunkte des ostdeutschen Median-Zugangsrentners seit 1993 von 51 Entgeltpunkten (EP) auf 38 EP im Jahr 2011 gesunken. Zudem lässt sich feststellen, dass auch die Verteilung der Anwartschaften bei den männlichen Neurentnern in Ostdeutschland im Zeitverlauf erkennbar ungleicher geworden ist. Die An­ wartschaften der ostdeutschen Neurentnerinnen sind im gleichen Zeitraum zwar nur vergleichsweise geringfügig gesunken (von 31 EP im Jahr auf 28 EP im Jahr 2011); auch hier hat aber die Streuung der Renten zugenommen. Diese Entwicklung der gesetzlichen Altersrenten, die sich auch in Zukunft fortsetzen dürfte, lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: „Je kürzer die DDR-geprägten Erwerbsbiografien (das heißt ohne Arbeitslosigkeit und mit geringer Lohnspreizung) sind, desto niedriger werden die Anwartschaften und umso höher deren Spreizung.“ (Himmelreicher 2013: 294)



5. Umbruchsgeprägte Ostdeutsche289

Von besonderer Bedeutung für die Höhe und Entwicklungen der Alters­ renten in den neuen Bundesländern sind die Abschläge bei vorzeitigem Renteneintritt, von denen ostdeutsche Zugangsrentner / innen deutlich häufi­ ger betroffen sind als westdeutsche Zugangsrentner / -innen. So mussten nach den Daten der Rentenzugangsstatistik der DRV Bund im Jahr 2013 rund 54 % der ostdeutschen Neurentner und 61 % der ostdeutschen Neurent­ nerinnen Abschläge bei ihrer Altersrente hinnehmen, während dies nur bei 36 % der westdeutschen Männer und 30 % der westdeutschen Frauen der Fall war; in früheren Jahren ist der Unterschied zwischen den alten und den neuen Bundesländern teilweise noch deutlich höher ausgefallen. b) Ausgewählte Fallbeispiele Die Jahrgänge 1938 bis 1947, die im Mittelpunkt der vorliegenden Studie stehen, sind im Jahr 1990, dem Jahr der deutschen Wiedervereinigung, zwischen 43 und 52  Jahre alt gewesen. Sie haben somit seit ihrem 18.  Le­ bensjahr zwischen 25 und 34 Versicherungsjahre in der DDR zurückgelegt; im wiedervereinigten Deutschland kamen bis zum Erreichen des gesetz­ lichen Renteneintrittsalters noch 13 bis 22 Jahre hinzu. Nicht alle Mitglieder dieser Geburtskohorten sind jedoch von den Umbrü­ chen des ostdeutschen Arbeitsmarktes im Gefolge der deutschen Wiederver­ einigung gleichermaßen (negativ) betroffen gewesen. Für die Zuordnung der Einzelfälle zur Gruppe der „Umbruchsgeprägten Ostdeutschen“ ist daher ent­ scheidend, welche unmittelbaren und mittelbaren Auswirkungen die struktu­ rellen Umbrüche des ostdeutschen Arbeitsmarktes auf die individuelle Er­ werbsbiografie und auf das spätere Alterseinkommen der betroffenen Perso­ nen gehabt hat. Ist es nach der Wende zu einer verstärkten Diskontinuität und zu längeren Phasen der Arbeitslosigkeit im individuellen Erwerbsverlauf ge­ kommen? Inwiefern lässt sich somit von einer mehr oder weniger deutlich zweigeteilten Erwerbsbiografie (vor der Wende / nach der Wende) sprechen? Inwiefern lässt sich die individuelle Grundsicherungsbedürftigkeit auf einen solchen Bruch in der Erwerbsbiografie zurückzuführen? In unserem Untersuchungssample finden sich insgesamt 6 Personen aus den neuen Bundesländern. Auffallend ist zunächst, dass die ostdeutschen Grundsicherungsbezieher / -innen, die im Übrigen alle alleinlebend sind, mit durchschnittlich rund 600 Euro / Monat eine deutlich höhere GRV-Rente beziehen als der Durchschnitt der Grundsicherungsbezieher / -innen im Sam­ ple; dementsprechend fällt der individuelle Aufstockungsbedarf in der Grundsicherung mit durchschnittlich 166 Euro auch eher niedrig aus. Die relativ hohen GRV-Renten beruhen auf der größtenteils kontinuierlichen Vollzeiterwerbstätigkeit in der DDR-Zeit: Im Schnitt weisen die Betroffenen

290

V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen

bis zur Wiedervereinigung rund 21 Erwerbsjahre in Vollzeit auf; Ausbil­ dungszeiten sind dabei nicht mit eingerechnet. Nach der Wiedervereinigung haben die meisten Betroffenen hingegen kaum noch in sozialversicherungs­ pflichtiger Vollzeit gearbeitet und dementsprechend auch nur noch geringe zusätzliche Rentenanwartschaften erworben. Das eigenständige Alterseinkommen der ostdeutschen Grundsicherungs­ bezieher / -innen beruht somit größtenteils auf dem Teil  der Erwerbsbiogra­ fie, der noch in der DDR stattgefunden hat. Neben der hohen Verbreitung von (Langzeit-)Arbeitslosigkeit nach 1990 fällt bei den ostdeutschen Be­ fragten zudem auf, dass es nach der Wende häufig zu gesundheitlichen (insbesondere psychischen) Problemen gekommen ist; in drei von sechs Fällen ist schließlich eine volle Erwerbsminderung eingetreten. Insgesamt weisen die Biografien der ostdeutschen Befragten also durchaus übergrei­ fende Muster auf; man kann vereinfachend von einer zweigeteilten Biogra­ fie sprechen, deren erste Phase von starker Kontinuität und deren zweite Phase von starker Diskontinuität geprägt ist. Betrachtet man die Einzelfälle allerdings genauer, so ist festzustellen, dass von den sechs ostdeutschen Personen im Sample lediglich drei in en­ gerem Sinne als „umbruchsgeprägt“ zu bezeichnen sind. Die drei anderen Befragten sind hingegen im Hinblick auf ihre (Erwerbs-)Biografie nicht bzw. nicht unmittelbar negativ von den Umbrüchen der Wende betroffen gewesen, so dass sie nicht der Gruppe der „Umbruchsgeprägten Ostdeut­ schen“, sondern anderen Gruppen zuzurechnen sind: − Frau R-47, geboren 1938, dreimal geschieden, 4 Kinder, war bis zu ihrem 35.  Lebensjahr in der DDR nicht erwerbstätig, sondern hat sich um die Kinder und den Haushalt gekümmert. Von 1973 bis 1998 arbeitete sie 25  Jahre lang in Vollzeit als Pflegehelferin in einem Altersheim (kirchli­ cher Träger), bevor sie mit 60 abschlagsfrei in die vorgezogene Alters­ rente für Frauen gegangen ist. Die Wiedervereinigung hatte somit keine Auswirkungen auf ihre Erwerbsbiografie; maßgeblich für ihre Grundsi­ cherungsbedürftigkeit sind vielmehr die lange familienbedingte Erwerbs­ unterbrechung und der vergleichsweise geringe Verdienst im Rahmen ihrer Hilfstätigkeit, so dass sie am ehesten der Gruppe der „familienori­ entierten Frauen“ zuzurechnen ist. − Frau S-53, geboren 1947, zweimal geschieden, 1 Kind, war vor der Wen­ de zunächst einige Jahre bei der Handelsmarine und später im Hotel- und Gastronomiebereich tätig. Zwar verlor auch sie wenige Jahre nach der Wiedervereinigung ihre Anstellung und wurde arbeitslos; prägendes Merkmal ihrer Biografie ist jedoch ihre seit dem frühen Erwachsenenalter bestehende Alkoholkrankheit, die dazu geführt hat, dass Frau S-53 bereits Mitte der 1990er Jahre faktisch nicht mehr erwerbsfähig und auch nicht



5. Umbruchsgeprägte Ostdeutsche291 Tabelle 47 Ostdeutsche Grundsicherungsbezieher / -innen im Untersuchungssample Nr.

Name

(Erwerbs-)Biografie vor 1990

Alter bei Einheit (1990)

(Erwerbs-)Biografie nach 1990

GRVRente

Umbruchsgeprägt?

1

Fr. R-47

15  Jahre familienbedingte Erwerbsunterbrechung, danach 17 Jahre Hilfstätigkeit in Altersheim

52

Hilfstätigkeit in Altersheim, 1998 mit 60 in Altersrente für Frauen

486

nein

2

Hr. B-48

24 Jahre ununterbrochene Erwerbstätigkeit in verschiedenen Positionen

41

Zwei Jahre in SVP-VZ, danach Arbeitslosigkeit, mehrere Jahre in prekärer Beschäftigung, psychische Probleme, volle EM mit 57

759

ja

3

Fr. M-49

Kurze familienbedingte Erwerbsunterbrechung; insgesamt ca. 25  Jahre Erwerbstätigkeit

49

Zwei Jahre in SVP-VZ, danach Langzeitarbeits­ losigkeit

545

ja

4

Fr. S-53

Kurze familienbedingte Erwerbsunterbrechung; ca. 20 Jahre Erwerbstätig­ keit in der Handelsmarine sowie im Bereich Gastronomie

43

Ein bis zwei Jahre in SVP-VZ, Alkoholkrankheit, langer Klinikaufenthalt, gesetzlicher Betreuer, volle EM mit 53

582

nein

5

Fr. R-54

25  Jahre Erwerbstätigkeit in verschiedenen Großbetrieben

44

Arbeitslosigkeit, psych. Erkrankung, volle EM mit 49

642

ja

6

Hr. F-55

Ingenieursstudium; ca. 17 Jahre Ökonomie­ direktor in Möbelkombinat

43

ca. 10 J. erfolgreiche Selbstständigkeit (Einzelhandelskette), dann psych. Erkrankung, Mindestsicherung

586

nein

Quelle: Eigene Darstellung.

mehr zu einer selbstständigen Lebensführung in der Lage war. In der Folge kam es zu erheblichen Mietschulden, Verwahrlosung, längeren Klinikaufenthalten und schließlich zur vollen Erwerbsminderung, so dass Frau S-53 in der Gesamtbetrachtung am ehesten der Gruppe der „Kom­ plex Diskontinuierlichen“ zuzuordnen ist. − Herr F-55, geboren 1947, einmal geschieden, zwei Kinder, war vor der Wende Ökonomiedirektor eines Möbelkombinats. Nach der Wende hatte er die Möglichkeit, bei einem großen westdeutschen Handelskonzern als Manager mit ausgesprochen guten Gehalt einzusteigen; er zog es jedoch vor, sich selbstständig zu machen und in Thüringen eine Einzelhandels­ kette für Berufsbekleidung aufzubauen, die in den 1990er Jahren auch relativ erfolgreich war. Ende der 1990er Jahre kam jedoch eine psychi­

292

V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen

sche Krankheit (manische Depression) zum Ausbruch, so dass Herr F-55 nur noch eingeschränkt geschäftsfähig war und es zu unternehmerischen Fehlentscheidungen kam. Innerhalb weniger Jahre brach die Einzelhan­ delskette auseinander und musste schließlich aufgelöst werden; die priva­ ten Vorsorgeersparnisse gingen dabei vollständig verloren. In der Gesamt­ betrachtung ist Herr F-55 somit am ehesten der Gruppe der ehemaligen Selbstständigen zuzurechnen. Die drei Fälle haben gemeinsam, dass die Grundsicherungsbedürftigkeit der betroffenen Personen nicht bzw. nicht in erster Linie auf einen klaren Bruch der individuellen Erwerbsbiografie in Folge des Systemwechsels zurückzuführen ist, sondern dass hier vielmehr andere Faktoren prägend und entscheidend gewesen sind. Sie zeigen jedoch auch, dass die Grenzen hier nicht immer einfach zu ziehen sind, zumal ein enger Zusammenhang zwi­ schen der individuellen Erwerbs- und der individuellen Gesundheitsbiografie besteht und das Verhältnis von Ursache und Wirkung nicht in jedem Ein­ zelfall eindeutig zu bestimmen ist. Die folgenden ausführlichen Fallbeispie­ le konzentrieren sich vor diesem Hintergrund auf diejenigen Fälle, bei denen es nach der Wende zu einem eindeutigen Bruch der individuellen Erwerbs­ biografie gekommen ist, der für die spätere Grundsicherungsbedürftigkeit von hoher bzw. entscheidender Bedeutung gewesen ist. aa) Fallbeispiel 1: Herr B-48 Herr B-48, geboren 1949 in Brandenburg, getrennt lebend, 2 Kinder, bezieht eine Altersrente von 759 Euro, die durch Grundsicherungsleistungen in Höhe von 71 Euro / Monat aufgestockt wird; sein Bruttobedarf beträgt 830 Euro / Monat. Der vergleichsweise hohe Bedarf ist durch die hohen Kosten der Unterkunft bedingt; aufgrund einer anerkannten psychischen Krankheit (Gutachten vom Neurologen) werden die Unterkunftskosten vom Grundsicherungsträger akzeptiert. Herr B-48 besuchte bis zu seinem 14. Lebensjahr die Polytechnische Oberschule, die er nach der 8. Klasse verließ. Seine Ausgangslage war nach seinen eigenen Angaben alles andere als ideal, da sich zum einen seine Eltern geschieden hatten und er zuhause „viel Krieg und Krach“ mitbekam, so dass sein Schulzeugnis eher mittelmäßig ausfiel, und zum anderen bei ihm eine Wirbelsäulenverkrümmung festgestellt wurde, so dass er für kör­ perlich schwerere Tätigkeiten in der Industrie nicht geeignet war. Schließ­ lich absolvierte er eine Lehre zum Getreidemüller, die er 1966, mit 17 Jah­ ren, mit dem Facharbeiterbrief abschloss. Nachdem er einige Monate in einem großen Betrieb der Nahrungsgüterwirtschaft gearbeitet hatte, begann er 1967 seinen Wehrdienst; er verpflichtete sich freiwillig als Zeitsoldat für



5. Umbruchsgeprägte Ostdeutsche293

drei Jahre bei der Nationalen Volksarmee (NVA). Hier arbeitete er zunächst als Versorgungs- und später als Wirtschaftsgruppenführer im Bereich rück­ wärtige Dienste (Armeeverpflegungslager, später Offiziersküche); er absol­ vierte eine Unteroffiziersausbildung sowie eine Ausbildung zum Koch, die er 1969 mit seinem zweiten Facharbeiterbrief abschloss. Nach seiner Militärzeit kehrte Herr B-48 zunächst wieder in seinen alten Beruf als Getreidemüller zurück, wo er rund 4 Jahre blieb. 1974, im Alter von 25  Jahren, heiratete er; seine beiden Kinder wurden 1975 und 1978 geboren. Da sich Herr B-48, der FDJ-Sekretär gewesen war, mehrfach über verschiedene Missstände in seinem Produktionsbetrieb sowie bei der öffent­ lichen Wohnraumversorgung beschwerte, wurde er 1975, im Alter von 26 Jahren, wegen „parteischädigenden und parteifeindlichen Auftretens“ aus der Partei ausgeschlossen, was allerdings keine größeren Konsequenzen für seine Berufslaufbahn hatte. Im gleichen Jahr wechselte Herr B-48 von sei­ nem Produktionsbetrieb in einen Verwaltungsbetrieb der Gebäudewirtschaft, wo er insgesamt acht Jahre als stellvertretender Abteilungsleiter in der all­ gemeinen Verwaltung arbeitete. Parallel dazu machte Herr B-48 die 10. Klasse nach und absolvierte eine Ausbildung zum Wirtschaftskaufmann, die er mit 1979 mit seinem mittlerweile dritten Facharbeiterbrief abschloss. Herr B-48 war generell von einem großen Ehrgeiz getrieben, in der DDR Karriere zu machen und sich allmählich in höhere Positionen vorzuarbeiten: A Ich bin immer einer, der [sich] wandelt, der immer noch einen höheren An­ spruch hat, immer noch mal was Neues machen will, nicht stehen bleiben will. Neugierig. Gierig auf Neues!

Von 1983 bis 1985 arbeitete Herr B-48 in der Finanzverwaltung eines Herstellers von Präzisions-Armaturen; 1986, mit 37 Jahren, wurde er Ver­ kaufsstellenleiter im volkseigenen Einzelhandel, wo er sich zwischen 1986 und 1988 zum Meister weiterqualifizierte. Zum Zeitpunkt der Wiederverei­ nigung war Herr B-48 41 Jahre alt; er hatte bis dahin 21 Jahre in sozialver­ sicherungspflichtiger Vollzeitbeschäftigung, drei Jahre Lehre und drei Jahre in der NVA absolviert und sich aus eher schwierigen Ausgangsverhältnissen bis zum Verkaufsstellenleiter hochgearbeitet. Seine beiden Kinder waren zu diesem Zeitpunkt 12 und 15  Jahre alt. Mit der Wiedervereinigung wurde die Erwerbsbiografie von Herrn B-48 jedoch zunehmend brüchig. Der große Supermarkt, in dem Herr B-48 zu­ letzt Schichtleiter gewesen war, wurde Ende 1990 von einem großen west­ deutschen Discounter übernommen; Herr B-48 wurde zwar zunächst als Abteilungsleiter übernommen, allerdings nur für einige Monate in befristeter Anstellung, die nicht verlängert wurde. Danach wechselte er zu einer wei­ teren Supermarktkette, wo er einige Monate als Verkaufsstellenleiter arbei­ tete. Als Herr B-48 sich jedoch im Zuge konzerninterner Umstrukturie­

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V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen

rungsmaßnahmen weigerte, in seiner Filiale Mitarbeiter „wegzurationalisie­ ren“, wurde er Mitte 1991 selbst fristlos entlassen: A Alle Verkaufsstellenleiter wurden zusammengenommen, 14 Frauen, ich als einziger Mann, und jeder sollte sagen, wer sofort aus der Verkaufsstelle als Kraft gehen muss, weil Kostenfaktor Personal zu hoch, ging nicht mehr. […] Jede Frau, jede Verkaufsstellenleiterin hat sofort selektiert, die kann gehen, die kann gehen, wurde sofort notiert und die sind gegangen. […] Da habe ich zu denen gesagt: Was ihr hier betreibt, ist der perfekte Faschismus. Ich sage, bei mir geht keine. Ich habe acht Verkäuferinnen gehabt, die habe ich alle gebraucht. […] Da hat der Vorstandsvorsitzende, ehemals Konsum, das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen, und der hatte das Parteiabzei­ chen … Der hat doch gesagt: Na, wenn bei Ihnen keiner geht, sind Sie der Erste, der geht! Der hat das Parteiabzeichen getragen. Ich dachte, wer bist du denn?! Ich sage, hier geht keiner! […] Ich habe sofort die fristlose Entlassung gekriegt.

Anschließend wechselte Herr B-48 zu einer Drogeriekette, wo er jedoch nicht mehr als Abteilungs- oder Marktleiter, sondern zunächst nur als ein­ facher Verkäufer angestellt wurde. Nach und nach übernahm Herr B-48 hier zusätzliche Verantwortung; mittelfristig strebte er an, zum stellvertretenden Leiter seiner Filiale aufzusteigen. Anfang 1993, nach rund 1½  Jahren Be­ triebszugehörigkeit, wurde Herr B-48 jedoch auch hier entlassen; Herr B-48 führt dies darauf zurück, dass er seinerzeit zusammen mit seinen Kollegen einen Betriebsrat gründen wollte und der Geschäftsführung daher unange­ nehm geworden sei. Dieser erneute Arbeitsplatzverlust (der dritte innerhalb von drei Jahren) war für den mittlerweile 44-jährigen Herrn B-48 ein schwerer Schlag; seit seiner Entlassung im Jahr 1993 hat Herr B-48 schwere psychische Probleme (Neurose / Angststörung), die ihn auch zum Zeitpunkt des Interviews (Früh­ jahr 2014) noch stark belasten. Rund drei Jahre nach der Wende hatte Herr B-48 den Glauben an die „soziale Marktwirtschaft“ vollends verloren; er fand die in der DDR üblichen Negativaussagen über das Wesen des westli­ chen Kapitalismus vielmehr in der Realität vollauf bestätigt. Im Zuge seiner mehrmonatigen Arbeitslosigkeit und seiner erfolglosen Arbeitsplatzsuche entwickelte er zunehmende Existenzängste; für sein subjektives Selbstwert­ gefühl war dabei auch sehr problematisch, dass seine Frau, die bei der Kreisverwaltung angestellt war und ihren Arbeitsplatz nach der Wende zu­ nächst behalten hatte, zwischenzeitlich als Familienernährerin fungierte, während er keine Arbeit hatte. Schließlich entschied sich Herr B-48 Ende 1993, einen Personenbeförde­ rungsschein zu machen; zwischen 1993 und 2001 arbeitete er mit mehreren Unterbrechungen rund 8 Jahre sozialversicherungspflichtig als Taxifahrer im Raum Potsdam. In dieser Zeit kam es einerseits immer wieder zu krank­ heitsbedingten Ausfällen (u. a. durch einen zehnwöchigen Klinikaufenthalt



5. Umbruchsgeprägte Ostdeutsche

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im Jahr 1995); zum anderen absolvierte Herr B-48 mehrere vom Arbeitsamt finanzierte Fortbildungsmaßnahmen, u. a. eine knapp einjährige Anpassungs­ qualifizierung für Angestellte als Kaufmann im Groß- und Außenhandel (1996–1997). Trotz dieser Qualifizierungsmaßnahmen gelang es Herrn B-48 jedoch nicht, in ein dauerhaftes sozialversicherungspflichtiges Beschäfti­ gungsverhältnis zu kommen, so dass er weiterhin als Taxifahrer arbeiten musste. 1999, nach 25  Jahren Ehe, kam es zur dauerhaften Trennung von seiner Ehefrau; eine Scheidung ist bis heute nicht vollzogen worden, ob­ wohl die Ehepartner kaum noch Kontakt zueinander haben. Die finanzielle Lage von Herrn B-48 verschlechterte sich angesichts seiner niedrigen Ver­ dienste als Taxifahrer zunehmend. Anfang 2001, mit 51 Jahren, kam es zum Burnout; Herr B-48 gab seine Beschäftigung als Taxifahrer endgültig auf. Nach wie vor versuchte Herr B-48 jedoch, auf dem Arbeitsmarkt (wieder) Fuß zu fassen. Nachdem er sich von seinem Burnout wieder einigermaßen erholt hatte, absolvierte Herr B-48 eine kurze Ausbildung zum Pflegehelfer, da er sich in diesem Bereich am ehesten eine Beschäftigungschance erhoff­ te. Im Zusammenhang mit den Anfang der 2000er Jahre vorgenommenen Reformen des Pflegearbeitsmarktes (Qualitätsmanagement etc.), bei der für stationäre Einrichtungen bestimmte Fachkräftequoten vorgeschrieben wur­ den, verschlechterten sich die Beschäftigungschancen für angelernte Alten­ pflegehelfer / -innen jedoch deutlich; gefragt waren nunmehr nahezu aus­ schließlich examinierte Pflegekräfte mit dreijähriger Ausbildung. Herrn B-48 gelang es aufgrund mehrerer Eingaben im Rahmen einer Einzelfallent­ scheidung, dass das Arbeitsamt ihm trotz seines fortgeschrittenen Alters noch eine dreijährige Ausbildung zum Altenpfleger finanzierte, die er 2002 im Alter von 53 Jahren begann und 2005 im Alter von 56 Jahren abschloss. Auch nach seiner erfolgreich beendeten Ausbildung als Altenpfleger bekam der mittlerweile 56-jährige Herr B-48 jedoch keine Arbeitsplatzangebote; von einigen Arbeitgebern, bei denen er sich bewarb, bekam er zu hören, er sei „zu alt“ bzw. aufgrund seines Alters und seiner Ausbildung „zu teuer“. Herr B-48 blieb somit weiterhin arbeitslos und auf Leistungen des Arbeits­ amtes angewiesen. Im Jahr 2005 kam es zu einem weiteren schweren Schlag: Herr B-48 erhielt eine Strafanzeige wegen Steuerhinterziehung, die sich auf die Zeit seiner abhängigen Beschäftigung als Taxifahrer bezog. Wie sich herausstell­ te, hatte der Arbeitgeber von Herrn B-48 jahrelang illegal seine Steuerlast minimiert, indem er bei der Lohnsteuerabrechnung seines Fahrpersonals fälschlicherweise steuerfreie Zuschläge für Nacht- und Wochenendarbeit abrechnete, die in den Arbeitsverträgen gar nicht enthalten waren. Im Rah­ men einer umfangreichen Wirtschafts- und Steuerprüfung wurde nicht nur der Arbeitgeber wegen Steuerhinterziehung angeklagt, sondern es wurde zugleich auch jeder einzelne angestellte Taxifahrer rechtlich belangt, da der

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V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen

Arbeitgeber anscheinend auch mit fingierten Belegen gearbeitet hatte. Durch diese für ihn vollkommen überraschende, mittlerweile fallengelassene Straf­ anzeige seitens des Finanzamtes wurde der psychisch ohnehin seit Jahren schon stark angeschlagene Herr B-48 nun vollkommen aus der Bahn gewor­ fen: A Aber wie viel Angst das in mir ausgelöst hat, ich kann Ihnen sagen, ich bin im Dreieck gesprungen. Ich bin hier nicht mehr aus der Wohnung rausgegan­ gen, ich habe mich nicht mehr rasiert, nicht mehr gewaschen, nichts mehr gemacht. Gestunken wie ein Schwein …

Ende 2005 kam es zu einem (gescheiterten) Suizidversuch; es folgte die Zwangseinweisung in die Psychiatrie. Nach einer Reihe weiterer Klinikauf­ enthalte wurde die Rente wegen voller Erwerbsminderung beantragt und nach einer Ablehnung in erster Instanz schließlich 2007 rückwirkend zum 1.10.2006 anerkannt. Seit 2008 befindet sich Herr B-48 nach eigenen An­ gaben auf einem mühseligen Weg der Besserung und Stabilisierung, der allerdings immer wieder mit kleineren und größeren Rückschlägen verbun­ den ist; er arbeitet ehrenamtlich im Seniorenbeirat seiner Stadt mit und ist Mitglied in einem örtlichen Laienchor. In der Gesamtbetrachtung weist die (Erwerbs-)Biografie von Herrn B-48 eine deutlich zweigeteilte Struktur auf. Bis zu seinem 41. Lebensjahr, dem Jahr der Wiedervereinigung, hatte sich Herr B-48 trotz vergleichsweise ungünstiger Voraussetzungen eine einigermaßen komfortable berufliche Po­ sition erarbeitet und lebte in stabilen familiären Verhältnissen. Nach dem Systemwechsel hatte er jedoch große Schwierigkeiten, sich an die neuen marktwirtschaftlichen Verhältnisse und Gepflogenheiten anzupassen; inner­ halb kurzer Zeit verlor er mehrmals im Konflikt seinen Arbeitsplatz. Zwi­ schen seiner letzten Entlassung 1993 und seiner dauerhaften Erwerbsminde­ rung 2006 hat er bis auf einige wenige Jahre als Taxifahrer mit äußerst niedrigem Verdienst kaum noch sozialversicherungspflichtig arbeiten kön­ nen. Herr B-48 hat unter seiner langjährigen Arbeitslosigkeit und der Ent­ wertung seiner bisherigen Berufserfahrungen stark gelitten; die im Zuge des Scheiterns seiner Erwerbskarriere ab 1993 einsetzenden Existenzängste ha­ ben sich im Zeitverlauf zu einer massiven Angststörung verhärtet, seine Beschäftigungsfähigkeit deutlich beeinträchtigt und letztlich zu seinem vollständigen Zusammenbruch und seiner vorzeitigen Erwerbsunfähigkeit mit 57  Jahren geführt. Besonders auffällig an dem Fall von Herrn B-48 ist, dass ihm seine insgesamt vier abgeschlossenen Berufsausbildungen (Getrei­ demüller, Koch, Wirtschaftskaufmann, Altenpfleger) sowie sein DDRMeisterbrief (Meister im Einzelhandel als Verkaufsstellenleiter) bei der Ar­ beitsplatzsuche im Ergebnis nicht viel genutzt haben.



5. Umbruchsgeprägte Ostdeutsche297

bb) Fallbeispiel 2: Frau M-49 Frau M-49, geboren 1941 in Rostock, 4 Kinder, einmal geschieden, be­ zieht eine GRV-Altersrente von 545 Euro / Monat; diese wird durch Grund­ sicherungsleistungen in Höhe von 310 Euro / Monat aufgestockt. Ihr relativ hoher Bruttobedarf von 855 Euro / Monat basiert auf den vergleichsweise hohen Kosten ihrer Dreiraumwohnung; Frau M-49 hat sich bislang jedoch erfolgreich dagegen gewehrt, in eine kleinere und preisgünstigere Wohnung ziehen zu müssen. Frau M-49 ist in Rostock aufgewachsen. Nach dem Besuch der Volks­ schule absolvierte Frau M-49 eine Lehre als Herren- und Damenschneiderin, die sie 1959, im Alter von 18  Jahren, mit dem Facharbeiterbrief beendete. Anschließend arbeitete sie zunächst in ihrem Ausbildungsbetrieb als Schnei­ derin. 1961, mit 20 Jahren, heiratete sie; ihr Ehemann war Klempner und Installateur im Fisch-Kombinat. 1962, als das erste Kind kam, unterbrach Frau M-49 ihre Erwerbstätigkeit. In relativ kurzer Folge wurden drei wei­ tere Kinder geboren (1963, 1966 und 1969); im Alter von 28 Jahren war Frau M-49 bereits Mutter von vier Kindern. Während ihrer insgesamt 10-jährigen Ehe hat Frau M-49 zeitweise in Teilzeit gearbeitet, da das Ein­ kommen des Ehemannes alleine kaum ausreichte, um die Familie zu unter­ halten. Zudem zahlte sie insgesamt 6 Jahre lang einen geringen Mindestbei­ trag in das Rentensystem ein, um Versicherungslücken zu vermeiden und sich nach DDR-Recht eine Rente auf Mindestsicherungsniveau aufzubauen; diese Praxis wurde im Volksmund „Marken kleben“ genannt. 1971, im Alter von 30 Jahren, erfolgte die Scheidung von ihrem Ehe­ mann, der sich nach Angaben von Frau M-49 im Zeitverlauf zum Alkoho­ liker mit Neigung zur Gewalt entwickelt hatte. Der Scheidungsprozess war extrem schmerzhaft, da sich die geschiedenen Eheleute wegen des damali­ gen Mangels an Wohnraum in der DDR auch nach der Scheidung noch eine Zeit lang die bisherige Wohnung teilen mussten. Nach seinem Auszug aus dem gemeinsamen Haushalt musste der Ex-Ehemann nach DDR-Recht zwar einen relativ knapp bemessenen Unterhalt für die vier Kinder, jedoch keinen Unterhalt für seine ehemalige Ehefrau leisten. Frau M-49 war als alleinerziehende Mutter mit vier Kindern im Alter von 2, 5, 8 und 9 Jahren dazu gezwungen, ihren Lebensunterhalt selbst zu bestreiten. In den 1970er und 1980er Jahren arbeitete sie überwiegend in Vollzeit als Kassiererin / Ver­ käuferin in einer Verkaufsstelle; zusätzlich zu ihrer regulären Beschäftigung arbeitete sie nach Feierabend noch regelmäßig schwarz als Schneiderin in Heimarbeit, da ihr Einkommen sehr niedrig war. Frau M-49 hat dabei stets versucht, ihre Arbeitszeiten den Schul- und Betreuungszeiten ihrer Kinder anzupassen; zwischenzeitlich arbeitete sie auch als Betreiberin eines Kiosks sowie als Fahrscheinkontrolleurin im öffentlichen Nahverkehr. Nach eige­

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V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen

nen Angaben hat Frau M-49 über viele Jahre in Armut gelebt; ihr Leben sei „ein dauernder harter Kampf“ gewesen. Frau M-49 war 49 Jahre alt, als die Wiedervereinigung kam. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie in der DDR eine dreijährige Lehre sowie ca. 25 Arbeits­ jahre abgeleistet, davon rund 21 in Vollzeit bzw. in vollzeitnaher Teilzeit. Ihre vier Kinder waren zwischen 21 und 28 Jahren alt und bereits seit eini­ ger Zeit aus dem Haushalt ausgezogen; Frau M-49 war bereits Großmutter geworden. Im Jahr der Wende arbeitete sie ein Jahr lang selbstständig als Schneiderin; Frau M-49 gibt an, ihre Schwester habe in diesem Jahr ihre Rentenbeiträge übernommen. Bereits ab 1989 hatte sie zudem die Pflege eines Enkelkinds übernommen, nachdem die Ehefrau eines ihrer Söhne plötzlich verstorben war. Nach der Wende war sie zunächst zwei Jahre in sozialversicherungspflichtiger Vollzeit in einem Baumarkt beschäftigt. Dort bekam sie jedoch starke gesundheitliche Probleme im Bereich der Atemwe­ ge; hierfür waren ihrer Ansicht nach Farbdämpfe verantwortlich (sie arbei­ tete im Bereich Farben und Lacke). Nachdem sie längere Zeit krankge­ schrieben gewesen war, wurde ihr gesundheitsbedingt gekündigt; Frau M-49 war zu diesem Zeitpunkt 52  Jahre alt und bezog erstmals in ihrem Leben Arbeitslosenhilfe. In den 12 Jahren zwischen ihrer Kündigung 1993 und ihrem Rentenein­ tritt 2005 ist es Frau M-49 trotz ihrer hohen Erwerbsorientierung nicht mehr gelungen, in ein dauerhaftes sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungs­ verhältnis zurückzukehren. Sie absolvierte mehrere vom Arbeitsamt finan­ zierte Maßnahmen (u. a. einen PC-Kurs sowie verschiedene Arbeitsgelegen­ heiten); mit 61 und 62 Jahren nahm sie noch an zwei Arbeitsbeschaffungs­ maßnahmen (ABM) in einem städtischen Kindergarten sowie einer Grund­ schule teil, „um die Rente noch ein bisschen aufzubessern“. Ihre Arbeitslosenhilfe musste in den 2000er Jahren durch zusätzliche Sozialhilfe aufgestockt werden, um angesichts steigender Mietkosten den Lebensunter­ halt zu decken. Frau M-49 gibt an, sie sei auf dem Sozialamt sehr schlecht behandelt worden; zwischenzeitlich seien ihr im Zeitraum zwischen zwei Maßnahmen sowohl seitens des Arbeitsamtes als auch seitens des Sozialam­ tes sogar die Leistungen komplett versagt worden. Frau M-49 erinnert sich, dass sie seinerzeit mehrere Protestbriefe an die SPD schrieb; sie machte ihren Fall zudem in der BILD-Zeitung öffentlich, woraufhin ihr innerhalb kürzester Zeit wieder Leistungen bewilligt wurden. Im Januar 2005, dem Monat der Einführung des ALG II, ging sie mit 64 Jahren abschlagsfrei in die vorgezogene Altersrente für Frauen. In der Gesamtbetrachtung lässt sich die Grundsicherungsbedürftigkeit von Frau M-49 auf eine Kombination mehrerer Faktoren zurückführen. Der erste Faktor sind die kinderbedingten Erwerbseinschränkungen und -unter­ brechungen während und nach ihrer Ehe: Frau M-49 hat sich als alleiner­



5. Umbruchsgeprägte Ostdeutsche299

ziehende Mutter von vier Kindern über viele Jahre hinweg aufgerieben, um möglichst vollzeitnah zu arbeiten und zugleich ihre Kinder angemessen zu versorgen, dabei jedoch des Öfteren pausieren oder ihre Arbeitszeit reduzie­ ren müssen (beispielsweise wegen einer Erkrankung ihrer Kinder). Ein zweiter Faktor liegt sicherlich auch in ihrer vergleichsweise niedrigen Ent­ lohnung als Verkäuferin, die sich auch in der Höhe ihrer Rentenanwart­ schaften niederschlägt. Da ihr Gehalt angesichts der niedrigen Unterhalts­ leistungen kaum zum Leben reichte, hat Frau M-49 gezwungenermaßen viel schwarz gearbeitet; durch diese Zusatzbeschäftigung hat sie jedoch, und darin liegt ein dritter Faktor, keine zusätzlichen Rentenanwartschaften er­ worben. Als vierter, entscheidender Faktor kam schließlich die 12-jährige Arbeitslosigkeitsphase nach der Wiedervereinigung hinzu, durch die das letzte Drittel ihrer Erwerbsbiografie nahezu komplett entfallen ist. Frau M-49 macht indes noch einen weiteren Faktor für ihre jetzige Situ­ ation verantwortlich, nämlich die Tatsache, dass sie als ehemalige DDRBürgerin nach dem Tod ihres Ex-Ehemannes im Jahr 1994 keinen Anspruch auf eine sogenannte „Geschiedenenwitwenrente“ hat. Wäre die 1971 ge­ schiedene Ehe von Frau M-49 seinerzeit in der BRD geschieden worden, hätte sie mit großer Wahrscheinlichkeit Anspruch auf nachehelichen Unter­ halt und damit nach dem Tod ihres geschiedenen, aber unterhaltspflichtigen Ehemannes möglicherweise auch Anspruch auf eine („große“) Geschiede­ nenwitwenrente gehabt. Hier kommen die unterschiedlichen Familien- und Geschlechtermodelle und die dementsprechend unterschiedlichen Regelungen des Scheidungsund Scheidungsfolgenrechts in der BRD und der DDR zum Tragen.28 Die Geschiedenenwitwenrente nach § 243 SGB VI ist eine Hinterbliebenenleis­ tung, die ausschließlich für in der BRD vollzogene Scheidungen in Frage kommt, die vor dem 1.7.1977 und damit vor der Einführung des Versor­ gungsausgleichs stattgefunden haben. Wie alle Hinterbliebenenleistungen der GRV hat auch die Geschiedenenwitwenrente Unterhaltsersatzfunktion: Sie soll nach einer Scheidung, bei der ein grundsätzlicher Unterhaltsan­ spruch des einen Ehepartners gegen den anderen Ehepartner festgelegt worden ist, diesen Unterhalt auch im Falle des Todes des unterhaltspflich­ tigen geschiedenen Ehepartners sicherstellen. Zu den Voraussetzungen für die Gewährung dieser Leistung gehört, dass der verstorbene geschiedene Ehepartner die allgemeine Wartezeit von 60 Kalendermonaten erfüllt hat bzw. bereits selbst eine Rente bezieht und dass der oder die Hinterbliebene nicht wieder geheiratet bzw. eine eingetragene Lebenspartnerschaft begrün­ det hat. 28  Zu der rentenrechtlichen Problematik der in der DDR geschiedenen Frauen vgl. ausführlich Kerschbaumer 2011: 192–207.

300

V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen

Während die Geschiedenenwitwenrente letztlich einen Ausfluss des in der BRD seinerzeit vorherrschenden männlichen Alleinernährermodells darstellt, war in der DDR zumindest offiziell ein Doppelversorgermodell mit staatli­ cher Kinderbetreuung vorherrschend. Dementsprechend sah das vergleichs­ weise progressive Scheidungsrecht der DDR dem Grundsatz nach keinen nachehelichen Versorgungsanspruch vor; Unterhaltsansprüche nach der Ehe blieben auf seltene und begründete Ausnahmefälle beschränkt. In der DDR gab es somit weder eine „Geschiedenenwitwenrente“ noch einen „Versor­ gungsausgleich“, da grundsätzlich davon ausgegangen wurde, dass beide Ehepartner sowohl während als auch nach der Ehe ihren Unterhalt selbst­ ständig sichern und auf diese Weise auch eigenständige Ansprüche im staatlichen Rentensystem aufbauen. Im Rahmen der Regelungen des zum 1.1.1992 in Kraft getretenen Rentenüberleitungsgesetzes wurde darauf ver­ zichtet, diese beiden Elemente rückwirkend auch für vor 1992 geschiedene Ostdeutsche einzuführen. Während bei Scheidungen ab 1992 nunmehr auch in den neuen Bundesländern ein Versorgungsausgleich durchgeführt wird, ist die Geschiedenenwitwenrente für vor Juli 1977 nach DDR-Recht ge­ schiedene Personen ausdrücklich ausgeschlossen (§ 342a SGB VI). Im Er­ gebnis haben nach DDR-Recht geschiedene Personen (in der Regel Frauen) somit weder Anspruch auf Geschiedenenwitwenrente noch Anspruch auf Versorgungsausgleich. Frau M-49 fühlt sich durch diese Regelung gegen­ über westdeutschen Frauen bzw. gegenüber Frauen jüngerer Generationen deutlich benachteiligt: A Da bin ich auch nicht die Einzige, die darüber diskutiert, sondern wir sind mehrere, wo wir dann zusammenkommen in dem Verein oder so, und das ist so was von ungerecht bis zum geht nicht mehr. Wir müssen betteln gehen, ja, verstehen Sie, was ich meine? Zur Grundsicherung. Fragen Sie nicht, das ist nicht einfach, da muss man schon kalt und wollen mal sagen hart sein. Aber trotzdem, das ist eine Bettelei, die kann man gar nicht immer ertragen, das will ich Ihnen sagen. Alles offenlegen. Haben Sie die Kontoauszüge? Haben Sie das? Haben Sie Schmuck? Wie viel Geld, Bargeld haben Sie im Porte­ monnaie? Und das mit einer Frau, die sich nichts zuschulden kommen lassen hat, die vier Kinder ehrlich groß und mühselig groß gemacht hat, das Essen zusammengetragen hat. Das muss ich dazu sagen, das ist beschämend.

Frau M-49 ist daher Mitglied im 1999 gegründeten „Verein der in der DDR geschiedenen Frauen“, der sich für die Rechte ehemaliger DDR-Bür­ gerinnen einsetzt, die längere ehe- und familienbedingte Erwerbsunterbre­ chungen aufweisen, vor 1992 geschieden worden sind und daher im wieder­ vereinigten Deutschland weder einen Versorgungsausgleich noch eine Ge­ schiedenenwitwenrente erhalten. Die bisherigen Initiativen dieses Vereins, die im Kern auf die Einführung eines aus Steuermitteln finanzierten, fiktiven Versorgungsausgleichs für die betroffenen Frauen abzielen, haben in den letzten Jahren zwar einige mediale Resonanz erfahren (von Wanzeck 2011),



5. Umbruchsgeprägte Ostdeutsche301

sind jedoch bislang weitgehend erfolglos geblieben. Das spezifische Sonder­ problem der rentenrechtlichen Behandlung der in der DDR geschiedenen Frauen ist in den letzten Jahren auch mehrmals im Bundestag diskutiert worden, ohne dass eine politische Lösung dieses Problems näher gerückt wäre (vgl. Kerschbaumer 2011: 204–207); in der Zwischenzeit sind viele der betroffenen Frauen altersbedingt bereits verstorben, so dass die Gruppe der Betroffenen Jahr für Jahr schrumpft. cc) Fallbeispiel 3: Frau R-54 Frau R-54, geboren September 1946 in Jena, ledig, keine Kinder, bezieht eine GRV-Altersrente von 647 Euro / Monat, die durch Grundsicherungsleis­ tungen in Höhe von 61 Euro / Monat aufgestockt wird; ihr Bruttobedarf (inkl. Hausrat- und Haftpflichtversicherung) liegt bei 708 Euro / Monat. Frau R-54 hat zwar einen Schwerbehindertenausweis, jedoch bislang kein Merk­ zeichen „G“. Nach dem Besuch der Volksschule besuchte Frau R-54 die Berufsschule, wo sie eine Ausbildung zur Industriekauffrau machte (Facharbeiterbrief). Im Verlauf ihrer Erwerbsbiografie war sie in insgesamt drei verschiedenen volkseigenen Großbetrieben der DDR angestellt. Mit 19 Jahren begann sie zunächst als Sekretärin und Sachbearbeiterin bei einem Großunternehmen der optisch-feinmechanischen Industrie in Jena. Im Zeitverlauf kam es je­ doch zu Konflikten mit dem Arbeitgeber. Frau R-54 gibt an, sie sei sowohl mit der Bezahlung als auch mit den Arbeitsbedingungen bzw. dem Arbeits­ klima in dem Großunternehmen nicht zufrieden gewesen; ihr Vorgesetzter habe ihr wiederholt zu Unrecht Fehler bei der Arbeit vorgeworfen und sie insgesamt schlecht behandelt. Als ihr eine turnusmäßige Beförderung ver­ weigert wurde, kam es zu einem Rechtsstreit; Frau R-54 suchte sich eine neue Arbeitsstelle. Aufgrund der schlechten Beurteilung, die in ihrer Akte festgeschrieben wurde, hatte sie jedoch zunächst Schwierigkeiten, eine neue Anstellung zu finden. Schließlich fand sie eine Anstellung als Sekretärin und Sachbearbeiterin bei einem Kombinat im Bereich Kraftverkehr / Spedi­ tion, wo sie insgesamt 5  Jahre angestellt war; sie berichtet, auch dort habe es ihr nicht gut gefallen. Sie wechselte schließlich noch ein weiteres Mal, diesmal zu einem Energie-Kombinat, das später zu den heutigen Stadtwer­ ken umgewandelt wurde, und blieb dort bis zur Wende. Zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung war Frau R-54 44 Jahre alt und hatte bereits ca. 25 Jah­ re in Vollzeit gearbeitet. Unmittelbar nach der Wende kam es im Zuge der Auflösung bzw. Um­ strukturierung des Energiekombinats zum Verlust des Arbeitsplatzes. Als ledige, kinderlose Frau gehörte Frau R-54 gemäß den Kriterien des Sozial­

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V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen

plans zu den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die bereits von der allerers­ ten Entlassungswelle getroffen wurden. Obwohl viele ihrer Arbeitskollegen bereits wenige Monate später im Zuge der zweiten bzw. dritten Welle ent­ lassen wurden, war es für Frau R-54 psychologisch dennoch äußerst prob­ lematisch, dass sie den Betrieb mit als erste verlassen musste. Hierbei ging es in erster Linie um ihr Selbstwert- und Gerechtigkeitsgefühl: So berichtet sie, dass eine enge Arbeitskollegin, die offensichtliche Alkoholprobleme hatte und ihrer Ansicht nach deutlich weniger leistungsfähig war als sie selbst, im Gegensatz zu ihr zunächst bleiben durfte, was sie als große Un­ gerechtigkeit und Nicht-Anerkennung ihrer Arbeitsleistung empfunden hat. Der Kontakt zu den ehemaligen Kollegen ist größtenteils abgerissen. Frau R-54 berichtet von starken und im Zeitverlauf anhaltenden Existenzängsten; sie musste sich in psychologische Behandlung begeben. Frau R-54 bezog zunächst Arbeitslosengeld, dann Arbeitslosenhilfe. Ihre Versuche, eine neue Arbeitsstelle zu finden, schlugen fehl; auch seitens des Arbeitsamtes kam es zu keiner erfolgreichen Vermittlung. 1991 wurde ihre Mutter pflegebedürftig; Frau R-54 übernahm die Pflege bis zum Tod ihrer Mutter, stand aber während dieser Zeit offiziell dem Arbeitsmarkt zur Ver­ fügung. 1994 / 95 absolvierte sie einen vom Arbeitsamt finanzierten Lehr­ gang für „modernes Büromanagement“, den sie jedoch nicht abschloss, da sie einen schweren Zusammenbruch erlitt und für den Rest der Maßnah­ mendauer krankgeschrieben wurde. Nach einem mehrwöchigen Kranken­ hausaufenthalt wurde die Rente wegen voller Erwerbsunfähigkeit beantragt, die relativ zeitnah genehmigt wurde; Frau R-54 war zu diesem Zeitpunkt erst 49 Jahre alt. Die Ursache ihres Zusammenbruchs und ihrer Beschwer­ den und ist bis heute nicht restlos geklärt. Frau R-54 ist der festen Über­ zeugung, eine chronische Entzündung im Mundraum zu haben, so dass sie nicht vernünftig essen kann. Sie beschwert sich im Interview, die Ärzte nähmen sie zu Unrecht „nicht für voll“; sie sei damals nicht richtig behan­ delt worden, so dass sich die Krankheit im Zeitverlauf verschlimmert hätte. Nach Ansicht ihrer Betreuerin und ihrer Ärzte handelt es sich dabei jedoch größtenteils um eine eingebildete Krankheit bzw. um psychosomatische Beschwerden; die offizielle Diagnose lautet Schizophrenie. Frau R-54 ist dauerhaft auf Neuroleptika eingestellt, die ihr alle 14 Tage ambulant per Depotspritze verabreicht werden. Frau R-54 gibt rückblickend an, in ihrem Leben eine Reihe von Enttäu­ schungen erlebt zu haben; neben den Rückschlägen in ihrer Erwerbsbiogra­ fie gehören hierzu auch gescheiterte Beziehungen. Frau R-54 war in ihrem Leben nie verheiratet; sie gibt an, sie hätte „in dieser Beziehung viel Pech gehabt“. So hat Frau R-54 einmal eine Fehlgeburt erlitten; an die Jahreszahl kann oder will sie sich jedoch nicht genau erinnern. Eine andere Beziehung ist nach Angaben von Frau R-54 daran zerbrochen, dass die Kinder ihres



5. Umbruchsgeprägte Ostdeutsche303

Lebensgefährten sie abgelehnt hätten. Nach dem Verlust ihrer Arbeit, dem Tod ihrer Mutter und der Trennung vom Lebensgefährten stand Frau R-54 alleine da; in dieser Zeit hat sich anscheinend ein starker psychologischer Druck aufgebaut, der schließlich zum Zusammenbruch Mitte der 1990er Jahre geführt hat: A Irgendwann, wenn einem nichts gelingt, dann kriegt man die Enttäuschung mal über. Andere, die das erlebt hätten wie ich, die hätten sich schon längst das Leben genommen. Solche Gedanken habe ich eigentlich nie gehabt … aber viele sagen: ich möchte nicht in Deiner Haut stecken.

In der Gesamtschau ist die Grundsicherungsbedürftigkeit von Frau R-54 vermutlich auf mehrere Faktoren zurückzuführen; ihre psychische Erkran­ kung und die damit verbundene dauerhafte Erwerbsunfähigkeit mit 49 Jahren stehen dabei sicherlich im Mittelpunkt. Psychische Störungen wie Schizo­ phrenie sind, so die Lehrbuchmeinung in der akademischen Psychiatrie, in der Regel multifaktoriell, d. h. durch eine individuelle Verkettung von Anla­ ge- und Umweltfaktoren bedingt; die Schilderungen von Frau R-54 legen zumindest die Vermutung nahe, dass der Verlust des Arbeitsplatzes und die darauffolgende mehrjährige Arbeitslosigkeitsphase als exogene Stressfakto­ ren erheblich zum Ausbruch der Krankheit beigetragen haben. Zu beachten ist, dass Frau R-54 eine Altersrente von fast 650 Euro bezieht, so dass ihr nur wenige Euro zur Sicherung ihres Lebensunterhalts fehlen; bereits einige we­ nige Erwerbsjahre nach der Wende hätten daher voraussichtlich gereicht, um ihre Grundsicherungsbedürftigkeit im Ergebnis zu vermeiden. c) Typische Biografiemuster und Risikokonstellationen Mit dem politischen Zusammenbruch der DDR und der Übernahme der westdeutschen Wirtschafts- und Sozialordnung wurde in den neuen Bundes­ ländern ein tiefgreifender gesellschaftlicher Umstrukturierungsprozess aus­ gelöst. Der wirtschaftliche Absturz der ostdeutschen Wirtschaft nach der Wiedervereinigung führte zu einem massiven Beschäftigungsabbau und zur strukturellen Massenarbeitslosigkeit; viele Menschen in Ostdeutschland mussten sich beruflich und teilweise auch privat völlig neu orientieren. Die erfolgreiche Anpassung an die neuen Verhältnisse und dauerhafte Wiederer­ langung berufsbiografischer Kontinuität ist dabei nicht allen Betroffenen gelungen. Die drei der Gruppe der „Umbruchsgeprägten Ostdeutschen“ zuzurech­ nenden Befragten waren zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung zwischen 41 und 49 Jahre alt und befanden sich somit noch in ihrer Kernerwerbsphase. Alle drei sind kurz nach der Wiedervereinigung arbeitslos geworden und mehr oder weniger dauerhaft arbeitslos geblieben; Herr B-48 hat nach dem Ausscheiden aus seinem regulären Beruf zumindest noch einige Jahre als

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V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen

Taxifahrer gearbeitet. Die drei Betroffenen haben daher nach der Wende durch eigene Erwerbstätigkeit kaum noch Rentenanwartschaften aufbauen können; ihre nach 1990 erworbenen, sehr geringen Anwartschaften beruhen nahezu ausschließlich auf Elementen des sozialen Ausgleichs (Bezug von Arbeitslosengeld bzw. Arbeitslosenhilfe). In allen drei Fällen haben die Betroffenen im Zusammenhang mit ihrer Arbeitslosigkeit eine oder mehrere Eingliederungs- und Aktivierungsmaßnahmen des Arbeitsamtes durchlaufen; die Bandbreite reicht dabei vom mehrwöchigen PC-Kurs über die sechsmo­ natige Arbeitsbeschaffungsmaßnahme bis zur dreijährigen Umschulung. In keinem der drei Fälle haben die verschiedenen Maßnahmen jedoch im Er­ gebnis zum Wiedereinstieg in eine dauerhafte sozialversicherungspflichtige Beschäftigung beigetragen. Hinsichtlich der individuellen Bewältigungsstrategien weisen Herr B-48 und Frau M-49 deutliche Parallelen auf: Beide haben sich mit ihrer Situa­ tion zu keinem Zeitpunkt abgefunden, sondern stattdessen jahrelang mit großem Einsatz um einen beruflichen Wiedereinstieg bemüht und trotz wiederholter Misserfolge und Enttäuschungen bis zum Ende an diesem Ziel festgehalten. Beide haben sich in den Jahren ihrer Arbeitslosigkeit des Öf­ teren im Konflikt mit den jeweils zuständigen Behörden (Arbeitsamt, So­ zialamt, Rentenversicherungsträger) befunden und ihre (vermeintlichen oder tatsächlichen) Rechte dabei stets aktiv eingeklagt. Beide haben Protestbriefe an Parteien und Bundestagsabgeordnete geschrieben; während Herr B-48 versucht hat, seine Rechte auf gerichtlichem Wege durchzusetzen, hat sich Frau M-49 an die Presse gewandt. Anders als Frau R-54, die sich vollkom­ men zurückgezogen hat und ihre Wohnung nur selten verlässt, sind beide zudem bis heute gesellschaftlich bzw. politisch engagiert (Herr B-48 im Seniorenbeirat, Frau M-49 im Verein DDR-geschiedener Frauen). Im Hinblick auf die individuelle Gesundheitsbiografie zeigen sich indes deutliche Parallelen zwischen Herrn B-48 und Frau R-54: Beide haben im Zusammenhang mit dem Verlust ihres Arbeitsplatzes und der darauffolgen­ den Arbeitslosigkeitsphase schwere psychische Probleme bekommen; hier­ bei spielten Selbstwertprobleme, Ausgrenzungserfahrungen und Existenz­ ängste eine wichtige Rolle. In beiden Fällen ist es aufgrund der fortschrei­ tenden psychischen Krankheit letztlich zum Totalzusammenbruch, zur aner­ kannten Schwerbehinderung und zur dauerhaften vollen Erwerbsminderung gekommen. Zu guter Letzt ist festzustellen, dass in allen drei Fällen kein (Ehe-)Partner (mehr) vorhanden ist; die Betroffenen hatten nicht nur Miss­ erfolge in der Erwerbsbiografie, sondern auch Misserfolge in der Partner­ schaftsbiografie zu verkraften, so dass es hier zu keiner finanziellen und / oder emotionalen Kompensation gekommen ist. Insgesamt gilt somit auch für die Gruppe der umbruchsgeprägten Ostdeutschen, deren zentrales Merkmal in der Langzeitarbeitslosigkeit nach der Wende besteht, dass er­



6. „Komplex Diskontinuierliche“

305

werbsbiografische, familiäre und gesundheitliche Probleme oftmals eng miteinander verbunden sind und die individuelle Grundsicherungsbedürftig­ keit daher so gut wie immer auf eine Kombination mehrerer Faktoren zu­ rückzuführen ist. Für die zukünftige Entwicklung ist von zentraler Bedeutung, dass mit jeder neuen Rentenzugangskohorte in den neuen Bundesländern der Anteil der Erwerbsbiografie schrumpft, der noch in der DDR (und damit im Re­ gelfall in kontinuierlicher Vollzeitbeschäftigung) verbracht worden ist. Je kleiner dieser erwerbsbiografische „Kontinuitätssockel“ wird, desto stärker wird sich die für die neuen Länder typische Kombination von überdurch­ schnittlicher Arbeitslosigkeit und unterdurchschnittlichem Lohnniveau in den individuellen Erwerbsbiografien und damit auch in der Höhe und in der Verteilung der individuellen Alterseinkünfte niederschlagen. 6. „Komplex Diskontinuierliche“ a) Gemeinsame Merkmale und Rahmenbedingungen Die fünfte und letzte Gruppe im Untersuchungssample kann, in Anleh­ nung an die im Rahmen bestehender Typologisierungen gewählten Typen­ bezeichnungen (Hausschild 2002, Frommert 2013) als Gruppe der „Komplex Diskontinuierlichen“ bezeichnet werden. Da ein erhöhtes Maß an Diskonti­ nuität in der Erwerbs- und Versicherungsbiografie über die verschiedenen Teilgruppen hinweg ein zentrales, wenn nicht gar das zentrale gemeinsame Merkmal der 49 Fälle im Untersuchungssample darstellt, verweist der Zu­ satz „komplex“ auf die spezifischen Besonderheiten dieser Gruppe: – Erstens sind die Lebensverläufe der Betroffenen in besonders hohem Maße von Statuswechseln, Brüchen und Verwerfungen gekennzeichnet. – Zweitens kommt es hierbei besonders häufig zu einer Kumulation von Belastungs- und Risikofaktoren in verschiedenen Biografiedimensionen (Erwerbsbiografie, Familien- und Partnerschaftsbiografie, Gesundheits­ biografie). – Drittens kommt dabei denjenigen Faktoren, die in der im 3. Kapitel vor­ genommenen Analyse der verschiedenen biografischen Risikodimensio­ nen als „Sonstige Risikoelemente“ bezeichnet worden sind, eine beson­ ders hohe Bedeutung zu: Obdachlosigkeit, Sucht, Kriminalität bzw. so­ ziale Devianz und sonstige Schicksalsschläge.29 29  Als soziale Devianz bzw. abweichendes Verhalten im Sinne der Abweichung von gesamtgesellschaftlichen Normen und Werten können je nach gesellschaftlichem und historischen Kontext neben expliziter Kriminalität auch Alkoholismus, illegaler

306

V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen Tabelle 48 „Komplex Diskontinuierliche“ im Untersuchungssample

Nr.

Name

Geb.

Belastungs- und Risikofaktoren im Lebensverlauf

Eigenes Einkommen

1

Hr. G-05

1938

• fehlender Schulabschluss, fehlende Berufs­ ausbildung • innerdeutsche Migration • Alkoholsucht • Obdachlosigkeit • langjährige prekäre Beschäftigung • Herzinfarkt mit 54, Langzeitarbeitslosigkeit

Altersrente GRV 140 EUR + Französische Rente 116 EUR = 256 EUR

2

Fr. M-10

1944

• innerdeutsche Migration • fehlende Ausbildung, langjähriger Niedrig­ verdienst, häufige Arbeitsstellenwechsel, Mobbing, Schwarzarbeit • Scheidung, Verwitwung, Tod des Lebens­ gefährten • gescheiterte Selbstständigkeit mit hohen Schulden • Herzinfarkt mit 45, schwerer Unfall mit 48, Schlaganfall mit 48, volle Erwerbsminderung mit 53

Altersrente GRV 555 EUR + Witwenrente GRV 124 EUR = 679 EUR

3

Hr. B-13

1946

• unglückliche Kindheit / gesundheitliche Defizite • Schwerverbrechen, mehrjährige Haftstrafe • psychische Probleme • Langzeitarbeitslosigkeit

Altersrente GRV 326 EUR

4

Fr. M-33

1945

• Waisenkind / Pflegefamilie, unglückliche Kindheit • wechselhafte Beziehungskarriere (insges. 5 gescheiterte Ehen) • zwischenzeitliche Selbstständigkeit, Strafe wg. Steuerhinterziehung, Schulden • Prostitution • Schlaganfall mit 52 • Spielsucht, Privatinsolvenz, Klinikaufenthalt

Altersrente GRV 340 EUR

5

Fr. S-53

1947

• Alkoholsucht • gesetzlicher Betreuer mit 49 • Verwahrlosung, Therapieklinik • volle Erwerbsminderung mit 53

Altersrente GRV 582 EUR

Quelle: Eigene Darstellung.



6. „Komplex Diskontinuierliche“307

Die Gruppe der „Komplex Diskontinuierlichen“ ist die in sich hetero­ genste aller Teilgruppen im Untersuchungssample. Für die meisten anderen Teilgruppen im Sample kann eine jeweils gruppenspezifische, strukturelle Risikokonstellation identifiziert werden, die die Biografien praktisch aller Personen in der jeweiligen Gruppe auf die eine oder andere Weise geprägt hat; zu nennen sind hier beispielsweise die spezifischen Risiken des männ­ lichen Ernährermodells bei den „familienorientierten“ Frauen, die grund­ sätzliche Unsicherheit privater Altersvorsorge bei den ehemaligen Selbst­ ständigen, die gesetzlichen Einschnitte im Zuwanderungs- und Fremd­ rentenrecht bei den (Spät-)Aussiedler / -innen oder der Strukturwandel der ostdeutschen Wirtschaft nach der Wiedervereinigung bei den „umbruchsge­ prägten“ Ostdeutschen. In der Gruppe der „Komplex Diskontinuierlichen“ dominieren hingegen stärker als in allen anderen Teilgruppen individuelle Risikokonstellationen, die in der jeweiligen Person und ihrem fallspezifi­ schen „Schicksal“ begründet sind; es handelt sich oftmals um ein Geflecht aus finanziellen, gesundheitlichen und psychosozialen Problemen und Be­ lastungen, die sich zum Teil wechselseitig verstärken. b) Ausgewählte Fallbeispiele aa) Fallbeispiel 1: Herr G-05 Herr G-05, geboren 1938 in Bismark (Altmark) im heutigen SachsenAnhalt, ledig, keine Kinder, bezieht eine GRV-Altersrente von 140 Euro sowie eine französische Sonderrente (Fremdenlegion) in Höhe von 116 Euro. Sein eigenständiges Alterseinkommen beträgt 256 Euro; dieser Betrag wird durch Grundsicherungsleistungen in Höhe von 423 Euro / Monat aufge­ stockt, so dass sein Bruttobedarf 679 Euro / Monat beträgt. Herr G-05 wuchs als Halbwaise in sehr ärmlichen Verhältnissen in einem ländlich geprägten Gebiet auf. Der Vater, ursprünglich Eisenbahner, war 1945 im Krieg gefallen; die Mutter arbeitete zunächst in einer landwirt­ schaftlichen Produktionsgenossenschaft, später als Haushaltshilfe in einem Pfarrhaus. Herr G-05 ist nach mehrmaligem Sitzenbleiben mit 14  Jahren ohne Abschluss von der Volksschule abgegangen; er gibt an, zwischenzeit­ lich monatelang „nur in den Wäldern rumgestrolcht“ zu sein, statt die Schule zu besuchen. Mit 15 Jahren begann Herr G-05 eine Maurerlehre, die er jedoch nach dem ersten Lehrjahr abgebrochen hat: Drogenkonsum, psychische Krankheiten (insbesondere Suchtkrankheiten), Homo­ sexualität, Prostitution etc. gelten; hierbei geht es nicht in jedem Falle um strafrecht­ liche Relevanz, sondern oftmals eher um den Verstoß gegen gesellschaftliche Leit­ bilder von „geordneten“ Verhältnissen (vgl. Peuckert 2010: 108/109).

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V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen

A Und dann habe ich da ein Jahr gearbeitet als Maurerlehrling sozusagen, aber schulmäßig kam ich da schon einfach nicht mehr mit. Das war dann das Theoretische. Praktisch wäre ich ein guter Maurer geworden, denke ich mal. Aber theoretisch dann … […] Also man hat gearbeitet und in der Woche einmal Berufsschule, hast du den Tag frei gehabt. Und da kam ich nicht mit, ganz klar. Irgendwie habe ich gesagt, das hat keinen Zweck, ich werde wohl immer Hilfsarbeiter bleiben. Habe ich schon gemerkt da.

Herr G-05 arbeitete daraufhin zunächst knapp zwei Jahre in einer Gärt­ nerei; 1955, mit 17  Jahren, ist Herr G-05 in die BRD geflüchtet. Er war zunächst in einem Flüchtlingslager in Niedersachen untergebracht; von dort aus wurde er einem landwirtschaftlichen Betrieb in NRW zugeteilt, wo er einige Monate ohne Sozialversicherung gearbeitet hat. Daraufhin schloss er sich seinem älteren Bruder an, der ebenfalls aus der DDR in die BRD ge­ flüchtet war und als Bergmann in der Nähe von Aachen arbeitete, und ar­ beitete knapp drei Jahre lang als Gedingeschlepper im Bergbau. 1959, mit 21  Jahren, entschloss sich Herr G-05 jedoch, in seine alte Heimat in der DDR zurückzukehren. Hier arbeitete er zunächst wieder in einer Gärtnerei, später dann als Sprenghelfer bei der staatlich geologischen Kommission; in letzterem Beruf hat Herr G-05 nach eigener Einschätzung für die damaligen Verhältnisse in der DDR relativ gut verdient. Aufgrund regimekritischer Äußerungen, die er unter Alkoholeinfluss gegenüber Arbeitskollegen getä­ tigt hat, bekam Herr G-05 jedoch zunehmende Schwierigkeiten mit den Autoritäten. Generell hatte Herr G-05 als BRD-Rückkehrer nach eigener Wahrnehmung in der DDR eher eine Außenseiterposition; er eckte unter anderem auch dadurch an, dass er westdeutsche Jeans trug und öffentlich Rock’n’Roll tanzte. Zudem war Herr G-05 immer wieder auch in Wirts­ hausschlägereien verwickelt. A Ich habe schon Scheiße gebaut. Ich wollte, dass die mich rausschmeißen aus der DDR wieder. Ich habe Alkohol getrunken, was ich gar nicht vertragen konnte. Da rumgeblökt und rumgeschrien. Schnauze Ihr alle Ossis! Nee, Ossi habe ich nicht gesagt. Kommunistenschweine und so was.

1961, kurz vor dem Bau der Mauer, flüchtete er erneut in die BRD. Zu­ nächst hatte er den eher vagen Plan, Seemann zu werden; er lebte für kurze Zeit als Obdachloser in Hamburg, später in Frankreich, wo er sich mit Gelegenheitsarbeiten durchschlug. Ende 1961 verpflichtete er sich schließ­ lich für 5  Jahre bei der französischen Fremdenlegion. In diesen 5  Jahren war er u. a. in Algerien stationiert, nahm jedoch nicht aktiv an Kampfhand­ lungen teil. Ende 1966 kehrte Herr G-05 nach Deutschland zurück, wo er zunächst ca. 1 ½  Jahre in wechselnden Anstellungen im Heizungs- und Straßenbau arbeitete. Aufgrund seiner fehlenden Ausbildung waren seine Arbeitsmarktchancen allerdings stark begrenzt: A Ich habe gesagt, warum hast du nichts gelernt, warum bist du so blöd? Du musst jeden Dreck machen. Und das ist heute auch, auch wenn du heute



6. „Komplex Diskontinuierliche“309 nichts gelernt hast, du musst jede Scheiße machen. […] Ich kann mich nur [erinnern] … wo ich auf dem Bau war, mein Schulfreund war Ingenieur ge­ worden. Ein Ingenieur, Bau-Ingenieur, der lief mit Krawatte rum und weißem Hemd. Und ich da mit der Schippe und Arbeitsklamotten! Tja …

1968, mit 30 Jahren, fand er eine Anstellung als deutscher Zivilarbeiter beim britischen Militär in einem Stützpunkt nahe der holländischen Grenze. Herr G-05, der bei der Fremdenlegion unter anderem auch als Fahrer gear­ beitet hatte, jedoch keinen deutschen Führerschein besaß, sah hier für sich eine gute berufliche Perspektive: A Und ich wollte da meinen Führschein und meine Existenz machen. Meinen Führerschein, und dann wollte ich Kraftfahrer da weiter machen, und militä­ risch lag mir sowieso, wenn man fünf Jahre Soldat war. Und die Autos, das hat mir alles gefallen. Das hat mir gefallen. Flink war ich auch. […] I

Das heißt, idealerweise wären Sie da eigentlich als Fahrer geblieben?

A Ja, richtig, jaja. Ich hätte das ja auch dann beruflich vielleicht … aber ich wäre da geblieben. Die haben ja Arbeit genug gehabt. Und ich habe da auch ein Mädchen gehabt, und die wollte ich heiraten … Ich bin immer Bier trin­ ken gegangen, wo die Kraftfahrer waren, weil ich auch später dazugehören wollte, ne? Und … ja …

Diese Perspektive löste sich jedoch nach einem knappen Jahr in Luft auf. Herr G-05, der zu dieser Zeit bereits regelmäßiger Trinker war, war unter starkem Alkoholeinfluss in eine Wirtshausschlägerei verwickelt, für die er kurzzeitig im Gefängnis saß, woraufhin er vom britischen Militär fristlos entlassen wurde; auch die mehrjährige Beziehung zu seiner Freun­ din zerbrach. 1969, im Alter von 31  Jahren, war Herr G-05 erneut obdach­ los; ab diesem Zeitpunkt sind seine Erinnerungen insbesondere hinsichtlich konkreter Jahreszahlen leider lückenhaft. Herr G-05 arbeitete nach eigenen Angaben praktisch die gesamten 1970er und 1980er Jahre über als Gele­ genheitsarbeiter und Tagelöhner (Umzüge, Möbeltransporte, Baustellen, Montage etc.), oftmals vermittelt über die Schnell- und Sofortvermittlung des Arbeitsamtes. Diese kurzfristigen Beschäftigungsverhältnisse waren überwiegend niedrig entlohnt und in der Regel nicht sozialversicherungs­ pflichtig, so dass Herr G-05 sich zwar jahrzehntelang mehr schlecht als recht finanziell über Wasser gehalten, jedoch keine Ansprüche in der GRV erworben hat. A Ich habe auch als Obdachloser im Caritasheim gewohnt. Und auf dem Bau gearbeitet und später wieder in den Möbeln, und das war so mein Leben. Deswegen bin ich Grundsicherung. Leider! Leider habe ich alles verkehrt gemacht, aber … das war damals so. […] Ich habe aber immer gearbeitet und wurde beschissen. Das heißt, du warst nicht versichert, du warst nicht renten­ versichert, du hast keine Steuerrückzahlung bekommen, nichts. Du warst also der Dumme. Denn wir haben da 3–4 Mark nur gekriegt zu der Zeit, das war unheimlich Kacke.

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V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen

Insgesamt war Herr G-05 nach eigener Schätzung in diesen gut 20 Jahren ca. 1 ½  Jahre lang sozialversicherungspflichtig beschäftigt, u. a. bei einer Möbelspedition, und hat ca. 6 Monate Arbeitslosengeld erhalten. Aufgrund seiner Alkoholabhängigkeit konnte er keine Anstellung und auch keine Wohnung dauerhaft halten. Zwischenzeitlich wohnte er u. a. mehrere Jahre in einem ehemaligen Pferdestall, den ihm ein Bekannter kostenlos überlas­ sen hatte, und verbrachte einen großen Teil seiner freien Zeit damit, Alkohol im Park zu konsumieren: A Ja, ich habe da von einem Boxer einen Pferdestall gekriegt. Das war früher ein Pferdestall, da habe ich gepennt jahrelang. Da habe ich mir auch … alles verschimmelt gewesen. Ach komm, hör auf. Konntest du nur saufen. Nur saufen, ehrlich. I Das heißt, eigentlich hat Ihnen das schon ein bisschen was kaputt gemacht? A Also der Alkohol macht einen Menschen kaputt, das sage ich dir mal ganz ehrlich. Ist so.

Ende der 1970er Jahre musste Herr G-05 seine Erwerbstätigkeit aufgrund von Lungenproblemen (verdacht auf Tuberkulose) zwei Jahre lang komplett einstellen; in dieser Zeit bezog er erstmals Sozialhilfe. Ende der 1980er Jahre nahm er zudem im Rahmen von Programmen wie „Arbeit statt Sozialhilfe“ an mehreren Integrationsmaßnahmen (u. a. freiwillige gemeinnützige Arbeit) teil. 1992, im Alter von 54  Jahren, erlitt Herr G-05 einen Herzinfarkt; seit­ dem hat er seine Erwerbstätigkeit (bis auf gelegentliche Zuverdienste „unter der Hand“) größtenteils eingestellt. Seiner Erinnerung nach wurde kein An­ trag auf Erwerbsminderungsrente gestellt (zumal Herr G-05 die rentenrecht­ lichen Zugangsvoraussetzungen wohl nicht erfüllt hätte), so dass er bis zum Erreichen des Rentenalters im Jahr 2003 im Sozialhilfebezug blieb. Mittler­ weile ist Herr G-05, der über die Armenküche auch Kontakt zu Sozialarbei­ tern hat, nach eigenen Angaben schon seit einigen Jahren „trocken“. bb) Fallbeispiel 2: Herr B-13 Herr B-13, geboren 1946 in NRW, geschieden, ein Sohn, bezieht eine GRV-Altersrente von 326 Euro / Monat, die mit 446 Euro / Monat aus der Grundsicherung aufgestockt wird. Sein Bruttobedarf liegt somit bei 776 Euro / Monat. Das zentrale Ereignis in der Biografie von Herrn B-13 ist ein Tötungsdelikt: 1975, im Alter von 29  Jahren, hat Herr B-13 seine damals gerade von ihm geschiedene Ex-Ehefrau getötet. Nach der damit verbunde­ nen mehrjährigen Haftstrafe ist Herrn B-13 die dauerhafte Reintegration in das Erwerbsleben nicht mehr geglückt; stattdessen war er über Jahrzehnte hinweg arbeitslos und im Sozialhilfebezug. Herr B-13 berichtet im Interview von einer insgesamt eher unglücklichen Kindheit, in der es ihm insbesondere an Anerkennung, Zuneigung und Ge­



6. „Komplex Diskontinuierliche“311

borgenheit seitens seiner Eltern gemangelt hat. Aufgrund einer Situation der Unterernährung bzw. des Vitaminmangels in frühester Kindheit (unmittelbar nach dem Krieg) ist es bei Herrn B-13 zudem zu einer dauerhaften Defor­ mation des Oberkörpers (Rippenbereich) gekommen; hiermit waren zwar keine funktionalen Einschränkungen, jedoch ein erhebliches psychologisches Handicap verbunden: A Gesundheitliche Probleme überhaupt nicht, sondern psychische Probleme, dass man optisch benachteiligt ist. In dem Moment, wo Sie eine Frau kennen­ lernen und gehen mit ihr ins Bett, dann stellt die fest, Sie sind deformiert. Und das ist unangenehm. Oder wenn Sie baden gehen, nur Badehose an haben und man sieht, Sie sind nicht normal gebaut, das ist Scheiße, ne?

Die Schule wurde als „Gefängnis“ und Ort der Demütigungen empfunden. Herr B-13 gibt an, bei einem an seiner Schule durchgeführten Intelligenztest sei bei ihm einmal ein überdurchschnittlicher IQ festgestellt worden; nichts­ destotrotz ist er mit 15  Jahren und nach einer Schuljahrwiederholung ohne Abschluss vom Gymnasium abgegangen. Da die Eltern einen Fleischereibe­ trieb hatten, absolvierte Herr B-13 auf deren Ratschlag hin bei einem benach­ barten Betrieb eine Fleischerlehre; es bestand zu diesem Zeitpunkt die Pers­ pektive, eines Tages den elterlichen Betrieb zu übernehmen. Herr B-13 gibt an, sein ursprünglicher Berufswunsch sei Architekt oder Fotograf gewesen; dies hätte jedoch niemals ernsthaft zur Debatte gestanden. Nach der absolvierten Lehre gab es im elterlichen Betrieb allerdings nicht genug Arbeit; Herr B-13 verbrachte eine längere Zeit (ca. 3 Jahre) als mit­ arbeitender, aber unterbeschäftigter Angehöriger im Betrieb, bis es schließ­ lich zum Bruch mit den Eltern kam. Herr B-13 absolvierte daraufhin mit dem Ziel, Fahrlehrer zu werden, eine Lehre zum KfZ-Mechaniker in einem Betrieb in der Nähe von Frankfurt. Kurz nachdem er die Gesellenprüfung erfolgreich bestanden hatte (Herr B-13 war zu diesem Zeitpunkt 25  Jahre alt und hatte zwei abgeschlossene Berufsausbildungen), musste sein Vater wegen eines Sexualdeliktes für ein Jahr ins Gefängnis; Herr B-13 gibt an, sein Vater sei selbst als Kind sexuell missbraucht worden und hätte daher eine sexuelle Störung gehabt. Herr B-13 zog daraufhin wieder zurück an seinem Heimatort, um den elterlichen Betrieb während des Gefängnisauf­ enthaltes seines Vaters kommissarisch zu führen. Nach der Rückkehr des Vaters aus dem Gefängnis schied Herr B-13 erneut aus dem elterlichen Betrieb aus und arbeitete fortan an seinem Heimatort in abhängiger Be­ schäftigung als Fahrer. Hier lernte Herr B-13 im Jahr 1972, im Alter von 26 Jahren, durch eine Zeitungsannonce seine spätere Ehefrau kennen. Herr B-13 schildert den Verlauf der Beziehung, der schließlich in einem Totschlag enden sollte, folgendermaßen: Die spätere Ehefrau, die Herrn B-13 zufolge „unter der absoluten Kontrolle ihrer Mutter“ stand, war zu dem Zeitpunkt der Ehean­

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V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen

bahnung von einem anderen Mann schwanger, den sie allerdings nicht heiraten wollte; eine Abtreibung war geplant. Nichtsdestotrotz suchte die spätere Schwiegermutter des Herrn B-13 per Annonce kurzfristig einen Ehemann für ihre Tochter, um in jedem Falle eine uneheliche Geburt zu vermeiden. Die auf diese Weise geschlossene Ehe war, so Herr B-13, von Anfang an nur als „Scheinheirat“ geplant gewesen, was jedoch seinerzeit nicht offen kommuniziert wurde; Herr B-13 hingegen verliebte sich in seine Ehefrau und plante die Gründung einer Familie. Nachdem die Ehefrau ihre erste Schwangerschaft durch Abtreibung abgebrochen hatte, fürchtete Herr B-13 die baldige Auflösung der gerade eingegangenen Verbindung und entschloss sich daher, mit seiner Ehefrau nun seinerseits möglichst schnell ein Kind zu zeugen. Da die Ehefrau diesem Ansinnen jedoch nicht zuge­ stimmt hätte, hat Herr B-13 nach eigenen Angaben ohne das Wissen seiner Ehefrau Löcher in die seinerzeit verwendeten Präservative gestochen. Tat­ sächlich wurde die Ehefrau kurz darauf schwanger; das Kind wurde diesmal ausgetragen: A Ich habe, bevor wir geheiratet haben, habe ich meine Frau gefragt: Bleiben wir immer zusammen? Und hat sie gesagt: Jaja. Und dann habe ich einen Monat … ich denke, fragst du das lieber noch mal. Habe ich einen Monat noch mal so gefragt, und da hat sie auch gesagt: Ja. Ich habe aber mir gesagt, das ist ein Typ, das ist Strohfeuer. Das ist eine kurze Liebe, und dann kommt der Nächste und so weiter, und dann ist vorbei. Und dann habe ich gesagt, du musst Nägel mit Köpfen machen. Ich habe in das Gummi oben ein Loch rein gemacht und wir haben so dann miteinander geschlafen, so dass sie ein Kind bekam von mir, ohne die Zusammenhänge direkt zu verstehen.

Wenige Monate nach der Geburt des gemeinsamen Sohnes reichte die Ehe­ frau die Scheidung ein. Im Verlauf der Trennungsphase und des langwierigen Scheidungsprozesses kam es immer wieder zu erheblichen, zunehmend ge­ walttätigen Konflikten zwischen Herrn B-13 und der Familie seiner Ehefrau; hierbei ging es einerseits um das Sorgerecht für das Kind sowie um die Klä­ rung der „Schuldfrage“. Der Konflikt eskalierte dahingehend, dass Herr B-13 seinen Schwiegervater (angeblich „in Notwehr“) mit einer Schusswaffe be­ drohte; daraufhin wurde er angezeigt und wegen unerlaubten Waffenbesitzes verurteilt. Er bekam zudem die Schuld an dem Scheitern der Ehe zugewie­ sen; die Ehefrau erhielt das alleinige Sorgerecht. Herrn B-13 wurde ein ein­ geschränktes Besuchsrecht (einmal im Monat) eingeräumt, welches ihm von der Familie der Ehefrau jedoch zunächst kategorisch verweigert wurde. Herr B-13, der sich betrogen und ausgenutzt fühlte, wurde im Zuge der mehrjähri­ gen gerichtlichen und außergerichtlichen Auseinandersetzungen zunehmend psychisch instabil; der Konflikt gipfelte schließlich darin, dass Herr B-13 seine Ex-Ehefrau im Affekt tötete. Herr B-13 wurde wegen Totschlags zu einer fünfjährigen Gefängnisstrafe verurteilt. Er wurde kurz vor Ende einer Haftstrafe entlassen, stand danach



6. „Komplex Diskontinuierliche“313

jedoch unter Führungsaufsicht. Nach der Verbüßung seiner Haftstrafe war Herr B-13 nach eigenen Angaben ein „psychisches Wrack“; er gibt an, während der Haft mehrfach „gefoltert“ worden zu sein, jedoch zu keinem Zeitpunkt eine psychologische Behandlung erhalten zu haben. Vor diesem Hintergrund ist es Herrn B-13 nicht bzw. nur sehr eingeschränkt gelungen, nach seiner Gefängniszeit wieder in das allgemeine (Berufs-)Leben zurück­ zukehren. Mögliche Hilfeangebote seines Bewährungshelfers schlug er aus, da er diesen als „Repräsentant des Unterdrückungssystems“ betrachtete. Auch die zunächst durchaus vorhandenen Beschäftigungsangebote durch das Arbeitsamt hat Herr B-13 in den ersten Jahren nicht angenommen, da sein alleiniges Bestreben darauf gerichtet war, seinen Sohn, der bei den ihm verhassten Schwiegereltern lebte, zurückzubekommen. Da es nach seiner Verurteilung keinerlei rechtliche Möglichkeiten mehr gab, das Sorgerecht zu erhalten, plante Herr B-13 zunächst eine Kindesentführung. Finanziell konnte er einige Jahre ohne Arbeit (und nach Ablauf der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes auch eine Zeitlang ohne Leistungsbezug) leben, da er nach dem Tod seiner Eltern und dem Verkauf des Elternhauses über eine bescheidene Erbschaft verfügte, die er in dieser Zeit aufgezehrt hat. Nach einigen Jahren hat Herr B-13 schließlich von seinem ursprünglichen Plan Abstand genommen, da er diesen für letztlich nicht realisierbar hielt. Nachdem das vorhandene Restvermögen aufgebraucht war, bezog Herr B-13 Hilfe zum Lebensunterhalt. In den gut drei Jahrzehnten zwischen seiner Haftentlassung (ca. 1980) und seiner Verrentung mit 65 Jahren (2011) hat Herr B-13 bis auf sporadische Aushilfstätigkeiten als Fahrer kaum so­ zialversicherungspflichtig gearbeitet; er schätzt die kumulierte Gesamtdauer seiner sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungszeiten in diesem Ge­ samtzeitraum auf ca. 4 Jahre. Herr B-13 gibt an, sich in den 1980er und 1990er Jahren durchaus um Arbeit bemüht zu haben, um seine finanzielle Lage zu verbessern; seine Bemühungen seien jedoch letztlich erfolglos ge­ blieben. Die von Herrn B-13 beantragte Kostenübernahme für eine Ausbil­ dung zum Fahrlehrer wurde trotz vielfältiger Eingaben nicht genehmigt; letztlich galt Herr B-13 als nicht mehr in den ersten Arbeitsmarkt vermit­ telbar. Herr B-13 berichtet von jahrelangen Konflikten mit dem Sozialamt (später dann mit dem Jobcenter), die mit Sanktionen und diversen Klagen vor dem Sozialgericht verbunden gewesen sind. Mitte der 2000er Jahre hat Herr B-13 nach eigenen Angaben schließlich die Arbeitssuche entmutigt aufgegeben: A Ja, ein Einschnitt war, dass ich erkannt habe, dass ich total verloren habe. Null Chance habe. Ich habe den Eindruck, niemand auf der Welt hat so viele Be­ werbungen geschrieben wie ich. Und ich habe irgendwann erkannt, dass alters­ bedingt nichts zu machen, zu holen ist. Absolut null. Das ist dann unter dem Begriff Machtlosigkeit, beziehungsweise ich habe nicht genug Positives. Wenn

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V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen ich genug Positives hätte, wenn ich eine weibliche junge Schönheit wäre, so­ fort hätte ich einen Arbeitsplatz. Aber ich bin ein alter Sack, das ist vorbei.

In der Rückschau ist Herr B-13 der festen Meinung, von deutschen Be­ hörden grundsätzlich nur Schikanen, aber keinerlei echte Hilfe erhalten zu haben und auch in Zukunft erwarten zu können. Er berichtet von starken psychischen Problemen (er hat nach eigenen Angaben zwischenzeitlich „am Stück ca. 15  Jahre nicht geschlafen“) sowie aktuell sehr schlechten Wohn­ bedingungen (Schimmel in der Wohnung, defekte Haushaltsgeräte), sieht jedoch kaum Chancen auf eine nachhaltige Verbesserung seiner Situation. c) Typische Biografiemuster und Risikokonstellationen Wie bereits zu Beginn dieses Teilkapitels festgestellt, handelt es sich bei der Gruppe der „Komplex Diskontinuierlichen“ um die in sich heterogenste Teilgruppe im Untersuchungssample. Mehr als in allen anderen Gruppen scheint es sich hier auf den ersten Blick um Einzelschicksale zu handeln, die gewissermaßen für sich allein stehen und sich einer Kategorisierung entziehen. Nichtsdestotrotz weisen die Fälle in dieser Teilgruppe einige Ähnlichkeiten und biografische Parallelen auf: Erstens ist es in vier von fünf Fällen bereits in der Kindheitsphase zu ersten Problemen und Defiziten gekommen; das (gemessen an Maßstäben für ein „gelungenes“ Leben) letztliche Scheitern der individuellen Biografie ist zumindest zum Teil bereits im Kindheitsverlauf bzw. in der familiären Herkunftssituation angelegt. − Bei Herrn B-13 sind es zum einen die fehlende Liebe und Anerkennung seitens des Elternhauses und zum anderen das Handicap einer (zumindest subjektiv wahrgenommenen) Missbildung des Körpers, die zu starken persönlichen Komplexen geführt haben. Nach einer äußerst unglücklich verlaufenen Beziehung hat Herr B-13 die Trennung von seiner Ehefrau (und den Verlust des Sorgerechts für seinen Sohn) psychisch nicht ver­ kraften können, weshalb er seine Ehefrau im Affekt getötet hat. In diesem Zusammenhang fällt auf, dass bereits der Vater von Herrn B-13, der seinerseits als Kind sexuell missbraucht worden ist, wegen eines Sexual­ deliktes zu einer Haftstrafe verurteilt worden ist. − Auch im Falle von Frau M-33, die als Waisenkind in einer Pflegefamilie in ärmlichsten Verhältnissen aufgewachsen ist, hat es in der Kindheit an Liebe und Geborgenheit gefehlt. Dieses emotionale Defizit, diese gestei­ gerte Sehnsucht nach emotionaler Zuwendung, zieht sich wie ein roter Faden durch ihre Familien- und Partnerschaftsbiografie; sie hat in ihrem Leben insgesamt 5 gescheiterte Ehen geführt sowie unzählige weitere Beziehungen und Verhältnisse gehabt. Frau M-33 macht ihr gesteigertes



6. „Komplex Diskontinuierliche“

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Bedürfnis nach Nähe auch dafür verantwortlich, dass sich die Spielsucht und die Tendenz zur Selbstzerstörung ihres letzten Ehepartners auch auf sie übertragen haben; im Ergebnis ist es zu einem psychischen Zusam­ menbruch sowie zu einem Totalverlust des Vermögens gekommen. − Sowohl bei Herrn G-05 als auch bei Frau M-10 liegt eine innerdeutsche Migration vor. Beide kommen aus einem eher bildungsfernen Elternhaus, haben ihre Ausbildung abgebrochen bzw. keine Ausbildung erhalten und sind in sehr jungem Alter (Herr G-05 war 17  Jahre alt, Frau M-10 war erst 16 Jahre alt) auf eigene Faust aus der DDR in die BRD geflüchtet. Frau M-10 gibt im Interview „familiäre Gründe“ für ihre Flucht an, die sie jedoch nicht näher erläutern will. In der westdeutschen Gesellschaft waren beide von Anfang an in einer stark benachteiligten und prekären Lage, da sie weder über finanzielle, familiäre oder sonstige Ressourcen noch über zertifizierte berufliche Qualifikationen verfügten. In beiden Fällen waren insbesondere die ersten Jahre in der BRD mit einer Erfah­ rung der sozialen Schutzlosigkeit sowie der materiellen Ausbeutung ver­ bunden; Frau M-10 berichtet zudem von sexueller Belästigung durch Vorgesetzte. Ihre Außenseiterposition auf dem (west-)deutschen Arbeits­ markt haben beide letztlich ihr Leben lang nicht verlassen können. Zweitens ist es in vier von fünf Fällen zu schwerwiegenden psychischen Problemen bzw. zu Suchtproblemen gekommen. Während sich Herr B-13 nach dem Ende seiner fünfjährigen Haftstrafe jahrelang aus der Gesellschaft zurückgezogen und bis heute keine psychologische Behandlung erfahren hat, hat Frau M-33 mehrere Therapien und Klinikaufenthalte hinter sich. In zwei Fällen hat eine Alkoholsucht vorgelegen, die im Zeitverlauf zu wach­ senden Problemen der Betroffenen geführt hat. − Im Fall von Herrn G-05 ist es durch die Alkoholkrankheit zu einem Ver­ lust sowohl der (ohnehin eher bescheidenen) Berufsperspektiven als auch der Partnerschaftsbeziehung sowie der Wohnung gekommen; Herr G-05 war zwischenzeitlich obdachlos und hat jahrelang unter äußerst prekären und langfristig gesundheitsschädlichen Bedingungen gewohnt. − Im Fall von Frau S-53 ist es, bedingt durch ihre Alkoholkrankheit (zuletzt mehrere Flaschen Korn am Tag), zu einer zunehmenden Verwahrlosung gekommen. Auch der seitens des Betreuungsgerichts eingesetzte gesetz­ liche Betreuer konnte nicht verhindern, dass am Ende die Feuerwehr ihre Wohnungstür aufbrechen und sie aus ihrer vollkommen vermüllten Woh­ nung „befreien“ musste. Ihr damaliger Lebensabschnittsgefährte war auch schwerer Alkoholiker und hatte in der Wohnung mehrere Hunde gehalten, die schließlich von der Tierschutzbehörde abgeholt wurden; die Wohnung musste anschließend grundsaniert werden. Frau S-53 kam in eine Ent­ zugsklinik und anschließend in ein Pflegeheim.

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V. Empirische Ergebnisse (II): Zentrale Risikogruppen

Drittens haben die meisten Betroffenen zwischenzeitlich erhebliche finan­ zielle Probleme (im Fall von Herrn G-05 und Frau S-53 u. a. Mietschulden) gehabt. In zwei Fällen waren die Betroffenen zwischenzeitlich selbstständig und haben in dieser Zeit hohe Schulden angehäuft: − Frau M-10 hat durch eine nur knapp einjährige Selbstständigkeit (Betrieb einer Imbissbude) erhebliche Schulden (70.000 DM) gemacht, die sie über 10 Jahre hinweg in Raten abgezahlt hat. Durch die dafür notwendi­ ge Mehrarbeit am Abend und an den Wochenenden hat sie jedoch nach eigenen Angaben ihre Gesundheit ruiniert („irgendwann rächt sich der Körper“), so dass sie im Alter von 45  Jahren einen Herzinfarkt erlitt und für mehrere Jahre aus dem Erwerbsleben ausscheiden musste. − Frau M-33 hat einige Jahre lang als offizielle Geschäftsführerin und Be­ sitzerin einer Immobilien-Investmentgesellschaft fungiert, war dabei je­ doch streng genommen nur eine „Strohfrau“, da ihr Lebensgefährte die (größtenteils „halblegalen“) Geschäfte kontrolliert hat. Nach dem Kon­ kurs des Unternehmens hatte sie rund 400.000 DM Schulden; zudem wurde sie wegen Steuerhinterziehung angeklagt und verurteilt. Diese Schulden haben sich auch Jahre später noch negativ auf ihre spätere Er­ werbskarriere ausgewirkt: So verlor Frau sie ihre sozialversicherungs­ pflichtige Festanstellung, als ihr Arbeitgeber aufgrund einer Kontopfän­ dung von ihrer Vorgeschichte erfuhr. Frau M-33 ging daraufhin mangels besserer Alternativen den Schritt in das Prostitutionsgewerbe, in dem sie rund 10 Jahre lang bleiben sollte. Viertens lässt sich feststellen, dass es in der Gruppe der „komplex Dis­ kontinuierlichen“ häufiger und deutlicher als in anderen Gruppen zu Phäno­ menen sozialer Devianz gekommen ist, also zu „Verhaltensweisen […], die gegen die in einer Gesellschaft oder einer ihrer Teilstrukturen geltenden Normen verstoßen und im Falle der Entdeckung soziale Reaktionen hervor­ rufen, die darauf abzielen, die betreffende Person, die dieses Verhalten zeigt, zu bestrafen, zu isolieren, zu behandeln oder zu bessern“ (Peuckert 2010: 108). So sind Herr B-13 und Frau M-33 die einzigen beiden Personen im Untersuchungssample mit einer Vorstrafe, wobei es sich im Fall von Frau M-33 lediglich um eine Bewährungsstrafe wegen Steuerhinterziehung handelt, während Herr B-13 wegen eines Tötungsdelikts eine fünfjährige Haftstrafe verbüßt hat. Auch Herr G-05 hat zumindest einige Tage im Ge­ fängnis verbracht, allerdings wegen einer vergleichsweise harmlosen Wirts­ hausschlägerei. Einzig auf Frau M-10 trifft die Diagnose abweichenden Verhaltens (bis auf ihre jahrelange Schwarzarbeit) nicht zu; in ihrem Fall ist es vielmehr zu einer extremen Kumulation von Risiken in verschiedenen Dimensionen des Lebenslaufs gekommen: Sowohl in ihrer Bildungs- und Erwerbsbiografie, ihrer Familien- und Partnerschaftsbiografie als insbeson­



6. „Komplex Diskontinuierliche“317

dere auch in ihrer Gesundheitsbiografie sind diverse Probleme und Schick­ salsschläge eingetreten, die in vielen Fällen bereits für sich allein genommen eine individuelle Grundsicherungsbedürftigkeit bewirkt hätten. Alles in allem weisen die „komplex Diskontinuierlichen“ ein besonders hohes Maß an individuellen Belastungen im Lebensverlauf auf. Stärker als in den meisten anderen Gruppen zeigt sich gerade in dieser Gruppe der „besonders schweren Fälle“, dass die individuelle Erwerbs- und Versiche­ rungsbiografie nur eine Biografiedimension unter mehreren darstellt und dass hinter einer diskontinuierlichen bzw. „perforierten“ Erwerbsbiografie zumindest in einem Teil der Fälle auch ein individueller Prozess des sozia­ len Abstiegs und der sozialen (Selbst-)Ausgrenzung stehen kann.

VI. Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter: Gegenwart und Zukunft 1. Einleitung: Generationenwechsel in der Grundsicherung Die vorliegende Studie untersucht die Lebensverläufe heutiger Empfän­ ger / -innen von Leistungen der Grundsicherung im Alter. Im Mittelpunkt der empirischen Analyse stehen Seniorinnen und Senioren, die in den ersten 10 Jahren seit der Einführung der Grundsicherung im Alter und bei Er­ werbsminderung (2003) in dieses System zugegangen sind. Es handelt sich größtenteils um Angehörige der Geburtskohorten 1938–1947, die zum Zeit­ punkt der Befragung zwischen 65 und 75  Jahre alt waren, mithin um die „jungen Alten“ im Grundsicherungsbezug. Die in den beiden vorangegangenen Kapiteln vorgenommene empirische Analyse der Lebensverläufe der insgesamt 49 befragten Grundsicherungsbe­ zieher / -innen zeigt zunächst einmal eine enorme Bandbreite hinsichtlich der individuellen Lebensverlaufsmuster, der jeweils spezifischen Risiko- und Belastungskonstellationen und damit auch der biografischen Determinanten der Grundsicherungsbedürftigkeit auf. In den meisten Fällen ist die Grund­ sicherungsbedürftigkeit im Alter dabei nicht auf einen „entscheidenden“ Faktor zurückzuführen, sondern vielmehr multifaktoriell bedingt. Trotz der starken Heterogenität der Einzelfälle lässt sich als übergreifendes gemeinsa­ mes Merkmal jedoch eine im Biografieverlauf ausgesprochen schwache Integration in die gesetzliche Rentenversicherung feststellen, die durch pri­ vate Vorsorgeformen oder eine Absicherung im Haushaltskontext nicht kompensiert werden kann. Die Fälle im Untersuchungssample wurden auf der Grundlage ihrer spe­ zifischen Risikokombinationen und Biografiemuster zu verschiedenen „Clustern“ bzw. Risikogruppen zusammengefasst, um auf diese Weise zu begründeten Tendenzaussagen bezüglich der personellen Zusammensetzung der heutigen „Grundsicherungspopulation“ zu kommen. Die vorgenommene Typenbildung hat folgende zentrale Risikogruppen ergeben: − familienorientierte Frauen, − ehemalige Selbstständige, − Zuwanderer (Arbeitsmigranten der ersten Generation, Aussiedler und Kontingentflüchtlinge),



1. Einleitung: Generationenwechsel in der Grundsicherung319

− umbruchsgeprägte Ostdeutsche, − „komplex Diskontinuierliche“. Diese Einteilung hat einen idealtypischen Charakter und eine in erster Linie heuristische Funktion; sie sollte als ein Versuch verstanden werden, die vielfältigen Lebenswege in die Altersarmut und ihre biografischen Hin­ tergründe stärker zu systematisieren. Weitere Differenzierungen wären si­ cherlich denkbar gewesen, haben sich aus dem Untersuchungssample jedoch nicht ergeben. Auffallend ist, dass zumindest im Untersuchungssample der vorliegenden Studie, für das selbstverständlich keine „Repräsentativität“ im statistischen Sinne behauptet werden kann, langjährig vollzeitbeschäftigte Geringverdie­ ner praktisch nicht enthalten sind. Dies ist insofern bemerkenswert, als dass viele Reformvorschläge in der politischen Debatte, unter anderem auch die diesbezüglichen Vorschläge der aktuellen Regierungsparteien und des BMAS, im Wesentlichen auf eben diese Gruppe abzielen (vgl. Kap. VII.). Bei der großen Mehrzahl der grundsicherungsbedürftigen Personen im Un­ tersuchungssample der vorliegenden Studie handelt es sich eben gerade nicht um langjährig sozialversicherungspflichtig erwerbstätige Geringverdie­ ner, sondern vielmehr um „GRV-Aussteiger / -innen“, also um Personen, die aus verschiedenen Gründen über lange Strecken ihrer Erwerbsbiografie nicht bzw. nicht sozialversicherungspflichtig beschäftigt gewesen sind. Das zentrale Altersarmuts- und Grundsicherungsbedürftigkeitsrisiko, so belegen die im Rahmen der vorliegenden Studie durchgeführten Analysen nachdrücklich, liegt in der temporären oder dauerhaften (Selbst-)Exklusion aus der Versichertengemeinschaft der GRV. Die Gründe für den Kontaktver­ lust (bzw. den freiwilligen Kontaktverzicht) zur GRV und die daraus resul­ tierenden Versicherungslücken sind vielfältig, wie die Analyse der einzelnen Risikogruppen zeigt: Sie reichen von einer traditionellen geschlechtsspezifi­ schen Rollenteilung im Ehekontext über die Aufnahme einer nicht obligato­ risch gesicherten Selbstständigkeit bis hin zu gesundheitlichen Einschrän­ kungen oder strukturellen Umbrüchen auf dem Arbeitsmarkt, die zu langen individuellen Arbeitslosigkeitsphasen führen. Hinzu kommen Personen mit Zuwanderungshintergrund, die einen nicht unerheblichen Teil ihres Lebens außerhalb Deutschlands und damit auch außerhalb des Schutzes der GRV verbracht haben. Grundsätzlich ist dieser Befund nicht übermäßig überraschend. Die Er­ gebnisse der Studie „Altersvorsorge in Deutschland 2005“ (AVID 2005) weisen in eine ähnliche Richtung: Die Versicherungsbiografien der Personen im untersten Quintil der projizierten Alterseinkommen weisen im Schnitt zwei- bis dreimal höhere Zeiten der Arbeitslosigkeit sowie der sozialversi­ cherungsfreien Selbstständigkeit auf; bei (westdeutschen) Frauen kommen

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VI. Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter: Gegenwart und Zukunft

längere Phasen der geringfügigen Beschäftigung und der Haushaltsführung mit Kindern hinzu (Heien et al 2007: 60, 197 ff.). Diese Ergebnisse liefern, wie der dritte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung zutreffen­ derweise feststellt, „einen deutlichen Hinweis darauf, dass niedrige Einkom­ men im Alter in erheblichem Umfang durch ausgeprägte Zeiten außerhalb des Versicherungsschutzes der GRV bzw. mit begrenztem Versicherungs­ schutz begründet sind.“ (BT-Drs.16 / 9915: 47). Die Ergebnisse der vorliegenden Studie weisen darüber hinaus darauf hin, dass zumindest bei einem Teil der Fälle auch die Einstellungsmuster der Betroffenen relevant gewesen sind. Auch wenn bei Werturteilen im Zusam­ menhang mit komplexen Biografieverläufen eher Zurückhaltung geboten ist, so lässt sich nicht von der Hand weisen, dass eine gewisse Tendenz zur Minderschätzung zukünftiger Bedürfnisse und ein in vielerlei Hinsicht eher kurzsichtiges Verhalten in manchem Einzelfall zumindest einen Beitrag zur heutigen Grundsicherungsbedürftigkeit geleistet hat. Die hier untersuchten Fälle von Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter gehören zu bestimmten Geburtsjahrgängen (1938–1947); für diese kurz vor, während oder kurz nach dem Zweiten Weltkrieg geborenen Kohorten sind bestimmte historische, ökonomische, gesellschaftliche und rechtliche Rah­ menbedingungen maßgeblich gewesen, die sich von den denjenigen nach­ folgender Geburtskohorten, insbesondere der „Babyboomer“-Kohorten, in vielerlei Hinsicht unterscheiden. Zumindest bei den westdeutschen Männern findet man in diesen Geburtskohorten den höchsten Anteil von „Eckrent­ nern“, also von Personen, die die biografischen Normalitätsannahmen und Kontinuitätsanforderungen des deutschen Rentensystems (40 bis 45  Jahre im „Normalarbeitsverhältnis“ mit mehr oder weniger durchschnittlichem Verdienst) tatsächlich erfüllt haben. Eben diese (männliche) „Normalbiografie“ ist jedoch insbesondere auf­ grund der Arbeitsmarktentwicklungen seit der Wiedervereinigung deutlich auf dem Rückzug. Die vorliegenden Studien und Projektionen zum Wandel der Erwerbsbiografien und ihrer Konsequenzen für die späteren Altersein­ künfte kommen übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass es im Kohorten­ verlauf zu einer zunehmenden Diskontinuität und Pluralisierung von Er­ werbsverläufen kommt (Simonson et al. 2012: 5), die sich in einem „Rück­ gang stetiger Erwerbsverläufe und einer relativen Zunahme diskontinuierli­ cher Verläufe“ äußert (Frommert 2013: 5). Hinzu kommen die seit Mitte der 1990er Jahre verabschiedeten, kumulativen Reformen des deutschen Ren­ tensystems, durch die das Rentenniveau langfristig um rund 25 % sinken wird (Schmähl 2011). Vor diesem Hintergrund kommen die vorliegenden Studien zur Entwick­ lung der Leistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung in den letzten



1. Einleitung: Generationenwechsel in der Grundsicherung321

zehn bis 15  Jahren (Himmelreicher / Frommert 2006, Frommert / Himmelrei­ cher 2010, Trischler / Kistler 2011, Goebel / Grabka 2011) und die Projektio­ nen ihrer zukünftigen Entwicklung (Steiner / Geyer 2010, Geyer / Steiner 2010, Kumpmann et al. 2010, Simonson et al. 2012, Trischler 2014) hinsicht­ lich der zentralen Entwicklungstendenzen zu sehr ähnlichen Ergebnissen. Es lassen sich zwei große Trends im Zeitverlauf ausmachen: Zum einen der Trend über die Kohorten hinweg sinkender durchschnittlicher Anwartschaf­ ten in der GRV (mit Ausnahme der westdeutschen Frauen), zum anderen der Trend einer im Zeitverlauf zunehmenden Ungleichheit der Anwartschaften innerhalb der Geburtskohorten. Dieser Trend zunehmender Ungleichheit auf sinkendem Niveau bei den Rentenanwartschaften ist in den neuen Bundes­ ländern aufgrund der dortigen Arbeitsmarktentwicklungen und der damit ver­ bundenen deutlichen Veränderung der Erwerbsbiografien stärker als in den alten Bundesländern ausgeprägt (Krenz / Nagl 2009, Kumpmann et  al. 2010, Frommert / Himmelreicher 2010, Trischler / Kistler 2011). Angesichts der Tat­ sache, dass betriebliche und private Vorsorgeformen im unteren Einkom­ mensbereich nach wie vor vergleichsweise schwach verbreitet sind, ist davon auszugehen, dass die sinkenden und zunehmend ungleichen Rentenleistungen auch zu einer Zunahme unzureichender Alterseinkünfte führen werden. Grundsätzlich wird die absolute Zahl der grundsicherungsbedürftigen Personen schon allein aus demografischen Gründen ab ca. 2020, wenn die geburtenstarken Kohorten ins Rentenalter kommen, deutlich ansteigen; dar­ über hinaus ist jedoch aufgrund der beschriebenen Veränderungen am Ar­ beitsmarkt und den Reformen des Rentensystems auch von einem deutlichen Anstieg des relativen Anteils der Grundsicherungsbezieher / -innen an der Gesamtheit der Seniorinnen und Senioren auszugehen. Nicht nur die abso­ lute und die relative Größe, sondern auch die Zusammensetzung der Grund­ sicherungspopulation wird sich perspektivisch verändern, wenn neue Kohor­ ten das Renteneintrittsalter erreichen und ältere Kohorten altersbedingt wegfallen. Sowohl in der allgemeinen Rentnerpopulation als auch in der Grundsicherung im Alter wird es zu einem Generationenwechsel kommen: − Von den Kriegskohorten (1936–1945), die bereits in die Ruhestandsphase eingetreten um im Rentenbezug sind, − über die Nachkriegsjahrgänge (1946–1955), die aktuell und in den nächs­ ten Jahren den Rentenübergang vollziehen, − zu den „Babyboomern“ (1956–1965), die ab 2020 das Rentenalter errei­ chen werden (vgl. Simonson et al. 2012). Im Folgenden werden zunächst die verschiedenen im vorangegangenen Kapitel ermittelten und detailliert beschriebenen Risikogruppen von heute im Hinblick auf ihre zukünftigen Entwicklungsperspektiven analysiert. An­ schließend wird der Frage nachgegangen, welche neuen Risikogruppen, die

322

VI. Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter: Gegenwart und Zukunft

im Untersuchungssample der vorliegenden Studie (noch) nicht repräsentiert sind, in Zukunft voraussichtlich an Bedeutung gewinnen werden. 2. Risikogruppen der Gegenwart: Mittelfristige Entwicklungsperspektiven a) Familienorientierte Frauen Familienorientierte (westdeutsche) Frauen bilden aktuell mit großer Wahrscheinlichkeit noch immer die größte Einzelgruppe innerhalb der Ge­ samtheit der Bezieher / -innen der Grundsicherung im Alter. Dies gilt schon aus demografischen Gründen (längere Lebenserwartung von Frauen) insbe­ sondere für ältere Jahrgänge (Personen im Alter von 75  Jahren und mehr). Aber auch die „jungen Alten“ (65- bis 75-Jährige) im Grundsicherungsbe­ zug sind zumindest in den alten Bundesländern stark durch Frauen geprägt, deren Lebensentwurf sich mehr oder weniger deutlich an einem männlichen Ernährermodell orientiert hat, wie es in der „alten“ BRD jahrzehntelang dominant gewesen ist. In den neuen Bundesländern ist dieses Modell zwar durchaus auch vorgekommen, aber insgesamt deutlich seltener als in den alten Bundesländern. Gerade für die westdeutschen Frauen der hier untersuchten Geburtsjahr­ gänge lässt sich eine ganze Reihe an nachteiligen Rahmenbedingungen für eine „volle“ eigene Erwerbskarriere und den Aufbau einer eigenständigen Alterssicherung identifizieren [vgl. Kap. V.2.a)]; in rentenrechtlicher Hin­ sicht sind hier insbesondere die bis 1967 gegebene Möglichkeit der Heirats­ erstattung sowie der bis 1977 noch nicht existierende Versorgungsausgleich zu nennen. Im Zeitverlauf haben sich die gesellschaftlichen und ökonomi­ schen, aber auch die familien- und rentenrechtlichen Rahmenbedingungen jedoch in vielfacher Hinsicht deutlich verändert und dabei (zumindest im Hinblick auf die Ermöglichung einer eigenständigen Existenzsicherung im Alter) deutlich verbessert. An dieser Stelle seien nur einige Veränderungen stichwortartig aufgezählt: − Wegfall der „Heiratserstattung“ (1967); − Änderung des Scheidungsrechts, Einführung des Versorgungsausgleichs (1977); − verbesserte Anerkennung von Kindererziehungs- und Pflegezeiten in der GRV (1986 ff.); − Ausbau des Kinderbetreuungsangebots (Rechtsanspruch auf einen Kin­ dergartenplatz ab dem dritten Lebensjahr seit 1996, Anspruch auf früh­ kindliche Förderung ab dem ersten Lebensjahr seit 2013);



2. Gegenwart: Mittelfristige Entwicklungsperspektiven323

− teilweise verbesserte Möglichkeiten für flexible Arbeitszeiten (u. a. durch die Einführung des Teilzeit- und Befristungsgesetzes 2001); − verbesserter Zugang zu Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik für langzeitarbeitslose Frauen im Zusammenhang mit den Hartz-Reformen (2003 ff.); − zielgruppenspezifische arbeitsmarktpolitische Programme, z. B. „Perspek­ tive Wiedereinstieg“, Programme für Alleinerziehende etc. Die (westdeutschen) Frauen der Babyboomer-Kohorten (je nach Abgren­ zung in etwa die Geburtsjahrgänge 1955 bis 1970) haben somit gegenüber den Kriegs- und Nachkriegskohorten deutlich verbesserte, günstigere Rah­ menbedingungen im Hinblick auf die Vereinbarkeit von Beruf und Familie sowie die Chancen für eine eigenständige Existenzsicherung in der Erwerbsund Nacherwerbsphase vorgefunden. Sie haben allerdings noch nicht von al­ len Verbesserungen, die für noch jüngere Frauenkohorten mittlerweile Stan­ dard sind, profitieren können. So haben insbesondere die in der zweiten Hälf­ te der 1950er Jahre geborenen Frauen beispielsweise ihre Kinder häufig noch vor 1992 geboren und haben daher (zumindest bis 2014) nicht von der ver­ besserten Berücksichtigung der Kindererziehung in der GRV profitiert; eben­ so kam für viele ältere „Babyboomerinnen“ der Mitte der 1990er Jahre ge­ währte Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz ein paar Jahre zu spät. Von der Ausweitung der frühkindlichen Betreuung, dem Elterngeld und ähn­ lichen familienpolitischen Maßnahmen und Programmen profitieren ohnehin erst die Nach-Babyboomer-Kohorten. Insgesamt nehmen die westdeutschen Frauen der Babyboomer-Kohorten, die aktuell in etwa zwischen 50 und 60 Jahre alt sind, hinsichtlich der für ihre Biografie relevanten institutionellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen somit eine Zwischenposition ein. Diese Übergangskonstellation zeigt sich auch im Hinblick auf die Biogra­ fiemuster und Lebensentwürfe, die für die Mehrheit der Frauen dieser Ko­ horten maßgeblich gewesen sind. Grundsätzlich wandelt sich die klassische Rollenteilung von Männern und Frauen bereits seit den 1970er Jahren: Das männliche Ernährermodell ist in den alten Bundesländern zumindest in seiner traditionellen Variante (Ehemann als Alleinverdiener) über die Kohor­ ten hinweg rückläufig; klassische „Hausfrauenbiografien“ werden tendenzi­ ell seltener. In den neuen Bundesländern hat das Alleinernährermodell oh­ nehin nie eine große Rolle gespielt. Bislang ist an die Stelle des traditionel­ len Leitbildes des männlichen Alleinernährers jedoch weder in der Politik noch in den Rollenbildern der Bevölkerung ein neues, gleichermaßen domi­ nantes Modell männlicher und weiblicher Lebensläufe getreten. Betrachtet man die Erwerbskonstellationen von Paaren mit minderjährigen Kindern in den alten Bundesländern, so zeigt sich für das Jahr 2007 folgendes Bild (Brehmer et al. 2010: 14):

324

VI. Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter: Gegenwart und Zukunft

− In 10,9 % der Fälle arbeiten beide Partner in Vollzeit; − in 47,5 % der Fälle arbeitet der Mann in Vollzeit, die Frau hingegen in Teilzeit; − 26,2 % der Fälle sind männliche Alleinverdienerhaushalte; − 6,2 % der Fälle sind weibliche Einverdienerhaushalte; − in 9,2 % der Fälle sind andere Konstellationen (u. a. beide teilzeitbeschäf­ tigt, beide arbeitslos) gegeben. Anders als es die öffentliche Debatte zuweilen suggeriert, hat sich das Doppelverdienermodell im Familienkontext somit bis heute bei weitem nicht als neuer „Standard“ etabliert; das bei weitem häufigste Modell ist vielmehr ein „modernisiertes“ Ernährermodell (Zuverdienermodell), bei dem der männliche (Ehe-)Partner die Rolle des Hauptverdieners einnimmt und der weibliche Ehepartner einen Zuverdienst zum Haushaltseinkommen beisteuert. Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass Paarhaushalte mit Kindern nur ein Drittel aller Haushalte ausmachen; andere Haushaltsformen, insbesondere Einpersonenhaushalte, nehmen perspektivisch zu. Jüngere Frauen heiraten im Durchschnitt deutlich später und seltener und bekommen weniger Kinder (und diese auch später) als Frauen älterer Jahrgänge. Die Zahl der Alleinstehenden wächst (u. a. als Folge des späteren Heiratsalters und der hohen Scheidungszahlen), so dass insgesamt mehr Frauen ihren Lebensunterhalt durch eigene Erwerbstätigkeit sichern (müssen). Die Tatsache, dass die Erwerbstätigkeitsquote von Frauen in Deutschland in den letzten zwei Jahrzehnten deutlich angestiegen ist (nach EurostatDaten von rund 67 % Mitte der 1990er Jahre auf rund 77 % im Jahr 2013) und der Anteil der erwerbstätigen Frauen in Deutschland damit mittlerweile rund 10 Prozentpunkte über dem EU-Durchschnitt liegt, stellt allerdings im Hinblick auf die tatsächlichen Chancen einer weitgehend durchgängigen Erwerbs- und Versicherungsbiografie und den Aufbau eines existenzsichern­ den eigenständigen Alterseinkommens für Frauen allenfalls einen Teilerfolg dar. Wie in empirischen Arbeiten zur Entwicklung der weiblichen Erwerbs­ tätigkeit in Deutschland und Europa (Kümmerling et al. 2008, Franz et al. 2012) wiederholt herausgestellt worden ist, geht der größte Teil des Zu­ wachses der Frauenerwerbstätigkeit nämlich auf das Konto von Teilzeitbe­ schäftigung und insbesondere von geringfügiger Beschäftigung (Minijobs); das in Vollzeitäquivalente umgerechnete Erwerbsarbeitsvolumen von Frauen in Deutschland hat sich im Zeitverlauf hingegen kaum gesteigert. In den letzten 20 Jahren hat es insofern keine Umverteilung von Arbeit und Erwerbseinkommen zwischen Männern und Frauen gegeben. Vielmehr hat eine Umverteilung unter den Frauen stattgefunden: Das Arbeitsvolumen von Frauen ist von wenigen Vollzeitstellen auf mehr Teilzeitstellen und



2. Gegenwart: Mittelfristige Entwicklungsperspektiven

325

geringfügige Beschäftigungsverhältnisse umverteilt worden. Vereinfacht gesagt: Immer mehr Frauen arbeiten, aber in immer kleineren Erwerbsver­ hältnissen. Die Schere zwischen den durchschnittlichen Arbeitszeiten von Männern und Frauen sowie zwischen Frauen mit Kindern und Frauen ohne Kinder hat sich also keinesfalls geschlossen, sondern vielmehr weiter geöff­ net (Sachverständigenkommission Gleichstellung 2011: 93, Kümmerling et al. 2008: 6). Mutterschaft hat in Deutschland somit noch immer langfris­ tige negative Auswirkungen auf die weibliche Arbeitsmarktpartizipation. Zwar geben Frauen ihre Erwerbstätigkeit in der Regel nicht mehr endgültig auf, aber im Durchschnitt kommt es nach wie vor zu einer dauerhaften Reduzierung des Arbeitsvolumens (Franz et al. 2012). Unter dem Aspekt der Alterssicherung ist die insbesondere in den alten Bundesländern gestiegene Verbreitung geringfügiger Beschäftigungsverhält­ nisse insofern kritisch zu bewerten, als dass „Minijobs“ auch im Falle eines Verzichts auf die Sozialversicherungsfreiheit allenfalls einen marginalen Beitrag zu einer eigenständigen Existenzsicherung von Frauen leisten kön­ nen; stattdessen unterstützen sie den Bedarf an abgeleiteten Sicherungs­ formen und damit faktisch die Fortexistenz des Ernährermodells. Aus alters­ sicherungspolitischer Sicht sind allerdings auch Teilzeitbeschäftigungsver­ hältnisse zumindest ambivalent. Sicherlich stellt eine kontinuierliche sozial­ versicherungspflichtige Teilzeittätigkeit im Hinblick auf den Aufbau eigen­stän­diger Rentenanwartschaften gegenüber der Arbeitslosigkeit, der gering­ fügigen Beschäftigung oder dem Rückzug in die „Stille Reserve“ sicherlich eine deutlich bessere Alternative dar; dennoch kann aus einer langjährigen Teilzeitbeschäftigung heraus in der Regel keine existenzsichernde eigenstän­ dige GRV-Altersrente generiert werden. Dies lässt sich an folgender Bei­ spielrechnung verdeutlichen: Bei einer kontinuierlichen Teilzeitbeschäfti­ gung (20 Stunden / Woche) mit durchschnittlichen Verdienst (entspricht 0,5 Entgeltpunkten pro Jahr) hätte eine Zugangsrentnerin im Jahr 2012 rund 57 Beitragsjahre gebraucht, um eine GRV-Altersrente in Höhe des Grundsiche­ rungsniveaus (entsprach 2012 ca. 28,5 Entgeltpunkten) zu erzielen; ange­ sichts des sinkenden Rentenniveaus wird sich dieser Wert in Zukunft sogar noch erhöhen. Trotz der verbesserten Anrechnung von Kindererziehungsleistungen in der GRV lässt sich daher festhalten: Letztlich kann im Rahmen des erwerbs­ arbeitszentrierten deutschen Alterssicherungssystems nur eine über mehr als drei Jahrzehnte währende, möglichst kontinuierliche sozialversicherungs­ pflichtige Vollzeiterwerbstätigkeit mit einem Stundenlohn deutlich oberhalb der Niedriglohnschwelle eine eigenständige Existenzsicherung im Alter durch die GRV gewährleisten. Daher kann es kaum verwundern, dass viele Frauen, insbesondere viele westdeutsche Frauen, trotz eigener Erwerbstätig­ keit von einer eigenständigen Existenzsicherung im Alter noch weit entfernt

326

VI. Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter: Gegenwart und Zukunft

sind. Wie Himmelreicher (2013) auf der Grundlage einer Zeitreihenanalyse der Rentenzugangsstatistiken ermittelt hat, ist die Summe der persönlichen Entgeltpunkte (EP) bei der westdeutschen Medianrentnerin im Beobach­ tungszeitraum 1993–2011 zwar um rund 22 % gestiegen; dieser Anstieg vollzieht sich jedoch vor dem Hintergrund äußerst niedriger absoluter Wer­ te (von 11,5 EP im Jahr 1993 auf 17 EP im Jahr 2011).30 Nach wie vor belaufen sich die eigenen Anwartschaften in der gesetzlichen Rentenversi­ cherung (ohne zusätzliche Anwartschaften wegen Versorgungsausgleichs) von knapp jeder dritten westdeutschen Zugangsrentnerin auf weniger als zehn Entgeltpunkte (Himmelreicher 2013: 295). Man muss bei westdeut­ schen Frauen also von einem eher langsamen Anstieg der Altersrenten sprechen, der von einem sehr geringen Niveau ausgeht. Verschiedene Studien und Projektionen weisen darauf hin, dass sich in absehbarer Zukunft an dieser Situation nicht viel ändern wird. So sind im Rahmen einer Sonderauswertung der AVID 2005 für den ersten Gleichstel­ lungsbericht der Bundesregierung (Frommert / Thiede 2011) die Häufigkeit und die Dauer verschiedener Erwerbsstatus ermittelt und für vier verschie­ dene Kohortengruppen, die jeweils aus 5 Geburtsjahrgängen bestehen (1942–1946, 1947–1951, 1952–1956 und 1957–1962) miteinander vergli­ chen worden. Bei den westdeutschen Frauen zeigen sich dabei über die vier Kohorten­ gruppen hinweg folgende Entwicklungen: − Sowohl der Anteil der Frauen mit Phasen der sozialversicherungspflich­ tigen Vollzeiterwerbstätigkeit als auch der Anteil der Frauen mit Kinder­ erziehungsphasen bleiben einigermaßen konstant bzw. steigen im Zeitver­ lauf leicht an. Es sinkt jedoch nicht nur die durchschnittliche Dauer der familienbedingten Erwerbsunterbrechungen (um rund 4 Jahre), sondern bemerkenswerterweise auch die Dauer der Vollzeiterwerbstätigkeit (knapp 2 Jahre). − Ein deutlicher Anstieg zeigt sich hingegen bei der Teilzeit sowie bei der geringfügigen Beschäftigung: Die Anteile von Frauen, die Phasen mit diesen Beschäftigungsformen aufweisen, nimmt im Kohortenverlauf deut­ lich zu, während die Dauer dieser Phasen in etwa konstant bleibt. − Eine deutliche Zunahme zeigt sich schließlich auch beim Anteil der Frau­ en mit Phasen der Arbeitslosigkeit; auch hier bleibt die durchschnittliche Dauer dieser Phasen einigermaßen konstant. 30  Betrachtet werden hierbei nur Inlandsrentnerinnen mit erstmaligem Bezug ei­ ner Altersrente ohne Beziehende von Teilrenten, Renten mit scheidungsbedingtem Versorgungsausgleich sowie Erwerbsminderungs- und Hinterbliebenenrenten.



2. Gegenwart: Mittelfristige Entwicklungsperspektiven327 Tabelle 49 Durchschnittliche projizierte Anteile* und Dauern verschiedener ­Erwerbsstatus im Kohortenvergleich, deutsche GRV-Bezieherinnen alte Bundesländer 1942– 1946

1947– 1951

1952– 1956

1957– 1961

Entwicklung älteste/jüngste Kohorte

SVP Vollzeit Anteil (in %)

93,1

96,4

96,7

98,1

+  5,0

Dauer (in Jahren)

19,9

19,3

19,3

18,1

– 1,8

SVP Teilzeit Anteil (in %)

37,7

42,6

50,1

61,1

+23,4

Dauer (in Jahren)

13,2

12,9

11,9

12,7

–  0,5

Geringfügige Beschäftigung Anteil (in %)

31,9

46,0

47,7

56,6

+24,7

Dauer (in Jahren)

  7,5

 7,0

 7,4

 7,6

+  0,1

Arbeitslosigkeit Anteil (in %)

38,9

49,2

59,0

59,8

+20,9

Dauer (in Jahren)

 4,1

 4,9

  5,0

 4,7

+  0,6

Haushalt mit Kindererziehung Anteil (in %)

76,4

76,3

74,9

79,0

+  2,6

Dauer (in Jahren)

12,8

12,0

11,6

 8,9

– 3,9

*Anteile = Personen mit mindestens 12 Monaten im Erwerbsverlauf im entsprechenden Status. Quelle: Frommert / Thiede 2011: 454; Datengrundlage: AVID 2005.

Diese Ergebnisse zeigen sehr deutlich, dass es bei den westdeutschen Frauen über die verschiedenen Kohorten hinweg eben gerade nicht zu ei­ nem deutlichen Anstieg, sondern vielmehr sogar zu einem leichten Rück­ gang der Vollzeiterwerbstätigkeit kommt. In der jüngsten Kohorte beträgt die durchschnittliche Dauer der Vollzeiterwerbstätigkeit nur rund 18 Jahre. Zugespitzt formuliert: Die westdeutschen Frauen der Jahrgänge 1957 bis 1961, die zu den Babyboomer-Kohorten gerechnet werden können, haben zwar ihre Erwerbstätigkeit im Durchschnitt weniger lang unterbrochen als ihre Vorgängerinnen; sie haben aber nicht länger in Vollzeit gearbeitet, son­

328

VI. Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter: Gegenwart und Zukunft

dern stattdessen häufiger in Teilzeit sowie in geringfügiger Beschäftigung und sie waren häufiger arbeitslos. Die Tendenzaussagen der AVID 2005-Erhebung werden durch die Ergeb­ nisse der LAW-Studie bestätigt und verstärkt. Im Rahmen des LAW-Projek­ tes (Lebensläufe und Alterssicherung im Wandel), das die Veränderungen der Erwerbsbiografien und der Alterseinkommen für die Geburtsjahrgänge 1936 bis 1965 untersucht, sind mittels einer Clusteranalyse insgesamt 6 ver­ schiedene Erwerbsverlaufstypen ermittelt worden, die sich hinsichtlich der durchschnittlichen Dauer und der Abfolge von Erwerbszuständen zwischen dem 15. und 67.  Lebensjahr unterscheiden (Simonson et  al. 2012).31 Der Bildungs- / Vollzeit-Typ und der Vollzeit-Typ sind durch lange Phasen der Vollzeitbeschäftigung gekennzeichnet sind. Der Unterschied zwischen den beiden Typen besteht darin, dass ersterer gegenüber letzterem eine län­ gere Bildungsphase zu Beginn aufweist (Studium vs. Lehre). Der diskontinuierliche Typ ist hingegen durch fragmentierte Erwerbsverläufe mit länge­ ren Phasen der Arbeitslosigkeit oder sonstigen Phasen der Erwerbsunterbre­ chung gekennzeichnet. Der Teilzeit-Typ ist von kontinuierlicher Teilzeitbe­ schäftigung geprägt. Der Hausfrauen- / Teilzeit-Typ und der Hausfrauen-Typ zeichnen sich durch geringe Zeiten der Erwerbstätigkeit und lange Phasen der Haushaltsführung aus; der wesentliche Unterschied zwischen diesen beiden Typen ist das Ausmaß der (Teilzeit-)Beschäftigung. Die Entwicklung des relativen Gewichts dieser sechs Erwerbsverlaufs­ typen wird über drei Kohortengruppen hinweg untersucht, die jeweils aus 10 Geburtsjahrgängen bestehen: Die Kriegskohorten (1936–1945), die Nachkriegskohorten (1946–1955) und die Babyboomer-Kohorten (1956– 1965). Die Ergebnisse des Kohortenvergleichs zeigen für die westdeutschen Frauen, dass der Typ der „reinen“ Hausfrau im Zeitverlauf zwar deutlich abnimmt; ebenso nimmt aber auch der Typ der „reinen“ Vollzeiterwerbstä­ tigen ab. Nur ein Drittel der westdeutschen Babyboomerinnen lässt sich einem der beiden Vollzeiterwerbstätigkeits-Typen zurechnen. Ein deutlicher Anstieg zeigt sich hingegen beim Typ der Teilzeiterwerbstätigen sowie (in geringerem Ausmaß) beim diskontinuierlichen Typ. Insgesamt zeigen die Ergebnisse der LAW-Studie noch deutlicher als diejenigen der AVID 2005-Studie, dass sich die westdeutschen Babyboomerinnen gegenüber den Kriegs- und Nachkriegsjahrgängen mitnichten durch ein höheres Maß an Vollzeiterwerbstätigkeit auszeichnen; es zeigt sich vielmehr eine Verschie­ 31  Datengrundlage der LAW-Studie ist ein aus SOEP-Daten und Daten der Versi­ cherungskontenstichprobe (VSKT) des Forschungsdatenzentrums der Deutschen Rentenversicherung mittels statistischer Datenfusion zusammengefügter Datensatz; die zukünftigen Biografieverläufe sind mithilfe eines im Projektkontext entwickelten eigenen Fortschreibungsmodells projiziert worden.



2. Gegenwart: Mittelfristige Entwicklungsperspektiven329

35% 30% 25%

20% 15% 10%

5% 0%

Bildung/ Vollzeit

Vollzeit

Diskont. 1936–1945

1946–1955

Teilzeit

Hausfrauen/ Teilzeit

Hausfrauen

1956–1965

Quelle: Eigene Darstellung nach Simonson et al. 2012: 7, Datenbasis: LAW-Studie.

Abbildung 18: Erwerbsverlaufstypen von westdeutschen Frauen: Projizierte Anteile nach Kohorten

bung vom traditionellen zum modifizierten bzw. „modernisierten“ männli­ chen Ernährermodell, bei dem der Ehemann zwar nicht mehr Allein-, aber immer noch „unangefochtener“ Hauptverdiener ist. Hier ist der Vergleich mit der projizierten Entwicklung bei den ostdeut­ schen Frauen interessant. Hier ist die Ausgangssituation vor dem Hintergrund der Vollbeschäftigungspolitik der DDR eine ganz andere: In den Kriegsko­ horten beträgt der Anteil der beiden Vollzeiterwerbstätigkeits-Typen noch knapp 80 %. Bei den Babyboomern ist der Anteil der beiden Vollzeiterwerbs­ tätigkeits-Typen hingegen auf knapp 50 % gesunken; ein deutlicher Anstieg zeigt sich hingegen beim Teilzeit-Typus und beim diskontinuierlichen Typus, der einen Anteil von rund 20 % aufweist. Die beiden Hausfrauentypen spielen hingegen über alle Geburtskohorten hinweg praktisch keine Rolle. Bei den ostdeutschen Frauen kommt es somit, ausgehend von einem sehr hohen ­Niveau, im Zeitverlauf weitaus stärker als bei den westdeutschen Frauen zu einem Rückgang der Vollzeiterwerbstätigkeit; diese wird partiell durch Teil­ zeittätigkeit sowie durch diskontinuierliche Erwerbsverläufe mit hohem ­Arbeitslosigkeitsanteil ersetzt. Das Problem liegt hier also weniger in familienbedingten, sondern vielmehr in arbeitsmarktbedingten Erwerbsunterbre­ chungen und langfristigen Erwerbsreduzierungen. Gerade in den neuen Bun­ desländern ist Teilzeitbeschäftigung somit oftmals eine second best-Lösung, da die eigentlich gewünschte Vollzeitbeschäftigung nicht realisiert werden kann; man kann hier in vielen Fällen von einer zeitbezogenen Unterbeschäftigung (Klenner / Schmidt 2011) sprechen. Hiervon sind allerdings nicht nur ostdeutsche, sondern durchaus auch westdeutsche Frauen betroffen.

330

VI. Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter: Gegenwart und Zukunft

60% 50% 40%

30% 20% 10% 0%

Bildung/ Vollzeit

Vollzeit

Diskont. 1936–1945

1946–1955

Teilzeit

Hausfrauen/ Teilzeit

Hausfrauen

1956–1965

Quelle: Eigene Darstellung nach Simonson et al. 2012: 7, Datenbasis: LAW-Studie.

Abbildung 19: Erwerbsverlaufstypen von ostdeutschen Frauen: Projizierte Anteile nach Kohorten

Zusammenfassend lässt sich im Hinblick auf die Risikogruppe der „fami­ lienorientierten“ (westdeutschen) Frauen festhalten, dass auch die jüngeren westdeutschen Babyboomer-Kohorten noch einen sehr hohen Anteil von Frauen aufweisen, deren Lebensentwurf sich an einem männlichen Ernäh­ rermodell orientiert hat. Auch im Rahmen der in diesen Kohorten dominie­ renden, „modernisierten“ Variante dieses Modells (Zuverdienermodell) kann jedoch kein armutsfestes bzw. existenzsicherndes eigenständiges Altersein­ kommen erzielt werden. Daher besteht für „familienorientierte“ Frauen, d. h. für Frauen, die ihre Erwerbstätigkeit ehe- oder familienbedingt für längere Zeit oder dauerhaft zugunsten von Haushaltsführung und / oder familiärer Sorgetätigkeit einschränken und daher längere Phasen ohne eine sozialver­ sicherungspflichtige Vollzeiterwerbstätigkeit aufweisen, nach wie vor ein großes Risiko der finanziellen Abhängigkeit und damit auch ein zumindest gegenüber den langjährig vollzeiterwerbstätigen Frauen erhöhtes Risiko der Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter. Frauen in Paarhaushalten können sich heute immer weniger darauf ver­ lassen, dass sie als Hausfrauen oder Zuverdienerinnen über den gesamten Lebensverlauf im Haushaltskontext sozial abgesichert sind, sei es, weil auch die Erwerbsverläufe von Männern tendenziell instabiler werden, aber auch wegen des gestiegenen Trennungsrisikos (und des mittlerweile deutlich veränderten Unterhaltsrechts nach einer Scheidung). Das Risiko, in fortge­ schrittenem Lebensalter aufgrund einer Scheidung, einer dauerhaften Ar­ beitslosigkeit oder einer Erwerbsminderung des Partners mit schlechten Ausgangsbedingungen auf den Arbeitsmarkt verwiesen zu werden und hier



2. Gegenwart: Mittelfristige Entwicklungsperspektiven331

keinen dauerhaften Anschluss (mehr) zu finden, ist tendenziell eher gestie­ gen als gesunken. Mehr denn je ist daher eine eigenständige Existenzsiche­ rung über sozialversicherungspflichtige Erwerbstätigkeit (sowie gegebenen­ falls über zusätzliche Vorsorge) auch für Mütter mehrerer Kinder unver­ zichtbar; von diesem Postulat ist jedoch ein großer Teil der Frauen auch in den jüngeren Jahrgängen nach wie vor weit entfernt. Insgesamt ist daher nicht davon auszugehen, dass die Gruppe der „fami­ lienorientierten“ Frauen innerhalb der nächsten zwei Jahrzehnte deutlich schrumpfen wird. Ihr relativer Anteil an der insgesamt wachsenden Grund­ sicherungspopulation könnte im Zeitverlauf jedoch dadurch zurückgehen, dass andere Risikogruppen mittelfristig schneller wachsen. b) Nicht obligatorisch gesicherte Selbstständige Die Gruppe der Selbständigen ist seit der Wiedervereinigung sowohl ab­ solut als auch relativ stark gewachsen. Die Gesamtzahl der Selbstständigen ist von ca. 3,1 Millionen (1991) auf 4,3 Millionen im Jahr 2010 gestiegen (SVR 2011, Zf. 522; Brenke 2013); die Selbstständigenquote hat sich von knapp unter 9 % auf etwas über 11 % erhöht. Ein wesentlicher Grund für diesen Anstieg liegt sicherlich darin, dass seit den 1990er Jahren im Rah­ men der Flexibilisierung der Arbeit viele versicherungspflichtige Tätigkeiten in selbstständige Tätigkeiten umgewandelt und aus den Betrieben ausgela­ gert worden sind. Für die Unternehmen war dies in der Regel mit Kosten­ vorteilen verbunden, die allerdings nicht selten durch Sicherungslücken bei den neuen Selbstständigen „erkauft“ wurden (Betzelt / Fachinger 2004). Die Entwicklung der Zahl der Soloselbstständigen ist dabei nicht zuletzt auch von der Existenz staatlicher Subventionen beeinflusst worden; so hat bei­ spielsweise die Ausweitung der staatlichen Förderung der Selbstständigkeit („Ich-AG“) ab dem Jahr 2003 zu einer enormen Erhöhung der Zahl der Solo-Selbständigen geführt (Brenke 2013: 8). Der Anstieg der Anzahl der Selbständigen ist nahezu ausschließlich auf die starke Zunahme der Anzahl der Selbständigen ohne Beschäftigte (Solo­ selbständige) zurückzuführen; ihre Zahl hat seit Beginn der 1990er Jahre von knapp 1,4 auf rund 2,4 Millionen und damit um rund 72 % zugenom­ men. Deutlich zugelegt haben dabei u. a. Dienstleistungsberufe (insbesonde­ re haushaltsnahe und soziale Tätigkeiten), Tätigkeiten im Bereich der Bil­ dung sowie künstlerische und ähnliche Tätigkeiten. Auf diese Weise hat sich auch die Struktur der in sich äußerst heterogenen Gruppe der Selbstständi­ gen im Zeitverlauf verändert: Mittlerweile handelt es sich bei etwas mehr als der Hälfte (56 %) der Selbstständigen um Soloselbstständige, d. h. um Ein-Personen-Selbständige ohne weitere bezahlte Mitarbeiter.

332

VI. Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter: Gegenwart und Zukunft

Die Gruppe der Selbstständigen ist durch besonders große Einkommens­ differenzen gekennzeichnet: Neben vielen hohen und sehr hohen Einkommen (insbesondere bei den Selbstständigen mit eigenen Mitarbeitern) finden sich hier auch viele Personen mit vergleichsweise niedrigen Einkommen. Nach Berechnungen des DIW auf Grundlage des Sozioökonomischen Panels (SOEP 2011) liegt der Median der monatlichen Nettoeinkommen von Voll­ zeitkräften bei Solo-Selbstständigen mit 1510 Euro / Monat rund 15 % unter­ halb des unterhalb des Vergleichswerts der abhängig Beschäftigten (1780 Euro / Monat). Im unteren Einkommensquartil ist der Unterschied noch grö­ ßer: Vollzeiterwerbstätige Solo-Selbstständige verdienen hier im Schnitt rund 1.000 Euro / Monat und damit rund 24 % weniger als abhängig Vollzeitbe­ schäftigte (1.315 Euro / Monat) (Brenke 2013: 13). Solo-Selbstständige sind zudem häufiger im Niedriglohnsektor zu finden als abhängig Beschäftigte: Während der Anteil bei den Beschäftigten im Jahr 2011 nach SOEP-Auswer­ tungen bei 23,2 % lag, lag der Anteil der Solo-Selbständigen, die ein BruttoErwerbseinkommen je Stunde unterhalb der Niedriglohnschwelle erzielen, im gleichen Jahr bei 31 % (Brenke 2013: 13). Wie auch bei den abhängig Beschäftigten zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen den Geschlech­ tern: Soloselbstständige Frauen sind mit 37 % deutlich öfter von niedrigen Bruttoeinkommen betroffen als soloselbstständige Männer (26 %). Insgesamt lässt sich daher feststellen, dass sich das Arbeitsmarktsegment der Solo-Selbstständigen zu einem nicht unerheblichen Teil durch prekäre Erwerbstätigkeit auszeichnet. Berechnungen des Sachverständigenrates zu­ folge bezogen Mitte der 2000er Jahre rund 32 % aller Selbstständigen und rund 37 % der Soloselbstständigen ein Nettoeinkommen unter 1.100 Euro (SVR 2006, Zf. 355); insofern ist davon auszugehen, dass für einen nicht unwesentlichen Teil der (Solo-)Selbstständigen keine (ausreichende) Fähig­ keit zur Altersvorsorge besteht. Auswertungen auf SOEP-Basis weisen ganz in diesem Sinne darauf hin, dass die Spartätigkeit bei Solo-Selbstständigen besonders schwach ausgeprägt ist: So spart laut Selbstauskunft ein großer Teil der Solo-Selbständigen (45 Prozent) vom laufenden Monatseinkommen praktisch gar nichts; nur ein knappes Drittel der Soloselbstständigen legt 10 % und mehr seines laufenden Einkommens zurück (Brenke 2013: 15, Abb. 8). Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung geht angesichts der wachsenden Zahl von (Solo-)Selbstständi­ gen mit Niedrigeinkommen und geringer Sparfähigkeit davon aus, dass mit der Zunahme der selbstständigen Erwerbsarbeit ein Anstieg des Altersarmuts­ risikos verbunden sein wird (SVR 2011, Zf.525). Auch die Ergebnisse der Studie „Altersvorsorge in Deutschland 2005“ (AVID 2005), die die (proji­ zierten) Gesamtalterseinkommen der Jahrgänge 1942–1961 in Abhängigkeit von verschiedenen Elementen und Episoden der Erwerbsbiografie untersucht,



2. Gegenwart: Mittelfristige Entwicklungsperspektiven333

weisen auf ein erhöhtes Risiko prekärer Alterseinkommen bei Solo-Selbst­ ständigen hin: So weisen die Erwerbsbiografien der Personen des untersten Einkommensquintils insbesondere in den alten Bundesländern fast dreimal so lange Phasen einer selbständigen Tätigkeit auf wie die Biografien von Men­ schen mit höheren Alterseinkommen (Heien et al. 2007: 249). In Zukunft ist tendenziell von einer weiteren Zunahme der selbständigen Erwerbstätigkeit sowohl in den individuellen Erwerbsverläufen als auch im Gesamtbestand der Erwerbstätigen auszugehen. Die Ergebnisse der Studie „Lebensläufe und Alterssicherung im Wandel“ (LAW), die die Veränderung der (Erwerbs-)Biografien und er daraus resultierenden Alterseinkünfte im Kohortenvergleich untersucht, weisen darauf hin, dass Selbständigkeit über die verschiedenen Geburtskohorten an Bedeutung zunimmt: So verdoppelt sich der Anteil der Personen mit mindestens einem Jahr der Selbständigkeit in ihrem Erwerbsverlauf von 9 % bei den Kriegskohorten (1936–1945) auf knapp 18 % bei den „Babyboomern“ (1956–1965) (Simonson et  al. 2012: 8). Die Ergebnisse der LAW-Studie weisen zudem darauf hin, dass die Selbstständigkeit im Zeitverlauf instabiler wird: So nimmt innerhalb der Gruppe der Selbstständigen der Anteil an „instabil Selbstständigen“ (defi­ niert als Personen mit mindestens zwei Wechseln zwischen selbständiger und abhängiger Beschäftigung in der Erwerbsbiografie), die hinsichtlich ihrer Alterssicherung als besonders „riskant“ eingeschätzt werden, deutlich zu (von 24,5 % in den Kriegskohorten bis auf 41,3 % in den BabyboomerKohorten). Jüngere Kohorten sind somit öfter von diskontinuierlicher Selbstständigkeit mit häufigen Wechseln zwischen abhängiger Beschäfti­ gung, (Solo-)Selbstständigkeit und Phasen der Arbeitslosigkeit bzw. Nicht­ erwerbstätigkeit betroffen. Zusammenfassend lassen sich im Hinblick auf die absehbare Entwicklung der Risikogruppe der nicht obligatorisch abgesicherten Selbstständigen so­ mit zwei zentrale Prognosen formulieren: Erstens handelt sich bei dieser Gruppe generell um eine wachsende Gruppe. Unter den zukünftigen Senio­ rinnen und Senioren der Babyboomer- und Nach-Babyboomer-Kohorten, die ab 2020 in Rente gehen werden, wird sich ein deutlich höherer Anteil an Personen finden, die in ihrem Leben zumindest eine Zeit lang selbststän­ dig gewesen sind. Zweitens ist für die Zukunft mit einer deutlichen Zunah­ me der Grundsicherungsbedürftigkeit in dieser (wachsenden) Gruppe zu rechnen, da ein nicht unwesentlicher Teil der heutigen (Solo-)Selbstständi­ gen aufgrund mangelnder Vorsorgefähigkeit nicht ausreichend für das Alter vorsorgt bzw. vorgesorgt hat. Bereits heute machen die ehemaligen Selbst­ ständigen einen nicht unwesentlichen Anteil der Grundsicherungspopulation aus; in Zukunft dürfte dieser Anteil sogar noch steigen oder zumindest konstant bleiben.

334

VI. Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter: Gegenwart und Zukunft

c) Personen mit Zuwanderungshintergrund Bei den im Rahmen der vorliegenden Studie untersuchten Seniorinnen und Senioren mit Zuwanderungshintergrund handelt es sich ausschließlich um Personen mit eigener Zuwanderungserfahrung. Die Gruppe der Personen mit Zuwanderungshintergrund setzt sich aus drei Teilgruppen zusammen, zwischen denen sowohl hinsichtlich der Herkunftsgebiete, der Zuwande­ rungsmotivation, des Zuwanderungszeitraums und des durchschnittlichen Zuwanderungsalters erhebliche Unterschiede bestehen: Arbeitsmigranten der ersten Generation, (Spät-)Aussiedler und jüdische Kontingentflüchtlinge. Viele Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten der ersten Generation, die innerhalb der Anwerbephase (1955–1973) nach Deutschland zugewan­ dert sind, haben in den letzten Jahren das Rentenalter erreicht. Der Anteil der Personen mit ausländischer Staatsangehörigkeit an den Neuzugängen in die Altersrente ist von ca. 9 % Ende der 1990er Jahre auf gut 16 % im Jahr 2011 gestiegen; im Altersrentenbestand hat der Ausländeranteil im gleichen Zeitraum von 6 % auf gut 9 % zugenommen (Hauschild et al. 2013: 206– 208). Ein großer Teil der Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten der Anwerbephase befindet sich somit aktuell bereits im Renten- und gegebe­ nenfalls auch im Grundsicherungsbezug. Die allerjüngsten „Gastarbeiter“ der ersten Generation, die 1973 noch kurz vor Ende des Anwerbestopps im Alter von 18 Jahren nach Deutschland zugewandert sind, gehören dem Ge­ burtsjahrgang 1955 an und werden im Jahr 2020 / 21 das Rentenalter errei­ chen; die im Rahmen des Familiennachzugs nachgezogenen Ehepartner (überwiegend: Ehefrauen), die möglicherweise noch ein paar Jahre jünger sind, dürften spätestens im Jahr 2025 das Renteneintrittsalter erreicht haben. Im Verlauf der 2020er Jahre wird es in dieser Gruppe somit zu einem Ge­ nerationenwechsel kommen: Die erste Generation von „Gastarbeitern“ und ihren Ehepartnern wird im Renten- und Grundsicherungszugang zunehmend von der zweiten Generation ihrer in 1960er Jahren (oftmals bereits in Deutschland) geborenen Kinder abgelöst. Viele der in Deutschland gebore­ nen „Gastarbeiterkinder“ sind weiterhin Staatsbürger / -innen des Heimatlan­ des ihrer Eltern, ohne dass sie jemals für längere Zeit dort gelebt hätten; ein kleinerer Teil dürfte jedoch auch die deutsche Staatsangehörigkeit angenom­ men haben. Insofern kann die „zweite Generation“ statistisch nicht hundert­ prozentig trennscharf abgegrenzt werden. Nichtsdestotrotz lassen sich in der Gesamtschau deutliche Anzeichen für eine Benachteiligung dieser Bevölkerungsgruppe im Bildungssystem, auf dem Arbeitsmarkt, bei den Erwerbs- und Haushaltseinkommen etc. feststel­ len. So gehen ausländische Jugendliche im Vergleich zu deutschen Jugend­ lichen in etwa doppelt so häufig ohne Hauptschulabschluss von der Schule ab (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2014: 92) und münden etwa



2. Gegenwart: Mittelfristige Entwicklungsperspektiven

335

doppelt so häufig in das Übergangssystem statt in eine berufliche Ausbil­ dung (ebd.: 100). Ausländer bzw. Personen mit Migrationshintergrund sind mehr als doppelt so häufig von Arbeitslosigkeit betroffen wie Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit bzw. Personen ohne Migrationshintergrund (Seebaß / Siegert 2011: 57–64), und sie sind bereits im Erwerbsalter mehr als doppelt so häufig arm bzw. armutsgefährdet (Fuhr 2012: 551). Vergleicht man dabei nach verschiedenen Staatsangehörigkeiten bzw. Herkunftslän­ dern, so fällt auf, dass die türkischstämmige Migrantengruppe bei praktisch allen integrationsrelevanten Indikatoren (Bildungsabschlüsse, Erwerbsbetei­ ligung / Arbeitslosigkeit, Erwerbseinkommen etc.) mit am schlechtesten ab­ schneidet (Fuhr 2012, Seebaß / Siegert 2011, Babka von Gostomski 2010). Bereits heute liegt die Armutsrisikoquote bei Ausländern im Alter von 65 und mehr Jahren bei rund 40 % (Seils 2013: 366); angesichts der vielfälti­ gen Integrationsprobleme eines großen Anteils der Ausländer in Deutschland und des langfristig ansteigenden Ausländeranteils in jüngeren Kohorten er­ scheint die Prognose durchaus plausibel, dass in Zukunft „Altersarmut in wachsendem Maße Ausländerarmut sein wird“ (ebd.: 367). Hinsichtlich der Gruppe der (Spät-)Aussiedler ist festzustellen, dass ihr Anteil an den Rentenneuzugängen in den letzten Jahren stark gesunken ist (Himmelreicher / Scheffelmeier 2012: 12). Angesichts der Tatsache, dass der „Babyboom“ bei der Gruppe der (Spät-)Aussiedler / -innen bereits ca. 1950 und damit einige Jahre früher als bei dem Rest der deutschen Bevölkerung eingesetzt hat, ist jedoch damit zu rechnen, dass der Anteil der (Spät-)Aus­ siedler / -innen an den Neuzugängen in die Altersrente in den nächsten Jah­ ren wieder ansteigen wird (Baumann / Mika 2012: 134–136). Zumindest bis ca. 2030 wird es daher auch noch zu einem nennenswerten Zugang von (Spät-)Aussiedler / -innen in die Grundsicherung im Alter kommen. Hier kommen zwei Faktoren zusammen: Auf der einen Seite werden die gebur­ tenstärksten (Spät-)Aussiedlerjahrgänge zwischen 2015 und 2030 das Ren­ tenalter erreichen; auf der anderen Seite werden sich die massiven Renten­ kürzungen durch das Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz (WFG) von 1996 insbesondere bei den nach 1996 zugewanderten Spätaus­ siedlerinnen deutlich rentenmindernd auswirken. Die Zuwanderung von (Spät-)Aussiedlern ist mittlerweile jedoch weitge­ hend abgeschlossen; in den letzten Jahren sind die Zuwanderungszahlen dieser Gruppe verschwindend gering. Im Hinblick auf die Entwicklung der Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter und die zukünftige Zusammenset­ zung der „Grundsicherungspopulation“ handelt es sich bei den (Spät-)Aus­ siedlern somit um eine Gruppe, die kurz- und mittelfristig leicht an Bedeu­ tung zunehmen dürfte, die langfristig jedoch deutlich an Bedeutung verlieren wird. Ähnlich wie bei den „Gastarbeiter / -innen“ wird für die mittel- und langfristige Entwicklung dieser Gruppe jedoch von entscheidender Bedeu­

336

VI. Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter: Gegenwart und Zukunft

tung sein, inwiefern es der zweiten Generation der Zuwanderer gelingt, sich erfolgreich in die deutsche Gesellschaft und insbesondere in den deutschen Arbeitsmarkt zu integrieren. Die Gruppe der jüdischen Kontingentflüchtlinge ist eine vergleichsweise kleine Gruppe mit einem deutlich erhöhten Grundsicherungsrisiko, die auf­ grund der besonderen historischen Verantwortung der Bundesrepublik Deutschland für die Verbrechen des Zweiten Weltkriegs gegenüber anderen nicht- deutschstämmigen Zuwanderergruppen privilegierte Konditionen ge­ nießt. Wie auch bei der Gruppe der (Spät-)Aussiedler handelt es sich hier um eine weitgehend abgeschlossene Migrationsbewegung. Das besonders hohe Grundsicherungsbedürftigkeitsrisiko dieser Gruppe beruht auf der Tat­ sache, dass jüdische Kontingentflüchtlinge anders als beispielsweise die (Spät-)Aussiedler keinen Anspruch auf eine deutsche (Fremd-)Rente haben, sofern sie nicht in Deutschland sozialversicherungspflichtig beschäftigt ge­ wesen sind. Die große Mehrheit der in fortgeschrittenem oder rentennahem Alter zugewanderten Personen aus dieser Gruppe dürfte daher auf Grundsi­ cherungsleistungen angewiesen sein. Es kann davon ausgegangen werden, dass auch ein nicht unwesentlicher Teil der in mittlerem Alter nach Deutschland zugewanderten Personen trotz vergleichsweise hohem Qualifikationsniveau nicht in der Lage ist bzw. sein wird, in der zweiten Hälfte ihrer Erwerbsbiografie noch ausreichende (exis­ tenzsichernde) Rentenanwartschaften aufzubauen (Zentralrat der Juden 2013). Dies liegt zum einen an Sprachbarrieren, teilweise veralteten Kennt­ nissen und der nicht immer reibungslos verlaufenden Anerkennung der im Herkunftsland erworbenen Qualifikationen, zum anderen aber auch an der schlichtweg zu kurzen Zeitspanne bis zum Renteneintritt. Insofern ist davon auszugehen, dass es in etwa bis 2025 oder 2030 noch zu einem erhöhten Grundsicherungszugang aus dieser Gruppe kommen wird; spätestens ab 2030 dürfte es aus dieser Zuwanderergruppe jedoch demografisch bedingt keinen nennenswerten Zugang mehr in die Grundsicherung im Alter geben. Zu den Auswirkungen der seit 2014 stark angestiegenen Asyl- und Flüchtlingszuwanderung nach Europa und insbesondere nach Deutschland auf die langfristige Entwicklung der Altersarmut können im Rahmen der vorliegenden Studie noch keine fundierten Aussagen getroffen werden. Grundsätzlich ist jedoch davon auszugehen, dass die massive Zuwanderung von Flüchtlingen ungeachtet ihrer mittel- und langfristigen demografischen und gesamtwirtschaftlichen Potenziale nicht ohne Konsequenzen für die Inanspruchnahme der Mindestsicherungssysteme bleiben wird: Je mehr (und insbesondere: je mehr ältere bzw. dauerhaft nicht erwerbsfähige) Flüchtlinge im Rahmen der humanitären Verantwortung der Bundesrepublik Deutsch­ land aufgenommen werden und ein dauerhaftes Bleiberecht erhalten, desto



2. Gegenwart: Mittelfristige Entwicklungsperspektiven337

größer wird perspektivisch auch die Zahl derjenigen sein, die auf Leistun­ gen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung angewiesen sein werden. Vieles wird sicherlich davon abhängen, ob und inwiefern es gelingt, einen möglichst großen Teil der anerkannten Asylbewerber und Flüchtlinge nachhaltig in die deutsche Gesellschaft, in den deutschen Ar­ beitsmarkt und in die deutsche Sozialversicherung zu integrieren. Eine konsequente Integrationspolitik könnte somit langfristig auch zur Begren­ zung der Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter beitragen. Der Vollständigkeit halber soll an dieser Stelle noch auf die zunehmende Bedeutung von grenzüberschreitenden Arbeitsmigrationsprozessen für die Altersversorgung hingewiesen werden. In den letzten zwei Jahrzehnten ist es zu einer substanziellen Zunahme transnationaler Erwerbsbiografien ge­ kommen, die sich in Form steigender Anteile von Neurentnern mit transna­ tionalen (Vertrags-)Renten auch in den Daten der GRV niederschlägt (Him­ melreicher / Scheffelmeier 2012, Hauschild et  al. 2013). Hierbei handelt es sich in erster Linie um innereuropäische Migrationsbewegungen, die Aus­ druck der zunehmenden Freizügigkeit innerhalb der EU und der damit verbundenen Prozesse der „horizontalen Europäisierung“ sind (Himmelrei­ cher / Scheffelmeier 2012: 5). Perspektivisch wächst somit die Bedeutung paralleler, über zwei Staaten verteilter Altersvorsorgestrukturen; für einen Teil der Bevölkerung kommt es hierdurch zu einer zusätzlichen Diversifika­ tion der Altersvorsorge (Hauschild et al. 2013: 216). Der steigende Anteil von Neurentnern mit transnationalen Erwerbsbiogra­ fien bedeutet für die Rentenversicherungsträger einen wachsenden adminis­ trativen Aufwand und erfordert zudem verstärkte Anstrengungen zur Koor­ dinierung der sozialen Sicherung in Europa. Hierbei geht es insbesondere um Fragen der Portabilität der Anwartschaften aus betrieblichen und priva­ ten Altersvorsorgesystemen; Ziel ist, dass die Altersvorsorgeprodukte derge­ stalt ausgestaltet werden, dass sie im Falle eines Wechsels in ein anderes europäisches Land sowohl in der Einzahlungs- als auch in der Auszahlungs­ phase transparent und kostenneutral „mitwandern“ können. Hinsichtlich der zukünftigen Entwicklung der Altersarmut bzw. der Grundsicherungsbedürf­ tigkeit im Alter in Deutschland lassen sich aus der zu beobachtenden Zu­ nahme transnationaler Erwerbsbiografien allerdings keine unmittelbaren Konsequenzen bzw. Tendenzen ableiten. Zusammenfassend lässt sich somit festhalten, dass Personen mit Zuwan­ derungshintergrund (Gastarbeiter, Spätaussiedler und jüdische Kontingent­ flüchtlinge) auch in Zukunft ein erhöhtes Risiko der Grundsicherungsbe­ dürftigkeit aufweisen werden. Innerhalb der nächsten 10 bis 15 Jahre werden Angehörige dieser Gruppen somit noch verstärkt in die Grundsicherung zugehen. Spätestens ab 2030 wird die Bedeutung der (Spät-)Aussiedler und

338

VI. Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter: Gegenwart und Zukunft

der jüdischen Kontingentflüchtlinge jedoch stark abnehmen, während die bereits heute stark in der Grundsicherung vertretene Gruppe der Arbeitsmi­ granten bzw. generell der Ausländer / -innen eher noch an Bedeutung gewin­ nen dürfte. d) Umbruchsgeprägte Ostdeutsche Ostdeutsche sind in der Grundsicherung im Alter bislang noch deutlich unterrepräsentiert; die Grundsicherungsquote bei den Personen im Rentenal­ ter ist in den fünf ostdeutschen Bundesländern (ohne Berlin) deutlich nied­ riger als in Westdeutschland. Die langen Vollbeschäftigungszeiten und die relativ egalitäre Einkommensverteilung in der alten DDR wirken bei den heutigen Seniorinnen und Senioren noch immer stark nach. Alle verfügba­ ren Studien kommen jedoch übereinstimmend zu dem (wenig überraschen­ den) Ergebnis, dass es aufgrund der Verwerfungen auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt nach der Wiedervereinigung und der nach wie vor deutlich erhöhten Arbeitslosenquote in den neuen Ländern bereits in absehbarer Zeit zu einem deutlichen Anstieg der Altersarmut bzw. der Grundsicherungsbe­ dürftigkeit im Alter kommen wird. Dieser Anstieg wird deutlich stärker ausfallen als in den alten Bundesländern; der Rückgang der Rentenanwart­ schaften und die Zunahme der unzureichenden Alterseinkünfte wird dabei insbesondere die bislang im Durchschnitt vergleichsweise gut abgesicherten ostdeutschen Männer betreffen. Eine umfassende Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) im Auftrag der Deutschen Rentenversicherung Bund (Steiner / Geyer 2010, Geyer / Steiner 2010) kommt zu dem Ergebnis, dass aufgrund des starken Anstiegs der Arbeitslosigkeit seit der Wiedervereinigung insbeson­ dere bei den jüngeren ostdeutschen Kohorten der Jahrgänge 1957 bis 1961 (Männer) bzw. 1962 bis 1966 (Frauen) die durchschnittlichen Rentenan­ wartschaften sehr deutlich zurückgehen werden, während sie in den alten Bundesländern einigermaßen konstant bleiben. Der durchschnittliche Ren­ tenzahlbetrag fällt in der jüngsten untersuchten Kohorte sowohl im Perso­ nen- als auch im Haushaltskontext sogar unter das Niveau der Grundsiche­ rung im Alter. Die Autoren weisen allerdings darauf hin, dass dem Basissze­ nario der Studie verhältnismäßig pessimistische Annahmen hinsichtlich der ostdeutschen Arbeitsmarktentwicklung zugrunde liegen; bei einer positiveren Arbeitsmarktentwicklung kann sich der Rückgang deutlich abschwächen. Berechnungen des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) nehmen auf der Grundlage des Sozio-oekonomischen Panel (SOEP) eine Projektion der Einkommen der 50- bis 55-Jährigen des Jahres 2008 (Jahrgänge 1953– 1958) für das Jahr 2023 vor; dabei werden sämtliche Einkommensarten einschließlich von Kapitaleinkünften und des Wohnwerts selbst genutzten



2. Gegenwart: Mittelfristige Entwicklungsperspektiven339

Wohneigentums berücksichtigt (Kumpmann et al. 2010). Die Autoren kom­ men zu dem Ergebnis, dass bis 2023 in Gesamtdeutschland der Anteil der 65- bis 70-jährigen Personen mit einem Einkommen unter der Armutsgren­ ze von 13,4 % (Geburtskohorten 1937–1942) auf 16,3 % (Geburtskohorten 1953–1958) steigen wird. Die Zunahme der Altersarmut betrifft dabei über­ proportional Menschen in den östlichen Bundesländern: Hier steigt die Ar­ mutsquote im Kohortenvergleich von 12,8 % auf 17,2 %. Diese Entwicklung ist ausschließlich auf den starken Anstieg der Altersarmut bei ostdeutschen Männern zurückzuführen: Zwischen den Jahrgängen 1937–1942 und 1953– 58 kommt es hier zu einem Anstieg der Armutsrisikoquote im Alter von 13,4 % auf 23,6 %. Krenz und Nagl (2009) nehmen auf Grundlage des Datensatzes IABSR04 des IAB und der Versichertenkontenstichprobe 2005 (VSKT 2005) des Forschungsdatenzentrums der DRV Bund einen Kohortenvergleich der (zu erwartenden) GRV-Anwartschaften der ostdeutschen Altersrentner der Ge­ burtsjahrgänge 1939–1941 und 1955–1957 vor. Demnach kommt es insbe­ sondere bei den ostdeutschen Männern zu einer deutlichen Verringerung und Spreizung der Rentenanwartschaften. Der Mittelwert der erworbenen An­ wartschaften sinkt um rund 7 Entgeltpunkte (von rund 45 EP auf rund 38 EP); bei ostdeutschen Männern mit niedrigem Ausbildungsniveau sinkt der Mittelwert sogar um 13 Entgeltpunkte (von 39,4 EP auf 26,4 EP). Als einen groben Indikator für eine mögliche Armutsgefährdung im Alter wählen die Autoren eine Rentenanwartschaft von weniger 30 Entgeltpunkten. Der An­ teil der ostdeutschen Männer mit weniger als 30 Entgeltpunkten nimmt im Kohortenvergleich deutlich zu: Während lediglich 1,3 % der ostdeutschen Neurentner 2004–2006 weniger als 30 Entgeltpunkte aufweisen, liegt der projizierte Anteil bei den Zugangsrentnern der Jahre 2020–2022 bereits bei 31,6 %. Bei den ostdeutschen Frauen bleibt dieser Anteil hingegen im Ko­ hortenvergleich mit rund 51 % weitgehend konstant. Die im Rahmen der Studie „Altersvorsorge in Deutschland“ (AVID 2005) vorgenommenen Projektionen kommen für die Entwicklung der Altersrenten sowie der Nettoalterseinkünfte in den neuen Ländern zu folgenden Ergeb­ nissen: − Die projizierten durchschnittlichen Versichertenrenten-Anwartschaften gehen sowohl bei den ostdeutschen Männern als auch bei den ostdeut­ schen Frauen im Kohortenverlauf deutlich zurück. Bei den Männern zeigt sich ein Rückgang um 15 % (von 967 Euro / Monat bei den Geburtskohor­ ten 1942–1946 auf 820 Euro / Monat in den Geburtskohorten 1957–1961), bei den Frauen zeigt sich ein Rückgang von 12 % (von 785 Euro / Monat in den Kohorten 1942–1946 auf 690 Euro / Monat in den Kohorten 1957–1961) (Heien et  al. 2007: 79–81). Die Abnahme der projizierten GRV-Anwartschaften ist sowohl bei Männern als auch bei Frauen im

340

VI. Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter: Gegenwart und Zukunft

Wesentlichen durch einen Rückgang der durchschnittlichen Erwerbsjahre mit einer sozialversicherungspflichtigen Vollzeitbeschäftigung um rund 7 Jahre und eine Zunahme der der durchschnittlichen Arbeitslosigkeits­ zeiten um rund 5  Jahre bedingt (ebd.: 82). − Die durchschnittliche Höhe der projizierten Anwartschaften Netto-Alters­ einkommen bleiben hingegen im Kohortenverlauf weitgehend konstant: Bei den Männern kommt es zu einem leichten Absinken (von 1.073 Eu­ ro / Monat bei der ältesten Kohorte auf 1.052 Euro / Monat bei der jüngsten Kohorte); bei den Frauen hingegen zu sogar zu einem leichten Anstieg (von 898 Euro / Monat auf 911 Euro / Monat). Die Einbußen bei den durchschnittlichen GRV-Anwartschaften werden somit gemäß den Projek­ tionen der AVID zu einem großen Teil durch die Bedeutungszunahme von Anwartschaften aus anderen Alterssicherungssystemen kompensiert. − Betrachtet man statt der Durchschnittswerte jedoch die Schichtung der projizierten persönlichen Netto-Alterseinkommen und hier die Entwick­ lung des Anteils der Bezieher von niedrigen Netto-Alterseinkommen (unter 700 Euro / Monat nach Werten von 2005) zwischen den Geburts­ jahrgängen 1942–1946 und 1957–1961, so zeigt sich eine deutliche Zu­ nahme des Niedrigeinkommenssegments im Kohortenverlauf: Bei Män­ nern steigt der Anteil von 5 % auf 25 %, bei den Frauen steigt er von 30 % auf 42 %. In den alten Bundesländern zeigt sich gemäß den AVIDProjektionen diesbezüglich hingegen ein weitaus positiveres Bild: Bei den Männern bliebt der Anteil der projizierten Niedrigeinkommen von weniger als 700 Euro im Kohortenverlauf weitgehend gleich (er steigt von 10 % bei den Geburtskohorten 1942–1946 auf 11 % bei den Geburts­ kohorten 1957–1961); bei den westdeutschen Frauen kommt es sogar zu einem Rückgang von 57 % auf 48 %. Tabelle 50 Anteil der projizierten persönlichen Nettoalterseinkommen im 65.  Lebensjahr unter 700 Euro / Monat nach Geburtskohorten 1942– 1946

1947– 1951

1952– 1956

1957– 1961

Veränderung in Prozentpunkten

Männer West

10 %

  8 %

14 %

11 %

+  1

Frauen West

57 %

55 %

50 %

48 %

– 9

Männer Ost

  5 %

16 %

24 %

25 %

+20

Frauen Ost

30 %

35 %

35 %

42 %

+12

Quelle: Heien et  al. 2007: 165–166 (Tab. 6-2 und 6-3).



3. Risikogruppen der Zukunft: Mittel- und langfristige Perspektiven 341

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Gruppe der „Umbruchs­ geprägten Ostdeutschen“ im Grundsicherungsbezug in Zukunft stark zuneh­ men dürfte. Bereits seit einigen Jahren ist ein allmählicher Rückgang der Zugangsrenten in den neuen Bundesländern zu beobachten; es ist sehr wahrscheinlich, dass dieser Rückgang insbesondere im unteren Einkom­ menssegment kaum durch verstärkte betriebliche bzw. private Vorsorge ausgeglichen werden kann. Die meisten Studien gehen davon aus, dass der Anstieg in etwa ab 2020 einsetzen wird, wenn die ostdeutschen Baby­ boomer-Kohorten sukzessive ins Rentenalter kommen. e) „Komplex Diskontinuierliche“ Hinsichtlich der Gruppe der „Komplex Diskontinuierlichen“ lassen sich keine eindeutigen Tendenzaussagen treffen. Es handelt sich gewissermaßen um eine „zeitlose“ Gruppe, da sich hier oftmals nicht strukturelle, sondern stärker individuelle Problemlagen manifestieren. Die Personen im Sample, die dieser Gruppe zugerechnet worden sind, sind überwiegend „gescheiterte Existenzen“ (Alkoholiker, Kriminelle, Suchtkranke, von besonderer Risiko­ kumulation bzw. „Schicksalsschlägen“ Betroffene); diese Fälle wird es auch in Zukunft geben. Inwiefern die verschiedenen sozialpolitischen und sozial­ pädagogischen Maßnahmen und Programme, die im weitesten Sinne der Exklusionsvermeidung dienen sollen (Suchtprävention, Schuldner- und So­ zialberatung, Resozialisierung von ehemaligen Strafgefangenen etc.), dies­ bezüglich in Zukunft stärker greifen werden oder nicht, lässt sich im Rah­ men der vorliegenden Studie nicht beantworten. Es erscheint allerdings nicht unplausibel, dass das relative Gewicht dieser Gruppe innerhalb der Grundsicherungspopulation im Zeitverlauf eher zurückgehen wird, da ande­ re Gruppen enorm an Bedeutung gewinnen werden; generell wird Grundsi­ cherungsbedürftigkeit im Alter in Zukunft immer weniger den Charakter einer „Ausnahme“ haben, von der nur „Sonderfälle“ betroffen sind. 3. Risikogruppen der Zukunft: Mittel- und langfristige Perspektiven Entscheidend und prägend für die Erwerbs- und Versicherungsbiografien der Babyboomer- und der Nach-Babyboomer-Kohorten werden zum einen die Umbrüche auf dem deutschen Arbeitsmarkt der 1990er und 2000er Jah­ re und zum anderen die Konsequenzen der Rentenreformen 2000er Jahre sein. Zu den wichtigsten Altersarmutsrisikogruppen der Zukunft gehören insbesondere diejenigen Personen bzw. Personengruppen, die von den Um­ brüchen am Arbeitsmarkt dauerhaft negativ betroffen (gewesen) sind. Die Gruppe der „Umbruchsgeprägten Ostdeutschen“, die von der Massenarbeits­

342

VI. Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter: Gegenwart und Zukunft

losigkeit in den neuen Bundesländern nach der Wiedervereinigung betroffen gewesen sind, bildet hier gewissermaßen eine Speerspitze. In Zukunft wird aller Voraussicht nach auch in den alten Bundesländern die Anzahl der Personen zunehmen, die trotz vorhandener Erwerbsorientie­ rung aufgrund ihres mangelnden bzw. begrenzten Erfolges am Arbeitsmarkt keine ausreichende Alterssicherung aufbauen können bzw. konnten. In die­ sem Zusammenhang lassen sich idealtypisch zwei Gruppen bzw. Risikokon­ stellationen unterscheiden: − Personen mit einer diskontinuierlichen Erwerbsbiografie, die längere Pha­ sen der Beschäftigung in atypischen bzw. prekären Beschäftigungsver­ hältnissen sowie der Langzeit- bzw. Mehrfacharbeitslosigkeit aufweist („Langjährig prekär und diskontinuierlich Beschäftigte“); − Personen mit einer relativ kontinuierlichen Erwerbsbiografie in sozialver­ sicherungspflichtiger Voll- oder Teilzeit, aber mit (deutlich) unterdurch­ schnittlichem Erwerbseinkommen („Langjährige Geringverdiener“). Diese Unterscheidung zielt im Kern auf die Frage ab, ob der unzurei­ chende Aufbau von Rentenanwartschaften eher auf den Faktor „Zeit“ (we­ nige Jahre in sozialversicherungspflichtiger Vollzeitbeschäftigung) oder eher auf den Faktor „Geld“ (langjährige Vollzeitbeschäftigung, aber geringes Entgelt) zurückzuführen sind. Bei den langjährig prekär und diskontinuier­ lich Beschäftigten handelt es sich gewissermaßen um „Outsider“ am Ar­ beitsmarkt, die dauerhaft oder zumindest über längere Phasen hinweg keinen Zugang zu einem sozialversicherungspflichtigen „Normalarbeitsverhältnis“ haben; hier ist aufgrund der Versicherungslücken insbesondere der Faktor „Zeit“ relevant. Langjährige Geringverdiener haben demgegenüber zwar eine weitgehend stabile Beschäftigung und verfügen in der Erwerbsphase über ein existenzsicherndes Einkommen; ihr lebensdurchschnittliches Er­ werbseinkommen liegt jedoch so weit unter dem Durchschnitt, dass es an­ gesichts des sinkenden Rentenniveaus nicht für ein existenzsicherndes Ein­ kommen in der Nacherwerbsphase ausreicht. Hier ist der Faktor „Geld“ ausschlaggebend. Beide Risiken, das Beschäftigungs- und das Einkommensrisiko, sind in der Realität sicherlich oftmals miteinander verknüpft, so dass die Grenzen zwi­ schen den beiden Idealtypen im konkreten Einzelfall nicht leicht zu ziehen sind. Die Unterscheidung zwischen „Outsidern“ und „Geringverdienern“ ist jedoch insofern relevant, als dass die beiden Faktoren „Zeit“ und „Geld“ im deutschen Rentensystem nicht vollkommen gleichwertig sind. So ist der Zu­ gang zu bestimmten Ausgleichsleistungen (beispielsweise zur Rente nach Mindestentgeltpunkten) und zu bestimmten Rentenarten (beispielsweise zur Altersrente für langjährig Versicherte oder zur Altersrente für Schwerbehin­ derte) an die Erfüllung zeitlicher Voraussetzungen (Wartezeit) geknüpft.



3. Risikogruppen der Zukunft: Mittel- und langfristige Perspektiven 343

Auch die aktuell diskutierten Modelle der nachträglichen Aufwertung niedri­ ger Renten („Zuschussrente, „Lebensleistungsrente“ etc.) rekurrieren alle auf eine bestimmte Mindestversicherungsdauer bzw. eine Mindestanzahl an Bei­ tragsjahren als Zugangsvoraussetzung. Insofern kann das Verhältnis von „Zeit“ und „Geld“ im Hinblick auf das Risiko der Grundsicherungsbedürftig­ keit im Alter einen erheblichen Unterschied machen. a) Langjährig prekär und diskontinuierlich Beschäftigte („Arbeitsmarkt-Outsider“) Seit Anfang der 1990er Jahre hat sich die Ordnung auf dem Arbeitsmarkt grundlegend geändert (Bosch 2012). Unsichere und schlecht bezahlte Tätig­ keiten haben zugenommen; schlechte Arbeitsbedingungen haben sich zuneh­ mend auch in früher gut geschützte Zonen des Arbeitsmarktes ausgebreitet. Eine der zentralen Entwicklungstendenzen des deutschen Arbeitsmarktes ist die Expansion atypischer Beschäftigungsformen (Teilzeitbeschäftigung, geringfügige Beschäftigung, Leiharbeit, Werkverträge, ungesicherte SoloSelbstständigkeit). Der Gesamtumfang atypischer Beschäftigung (ohne SoloSelbstständige) ist von rund 20 % Anfang der 1990er Jahre bis auf 36 % Ende der 2000er Jahre gestiegen (Keller / Seifert 2011: 17). Das AusnahmeRegel-Verhältnis hat sich bei Frauen mittlerweile bereits umgedreht: Die Mehrzahl der Frauen (57 %) arbeitet in „atypischen“ Beschäftigungsverhält­ nissen. Insbesondere in Teilzeitverhältnissen und bei geringfügiger Beschäf­ tigung sind Frauen deutlich überrepräsentiert (ebd.: 18). Die Zunahme aty­ pischer Beschäftigungsverhältnisse und der relative Rückgang des „Normal­ arbeitsverhältnisses“ in den 1990er und 2000er Jahren (Keller / Seifert 2011, Bosch 2012) werden sich zeitversetzt auch in den GRV-Altersrenten und in den Alterseinkünften insgesamt niederschlagen; dies gilt bereits für die Babyboomer-Kohorten, mehr aber noch für die ab ca. 1970 geborenen Nach-Babyboomer-Kohorten. Atypische Beschäftigung muss nicht zwangsläufig prekär sein. Dies gilt insbesondere für Teilzeitbeschäftigungen: Eine gut bezahlte Teilzeittätigkeit, die einige Jahre lang ausgeübt wird, kann durchaus den Wünschen der Be­ schäftigten entsprechen und im Hinblick auf die Altersversorgung weitge­ hend unproblematisch sein. Auch befristete Beschäftigungsverhältnisse sind zumindest dann unproblematisch, wenn sie dem Einstieg in ein unbefristetes Beschäftigungsverhältnis vorausgehen. Mit der Zunahme prekärer Arbeit haben sich im Zeitverlauf jedoch auch die Aufstiegschancen verschlechtert; die Chancen, aus dem Niedriglohnsektor auf besser bezahlte Tätigkeiten zu gelangen, sind in den letzten 15  Jahren nicht gestiegen, sondern eher zu­ rückgegangen (Bosch 2012). Leiharbeit und Minijobs haben oftmals nicht

344

VI. Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter: Gegenwart und Zukunft

die ihnen zugedachte „Brücken“- bzw. „Sprungbrettfunktion“, sondern stel­ len sich als berufliche Sackgasse heraus; häufig kommt es zu „Befristungs­ ketten“ (Keller / Seifert 2011: 33), „Zeitarbeitskarrieren“ (Bosch 2012: 15) oder häufigen Wechseln zwischen verschiedenen Formen atypischer Be­ schäftigung und Phasen der Arbeitslosigkeit („Drehtür-Effekt“). Bei einem wachsenden Anteil von Personen (hierbei handelt es sich ins­ besondere um Frauen, Ausländer / -innen und jüngere Beschäftigte) kommt es auf diese Weise zu einer Verfestigung der Prekarität. Mit zunehmender Dauer dieses Zustandes werden die Chancen auf einen Übergang in ein unbefristetes Beschäftigungsverhältnis geringer; statt der dauerhaften Integ­ ration in den Arbeitsmarkt bleiben die Betroffenen in einem Status gefan­ gen, in dem sie dauerhaft exklusionsgefährdet sind. In dem Maß, in dem es den Betroffenen über längere Phasen ihres Erwerbslebens hinweg nicht gelingt, in den Kern des Arbeitsmarktes vorzudringen (d. h. ein unbefristetes Arbeitsverhältnis zu erlangen, zur „Kernbelegschaft“ eines Betriebes zu gehören, in Vollzeit bzw. vollzeitnah zu arbeiten, voll sozialversichert zu sein), könnte man bei dieser Gruppe auch von „Arbeitsmarkt-Outsidern“ sprechen. Zahlreiche Studien belegen, dass dauerhaft atypisch Beschäftigte (mit Ausnahme der unbefristet Teilzeitbeschäftigten) gegenüber Arbeitnehmern in einem Normalarbeitsverhältnis deutlich höheren Prekaritätsrisiken ausge­ setzt sind. Diese Benachteiligung betrifft sowohl das Einkommen als auch die Beschäftigungsstabilität, den Zugang zu betrieblich-beruflicher Weiter­ bildung und das Ausmaß der Integration in die sozialen Sicherungssysteme (vor allem in die GRV). Vereinfacht gesagt, haben dauerhaft atypisch Be­ schäftigte ein geringeres Einkommen, sind häufiger arbeitslos, sind aufgrund schwächerer Weiterbildungsaktivitäten auf Dauer weniger beschäftigungsfä­ hig und weisen größere Lücken in der GRV-Versichertenbiografie auf als Beschäftigte in einem Normalarbeitsverhältnis (Keller / Seifert 2011). Arbeit­ nehmerinnen und Arbeitnehmer mit dauerhaft instabiler Beschäftigung weisen in ihrer Versichertenbiografie längere Phasen mit vergleichsweise niedrigen Beitragsleistungen (etwa während einer Teilzeittätigkeit oder als Mini-Jobber) sowie Phasen ohne Beitragsleistung auf (z. B. aufgrund so­ zialversicherungsfreier Erwerbstätigkeit oder infolge von Arbeitslosigkeit); angesichts der fehlenden Beschäftigungs- und Planungssicherheit sind bei den Betroffenen zudem auch die Möglichkeiten für betriebliche und private Altersvorsorge stark eingeschränkt. Insgesamt tragen Personen in dieser Gruppe somit ein erhöhtes Risiko späterer Grundsicherungsbedürftigkeit. Ein in diesem Zusammenhang besonders relevantes erwerbsbiografisches Risiko, das bei den Kriegs- und Nachkriegsgenerationen noch eine relativ untergeordnete Rolle spielt, das jedoch bereits bei den Babyboomer-Kohor­



3. Risikogruppen der Zukunft: Mittel- und langfristige Perspektiven 

345

ten und erst recht bei späteren Kohorten vermehrt auftritt, ist das Risiko des späten bzw. prekären Erwerbseintritts, genauer: des deutlich verspäteten und / oder nur unvollständig erfolgenden Eintritts in eine sozialversiche­ rungspflichtige (Vollzeit-)Erwerbstätigkeit (Trischler 2012, 2014). Generell nimmt das durchschnittliche Erwerbseinstiegsalter aufgrund der Tendenz zu höheren Bildungsabschlüssen im Kohortenverlauf zu, so dass dementspre­ chend die durchschnittliche Anzahl der in der Erwerbseinstiegsphase absol­ vierten Erwerbsjahre (und damit auch die Anzahl der in diesem Zeitraum erworbenen Entgeltpunkte in der GRV) zurückgeht. Dies muss nicht unbe­ dingt problematisch sein, da im Sinne der Humankapitalthese generell davon auszugehen ist, dass Personen mit längeren Ausbildungszeiten (beispiels­ weise durch ein Hochschulstudium) eine „Bildungsrendite“ in Form eines höheren lebensdurchschnittlichen Erwerbseinkommens erzielen können. Der späte Erwerbseinstieg ist jedoch zunehmend nicht nur auf Personen mit einem abgeschlossenen (Fach-)Hochschulstudium beschränkt, die die feh­ lenden Beitragsjahre im Zeitverlauf durch höhere Beitragsbemessungsgrund­ lagen (über-)kompensieren können, sondern betrifft oftmals auch Personen mit einem prekären Erwerbseinstieg. Wie Trischler (2012) auf Grundlage der Versichertenkontenstichprobe (VSKT) der DRV Bund berechnet hat, zeigt sich über die Geburtskohorten hinweg ein Rückgang der Summe der in der Erwerbseinstiegsphase (abge­ grenzt bis zum 30. Lebensjahr) durchschnittlich erworbenen Entgeltpunkte (EP), und zwar von 9,3 EP im 30. Lebensjahr bei den 1940 bis 1944 gebore­ nen auf 6,2 EP bei den 1970 bis 1974 geborenen. Bei den jüngeren Kohorten kommt die deutlich verschlechterte Anrechnung von Ausbildungszeiten, die in diesen Zahlen nicht berücksichtigt ist, noch leistungsmindernd hinzu. Be­ merkenswert ist, dass der Rückgang der durchschnittlichen Rentenanwart­ schaften in der Erwerbseinstiegsphase alle Bildungsstufen betrifft: Bei den (Fach-)Hochschulabsolventen zeigt sich zwischen den ältesten und den jüngsten Geburtskohorten ein Rückgang von 7,7 auf 4,1 EP, bei den Personen mit Berufsausbildung von 9,5 auf 8,2 EP, und bei den Personen ohne Berufs­ ausbildung von 8,9 auf 5,9 EP. Der Rückgang der Rentenanwartschaften im ersten Drittel der Erwerbsbiografie ist somit nicht allein auf die längeren durchschnittlichen Ausbildungszeiten der jüngeren Kohorten zurückzuführen, sondern ist auch einer steigenden Betroffenheit von Arbeitslosigkeit und der Zunahme atypischer Beschäftigungsformen geschuldet. Prekäre Erwerbseinstiege haben nicht selten langfristige negative Konse­ quenzen für die Erwerbsbiografie. So zeigen Untersuchungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) auf Basis der „Integrierten Erwerbsbiografien“ (IEB) für westdeutsche Männer, die zwischen 1978 und 1980 nach einer Berufsausbildung im dualen Ausbildungssystem in das Erwerbsleben eingetreten sind, dass ein erhöhtes Maß an Arbeitslosigkeit zu

346

VI. Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter: Gegenwart und Zukunft

Beginn des Erwerbslebens mit einem deutlich erhöhten Arbeitsmarktrisiko im späteren Erwerbsverlauf verbunden ist (Schmillen / Umkehrer 2014). Insgesamt lässt sich daher feststellen, dass es bei den jüngeren Kohorten häufiger als bei den älteren Kohorten bereits in der Erwerbseinstiegsphase zu Problemen kommt, die sich über den Erwerbsverlauf hinweg verfestigen können, wenn gewissermaßen der Zeitpunkt für den Eintritt in ein Normal­ arbeitsverhältnis verpasst worden ist. Prekäre Erwerbseinstiege sind somit ein spezifisches Altersarmutsrisiko der Zukunft. b) Langjährige Geringverdiener / -innen Der Anteil der Niedriglohnbeschäftigung ist (bei Berechnung einer ge­ meinsamen Niedriglohnschwelle für Ost- und Westdeutschland) von 17,7 % im Jahre 1995 auf 24,3 % der Beschäftigten im Jahre 2012 gestiegen (Ka­ linka / Weinkopf 2014). Da es in Deutschland bis zur Einführung des gesetz­ lichen Mindestlohns zum 1.1.2015 keine generelle Lohnuntergrenze gegeben hat, ist die Streuung der Löhne nach unten besonders hoch (gewesen). Frauen und Ausländer sind in der Gruppe der Niedriglohnbeschäftigten deutlich überrepräsentiert; besonders hohe Anteile von Geringverdienern finden sich bei Geringqualifizierten (46,6 %), befristet Beschäftigten (43,4 %) und Minijobbern (78,6 %). Bei etwas über 1,3 Millionen Erwerbstätigen reicht das Erwerbseinkommen nicht aus, um das Existenzminimum abzude­ cken; sie sind auf eine Aufstockung ihres Einkommens durch Arbeitslosen­ geld II angewiesen, um über das Existenzminimum zu gelangen; angesichts 27% 25%

23% 21% 19% 17% 15%

1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012

Quelle: Kalina / Weinkopf 2014: 3; Niedriglohnschwelle = 2 / 3 des Median-Stundenlohns (2012: 9,30 Euro).

Abbildung 20: Anteil der Niedriglohnbeschäftigten (bundeseinheitliche Niedriglohnschwelle)



3. Risikogruppen der Zukunft: Mittel- und langfristige Perspektiven 347 Tabelle 51 Niedriglohnrisiko nach verschiedenen Merkmalen (2012) Merkmal Qualifikation

Befristung

Arbeitszeitform

Geschlecht

Nationalität

Gesamt

Kategorie

Niedriglohnrisiko

Ohne Berufsausbildung

46,6 %

Mit Berufsausbildung

24,3 %

(Fach-)Hochschule

  8,6 %

Befristet

43,4 %

Unbefristet

19,4 %

Vollzeit

14,7 %

Teilzeit

24,5 %

Minijob

78,6 %

Männer

18,0 %

Frauen

30,8 %

Deutsche

23,3 %

Ausländer / -innen

34,5 % 24,3 %

Quelle: Kalina / Weinkopf 2014: 5.

der sinkenden Zahl der erwerbsfähigen Hilfebedürftigen ist der Anteil der „Aufstocker“ von 23 % (2007) auf 29 % (2011) gestiegen (Bruckmeier et al. 2013). Langjährig Versicherte mit geringem Durchschnittsentgelt, so ist zu ver­ muten, sind in der heutigen Grundsicherungspopulation noch eher selten vertreten. Zumindest im (nicht repräsentativen) Sample der vorliegenden Studie finden sich praktisch keine Grundsicherungsbezieher / -innen, die 30 oder gar 35  Jahre lang in Deutschland in sozialversicherungspflichtiger Vollzeit gearbeitet haben; maßgeblich für die niedrigen Rentenanwartschaf­ ten der Befragten sind nicht in erster Linie die geringen Arbeitsentgelte gewesen (wobei diese im Einzelfall durchaus gegeben waren), sondern vielmehr die sehr kurzen Beitragszeiten. Aufgrund der langfristigen Wirkungen der Rentenreformen seit 2001 auf das Rentenniveau ist an dieser Stelle jedoch eine Veränderung zu erwarten. Die im Zuge der „Riester-Reform“ von 2001 beschlossene und mit weiteren

348

VI. Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter: Gegenwart und Zukunft

130 125 120 115 110

105 100

2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 Verbraucherpreisindex

Bruttostandardrente

Nettostandardrente

Quellen: Verbraucherpreisindex für Deutschland (Statistisches Bundesamt), Rentenversicherung in Zeitreihen (DRV Bund), eigene Berechnungen.

Abbildung 21: Standardrente und Preisentwicklung, alte Bundesländer (2000 = 100)

Reformen fortgesetzte Absenkung des Rentenniveaus durch Dämpfung der Rentenanpassung ist mit einem deutlichen Zurückbleiben der Entwicklung der Standardrente hinter der Inflationsentwicklung verbunden. Die Schere zwischen der Preisentwicklung und der Bruttostandardrente hat sich im Zeitverlauf immer weiter geöffnet; hier zeigt sich insbesondere der Effekt der „Nullrunden“ von 2004, 2005, 2006 und 2010. Darüber hinaus weist die Nettostandardrente einen geringeren Anstieg als die Bruttostandardrente auf, was auf den Anstieg des von den Rentnerinnen und Rentnern zu tragenden Eigenanteils zur Kranken- und Pflegeversicherung der Rentner zurückzufüh­ ren ist. Insgesamt ist der Verbraucherpreisindex zwischen dem Jahr 2000 und dem Jahr 2013 um rund 23,6 % gestiegen, während die Bruttostandard­ rente (West) lediglich um 13,2 % und die Nettostandardrente (West) sogar lediglich um 10 % gestiegen ist. Unabhängig von der Entwicklung der tat­ sächlichen Rentenzahlbeträge verliert somit bereits die Standardrente der GRV im Zeitverlauf deutlich an realer Kaufkraft. Die Absenkung des Rentenniveaus hat zur Folge, dass die Anzahl der Entgeltpunkte, die erforderlich sind, um eine GRV-Altersrente in Höhe des bundesdurchschnittlichen Bruttobedarfs der Grundsicherung im Alter zu erhalten, im Zeitverlauf deutlich ansteigt. Dies gilt umso mehr, als dass der Regelsatz der Mindestsicherungssysteme infolge der Neuregelung durch das Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz seit 2011 nicht mehr gemäß der Rentenent­ wicklung, sondern gemäß eines Mischindexes aus Preis- und Lohnentwick­



3. Risikogruppen der Zukunft: Mittel- und langfristige Perspektiven 349

lung (und damit im Durchschnitt voraussichtlich stärker als die Standard­ rente der GRV) angepasst wird. Bereits in den letzten Jahren zeigt sich ein allmählicher, aber (scheinbar) unaufhaltsamer Anstieg der „Mindestpunkt­ zahl“ für eine Rente auf Grundsicherungsniveau: − Im Jahr 2005, als die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminde­ rung in das SGB XII „eingemeindet“ wurde, waren in Westdeutschland bei einem ARW (West) von 26,13 Euro, einer Grundsicherungsschwelle von 618 Euro / Monat und einem Eigenanteil der Rentner / -innen zur Kranken- und Pflegeversicherung der Rentner von 9,25 % exakt 26,06 EP notwendig, um eine Netto-Altersrente auf Grundsicherungsniveau zu er­ halten. − Im Jahr 2012 waren bei einem ARW (West) von 28,07 Euro, einer Grundsicherungsschwelle von 719 Euro / Monat und einem Eigenanteil der Rentner / -innen zur Kranken- und Pflegeversicherung der Rentner von 10,15 % bereits 28,51 EP notwendig. Da der reale Wert eines Entgeltpunktes aufgrund der bereits beschlosse­ nen Niveausenkungen in der GRV perspektivisch weiter sinken wird, wird sich dieser „break even point“ im Verlauf der nächsten Jahre und Jahrzehn­ te weiter zuungunsten der Versicherten verschieben. Schätzungen zufolge werden im Jahr 2030 rund 35 EP notwendig sein, um die Grundsicherungs­ schwelle zu erreichen (Schmähl 2011: 239). Zugleich soll sich jedoch durch die stufenweise Anhebung der Regelaltersgrenze von 65 auf 67  Jahre auch die idealtypische Lebensarbeitszeit der Versicherten stufenweise von 45 auf 47 Jahre verlängern, so dass die erforderlichen 35 Entgeltpunkte in Zukunft quasi innerhalb von 47 Erwerbsjahren erworben werden sollen. Ein fiktiver Zugangsrentner des Jahres 2031 mit einer (in der Realität sicherlich eher seltenen) „vollen“ Erwerbskarriere von 47 Jahren wird also im Lebens­ durchschnitt rund 0,74 EP pro Jahr erzielt haben müssen, um eine Alters­ rente auf Grundsicherungsniveau zu erzielen; das entspricht einem lebens­ durchschnittlichen Bruttoverdienst von mindestens 74 % des durchschnittli­ chen Versichertenentgeltes. Mit anderen Worten: Ein Arbeitnehmer oder eine Arbeitnehmerin, der / die im Lebensdurchschnitt weniger als drei Viertel des Durchschnittsentgelts aller GRV-Versicherten verdient, wird im Jahr 2030 voraussichtlich auch bei einer faktisch ununterbrochenen Erwerbskarriere von 47 Beitragsjahren keine Altersrente oberhalb des Grundsicherungsniveaus erhalten. Bei einem vorläufigen Durchschnittsentgelt der GRV-Versicherten von 34.857 Euro / Jahr (2.904,75 Euro / Monat) im Jahr 2014 hätte dieser Schwellenwert in diesem Jahr einem Bruttogehalt von rund 2.150 Euro / Monat entsprochen. Wie diese vereinfachende Beispielrechnung zeigt, steigen aufgrund der Ab­ senkung des Rentenniveaus die erwerbsbiografischen Anforderungen an die

350

VI. Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter: Gegenwart und Zukunft

GRV-Versicherten im Zeitverlauf immer weiter an; die Versicherten können sich faktisch weder lange Erwerbsunterbrechungen noch ein dauerhaft deut­ lich unter dem Durchschnitt liegendes Gehalt „erlauben“, wenn sie bei geltendem Rechtsstand eine gesetzliche Altersrente oberhalb des Grund­ sicherungsniveaus erhalten wollen. Auf diese Weise geraten nicht nur Erwerbstätige mit längeren Phasen der Arbeitslosigkeit und der prekären Beschäftigung zunehmend unter Druck, sondern auch kontinuierlich beschäftigte Arbeitnehmer / -innen mit unter­ durchschnittlichem Entgelt. Zu dieser neuen Risikogruppe der „Langjähri­ gen Geringverdiener“ gehören nicht nur alle diejenigen Personen, die dau­ erhaft den gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro / Stunde beziehen (diese haben keine Chance, die Grundsicherungsschwelle zu erreichen), sondern auch viele Arbeitnehmer / -innen in „klassischen“, tarifgebundenen Ausbil­ dungsberufen (u. a. Friseure, Floristinnen, Raumausstatter, Gärtner, Bäcker, Konditor, Bäckereifachverkäuferinnen, Verkäufer / -in im Einzelhandel, Ho­ telfachmann / -frau, Altenpflegehelfer, Arzthelfer etc.)  – wenn man so will, die „untere Mittelschicht“ am deutschen Arbeitsmarkt. Diese Personen lau­ fen Gefahr, auch bei einer langjährigen kontinuierlichen Beschäftigung keine GRV-Altersrente zu erzielen, die oberhalb der Grundsicherungs­ schwelle liegt. Die Betroffenen können zwar durchaus auch als Opfer der Lohnentwick­ lung am Arbeitsmarkt betrachtet werden (sinkende Lohnquote, zunehmende Lohnspreizung, fortbestehende geschlechtsspezifische Lohndiskriminierung); in erster Linie ist es jedoch die Rentenkürzungspolitik der letzten 10 bis 15  Jahre, die diese Personen im Alter in die Nähe oder sogar unter die Grundsicherungsschwelle drücken wird, sofern sie nicht über eine zusätzli­ che Altersvorsorge und / oder eine Absicherung im Haushaltskontext verfü­ gen. Hier verbirgt sich ein großes legitimationspolitisches Problempotenzial: Die Betroffenen haben im Prinzip „nichts falsch gemacht“; sie haben jahr­ zehntelang gearbeitet und Beiträge in die GRV eingezahlt, laufen jedoch Gefahr, am Ende ihres Arbeitslebens auf die vorleistungsfreie Grundsiche­ rung verwiesen zu werden. Aus eben diesem Grunde ist es genau diese Risikogruppe der langjährigen Geringverdiener, die im Fokus vieler aktuel­ ler Reformvorschläge und auch der Reformpläne der Bundesregierung steht. 4. Zwischenfazit Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter ist stets das Ergebnis eines Zu­ sammenspiels aus individuellen und strukturellen Faktoren. Die jetzigen „jungen Alten“ in der Grundsicherung im Alter sind größtenteils noch nicht „Opfer“ der Rentenreformen der 1990er und insbesondere der 2000er Jahre,



4. Zwischenfazit

351

sondern in erster Linie Opfer ihrer (gemessen am Kriterium einer eigenstän­ digen Existenzsicherung im Alter) „gescheiterten“ Biografie. Sie weisen aus verschiedenen Gründen vergleichsweise diskontinuierliche Erwerbs- und Versicherungsbiografien auf, die (oftmals in Kombination mit zusätzlichen Risikofaktoren in der Familien- und / oder Gesundheitsbiografie) im Ergeb­ nis zu einer Angewiesenheit auf Leistungen der Grundsicherung im Alter geführt haben. Es handelt sich hier, so könnte man argumentieren, um Ausnahmen, gewissermaßen um besonders unglückliche Lebensverläufe, die innerhalb einer ansonsten im Alter vergleichsweise gut abgesicherten Gene­ ration zu einer individuellen Grundsicherungsbedürftigkeit geführt haben. Die vorangegangenen Analysen haben jedoch gezeigt, dass hinter den meis­ ten individuellen „Grundsicherungsbiografien“ strukturelle Risiken stehen. Eben diese strukturellen Armutsrisiken werden in Zukunft deutlich zuneh­ men. Im stark erwerbsbezogenen deutschen Alterssicherungssystem lässt sich diesbezüglich zwischen exogenen und endogenen Risikofaktoren unter­ scheiden (Bäcker 2008): Während sich die exogenen Faktoren in erster Li­ nie auf die vielfältigen Umbrüche des Arbeitsmarktes und den damit ver­ bundenen Wandel der Erwerbsbiografien beziehen, beziehen sich die endo­ genen Faktoren auf den Paradigmenwechsel in der Alterssicherung und die damit verbundenen leistungsrechtlichen Veränderungen und Einschnitte in der gesetzlichen Rentenversicherung. Die Kombination aus dem zunehmen­ den Anteil diskontinuierlicher Erwerbs- und Einkommensverläufe einerseits und den grundlegenden Reformen des deutschen Alterssicherungssystems andererseits lässt sich auf die prägnante Risikoformel „Arbeitsmarkt × Rentenreform = Altersarmut“ bringen (Bogedan / Rasner 2008). Insgesamt kommt es dadurch über die verschiedenen Geburtskohorten hinweg zu einer immer größeren Kluft zwischen den hohen (und durch die Rentenreformen sogar noch verschärften) biografischen Normalitäts- und Kontinuitätsanforderungen des Alterssicherungssystems auf der einen Seite und der zunehmenden Pluralität und Diskontinuität der Lebensverläufe auf der anderen Seite. Zugespitzt formuliert: (rentenrechtlicher) Anspruch und (biografische) Wirklichkeit klaffen immer weiter auseinander. Diese sozialund gesellschaftspolitische Problemkonstellation, die sich im Zeitverlauf immer deutlicher abzeichnet, bildet die Hintergrundfolie der mittlerweile bereits seit etlichen Jahren geführten Diskussion um die drohende „Alters­ armut“ und die Möglichkeiten zu ihrer „Bekämpfung“.

VII. „Altersarmut“ als Gegenstand der aktuellen Alterssicherungspolitik 1. Optionen der Altersarmutsvermeidung: Zur Systematisierung der aktuellen Reformdiskussion In der rentenpolitischen Debatte sind in den letzten Jahren eine Vielzahl von Vorschlägen für eine Politik zur Vermeidung bzw. Begrenzung der Al­ tersarmut formuliert worden. Das Spektrum der verschiedenen Ansätze und Reformmodelle reicht dabei von Modifikationen des bestehenden Renten­ versicherungssystems bis zur vollständigen Systemumstellung. Einige Mo­ delle und Alternativen haben ihre Wurzeln bereits in der Reformdebatte der frühen 1980er Jahre („Grundrente“, „Rente nach Kinderzahl“, „Bürgerversi­ cherung“, „Voll eigenständiges System“ etc.) und sind zum Teil auch in den 2000er Jahren kontrovers diskutiert worden (vgl. Rürup-Kommission 2003: 106–129); generell hat es in der deutschen Rentendebatte nie an renten­ politischen Alternativvorschlägen und -modellen gemangelt. Angesichts der Vielzahl der Reformoptionen und der Komplexität des The­ mas ist die alterssicherungspolitische Debatte seit jeher relativ unübersicht­ lich. Es sind daher verschiedene Versuche unternommen worden, zu einer stärkeren Systematisierung und damit zu einer besseren Vergleich- und Be­ wertbarkeit der verschiedenen Reformvorschläge und Handlungsoptionen zu kommen (u. a. Thiede / Loose 2006, Loose 2008, Leiber 2009, Bäcker 2008, Bäcker / Schmitz 2012, Kumpmann 2011, Frommert 2013: 202–215). Die fol­ genden Anmerkungen zur rentenpolitischen Diskussion der letzten Jahre stre­ ben keinen detaillierten Gesamtüberblick über die in der Diskussion befindli­ chen Reformvorschläge an; es sollen vielmehr einige Leitkriterien erläutert werden, anhand derer die verschiedenen Reformvorschläge sowie die Ge­ samtausrichtung der Diskussion besser eingeordnet werden können. Loose (2008: 81) hat darauf hingewiesen, dass in der sozialpolitischen Dis­ kussion oftmals die konkreten Modelle und Instrumente im Vordergrund ste­ hen, während die hinter einzelnen Reformvorschlägen stehenden Problemde­ finitionen und die damit verbundenen sozialpolitischen Ziele oftmals eher implizit bleiben, obwohl sie für den Vergleich und die Bewertung der ver­ schiedenen Konzepte von zentraler Bedeutung sind. Insofern ist zunächst ei­ ne Grundunterscheidung zwischen den durch die Reformpolitik angestrebten konkreten sozialpolitischen Zielen und den zu diesem Zweck einzusetzenden



1. Optionen der Altersarmutsvermeidung

353

Tabelle 52 Vermeidung von Altersarmut: Lösungsansätze und Leitunterscheidungen A. Ziele Sicherungsziel • Vermeidung relativer Altersarmut? • Vermeidung von Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter? • Gewährleistung eines existenzsichernden eigenständigen Alterseinkommens? Adressatengruppe • alle Bürgerinnen und Bürger? • alle Erwerbstätigen? • nur GRV-Versicherte? • nur langjährig GRV-Versicherte? Zeithorizont • kurzfristig (Rentenbestand, rentennahe Jahrgänge)? • mittelfristig („Babyboomer“-Generation)? • langfristig (jüngere und zukünftige Generationen)? B. Strategien Ausrichtung • präventive Ansätze? • kompensatorische Ansätze? Ansatzpunkt • alterssicherungsextern (Veränderung der externen Rahmenbedingungen, insbe­ sondere auf dem Arbeitsmarkt)? • alterssicherungsintern (Veränderungen im System der Alterssicherung)? – Veränderungen (lediglich) in den staatlichen Systemen (GRV und / oder Grundsicherung im Alter)? –  Veränderungen (auch) in den Systemen der betrieblichen und der privaten Altersvorsorge? Eingriffstiefe • Modifikation des bestehenden Systems? • Systemwechsel? C. Finanzierung • Beitragsmittel? • Steuermittel? Quelle: Eigene Darstellung.

354 VII. „Altersarmut“ als Gegenstand der aktuellen Alterssicherungspolitik

Strategien und Instrumenten hilfreich. Hinzu kommt drittens die (nicht nur haushaltspolitisch, sondern auch verteilungspolitisch relevante) Frage, wie die Finanzierung der vorgesehenen Maßnahmen ausgestaltet werden soll. In­ nerhalb dieser Grundunterscheidung zwischen Zielen, Strategien und Finan­ zierung lassen sich verschiedene weitere Differenzierungen vornehmen. a) Sozialpolitische Ziele Im Hinblick auf ihre sozialpolitischen Ziele können die verschiedenen Vor­ schläge und Optionen zunächst einmal daraufhin befragt und systematisiert werden, welche konkreten Sicherungsziele sie für welche Adressatengruppen und in welchem Zeithorizont anstreben. Grundsätzlich ist zunächst immer zu fragen, inwiefern das Ziel der Armutsvermeidung in dem jeweiligen Reform­ konzept wirklich das vorrangige Ziel darstellt. So verfolgen viele Vorschläge in der Debatte Zielsetzungen, die sich mit dem Ziel der Vermeidung von Al­ tersarmut teilweise überschneiden, die jedoch nicht mit ihm identisch sind (beispielsweise die stärkere Betonung der eigenständigen Sicherung von Frauen, die rentenrechtliche Besserstellung von Eltern bzw. Müttern oder die Ermöglichung flexibler individueller Übergänge in den Ruhestand). Bei denjenigen Vorschlägen, die sich explizit auf die Vermeidung von Altersarmut richten, ist als erstes zu fragen, was im Rahmen des jeweiligen Konzeptes konkret unter „Altersarmut“ verstanden werden soll. Hier ist zum einen eine Orientierung an der statistischen Armutsrisikoschwelle (60 % des Einkommensmedians) denkbar; Ziel wäre dann eine Begrenzung der relati­ ven Einkommensarmut im Alter. Die meisten politischen Vorschläge zielen jedoch nicht auf eine Begrenzung relativer Einkommensarmut, sondern vielmehr auf die Vermeidung der Angewiesenheit auf Leistungen der steu­ erfinanzierten, bedarfsgeprüften öffentlichen Mindestsicherungssysteme ab. Das (gegenüber dem Ziel der Vermeidung relativer Einkommensarmut deut­ lich bescheidenere) Ziel ist hier, die Anzahl bzw. den Anteil derjenigen Personen, die Leistungen der Grundsicherung im Alter in Anspruch nehmen müssen, dauerhaft möglichst niedrig zu halten. Ein drittes mögliches Ziel, das in der laufenden Debatte allerdings eher selten thematisiert wird, wäre die (möglichst flächendeckende) Gewährleistung eines existenzsichernden eigenständigen Alterseinkommens. Dieses Ziel geht insofern über die reine Grundsicherungsbedürftigkeitsvermeidung hinaus, als dass es auch die Ver­ meidung individueller finanzieller Abhängigkeit von dritten Personen (z. B. Angehörigen oder Ehepartnern) beinhaltet. Mit der Frage nach dem Sicherungsziel eng verbunden ist die Frage, auf welchen Adressatenkreis sich das Ziel der Armuts- bzw. Grundsicherungs­ bedürftigkeitsvermeidung beziehen soll: Auf die Gesamtheit aller (Wohn­



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sitz-)Bürger / -innen, auf die Erwerbsbevölkerung oder lediglich auf die GRV-Versicherten. Hiermit ist zugleich auch die Frage nach den ­Zugangsbedingungen und Anspruchsvoraussetzungen zu den armuts- bzw. grundsicherungsbedürftigkeitsvermeidenden Leistungen angesprochen. Kon­ zepte, die sich an die gesamte Wohnbevölkerung richten, sehen in der Regel eine gewisse Mindestwohnsitzdauer vor; wenn sie ein bestimmtes Sockel­ einkommen garantieren wollen, wird auf eine Bedürftigkeitsprüfung hinge­ gen in der Regel verzichtet. Daneben gibt es Ansätze, die sich stärker auf die Erwerbsbevölkerung konzentrieren; dabei wird implizit davon ausgegan­ gen, dass Personen, deren Lebensunterhalt bereits während der Erwerbspha­ se nicht in erster Linie durch eigene Erwerbsarbeit bestritten wird, auch im Alter anderweitig (in der Regel über den Haushaltskontext) abgesichert sind. Explizit einbezogen werden sollen hingegen in der Regel auch dieje­ nigen Erwerbstätigen, die in keinem Alterssicherungssystem der ersten Schicht pflichtversichert sind (insbesondere Selbstständige); viele Ansätze kombinieren in diesem Sinne das Ziel der Armuts- bzw. Grundsicherungs­ bedürftigkeitsvermeidung mit einer Ausweitung des Pflichtversichertenkrei­ ses der GRV im Sinne einer Erwerbstätigenversicherung. Weitaus begrenzter in ihrem Adressatenkreis sind Ansätze, die sich auf die jetzige Versichertengemeinschaft der GRV beschränken, in der nach wie vor die Mehrheit der Erwerbsbevölkerung abgesichert ist. Hier geht es darum, bestimmte zusätzliche Sicherungselemente in das bestehende System einzu­ bauen, die in der Regel die Angewiesenheit auf Grundsicherungsleistungen vermeiden sollen. Viele Ansätze gehen davon aus, dass es angemessen ist, solche systeminternen Mindestsicherungsleistungen im Sinne einer höheren „Zielgenauigkeit“ nicht nur an eine Einkommens- bzw. Bedürftigkeitsprü­ fung, sondern auch an weitere Voraussetzungen zu koppeln, z. B. an eine be­ stimmte Mindestversicherungsdauer. In der Regel wird der Adressatenkreis dabei auf langjährig Versicherte begrenzt; je nach konkreter Ausgestaltung der Anspruchsvoraussetzungen kann der Kreis der potenziell Leistungsbe­ rechtigten dabei enger oder weiter ge­zogen werden. Von besonderer Bedeutung ist schließlich die Frage nach dem Zeithorizont der vorgeschlagenen Maßnahmen, da dieser oftmals eher implizit bleibt. Grundsätzlich können sich Reformmaßnahmen ausschließlich auf die zu­ künftigen Zugangsrentner / -innen richten oder auch die Bestandsrenter / -in­ nen einschließen; so betreffen beispielsweise Veränderungen der Rentenan­ passungsformel sowohl die aktuellen als auch die zukünftigen Rentner. Kon­ zepte, die eine rückwirkende Aufwertung bereits bestehender Altersrenten vorsehen, sind in der Altersarmutsdiskussion generell eher selten;32 die große 32  Mit der sogenannten „Mütterrente“ ist im Rahmen des RV-Leistungsverbesserungsgesetzes von 2014 erstmals eine nachträgliche Korrekturmaßnahme eingeführt

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Mehrheit der aktuellen Vorschläge zielt darauf ab, die Armut bzw. die Grund­ sicherungsbedürftigkeit zukünftiger Seniorinnen und Senioren zu begrenzen. Je nach zugrunde liegendem Zeithorizont müssen die entsprechenden Maß­ nahmen unterschiedliche Schwerpunkte setzen: So kommen präventive Maß­ nahmen, die bereits in der Erwerbsphase ansetzen, für rentennahe Jahrgänge in der Regel zu spät; stärker kompensatorische Ansätze haben demgegenüber den Vorteil, dass sie bereits kurzfristig wirksam werden können. Im Mittel­ punkt der meisten Diskussionsbeiträge stehen die quantitativ stark besetzten Babyboomer-Kohorten (je nach Abgrenzung die Geburtsjahrgänge von 1955 bis ca. 1969), die ab ca. 2020 das Rentenalter erreichen und bis ca. 2035 in Rente gehen werden. b) Strategien und Instrumente Die verschiedenen Vorschläge und Konzepte können im Hinblick auf ihre strategische Ausrichtung danach systematisiert werden, ob sie erstens eher präventiv oder eher kompensatorisch orientiert sind, ob sie zweitens eher alterssicherungsextern (insbesondere an den Rahmenbedingungen des Arbeitsmarktes) oder eher alterssicherungsintern (und hier: lediglich an der GRV oder auch an den betrieblichen und privaten Systemen) ansetzen wol­ len, und ob sie drittens einen grundlegenden Systemwechsel (beispielsweise ein „bedingungsloses Grundeinkommen“, eine „Grundrente“ oder „Sockel­ rente“) oder lediglich Modifikationen des bestehenden Systems der Alters­ sicherung (insbesondere der GRV) vorsehen. Diese drei Leitunterscheidun­ gen (kompensatorisch vs. präventiv, alterssicherungsintern vs. alterssiche­ rungsextern, systemmodifizierend vs. systemtransformierend) sind zwangs­ läufig stark vereinfachend; bei vielen konkreten Reformkonzepten handelt es sich um ganze Maßnahmenbündel, die verschiedene Ansatzpunkte und Instrumente miteinander kombinieren. Einzelne Ansätze müssen sich somit nicht in jedem Fall ausschließen, sondern können einander auch ergänzen. Im Hinblick auf die Reformdiskussion der letzten Jahre ist insbesondere die Unterscheidung zwischen präventiven und kompensatorischen Ansätzen der Altersarmutsbegrenzung von zentraler Bedeutung. Während kompensa­ torische Ansätze auf eine nachträgliche Korrektur unzureichender Altersein­ künfte bzw. Anwartschaften abzielen, haben präventive Ansätze gemeinsam, „dass sie an den Ursachen der geringen Anwartschaften ansetzen und ver­ suchen, den Aufbau von Anwartschaften in der Erwerbsphase zu unterstüt­ worden, die in erster Linie bereits bestehende Altersrenten aufwertet. Diese verhält­ nismäßig teure Maßnahme ist allerdings nicht in erster Linie mit dem Ziel der Ver­ meidung von Armut, sondern vielmehr mit Kriterien der Gleichbehandlung und der Anerkennung von „Lebensleistung“ begründet worden [vgl. Kap. VII.2.b)].



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zen“ (Frommert 2013: 204). Alterssicherungsexterne Präventionsstrategien setzen schwerpunktmäßig bei den Rahmenbedingungen der Erwerbsarbeit an und zielen im Kern darauf ab, die Erwerbsstrukturen und Erwerbsverläu­ fe sowie die Einkommensverhältnisse dahingehend zu verändern, dass die Voraussetzungen für den Erwerb ausreichend hoher Vorsorgeanwartschaften während der Erwerbsphase verbessert werden. Hierzu gehören unter ande­ rem der Abbau der (Langzeit-)Arbeitslosigkeit, die Erhöhung der Erwerbs­ beteiligung (insbesondere von Frauen), die Eindämmung des Niedriglohn­ sektors und die stärkere Begrenzung von Minijobs, Werkverträgen und an­ deren atypischer bzw. sozialversicherungsfreier Beschäftigung. Verbesserun­ gen beim Zugang zu Bildung und bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie können ergänzend hinzukommen. In der alterssicherungspolitischen Debatte herrscht auf einer allgemeinen Ebene zwar weitgehend Konsens darüber, dass die Ursachen von Altersar­ mut vordringlich in der Erwerbsphase zu suchen sind und dass eine mög­ lichst kontinuierliche Erwerbs- und Versichertenbiografie mit einem ausrei­ chend bemessenen Entgelt den besten Schutz vor Altersarmut gewährleistet; dieser Konsens endet jedoch schnell, sobald im Bereich der Arbeitsmarkpo­ litik konkrete Maßnahmen diskutiert werden. So werden Vorschläge, die auf eine stärker verteilungsorientierte Lohnpolitik, gesetzliche Lohnuntergren­ zen, Begrenzungen von Leiharbeit und Werkverträgen etc., also auf eine im Kern arbeitnehmerorientierte Re-Regulierung des Arbeitsmarktes setzen, immer auf Widerstand aus den Reihen der Arbeitgeberverbände und aus großen Teilen der wirtschaftswissenschaftlichen Politikberatung stoßen; das zentrale Argument lautet hier, dass eine Verteuerung und „Entflexibilisie­ rung“ des Faktors Arbeit die Beschäftigungschancen insbesondere der Ge­ ringqualifizierten verringert und somit gerade für diesen Personenkreis das Altersarmutsrisiko eher erhöht als verringert. Alterssicherungsinterne Präventionsstrategien beziehen sich mehrheitlich auf die GRV als tragende Säule des Alterssicherungssystems; sie zielen auf Modifikationen des Rentenrechts ab, die den Anwartschaftserwerb in der Aufbauphase der Renten positiv beeinflussen. Hier geht es im Kern darum, sicherzustellen, dass Versicherungslücken im Lebensverlauf geschlossen werden bzw. nach Möglichkeit erst gar nicht entstehen. Die Schließung von Sicherungslücken ist in der Regel mit einer Stärkung des Solidarausgleichs in der GRV verbunden. Grundsätzlich werden in der GRV bestimmte Zeiten innerhalb des Versicherungsverlaufs, in denen aufgrund „unverschuldeter“ Situationen (u. a. Arbeitslosigkeit und Krankheit) oder gesellschaftlich er­ wünschter Tätigkeiten (Kindererziehung und Pflegetätigkeit) keine oder nur geringe Beiträge aus Erwerbsarbeit geleistet werden (können), durch die Beitragszahlung Dritter rentenrechtlich ausgeglichen (Stegmann / Bieber 2010). Die Stärkung des sozialen Ausgleichs kann grundsätzlich sowohl

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über eine Erhöhung des Umfangs der Beitragszahlung als auch über eine erweiterte Definition der „Ausgleichstatbestände“ vorgenommen werden (Frommert 2013: 205). Eine zentrale Forderung in diesem Zusammenhang besteht darin, die Absicherung von Langzeitarbeitslosen zu verbessern und die 2011 abgeschaffte Beitragszahlung des Bundes für Zeiten des ALG IIBezugs (auf deutlich erhöhtem Niveau) wieder einzuführen (Buntenbach 2011: 290). Eine weitere Forderung richtet sich auf die Verbesserung der rentenrechtlichen Honorierung von Pflegearbeit (Sachverständigenkommis­ sion Gleichstellungsbericht 2011: 202 / 203). Ein interessantes Konzept zur verbesserten Absicherung unsteter Einkom­ mens- und Erwerbsverläufe, das im politischen Raum allerdings kaum wahrgenommen wird, ist das Ende der 1990er Jahre in der damaligen Bun­ desversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) entwickelte Modell der „fle­ xiblen Rentenanwartschaften“ (Langelüddeke et al. 1999; Thiede 2000). Es sieht vor, dass die GRV-Versicherten in den ersten 15 bis 20 Versicherungs­ jahren mit ihren regulären Rentenversicherungsbeiträgen über die normalen Rentenanwartschaften hinaus zusätzliche Anwartschaften erwerben, die sie dazu verwenden können, Lücken in ihrer Erwerbsbiografie zu schließen, Zeiten mit niedrigem Arbeitsentgelt aufzuwerten oder Rentenabschläge bei vorzeitigem Renteneintritt auszugleichen. Auf diese Weise würde das Äqui­ valenzprinzip in der GRV zumindest ein Stück weit relativiert werden, um die negativen Wirkungen diskontinuierlicher Erwerbsverläufe abzumildern. Zu den wichtigsten präventiven Strategien gehört die Ausweitung der Sozialversicherungspflicht auf alle bislang nicht obligatorisch abgesicherten Erwerbstätigen oder sogar auf die gesamte Bevölkerung; durch eine konti­ nuierliche Versicherungspflicht können Versicherungslücken von vorneher­ ein verhindert werden. Die Weiterentwicklung der heute im Wesentlichen auf die abhängig Beschäftigten beschränkten GRV zu einer Erwerbstätigen­ versicherung (Rische 2008, Frommert / Loose 2009) wird nicht nur von den Rentenversicherungsträgern, sondern auch von den Gewerkschaften und den meisten Sozialverbänden immer wieder in die Diskussion eingebracht und hat in den letzten Jahren auch im parteipolitischen Raum deutlich an Zu­ stimmung gewonnen. So sehen sowohl die Bundestagswahlprogramm der SPD als auch dasjenige von Bündnis 90 / Die Grünen die schrittweise Wei­ terentwicklung der GV zu einer Erwerbstätigen- oder sogar zu einer Bür­ gerversicherung vor; die Einbeziehung der bislang nicht obligatorisch gesi­ cherten Selbstständigen soll hier ein erster Schritt sein (SPD 2013: 81, Bündnis 90 / Die Grünen 2013: 135). Auch im Wahlprogramm der Unions­ parteien für die aktuelle Legislaturperiode (2013–2017) ist eine Altersvor­ sorgepflicht für alle Selbstständigen vorgesehen, die nicht bereits anderwei­ tig abgesichert sind; allerdings ist hierbei ein Wahlrecht zwischen der GRV und anderen Vorsorgeformen vorgesehen (CDU / CSU 2013: 46). Grundsätz­



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lich ist die Eingliederung der bislang nicht pflichtversicherten Selbstständi­ gen in die GRV allerdings mit einer Vielzahl hoch komplexer Detailproble­ me verbunden (Fachinger / Frankus 2011); hier stellt sich nicht zuletzt auch die Frage, wie mit dem Problem der eingeschränkten Vorsorgefähigkeit vieler (Solo-)Selbstständiger umzugehen ist, zumal pflichtversicherte Selbst­ ständige ja nicht nur den Arbeitnehmer- sondern auch den Arbeitgeberbei­ trag entrichten müssten. Im Kontext der GRV-internen Präventionsstrategien wird von verschiede­ nen Akteuren auch die Frage nach dem generellen Sicherungsniveau der GRV gestellt, zumal die kumulative Absenkung des Rentenniveaus als eine der zentralen Ursachen des steigenden Altersarmutsrisikos gesehen werden kann (Dedring et al. 2010). Eine (Wieder-)Anhebung des Rentenniveaus kann beispielsweise über eine ersatzlose Streichung des „Nachhaltigkeits­ faktors“ aus der Rentenanpassungsformel vorgenommen werden. Generell zielen Ansätze, die den Paradigmenwechsel von 2001 grundsätzlich ableh­ nen, auf eine weitgehende Rücknahme der seit Mitte der 1990er Jahre vorgenommenen kumulativen Leistungskürzungen in der GRV ab; das poli­ tische Primat der Beitragssatzstabilität wird in diesem Zusammenhang offen in Frage gestellt. Die große Mehrheit der präventiv ausgerichteten Vorschläge zur alters­ sicherungsinternen Vermeidung von Altersarmut ist in erster Linie auf die Ausgestaltung der GRV bezogen; allerdings gibt es auch Ansätze, die auf eine Stärkung und Ausweitung der betrieblichen und privaten Vorsorge set­ zen und auf eine Korrektur des Vorsorgeverhaltens der Erwerbstätigen im Sinne verstärkter Spartätigkeit abzielen. Im Fokus stehen dabei häufig auch diejenigen Bevölkerungsgruppen, die aufgrund mangelnder Vorsorgefähig­ keit, mangelnder Vorsorgebereitschaft oder mangelnden Vorsorgewissens bislang nicht bzw. nicht in ausreichendem Maße zusätzlich vorsorgen. Die Bandbreite der Optionen zur Einflussnahme auf das Vorsorgeverhalten reicht dabei von verbesserten Informationsangeboten über indirekte oder direkte Anreize für zusätzliche Vorsorgebemühungen bis hin zu einem Obligatori­ um. Letzteres wird in der aktuellen Debatte allerdings eher selten gefordert; im Mittelpunkt der auf die betriebliche und insbesondere die private Vorsor­ ge bezogenen Vorschläge stehen eher Maßnahmen, die auf die gezielte Verbesserung der Vorsorgeanreize für Geringverdiener / -innen abzielen. Auch die von verschiedenen Seiten geforderte Einführung einer säulenüber­ greifenden Vorsorgeinformation (etwa nach schwedischen Vorbild) soll nicht zuletzt dazu dienen, bestehende Vorsorgelücken aufzuzeigen und die Versi­ cherten dadurch zu mehr privater Vorsorge zu bewegen. Kompensatorische Ansätze zielen im Wesentlichen auf eine nachträgliche Korrektur unzureichender Alterseinkünfte. Da in kapitalgedeckten betrieb­

360 VII. „Altersarmut“ als Gegenstand der aktuellen Alterssicherungspolitik

lichen und privaten Systemen jenseits des „Unisex“-Tarifs grundsätzlich keine interpersonelle Umverteilung vorgesehen ist, setzen kompensatorische Ansätze praktisch ausschließlich in der GRV oder im System der Grundsi­ cherung im Alter und bei Erwerbsminderung an. Ein zentraler Ansatz der nachträglichen Ergebniskorrektur, der in der deutschen Rentenpolitik eine gewisse Tradition hat, ist die an das Vorliegen bestimmter Voraussetzungen geknüpfte Aufwertung niedriger Rentenanwartschaften für langjährig GRVVersicherte zum Zeitpunkt des Renteneintritts. Hierdurch wird das Äquiva­ lenzprinzip im unteren Einkommenssegment ein Stück weit relativiert. Die Aufwertung der Anwartschaften kann unterschiedlich ausgestaltet werden; hierbei geht es zum einen um die Frage, an welche Zugangsvoraussetzun­ gen die Leistungsberechtigung geknüpft wird, und zum anderen um die Frage, welche (Mindest-)Höhe der GRV-Altersrenten angestrebt wird und auf welche Art und Weise die GRV-Anwartschaften konkret aufgewertet werden sollen. Durch die Ausgestaltung der konkreten Zugangsvoraussetzungen kann der Kreis der potenziell Begünstigten enger oder weiter gefasst werden. Grund­ sätzlich ist in den meisten Konzepten entweder eine Bedürftigkeitsprüfung oder zumindest eine Einkommensprüfung vorgesehen; die Konzepte unter­ scheiden sich im Wesentlichen darin, welche individuellen Vorleistungen zu erbringen sind. Hier geht es insbesondere um die Anzahl der geforderten Versicherungs- bzw. Beitragsjahre und die Frage, ob und in welchem Aus­ maß neben den regulären Pflichtbeitragszeiten auch weitere rentenrechtliche Zeiten berücksichtigt werden sollen (z. B. Zeiten der Arbeitslosigkeit, Kin­ dererziehung, Krankheit / Erwerbsminderung etc.). Darüber hinaus können aber auch weitere Vorleistungen gefordert werden, beispielsweise die Betei­ ligung an betrieblichen oder privaten Vorsorgesystemen. Das Verfahren der Aufwertung kann entweder in Form einer Aufstockung der bestehenden Anwartschaften auf eine pauschale Mindestleistung oder auch in Form einer prozentualen Höherwertung der erworbenen persönli­ chen Entgeltpunkte erfolgen. Die Aufstockungsvariante folgt im Prinzip der bedarfsbezogenen Logik der Mindestsicherungssysteme: Die Lücke zwi­ schen dem vorab festgelegten, in der Regel existenzsichernd bemessenen Mindestbetrag und dem eigenen Einkommen wird durch Aufstockungsleis­ tungen geschlossen; je geringer das eigene Einkommen ist, desto größer ist die Lücke und desto höher fällt die Aufstockungsleistung aus. Im Ergebnis wird eine starke Nivellierung der Altersrenten im unteren Einkommensbe­ reich vorgenommen. Ein prominentes Beispiel für eine solche Strategie ist das von Richard Hauser entwickelte „30-30-Modell“ (Hauser 2009a, 2013), das man auch als „Rente nach Mindestversicherungszeiten“ bezeichnen könnte. Vereinfacht gesagt, sollen niedrige GRV-Anwartschaften in diesem Modell aus Steuer­



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mitteln auf einen pauschalen Wert von 30 Entgeltpunkten aufgestockt wer­ den, wenn die Betroffenen 30 Jahre mit rentenrechtlichen Zeiten vorweisen können und ihre Altersrente auch unter Hinzurechnung anderer eigener Rentenanwartschaften unter einem Gesamtwert bleibt, der 30 Entgeltpunk­ ten entspricht. Hierbei sollen neben Pflichtbeitragszeiten, Zurechnungszeiten bei Erwerbsminderung, Kindererziehungs- und Pflegezeiten, Anrechnungsund Ersatzzeiten auch Zeiten des Bezugs von ALG II berücksichtigt werden, nicht jedoch Zeiten einer geringfügigen Beschäftigung (Hauser 2013: 436). Langjährige GRV-Versicherte mit niedrigen Beitragsleistungen erhalten so­ mit eine GRV-Rente, die leicht über dem Niveau der Grundsicherung liegt. Andere Einkommen der Versicherten, wie beispielsweise Riester-Renten, Betriebsrenten, Leistungen der Zusatzversorgung im Öffentlichen Dienst oder Miet- und Zinseinnahmen sollen anrechnungsfrei bleiben, so dass das individuelle Gesamteinkommen im Einzelfall deutlich über dem Grundsi­ cherungsniveau liegen kann. Die Höherwertungsvariante ist hingegen stärker vorleistungsbezogen: Nach dem Prinzip „Wer hat, dem wird gegeben“ werden die bereits erwor­ benen persönlichen Entgeltpunkte mit einem bestimmten Faktor (z. B. dem Faktor 1,5 oder dem Faktor 2) multipliziert. Auf diese Weise wird kein einheitlicher Mindestbetrag garantiert; die bestehenden Differenzierungen werden vielmehr auf einem erhöhten Niveau beibehalten. Die Höherwertung wird allerdings in der Regel auf einen maximalen Entgeltpunktwert pro Jahr (z. B. max. 0,75 Entgeltpunkte) und / oder auf eine bestimmte Gesamtsumme von Entgeltpunkten (z. B. auf 30 oder 31 Entgeltpunkte) begrenzt. Eine naheliegende Option der nachträglichen Aufwertung niedriger Anwartschaf­ ten ist die (gegebenenfalls modifizierte) Verlängerung der bestehenden, bislang auf Beitragszeiten vor 1992 begrenzten Regelungen der „Rente nach Mindestentgeltpunkten“ nach § 262 SGB VI, nach denen niedrige Entgelt­ punkte mit dem Faktor 1,5 multipliziert und dadurch bis auf maximal 0,75 Entgeltpunkte pro Jahr erhöht werden, wenn mindestens 35  Jahre mit ren­ tenrechtlichen Zeiten vorliegen. Eine Verlängerung bzw. Ausweitung dieser Regelungen auf Beitragszeiten nach 1992 wurde unter anderem 2008 vom nordrhein-westfälischen Sozialministerium unter der Leitung von Karl-Josef Laumann (CDU) befürwortet (MAGS NRW 2008); sie wurde 2010 auch von SPD (BT-Dr.17 / 1747) und von der Linkspartei (BT-Drs. 17 / 1735) ge­ fordert und gehört seit Jahren zum Forderungskatalog der Gewerkschaften. Das Grundanliegen, langjährig in der GRV versicherten Geringverdienern vermittels eines an bestimmte Bedingungen geknüpften aufstockenden Zu­ schusses einen Rentenanspruch knapp über der Höhe des Grundsicherungs­ niveaus zu gewährleisten, bildet den konzeptionellen Kern der verschiedenen Varianten des Konzepts der „Zuschussrente“, die das BMAS seit 2011 vorgelegt hat [vgl. hierzu ausführlich Kap. VII.2.b]. Das Grundkonzept

362 VII. „Altersarmut“ als Gegenstand der aktuellen Alterssicherungspolitik

e­rscheint im politischen Raum derzeit sehr konsensfähig: Sowohl die CDU / CSU („Lebensleistungsrente“), die SPD („Solidarrente“) als auch Bündnis 90 / Die Grünen („Garantierente“) haben in ihren Wahlprogrammen zur Bundestagswahl 2013 die Einführung einer solchen an die Erfüllung einer bestimmten Wartezeit geknüpften Aufstockungsleistung vorgesehen.33 Die verschiedenen konkreten Modelle unterscheiden sich in erster Linie hinsichtlich der vorgesehenen Anspruchsvoraussetzungen: Während das Konzept der SPD 40 Versicherungsjahre (davon 30 Beitragsjahre) in der GRV zur Voraussetzung macht (SPD 2013: 80), wird im Unionskonzept zusätzlich dazu auch die kontinuierliche Beteiligung an privater Vorsorge gefordert (CDU / CSU 2013: 46). Deutlich niedrigere Zugangshürden sieht das Konzept der „Garantierente“ von Bündnis 90 / Die Grünen vor (Bündnis 90 / Die Grünen 2013: 133–137): Hier werden, analog zum 30-30-Modell von Hauser, lediglich 30 Versicherungsjahre in der GRV gefordert, zu denen neben „vollwertigen“ Beitragszeiten auch Anrechnungszeiten wegen Ar­ beitslosigkeit, Zurechnungszeiten wegen Erwerbsminderung sowie Berück­ sichtigungszeiten wegen Pflege und Kindererziehung bis zum 10. Lebens­ jahr des Kindes gehören sollen (letztere zumindest bis 2013, dem Jahr der Einführung eines Rechtsanspruchs auf U3-Betreuung). Betriebliche und private Vorsorge sind nicht Teil der Zugangsvoraussetzungen. Alle drei Konzepte sehen eine Aufstockung auf einen Pauschalbetrag von 850 Euro / Monat (brutto) vor. In dem Konzept von Bündnis 90 / Die Grünen sollen Ansprüche aus betrieblicher und privater Vorsorge zumindest teilweise an­ rechnungsfrei bleiben (Bündnis 90 / Die Grünen 2013: 134); auch das CDU / CSU-Konzept sieht Freibeträge für Einkünfte aus betrieblicher und private Vorsorge vor (CDU / CSU 2013: 46). Im SPD-Wahlprogramm finden sich hierzu keine konkreten Angaben. Eine Alternative zu der nachträglichen Aufwertung niedriger GRV-Renten, die von einigen Akteuren bevorzugt wird, ist die Einführung von Freibetragsregelungen in der Grundsicherung im Alter. Ausgangspunkt dieser Modelle ist in der Regel das Problem der negativen Vorsorgeanreize: Auf­ grund der vollständigen Anrechnung der Rente und anderer Alterseinkünfte auf die Leistungsansprüche der Grundsicherung, so die Annahme, könnten insbesondere Niedrigverdiener dazu tendieren, auf den Aufbau einer priva­ ten Vorsorge zu verzichten und auch die Beitragspflicht der GRV nach Möglichkeit zu umgehen, da sie davon ausgehen müssten, dass sich (zusätz­ 33  Das Konzept der Linkspartei weicht von den Konzepten der anderen aktuell im deutschen Bundestag vertretenen Parteien deutlich ab; die „Solidarische Min­ destrente“, die 1050 Euro netto betragen soll (Die Linke 2013: 19), ist als univer­ selles, bedingungsloses Grundeinkommen im Alter angelegt (vgl. den entsprechen­ den Antrag vom 16.10.2012, BT-Drs. 17/10998).



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liche) Altersvorsorge für sie ohnehin nicht lohnt (Cischinsky / Kirchner 2011, Buhl / Loose 2013). Die Befürworter argumentieren, dass Freibetragsmodelle in der Grundsicherung Aufstockungsmodellen in der GRV überlegen sind. Erstens lohnt sich im Rahmen der Freibetragsmodelle Altersvorsorge in je­ dem Fall, da sie anders als in den Aufstockungsmodellen nicht an zusätzli­ che versicherungsrechtliche Voraussetzungen geknüpft ist; insofern ist hier eine stärkere Anreizwirkung zu vermuten. Zweitens wird immer wieder auch grundsätzlich argumentiert, dass eine Vermischung von Versicherung und Fürsorge in der GRV vermieden werden und „die nachsorgende Be­ kämpfung von Altersarmut […] nicht in die gesetzliche RV verlagert wer­ den, sondern systemgerecht bei der Grundsicherung verbleiben“ sollte (Buhl / Loose 2013: 277). Im Hinblick auf ihre konkrete Ausgestaltung unterscheiden sich die ver­ schiedenen vorgeschlagenen Freibetragsmodelle zum einen hinsichtlich der einzubeziehenden Einkommensarten und zum anderen hinsichtlich der Höhe und der Modalitäten der Freibeträge. Die einzubeziehenden Einkommensar­ ten können auf die betriebliche und (geförderte) private Altersvorsorge be­ schränkt sein, wie es beispielsweise eine Gruppe junger Abgeordneter aus CDU / CSU und FDP in einem gemeinsamen Positionspapier vorgeschlagen hat (Bernschneider et al. 2012), oder auch Leistungen der GRV umfassen, wie es unter anderem der Sozialverband Deutschland (SoVD) und die Ge­ werkschaft Ver.di in einem gemeinsamen Positionspapier vorgeschlagen haben (ver.di 2012). Die Freibeträge selbst können pauschal ausgestaltet, prozentual gestaffelt und / oder auf einen bestimmten Höchstbetrag gedeckelt sein.34 Der SoVD und Ver.di plädieren beispielsweise für eine Regelung, nach der Leistungen aus Alterssicherungssystemen (analog zu der bestehen­ den Regelung im SGB II) bis zu einer Höhe von 100 EUR vollständig von der Anrechnung auf die Grundsicherung freigestellt werden; über diesen Betrag hinausgehende Leistungen bis 200 EUR sollen zu 50 % und darüber hinausgehende Leistungen bis 300 EUR noch zu 25 % freigestellt werden, so dass ein maximaler Freibetrag von 175 Euro möglich ist (ver.di 2012). Grundsätzlich sollen die Mehrkosten, die mit der Einführung von Freibeträ­ gen verbunden sind, voll aus Steuermitteln finanziert werden. Freibetragsmodelle in der Grundsicherung zielen nicht zuletzt darauf ab, die GRV von zusätzlichen Umverteilungsaufgaben frei zu halten. Der „Preis“ für den Schutz des Äquivalenzprinzips in der GRV liegt allerdings in einer Relativierung bzw. Durchbrechung des Nachrangigkeitsprinzips der Sozialhilfe, nach dem derjenige keine Leistungen erhalten soll, „der sich vor allem durch Einsatz seiner Arbeitskraft, seines Einkommens und seines 34  Zur Diskussion verschiedener Varianten von Freibetragsregelungen in der Grundsicherung siehe Cischinsky/Kirchner 2011: 852–854.

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Vermögens selbst helfen kann oder wer die erforderliche Leistung von an­ deren, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleis­ tungen, erhält“ (§ 2 Abs. 1 SGB XII). Insofern lässt sich grundsätzliche Einwand erheben, dass die Grundsicherung durch umfangreiche Freibetrags­ regelungen „ihren subsidiären Charakter verlöre“ (Eichenhofer 2008: 380). Zudem ist Folgendes zu beachten: Je „großzügiger“ die Freibetragsregelun­ gen in der Grundsicherung im Alter ausgestaltet werden, desto mehr Perso­ nen haben im Ergebnis Anspruch auf Grundsicherungsleistungen; die Grundsicherung im Alter würde auf diese Weise gewissermaßen von einem „letzten Sicherungsnetz“ zu einem zweiten Regelsystem der Alterssicherung aufgewertet. Je nach konkreter Ausgestaltung der Freibetragsregelungen könnte es gerade auch im Rahmen einer Freibetragsregelung zu problema­ tischen Anreizwirkungen kommen, wenn die Individuen ihre Vorsorgean­ strengungen strategisch so „dosieren“, dass sie mit möglichst geringem Einsatz die maximale Summe aus Grundsicherungsleistung und Freibetrag erzielen. Neben diesen eher systemmodifizierenden Ansätzen existiert in der ren­ tenpolitischen Diskussion eine Vielzahl von systemtransformierenden kom­ pensatorisch ausgerichteten Konzepten, die in der einen oder anderen Form die Einführung einer pauschalen, vorleistungs- und bedürftigkeitsunabhängi­ gen Grund- bzw. Sockelrente vorsehen. Hierbei ist grundsätzlich zwischen Konzepten zu unterscheiden, die das bestehende Alterssicherungssystem in modifizierter Form beibehalten und lediglich durch einen universalistischen Sockel ergänzen wollen, und Modellen, die das bestehende System vollstän­ dig ersetzen wollen. Während Reformvorschläge wie das Modell eines universellen Alterssicherungssystems mit Mindestrente (Meinhardt et al. 2002, Meinhardt / Grabka 2009) und (mit Abstrichen) auch das Sockelrentenmodell der katholischen Verbände (vgl. Werding et al. 2007) eine erhebliche Ausweitung des staatlichen Verantwortungsbereiches und der interpersonel­ len Solidarität vorsehen, zielen Modelle wie das von Meinhard Miegel seit mittlerweile drei Jahrzehnten propagierte Modell einer „solidarischen“ Grundrente auf eine weitgehende Privatisierung der Alterssicherung ab (Miegel / Wahl 1999). Während im linken politischen Spektrum wachsende Sympathien für er­ gänzende Grundsicherungsmodelle nach dem Vorbild der Schweizer AHV oder der Schwedischen Garantierente zu verzeichnen sind (StrengmannKuhn 2005, Kipping 2008) und über eine stärkere Annäherung des deut­ schen Bismarck-Systems an bestehende Beveridge-Modelle nachgedacht wird (Meyer 2013, Blank / Schulze Buschoff 2013), sympathisieren insbe­ sondere jüngere Unionsabgeordnete mehr oder weniger offen mit einem Komplettausstieg aus der umlagefinanzierten GRV im Sinne des Miegel / Biedenkopf-Modells. Nach wie vor sind die politischen Durchsetzungs­



1. Optionen der Altersarmutsvermeidung

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chancen von Konzepten, die in der einen oder anderen Form die Gewährung einer bedingungslosen Grundleistung vorsehen, im Kontext der deutschen Alterssicherungspolitik allerdings eher als gering einzuschätzen. c) Finanzierung Wie bereits dargestellt setzt die Mehrheit der bestehenden Reformvor­ schläge zur Begrenzung von Altersarmut in der einen oder anderen Form an der GRV an. Bei rentenversicherungsinternen Veränderungen ist es von er­ heblicher Relevanz, ob die (in der Regel mit Leistungsverbesserungen und daher auch mit Mehrausgaben verbundenen) Vorschläge und Maßnahmen in erster Linie aus Steuermitteln oder aus Beitragsmitteln finanziert werden sollen, wobei hier auch Mischungsverhältnisse möglich sind. Die Finanzie­ rungsfrage ist immer auch eine ordnungspolitische und nicht zuletzt auch eine verteilungspolitische Frage. Eine reine Beitragsfinanzierung der mit der Reduzierung des Armutsbzw. Grundsicherungsbedürftigkeitsrisikos verbundenen Mehrausgaben be­ deutet, dass im Ergebnis eine Umverteilung zwischen verschiedenen Perso­ nen bzw. Gruppen innerhalb der Versichertengemeinschaft der GRV stattfin­ det, während nicht GRV-Versicherte an diesem Umverteilungsprozess nicht beteiligt werden. Insbesondere die Rentenversicherungsträger und der Sozi­ albeirat haben daher stets darauf hingewiesen, dass Maßnahmen des sozial­ politischen Ausgleichs, d. h. nicht beitragsgedeckte bzw. „versicherungs­ fremde“ Maßnahmen, grundsätzlich aus Steuermitteln zu finanzieren sind, da sie eine Aufgabe der Allgemeinheit und nicht eine Aufgabe der Versi­ chertengemeinschaft der GRV darstellen. Beitragssatzerhöhungen bzw. un­ terbliebene Beitragssatzsenkungen aufgrund von Leistungsverbesserungen belasten zunächst einmal offensichtlich die Gruppe der Beitragszahler. Mit dem „Nachhaltigkeitsfaktor“ ist allerdings ein systeminterner Rückkopp­ lungsmechanismus in die Rentenanpassungsformel eingebaut worden, der zusätzliche finanzielle Belastungen zwischen den Beitragszahler / -innen und den Rentner / -innen „austariert“. Jede sozialpolitisch motivierte Verbesse­ rung für bestimmte Rentnergruppen, die aus Beitragsmitteln finanziert wird, führt zeitversetzt zu zusätzlichen Dämpfungen der Rentenanpassung und belastet somit nicht nur die aktuellen Beitragszahler / -innen, sondern auch die Bestandsrentner / -innen. Auch die Alternative einer Finanzierung aus Haushaltsmitteln hat vertei­ lungspolitische Implikationen: Je nachdem, ob (und wenn ja: welche) Steu­ ern zur Gegenfinanzierung erhöht werden (direkte vs. indirekte Steuern), können die Verteilungswirkungen unterschiedlich sein. Möglich sind auch Umschichtungen innerhalb des Bundeshaushaltes zulasten anderer Bereiche; einer stärkeren Schuldenfinanzierung sind hingegen enge rechtliche Grenzen

366 VII. „Altersarmut“ als Gegenstand der aktuellen Alterssicherungspolitik

gesetzt. Grundsätzlich stehen Maßnahmen zur Leistungsverbesserung immer in Konflikt mit den politisch festgesetzten und zum Teil auch gesetzlich verankerten Kostendämpfungszielen. Die maßgeblichen Beitragssatz- und Verschuldungs­obergrenzen beruhen auf einer rein politischen Setzung, für die es keine unmittelbare „technische“ Begründung gibt. Insofern sind die Reformvorschläge gerade auch unter dem Finanzierungsaspekt immer auch daraufhin zu befragen, inwiefern sie den 2001 vorgenommenen Paradigmen­ wechsel in der Alterssicherungspolitik implizit oder explizit akzeptieren oder ob sie ihn offen in Frage stellen. d) Zwischenfazit Um einen Anstieg der Altersarmut bzw. der Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter zu vermeiden, sind grundsätzlich sowohl präventive Korrekturen der armutsverursachenden Verhältnisse (und möglicherweise auch der das Armutsrisiko befördernden Verhaltensweisen) als auch nachsorgende Kor­ rekturen der bereits entstandenen Verteilungsergebnisse denkbar (Loose 2008). Obwohl sich zumindest im wissenschaftlichen Diskurs der letzten Jahre ein wachsender Konsens feststellen lässt, „dass es besser ist, die Ent­ stehung von Altersarmut zu vermeiden als Altersarmut im Nachhinein durch Transferzahlungen zu kompensieren“ (Buhl / Loose 2013: 274), stehen in der aktuellen politischen Altersarmutsdebatte eher kompensatorische Konzepte im Mittelpunkt. Diese Schwerpunktsetzung auf eine kurz- und mittelfristig wirksame, nachsorgende Politik ist insofern verständlich, als dass es hier auch und gerade darum geht, Altersarmut bereits bei den zahlenmäßig star­ ken Babyboomer-Kohorten, die ab 2020 in Rente gehen, zu begrenzen. Des Weiteren kann die in diesem Kontext erhobene Forderung, dass Geringver­ diener / -innen, die langjährig Pflichtbeiträge in die GRV eingezahlt haben, einen Rentenanspruch zumindest in Höhe der Sozialhilfe haben sollten, eine unmittelbare Eingängigkeit für sich in Anspruch nehmen. Vor dem Hintergrund der mittlerweile schon seit einigen Jahren anhalten­ den und durchaus intensiven Debatte um das Thema „Altersarmut“ stellt sich die Frage, ob und inwiefern sich die Alterssicherungspolitik der letzten Jahre tatsächlich an dem Ziel der Vermeidung von Altersarmut orientiert bzw. orientiert hat und inwiefern die bislang unternommenen gesetzgeberi­ schen Maßnahmen und die aktuell geplanten Initiativen dazu geeignet sind, zu diesem Ziel substanziell beizutragen. Dieser Frage wird in den folgenden Abschnitten nachgegangen.



2. Armutsvermeidung durch „Anerkennung von Lebensleistung“? –367

2. Armutsvermeidung durch „Anerkennung von Lebensleistung“? – Anmerkungen zur aktuellen Alterssicherungspolitik a) „Kampf gegen Altersarmut“: Ziele und Restriktionen Wie bereits ausführlich dargestellt, ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass die Kombination aus veränderten (Erwerbs-)Biografien und leistungs­ kürzenden Reformen des Alterssicherungssystems mittel- und langfristig zu einem deutlichen Anstieg unzureichender Alterseinkommen führen wird. Die Perspektive, dass nicht zuletzt aufgrund der politisch beschlossenen Absenkung des Rentenniveaus ein wachsender Anteil der GRV-Versicherten in der Zukunft nicht in der Lage sein wird, im Laufe ihres Erwerbslebens durch eigene Beitragsleistungen Rentenanwartschaften in existenzsichernder Höhe zu erwerben, ist für die Politik in mehrerlei Hinsicht problematisch. Erstens ist ein deutlicher Anstieg der Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter sozialpolitisch grundsätzlich negativ zu bewerten. Nach wie vor gilt die Vermeidung von Altersarmut in Deutschland und in Europa als eine zentrale Aufgabe staatlicher Sozial- und Alterssicherungspolitik; gemäß den im Rahmen der „Offenen Methode der Koordinierung“ der Europäischen Union formulierten Zielkriterien im Bereich des Sozialschutzes sollen öf­ fentliche Alterssicherungssysteme „sicherstellen, dass ältere Menschen nicht von Armut bedroht sind und in den Genuss eines angemessenen Lebensstan­ dards gelangen, am wirtschaftlichen Wohlstand ihres Landes teilhaben und dementsprechend aktiv am öffentlichen, sozialen und kulturellen Leben teilnehmen können“ (Rat der europäischen Union 2001: 6). Altersarmut bzw. Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter gilt als gesellschaftlich beson­ ders problematisch, weil es sich in der Regel nicht um einen biografischen Übergangs-, sondern vielmehr um einen „Endzustand“ handelt, den die Betroffenen aus eigener Kraft kaum überwinden können; es dürfte daher zu Recht als sozialer und gesellschaftlicher Rückschritt gesehen werden, wenn das bereits überwunden geglaubte Problem der Altersarmut wieder in grö­ ßerem Maße auftreten würde. Zweitens ist es für die Akzeptanz eines öffentlichen, auf Zwangsmitglied­ schaft und Beitragspflicht beruhenden Rentensystems unverzichtbar, dass die Versicherten davon ausgehen können, für ihre individuelle Beitragszah­ lung im Alter eine angemessene Gegenleistung zu erhalten. Das Leistungs­ niveau der GRV kann daher nicht beliebig abgesenkt werden; die GRV bekommt spätestens dann ein Legitimations- und Akzeptanzproblemproblem, wenn selbst langjährige Beitragszahler im Alter nur noch eine gesetzliche Rente erhalten, die sich nicht mehr wesentlich von dem Niveau der bedarfs­ geprüften Grundsicherung im Alter unterscheidet oder es sogar unterschrei­ tet. Wenn eine jahre- und jahrzehntelange Beitragsleistung und der damit

368 VII. „Altersarmut“ als Gegenstand der aktuellen Alterssicherungspolitik

verbundene erhebliche Konsumverzicht nur zu einem Sicherungsniveau führt, dass auch vollkommen ohne eigene Beitragsleistungen durch die „vorleistungsfreie“ Grundsicherung erzielt werden kann, verliert der Ren­ tenbeitrag seinen „Preischarakter“ und wird in der Wahrnehmung der Versi­ cherten zu einer Steuer ohne individuellen Gegenwert; das System würde auf diese Weise früher oder später seine Existenzberechtigung verlieren (Schmähl 1996). Mit dem drohenden Akzeptanzproblem ist drittens auch eine Fehlanreizproblematik hinsichtlich der Beteiligung an betrieblicher und privater Al­ tersvorsorge verbunden. Da im Rahmen der Prüfung und Festsetzung des Nettobedarfs in der Grundsicherung im Alter im Sinne des Nachrangprinzips grundsätzlich alle Einkommen leistungsmindernd angerechnet werden, loh­ nen sich zusätzliche Vorsorgeanstrengungen für Personen, die realistischer­ weise davon ausgehen müssen, im Alter auf Grundsicherungsleistungen angewiesen zu sein, streng genommen nicht, da sie das individuelle Alters­ einkommen im Ergebnis nicht erhöhen. Für die Betroffenen ist es daher trotz der staatlichen Förderung durchaus rational, auf zusätzliche Vorsorge vollständig zu verzichten (SVR 2007: Ziffer 283). Hier besteht die Gefahr einer dysfunktionalen Eigendynamik: Je mehr Personen aus dem Gefühl heraus, eine existenzsichernde Alterssicherung aus eigener Kraft nicht errei­ chen zu können, vorzeitig resignieren und ihre individuellen Vorsorgebemü­ hungen einstellen, desto stärker steigt auch das tatsächliche Bedürftigkeits­ risiko; vorhandene Unsicherheiten über die individuelle Versorgung im Alter können auf diese Weise zu einer „self-fulfilling prophecy“ werden (Loose / Thiede 2006: 479). Für eine Politik, die auf diese Herausforderungen reagieren will, ergeben sich daher mehrere Ziele: Ein Ziel besteht darin, das Ausmaß der Grundsi­ cherungsbedürftigkeit möglichst flächendeckend zu begrenzen (Armutsvermeidungsmotiv); ein weiteres Ziel besteht darin, die Legitimation und die Akzeptanz der GRV sicherzustellen (Akzeptanzmotiv), und ein drittes Ziel besteht in der Verbesserung der Anreize für private Vorsorge für benachtei­ ligte Personengruppen (Anreizmotiv). Diese Ziele sind allerdings keinesfalls deckungsgleich; je nach Prioritätensetzung können sich zwischen den Zielen in der Praxis sogar Spannungsverhältnisse ergeben. Wenn es beispielsweise in erster Linie darum gehen soll, die Akzeptanz der GRV zu verbessern, könnte es genügen, gezielte Leistungsverbesserungen für langjährig GRVVersicherte einzuführen; im Hinblick auf das Ziel der flächendeckenden Vermeidung von Grundsicherungsbedürftigkeit wäre eine solche Konzentra­ tion auf langjährig GRV-Versicherte hingegen nicht nur unzureichend, son­ dern möglicherweise sogar kontraproduktiv. Einer konsequenten Politik zur Begrenzung von Altersarmut bzw. von Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter steht jedoch entgegen, dass sich der



2. Armutsvermeidung durch „Anerkennung von Lebensleistung“? –369

„Mainstream“ der deutschen Alterssicherungspolitik weiterhin innerhalb des neuen Drei-Säulen-Paradigmas bewegt; die übergeordneten Ziele der Bei­ tragssatzbegrenzung, der qualitativen und quantitativen Haushaltskonsolidie­ rung und der Verlängerung der Lebensarbeitszeit, die die seit Mitte der 1990er Jahre durchgeführten Reformen entscheidend geprägt haben, bleiben grundsätzlich weiter dominant. Angesichts des enormen argumentativen Aufwands, mit dem der Paradigmenwechsel in der deutschen Alterssiche­ rungspolitik durchgesetzt worden ist (Brettschneider 2009, 2012b), erscheint es auch eher unwahrscheinlich, dass die gesetzlich verankerten Beitragssatz­ ziele und der übergeordnete haushaltspolitische Rahmen, in dem sich die deutsche Alterssicherungspolitik bewegt (Europäischer Stabilitäts- und Wachstumspakt, „Schuldenbremse“ etc.) in den nächsten Jahren grundsätz­ lich revidiert werden. Durch den 2012 unterzeichneten „Fiskalpakt“, das „Europäische Semester“ und weitere Entwicklungen auf europäischer Ebene sind die haushaltspolitischen Restriktionen der nationalen Alterssicherungs­ politik in jüngster Zeit sogar noch erheblich verschärft worden (Rische 2013). Angesichts dieser übergeordneten wirtschafts- und finanzpolitischen Prioritäten und Prämissen ist der Rahmen, in dem sich eine Politik zur Vermeidung von Altersarmut bzw. Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter bewegen kann, von vorneherein sehr eng gezogen: An der allgemeinen Rentenniveausenkung und an der „Rente mit 67“ soll grundsätzlich festge­ halten werden, substanzielle Erhöhungen des Beitragssatzes sind durch die gesetzlich festgelegten Beitragssatzobergrenzen weitgehend ausgeschlossen, und auch der politische Spielraum für eine Erhöhung der Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt scheint eher begrenzt. Nichtsdestotrotz gehört der „Kampf gegen Altersarmut“ seit 2009 zu den offiziellen alterssicherungspolitischen Zielen der Bundesregierung (CDU /  CSU / FDP 2009: 84). Die folgenden Abschnitte konzentrieren sich auf zwei Gesetzesinitiativen, die in der deutschen Alterssicherungspolitik seit 2009 in diesem Zusammenhang zentral gewesen sind: Die sogenannte „Zuschussren­ te“ bzw. „Solidarische Lebensleistungsrente“, die bereits in der vergangenen Legislaturperiode intensiv diskutiert wurde und deren Einführung in der aktuellen Legislaturperiode zumindest im Koalitionsvertrag zwischen ­ CDU / CSU und SPD vom Oktober 2013 angekündigt ist, und das RV-Leistungsverbesserungsgesetz, das im Frühjahr 2014 verabschiedet worden ist. b) Von der „Zuschussrente“ zur „Solidarischen Lebensleistungsrente“ Der Schwerpunkt der anvisierten Strategie sowohl der schwarz- gelben Bundesregierung in der 17. Legislaturperiode (2009–2013) als auch der schwarz- roten Bundesregierung in der aktuellen, 18. Legislaturperiode (2013–2017) liegt auf der nachträglichen, an bestimmte Bedingungen und

370 VII. „Altersarmut“ als Gegenstand der aktuellen Alterssicherungspolitik

Voraussetzungen geknüpften Anhebung niedriger Altersrenten von langjäh­ rig Versicherten in der GRV. Das hierfür entwickelte Konzept der „Zu­ schussrente“ bzw. der „Solidarischen Lebensleistungsrente“ hat eine längere Vorgeschichte (vgl. Brettschneider 2012a). Der Vorschlag basiert ursprüng­ lich auf einer Empfehlung der von der CDU im Jahr 2003 als Pendant zur „Rürup-Kommission“ der Bundesregierung einberufenen „Herzog-Kommis­ sion“ (Herzog-Kommission 2003: 43) und findet sich auch in dem Partei­ tagsbeschluss „Deutschland fair ändern“, der im Dezember 2003 auf dem Leipziger „Reformparteitag“ der CDU verabschiedet worden ist (CDU 2003: 42). Das seinerzeit formulierte Sicherungsziel lautete, „dass langjäh­ rig Versicherte, die immer vollzeitig beschäftigt waren, eine Rente mindes­ tens 15 Prozent oberhalb der jeweils gültigen Sozialhilfe erhalten“ (ebd.); hierbei sollten Kindererziehungs- und Pflegezeiten berücksichtigt werden. Die Leistung sollte bedarfsabhängig und steuerfinanziert sein. Im Hinter­ grund stand seinerzeit in erster Linie das Akzeptanzmotiv: „Die Akzeptanz unseres Rentensystems ist auf Dauer gefährdet, wenn Versicherte trotz sehr langer Beitragszeiten lediglich Renten erhalten, die in der Höhe sehr nahe bei der Grundsicherung aus der Sozialhilfe oder gar darunter liegen.“ (CDU 2003: 42)

Nachdem das seinerzeit beschlossene Konzept zwischenzeitlich stark in den Hintergrund getreten war, hat es vor dem Hintergrund der seit 2008 mit steigender Intensität geführten Altersarmutsdebatte jedoch Eingang in das Wahlprogramm der Unionsparteien für die Bundestagswahl 2009 gefunden; hier wird das Ziel formuliert, „dass die Bürgerinnen und Bürger, die ein Leben lang Vollzeit beschäftigt waren, eine Rente oberhalb des Existenzmi­ nimums erhalten“ (CDU / CSU 2009: 32). Bei der Begründung steht hier das Armutsvermeidungsmotiv im Vordergrund: „Wir verschließen die Augen nicht davor, dass durch veränderte wirtschaftliche und demografische Strukturen in Zukunft die Gefahr einer ansteigenden Altersar­ mut besteht. Wir werden diese Gefahr eindämmen […].“ (ebd.)

Das Ziel der an bestimmte Bedingungen geknüpften Gewährleistung eines bedarfsabhängigen und steuerfinanzierten Alterseinkommens ist in modifi­ zierter Form auch in den Koalitionsvertrag für die 17. Legislaturperiode zwi­ schen CDU / CDU und FDP vom Oktober 2009 eingegangen. Die entspre­ chende Passage im Koalitionsvertrag steht zwar unter der Überschrift „Kampf gegen Altersarmut“; zugleich wird hier allerdings eine neue Zielsetzung ein­ geführt, von der bis dahin zumindest in den Veröffentlichungen der Unions­ parteien keine Rede gewesen war, nämlich die Zielsetzung, „dass sich private und betriebliche Altersvorsorge auch für Geringverdiener lohnt“ (CDU / CSU / FDP 2009: 84). Mit der stärkeren Betonung des Anreizmotivs ist eine Verschärfung der Zugangsbedingungen und damit auch eine Einengung des Adressatenkreises der geplanten Leistung verbunden: Die geplante Rege­



2. Armutsvermeidung durch „Anerkennung von Lebensleistung“? –371

lung soll sich ausschließlich an GRV-Versicherte richten, die „ein Leben lang Vollzeit gearbeitet und vorgesorgt haben“ (ebd.; Hervorhebung der Autoren). Bereits die Vorgeschichte der „Zuschussrente“ macht somit deutlich, dass mit Konzepten einer nachträglichen Anhebung niedriger Rentenanwartschaf­ ten verschiedene Intentionen verbunden sein können; das Armutsvermei­ dungsmotiv ist nur eines von mehreren möglichen Zielkriterien. Zwischen dem Ziel der Armutsvermeidung, dem Ziel der Akzeptanzsicherung und dem Ziel der Verbesserung der Vorsorgeanreize sind dabei verschiedene Gewichtungsverhältnisse möglich; die jeweils vorgenommene Prioritätenset­ zung kann sich in der konkreten Ausgestaltung der Leistung und ihrer Zu­ gangsvoraussetzungen niederschlagen. aa) „Rentendialog“ und „Zuschussrente“ Das Konzept der „Zuschussrente“ ist erstmals im September 2011 im Rahmen des von der Bundesregierung initiierten „Regierungsdialogs Rente“ präsentiert und seitdem intensiv und kontrovers diskutiert, im Zeitverlauf mehrfach überarbeitet und umbenannt, aber bis heute nicht im Bundestag zur Abstimmung vorgelegt worden. Es lassen sich mittlerweile (mindestens) vier verschiedene Versionen des Konzepts unterscheiden: − die allererste Version der „Zuschussrente“, die im September 2011 am Anfang des „Regierungsdialogs Rente“ stand (BMAS 2011); − die zweite Version der „Zuschussrente“ vom März 2012, die im Referen­ tenentwurf zum „Lebensleistungsanerkennungsgesetz“ konkretisiert ist (BMAS 2012a); − die dritte Version (August 2012), die im Referentenentwurf zum „Alterssicherungsstärkungsgesetz“ enthalten ist (BMAS 2012c); und schließlich − die vierte Version, wie sie im Koalitionsvertrag zwischen CDU / CSU und SPD vom November 2013 unter der Bezeichnung „solidarische Lebens­ leistungsrente“ (CDU / CDU / SPD 2013: 52) angekündigt ist.35 Sowohl die Ausgestaltung der Zugangsvoraussetzungen als auch das an­ gestrebte Sicherungsniveau der Leistung und die Ausgestaltung der Aufwer­ tungsmechanismen sind im Zeitverlauf mehrfach modifiziert worden. Kern­ element der im September 2011 vorgestellten ursprünglichen Fassung des 35  Darüber hinaus sind in den verschiedenen im Verlauf der 17. Legislaturperiode vom BMAS angekündigten „Rentenpaketen“ eine Reihe weiterer Punkte enthalten gewesen (u. a. eine „Kombi-Rente“, Verbesserungen bei der Erwerbsminderung und beim Reha-Budget etc.), die zum Teil im Rahmen des RV-Leistungsverbesserungsgesetzes von 2014 verabschiedet worden sind und auf die an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden soll.

372 VII. „Altersarmut“ als Gegenstand der aktuellen Alterssicherungspolitik

Konzepts war die zum Zeitpunkt des Renteneintritts vorzunehmende, be­ darfsgeprüfte und an eine Reihe von Zugangsvoraussetzungen geknüpfte Aufstockung niedriger GRV-Renten auf ein pauschales Mindestniveau von 850 Euro (netto) im Monat (BMAS 2011). Um leistungsberechtigt zu sein, sollten die Versicherten folgende Voraussetzungen erfüllen: − mindestens 40 Versicherungsjahre in der GRV (ab 2023: 45  Jahre), − davon mindestens 30 (ab 2023: 35) Pflichtbeitragsjahre (zu denen auch Zeiten der Teilzeitbeschäftigung, der geringfügigen Beschäftigung mit Sozialversicherungs-pflicht, Zeiten der Kindererziehung bis zum 10. Le­ bensjahr und Zeiten der Angehörigenpflege voll gezählt werden sollten), − sowie eine bestimmte, im Zeitverlauf ansteigende Mindestanzahl an Jah­ ren mit zusätzlicher betrieblicher oder privater Altersvorsorge (2013–2017: 5  Jahre, danach schrittweise Erhöhung bis auf 35  Jahre im Jahr 2047). Die noch im Koalitionsvertrag formulierte Zugangsbedingung der lebens­ langen Vollzeitbeschäftigung wurde dahingehend aufgeweicht, dass aus­ drücklich auch Teilzeitarbeit berücksichtigt werden sollte (BMAS 2011: 5); zudem sollten Zeiten der Kindererziehung relativ großzügig angerechnet werden. Das BMAS ging daher offiziell davon aus, dass überwiegend – zu rund drei Vierteln – Frauen von der neuen Leistung profitieren würden; die geplanten Kosten sollten von 50 Millionen Euro im Jahr 2013 bis auf rund 2,4 Milliarden Euro im Jahr 2030 ansteigen (ebd.: 6). bb) „RV-Lebensleistungsanerkennungsgesetz“ Nach mehrmonatiger Diskussion im Rahmen des „Rentendialogs“ wurde das Konzept der „Zuschussrente“ im März 2012 in modifizierter Form als Teil des geplanten „RV-Lebensleistungsanerkennungsgesetzes“ erneut vor­ gelegt (BMAS 2012a). Gegenüber dem im September 2011 präsentierten ersten Entwurf weist die im März 2012 vorgestellte zweite Version eine Reihe von Änderungen auf; diese betreffen vor allem das Sicherungsziel und die Mechanismen der Aufwertung der Anwartschaften. Während die erste Version der „Zuschussrente“ bei Erfüllung der Zugangsvoraussetzun­ gen eine Aufstockung auf einen pauschalen Mindestbeitrag vorsah, orientiert sich der zweite Entwurf vom März 2012 stärker an dem Modell der Rente nach Mindestentgeltpunkten. Dies zeigt sich bereits in der Namensgebung: Der neu in das SGB VI einzufügende § 70a sollte, analog zu § 226 SGB VI („Mindestentgeltpunkte bei geringem Arbeitsentgelt“), den Titel „Zuschuss­ entgeltpunkte bei geringem Arbeitsentgelt“ erhalten (BMAS 2012a: 10). Die Anhebung niedriger Renten sollte somit nicht mehr mittels einer Aufsto­ ckung auf einen garantierten Einheitsbetrag, sondern vielmehr mittels einer prozentualen Höherwertung bereits erworbener Entgeltpunkte erfolgen.



2. Armutsvermeidung durch „Anerkennung von Lebensleistung“? –373

Niedrige Entgeltpunkte, die ab 1992 erworben worden sind, sollten mit dem Faktor 2 multipliziert und bis zu maximal 1,0 Entgeltpunkten pro Jahr aufgestockt werden. Hierbei war allerdings eine Gesamtobergrenze von maximal 31 Entgeltpunkten vorgesehen; diese entsprachen zu diesem Zeit­ punkt einer Bruttorente von rund 850 Euro / Monat, was 2012 einer Netto­ rente von rund 764 Euro / Monat entsprach. Die zweite Version der Zu­ schussrente sah somit ein niedrigeres Absicherungsniveau vor als die erste Version, die noch ein Niveau von 850 Euro netto anvisiert hatte. Einkünfte aus einer zusätzlichen Betriebs-, Riester- oder Rürup-Rente sollten dabei jedoch komplett anrechnungsfrei bleiben, so dass im Einzelfall auch ein Einkommen deutlich oberhalb von 764 Euro / Monat möglich sein sollte. Die tatsächliche Höhe des individuellen Alterseinkommens der „Zuschussrent­ ner / -innen“, also die Summe aus eigenständig erwirtschafteter GRV-Rente, aufstockender „Zuschussrente“ und zusätzlicher Privatvorsorge, konnte in dieser Variante allerdings (im Falle relativ niedriger eigener Entgeltpunkte und nur geringer Vorsorgeleistungen) auch deutlich unterhalb des Grund­ sicherungsniveaus liegen. Zumindest ein Teil  der Zuschussrentenbezieher /  -innen hätte daher (weiterhin) zusätzliche Leistungen der Grundsicherung im Alter beantragen müssen, da ihre Nettoalterseinkommen trotz der Auf­ stockung durch die „Zuschussrente“ weiterhin unterhalb ihres sozialhilfe­ relevanten Bruttobedarfs gelegen hätten. cc) „Alterssicherungsstärkungsgesetz“ Das Rentenpaket, dessen Teil die „Zuschussrente“ war, wurde nicht zuletzt aufgrund der koalitionsinternen Kritik noch ein weiteres Mal überarbeitet und im August 2012 erneut präsentiert (BMAS 2012b), diesmal unter dem Namen „Alterssicherungsstärkungsgesetz“. Auch hier wurde ein Referenten­ entwurf veröffentlicht (BMAS 2012c), der jedoch niemals den Status eines Gesetzentwurfs erlangt hat. Die dritte Version der „Zuschussrente“ war der vorangegangenen Version im Grundsatz sehr ähnlich. Die Aufwertung niedri­ ger Anwartschaften sollte weiterhin auf maximal einen Entgeltpunkt pro Jahr und insgesamt auf eine Bruttorente von höchstens 850 Euro / Monat begrenzt bleiben. Die Zugangsvoraussetzungen sahen für die ersten 10 Jahre (2012 bis einschließlich 2022) zunächst 40 Versicherungs- und 30 Beitragsjahre vor; ab dem Jahr 2023 sollten sich die Zugangsvoraussetzungen dann auf 45 Versi­ cherungsjahre und 35 Beitragsjahre erhöhen. Ab Rentenbeginn 2019 sollten zusätzlich mindestens fünf Jahre ergänzende private Vorsorge gefordert wer­ den, die bis 2049 auf 35 Jahre ansteigen sollten. Ein wesentlicher Unterschied zur Vorgängerversion bestand allerdings bei der Ausgestaltung der Höherwertung niedriger Entgeltpunkte. Hier sollte eine deutliche Umverteilungskomponente zugunsten von Versicherten mit

374 VII. „Altersarmut“ als Gegenstand der aktuellen Alterssicherungspolitik

Sorgetätigkeiten im Lebenslauf (in der Regel Frauen) eingebaut werden: Bei Versicherten, die mindestens ein Jahr an Kindererziehung oder Pflege auf­ weisen, sollte für alle Pflichtbeitragszeiten ab 1992 ein Höherwertungsfaktor von 2,5 zur Anwendung kommen; bei Versicherten, bei denen dies nicht gegeben war, sollte hingegen lediglich ein Faktor von 1,5 zur Anwendung kommen. Diese Differenzierung der rentenrechtlichen Höherwertung in Abhängigkeit von der Erbringung von Kindererziehungs- bzw. Pflegeleis­ tungen sollte „den Herausforderungen durch die demografische Entwicklung in besonderer Weise Rechnung“ tragen und zugleich eine besondere „ren­ tenrechtliche Würdigung der Lebensleistung von Frauen“ darstellen (BMAS 2012b: 10). Mit dieser Regelung wären drastische Verteilungswirkungen verbunden gewesen: Lediglich ein einziges Jahr an Sorgetätigkeit im Lebenslauf hätte bei Erfüllung der sonstigen Bedingungen ausgereicht, um alle Pflichtbei­ tragsjahre nach 1991 um 150 % (bis auf maximal einen Entgeltpunkt) auf­ gewertet zu bekommen. Eine Frau mit Sorgezeiten im Lebenslauf, die in einem Jahr 0,4 Entgeltpunkte durch eigene Beitragsleistung erworben hat, hätte auf diese Weise eine Aufwertung auf 1,0 Entgeltpunkte erhalten (0,4  EP × 2,5 = 1,0 EP), eine Frau oder ein Mann ohne Sorgezeiten hinge­ gen nur eine Aufwertung auf 0,6 Entgeltpunkte (0,4 EP × 1,5 = 0,6 EP). Diese Regelung wäre mit ökonomisch wie auch gleichstellungspolitisch nicht unproblematischen Anreizwirkungen im Hinblick auf das Erwerbsvo­ lumen von Frauen verbunden gewesen: Dadurch, dass bereits bei einem Verdienst in Höhe von 40 % des Durchschnittsentgelts die maximale Ent­ geltpunktzahl in der GRV erreicht worden wäre, hätte jeder darüber hinaus gehende Verdienst die individuelle Rente nicht mehr erhöht; die maximale individuelle „Beitragsrendite“ wäre somit durch eine dauerhafte („kleine“) Teilzeitbeschäftigung erzielt worden. Durch die Ausgestaltung des Höher­ wertungsfaktors hätte die „Zuschussrente“ somit in erster Linie ein Zuver­ dienermodell rentenrechtlich belohnt (Dünn / Stosberg 2013b: 149). dd) „Solidarische Lebensleistungsrente“ Die vierte und augenblicklich aktuellste Version der „Zuschussrente“ findet sich im Koalitionsvertrag zwischen CDU / CSU und SPD für die 18. Legislaturperiode vom November 2013; hier ist die Einführung einer „soli­ darischen Lebensleistungsrente“ vorgesehen (CDU / CSU / SPD 2013: 52). Gegenüber der dritten Version zeichnen sich in der vierten Version folgende Veränderungen ab: − Erstens werden die Zugangsvoraussetzungen verändert: Nunmehr sollen wieder 40 Beitragsjahre (statt wie in der dritten Version 35 bzw. für einen Übergangszeitraum 30 Jahre) notwendig sein. Hierbei sollen aber, und



2. Armutsvermeidung durch „Anerkennung von Lebensleistung“? –

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dies ist neu, bis zu 5  Jahre von Zeiten der Arbeitslosigkeit wie Beitrags­ jahre behandelt werden. Durch diese Modifikation sollen insbesondere „die Erwerbsbiografien der Menschen in den neuen Ländern berücksich­ tigt werden“ (CDU / CSU / SPD 2013: 52). − Zweitens ist für die Aufwertung niedriger Anwartschaften nunmehr ein zweistufiges Verfahren vorgesehen, nach dem in einem ersten Schritt eine einkommensgeprüfte Höherwertung niedriger Entgeltpunkte und in einem zweiten Schritt eine bedarfsgeprüfte Aufstockung der nach der Höherwer­ tung noch immer unzureichenden Einkünfte auf einen Pauschalbetrag vorgenommen werden soll. Die Details der Ausgestaltung der geplanten Höherwertung niedriger Ent­ geltpunkte, insbesondere die Frage der konkreten Höhe des Hochwertungs­ faktors und seiner möglichen Differenzierung nach geleisteter Sorgetätigkeit, sind bislang noch nicht ausformuliert worden; laut Koalitionsvertrag soll aber ein Niveau von 30 Rentenentgeltpunkten anvisiert werden. Die solida­ rische Lebensleistungsrente soll „voraussichtlich bis 2017“, also gegen Ende der aktuellen Legislaturperiode, eingeführt werden; nach den mehrfachen gescheiterten Versuchen der letzten Legislaturperiode bleibt jedoch abzu­ warten, ob es in dieser Legislaturperiode tatsächlich zu der Verabschiedung eines solchen Gesetzes kommen wird. ee) Analyse und Bewertung Das Konzept der „Zuschussrente“ ist in seinen verschiedenen Varianten von vielen Seiten stark kritisiert worden; auch innerhalb der schwarz- gel­ ben Regierungskoalition war das Projekt trotz mehrfacher Überarbeitung sehr umstritten. Die wichtigsten Streit- und Kritikpunkte betrafen unter anderem die Durchbrechung des Äquivalenzprinzips und die damit verbun­ dene Vermischung von „Versicherung“ und „Fürsorge“ in der GRV, die ungeklärte Finanzierungsfrage (ausschließliche oder nur teilweise Finanzie­ rung aus Steuern), die teilweise „höchst eigenartigen und ungerechten Ver­ teilungswirkungen“ (Nürnberger / Neumann 2012: 139) sowie Fragen der verwaltungstechnischen Praktikabilität.36 Im Hinblick auf das Ziel der Vermeidung von Grundsicherungsbedürftig­ keit im Alter ist in diesem Zusammenhang in erster Linie die Ausgestaltung der Zugangsvoraussetzungen relevant, da mit den Zugangsbedingungen immer auch der Kreis der potenziell Begünstigten definiert wird. Die „Zu­ schussrente“ ist erklärtermaßen nicht als universalistische „Grundsicherung de luxe“, sondern als selektives, zielgruppenbezogenes Programm konzipiert: 36  Einen

Überblick über die Diskussion geben Dünn/Stosberg 2013a, 2013b.

376 VII. „Altersarmut“ als Gegenstand der aktuellen Alterssicherungspolitik

Sie soll nicht flächendeckend Altersarmut verhindern, sondern vielmehr „für die Zukunft den Zugang einer bestimmten Gruppe von Rentenbeziehern in die Grundsicherung verhindern“ (BMAS 2011: 7). Genau genommen sind es im Wesentlichen zwei Gruppen, die durch die „Zuschussrente“ renten­ rechtlich bessergestellt werden sollen: Zum einen die Gruppe der langjähri­ gen, kontinuierlich beschäftigten Geringverdiener und zum anderen eine Teilgruppe der „familienorientierten“ Frauen, nämlich diejenigen, die im Rahmen eines „Zuverdienermodells“ viele Jahre in Teilzeit beschäftigt ge­ wesen sind.37 Diese politischen Prioritäten sind im Referentenentwurf des „RV-Lebensleistungsanerkennungsgesetzes“ auch klar benannt: „So besteht insbesondere Handlungsbedarf bei den Menschen, die ihr Leben lang mit niedrigem Einkommen gearbeitet und vorgesorgt haben und dennoch im Alter nicht besser dastehen als diejenigen, die wenig oder gar nicht gearbeitet und sich nicht um ihre Alterssicherung gekümmert haben. Darüber hinaus muss in beson­ derem Maße die Leistung der Menschen stärker honoriert werden, die gesell­ schaftlich relevante Leistungen, wie die Erziehung von Kindern oder die Pflege von Angehörigen, erbracht haben. Dies betrifft in erster Linie Frauen.“ (BMAS 2012a: 1)

Durch die Ausrichtung der Zugangsvoraussetzungen auf die langjährigen Geringverdiener und einen Teil der „familienorientierten“ Frauen werden andere Risikogruppen jedoch von Zuschussrente faktisch weitgehend ausge­ schlossen; hierbei handelt es sich erstens um die Gruppe der langjährig diskontinuierlich und prekär Beschäftigten mit längeren Phasen der Arbeits­ losigkeit, zweitens um Erwerbsgeminderte sowie drittens um die Gruppe der nicht obligatorisch abgesicherten (Solo-)Selbstständigen. Versicherte mit größeren arbeitslosigkeitsbedingten Lücken in der Erwerbsbiografie hätten große Schwierigkeiten, die Zugangsbedingungen zur Zuschussrente zu er­ füllen. Zeiten des Bezugs von Arbeitslosengeld, der früheren Arbeitslosen­ hilfe sowie ALG II sollen bzw. sollten nämlich (zumindest in den früheren Versionen der „Zuschussrente“) explizit nicht als Beitragsjahre im Sinne der „Zuschussrente“ zählen, da eine Berücksichtigung dieser Zeiten „im Wider­ spruch zu der politischen Zielsetzung der Zuschussrente, Lebensarbeitsleis­ tung zu honorieren, stünde“ (BMAS 2012a: 42). Auch Erwerbsgeminderte werden durch die Ausgestaltung der Zugangs­ bedingungen der Zuschussrente faktisch diskriminiert (vgl. Steffen 2012): Versicherte, die zum Zeitpunkt des Eintritts der vollen Erwerbsminderung die für die Zuschussrente erforderlichen 30 bzw. 35 Beitragsjahre noch nicht erreicht haben, hätten nur noch sehr eingeschränkte Chancen, bis zum 37  Der Sozialbeirat (2011: Ziffer 59) geht davon aus, dass es insbesondere lang­ jährig teilzeitbeschäftigte Frauen sind, die die zeitlichen Voraussetzungen für die Zuschussrente erfüllen, während Mütter mit längeren familienbedingten Erwerbsun­ terbrechungen die geforderten Beitragsjahre tendenziell eher unterschreiten dürften.



2. Armutsvermeidung durch „Anerkennung von Lebensleistung“? –377

Zeitpunkt der Umwandlung der Erwerbsminderungs- in eine Altersrente die noch fehlenden Beitragsjahre auszugleichen, da Zeiten des Bezugs der Er­ werbsminderungsrente zwar als Versicherungs-, aber nicht als Beitragszeiten zählen. Angesichts eines durchschnittlichen Zugangsalters in die Erwerbs­ minderungsrente von 51 Jahren wären also die meisten erwerbsgeminderten Menschen vom Bezug der Zuschuss-Rente faktisch ausgeschlossen. Die Bundesregierung hat in diesem Sinne auch offen eingeräumt, dass Erwerbs­ geminderte nicht zur Zielgruppe der Zuschussrente gehören, da es hier letztlich nicht um die Absicherung von sozialen Risiken, sondern um die rentenrechtliche Honorierung von „Lebensleistung“ geht: „Die Zuschussrente soll die Lebensleistung von Menschen in der Rente besser honorieren, die viele Jahre erwerbstätig waren, Kinder erzogen oder Angehörige gepflegt und gleichzeitig für später zusätzlich vorgesorgt haben. Daher können auch Erwerbsgeminderte nur bei Erfüllung dieser Voraussetzungen Zuschussrente beziehen.“ (Deutscher Bundestag 2012: 8)

Da grundsätzlich nur GRV-Versicherte von der „Zuschussrente“ profitie­ ren können, bleiben alle Nicht-Mitglieder der GRV, insbesondere auch die nicht obligatorisch abgesicherten (Solo-)Selbstständigen, von dieser Leis­ tung ausgeschlossen. Eine Altersvorsorgepflicht für alle Selbstständigen (mit Wahlrecht zwischen privater und gesetzlicher Rentenversicherung) war zwar seitens des BMAS zwischenzeitlich vorgesehen (BMAS 2012b: 15– 17), wurde jedoch nicht konsequent verfolgt und angesichts des gut organi­ sierten Widerstands eines Teils der Betroffenen vorerst zurückgestellt. Ins­ gesamt ist die „Zuschussrente“ somit hinsichtlich ihrer Zugangsbedingungen so konzipiert, dass sie nur eine eng begrenzte Teilmenge der Gesamtheit der altersarmutsbedrohten Personen absichert: „Für einen begrenzten Personenkreis, der künftig vermehrt von Altersarmut be­ droht sein könnte, wird damit eine Lösung angeboten, für alle anderen ähnlich betroffenen Personenkreise nicht:“ (Sozialbeirat 2011: Ziffer 74)

In diesem Zusammenhang ist zu vermuten, dass Adressatenkreis der „Zu­ schussrente“ im Hinblick auf das Ziel der Altersarmutsvermeidung nicht nur zu eng gezogen, sondern möglicherweise auch „falsch definiert“ ist (Nürn­ berger / Neumann 2012: 137), da langjährig GRV-Versicherte nicht unbedingt die am stärksten von Altersarmut bedrohte Personengruppe bilden. Die Er­ gebnisse des empirischen Teils der vorliegenden Studie weisen darauf hin, dass es sich zumindest bei den heutigen Grundsicherungsbezieher / -innen mehrheitlich nicht um langjährig GRV-Versicherte, sondern vielmehr um langjährig Nichtversicherte handeln dürfte. Eine umfangreiche Studie von Frommert (2013) auf Basis der Längsschnittdaten der AVID 2005-Studie kommt für die (nähere) Zukunft zu ähnlichen Aussagen: Potenzielle Prob­ lemlagen für die eigenständige Sicherung wie auch für die Absicherung im Ehepaarkontext konzentrieren sich nicht in erster Linie bei langjährig Ver­

378 VII. „Altersarmut“ als Gegenstand der aktuellen Alterssicherungspolitik

sicherten mit zusätzlicher privater Altersvorsorge, sondern „vielmehr bei Typen, die gerade keine langen Versicherungsverläufe aufweisen“ (From­ mert 2013: 234). Letztlich kann (und soll) die „Zuschussrente“ bzw. „Solidarische Lebens­ leistungsrente“ nur eingeschränkt dazu dienen, Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter „auf breiter Front“ zu vermeiden. Sie soll, wie der seinerzeitige Vorsitzende des Bundesvorstandes der DRV Bund zutreffenderweise festge­ stellt hat, „eher ein Instrument zur Festigung der Akzeptanz der gesetzlichen Rentenversicherung und zur Belohnung von ergänzender Vorsorge sein als ein Instrument zur Bekämpfung der Altersarmut“ (Gunkel 2011: 5). Dies wird deutlich, wenn man die zentrale Problemdefinition näher betrachtet, die dem Konzept der „Zuschussrente“ zugrunde liegt. Problematisiert wird hier in erster Linie ein Verstoß gegen die Leistungsgerechtigkeit, der aus der unzulässigen Gleichbehandlung ungleicher (Beitrags-)Leistungen in der be­ darfsabhängigen Grundsicherung resultiert: „Bisher stehen Niedrigverdiener, die ihr Leben lang gearbeitet und vorgesorgt haben, im Alter nicht besser da als diejenigen, die wenig gearbeitet und sich nicht um ihre Alterssicherung gekümmert haben. […] Alle erhalten Grundsicherung im Alter in gleicher Höhe, unabhängig von ihrer Vorleistung in der Erwerbsphase und von ihrem Beitrag für die Gesellschaft. Dadurch werden Fehlanreize gesetzt, vor allem für die im Niedriglohnbereich erforderliche ergänzende Altersvorsorge, zumal die aus der ergänzenden Altersvorsorge erzielten Rentenleistungen im Alter auf die Grundsicherung angerechnet werden.“ (BMAS 2011: 4, Hervorhebung der Autoren)

Die „Zuschussrente“ ist somit weniger eine Reaktion auf ein Armutspro­ blem als vielmehr eine Reaktion auf ein Akzeptanz- und Anreizproblem. Sie zielt darauf ab, innerhalb der Gruppe der Personen mit unzureichenden Rentenanwartschaften vorleistungsbezogene Differenzierungen vorzuneh­ men, um auf diese Weise auch auf deutlich abgesenktem Niveau noch die Vorstellung von der Rente als „Lohn für Lebensleistung“ und damit auch eine bestimmte gesellschaftliche Belohnungs- und Anerkennungsordnung aufrecht zu erhalten. Die Ausgestaltung der Anspruchsvoraussetzungen folgt insofern einer Logik der „pragmatischen Anreizsetzung“ (Arentz / Roth 2012: 162), die auf eine Korrektur des Vorsorgeverhaltens der Versicherten (und hier insbesondere der Geringverdiener) abzielt. Die Tatsache, dass im Rahmen der geplanten Zugangsvoraussetzungen der Rechtsanspruch auf eine öffentlich-rechtliche, bedarfsgeprüfte Leistung von dem Abschluss und der kontinuierlichen Bedienung eines privatrechtlichen Vorsorgevertrages abhängig gemacht werden soll, ist jedoch hoch problematisch. Privates Vor­ sorgesparen wird auf diese Weise nicht länger als freiwillige Aktivität be­ handelt, sondern zu einem genuinen Bestandteil einer der Gesellschaft ge­ genüber zu erbringenden individuellen Lebensleistung transformiert. Ein



2. Armutsvermeidung durch „Anerkennung von Lebensleistung“? –379

solches Obligatorium durch die Hintertür ist vor dem Hintergrund der nach wie vor bestehenden massiven Defizite bei der Ausgestaltung der „RiesterRente“ (Hagen / Kleinlein 2011) sozialpolitisch mehr als fragwürdig. Problematisch ist auch die übermäßige Betonung der „Anerkennung von Lebensleistung“ als Leitprinzip der „Zuschussrente“. Auf diese Weise wer­ den neue symbolische Grenzlinien gezogen zwischen Personen, die aufgrund ihrer „Lebensleistung“ vor dem „Gang zum Sozialamt“ geschützt werden sollen, und Personen, die diesen Schutz gewissermaßen nicht „verdient“ haben: Auf der einen Seite stehen, wie es die damalige Arbeitsministerin Ursula von der Leyen formuliert hat, „ganz normale fleißige Menschen aus der Mitte unserer Gesellschaft“ (von der Leyen, zit. nach FAZ 2012: 1); auf der anderen Seite stehen „diejenigen, die wenig gearbeitet und sich nicht um ihre Alterssicherung gekümmert haben“ (BMAS 2011: 4). In diesem Zusammenhang werden immer auch bestimmte Kriterien der „Würdigkeit“, der „deservingness“ der Leistungsempfänger / -innen transportiert:38 So hat die damalige Arbeitsministerin im Zuge der Debatte um die „Zuschussren­ te“ zu verschiedenen Gelegenheiten darauf hingewiesen, es müsse einen Unterschied machen, „ob man sein Leben lang Balalaika vor der Friedens­ kirche gespielt oder aber 40 Jahre eingezahlt hat“ (Ursula von der Leyen, BT-Prot. 17 / 226: 28244, 1.3.2013). Solche und ähnliche Äußerungen sind dazu geeignet, zu einer weiteren Degradierung und Stigmatisierung sowohl der Grundsicherung im Alter als auch ihrer Bezieherinnen und Bezieher beizutragen (Blank 2012: 621). c) „Verdient, nicht geschenkt“? – Das RV-Leistungsverbesserungsgesetz Die zumindest hinsichtlich ihres Finanzvolumens mit Abstand bedeu­ tendste alterssicherungspolitische Maßnahme der letzten fünf Jahre, das RV-Leistungsverbesserungsgesetz, ist bereits zu Beginn der 18. Legislatur­ periode verabschiedet worden und am 1.7.2014 in Kraft getreten. Das soge­ nannte „Rentenpaket“ enthält insgesamt vier Einzelmaßnahmen: Die soge­ nannte „Mütterrente“, die sogenannte „Rente ab 63“, bestimmte Verbesse­ rungen bei der Erwerbsminderung sowie Veränderungen bei der Dynamisie­ rung des „Reha-Deckels“. Das Gesamtpaket hat ein Finanzvolumen von jährlich rund 10 Milliarden Euro; bei einem Gesamtvolumen der Rentenaus­ gaben von rund 260 Milliarden Euro im Jahr entspricht dies knapp 4 % des Gesamtvolumens der GRV-Ausgaben.

38  Zu der Rolle von „deservingness“-Kriterien für die Akzeptanz sozialstaatlicher Leistungsprogramme vgl. Ullrich 2008: 212–238.

380 VII. „Altersarmut“ als Gegenstand der aktuellen Alterssicherungspolitik

aa) „Mütterrente“ Die quantitativ wichtigste Einzelmaßnahme innerhalb des „Rentenpakets“ ist die bessere Berücksichtigung der Erziehungsleistung von Müttern (und in Ausnahmefällen auch Vätern), deren Kinder vor 1992 geboren sind, im Rahmen der sogenannten „Mütterrente“. Ziel dieser Maßnahme ist es, die bislang bestehende rentenrechtliche Ungleichbehandlung zwischen Müttern, die Kinder vor dem 1.1.1992 geboren haben und in der GRV bislang nur einen Entgeltpunkt pro Kind angerechnet bekamen, und Müttern, die ihre Kinder seit diesem Stichtag geboren haben und bis zu drei zusätzliche Ent­ geltpunkte erhalten, zu reduzieren. Da eine vollständige Angleichung (d. h. eine Aufwertung von zwei zusätzlichen Entgeltpunkten für jedes vor 1992 geborene Kind), für „nicht finanzierbar“ erachtet worden ist (Deutscher Bundestag 2014: 3), hat sich die Regierung für eine Aufwertung um ledig­ lich einen Entgeltpunkt pro Kind entschieden; die bestehende Lücke wird hierdurch zumindest zur Hälfte geschlossen. Bei den Bestandsrentnerinnen wird die Rente ab Juli 2014 pauschal um einen Zuschlag in Höhe eines Entgeltpunktes pro Kind aufgestockt; bei den Rentenneuzugängen wird die Kindererziehungszeit für die vor 1992 geborenen Kinder entsprechend der tatsächlichen Dauer der Kindererziehung um bis zu zwölf Kalendermonate verlängert. Von der nachträglichen Rentenerhöhung profitieren rund 9,5 Millionen Rentnerinnen. Vereinfacht gesagt, erhöht sich durch die soge­ nannte „Mütterrente“ für eine Mutter von zwei vor 1992 geborenen Kindern die Nettoaltersrente um rund 50 Euro / Monat; für eine Mutter von 4 Kindern sind es rund 100 Euro / Monat. Grundsätzlich ist die „Mütterrente“ nicht als Instrument der Altersarmuts­ vermeidung angelegt; Ziel ist vielmehr die bessere Honorierung von Kin­ dererziehungsleistungen und die Vermeidung von „Gerechtigkeitslücken“ (Deutscher Bundestag 2014: 13). Da die „Mütterrente“ aber nicht nur für zukünftige Rentnerinnen und Rentner, sondern insbesondere auch für Be­ standsrentnerinnen wirksam wird, werden auch die GRV-Altersrenten derje­ nigen Seniorinnen im Grundsicherungsbezug aufgewertet, die eine eigene GRV-Altersrente beziehen (rund 70 % der Betroffenen). In den allermeisten Fällen wird die „Mütterrente“ bei diesem Personenkreis allerdings im Er­ gebnis nicht zu einer Erhöhung des Alterseinkommens führen, da die Erhö­ hung der GRV-Rente den individuellen Nettobedarf mindert und somit zu 100 % durch entsprechend niedrigere Grundsicherungsleistungen ausgegli­ chen wird. In einzelnen Fällen kann es allerdings durchaus dazu kommen, dass die „Mütterrente“ höher ausfällt als der individuelle Nettobedarf und die betrof­ fenen Frauen somit nachträglich aus der Grundsicherung „herausgeholt“ werden. In diesen Fällen handelt es sich vorwiegend um Frauen, die zum



2. Armutsvermeidung durch „Anerkennung von Lebensleistung“? –381

einen vergleichsweise hohe anrechnungsfähige eigene Einkünfte haben und daher nur einen sehr geringen Nettobedarf in der Grundsicherung aufwei­ sen, und die zum anderen mehrere Kinder geboren haben und daher durch die „Mütterrente“ eine substanzielle Erhöhung ihrer Nettoaltersrente erfah­ ren.39 Dieser Effekt wäre bei einer vollkommenen Angleichung der Berück­ sichtigung von Kindererziehungszeiten (Höherwertung von 2 Entgeltpunkten pro vor 1992 geborenem Kind) sicherlich deutlich stärker ausgefallen. Bei einer solchen Regelung hätte beispielsweise eine Rentnerin mit drei vor 1992 geborenen Kindern mit einem Schlag eine um rund 150 Euro höhere Nettoaltersrente erhalten, eine Frau mit 4 Kindern sogar 200 Euro mehr; dies hätte bei einem nicht ganz unwesentlichen Teil der „familienorientier­ ten“ Frauen im Grundsicherungsbezug zur Beendigung der Grundsiche­ rungsbedürftigkeit führen können. Eine solche Regelung wäre allerdings sehr teuer gewesen. Die „Mütter­ rente“ ist ohnehin die mit Abstand teuerste Einzelmaßnahme des „Renten­ pakets“; mit rund 6,6 Milliarden Euro pro Jahr macht sie rund zwei Drittel des Finanzvolumens des RV-Leistungsverbesserungsgesetzes aus (Deutscher Bundestag 2014: 3). Ein besonders umstrittener Aspekt der „Mütterrente“ ist ihre nicht „sachgerechte“ Finanzierung: Obwohl die verbesserte Aner­ kennung von Erziehungsleistungen eindeutig eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe darstellt, werden die zusätzlichen Kosten dieser Maßnahme nicht vollständig aus Steuermitteln, sondern vielmehr hauptsächlich aus Beitrags­ mitteln, insbesondere in den ersten Jahren (bis 2018) ausschließlich aus der Nachhaltigkeitsrücklage, finanziert. Erst ab 2019 beteiligt sich der Bund mit zusätzlichen Zuschüssen, die zudem erst allmählich „hochgefahren“ werden und die auch mittel- und langfristig mit rund zwei Milliarden Euro im Jahr nur ein knappes Drittel der Kosten abdecken sollen. Bei der „Mütterrente“ handelt es sich somit im Wesentlichen um eine Maßnahme der beitragsfinanzierten Umverteilung innerhalb der Versicher­ tengemeinschaft. Die Mehrkosten werden einerseits von den Beitragszahlern getragen, die auf die im Jahr 2014 eigentlich anstehende Beitragssatzsen­ kung verzichten mussten; vermittelt über die systeminternen Rückkopp­ lungsmechanismen des Nachhaltigkeitsfaktors wird zeitversetzt aber auch das Rentenniveau gegenüber dem Status Quo ein Stück weit abgesenkt, so dass die Leistungsverbesserungen für Frauen mit vor 1992 geborenen Kin­ dern im Ergebnis zu Lasten der übrigen Rentenbezieher / -innen gehen. Ge­ 39  Im Untersuchungssample der vorliegenden Studie findet sich zumindest ein Fall, in dem diese Konstellation gegeben ist: Frau T-19, die eine GRV-Altersrente von 764 Euro/Monat bezieht und deren Nettobedarf lediglich bei 49 Euro/Monat liegt, hat drei Kinder erzogen; der Erhöhungsbetrag durch die „Mütterente“ liegt netto bei 77 Euro/Monat, so dass in ihrem Fall die Grundsicherungsbedürftigkeit (vorerst) überwunden wird.

382 VII. „Altersarmut“ als Gegenstand der aktuellen Alterssicherungspolitik

meinsame Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) und des Munich Center for the Economics of Aging (MEA) kommen zu dem Ergebnis, dass allein durch die „Mütterrente“ bis 2018 nicht nur der Beitragssatz um 0,3 Prozentpunkte steigen wird, sondern dass im gleichen Zeitraum auch das Bruttorentenniveau um durchschnittlich 0,4 Prozentpunk­ te reduziert wird (Bach et  al. 2014). Bis 2035, so die Berechnungen weiter, wird das Bruttorentenniveau um durchschnittlich 0,3 Prozentpunkte niedri­ ger liegen als ohne diese Maßnahme. Insbesondere bei Versicherten und Rentner / -innen mit geringem Einkommen, die mangels vor 1992 geborener Kinder von den Leistungsverbesserungen der „Mütterrente“ nicht profitie­ ren, die aber von der durch diese Maßnahme im Zusammenspiel mit dem Nachhaltigkeitsfaktor verursachten geringeren Rentenanpassung betroffen sind, kann die „Mütterrente“ im Hinblick auf das Risiko der Grundsiche­ rungsbedürftigkeit sogar mit kontraproduktiven Effekten verbunden sein (Schäfer 2013). Obwohl die Verbesserung der Anerkennung von Kindererziehungszeiten für vor 1992 geborene Kinder grundsätzlich wünschenswert ist, lassen sich gegen die „Mütterrente“ insbesondere angesichts der gewählten Finanzie­ rungsform daher folgende Kritikpunkte formulieren: Erstens ist diese Maß­ nahme verhältnismäßig teuer; sie bindet knappe finanzielle Ressourcen, die im Hinblick auf die sozialpolitische Großaufgabe der Begrenzung zukünfti­ ger Altersarmut an anderer Stelle möglicherweise dringender benötigt wor­ den wären. Zweitens ist sie falsch finanziert, da sie im Ergebnis zu einer zusätzlichen Dämpfung der Rentenanpassung und damit zu einer zusätzli­ chen Absenkung des ohnehin bereits in einem vorprogrammierten Sinkflug befindlichen allgemeinen Rentenniveaus führt. Die Beitragsfinanzierung der „Mütterrente“ ist somit nicht nur „ordnungspolitisch falsch und verfassungs­ rechtlich bedenklich“ (Rische 2014: 3), sondern auch verteilungspolitisch nicht unproblematisch. bb) „Rente ab 63“ Die zweite zentrale Maßnahme innerhalb des Rentenpakets ist die soge­ nannte „Rente ab 63“. Hierbei handelt es sich um eine zeitlich befristete Ausweitung der bereits durch das RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz von 2007 im geltenden Rentenrecht verankerten Regelungen zur „Altersrente für besonders langjährig Versicherte“, die einen abschlagsfreien vorzeitigen Rentenzugang für Versicherte mit 45 Beitragsjahren ermöglichen. Wer 45  Jahre mit Pflichtbeiträgen oder mit Berücksichtigungszeiten zurückge­ legt hat, kann seit dem 1.7.2014 bereits nach Vollendung des 63. Lebens­ jahres abschlagsfrei in Rente gehen. Auf die besondere Wartezeit von 45  Jahren werden dabei, über das bis dahin geltende Recht zum Teil  hin­



2. Armutsvermeidung durch „Anerkennung von Lebensleistung“? –383

ausgehend, alle Zeiten des Bezugs von Arbeitslosengeld und von Leistun­ gen bei Krankheit sowie Übergangsgeld angerechnet; Zeiten des Bezugs von Arbeitslosenhilfe und Arbeitslosengeld II bleiben hingegen weiterhin unberücksichtigt. Die Bezeichnung „Rente ab 63“ ist allerdings insofern irreführend, als dass faktisch nur eineinhalb Geburtsjahrgänge (Personen, die zwischen dem 1.7.1951 und dem 31.12.1952 geboren sind), tatsächlich mit exakt 63  Jah­ ren bereits abschlagsfrei in Rente gehen können. Für den Jahrgang 1953 gilt hingegen bereits eine Altersgrenze von 63 Jahren und 2 Monaten; diese Altersgrenze wird in Zweimonatsschritten angehoben, bis für den Jahrgang 1964 die für besonders langjährig Versicherte auch bislang schon geltende Altersgrenze von 65  Jahren erreicht ist. Von der „Rente ab 63“ profitieren somit nur bestimmte Versicherte der Jahrgänge 1951 bis 1963. Die „Rente mit 63“ wird – ebenso wie die „Mütterrente“ – zunächst durch den Verzicht auf die nach dem bis Ende 2013 geltenden Recht eigentlich vorgesehene Beitragssatzsenkung und damit aus Beitragsmitteln finanziert. Die Kosten für die Regelungen sollen sich nach Regierungsangaben auf durchschnittlich rund 2 Milliarden Euro jährlich belaufen; im Jahr 2030 sollen sie bis auf 3,1 Milliarden Euro ansteigen. Der dadurch ermöglichte vorgezogene Ren­ tenzugang führt darüber hinaus auch zu Beitragsausfällen in der GRV, die sich im Jahr 2030 laut Gesetzentwurf nach heutigen Werten auf rund 0,6 Mrd. Euro belaufen werden (Deutscher Bundestag 2014: 3). Das erklärte Ziel der „Rente ab 63“ ist, so der Gesetzentwurf der Bundes­ regierung, „eine besonders langjährige rentenversicherte Beschäftigung mit entsprechender Beitragszahlung zu privilegieren“ (BT-Drs. 18 / 909: 13). Durch die Möglichkeit des abschlagsfreien Zugangs nach 45 Beitragsjahren wird, so die Bundesregierung an anderer Stelle, „der Beitrag zur Stabilisie­ rung der Rentenversicherung derjenigen Menschen, die 45 Beitragsjahre in der gesetzlichen Rentenversicherung zurückgelegt haben, besonders berück­ sichtigt“ (BT-Drs. 18 / 2186: 1), denn „(e)in erfülltes Arbeitsleben mit ent­ sprechend langjähriger Beitragszahlung muss in der Rentenversicherung be­ sonders anerkannt werden“ (Asmussen 2014: 15). Die bereits durch die „Rente für besonders langjährig Versicherte“ vorgenommene Privilegierung von Versicherten mit langen Beitragskarrieren wird durch die „Rente ab 63“ somit noch einmal bestätigt und zusätzlich verstärkt (vgl. BT-Drs. 18 / 909: 14). Grundsätzlich sind Regelungen, die die Möglichkeit eines vorzeitigen abschlagsfreien Rentenzugangs an eine bestimmte Beitrags- bzw. Versiche­ rungsdauer knüpfen, allerdings verteilungspolitisch nicht unproblematisch, da in der Regel eher Bezieher höherer Renten von ihnen profitieren. Die regressiven Verteilungswirkungen solcher Regelungen zeigen sich besonders deutlich bei der zum 1.1.2012 eingeführten „Altersrente für besonders lang­

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jährig Versicherte“ nach § 38 SGB VI. Erstens profitieren von der Regelung Männer erheblich stärker als Frauen: 86 % der Versicherten, die im Jahr 2012 die Altersrente für besonders langjährig Versicherte in Anspruch ge­ nommen haben, waren Männer (Rische 2013: 7–8, Rische 2014: 5). Zwei­ tens kommt die Regelung vor allem Versicherten zugute, die ohnehin über relativ hohe Rentenansprüche verfügen. Im Rentenzugang 2012 lag der durchschnittliche Rentenzahlbetrag der „Altersrente für besonders langjährig Versicherte“ bei den Männern bei 1.411 Euro / Monat, während die durch­ schnittliche Zugangsrente wegen Alters aller Männer bei 899 Euro / Monat lag. Bei den Frauen war der Unterschied sogar noch größer: Die Altersren­ te für besonders langjährig Versicherte war mit 1085 Euro gut doppelt so hoch wie die durchschnittliche Zugangsrente aller Frauen (532 Euro / Monat) (DRV Bund 2013: 72). Die „Rente ab 63“, die die fragwürdigen Privilegien der „Altersrente für besonders langjährig Versicherte“ für bestimmte Jahrgänge noch ausweitet, begünstigt somit einen Personenkreis zusätzlich, der in der Regel bereits über ein vergleichsweise gutes Versorgungsniveau im Alter verfügt. Auf­ grund der Tatsache, dass sie im Wesentlichen beitragsfinanziert ist, tut sie dies zulasten derjenigen Versicherten, die (beispielsweise aus gesundheit­ lichen Gründen) keine 45 Beitragsjahre erzielen können bzw. konnten, da diese den „Treuebonus“ für langjährig Versicherte über ein gegenüber dem Status quo niedrigeres allgemeines Rentenniveau gewissermaßen „mitfinan­ zieren“ müssen. Die Durchbrechung des ansonsten oftmals vehement vertei­ digten Prinzips der Beitragsäquivalenz durch die „Rente für besonders langjährig Versicherte“ sowie die „Rente ab 63“ ist somit nicht mit progres­ siven, sondern vielmehr mit eindeutig regressiven Verteilungswirkungen verbunden: Diejenigen, die „durchgehalten“ und die Eckrentnernorm erfüllt haben, werden zusätzlich belohnt, und diejenigen, die vorher aus dem Ar­ beitsmarkt herausgefallen sind, werden zusätzlich bestraft. cc) Verbesserungen bei der Erwerbsminderungsrente Den dritten und aus der Perspektive der Altersarmutsbegrenzung wohl relevantesten Punkt des „Rentenpakets“ bilden die Verbesserungen bei der Absicherung des Erwerbsminderungsrisikos. Diese bestehen aus zwei Ele­ menten: Der Erhöhung / Verlängerung der sogenannten „Zurechnungszeit“ um zwei Jahre sowie Verbesserungen bei der Berechnung des für die Be­ wertung der Zurechnungszeit maßgeblichen Durchschnittsverdienstes. Das erste Element bei der der Verbesserung der Absicherung des Erwerbsminde­ rungsrisikos ist die Verlängerung der Zurechnungszeit. Bis 2014 wurden Bezieher einer Erwerbsminderungsrente bei der Rentenberechnung im We­ sentlichen so gestellt, als hätten sie bis zur Vollendung des 60. Lebensjahres



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Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung gezahlt; die Versicherungs­ lücke zwischen dem Jahr des Eintritts der Erwerbsminderung und dem 60. Lebensjahr wurde durch die sogenannte „Zurechnungszeit“ gefüllt. Diese Zurechnungszeit wird zum 1.7.2014 um zwei Jahre verlängert; die Betroffenen werden dadurch so gestellt, als hätten sie bis zum 62. Lebens­ jahr gearbeitet. Im Ergebnis erhöhen sich die EM-Renten für Neurentner durch diese Maßnahme im Schnitt um etwa 40 Euro. Die Verlängerung der Zurechnungszeit bei der Erwerbsminderungsrente von 60 auf 62 Jahre war überfällig und hätte streng genommen bereits im RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz von 2007 enthalten sein müssen. Sie vollzieht im Prinzip lediglich die Anhebung der Regelaltersgrenze von 65 auf 67 Jahre nach und verhindert dadurch, dass das Niveau der Erwerbs­ minderungsrenten im Vergleich zu den Altersrenten noch weiter absinkt.40 Im Prinzip bestand über die Angemessenheit dieser Maßnahme, die bereits in den ursprünglichen Plänen des BMAS für den „Regierungsdialog Rente“ enthalten war (vgl. BMAS 2011: 9–10), bereits in der vergangenen Legis­ laturperiode ein parteiübergreifender Konsens; da seitens des BMAS jedoch eine übergreifende Paketlösung angestrebt wurde, die sich politisch letztlich nicht durchsetzen ließ, konnte diese Maßnahme erst in der aktuellen Legis­ laturperiode verabschiedet werden. Das zweite Element bei der Verbesserung der Absicherung des Erwerbs­ minderungsrisikos bezieht sich auf die Ermittlung des für die Zurechnungs­ zeit maßgebenden Durchschnittsverdienstes. Bis Juni 2014 ist hierfür der Durchschnittsverdienst während des gesamten Erwerbslebens bis zum Ein­ tritt der Erwerbsminderung herangezogen worden. Da es in den letzten Jahren vor dem Eintritt der Erwerbsminderung jedoch oftmals bereits zu deutlichen Einkommenseinbußen aufgrund gesundheitlicher Beeinträchti­ gungen der Betroffenen kommt, kam es häufig vor, dass durch diese „schlechten“ Jahre der Gesamtdurchschnitt „heruntergezogen“ wurde, was zu einer entsprechend niedrigeren individuellen Erwerbsminderungsrente führte. Ab dem 1. Juli 2014 wird durch die Deutsche Rentenversicherung daher im Rahmen einer „Günstigerprüfung“ festgestellt, ob die Berücksich­ tigung der letzten vier Jahre vor Eintritt der Erwerbsminderung sich negativ auf den Gesamtdurchschnitt auswirken würde; ist dies der Fall, so werden diese vier Jahre bei der Berechnung des fiktiven Gehalts während der Zu­ 40  Da die Zurechnungszeit nicht – wie die Anhebung der Regelaltersgrenze – sukzessive, sondern in einem Schritt angehoben wird, werden die Wirkungen der Heraufsetzung der Regelaltersgrenze auf die Erwerbsminderungsrente zwar zunächst überkompensiert; mittelfristig erhöht sich die Lücke zwischen dem Ende der Zurech­ nungszeit und der Regelaltersgrenze jedoch wieder auf fünf Jahre (vgl. Bäcker 2014).

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rechnungszeit nicht mehr berücksichtigt, so dass der für die Zurechnungszeit maßgebliche Durchschnittsverdienst und dadurch im Ergebnis auch die in­ dividuelle Erwerbsminderungsrente entsprechend höher ausfallen. Angesichts des im vergangenen Jahrzehnt nicht nur real (kaufkraftbezo­ gen), sondern sogar nominal rapide gesunkenen durchschnittlichen Zahlbe­ trags der Erwerbsminderungsrente (vgl. Kap. II. 4.) bestand (und besteht) bei der Absicherung des Erwerbsminderungsrisikos ein besonders dringen­ der sozialpolitischer Handlungsbedarf. Die im RV-Leistungsverbesserungs­ gesetz enthaltenen Maßnahmen sind im Hinblick auf das Kriterium der Begrenzung der Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter somit grundsätzlich ein Schritt in die richtige Richtung; gemessen am Gesamtvolumen des „Rentenpaketes“ sind die für die Verbesserung der Absicherung des Er­ werbsminderungsrisikos eingesetzten Mittel allerdings vergleichsweise ge­ ring. Zum einen profitieren von der erweiterten Zurechnungszeit und der Günstigerprüfung nur Rentnerinnen und Rentner, die seit dem 1.7.2014 neu in die Erwerbsminderungsrente zugehen; für die Bestandsrentner / -innen ergibt sich hingegen keine Verbesserung. Zweitens bleiben die seit 2001 erhobenen, in vielerlei Hinsicht problematischen Abschläge bei einer Inan­ spruchnahme der Erwerbsminderung vor dem vor dem jeweils geltenden Referenzalter in Höhe von maximal 10,8 % weiterhin bestehen; für die von verschiedenen Seiten geforderte Abschaffung oder zumindest die Begren­ zung dieser Abschläge hat sich keine politische Mehrheit gefunden. dd) Anhebung des „Reha-Deckels“ Die letzte Maßnahme des „Rentenpakets“ besteht in einer veränderten Dynamisierung des sogenannten „Reha-Deckels“. Das Budget für die beruf­ lichen und medizinischen Rehabilitationsleistungen der GRV ist grundsätz­ lich gedeckelt. Das zur Verfügung stehende Reha-Budget (im Jahr 2013 waren dies rund 5,8 Milliarden Euro) wird jährlich neu festgesetzt; bis 2014 wurde es dabei nur an die voraussichtliche Bruttolohnentwicklung ange­ passt. Da sich die Anzahl der Arbeitnehmer, die Rehabilitationsmaßnahmen benötigen, in den kommenden Jahren aufgrund der demografischen Ent­ wicklung stark erhöhen wird, wird bei der Anpassung des „Reha-Deckels“ nunmehr eine zusätzliche Demografie-Komponente berücksichtigt; bereits rückwirkend zum 1. Januar 2014 wird das jährliche Reha-Budget dadurch um rund 100 Millionen Euro erhöht. Diese zusätzliche Erhöhung soll auf über 200 Millionen Euro im Jahr 2017 steigen; nach 2017 wird die zusätz­ liche Erhöhung des Reha-Budgets allerdings allmählich wieder abgebaut, da die geburtenstarken Jahrgänge nach und nach in Rente gehen. Im Ergebnis bleibt der zusätzliche finanzielle Spielraum, der mit den veränderten Fort­ schreibungsregelungen für den „Reha-Deckel“ verbunden ist, somit stark



2. Armutsvermeidung durch „Anerkennung von Lebensleistung“? –387

begrenzt: Bereits im Jahr 2025 wird der zusätzliche Erhöhungsbeitrag ge­ mäß der Planung des BMAS wieder abgeschmolzen sein; im Jahr 2030 soll das Reha-Budget gegenüber dem Status Quo sogar um rund 300 Millionen Euro schrumpfen (vgl. Deutscher Bundestag 2014: 3). Angesichts der Tatsache, dass das Reha-Budget schon heute nur durch eine äußerst restriktive Bewilligungspraxis der Rentenversicherungsträger einigermaßen eingehalten werden kann und in den nächsten Jahren mit einer weiteren Steigerung des Reha-Bedarfs zu rechnen ist, muss die durch das RV-Leistungsverbesserungsgesetz vorgenommene vorübergehende Anhe­ bung des „Reha-Deckels“ daher als unzureichend bezeichnet werden. Eine konsequente Umsetzung des Präventionsgedankens und des oft zitierten Leitprinzips „Reha vor Rente“, das u. a. in § 9 SGB VI festgeschrieben ist, lässt sich hier leider nicht erkennen; die langfristigen Einsparungen, die sich durch einen bedarfsgerechten Ausbau der Rehabilitationsleistungen erzielen lassen könnten, werden auf diese Weise nicht realisiert. ee) Gesamtbewertung In der Gesamtbewertung ist das „Rentenpaket“ von 2014 insbesondere im Hinblick auf das politische Ziel der Vermeidung bzw. Begrenzung von Al­ tersarmut als vertane Chance zu betrachten. So positiv es zunächst erscheint, dass nach zwei Jahrzehnten der kumulativen Leistungsverschlechterung in der GRV ein Bundesgesetz wieder das erklärte Ziel hat, Leistungsverbesserungen in der GRV vorzunehmen, so eindeutig sind die Unzulänglichkeiten und Fehler dieses Reformgesetzes: Obwohl das Thema „Altersarmut“ seit Jahren ziemlich weit oben auf der sozialpolitischen Agenda steht, ist das „Rentenpaket“ der Bundesregierung grundsätzlich nicht dazu konzipiert worden, aktuelle oder zukünftige Altersarmut zu reduzieren- so wird das Wort „Armut“ im Gesetzentwurf zum „RV-Leistungsverbesserungsgesetz“ bezeichnenderweise nicht ein einziges Mal erwähnt. Die leistungsverbes­ sernden Maßnahmen folgen, wie es der mit dem „Rentenpaket“ verknüpfte Slogan der Bundesregierung „Verdient, nicht geschenkt“ (BMAS 2014) verdeutlicht, vielmehr einer Logik der selektiven Honorierung von „Lebens­ leistung“ (Kindererziehung bzw. langjährige Beitragszahlung), durch die (wahrgenommene oder reale) „Gerechtigkeitslücken“ geschlossen werden sollen. Auf diese Weise kommt es zu äußerst fragwürdigen sozialpolitischen Prioritätensetzungen: Auch in langfristiger Perspektive will die Bundesre­ gierung deutlich mehr Geld ausgeben, um langjährigen Beitragszahlern zu­ sätzliche Vergünstigungen zu finanzieren („Rente ab 63“), als sie dafür ausgeben will, die oftmals prekäre Situation von Erwerbsminderungsrent­

388 VII. „Altersarmut“ als Gegenstand der aktuellen Alterssicherungspolitik Tabelle 53 Eingeplante Mehrausgaben im Rahmen des RV-Leistungsverbesserungsgesetzes in Mrd. Euro (heutige Werte) 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2025 2030 „Mütterrente“

3,3

6,7

6,6

6,6

6,6

6,6

6,6

  6,5

 6,1

„Rente ab 63“

0,9

1,9

2,2

2,0

1,9

1,8

1,8

 2,1

 3,1

Erwerbsminderungsrente

0,1

0,2

0,3

0,4

0,5

0,7

0,8

 1,4

 2.1

Reha-Budget

0,1

0,2

0,2

0,2

0,2

0,2

0,2

 0,0

–0,3

Gesamt

4,4

9,0

9,3

9,3

9,3

9,3

9,4

10,0

11,0

Quelle: Deutscher Bundestag 2014: 3.

nern zu verbessern. Ein nicht unwesentlicher Teil der sicherlich begrenzten Finanzmittel wird somit eben gerade nicht dahin gelenkt, wo sie am drin­ gendsten benötigt werden, sondern eher in eine zum Teil geradezu kliente­ listisch anmutende Politik selektiver Vergünstigungen für ausgewählte (Wähler-)Gruppen. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Bundesregierung auch in der jetzigen Legislaturperiode zumindest bislang keine Maßnahmen ergrif­ fen hat, die der ernsthaften „Bekämpfung der Altersarmut“ dienen. Stattdes­ sen ist ein relativ teures „Rentenpaket“ verabschiedet worden, welches nicht nur relativ wenig zur Armutsvermeidung beiträgt (und hierfür auch gar nicht konzipiert ist), sondern zudem auch noch falsch finanziert ist. Die sozialpo­ litisch teuer erkauften Finanzreserven der gesetzlichen Rentenversicherung werden auf diese Weise innerhalb weniger Jahre weitgehend aufgebraucht sein. Da die Bundesregierung erklärtermaßen an den gesetzlich fixierten Beitragssatzobergrenzen festhalten will, ist daher zu befürchten, dass die ohnehin stakt begrenzten finanziellen Spielräume für „echte“ Maßnahmen zur Begrenzung der Altersarmut durch das „Rentenpaket“ noch weiter redu­ ziert werden. d) Zwischenfazit Seit der Ankündigung von Maßnahmen zum „Kampf gegen Altersarmut“ im damaligen Koalitionsvertrag für die 17. Legislaturperiode zwischen CDU / CSU und FDP vom Oktober 2009 sind mittlerweile rund 6  Jahre vergangen; in dieser Zeit hat der Gesetzgeber jedoch zumindest im Bereich der Alterssicherungspolitik streng genommen keine einzige Maßnahme be­



2. Armutsvermeidung durch „Anerkennung von Lebensleistung“? –389

schlossen, die einen substanziellen Beitrag zu dieser Zielsetzung leistet. Wie die vorangegangenen Abschnitte gezeigt haben, orientieren sich sowohl die bisher beschlossenen Maßnahmen (RV-Leistungsverbesserungsgesetz) als auch die angekündigten, bislang aber noch nicht umgesetzten Vorhaben („Zuschussrente“ bzw. „Solidarische Lebensleistungsrente“) nicht oder nur sehr eingeschränkt an dem Ziel der möglichst flächendeckenden Vermei­ dung zukünftiger Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter. Den maßgeblichen Akteuren in der Rentenpolitik scheint es vielmehr darum zu gehen, „die durch die anhaltend befürworteten Rentenniveaukürzungen und durch („un­ verschuldete“) atypische Beschäftigung gefährdete Unterscheidung von „verdienter“ Alterssicherung und voraussetzungslosem Fürsorgebezug wie­ der zu stärken, die ihnen für die dauerhafte Akzeptanz des beitragsfinanzier­ ten Pflichtsystems von entscheidender Bedeutung zu sein scheint“ (Brosig 2014: 36 / 37). Es zeichnet sich eine Rentenpolitik ab, die einerseits mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit der Sicherung der finanziellen „Nachhaltigkeit“ und der „Generationengerechtigkeit“ der GRV am Primat der Beitragssatzbe­ grenzung und damit auch an der langfristigen Absenkung des Leistungsni­ veaus der GRV festhält, die zugleich aber durch eine Politik der selektiven „Anerkennung von Lebensleistung“ bestimmte Gruppen von „Normerfül­ lern“ vor den negativen Auswirkungen dieser Politik schützen und auf diese Weise privilegieren will. Eine solche Politik der selektiven ex-postKompensation ist zwar möglicherweise eine eher „preiswerte“ Alternative und erfüllt somit die haushalts- und wirtschaftspolitischen Vorgaben; sie wird Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter auf breiter Front allerdings nicht verhindern können und ist hinsichtlich ihrer sozialen Selektivität äu­ ßerst problematisch. Gerade das im Frühjahr 2014 verabschiedete RVLeistungsverbesserungsgesetz zeigt auf, dass eine Strategie der selektiven, zielgruppenbezogenen Anerkennung von „Lebensleistung“ stets mit der Gefahr verbunden ist, (partei-)politisch instrumentalisiert zu werden, um zugunsten der eigenen Klientel und der eigenen Wählergruppen rentenpoli­ tische Privilegien zu installieren. In der Präambel des Koalitionsvertrags zwischen CDU / CSU und SPD vom November 2013 wird die Alterssicherungspolitik der der aktuellen Le­ gislaturperiode unter das Leitmotto „Altersarmut verhindern-Lebensleistung würdigen“ gestellt (CDU / CSU / SPD 2013: 9). Quintessenz der in den voran­ gegangenen Abschnitten vorgenommenen Analyse ist jedoch die keinesfalls überraschende Erkenntnis, dass es sich bei der Verhinderung von Altersarmut und der „Anerkennung von Lebensleistung“ um zwei verschiedene Zielset­ zungen handelt, zwischen denen allenfalls partielle Überschneidungen beste­ hen. Der in der Alterssicherungspolitik der letzten Jahre dominierende An­

390 VII. „Altersarmut“ als Gegenstand der aktuellen Alterssicherungspolitik

satz, „Lebensleistung in der Rente (zu) honorieren“ (CDU / CSU / SPD 2013: 52), ist letztlich weder zur möglichst flächendeckenden Vermeidung von Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter noch zur Sicherung der Legitimati­ onsgrundlagen der GRV geeignet. Er wird immer notwendigerweise selektiv bleiben und daher mit neuen Grenzziehungen und neuen Ungerechtigkeiten verbunden sein; die GRV wird in diesem Zusammenhang in die Rolle einer „Richterin über die Gesamtlebensleistung“ gedrängt, an der sie letztlich nur scheitern kann. Um die zu erwartende Zunahme unzureichender (eigenständiger) Einkom­ men, prekärer Lebenslagen und Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter ursa­ chengerecht und wirksam zu begrenzen, erscheint eine übergreifende Ge­ samtkonzeption notwendig, die sich nicht aus fiskalischen Kostenbegren­ zungszielen und fragwürdigen gesellschaftlichen Anerkennungsordnungen, sondern vielmehr aus einem genuin sozialpolitischen Sicherungsziel ableitet. Von zentraler Bedeutung ist dabei die Frage, welche Rolle die GRV als nach wie vor wichtigste und auch in Zukunft tragende Säule des deutschen Alterssicherungssystems in einem Gesamtkonzept zur Vermeidung bzw. Begrenzung zukünftiger Altersarmut spielen soll. Angesichts der Komplexi­ tät und der Größenordnung des Problems sollte zumindest eines klar sein: „Die Verhinderung von Altersarmut ist nicht kostenneutral“ (Kumpmann 2011: 291).

VIII. Konsequenzen und Handlungsempfehlungen 1. Ziele und Handlungsebenen einer lebenslauforientierten und lebensbegleitenden Alterssicherungspolitik Die nachfolgenden Ausführungen sollen auf eine doppelte Fragestellung antworten: Erstens auf die Frage nach der zielführendsten Strategie zur Vermeidung eines übermäßigen Anstiegs der Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter und zweitens auf die Frage nach der sozialpolitischen Funktions­ bestimmung der GRV im Drei-Säulen-System der Alterssicherung. Hierzu wird ein übergreifendes Konzept vorgestellt, welches auf die Gewährleis­ tung einer eigenständigen Existenzsicherung im Alter für alle Bürgerinnen und Bürger abzielt und im Sinne einer lebenslauforientierten und lebens­ begleitenden Alterssicherungspolitik mehrere alterssicherungsexterne und -interne Handlungsebenen umfasst. Wenn es darum geht, die Adressatengruppe und das konkrete Sicherungs­ ziel der sozialpolitischen Intervention zu definieren, kommt ein Konzept zur Vermeidung zukünftiger Armut im Alter nicht ohne politisch-normative Setzungen aus. Diese gilt es explizit zu machen und zu begründen. In die­ sem Zusammenhang ist der Rekurs auf die klassische Sozialstaatsdefinition Hans F. Zachers hilfreich, nach der der Sozialstaat als ein Staat verstanden werden kann, „der den wirtschaftlichen und wirtschaftlich bedingten Ver­ hältnissen in der Gesellschaft wertend, sichernd und verändernd mit dem Ziel gegenübersteht, jedermann ein menschenwürdiges Dasein zu gewähr­ leisten, Wohlstandsunterschiede zu verringern und Abhängigkeitsverhältnis­ se zu beseitigen oder zu kontrollieren“ (Zacher 1977: 237). Eben dieser letzte Aspekt, die Beseitigung bzw. Vermeidung von Abhängigkeitsverhält­ nissen, bildet den normativen Ausgangspunkt des hier vorgestellten Kon­ zepts; im Kontext der Alterssicherung geht es dabei in erster Linie um die Gewährleistung finanzieller Unabhängigkeit, um die Ermöglichung selbstbe­ stimmter ökonomischer Teilhabe im Alter. Das Ziel der individuellen Autonomie, der finanziellen Unabhängigkeit im Alter, bezieht sich dabei sowohl auf die Nicht-Abhängigkeit von bedarfsge­ prüften staatlichen Mindestsicherungsleistungen als auch auf die Nicht-Ab­ hängigkeit von Unterhaltsleistungen dritter Personen, z. B. des (Ehe-)Partners oder sonstiger Angehöriger. Ein individuelles, auf eigenständigen Ansprü­ chen beruhendes Einkommen in ausreichender, die Deckung des soziokultu­

392

VIII. Konsequenzen und Handlungsempfehlungen

rellen Existenzminimums garantierender Höhe bildet hierfür die Grundlage. Sozialpolitisches Mindestsicherungsziel einer lebenslauforientierten und le­ bensbegleitenden Alterssicherungspolitik ist daher die flächendeckende Ver­ meidung von Grundsicherungsbedürftigkeit und finanzieller Abhängigkeit im Alter durch die Gewährleistung eines existenzsichernden eigenständigen Al­ terseinkommens für alle Bürgerinnen und Bürger. Das hier vorgeschlagene Konzept zielt jedoch nicht auf einen radikalen Systemwechsel in der Alters­ sicherung ab, etwa in Form einer „Grundrente“ oder eines „bedingungslosen Grundeinkommens“ im Alter; Ziel sollte vielmehr sein, das bestehende Al­ terssicherungssystem im Rahmen einer sozialen Lebenslaufpolitik dergestalt weiterzuentwickeln und umzugestalten, dass alle Bürgerinnen und Bürger eine realistische Chance erhalten, das hier formulierte Mindestsicherungsziel durch eigene Altersvorsorgeanstrengungen zu erreichen. Die Aufgabe der flächendeckenden Gewährleistung einer eigenständigen Existenzsicherung kann dabei nicht auf mehrere, weitgehend unabhängig voneinander operierende Systeme bzw. „Säulen“ verteilt werden, aus deren Zusammenspiel sich ein ausreichendes individuelles Sicherungsniveau erge­ ben soll. Denn die freiwilligen Systeme der betrieblichen und privaten Al­ tersvorsorge sind für die Zielsetzung der Grundsicherungsbedürftigkeitsver­ meidung im Alter größtenteils ungeeignet. Sieht man einmal von der grundsätzlichen Erwägung ab, dass der Versuch der Indienstnahme privat­ wirtschaftlicher, auf Gewinnerzielung ausgerichteter Vorsorgeinstanzen für sozialstaatliche Kernaufgaben wie die Armutsvermeidung im Alter bereits im Ansatz höchst fragwürdig ist, so muss festgestellt werden, dass betrieb­ liche und private Systeme, die auf Freiwilligkeit beruhen, eine Reihe von Eigenschaften aufweisen, die mit der Sicherstellung verlässlicher existenz­ sichernder Alterseinkünfte schwer vereinbar sind. Erstens sind betriebliche und private Vorsorgeformen in der Regel bei­ trags- und nicht leistungsdefiniert; unverbindliche Beispielrechnungen kön­ nen nicht darüber hinwegtäuschen, dass aufgrund der versteckten Kosten und der Kapitalmarkt- und Anlagerisiken, die allein vom Versicherungsneh­ mer zu tragen sind, im Rahmen einer Beitragszusage bereits per Definition kein Alterseinkommen in einer verlässlichen Höhe garantiert werden kann. Zweitens wirkt freiwillige betriebliche und private Altersvorsorge sozial höchst selektiv, denn gerade bei denjenigen, die mit vergleichsweise niedri­ gen GRV-Renten rechnen müssen, ist die Bereitschaft bzw. die Fähigkeit zur Altersvorsorge vergleichsweise gering ausgeprägt. Trotz der relativ großzü­ gigen Zulagenförderung, die Niedrigeinkommensbezieher und insbesondere Haushalte mit Kindern im Rahmen der „Riester-Rente“ erhalten können (Loose / Thiede 2012), zeigen die vorliegenden empirischen Befunde, dass niedrige Erwerbs- und Haushaltseinkommen nach wie vor mit einer unter­ durchschnittlichen Inanspruchnahme der Riester-Rente einhergehen (Geyer



1. Ziele und Handlungsebenen der Alterssicherungspolitik393

2011, 2012). Die betriebliche Altersvorsorge wiederum geht oftmals an eben jenen vorbei, die arbeitslos, prekär und / oder im Niedriglohnsektor beschäf­ tigt sind und daher zu den zentralen Zielgruppen der Altersarmutsprävention gehören. Drittens kann aufgrund der Freiwilligkeit nicht garantiert werden, dass abgeschlossene Vorsorgeverträge bis zum Renteneintritt durchgehalten wer­ den und somit auch tatsächlich zu regelmäßigen monatlichen Zusatzeinkünf­ ten im Alter führen. Dieses grundlegende Manko der freiwilligen privaten Altersvorsorge wird nicht zuletzt auch durch die Ergebnisse unserer empi­ rischen Untersuchung eindrucksvoll bestätigt: Insbesondere in der Teilgrup­ pe der ehemaligen Selbstständigen zeigt sich, dass bestehende Lebensversi­ cherungsverträge trotz ursprünglich „guter“ Absichten der Versicherungs­ nehmer oftmals unter Inkaufnahme hoher Verluste vorzeitig aufgelöst, über Jahre hinweg „auf Eis gelegt“ oder im Falle von Konkurs oder Insolvenz gepfändet worden sind. Auch für die (zumindest dem Grundsatz nach) pfän­ dungs- und insolvenzsicheren Riester-Verträge gilt, dass sie vor (dauerhaf­ ten) Beitragsfreistellungen und vorzeitiger Kündigung durch den Versiche­ rungsnehmer nicht geschützt sind. Gerade hier, in der „Kurzsichtigkeit“ bzw. der (zum Teil notgedrungenen) Gegenwartpräferenz der Versicherungs­ nehmer, liegt das spezifische Risiko freiwilliger Vorsorgesysteme. Das Mindestsicherungsziel der verlässlichen und nachprüfbaren Gewähr­ leistung einer eigenständigen Existenzsicherung kann daher nur durch ein umfassendes, auf Pflichtmitgliedschaft und Beitragspflicht beruhendes Sys­ tem gewährleistet werden; dies kann in Deutschland nur die GRV sein. Dies bedeutet, dass die im Rahmen der „neuen deutschen Alterssicherungspolitik“ und ihres Drei-Säulen Konzepts auf die Rolle einer „Basissicherung“ ge­ schrumpfte und zwischenzeitlich arg in die Defensive gedrängte GRV poli­ tisch und finanziell wieder gestärkt, hinsichtlich ihrer Pflichtversicherten­ kreises deutlich ausgeweitet und mit einem expliziten sozialpolitischen Si­ cherungsauftrag versehen werden sollte. Die GRV kann und sollte im Rahmen ihrer bisherigen Systemlogik je­ doch nicht zu einer umfassenden Instanz der nachträglichen Schicksalskor­ rektur ausgebaut werden; mit dieser Aufgabe wäre sie überfordert. Dort wo möglich, sollte vielmehr eine präventive, der Rentenpolitik vorgelagerte Strategie greifen, die den nachträglichen Reparaturbedarf so weitgehend wie möglich reduziert. Nach wie vor gilt, dass „gute“ Erwerbs- und Vorsorge­ biografien die beste Voraussetzung für ein ausreichendes eigenständiges Einkommen sind. Der Fokus der Intervention sollte sich daher von der nachträglichen Kompensation zur lebensbegleitenden Prävention verschie­ ben: Der beste Weg, Grundsicherungsbedürftigkeit und finanzielle Abhän­ gigkeit im Alter zu vermeiden, besteht darin, Regelungen mit dem Ziel zu treffen, dass möglichst alle Bürgerinnen und Bürger im Verlauf ihrer Bio­

394

VIII. Konsequenzen und Handlungsempfehlungen

grafie durch eigene Beitragsleistungen einen Einkommensanspruch in aus­ reichender Höhe aufbauen können, um im Alter über ein existenzsicherndes persönliches Einkommen zu verfügen. Aus der Perspektive einer sozialen Lebenslaufpolitik ist eine präventive, lebenslaufbegleitende Unterstützung beim Aufbau eigener Anwartschaften in der GRV daher weitaus angemesse­ ner und zielführender als die nachträgliche Kompensation unzureichender Alterseinkünfte durch den Einbau bedarfsgeprüfter und an weitere Bedin­ gungen geknüpfter Aufstockungsleistungen in das bestehende System. Präventive Ansätze haben jedoch den Nachteil, dass sie ihre volle Wir­ kung erst nach Jahrzehnten entfalten; die zwischen 1955 und 1969 gebore­ nen, zahlenmäßig starken Jahrgänge der „Babyboomer“, die sich bereits in ihrer zweiten Lebenshälfte befinden und in etwa in den Jahren 2020 bis 2035 die zum jeweiligen Zeitpunkt geltende Regelaltersgrenze erreichen werden, können mit schwerpunktmäßig präventiven Ansätzen nur noch sehr eingeschränkt erreicht werden. Ein umfassendes Konzept zur Vermeidung bzw. Begrenzung von Altersarmut muss solche Fragen des Zeithorizontes berücksichtigen und daher zumindest für einen Übergangszeitraum auch nachsorgend- kompensatorische, kurz- und mittelfristig wirksame Maßnah­ men und Instrumente beinhalten. Aus den vorangegangenen Überlegungen bezüglich des sozialpolitischen Sicherungsziels, der zentralen Stellung der GRV für eine Politik der Ar­ mutsbegrenzung, der generellen Präferenz für einen präventiven Ansatz und der Notwendigkeit der Berücksichtigung variabler Zeithorizonte lassen sich für eine umfassende Strategie der Altersarmutsvermeidung insgesamt vier komplementäre Handlungsebenen ableiten, zwischen denen zugleich auch eine interventionslogische Rangfolge besteht: Die Ermöglichung „guter“ bzw. „gelungener“ individueller (Erwerbs-)Biografien, die Unterstützung beim Aufbau lückenloser Versicherungsbiografien, die nachträgliche Kom­ pensation unzureichender Alterseinkünfte und die bedarfsgerechte(re) und niedrigschwellige(re) Ausgestaltung der Grundsicherung im Alter. Alle vier Handlungsebenen sind grundsätzlich notwendig und relevant. Dennoch gilt: Je entschiedener und erfolgreicher auf der jeweils übergeord­ neten bzw. „vorgeschalteten“ Handlungsebene agiert und vorgegangen wird, desto geringer ist tendenziell der Handlungsbedarf auf der jeweils nachge­ lagerten Ebene. In langfristiger Perspektive erfolgt die präventive Vermei­ dung von Altersarmut durch die Verknüpfung einer sozialen Lebenslauf­ politik, die in der „aktiven“ Lebensphase auf eine eigenständige Existenz­ sicherung durch Erwerbsarbeit für jede und jeden setzt, mit der Weiter­ entwicklung der GRV zu einem universellen Alterssicherungssystem mit Mindestbeitragspflicht, das auf die Gewährleistung kontinuierlicher Versi­ cherungsbiografien abzielt. Für die (dem Anspruch nach eher begrenzte)



1. Ziele und Handlungsebenen der Alterssicherungspolitik

395

Tabelle 54 Handlungsebenen der Altersarmutsbegrenzung I

Ermöglichung „guter“ (Erwerbs-)Biografien (soziale Lebenslaufpolitik) • Bildungspolitik: Verbesserung der Chancengleichheit im Bildungssystem, Schaffung von Strukturen für lebenslanges Lernen • Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik: Verbesserung der Arbeitsmarkt­ chancen von Geringqualifizierten, Abschaffung sozialversicherungsfreier Arbeitsverhältnisse, gesetzlicher Mindestlohn, Stärkung der Tarifauto­ nomie • Familienpolitik: Verbesserung der Vereinbarkeit von Erwerbs- und Fürsor­ gearbeit für beide Geschlechter, Abbau steuerlicher Fehlanreize (Ehegat­ tensplitting) • Gesundheitspolitik: Verhaltens- und Verhältnisprävention, Stärkung des be­ trieblichen Gesundheits- und Ein­gliede­rungs­management, „Reha vor Rente“

II

Aufbau einer lückenlosen Versichertenbiografie (universelles Alterssicherungssystem mit Mindestbeitrag) • Universalisierung der GRV (Bürgerversicherung) • Mindestbeitragspflicht und Mindestsicherungsziel • Mindestbemessungsgrundlage bei niedrigem Arbeitsentgelt, steuerfinan­ zierte Beitragszuschüsse • Wiedereinführung der Beitragszahlung für Langzeitarbeitslose

III

Nachträgliche Kompensation unzureichender Alterseinkünfte (Stärkung des sozialen Ausgleichs) • Verlängerung der Rente nach Mindesteinkommen • Weitere Maßnahmen zur Stärkung des sozialen Ausgleichs (?) • Verbesserungen bei der Absicherung der Erwerbsminderung (Zurech­ nungszeit, Abschläge) • Beibehaltung des Rentenniveaus (Aussetzung der „Dämpfungsfaktoren“ in der Rentenanpassungsformel)

IV

Bedarfsgerechte und niedrigschwellige Ausgestaltung der Grundsicherung im Alter • Angemessene Regelsätze und Kosten der Unterkunft • Initiativen zum Abbau der „verschämten Altersarmut“, engere Verknüp­ fung mit Sozialer Arbeit / Altenhilfe • Verbesserung der Hinzuverdienstmöglichkeiten • Übergangsmanagement: Gewährleistung nahtloser Übergänge in die Grund­ sicherung

Quelle: Eigene Darstellung.

396

VIII. Konsequenzen und Handlungsempfehlungen

Zahl an Fällen, in denen diese lebenslaufbezogene und lebensbegleitende Präventionspolitik die individuelle Grundsicherungsbedürftigkeit im Ergeb­ nis nicht vermeiden kann, springt auch in Zukunft die bedarfsgeprüfte Grundsicherung im Alter ein. Bis dieses langfristig ausgerichtete Gesamt­ konzept voll greifen kann, müssen für einen Übergangszeitraum die system­ internen Mechanismen des sozialen Ausgleichs in der GRV ausgebaut und gestärkt werden. Im Folgenden werden die verschiedenen Handlungsebenen einer lebenslauforientierten und lebensbegleitenden Alterssicherungspolitik im Einzelnen dargestellt und erläutert. 2. Ermöglichung gelungener (Erwerbs-)Biografien durch soziale Lebenslaufpolitik Ein präventiver Ansatz setzt zuallererst an den individuellen und struktu­ rellen Ursachen der Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter an. Die erste und oberste Handlungsebene einer Politik der Altersarmutsbegrenzung bezieht sich somit auf die Korrektur der armutsverursachenden Verhältnisse, insbe­ sondere auf die Veränderung der Erwerbsbiografien und ihrer Rahmenbedin­ gungen. Soziale Lebenslaufpolitik zielt in diesem Sinne auf die aktive poli­ tische Gestaltung der institutionellen Rahmenbedingungen individueller Lebensverläufe ab (Klammer 2004, 2005, 2006a, 2006b, 2008, 2010, 2012; Sachverständigenkommission Gleichstellungsbericht 2011; Naegele 2010b, 2012; Berner et al. 2010). Ihre sozialpolitische Zielsetzung besteht darin, „Menschen aller Altersgruppen und in allen Lebensphasen darin zu befähi­ gen und zu unterstützen, Optionen nicht nur für eine selbst- und mitverant­ wortliche, sondern auch aus sozialpolitischer Sicht (möglichst) risiko- und problemfreie Gestaltung der eigenen Biografie zu bieten und sie zugleich darin zu unterstützen, diese zu erkennen und zu nutzen“ (Naegele 2010b: 56). Soziale Lebenslaufpolitik verfolgt dabei einen explizit präventiven, lang­ fristig orientierten Ansatz: Sozialpolitische Interventionen sollen strategisch nicht nur auf die Bearbeitung und Absicherung von sozialen Risiken in einzelnen biografischen Stationen bzw. einzelnen Lebensphasen der Men­ schen ausgerichtet sein, sondern dabei immer auch das Ziel der Vermeidung bzw. Reduzierung sozialpolitisch problematischer Folgewirkungen in späte­ ren Lebensphasen in den Blick nehmen. In umgekehrter Blickrichtung geht es darum, Risiken und Probleme in späten Lebensphasen vorausschauend zu erkennen und durch möglichst frühzeitige, d. h. in zeitlich vorgelagerten Lebensphasen ansetzende Interventionen mit „Langfristwirkung“ zu über­ winden. Eine soziale Lebenslaufpolitik mit dem Ziel der präventiven Ver­ meidung von Altersarmut setzt in diesem Sinne auf die „Bekämpfung und Überwindung von armuts(mit)bestimmenden Risiken und Problemen in



2. Gelungene (Erwerbs-)Biografien durch soziale Lebenslaufpolitik397

früheren Stadien der Lebensläufe mit längerfristigen Wirkungen für das Alter“ (Naegele et  al. 2013: 450). Das persönliche Alterseinkommen ist in erster Linie das Produkt der individuellen Erwerbs- und Vorsorgebiografie. Wenn man mit guten Grün­ den als Mindestsicherungsziel für das deutsche Alterssicherungssystem for­ muliert, dass möglichst alle Bürgerinnen und Bürger im Alter finanziell unabhängig, d. h. weder auf Unterhaltsleistungen des Partners noch auf bedarfsgeprüfte Transferleistungen des Staates angewiesen sind, dann be­ deutet dies letztlich, dass man auch in der Erwerbsphase von der Leitvor­ stellung einer eigenständigen Existenzsicherung durch Erwerbsarbeit für möglichst alle Bürgerinnen und Bürger ausgehen muss; die Universalisie­ rung der eigenständigen Existenzsicherung im Alter lässt sich ohne eine Universalisierung der eigenständigen Existenzsicherung in der Erwerbspha­ se schwer denken. Der zentrale Ansatzpunkt für die Vermeidung von Grundsicherungsbedürftigkeit und finanzieller Abhängigkeit im Alter liegt somit für Männer ebenso wie für Frauen in der Ermöglichung und Förde­ rung einer „guten“ bzw. „gelungenen“ Erwerbsbiografie, die über den ge­ samten Lebensverlauf hinweg ein ausreichendes verfügbares Einkommen generiert und dadurch zugleich auch die Möglichkeit einer ausreichenden Altersvorsorge eröffnet. Erwachsene im Sinne des adult worker models grundsätzlich als finanzi­ ell unabhängige Erwerbstätige zu betrachten, ist jedoch nicht mit einer ausschließlichen Fixierung auf die Normalitätsfiktion eines lebenslang durchgängig vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmers verbunden; es geht um die Ermöglichung einer Spannbreite von Lebensmodellen und nicht um das sozial- und gesellschaftspolitische Vorschreiben eines „Standardmodells“. Gefordert ist daher eine Politik, die grundsätzlich von einem Leitbild glei­ cher Verwirklichungschancen von Männern und Frauen im Beschäftigungs­ system ausgeht und dementsprechend auf die Förderung kontinuierlicher Beschäftigung abzielt, die zugleich aber auch Raum für gesellschaftlich sinnvolle und anerkannte Tätigkeiten wie familiäre Sorgearbeit lässt und durch geeignete Regelungen und Vorkehrungen sicherstellt, dass Einschrän­ kungen und Unterbrechungen der Erwerbstätigkeit für eben diese Tätigkei­ ten nicht zu langfristigen Nachteilen für die individuellen Beschäftigungsund Einkommenschancen und damit auch für das spätere Alterseinkommen führen. Die Sachverständigenkommission zur Erstellung des ersten Gleichstel­ lungsberichts hat in diesem Zusammenhang das Leitbild einer „Gesellschaft mit Wahlmöglichkeiten“ (Sachverständigenkommission Gleichstellungsbe­ richt 2011: 31) formuliert, das darauf abzielt, sowohl für Männer als auch für Frauen die strukturellen Voraussetzungen für eine reale Optionsvielfalt in unterschiedlichen Lebensphasen zu schaffen. Lebenslaufpolitik kann so­

398

VIII. Konsequenzen und Handlungsempfehlungen

mit als eine Strategie verstanden werden, die darauf abzielt, für alle Bürge­ rinnen und Bürger eine optimale Teilhabe an Erwerbsarbeit und anderen gesellschaftlich sinnvollen Aktivitäten wie Fürsorgearbeit über den gesamten Lebenslauf zu fördern und zu unterstützen; Frauen wie Männer sollen in die Lage versetzt werden, Erwerbsarbeit und andere sinnvolle Tätigkeiten zu einem bestimmten Zeitpunkt im Leben zu synchronisieren sowie zugleich auch vielfältige Präferenzen und Entscheidungen über den Lebenslauf zu verteilen (zu diachronisieren) (vgl. Klammer 2012: 60). Um die institutionellen Rahmenbedingungen für gelungene Erwerbs- und Versicherungsbiografien und den Aufbau einer ausreichenden eigenständigen Altersversorgung substanziell zu verbessern, sollten die verschiedenen Poli­ tikbereiche die die individuellen Lebensverläufe der Menschen maßgeblich beeinflussen, besser aufeinander abgestimmt und miteinander verzahnt wer­ den. Dies betrifft unter anderem die Bildungspolitik, die Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik, die Familien- und Gleichstellungspolitik und die Ge­ sundheitspolitik. Die detaillierte Darstellung der Gesamtheit der im Rahmen einer sozialen Lebenslaufpolitik zu treffenden Maßnahmen in den verschiede­ nen Bereichen würde den Rahmen der vorliegenden Studie sprengen (vgl. hierzu die Beiträge in Naegele 2010a); im Folgenden kann daher nur ein kur­ sorischer Überblick über die wichtigsten Handlungsfelder gegeben werden. a) Bildungspolitik: Investitionen in ein chancengerechteres Bildungssystem Individuelle Lebens- und Erwerbsverläufe werden durch Bildung und Ausbildung oftmals entscheidend geprägt; die schulische und berufliche Ausbildung beeinflusst in starkem Maße die gesamte Erwerbsbiografie und das Lebenseinkommen. Unzureichende Bildung im Sinne eines fehlenden Schul- oder Ausbildungsabschlusses sowie mangelnder Weiterbildung ist mit erheblichen Beschäftigungs- und Einkommensrisiken verbunden, die sich langfristig auch negativ auf das Alterseinkommen auswirken. Verein­ facht gesagt sind Menschen ohne Schul- oder Ausbildungsabschluss häufi­ ger und häufiger dauerhaft arbeitslos und haben ein geringeres lebensdurch­ schnittliches Einkommen; aufgrund größerer Lücken und geringer Beitrags­ leistungen in ihrer Versicherungsbiografie haben sie damit auch ein erhöhtes Risiko späterer Altersarmut. Angesichts der wachsenden Qualifikationsbe­ darfe auf dem deutschen Arbeitsmarkt ist für die Zukunft davon auszugehen, dass sich die Perspektiven von Personen mit unzureichender Bildung nicht verbessern, sondern eher noch verschlechtern werden. Die Bekämpfung von Altersarmut, die Begrenzung der Grundsicherungs­ bedürftigkeit im Alter, beginnt daher bei der Bekämpfung von Bildungsar­



2. Gelungene (Erwerbs-)Biografien durch soziale Lebenslaufpolitik399

mut. Aktuell haben rund 1,5 Millionen junge Erwachsene im Alter zwischen 25 und 34  Jahren in Deutschland weder einen Ausbildungsabschluss noch ein Abitur; zugleich starten Jahr für Jahr weitere 150.000 junge Menschen ohne Ausbildungsabschluss und mit dementsprechend schlechten Zukunfts­ perspektiven in ihr Berufsleben (Allmendinger et al. 2011: 9). Oberstes Ziel der Bildungspolitik muss daher sein, sowohl die absolute Anzahl als auch den relativen Anteil von Personen mit unzureichender Bildung deutlich zu reduzieren. Die Erfolgschancen in Schule und Ausbildung sollten so weit wie möglich unabhängig von der sozialen oder ethnischen Herkunft der Jugendlichen sein. Mittelfristig sollte kein Jugendlicher die Schule mehr ohne Abschluss verlassen; jeder Jugendliche mit einem Schulabschluss soll­ te zudem die garantierte Chance erhalten, eine Ausbildung zu absolvieren. Personen mit unzureichender Bildung sollten zudem verbesserte Chancen erhalten, fehlende Abschlüsse auch im Erwachsenenalter nachzuholen. Die substanzielle Reduktion unzureichender Bildung erfordert eine beson­ dere Förderung und Unterstützung für die im Bildungssystem bislang be­ nachteiligten Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Aus der Pers­ pektive einer sozialen Lebenslaufpolitik setzen präventive, langfristig wirksame Maßnahmen dabei bereits in der (frühen) Kindheitsphase, bei den Krippen und Kindertageseinrichtungen an. Gute frühkindliche Bildung ist einer der entscheidenden Faktoren für mehr Chancengerechtigkeit, denn durch eine frühe Förderung können herkunftsbedingte und soziale Unter­ schiede am besten ausgeglichen werden. Das Ziel, allen Kindern unabhängig von ihrer sozialen Herkunft und ihrem Wohnort eine hohe Qualität an früh­ kindlicher Bildung und Förderung zu gewährleisten, erfordert zusätzliche Anstrengungen. Nachdem sich die Politik in den letzten Jahren zunächst auf den quantitativen Ausbau des Betreuungsangebotes konzentriert hat, sollten angesichts des wichtiger gewordenen Bildungsauftrags der Kindertagesbe­ treuung in der näheren Zukunft wieder stärker Fragen der Qualitätsentwick­ lung und Qualitätssicherung (kind- und altersgerechte Personalschlüssel, interkulturelle Kompetenz der Erzieher / -innen, Sprachförderung von Kin­ dern mit nicht-deutscher Familiensprache etc.) im Mittelpunkt stehen. Zu­ dem ist nach Möglichkeiten zu suchen, wie die nach wie vor zu niedrige Bildungsbeteiligungsquote von Kindern mit Migrationshintergrund sowie Kindern aus sozial benachteiligten Haushalten verbessert werden kann (Au­ torengruppe Bildungsberichterstattung 2014: 56). Im Schulbereich sind weitere Anstrengungen zur Verringerung der Schul­ abbruchsquote notwendig. Obwohl die Quote der Jugendlichen, die die Schule ohne Hauptschulabschluss verlassen, zwischen 2006 und 2012 er­ freulicherweise von rund 8 % auf knapp 6 % gesunken ist (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2014: 91), handelt es sich noch immer um jährlich knapp 50.000 Jugendliche; Schülerinnen und Schüler aus Förderschulen

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VIII. Konsequenzen und Handlungsempfehlungen

sind in dieser Hinsicht nach wie vor eine besondere Risikogruppe. Um die Zahl der Jugendlichen ohne Schulabschluss weiter zu reduzieren, sind wei­ tere Schritte in Richtung eines inklusiven Schulsystems mit flächendecken­ den Ganztagsschulen nötig, in dem jedes Kind unabhängig von seinem Lebenshintergrund und seinem Lerntempo bestmöglich individuell gefördert wird. Verstärkte Anstrengungen sind darüber hinaus auch bei der Gestaltung und Flankierung des Übergangs von der Schule in die Ausbildung bzw. in den Beruf nötig. Hier liegt ein grundsätzliches Problem in der Tatsache, dass das Angebot an betrieblichen und schulischen Ausbildungsplätzen auf­ grund sinkender Ausbildungs- und Ausbildungsbetriebsquoten im dualen System spätestens seit den 1990er Jahren quantitativ nicht mehr ausreicht, um allen Jugendlichen den Zugang zu einer vollqualifizierenden Berufsaus­ bildung zu ermöglichen. In jüngerer Zeit sind jedoch zunehmende Passungs­ probleme zu beobachten: Sowohl die Anzahl der „unversorgten“ Ausbil­ dungsplatzsuchenden als auch die Zahl der unbesetzten Ausbildungsplätze hat zugenommen (Matthes et al. 2014). Ein gutes Viertel der ausbildungs­ suchenden Jugendlichen landet zunächst in den verschiedenen Maßnahmen des sogenannten „Übergangssystems“, die im Hinblick auf den Eintritt in eine Ausbildung oftmals nur sehr begrenzt hilfreich sind. Zudem bricht ein nicht unerheblicher Anteil der Jugendlichen die Ausbildung vorzeitig ab und bleibt im Ergebnis ausbildungslos. Um allen ausbildungswilligen und -fähi­ gen Jugendlichen einen Ausbildungsplatz anbieten zu können und zugleich auch sicherzustellen, dass sie die Ausbildung erfolgreich abschließen, ist ein ganzes Bündel von Maßnahmen notwendig, die hier nicht im Detail aufge­ führt werden können; u. a. sind die Möglichkeiten zu prüfen, verstärkt niedrigschwellige und / oder modularisierte zweijährige Ausbildungen zu schaffen, die einen Anschluss an die bestehenden dreijährigen Ausbildungen ermöglichen. Im Hinblick auf die hohe Zahl der jungen Erwachsenen, die keine Aus­ bildung abgeschlossen, aber den größten Teil ihrer Erwerbsbiografie noch vor sich haben, sind verstärkte Initiativen zur Nachqualifizierung geboten. Der deutliche quantitative und qualitative Ausbau der beruflichen Nachqua­ lifizierung im Sinne einer größer angelegten „Nachqualifizierungsoffensive“, die die Zahl der jungen Erwachsenen ohne Ausbildungsabschluss deutlich reduzieren würde, wäre eine äußerst wichtige Maßnahme zur Begrenzung zukünftiger Altersarmut. Grundsätzlich sollten auch Erwachsene im Alter von 30 und mehr Jahren die Chance erhalten, sich weiter zu qualifizieren, schulische und berufliche Abschlüsse nachzuholen und auf diese Weise die Nachteile diskontinuierlicher Bildungsverläufe zu korrigieren. Wie bereits die von der Bundesregierung beauftragte Kommission zur „Finanzierung lebenslangen Lernens“ (2004) vorgeschlagen hat, wäre es hierfür zielfüh­



2. Gelungene (Erwerbs-)Biografien durch soziale Lebenslaufpolitik401

rend, ein umfassendes System der staatlichen Erwachsenenbildungsförde­ rung aufzubauen, in dessen Rahmen Erwachsene mit niedrigem Einkommen beim Nachholen schulischer und beruflicher Abschlüsse durch staatliche Zuschüsse und Darlehen für die Maßnahmekosten und den Lebensunterhalt gefördert werden (Bosch 2010). b) Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik: Abbau der Langzeitarbeitslosigkeit, Re-Regulierung des Arbeitsmarktes Aus der Perspektive der präventiven Altersarmutsvermeidung durch die Förderung möglichst kontinuierlicher Erwerbsbiografien kommt der Redu­ zierung der Langzeitarbeitslosigkeit eine herausragende Bedeutung zu. Zu den Schattenseiten der insgesamt sehr positiven Beschäftigungsentwicklung der letzten Jahre gehört die Existenz eines verfestigten Kerns von besonders schwer vermittelbaren Langzeitarbeitslosen, an denen der Wirtschaftsauf­ schwung größtenteils vorbeigegangen ist. Angesichts der Tatsache, dass viele der Betroffenen, die zu diesem „harten Kern“ gehören, durch eine besondere Arbeitsmarktferne, mangelnde Mobilität und eingeschränkte Ge­ sundheit gekennzeichnet sind, bedarf es gerade für diesen Personenkreis intensivierter Anstrengungen und gezielter Förderstrategien zur sozialen und gesundheitlichen Stabilisierung und zur Wiederherstellung der Beschäfti­ gungs- und Erwerbsfähigkeit. Da die in diesem Zusammenhang relevanten kommunalen Eingliederungsleistungen (Unterstützung bei Kinderbetreuung bzw. Pflegeaufgaben, Schuldner-, Sucht- und psychosoziale Beratung) bis­ lang jedoch lediglich als Ermessensleistungen angelegt sind, besteht die Gefahr, dass gerade in finanzschwachen Kommunen und Regionen, in de­ nen die Bedarfe tendenziell am größten sind, die benötigten finanziellen Mittel nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung stehen. Insofern er­ scheint es notwendig, ein System aufzubauen, das mittels verbindlicher bundesweiter Mindeststandards (und im Zweifelsfalle auch geeigneter finan­ zieller Mechanismen) sicherstellt, dass für die Betroffenen ein schneller Zugang zu qualitativ und quantitativ ausreichenden Angeboten auch unab­ hängig von der Finanzkraft der jeweiligen Kommune gewährleistet ist. Für den Erhalt der Arbeitsmarktnähe von Nichtleistungsempfänger / -innen (es handelt sich dabei überwiegend um Frauen) ist der Zugang zu den Leis­ tungen zur Eingliederung in Arbeit von großer Bedeutung. Dieser ist aktuell jedoch nicht uneingeschränkt gegeben: So gelten langzeitarbeitslose Perso­ nen mit einem erwerbstätigen (Ehe-)Partner, der über ein ausreichendes Einkommen verfügt, aufgrund der Anrechnung des Partnereinkommens als nicht hilfebedürftig. Mit dem Anspruch auf finanzielle Leistungen entfällt in der Regel auch der Zugang zu den verschiedenen Instrumenten und Maß­

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VIII. Konsequenzen und Handlungsempfehlungen

nahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik, wodurch die Chancen auf eine neue Beschäftigung verschlechtert werden. Insbesondere im Falle einer Trennung oder Scheidung vom (Ehe-)Partner besteht hier ein erhöhtes Ar­ beitslosigkeits- und Altersarmutsrisiko. Grundsätzlich ist daher sicherzustel­ len, dass der Zugang zu den Eingliederungsleistungen für Nichtleistungs­ empfänger / -innen uneingeschränkt gewährleistet wird, um die Option für eine eigenständige Existenzsicherung durch Erwerbsarbeit nicht dauerhaft zu verschließen. Die Ermöglichung und Förderung kontinuierlicher Erwerbs- und Versiche­ rungsbiografien erfordert jedoch nicht nur verstärkte Bemühungen beim Ab­ bau der Langzeitarbeitslosigkeit, sondern auch eine konsequente (Re-)Regu­ lierung des Arbeitsmarktes: Es darf nicht nur darum gehen, das Alterssiche­ rungssystem an die „Realitäten des Arbeitsmarktes“ anzupassen, sondern umgekehrt sind die rechtlichen Rahmenbedingungen und die konkreten Be­ schäftigungsverhältnisse so auszugestalten, dass sie mit dem Ziel der mög­ lichst flächendeckenden Gewährleistung eines existenzsichernden Einkom­ mens sowohl in der Erwerbsphase als auch im Alter kompatibel sind. Dies bedeutet, dass die Kosten der Alterssicherung bei jeder Form von Erwerbsar­ beit mitgedacht und somit auch „eingepreist“ werden müssen; Erwerbs- und Beschäftigungsverhältnisse, die auf einer dauerhaften Externalisierung der Alterssicherungskosten basieren und nur durch ein solches „Vorsorgedum­ ping“ überhaupt erst möglich sind, sind nicht nachhaltig und auf Dauer nicht tragbar. Aus diesem Grunde ist eine volle Sozialversicherungspflicht ab der ersten geleisteten Arbeitsstunde einzuführen. Auf diese Weise werden nicht nur individuelle Versicherungslücken durch geringfügige oder sonstige nicht sozialversicherungspflichtige Erwerbstätigkeit vermieden, sondern zugleich wird auch die Finanzierungsgrundlage der GRV gesichert. Für das Funktionieren des deutschen Sozialversicherungssystems ist die Primärverteilung von entscheidender Bedeutung. Zum einen beeinflusst die Entwicklung der Lohnsumme als Finanzierungsgrundlage der GRV maßgeb­ lich die Entwicklung des Rentenniveaus; zum anderen stellt die Verteilung der individuellen Rentenansprüche letztlich das Spiegelbild der vorangegan­ genen Einkommensverteilung in der Erwerbsphase dar: Je stärker die Sprei­ zung der Arbeitsentgelte ausfällt, desto stärker fällt langfristig auch die Spreizung der Altersrenten aus. Die Lohnpolitik hat somit die Aufgabe, eine angemessene Teilhabe der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer an der gesellschaftlichen Wohlstandsentwicklung zu gewährleisten und dadurch zugleich auch „für eine als Grundlage des Rentensystems tragfähige Ein­ kommensverteilung zu sorgen“ (Hockerts 1980: 424). Angesichts der schwachen Lohnentwicklung des vergangenen Jahrzehnts, die zu einer deutlichen Umverteilung zugunsten von Einkünften aus Unter­ nehmertätigkeit und Vermögen und zugunsten von Haushalten mit einem



2. Gelungene (Erwerbs-)Biografien durch soziale Lebenslaufpolitik403

hohen Einkommen geführt hat (Brenke 2011, Brenke / Grabka 2011), sind die Finanzierungsgrundlagen der GRV deutlich unter Druck geraten; sowohl die Löhne als auch die Renten sind aufgrund des Rückgangs der Lohnquo­ te hinter der allgemeinen Wirtschaftsentwicklung zurückgeblieben, wobei die Rentenentwicklung zusätzlich durch die neu in die Rentenanpassungs­ formel eingefügten Dämpfungsfaktoren begrenzt wurde. Die im gleichen Zeitraum zu beobachtende, massive Ausbreitung des Niedriglohnsektors (Kalina / Weinkopf 2014), der aktuell ein knappes Viertel der Beschäftigten umfasst, hat dazu geführt, dass ein nicht unwesentlicher Anteil der regulä­ ren Beschäftigungsverhältnisse keine altersarmutsvermeidenden Entgelte mehr generiert. Die Konsequenzen einer immer ungleicheren Primärverteilung können nicht unbegrenzt durch eine immer stärkere Inanspruchnahme der Beitragsund Steuersysteme im Rahmen der Sekundärverteilung kompensiert werden; ein präventiv ausgerichtetes Konzept der Armutsvermeidung muss daher bereits an der Primärverteilung selbst ansetzen. Notwendig ist eine (Re-) Regulierung des Arbeitsmarktes, die auf eine Ent-Prekarisierung und ReStabilisierung von Beschäftigungsverhältnissen abzielt. Die Einführung ei­ nes gesetzlichen Mindestlohns zum 1.1.2015 durch das im Juli 2014 verab­ schiedete Tarifautonomiestärkungsgesetz setzt in diesem Sinne ein wichtiges Signal auf dem deutschen Arbeitsmarkt und ist daher ebenso angemessen wie überfällig; es ist davon auszugehen, dass es insgesamt nicht zu größeren negativen Beschäftigungseffekten kommen wird (Bosch 2014). Der gesetz­ liche Mindestlohn von zunächst 8,50 Euro / Stunde reicht zwar für sich allein genommen nicht aus, um spätere Armut im Alter zu vermeiden (Steffen 2014); er wird aber zumindest dazu beitragen, das insbesondere in den letzten 10 Jahren beobachtbare „Ausfransen“ der Stundenlöhne am unteren Rand des Lohnspektrums zu begrenzen, wovon vor allem Frauen profitieren dürften. Hierfür muss er allerdings von wirksamen Kontrollen und abschre­ ckenden Strafen bei Nichteinhaltung flankiert werden. Auch die im Tarifautonomiestärkungsgesetz enthaltene Erleichterung der Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen und der Ausweitung des Arbeitnehmerentsendegesetzes auf alle Branchen ist zu begrüßen, da auf diese Weise die Durchsetzungschancen von tariflichen Entgelt- und Arbeits­ bedingungen verbessert werden. Handlungsbedarf besteht allerdings noch hinsichtlich der stärkeren Regulierung von Werkverträgen, Leiharbeit und anderen Formen atypischer Beschäftigung, um Missbrauch zu vermeiden.41 Für die Umsetzung des Grundsatzes der Entgeltgleichheit für Männer und Frauen muss zudem die geschlechtsspezifische Lohnlücke verringert werden. 41  Diesbezügliche Vorschläge sind u. a. kürzlich im Auftrag des nordrhein-westfä­ lischen Arbeitsministeriums entwickelt worden (Brors/Schüren 2014).

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VIII. Konsequenzen und Handlungsempfehlungen

c) Familien- und Gleichstellungspolitik: Verbesserung der Vereinbarkeit von Erwerbs- und Fürsorgearbeit für beide Geschlechter Die Unterstützung einer möglichst langen und kontinuierlichen Erwerbs­ biografie für Frauen ebenso wie für Männer erfordert weitere Anstrengun­ gen zur realen Verbesserung der Vereinbarkeit von Familienleben und Be­ rufstätigkeit. Im Hinblick auf das Ziel, die Möglichkeiten für den Aufbau einer existenzsichernden eigenständigen Alterssicherung zu verbessern, ist dabei in erster Linie eine substanziellere Arbeitsmarkintegration von Frauen sowohl während als auch nach der Familienphase anzustreben. Trotz eines erhöhten gesellschaftlichen Problembewusstseins ist die Familienpolitik noch immer nicht konsequent genug an dem Ziel ausgerichtet, auch Müttern möglichst kontinuierliche Bildungs- und Erwerbskarrieren zu ermöglichen. Dabei benötigen Eltern und Pflegende grundsätzlich in zweifacher Hinsicht Unterstützung: zum einen durch eine gute Betreuungs- und Unterstützungs­ infrastruktur, zum anderen durch eine familienfreundliche Arbeitswelt. Auch nach der zum 1.7.2013 wirksam gewordenen Einführung des Rechtsanspruchs auf frühkindliche Förderung für Kinder ab Vollendung des ersten Lebensjahres ist ein weiterer, am Bedarf orientierter Ausbau der Quantität, Qualität und zeitlichen Flexibilität der öffentlichen Kinderbetreu­ ung in Kindertagesstätten, Kindergärten und Schulen notwendig. Die beste­ henden Betreuungsangebote für Kinder setzen vielfach implizit noch eine allenfalls teilzeiterwerbstätige Mutter voraus, wodurch die Erwerbschancen von Alleinerziehenden wie auch von Frauen in Paarfamilien in der Praxis deutlich eingeschränkt werden. Die Betreuungszeiten von Kindereinrichtun­ gen müssen daher vom Angebot her den ganzen Tag abdecken, umgekehrt aber auch – den flexiblen Arbeitsanforderungen der Mütter und Väter fol­ gend – eine größere Flexibilität der Inanspruchnahme anbieten (Sachver­ ständigenkommission Gleichstellungsbericht 2011: 139). Um die mehrheit­ lich von Eltern gewünschten Erwerbskonstellationen zu ermöglichen, sind neben dem Ausbau des Ganztagsangebots im Kindergartenbereich auch Ganztagsschulen mit bezahlbarer Mittagessenversorgung und Hausaufga­ benunterstützung sowie Horte und andere Freizeitangebote erforderlich. Die Verbesserung des Betreuungsangebots stellt jedoch nur die eine Seite der Medaille dar. Mindestens ebenso wichtig ist eine flexiblere Arbeitswelt mit mehr Arbeitszeitoptionen, insbesondere mehr Optionen zur temporären Arbeitszeitreduktion oder zur vorübergehenden Unterbrechung der Erwerbs­ tätigkeit. Hier besteht noch erheblicher Entwicklungsbedarf; Arbeitszeiten und Arbeitsumfang sind in der Realität vieler Betriebe und Unternehmen noch immer wenig flexibel und kaum auf die Bedürfnisse von Eltern und pflegenden Angehörigen ausgerichtet. Ziel sollte sein, beiden Geschlechtern



2. Gelungene (Erwerbs-)Biografien durch soziale Lebenslaufpolitik

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zu ermöglichen, neben der Erwerbsarbeit auch andere gesellschaftlich not­ wendige und wertvolle Formen von Arbeit (Sorgearbeit, freiwilliges Enga­ gement, Nachbarschaftshilfe) in ihren Alltag und entlang ihres Lebenslaufs zu integrieren; maßgeblich ist hier das „Leitbild der / des Erwerbstätigen mit (potenziellen) Fürsorgeverpflichtungen und anderen lebensweltlichen Zeit­ bedarfen im Lebensverlauf“ (Sachverständigenkommission Gleichstellung 2011: 226). Insofern wäre es wünschenswert, dass die Tarif- bzw. Betriebspartner die bestehenden Möglichkeiten konsequenter nutzen, familienfreundliche „Ar­ beitszeitoptionsmodelle“ zu entwickeln, die den Bedürfnissen der Beschäftig­ ten und den Besonderheiten der Branche und der Betriebe Rechnung tragen. Die Beschäftigten sollten im Rahmen einer lebensphasen- bzw. lebensereig­ nisorientierten Personalpolitik mehr Optionen erhalten, ihre Arbeitszeit bei Bedarf zu ändern oder die Erwerbstätigkeit vorübergehend zu unterbrechen. Dabei sollte allerdings sichergestellt werden, dass Unterbrechungen der Er­ werbstätigkeit oder vorübergehende Verkürzungen der Arbeitszeit aufgrund von Sorgearbeit reversibel sind und nicht zu langfristigen Einkommensnach­ teilen führen. So macht beispielsweise das bislang fehlende Rückkehrrecht auf eine Vollzeittätigkeit die Inanspruchnahme von Teilzeit in der aktiven Familienphase für viele immer noch unattraktiv und letztlich auch zu einer risikobehafteten Entscheidung. Hierzu sollten die bestehenden Regelungen des Teilzeit- und Befristungsgesetzes von 2001 weiter ausgebaut werden, u. a. durch ein gesetzliches Rückkehrrecht auf einen Vollzeitarbeitsplatz nach ­einer familienbedingten Arbeitszeitverkürzung, wie es auch im Koalitions­ vertrag zwischen CDU / CSU und SPD vorgesehen ist. Die Sachverständigen­ kommission zur Erstellung des ersten Gleichstellungsberichtes der Bundes­ regierung hat vorgeschlagen, diese und andere Optionen in einem neu zu schaffenden „Gesetz zu Wahlarbeitszeiten“ zu verankern (Sachverständigen­ kommission Gleichstellungsbericht 2011: 135 / 136). Neben dem Ausbau des Betreuungsangebots und der familiengerechteren Ausgestaltung der Arbeitswelt ist im Hinblick auf die angestrebte Erhöhung des Erwerbsvolumens von Frauen auch eine Veränderung der Anreizstruk­ turen des Steuersystems und anderer Teilbereiche der sozialen Sicherung notwendig. Regelungen, die ein asymmetrisches Rollenmodell begünstigen und Fehlanreize für lange Erwerbsunterbrechungen und eine dauerhafte Erwerbseinschränkung von (verheirateten) Frauen setzen, bedürfen einer grundsätzlichen Reform und sollten so weit wie möglich beseitigt werden. Dies betrifft unter anderem das Ehegattensplitting, die beitragsfreie Ehegat­ tenmitversicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung oder das neu geschaffene „Betreuungsgeld“. Arbeits-, Sozial- und Einkommensteuerrecht sind konsequent an einem Erwerbsmodell auszurichten, das von der glei­ chen Teilhabe von Frauen und Männern am Erwerbsleben ausgeht.

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VIII. Konsequenzen und Handlungsempfehlungen

d) Gesundheit und Beschäftigungsfähigkeit: Stärkung von Prävention und Rehabilitation Im Rahmen eines präventiven Ansatzes kommt der Förderung der Ge­ sundheit und der Sicherung der Beschäftigungsfähigkeit („employability“) eine wichtige Rolle zu. Wie sich auch in vielen Fällen im Untersuchungs­ sample der vorliegenden Studie zeigt, können chronische Krankheiten, psychische Probleme, Unfälle und andere gesundheitliche Beeinträchtigun­ gen das Risiko der Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter erheblich erhö­ hen. Dies gilt insbesondere dann, wenn aufgrund der gesundheitlichen Probleme die Erwerbstätigkeit deutlich vor dem Erreichen der Regelalters­ grenze eingeschränkt oder sogar ganz aufgegeben werden muss und den Betroffenen hierdurch insbesondere im letzten Drittel ihrer Erwerbsbiografie wichtige Beitragsjahre fehlen. Die in den letzten Jahren verfolgte Politik der Heraufsetzung des Renten­ eintrittsalters und der weitgehenden Abschaffung der bestehenden Frühver­ rentungsmöglichkeiten zielt auf die Verlängerung der Lebensarbeitszeit ab. Die Heraufsetzung des Rentenalters führt jedoch nicht automatisch zu bes­ seren Arbeitsbedingungen und einer verlängerten gesundheitlichen und be­ ruflichen Leistungsfähigkeit der Beschäftigten. Um die Beschäftigten auch von den Arbeitsbedingungen her in die Lage zu versetzen, länger zu arbei­ ten, muss in den Betrieben viel geschehen; die Vermeidung von Erkrankun­ gen und der Erhalt der physischen wie der psychischen Gesundheit der Belegschaft liegen nicht zuletzt auch im betriebswirtschaftlichen Interesse der Unternehmen. Neben dem allgemeinen Gesundheitsschutz kommt dem betrieblichen Gesundheitsmanagement hier eine hohe Bedeutung zu. Ein sinnvolles, kon­ sequent auf Prävention setzendes Gesundheitsmanagement vereinigt verhält­ nisorientierte Ansätze, die auf die Reduktion von physischen wie psychi­ schen Arbeitsbelastungen durch Veränderungen der Arbeits- und Organisati­ onsgestaltung abzielen, und verhaltensorientierte Ansätze, die auf die Stär­ kung der individuellen Ressourcen der Beschäftigten zur Bewältigung von Belastungen setzen (z. B. Rückenschulen, Stressmanagement oder Ernäh­ rungsberatung). Auf diesem Gebiet sind in den letzten Jahren insbesondere bei größeren Unternehmen deutliche Fortschritte erzielt worden. Kleine und mittlere Betriebe benötigen hingegen oftmals eine umfangreichere Beratung und Unterstützung, um entsprechende Programme und Maßnahmen organi­ sieren und implementieren zu können. Auch im Hinblick auf die 2004 eingeführte Pflicht des Arbeitgebers, für alle Beschäftigten, die innerhalb eines Jahres länger als sechs Wochen arbeitsunfähig sind, ein Betriebliches Eingliederungsmanagement durchzuführen (§ 84 Absatz 2 SGB IX), bedarf es mehr externer Unterstützung für kleine und mittlere Betriebe (KMU). In



2. Gelungene (Erwerbs-)Biografien durch soziale Lebenslaufpolitik407

diesem Zusammenhang könnte es sinnvoll sein, die Rentenversicherung stärker und verbindlicher in das Verfahren einzubeziehen, damit die Mög­ lichkeiten der medizinischen und beruflichen Rehabilitation besser erschlos­ sen werden können. Wenn der möglichst lange Erhalt der individuellen Erwerbs- und Beschäf­ tigungsfähigkeit nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund des demografischen Wandels und des Ziels der Verlängerung der Lebensarbeitszeit ein zentraler Imperativ ist, sind zusätzliche verstärkte Investitionen in die gesundheitliche Prävention, in frühzeitige Intervention und in die Stärkung der beruflichen Orientierung in der Rehabilitation notwendig. Der in § 9 SGB VI formulier­ ten Grundsatz „Reha vor Rente“ sollte daher weitaus konsequenter und flächendeckender umgesetzt werden, als es heute der Fall ist. Viele Ergebnisse der Rehabilitationsforschung weisen darauf hin, dass es am effektivsten ist, wenn Interventionen möglichst frühzeitig geleistet wer­ den, da die frühzeitige Einleitung von Reha-Maßnahmen vor Chronifizie­ rung und Intensivierung der Rehabilitationsbedarfe schützen kann. Ange­ sichts der zunehmenden Relevanz psychischer Belastungen und Probleme ist von einem steigenden Rehabilitationsbedarf auch schon bei jüngeren Versicherten auszugehen. Höhere Ausgaben für berufliche und medizinische Rehabilitationsmaßnahmen sind somit nicht nur aufgrund des demografi­ schen Wandels, sondern auch aufgrund veränderter Belastungs- und Be­ darfslagen letztlich unvermeidlich; die Mehrausgaben sind jedoch als eine sowohl individuell als auch kollektiv lohnende Investition zu betrachten, die langfristig die Kosten für die sozialen Sicherungssysteme senkt. Sicherlich bestehen im Bereich der Rehabilitation nicht unerhebliche Ef­ fizienz- und Wirtschaftlichkeitsreserven, die noch besser auszuschöpfen sind. Die generelle Budgetierung der Ausgaben für Leistungen zur Teilhabe widerspricht jedoch dem Grundsatz „Reha vor Rente“ und dem Ziel der Stärkung der Prävention. Es darf nicht dazu kommen, dass die Pflicht zur Einhaltung des Reha-Budgets zu verstärkten Rationierungen und dadurch in Einzelfällen zum Verzicht auf die Gewährung notwendiger Leistungen führt. Vielmehr gilt der Grundsatz, dass Rehabilitationsmaßnahmen nach dem tatsächlich vorliegenden Bedarf bewilligt und entsprechend finanziert wer­ den müssen. Die durch das RV-Leistungsverbesserungsgesetz vorgenomme­ ne Dynamisierung des Reha-Budgets ist daher unzureichend; der bestehende „Reha-Deckel“ sollte auf Dauer vielmehr ganz abgeschafft werden. e) Lebensbegleitende Beratung Ein letzter, nichtsdestotrotz aber hoch relevanter Baustein einer sozialen Lebenslaufpolitik mit dem Ziel der Armutsvermeidung im Alter, dessen

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VIII. Konsequenzen und Handlungsempfehlungen

Bedeutung nicht zuletzt auch in unserer empirischen Untersuchung deutlich geworden ist, ist die Verfügbarkeit von individueller Beratung. Individuen müssen in ihrem Lebenslauf eine ganze Reihe von verantwortungs- und voraussetzungsvollen Entscheidungen treffen, deren (Spät-)Wirkungen für das eigene Leben jedoch oft schwer abschätzbar sind. In unserem Sample gibt es – sowohl bei den „familienorientierten“ Frauen als zum Teil auch bei den ehemaligen Selbstständigen und insbesondere in der Gruppe der „komplex Diskontinuierlichen“- viele Betroffene, die in ihrem Leben eine Reihe von folgenschweren Fehlentscheidungen getroffen haben. Dazu gehö­ ren auch Unterlassungen (Nicht-Entscheidungen, Nicht-Handeln) oder ver­ spätete Reaktionen. Viele Befragte waren in bestimmten mehr oder weniger prekären Lebensund Entscheidungssituationen größtenteils auf sich allein gestellt, da sie keinen geeigneten Ansprechpartner für ihre spezifischen Problemlagen hat­ ten; in den Interviews fallen häufig Sätze bzw. Satzanfänge wie „ich wuss­ te ja damals nicht …“ oder „ich habe da seinerzeit nicht drüber nachge­ dacht“. Es kann daher davon ausgegangen werden, dass zumindest bei einem Teil dieser Fälle bestimmte Fehlentwicklungen vermeidbar gewesen wären, wenn zum Zeitpunkt der (Nicht-)Entscheidung eine bessere Kenntnis über die verfügbaren Alternativen und Optionen, über die eigenen Rechte und über mögliche staatliche und nicht-staatliche Unterstützungsangebote vor­ handen gewesen wäre. Die Ergebnisse der Fallanalysen geben daher deutliche Hinweise darauf, dass bei der Entwicklung von „Lebenslaufkompetenz“ noch Handlungsbe­ darf besteht. Zum einen sollten junge Menschen bereits in der Schule und während der Ausbildung besser darauf vorbereitet werden, ihren (Erwerbs-) Lebensverlauf eigenverantwortlich zu gestalten und ein Bewusstsein für Optionen und langfristige Konsequenzen zu entwickeln; zum anderen ist aber auch für Erwachsene notwendig, die zum Teil verwirrende Vielzahl der bestehenden öffentlichen Beratungsangebote zu verschiedenen Einzelproble­ men (Schulden, Sucht, Erziehung, Pflegebedürftigkeit etc.) stärker miteinan­ der zu vernetzen und zu einem lebensbegleitenden, niederschwelligen, be­ reichsübergreifenden Beratungsangebot im Sinne einer integrierten „Lebens­ laufberatung“ weiterzuentwickeln. 3. Aufbau einer lückenlosen Versicherungsbiografie: Universelles Alterssicherungssystem mit Mindestbeitrag Da auch durch eine konsequente soziale Lebenslaufpolitik nicht verhin­ dert werden kann, dass viele Menschen in ihrer Biografie längere Phasen niedrigen bzw. fehlenden (Erwerbs-)Einkommens aufweisen, bezieht sich



3. Aufbau einer lückenlosen Versicherungsbiografie409

die zweite Handlungsebene auf die verbesserte rentenrechtliche Absicherung unsteter Einkommensströme und die präventive Schließung von Sicherungs­ lücken an der Schnittstelle zwischen Arbeitsmarkt und Alterssicherungssys­ tem. Ziel ist die Gewährleistung einer lückenlosen Versicherungsbiografie mit ausreichenden Vorsorgebeiträgen für alle Personen, die dauerhaft in Deutschland leben. Dies soll durch die Weiterentwicklung der GRV zu einer Bürger- bzw. Volksversicherung mit Mindestbeitragspflicht erreicht werden.42 Die Versi­ cherungspflicht wird dabei nicht nur auf alle bislang nicht obligatorisch abgesicherten Erwerbstätigen, sondern auch auf alle nicht-erwerbstätigen Erwachsenen ausgedehnt, die dauerhaft in Deutschland leben. Die Univer­ salisierung der Versicherungspflicht der GRV beinhaltet, dass grundsätzlich jede volljährige Einwohnerin und jeder volljährige Einwohner unabhängig von der aktuellen Tätigkeit automatisch in der GRV pflichtversichert ist und dies auch bis zur Erreichen der Regelaltersgrenze bzw. bis zum individuel­ len Renteneintritt bleibt. Die Versicherungspflicht wird über alle Statuspha­ sen hinweg und damit grundsätzlich auch im Falle von (Langzeit-)Arbeits­ losigkeit oder Nicht-Erwerbstätigkeit aufrechterhalten. Ausstiegsgründe aus der Pflichtversicherung müssten inhaltlich klar definiert werden und stark begrenzt bleiben. Obwohl sich die Pflichtversicherung dem Grundsatz nach auf alle Bürgerinnen und Bürger bezieht, könnte gegebenenfalls darauf ver­ zichtet werden, Beamte sowie obligatorisch in berufsständischen Systemen versicherte Freiberufler in den Pflichtversichertenkreis der GRV aufzuneh­ men: Da der soziale Ausgleich im anvisierten System praktisch ausschließ­ lich aus Steuern finanziert wird, wären auch anderweitig pflichtversicherte GRV-Nichtmitglieder an der Finanzierung der notwendigen interpersonellen Umverteilung beteiligt. Durch eine universelle Mindestbeitragspflicht in der GRV soll sicherge­ stellt werden, dass auch bei phasentypischen Einkommensverlusten und -ausfällen (u. a. wegen Arbeits- oder Auftragslosigkeit, Krankheit, Kinderer­ ziehung, Pflegetätigkeit, Weiterbildung etc.) Versicherungslücken vermieden und ausreichende Altersvorsorgebeiträge geleistet werden. Der Mindestbei­ trag sollte dabei der Höhe nach so ausgestaltet sein, dass bei einer 45-jäh­ rigen kontinuierlichen Beitragszahlung eine individuelle GRV-Altersrente erzielt wird, die im Regelfall ausreicht, um die Angewiesenheit auf Grund­ sicherungsleistungen wie auch auf Unterhaltsleistungen Dritter auszuschlie­ ßen. Die GRV erhält somit vermittelt über den Mindestbeitrag auch ein Mindestsicherungsziel: Bei Erfüllung der Mindestbeitragspflicht gewährleis­ 42  Wesentliche Bestandteile des hier vorgeschlagenen Modells basieren auf dem bereits in den 1980er Jahren entwickelten und zwischenzeitlich mehrfach modifizier­ ten Konzept eines Voll eigenständigen Systems (Rolf/Wagner 1992).

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VIII. Konsequenzen und Handlungsempfehlungen

tet sie ein existenzsicherndes eigenständiges Alterseinkommen, das wirt­ schaftliche Unabhängigkeit ermöglicht. Dieses Mindestsicherungsziel sollte nicht als ein abstrakter Benchmark, sondern vielmehr als eine ganz konkrete Zielmarke verstanden werden: Ziel sollte sein, dass die langjährigen Mindestbeitragszahler im Rentenalter im Regelfall tatsächlich nicht „zum Sozialamt gehen“ müssen. Denn ein ledig­ lich theoretisches Mindestsicherungsziel, bei dem ein (zu) großer Teil der Beitragszahler trotz der Erfüllung der Mindestbeitragspflicht faktisch den­ noch Grundsicherungsleistungen beantragen und sich einer Bedarfsprüfung unterziehen müsste, wäre politisch gesehen wertlos und würde die Akzeptanz der Beitragspflicht zerstören. Der zwangsweise erhobene Mindestbeitrag, der für viele Versicherte eine enorme finanzielle Belastung darstellt, muss einen realen individuellen Gegenwert versprechen, um akzeptabel zu sein. Im Hinblick auf die Vermeidung von Hilfebedürftigkeit kann jedoch grundsätzlich immer nur mit typisierten Bedarfen gearbeitet werden; um das konkrete Mindestsicherungsziel der GRV festzusetzen, muss zwangsläufig ein pauschales Grundsicherungsniveau als Referenz angesetzt werden. Die individuellen Bruttobedarfe in der Grundsicherung im Alter weisen aller­ dings eine hohe Streuung auf: Im Jahr 2012 hatten rund 15 % der Leistungs­ bezieher einen Bruttobedarf zwischen 800 und 900 Euro / Monat, weitere 12 % sogar über 900 Euro / Monat. Daher kann durch einen pauschalen Einkommensschwellenwert niemals in jedem Einzelfall die Grundsiche­ rungsbedürftigkeit verhindert werden. Wenn die GRV-Rente daher zwar nicht für jeden Einzelfall, aber doch zumindest für die große Mehrheit der Betroffenen im Ernstfall tatsächlich die individuelle Angewiesenheit auf Grundsicherungsleistungen vermeiden soll, dann müsste sie mehr oder we­ niger deutlich oberhalb des durchschnittlichen Bruttobedarfsniveaus der Grundsicherung im Alter liegen; eine „Sicherheitsmarge“ von etwa 20 Pro­ zent dürfte hierfür einigermaßen ausreichen. Das Mindestsicherungsziel der GRV könnte somit auf die Formel „Durchschnittliches Bruttobedarfsniveau der Grundsicherung im Alter plus 20 %“ gebracht werden. Die in etwa erforderliche Größenordnung des GRV-Mindestbeitrags soll im Folgenden durch eine grobe Überschlagsrechnung für das Jahr 2012, für das die tatsächliche bundesdurchschnittliche Höhe der Grundsicherung im Alter bereits bekannt ist, verdeutlicht werden: − Das bundesdurchschnittliche Bedarfsniveau der Grundsicherung im Alter (Bezieher / -innen mit 65 und mehr Jahren) lag 2012 bei 719 Euro / Monat. − Eine Nettoaltersrente, die diesen Referenzwert um 20 % überschreitet und dadurch in der Regel den Grundsicherungsbezug vermeidet, müsste bei ca. 860 Euro liegen.



3. Aufbau einer lückenlosen Versicherungsbiografie411

− Im Jahr 2012 wären bei einem ARW (West) von brutto ca. 28 Euro und netto ca. 25,20 Euro rund 34 Entgeltpunkte notwendig gewesen, um eine solche Nettoaltersrente zu erzielen. − Würde man bei aktueller Rechtslage (d. h. ohne Berücksichtigung weite­ rer Absenkungen des Rentenniveaus) im Rahmen einer 45-jährigen kon­ tinuierlichen Beitragszahlung insgesamt in etwa 34 Entgeltpunkte errei­ chen wollen, dann müssten in jedem Jahr durchschnittlich ca. 0,75 erwor­ ben werden. − Der GRV-Mindestbeitrag müsste somit in etwa auf Basis von 75 % des Durchschnittsentgelts aller erwerbstätigen Versicherten angesetzt werden. − Im Jahr 2012 hätte dies bei einem jahresdurchschnittlichen Bruttoarbeits­ entgelt von rund 33.000 Euro und einem Beitragssatz von seinerzeit 19,6 % in etwa einem Monatsbeitrag von 400 Euro entsprochen. − Bei einem Verzicht auf den „Sicherheitsabstand“ von 20 % zwischen Net­ toaltersrente und Bruttobedarf der Grundsicherung hätte der notwendige Mindestbeitrag unter ansonsten gleichen Bedingungen bei ca. 340 Euro gelegen. Grundsätzlich gilt, dass jede Bürgerin und jeder Bürger gehalten sein sollte, aufgrund eigener Anstrengungen zu versuchen, eine ausreichende Altersversorgung aufzubauen. Um jedermann deutlich zu machen, dass ein beachtlicher Aufwand für ein ausreichendes Einkommen im Alter notwendig und deswegen ein möglichst hohes Erwerbseinkommen anzustreben ist, sollte daher möglichst in jedem Falle der volle Mindestbeitrag eingefordert werden; nur denjenigen, die den Beitrag (dauerhaft oder vorübergehend) nicht leisten können, kann und soll geholfen werden. Eine universelle Min­ destversicherungspflicht für alle würde somit nicht nur helfen, Altersarmut bei Personen mit diskontinuierlichen Erwerbsbiografien zu vermeiden, son­ dern könnte auch free rider-Verhalten erschweren sowie das allgemeine Bewusstsein für die Tatsache schärfen, dass bei der Entscheidung über die Art und das Ausmaß der eigenen Erwerbsteilhabe nicht nur die kurzfristigen Kosten des laufenden Lebensunterhalts, sondern auch die langfristigen Kos­ ten der Altersvorsorge zu berücksichtigen sind. Die Zahlung des vollen Mindestbeitrags aus dem laufenden eigenen Ein­ kommen wird jedoch nicht für jede Bürgerin und jeden Bürger in jeder Lebensphase möglich sein; hier müssten gegebenenfalls andere Sozialsyste­ me oder unterhaltspflichtige (Ehe-)Partner einspringen. Für erwerbsverhin­ derte Personen (wie Arbeitslose, Kranke, Studenten, Kindererziehende und Pflegende) fungieren der Staat bzw. der jeweils zuständige Parafiskus als Beitragsgarant. Diejenigen Sozialleistungssysteme, die die Risiken des Ein­ kommensausfalls wegen Arbeitslosigkeit, Krankheit, Ausbildung, Kinderer­

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VIII. Konsequenzen und Handlungsempfehlungen

ziehung oder Pflege absichern, sind auch für die Tragung des Mindestbei­ trags zuständig. Die Beitragszahlung erfolgt in der Regel ohne Berücksich­ tigung der Leistungskraft des Haushalts, in dem die begünstigten Personen leben. Für den Ausgleichstatbestand der Kindererziehung sollte das beste­ hende Ausgleichsniveau im Wesentlichen beibehalten werden; für den Aus­ gleichstatbestand der Pflegetätigkeit ist hingegen über eine verbesserte Ho­ norierung nachzudenken, etwa durch die Möglichkeit, bei einer fortgesetzten Pflegetätigkeit auch nach Erreichen des Rentenalters noch zusätzliche Rentenanwartschaften aufbauen zu können. Bei Ehepaaren gilt grundsätzlich, dass Eheleute während ihrer Ehe die gleichen Anwartschaften erwerben sollen (automatisches Rentensplitting). Da der Grundgedanke der Mindestversicherungspflicht darin besteht, für alle Männer und Frauen den Aufbau eigenständiger Anwartschaften in aus­ reichender Höhe sicherzustellen, verlieren abgeleitete Hinterbliebenenrenten (Witwen- und Witwerrenten), die aktuell fast 20 % des Rentenvolumens ausmachen, langfristig ihre Notwendigkeit und ihre Existenzberechtigung; unter Berücksichtigung weitreichender Vertrauensschutzregelungen für Ehe­ leute mittlerer und älterer Jahrgänge können sie daher langfristig entfallen. Im Falle von Ehepaaren, bei denen ein Ehepartner im Rahmen der partner­ schaftlichen Zeitallokation freiwillig seine Erwerbstätigkeit einschränkt oder ganz aufgibt, ohne durch Fürsorgeaufgaben oder sonstige Umstände erwerbs­ verhindert zu sein, muss aus dem gemeinsamen Einkommen der volle Bei­ trag für beide Ehepartner entrichtet werden. Der erwerbstätige Ehepartner müsste somit nicht nur den eigenen Mindestbeitrag, sondern im Zweifelsfalle auch den Mindestbeitrag für den nicht erwerbstätigen Ehepartner überneh­ men. Hier ist allerdings darauf zu achten, dass für Haushalte bzw. Familien mit vergleichsweise niedrigem Einkommen und mehreren Kindern keine fi­ nanzielle Überlastung eintritt. Insofern können hier gezielte Beitragssubven­ tionen notwendig werden, die neben dem verfügbaren Einkommen auch die Anzahl der im Haushalt lebenden minderjährigen Kinder berücksichtigen könnten. Auch der Tatbestand des Alleinerziehens oder die Betreuung eines behinderten Kindes müssten gegebenenfalls durch steuerfinanzierte Beitrags­ subventionierungen aufgefangen werden. Hinsichtlich der Frage, ab welchem Alter die Mindestbeitragspflicht einsetzen soll, plädieren Krupp und Wagner (1992) daher für eine Altersgrenze von 21 Jahren, um zu verhindern, dass Zeiten der Schulausbildung und der Lehre mit komplizierten Regelungen für die Mindestbeitragszahlung belastet werden. Freiwillige Einzahlungen soll­ ten jedoch bereits vor dem 21. Lebensjahr grundsätzlich möglich sein. Bei abhängig Beschäftigten soll der Beitragssatz weiterhin paritätisch von Arbeitgeber und Arbeitnehmer getragen werden. Für Vollzeitbeschäftigte mit Durchschnittsentgelt ergibt sich durch die Mindestbeitragspflicht keine



3. Aufbau einer lückenlosen Versicherungsbiografie413

unmittelbare Veränderung, da die Summe aus Arbeitnehmer- und Arbeitge­ berbeitrag den geforderten Mindestbeitrag ohnehin übersteigt; bereits bei Entgelten, die unter 75 % des Durchschnittsentgeltes aller Versicherten lie­ gen, würde jedoch die Mindestbeitragspflicht greifen. Für diejenigen Fälle, in denen das Arbeitsentgelt aufgrund zu niedriger Stundenlöhne nicht „mindestbeitragskompatibel“ ist, ist kürzlich der Vor­ schlag einer rentenrechtlichen „Mindestbemessungsgrundlage auf niedriges Arbeitsentgelt“ vorgelegt worden (vgl. Steffen 2014). Der Grundgedanke lautet hier, dass jede einzelne geleistete Arbeitsstunde bereits für sich be­ trachtet einen adäquaten Beitrag zur Existenzabsicherung im Alter leisten muss. Als Bemessungsgrundlage der Rentenbeiträge müsste der Stundenlohn somit eigentlich mindestens so hoch angesetzt werden, dass bei einer 45-jährigen Vollzeitbeschäftigung ein Rentenanspruch in Höhe des Mindest­ sicherungsziels (Vermeidung der Grundsicherungsbedürftigkeit) erreicht werden kann. Beispielrechnungen von Steffen (2014) zufolge müsste eine solche Mindestbemessungsgrundlage pro Arbeitsstunde (unter der Annahme einer 45-jährigen Beschäftigungsdauer und einer durchschnittlichen tarifli­ chen Wochenarbeitszeit von 37,7 Stunden) aktuell bei 10,89 Euro liegen.43 Steffens Vorschlag zielt darauf ab, dass bei Beschäftigungsverhältnissen mit niedrigem Stundenlohn das Prinzip der paritätischen Beitragstragung zulasten des Arbeitgebers durchbrochen wird: Während der auf den gezahl­ ten Stundenlohn fällige RV-Beitrag wie bisher paritätisch von Arbeitnehmer und Arbeitgeber getragen werden soll, wäre der auf den Differenzbetrag zwischen Stundenlohn und rentenrechtlicher Mindestbemessungsgrundlage fällige Beitrag demgegenüber einseitig vom Arbeitgeber zu entrichten (Auf­ stockungsbetrag). Auf diese Weise verteuern sich gering entlohnte Beschäf­ tigungsverhältnisse für den Arbeitgeber, und zwar prozentual umso mehr, je niedriger der Stundenlohn angesetzt wird (wobei mit dem Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde ab 2015 eine Untergrenze gesetzt ist); die Mehrkosten bleiben dabei jedoch gegenüber der Alternative eines höheren Stundenlohns in einem akzeptablen Rahmen. Das Prinzip einer arbeitgeberfinanzierten Beitragsaufstockung bei niedri­ gem Stundenlohn ist dabei dem Grundsatz nach nicht vom tatsächlichen Umfang des Beschäftigungsverhältnisses abhängig, da es auf den Wert jeder einzelnen Arbeitsstunde abzielt; es sollte daher nicht nur auf Vollzeitarbeit, 43  Das Mindestsicherungsziel, das Steffens Beispielrechnung zugrunde liegt, ori­ entiert sich jedoch an der Höhe des steuerfreien Existenzminimums für Alleinstehen­ de (2014: 696 Euro/Monat) und nicht an der Zielvorgabe „Bruttobedarf der Grund­ sicherung plus 20 %“, wie sie in der vorliegenden Studie formuliert wurde; würde man letztere zugrunde legen, würde die notwendige Mindestbemessungsgrundlage etwas höher ausfallen.

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VIII. Konsequenzen und Handlungsempfehlungen

sondern auf alle Beschäftigungsverhältnisse mit einem Stundenlohn unter­ halb der Mindestbemessungsgrundlage angewendet werden. Entscheidend ist hier, dass auch die Arbeitgeber für die notwendige Entrichtung des Min­ destbeitrags und damit für die Vermeidung von Altersarmut in die Verant­ wortung genommen werden. Für Arbeitssuchende im ALG I-Bezug wird von der Bundesagentur für Arbeit bereits heute ein RV-Beitrag auf Grundlage von 80 % des bisherigen Brutto-Arbeitseinkommens geleistet; diese Regelung kann im Wesentlichen beibehalten werden. Von besonderer Schwierigkeit ist jedoch die Frage der Tragung des Mindestbeitrags im Falle von Langzeitarbeitslosigkeit (ALG IIBezug). Die Versicherungs- und Mindestbeitragspflicht gilt gemäß den Prämissen des hier vorgeschlagenen Modells grundsätzlich für alle Bürge­ rinnen und Bürger und somit auch für (langzeit-)arbeitslose Personen. Dies bedeutet, dass die 2011 wirksam gewordene Abschaffung der steuerfinan­ zierten Pflichtbeiträge für Langzeitarbeitslose, die zuletzt bei rund 40 Euro / Monat lagen, wieder rückgängig gemacht werden müsste. Wenn für diesen Personenkreis jedoch GRV-Beiträge gezahlt werden sol­ len, die tatsächlich zu einer spürbaren Verbesserung der späteren Lage im Alter führen sollen, wäre dies für den Bundeshaushalt bei aktuell über 4 Millionen erwerbsfähigen Leistungsberechtigten im ALG II-Bezug mit sehr hohen Kosten verbunden; zudem ließe sich argumentieren, dass sich diese ex ante-Subventionierung wenig „treffsicher“ ist, da sie sich im Nach­ hinein als überflüssig herausstellen könnte. Selbst die Verfechter der „Voll eigenständigen Sicherung“ weichen daher an dieser Stelle von dem Prinzip der ex ante-Umverteilung durch vorsorgende Aufstockung niedriger Bei­ träge ab und sehen stattdessen einen Anspruch auf die nachträgliche Auf­ stockung gegebenenfalls niedriger Renten vor (Rolf / Wagner 1992: 287). Will man aus grundsätzlichen Überlegungen heraus dennoch am Prinzip der präventiven Lückenschließung auf der Erwerbsseite festhalten, um die nachträgliche Kompensation langfristig überflüssig zu machen, so stellt sich die Frage, wie hoch der aus Steuermitteln zu finanzierende GRV-Beitrag maximal angesetzt werden kann. Hierbei sollte berücksichtigt werden, dass das Ziel der flächendeckenden Vermeidung von Altersarmut grundsätzlich nicht ohne einen deutlichen Ausbau des steuerfinanzierten sozialen Aus­ gleichs erreicht werden kann; neben der Verbesserung der Absicherung des Erwerbsminderungsrisikos steht eine verbesserte Absicherung des Langzeit­ arbeitslosigkeitsrisikos dabei an erster Stelle. Insofern wäre zu prüfen, ob eine Beitragszahlung in Höhe des halben Mindestbeitrags finanziell tragbar wäre; dies würde in etwa einem Betrag von 200 Euro / Monat entsprechen. Hierbei wäre auch zu prüfen, ob an dieser Stelle nicht auch mit Beitrags­ krediten gearbeitet werden könnte, die im „Erfolgsfall“ (der nachhaltigen



3. Aufbau einer lückenlosen Versicherungsbiografie

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Widereingliederung in den Arbeitsmarkt) ganz oder teilweise zurückzuzah­ len wären. In jedem Falle sollte auch die Möglichkeit eröffnet werden, die beitragsreduzierten Zeiten nachträglich durch Zusatzbeiträge aufzufüllen. Ein weiteres Problem, dass bei einer Universalisierung der Pflichtmit­ gliedschaft und der Erhebung eines verpflichtenden Mindestbeitrags in der GRV zu lösen wäre, besteht bei den Selbstständigen mit geringen Einkünf­ ten und dementsprechend niedriger Vorsorgefähigkeit. Angesichts der Tatsa­ che, dass ungefähr ein knappes Drittel der freiberuflich Selbständigen über ein monatliches Nettoeinkommen von weniger als 1100 Euro verfügt, be­ steht die Gefahr, dass viele Selbstständige von einem starren Mindestbeitrag, wie er im Rahmen des vorliegenden Konzepts vorgesehen ist, finanziell überfordert wären, zumal sie den Beitrag zur GRV als „ihr eigener Arbeit­ geber“ im Prinzip vollständig selbst tragen müssten. Hier gibt es noch keine fertige Lösung. Die in diesem Zusammenhang bislang diskutierten Sonderregelungen im Beitragsrecht (u. a. abgesenkte Einstiegsbeiträge, schrittweises „Hineinwachsen“ in den vollen Regelbei­ trag, halbjährliche Zahlungsweise oder flexible Stundungsbedingungen) sind zwar notwendig, aber unzureichend, da die Betroffenen durch ermäßigte Beiträge zwangsläufig auch nur entsprechend reduzierte Anwartschaften erwerben, sofern diese nicht durch steuerfinanzierte Zuschüsse aufgestockt werden. Es sollte daher gerade bei den „Kleinselbstständigen“ nach Mög­ lichkeiten gesucht werden, wie der fehlende Arbeitgeberanteil kompensiert werden kann und wie die Auftraggeber, Nutzer und Verwerter einer Dienst­ leistung, insbesondere diejenigen, die selbst Unternehmen sind, stärker in die Finanzierungsverantwortung genommen und zur Beteiligung an den Altersversorgungskosten ihrer Auftragnehmer herangezogen werden können. In diesem Zusammenhang ist insbesondere die Übertragbarkeit des Modells der Künstlersozialkasse und des Instruments der „Verwertungsabgabe“ auf weitere Branchen und Berufsgruppen zu prüfen. Grundsätzlich sollte die Figur des Auftraggebers hinsichtlich ihrer sozialen Verpflichtungen langfris­ tig der Figur des Arbeitgebers angenähert werden; die Kosten der sozialen Absicherung der Auftragnehmer sollten explizit in die Preis- und Angebots­ kalkulation der Auftragnehmer wie auch in die Kostenkalkulation der Auf­ traggeber „eingepreist“ werden. Zumindest in der Gründungsphase könnten Selbstständige zudem stärker finanziell entlastet werden, indem der Gründungszuschuss für Existenzgrün­ der dergestalt weiterentwickelt wird, dass im ersten Jahr der Selbstständig­ keit der Mindestbeitrag teilweise oder komplett vom Fördermittelgeber (BA) übernommen wird (dies entspräche bei einem angenommenen Pau­ schalbetrag von ca. 400 Euro / Monat einem Zuschuss von 4.800 Euro); auf diese Weise würden Selbstständige in der Gründungsphase finanziell entlas­

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VIII. Konsequenzen und Handlungsempfehlungen

tet. Des Weiteren sind alle Möglichkeiten der flexiblen Beitragsentrichtung (auf Quartals-, Halbjahres- oder Jahresbasis) zu nutzen, um es Selbstständi­ gen zu erleichtern, unterjährige Einnahmeschwankungen abzufedern. Insgesamt ist die Weiterentwicklung der GRV zu einem universellen Al­ terssicherungssystem mit Mindestbeitragspflicht mit einer ganzen Reihe von Detail- und Übergangsproblemen verbunden, die im Rahmen der vorliegen­ den Studie nicht im Detail behandelt werden können. Grundsätzlich kann eine universelle Mindestversicherungspflicht nur für junge, neu ins Erwerbsbzw. „Versicherungsleben“ eintretende Menschen bis zu einem gewissen Alter gelten; hier gilt es, Lösungen für entsprechende Stichtagsregelungen zu finden, die den Individuen ermöglichen, sich auf die neuen Regelungen einzustellen. In finanzierungstechnischer Hinsicht führen die Ausweitung der Versiche­ rungspflicht und die Erhebung eines Mindestbeitrags zunächst zu einer massiven Steigerung der Beitragseinnahmen, der eine zeitversetzte Steige­ rung der Ausgaben gegenübersteht. Dies bedeutet, dass in der GRV insbe­ sondere für die Phase des Übergangs eine echte „Nachhaltigkeitsrücklage“ gebildet werden muss: Die zusätzlichen Beitragseinnahmen dürfen weder zu einer allgemeinen Senkung des GRV-Beitrages noch zu einer über die dring­ lichsten Korrekturen hinausgehenden Verbesserung der GRV-Leistungen zweckentfremdet werden, sondern müssen vielmehr zum Aufbau eines Ka­ pitalstocks genutzt werden, der ausschließlich der Finanzierung der zukünf­ tigen Renten dient. Eine entscheidende Frage, die von den Vertretern eines „Voll eigenstän­ digen Systems“ möglicherweise noch nicht ausreichend berücksichtigt wor­ den ist, ist die Frage der verwaltungstechnischen Praktikabilität, also des zu erwartenden bürokratischen Aufwandes, der mit der universellen Pflichtver­ sicherung, dem Beitragseinzug, der jeweiligen Zuweisung von Beitragsver­ antwortung und gegebenenfalls der bedarfsgeprüften Beitragssubventionie­ rung verbunden sein dürfte. Idealerweise sollte im Rahmen der Beitrags­ erhebung und des Beitragseinzugs ein gewisses Maß an individueller Flexi­ bilität ermöglicht werden. So sind im Hinblick auf den Beitragseinzug Kulanzregelungen, Stundungen, flexible Zahlungsmodalitäten etc. notwen­ dig, um den Beitragspflichtigen so viel Spielraum wie möglich zu lassen und um einer finanziellen Überforderung vorzubeugen. Zudem sollte geprüft werden, inwiefern für spezifische Situationen auch Beitragskredite gewährt werden könnten (ähnlich wie die Bildungskredite im BaföG), um bei vorü­ bergehender geringer Zahlungsfähigkeit eine individuelle Beitragszahlung in angemessener Höhe aufrecht zu erhalten. Auf der anderen Seite müsste es den Versicherten möglich sein, jederzeit auf freiwilliger Basis zusätzliche Beiträge (z. B. Einmalbeiträge) auf ihr Rentenkonto nachzuzahlen, um damit beispielsweise frühere niedrige Beitragsleistungen aufzustocken.



4. Nachträgliche Kompensation unzureichender Alterseinkünfte417

4. Nachträgliche Kompensation unzureichender Alterseinkünfte: Stärkung des sozialen Ausgleichs in der GRV Wenn durch die präventiven Maßnahmen einer sozialen Lebenslaufpolitik und eines universellen Alterssicherungssystems mit Mindestbeitragspflicht in langfristiger Perspektive erreicht werden kann, dass für möglichst alle Bürgerinnen und Bürger eine weitgehend lückenlose Versicherungsbiografie und dementsprechend auch ein existenzsicherndes eigenständiges Altersein­ kommen gewährleistet sind, werden diesbezügliche kompensatorische Maß­ nahmen auf der Leistungsseite der GRV im Prinzip weitgehend überflüssig. Präventive Maßnahmen entfalten ihre volle Wirkung jedoch immer nur mit einem großen zeitlichen Abstand; kurz- und mittelfristig sind zur Begren­ zung der Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter daher auch nachträglichkompensatorische Maßnahmen notwendig. Die dritte Handlungsebene einer umfassenden Politik der Altersarmutsbegrenzung bezieht sich daher auf die (zeitlich begrenzte) Stärkung der GRV-internen solidarischen Elemente zur nachträglich-kompensatorischen Besserstellung bestimmter Ausgleichstatbe­ stände. Wichtig erscheint, dass bei neu einzuführenden, über das heutige Maß hinausgehenden Maßnahmen der nachträglichen Kompensation durch die Aufwertung niedriger Anwartschaften in der GRV immer auch der spätere Ausstieg aus diesen Maßnahmen mitgedacht oder zumindest möglich ist. Denn wenn bestimmte Leistungen dauerhaft etabliert sind, wird es schwer, diese wieder zurückzunehmen. Angesichts der Zielsetzung des vorliegenden Reformkonzepts, den Großteil der nachträglichen Kompensationsleistungen langfristig möglichst überflüssig zu machen, spricht viel dafür, hier mit befristeten (bzw. besser noch: stufenweise auslaufenden) Lösungen zu arbei­ ten, beispielsweise mit einer Verlängerung der Rente nach Mindestentgelt­ punkten auf Versicherungszeiten ab 1992. Über die Rente nach Mindestentgeltpunkten wird der Durchschnitt der Entgeltposition aus niedrigen Pflichtbeitragszeiten auf das 1,5-Fache ihres tatsächlichen Wertes (maximal auf 0,75 Entgeltpunkte pro Jahr) angehoben. Die Regelung ist derzeit allerdings auf vor 1992 liegende Pflichtbeitragszei­ ten begrenzt, so dass ihre Bedeutung mit jedem neuen Rentenzugangsjahr abnimmt. Durch eine Verlängerung des Instruments auf nach Zeiten ab 1992 könnten bei künftigen Rentenzugängen gerade die zurückliegenden Versi­ cherungsjahre mit niedrigem Entgelt erfasst werden. Ein nicht unproblema­ tischer Punkt bei der Verlängerung der bestehenden Regelungen liegt aller­ dings (wie auch im Falle der vom BMAS vorgeschlagenen „Lebensleis­ tungsrente“) in der Ausgestaltung der Zugangsbedingungen (Steffen 2008: 11–13). Die bestehende Zugangsvoraussetzung von 35  Jahren mit renten­ rechtlichen Zeiten wirkt gewissermaßen nach einem „Alles-oder-Nichts“-

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VIII. Konsequenzen und Handlungsempfehlungen

Prinzip. Je niedrigschwelliger die Zugangsvoraussetzungen jedoch ausge­ staltet werden, desto teurer wird die Maßnahme; zudem stellt sich die Frage, inwieweit dadurch langjährige Teilzeiterwerbstätige über Gebühr begünstigt würden. Hier zeigt sich ein grundsätzliches Dilemma aller Maßnahmen der nachträglichen Kompensation, die an bestimmte Bedingungen geknüpft sind (insbesondere an eine langjährige Mitgliedschaft in der GRV): Je strenger und „zielgenauer“ die Voraussetzungen für den Bezug der Leistungen aus­ gestaltet sind, desto mehr Personen werden von den Leistungen ausge­ schlossen. Wie auch immer die Zugangsvoraussetzungen im Detail ausgestaltet wer­ den: Es sollte zumindest ausgeschlossen sein, dass der Abschluss eines ge­ förderten (betrieblichen oder privaten) Vorsorgevertrags zu einer Zugangs­ voraussetzung für die Aufstockungsleistungen gemacht wird, wie dies bei der „Zuschussrente“ bzw. „Lebensleistungsrente“ der Fall sein soll. Eine solche Vermischung von öffentlich-rechtlichem System und privatwirtschaft­ lich-kapitalgedeckten Systemen ist absolut unzulässig. Außerdem sollten kompensatorische Maßnahmen, die dem Ziel der Vermeidung von Grundsi­ cherungsbedürftigkeit dienen, nicht nur aus ordnungspolitisch-systemati­ schen, sondern insbesondere auch aus verteilungspolitischen Gründen aus­ schließlich aus Steuermitteln finanziert werden. Ein weiteres Element des sozialen Ausgleichs, das deutlich gestärkt wer­ den sollte, ist die leistungssteigernde Anerkennung von Pflegezeiten in der GRV. Bislang sind Erwerbsunterbrechungen und Arbeitszeitreduzierungen bei Pflegenden rentenrechtlich deutlich schlechter abgesichert als bei Kin­ dererziehenden: Während Kindererziehung für ab 1992 geborene Kinder für drei Jahre mit jeweils einem Entgeltpunkt pro Jahr zu Buche schlägt, sind es für die Pflege abhängig von der Pflegestufe des Pflegebedürftigen sowie dem zeitlichen Umfang des wöchentlichen Pflegeaufwands zwischen knapp 0,3 und maximal 0,8 Entgeltpunkten pro Jahr. Selbst im Fall der häuslichen 24-Stunden-Pflege eines Pflegebedürftigen in Pflegestufe III werden der Pflegeperson somit weniger Entgeltpunkte in der GRV gutgeschrieben als für jedes Kind in den ersten drei Jahren. Es sollte daher das Ziel sein, die rentenrechtliche Honorierung von Pflegearbeit zu verbessern und die Schief­ lage zwischen der Bewertung von Sorgearbeit für Kinder und von Pflegear­ beit zu beseitigen (Sachverständigenkommission Gleichstellungsbericht 2011: 202 / 203). Die Anrechnung von Pflegezeiten auf die Rentenansprüche sollte – angelehnt an die additive Anrechnung von Kindererziehungszeiten – unabhängig von Erwerbsstatus und Alter der pflegenden Person sein. Da aufgrund der gestiegenen Lebenserwartung Partner und Partnerinnen, die ihre Angehörigen pflegen, zunehmend schon im Rentenalter sind, sollte die Anrechnung auch für Pflegende erfolgen, die das Rentenalter bereits er­ reicht haben. Eine Höherbewertung ehrenamtlicher Pflege käme vor allem



4. Nachträgliche Kompensation unzureichender Alterseinkünfte419

weiblichen Versicherungsbiografien zugute und könnte im Einzelfall einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zum Aufbau einer existenzsichernden Altersrente leisten. Die anfallenden Mehrkosten sind der Pflegeversicherung durch den Bund zu erstatten. Im Hinblick auf das Risiko der Grundsicherungsbedürftigkeit sind zudem weitere Verbesserungen bei der Absicherung des Erwerbsminderungsrisikos dringend notwendig; die bisherigen Maßnahmen im Kontext des RV-Leis­ tungsverbesserungsgesetzes gehen zwar in die richtige Richtung, bleiben jedoch unzureichend. Aktuell müssen bereits rund 12 % der Bezieher einer Erwerbsminderungsrente zusätzliche Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung in Anspruch nehmen (Thiede 2014); Er­ werbsminderungsrentner weisen somit ein deutlich höheres Grundsiche­ rungsbedürftigkeitsrisiko auf als Altersrentner. Neben der Notwendigkeit einer weiteren Ausweitung der Zurechnungszeit vom 62. Lebensjahr auf das 63. Lebensjahr müssen insbesondere die seit 2001 bestehenden Abschläge bei „vorzeitiger“ Erwerbsminderung, die bis zu 10,8 Prozent betragen kön­ nen, kritisch hinterfragt werden. Da Erwerbsgeminderte im Schnitt bereits mit rund 51  Jahren in Rente gehen, sind heute rund 96 % der neu zugehen­ den Erwerbsminderungsrentner / -innen von Abschlägen betroffen; ihre Ren­ te wird dadurch im Schnitt um rund 77 Euro gemindert. Die bestehenden Abschläge orientieren sich an den Abschlägen bei den Altersrenten; sie sollen dabei nicht zuletzt auch das Rentenzugangsverhalten steuern, indem sie die Attraktivität der Erwerbsminderungsrente als Frühverrentungsoption reduzieren. Implizit wird im Rahmen dieser Anreizlogik davon ausgegan­ gen, dass die Versicherten den Zeitpunkt des Eintritts der Erwerbsminderung aktiv beeinflussen können. Wenn aber gewährleistet werden kann, dass vor der Bewilligung einer Erwerbsminderungsrente ein strenger und zuverlässiger Prüfungs- und Be­ gutachtungsprozess steht, dann kann nicht davon ausgegangen werden, dass Versicherte eine freie Wahl hätten, über die Erwerbsminderungsrente vorzei­ tig in den Ruhestand zu gehen. Unter dieser Voraussetzung wäre der Verlust der Erwerbsfähigkeit mit der Inanspruchnahme einer vorgezogenen Alters­ rente nicht vergleichbar; die Abschläge auf Erwerbsminderungsrenten wären somit als „systemfremd“ einzustufen (Bäcker 2014: 4). Geht man des Weiteren davon aus, dass das Erwerbminderungsrisiko „voll“ in der GRV abgesichert werden soll, dann sollten die bestehenden Abschläge daher voll­ ständig abgeschafft (oder in einem Zwischenschritt zumindest halbiert) werden. Hinsichtlich der angemessenen Balance zwischen Beitragssatz- und Leis­ tungszielen wird auch zu prüfen sein, ob das durch die Reformen von 2001 und 2004 beschlossene Absinken des allgemeinen Rentenniveaus nicht abgeschwächt bzw. durch das vorübergehende Aussetzen der Dämp­

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VIII. Konsequenzen und Handlungsempfehlungen

fungsfaktoren in der Rentenanpassungsformel zeitlich gestreckt werden sollte. Nicht nur die Maßnahmen des sozialen Ausgleichs, auch die im vorangegangenen Abschnitt umrissenen Bausteine eines universellen Al­ terssicherungssystems mit Mindestbeitrag können ihre armutsvermeidende Wirkung letztlich nur dann entfalten, wenn das allgemeine Rentenniveau nicht zu stark absinkt. 5. Bedarfsgerechte und niedrigschwellige Ausgestaltung der Grundsicherung im Alter Trotz aller präventiven wie auch kompensatorischen Maßnahmen inner­ halb und außerhalb des Alterssicherungssystems wird es sich auch in Zu­ kunft kaum vermeiden lassen, dass ein Teil der älteren Menschen weiterhin Leistungen der bedarfsgeprüften Grundsicherung im Alter in Anspruch nehmen muss. Dies gilt u. a. für Personen, die aus verschiedenen Gründen besonders erhöhte individuelle Bedarfe aufweisen, die auch durch die „Ba­ sissicherung“ der GRV nicht abgedeckt werden können, oder für zugewan­ derte Personen, die einen großen Teil ihrer Biografie nicht in Deutschland verbracht und daher keine oder nur geringe Rentenanwartschaften im Inland aufgebaut haben. Die vierte und unterste Handlungsebene setzt daher an der Ausgestaltung und der Verwaltungspraxis des Systems der Grundsicherung im Alter selbst an; sie bezieht sich somit streng genommen nicht auf die Vermeidung der Grundsicherungsbedürftigkeit, sondern vielmehr auf ihre möglichst „humane“ Bearbeitung im System der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem SGB XII. Erstens ist grundsätzlich sicherzustellen, dass die gesetzlichen Regelbe­ darfe so bemessen werden, dass das soziokulturelle Existenzminimum tat­ sächlich abgedeckt wird. Die Frage der Angemessenheit bestimmter Bedar­ fe ist sicherlich nicht ohne den Rückgriff auf Werturteile zu beantworten; dem Gesetzgeber ist hier ein gewisser Ermessens- und Gestaltungsspielraum gegeben. Nichtsdestotrotz erscheinen einige der getroffenen Regelungen und Setzungen im Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz von 2011 äußerst fragwürdig; der politische Wille der seinerzeit amtierenden Bundesregierung, im Rah­ men der vom Bundesverfassungsgericht geforderten Neuermittlung den Regelbedarf von Erwachsenen und Kindern auf keinen Fall nennenswert zu erhöhen, ist hier allzu offensichtlich gewesen (Lenze 2011). Die Verfas­ sungskonformität der betreffenden Regelungen wird sicherlich noch Gegen­ stand eines entsprechenden Klageverfahrens sein. Absolut richtig ist jedoch, die jährliche Anpassung des Regelsatzes nicht mehr an dem vollkommen systemfremden Referenzwert der Rentenanpassung zu orientieren, sondern an einem Mischindex, der zu 70 % die Preis- und zu 30 % die Nettolohnent­ wicklung zu Grunde legt.



5. Bedarfsgerechte Ausgestaltung der Grundsicherung im Alter421

Zweitens bestehen in der Grundsicherung im Alter trotz der weitgehenden Abschaffung des Unterhaltsrückgriffs auf die Kinder und einer in Ansätzen verbesserten Kommunikationspolitik nach wie vor gewisse psychologische Zugangshürden, die Leistungsberechtigte daran hindern, Leistungen der Grundsicherung im Alter auch zu beantragen. Gemäß Berechnungen von Irene Becker auf Grundlage des Sozioökonomischen Panels (SOEP) setzen deutlich mehr als die Hälfte, möglicherweise sogar bis zu zwei Drittel der bedürftigen alten Menschen ihre Ansprüche auf Mindestsicherungsleistun­ gen faktisch nicht durch (Becker 2012: 141). Grundsätzlich lässt sich zwar im Rahmen bedürftigkeitsgeprüfter Maßnahmen, die von den Betroffenen aktiv beantragt werden müssen, niemals vermeiden, dass ein Teil der An­ spruchsberechtigten seine Ansprüche nicht wahrnimmt; angesichts der ver­ mutlich sehr hohen Dunkelziffer sollten hier jedoch entschiedene Maßnah­ men und Initiativen ergriffen werden, um die nach wie vor hohe Dunkelzif­ fer „verschämter Altersarmut“ aufgrund von Nichtinanspruchnahme der Grundsicherung zu reduzieren, etwa durch breit angelegte Informationskam­ pagnen und Initiativen sowie durch aufsuchende Hilfe. Hierzu dürfte eine stärkere Vernetzung und Kooperation zwischen den Sozialhilfeträgern und den Einrichtungen und Organisationen der Altenhilfe (Wohlfahrtsverbände etc.) auf kommunaler Ebene hilfreich sein. Drittens ist zu prüfen, inwiefern die relativ ungünstig ausgestalteten Hin­ zuverdienstmöglichkeiten nicht ausgeweitet werden sollten, um u. a. auch die Anreize für ein ehrenamtliches Engagement bei den Betroffenen zu verbessern. Grundsicherungsbezieher / -innen nach dem SGB  XII sind in dieser Hinsicht bislang schlechter gestellt als Grundsicherungsbezieher / -in­ nen nach dem SGB II: Grundsätzlich bleiben zwar 30 % des Erwerbsein­ kommens (maximal die Hälfte des Regelbedarfs eines Alleinstehenden) anrechnungsfrei; während im SGB II jedoch ein Grundfreibetrag von mitt­ lerweile 100 Euro eingeräumt wird, ist im Rahmen der Grundsicherung im Alter kein Grundfreibetrag vorgesehen. Dies ist insbesondere für Personen mit geringfügigen Hinzuverdiensten nachteilig; so dürfen Bezieher / -innen der Grundsicherung im Alter von einer Aufwandsentschädigung im Rahmen einer ehrenamtlichen Tätigkeit von beispielsweise 100 Euro / Monat gerade einmal 30 Euro behalten. Für diese Benachteiligung besteht kein zwingen­ der Grund; die bestehenden Regelungen der Grundsicherung im Alter sollten daher an die Regelungen des SGB II angepasst werden. Eine weitere Benachteiligung älterer Hilfebedürftiger im SGB XII gegen­ über erwerbsfähigen Hilfebedürftigen im SGB II ergibt sich bei der ver­ gleichsweise restriktiv ausgestalteten Abgrenzung und Bemessung des Schonvermögens. So wird beispielsweise ein angemessenes Kraftfahrzeug nur bei erwerbsfähigen Personen zum Schonvermögen gezählt, nicht jedoch bei Seniorinnen und Senioren. Auch der Vermögensfreibetrag liegt mit ge­

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VIII. Konsequenzen und Handlungsempfehlungen

rade einmal 2.600 Euro extrem niedrig, so dass Seniorinnen und Senioren im Grundsicherungsbezug nur sehr kleine Sparbeträge bilden können. Auch für diese äußerst niedrig angesetzte Vermögensgrenze gibt es keinen sachli­ chen Grund, so dass hier im Hinblick auf die Stärkung der gleichberechtig­ ten gesellschaftlichen Teilhabe der Betroffenen eine deutliche Anhebung vorgenommen werden sollte. Auch in der konkreten Verwaltungspraxis der Grundsicherung im Alter lassen sich Spielräume für Verbesserungsmöglichkeiten identifizieren. Hier­ bei sollte man sich die Tatsache vor Augen führen, dass Grundsicherungs­ bedürftigkeit im Alter in der Regel kein vorübergehender Zustand, sondern vielmehr ein „Endzustand“ ist; die meisten Betroffenen werden über zwei Jahrzehnte lang im Grundsicherungsbezug leben und in dieser Zeit „Kun­ den“ des Grundsicherungssystems sein. Mit fortschreitendem Alter lassen in der Regel auch die kognitiven Fähigkeiten der betroffenen Seniorinnen und Senioren zunehmend nach, worauf eine besondere Rücksicht zu neh­ men ist. Wichtig ist zum einen die Gewährleistung eines möglichst nahtlosen Übergangs in die Grundsicherung im Alter, um Zeiträume ohne Leistungs­ bezug zu vermeiden. Dies ist augenblicklich scheinbar nicht immer der Fall: So ist es in einzelnen Fällen im Untersuchungssample beim Übergang in die Grundsicherung zu einer Versorgungslücke von bis zu sechs Wochen ge­ kommen. Dies kann je nach Einzelfall mit den unterschiedlichen Auszah­ lungsterminen der gesetzlichen Rente und der Grundsicherung oder mit Verzögerungen beim Antragsverfahren zusammenhängen; letztere sind zu­ mindest zum Teil auch auf (Melde-)Versäumnisse der Betroffenen selbst zurückzuführen. Generell sollte jedoch nach Möglichkeiten gesucht werden, wie das fortgeschrittene Alter und der zum Teil beeinträchtigte Gesundheits­ zustand der Betroffenen im Rahmen des Antrags- und Bewilligungsverfah­ rens besser berücksichtigt werden kann. Dies gilt nicht zuletzt auch für die jährlich erneut zu beantragende Verlängerung der Bezugsberechtigung. Gerade für ältere Menschen ist in subjektiver Perspektive zudem durch­ aus wichtig, dass sie bei der Behörde einen festen persönlichen Ansprech­ partner bzw. eine feste persönliche Ansprechpartnerin haben, der oder die mit den spezifischen Besonderheiten ihres jeweiligen Einzelfalls vertraut ist, und dass die für sie zuständigen Sachbearbeiter / -innen nicht ständig wech­ seln. Dieser zwischenmenschliche Aspekt bei der Hilfegewährung sollte nicht unterschätzt werden. Wie in mehreren Interviews mit Grundsiche­ rungsbezieher / -innen deutlich geworden ist, hat das Vorhandensein eines persönlichen Ansprechpartners für die Betroffenen auch etwas mit gefühlter Wertschätzung zu tun: Einer ansonsten anonym bleibenden Behörde wird dadurch gewissermaßen „ein Gesicht verliehen“.



5. Bedarfsgerechte Ausgestaltung der Grundsicherung im Alter423

Ein weiterer Punkt bezieht sich auf die Frage des angemessenen Wohn­ raumes. Insbesondere beim Tod des Ehepartners kommt es oftmals zu der Situation, dass der überlebende Ehepartner (in der Regel die verwitwete Ehefrau) in einer nunmehr für eine alleinstehende Person zu großen bzw. zu teuren Wohnung wohnt und daher seitens des Sozialamts folgerichtig nach sechs Monaten Karenzzeit aufgefordert wird, in eine günstigere Wohnung zu wechseln. Wie die Interviews mit den Betroffenen gezeigt haben, kann ein erzwungener Umzug für die betroffene, gerade erst verwitwete Person eine enorme zusätzliche psychische Belastung darstellen, wenn kurz nach dem Verlust des Ehepartners, der zudem nicht selten in den letzten Jahren vor seinem Tod pflegebedürftig gewesen ist, auch der Verlust der Wohnung und damit des vertrauten Lebensumfelds droht. Um unnötige soziale Härten zu vermeiden, sollten die bestehenden Kulanzspielräume der Sozialhilfebe­ hörden an dieser Stelle möglicherweise ausgeweitet und konsequenter zu­ gunsten der Betroffenen genutzt werden. Generell haben sich im Zuge der Interviews, die in rund einem Drittel der Fälle in der Wohnung der Befragten stattgefunden haben, bei den Betroffe­ nen deutliche Unterschiede hinsichtlich der Qualität der Wohnraumversor­ gung gezeigt. Gerade für Personen mit eingeschränkter Mobilität (fast ein Viertel der Grundsicherungsbezieher / -innen sind gehbehindert) ist neben der Ausstattung und dem baulichen Zustand auch die räumliche Lage der Wohnung relevant, d. h. die Erreichbarkeit von Ärzten, Einkaufsmöglichkei­ ten oder Senioreneinrichtungen. Dies gilt nicht zuletzt auch im ländlichen Raum. Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels und des bereits in wenigen Jahren zu erwartenden deutlichen Anstiegs der Zahl der Grund­ sicherungsbezieher / -innen erscheinen daher verstärkte Anstrengungen zur Schaffung von zusätzlichem seniorengerechten und bezahlbaren Wohnraum (und eine entsprechende Stärkung des sozialen Wohnungsbaus) auf kommu­ naler wie auch auf Länderebene dringend geboten.

IX. Zusammenfassung und Ausblick Das Thema „Altersarmut“ ist sicherlich eines der meistdiskutiertesten, wenn nicht sogar das meistdiskutierteste sozialpolitische Thema der letzten Jahre. Seit der Verabschiedung der „Rente ab 67“ im Frühjahr 2007, die in gewisser Hinsicht den Schlusspunkt der Mitte der 1990er Jahre begonnenen Phase der „Nachhaltigkeitsreformen“ bildet, ist eine Vielzahl von wissen­ schaftlichen Gutachten, Studien und Artikeln zu dem Thema erschienen. Sowohl im wissenschaftlichen wie auch im partei- und verbandspolitischen Raum ist zudem eine breite Palette an Vorschlägen für Reformen mit dem Ziel der „Bekämpfung“ bzw. „Vermeidung“ zukünftiger Altersarmut entwi­ ckelt und zur Diskussion gestellt worden. Im Hinblick auf die Definition des Problems hat sich in der Diskussion ein „common sense“ herausgebil­ det, demgemäß Altersarmut bzw. Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter zwar angesichts der niedrigen Grundsicherungsquote der heutigen Seniorin­ nen und Senioren von 2,7 % (2012) zumindest aktuell kein großes und akutes Problem darstellt, dass aber für die Zukunft aufgrund der Einschnit­ te in die gesetzliche Rentenversicherung und der zunehmend diskontinuier­ lichen Erwerbsbiografien mit einem deutlichen absoluten wie auch relativen Anstieg der Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter zu rechnen ist. Das individuelle Alterseinkommen und die individuelle Versorgungslage im Alter sind das Ergebnis des individuellen Lebensverlaufs (und zumindest zum Teil auch seiner rentenrechtlichen Bewertung). In dem nach wie vor stark erwerbsarbeitszentrierten deutschen Rentensystem ist die individuelle Erwerbsbiografie von entscheidender Bedeutung für die Höhe der späteren Altersrente. Die verschiedenen quantitativen Studien der letzten Jahre, die sich mit der zukünftigen Entwicklung der Alterseinkommen befassen und dabei zum Teil auch Aussagen über die zukünftige Entwicklung der Alters­ armut sowie über möglicherweise verstärkt betroffene Risikogruppen tref­ fen, konzentrieren sich daher in erster Linie auf den Zusammenhang zwi­ schen der Erwerbsbiografie und dem Alterseinkommen bzw. der Höhe der GRV-Altersrente (Heien et  al. 2007, Geyer / Steiner 2010, Kumpmann et  al. 2010, Simonson et al. 2012, Frommert 2013). Auch die vorliegende, qualitativ angelegte Studie befasst sich mit den individuellen biografischen Determinanten unzureichenden Alterseinkom­ mens und finanzieller Hilfebedürftigkeit im Alter und darauf aufbauend mit der Frage nach zielführenden und ursachengerechten sozialpolitischen Stra­



IX. Zusammenfassung und Ausblick

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tegien zur Begrenzung zukünftiger Altersarmut. Gegenstand des empirischen Teils der Untersuchung ist die typisierende Analyse von „prekären“ Lebens­ verläufen und Altersvorsorgebiografien, die im Ergebnis zu einer Inan­ spruchnahme der Grundsicherung im Alter führen bzw. geführt haben. Die empirische Grundlage bilden 49 biografisch- problemzentrierte Interviews mit grundsicherungsbedürftigen Seniorinnen und Senioren der Geburtsjahr­ gänge 1938–1947, die zwischen Frühjahr 2013 und Frühjahr 2014 geführt worden sind. Die befragten Personen waren zum Interviewzeitpunkt zwi­ schen 65 und 75  Jahre alt und bezogen aktuell Leistungen der Grundsiche­ rung im Alter nach dem 4. Kapitel des SGB XII. Ausgehend von der Gruppe der aktuell grundsicherungsbedürftigen Personen wurden retrospek­ tiv die charakteristischen Merkmale der Lebensverläufe und Altersvorsorge­ biografien der Betroffenen rekonstruiert und analysiert, um auf diese Weise verallgemeinerbare Konstellationen, Muster und Determinanten unzurei­ chenden Alterseinkommens zu ermitteln. Konzeptioneller Ausgangspunkt der Untersuchung ist die im Einklang mit den Ergebnissen der Lebenslaufforschung stehende Überlegung, dass die individuelle Erwerbs- und Versicherungsbiografie nur eine Teildimension der gesamten Biografie darstellt und dass sie in weitere Biografiedimensio­ nen eingebettet ist; die individuelle Erwerbs- und Versicherungsbiografie ist als Ergebnis eines komplexen Wechselspiels zwischen individuellen Hand­ lungsorientierungen, familiären Konstellationen, gesellschaftlichen Leitbil­ dern sowie ökonomischen und institutionellen Rahmenbedingungen zu be­ greifen. Für eine vertiefende Analyse individueller Lebensverläufe im Hin­ blick auf die biografischen Determinanten der Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter ist daher eine mehrdimensionale Betrachtung des Lebensverlaufs notwendig, die zugleich auch die subjektiven Perspektive, die lebensweltli­ chen Konstellationen und die individuellen Handlungsorientierungen der betroffenen Personen berücksichtigt. Konkret wurden bei der Analyse der individuellen Lebensverläufe insgesamt sieben verschiedene biografische Teildimensionen unterschieden, deren Relevanz und deren Zusammenspiel für jeden einzelnen Fall untersucht wurde: Die Erwerbsbiografie, die Fami­ lienbiografie, die Gesundheitsbiografie, die Bildungsbiografie, die Vorsorge­ biografie, die Migrationsbiografie sowie sonstige Biografieelemente. Die detaillierte Analyse der Lebensverläufe heutiger Grundsicherungsbe­ zieherinnen und Grundsicherungsbezieher zeigt zunächst, dass Grundsiche­ rungsbedürftigkeit im Alter überwiegend multifaktoriell verursacht ist und sich die individuelle Hilfebedürftigkeit in den meisten Fällen nicht auf einen einzelnen determinierenden Faktor, sondern auf eine jeweils fallspezifische Kombination von Risikofaktoren zurückführen lässt. Auffallend ist, dass die meisten Fälle im Untersuchungssample der vorliegenden Studie eine deut­

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IX. Zusammenfassung und Ausblick

lich verkürzte Versicherungsbiografie in der gesetzlichen Rentenversiche­ rung (GRV) aufweisen; die durchschnittliche Anzahl der Jahre in sozialver­ sicherungspflichtiger Vollzeit- oder Teilzeitbeschäftigung liegt bei den 49 Fällen im Sample gerade einmal bei 15 Jahren. Die Gründe für die massiven Lücken in den individuellen Versicherungsbiografien sind dabei sehr unter­ schiedlich; zu den wichtigsten Faktoren, die teilweise auch in Kombination miteinander wirksam werden, gehören lange Erwerbsunterbrechungen auf­ grund von Kindererziehung und Haushaltsführung, längere Phasen der nicht obligatorisch abgesicherten Selbstständigkeit, längere Phasen der Arbeitslo­ sigkeit und des Transferbezugs sowie der vorzeitige Erwerbsausstieg auf­ grund von gesundheitlichen Problemen und dauerhafter Erwerbsunfähigkeit. Ein wichtiger Befund der Fallanalysen, der in den meisten quantitativen Studien bislang eher unterbelichtet geblieben ist, ist die hohe Bedeutung von Schwarzarbeit in vielen (insbesondere weiblichen) Biografien. Aus den Auswertungen der Grundsicherungsstatistik ist bekannt, dass nur ein verschwindend geringer Teil  der Grundsicherungsbezieher / -innen Leis­ tungen aus betrieblichen oder privaten Vorsorgesystemen bezieht; dies ist auch im Sample der vorliegenden Studie der Fall. Die Analyse der vorlie­ genden Fälle liefert indes deutliche Hinweise darauf, dass hierfür oftmals nicht nur mangelnde Vorsorgefähigkeit und mangelnde Vorsorgebereitschaft der Betroffenen verantwortlich sind, sondern dass es zumindest in einem Teil der Fälle zu einem Scheitern der individuellen Vorsorgestrategie, zu einer vorzeitigen Aufzehrung oder gar einem kompletten Verlust der Vorsor­ geersparnisse gekommen ist. Insbesondere nicht obligatorisch abgesicherte Selbstständige, deren Altersvorsorge im Wesentlichen privat organisiert ist, tragen offensichtlich ein erhöhtes Vorsorgerisiko. Die Ergebnisse der Fallanalysen bestätigen zudem den aus der Armutsfor­ schung bekannten Befund, dass ältere Alleinstehende ein überdurchschnitt­ liches Altersarmutsrisiko tragen, da bei Einpersonenhaushalten die Möglich­ keit eines haushaltsinternen Umverteilungsprozesses nicht gegeben ist (Goebel / Grabka 2011: 7–8). Die große Mehrheit der Befragten ist (mindes­ tens einmal) geschieden oder verwitwet und lebt allein; zu den unzureichen­ den Einkünften aus der GRV und den nicht vorhandenen Einkünften aus anderen Vorsorgesystemen tritt als dritter Faktor die fehlende Absicherung über den (Ehe-)Partner im Haushaltskontext hinzu. Die ermittelten biografischen Risikoprofile der untersuchten Fälle lassen sich in typisierender Betrachtung zu sozialen Risikogruppen verdichten, de­ ren Mitglieder ein Set an verallgemeinerbaren und in diesem Sinne „typi­ schen“ Biografiemustern und Risikokombinationen aufweisen. Innerhalb des Untersuchungssamples lassen sich in diesem Sinne fünf zentrale Risikogrup­ pen unterscheiden, die auch innerhalb der Gesamtheit der heutigen Grundsi­ cherungsbezieher / -innen maßgebliche Teilgruppen darstellen dürften:



IX. Zusammenfassung und Ausblick427

− Familienorientierte Frauen, − ehemalige Selbstständige, − zugewanderte Personen (Arbeitsmigranten der ersten Generation, (Spät-) Aussiedler und jüdische Kontingentflüchtlinge), − umbruchsgeprägte Ostdeutsche, − „komplex Diskontinuierliche“. Für jede dieser Teil- bzw. Risikogruppen lässt sich eine Reihe relevanter historischer und rechtlicher Rahmenbedingungen sowie „typischer“ Konstel­ lationen und Biografiemuster identifizieren, die im Rahmen der vorliegen­ den Studie detailliert beschrieben und anhand von konkreten Fallbeispielen verdeutlicht worden sind. Auch wenn für das Untersuchungssample der vorliegenden Studie selbstverständlich keine „Repräsentativität“ im statisti­ schen Sinne behauptet werden kann, was an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich betont werden soll, so ergibt sich aus der empirisch begründe­ ten Typenbildung sowie der Beschreibung und Analyse der einzelnen Risi­ kogruppen im Untersuchungssample dennoch zumindest eine Annäherung an ein „Gesamtpanorama“ der soziodemografischen Zusammensetzung und der biografischen Hintergründe der jetzigen „jungen Alten“ im Grundsiche­ rungsbezug. Dieses Bild stellt allerdings eine Momentaufnahme der Jahre 2013 und 2014 dar. Die „jungen Alten“ im heutigen Grundsicherungsbezug gehören den während des Zweiten Weltkrieges und unmittelbar danach geborenen Geburtsjahrgängen an. Insbesondere die Geburtsjahrgänge zwischen 1945 und 1950 sind quantitativ vergleichsweise schwach besetzt, so dass man aktuell von einer „demografischen Pause“ sprechen kann (Rürup / Huchzer­ meier 2014: 60); bei den zwischen 1950 und 1955 geborenen Nachkriegs­ kohorten, die in den nächsten Jahren das Rentenalter erreichen, kommt es wieder zu einem allmählichen Anstieg der Geburtenzahlen. Ab 2020 werden dann die Angehörigen der quantitativ deutlich stärker besetzten Babyboo­ mer-Kohorten (1955 bis ca. 1969) das gesetzliche Rentenalter erreichen. In der aktuellen demografischen Übergangsphase herrscht nicht nur in der gesetzlichen Rentenversicherung, sondern auch im System der Grundsiche­ rung im Alter gewissermaßen noch die „Ruhe vor dem Sturm“. Im Hinblick auf die zukünftige Entwicklung ist davon auszugehen, dass sich mit dem zukünftigen Generationenwechsel in der Grundsicherung die Zusammensetzung der Grundsicherungspopulation mehr oder weniger deut­ lich verändern wird. Ein Teil der im Rahmen der vorliegenden Studie iden­ tifizierten Risikogruppen wird quantitativ aller Voraussicht nach mittelfristig an Bedeutung verlieren; dies gilt insbesondere für bestimmte Zuwanderer­ gruppen wie die jüdischen Kontingentflüchtlinge und die (Spät-)Aussied­

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IX. Zusammenfassung und Ausblick

ler / -innen, aber auch für die „Gastarbeiter“ der ersten Generation. Auch die Gruppe der „familienorientierten Frauen“ dürfte zumindest langfristig zu­ rückgehen. Für andere Gruppen, wie die bereits jetzt reaktiv stark in der Grundsicherung präsente Gruppe der ehemaligen Selbstständigen und insbe­ sondere die allmählich in die Grundsicherung hineinwachsende Gruppe der „umbruchsgeprägten Ostdeutschen“, ist hingegen tendenziell mit einem Bedeutungszuwachs zu rechnen (Geyer / Steiner 2010, Kumpmann et  al. 2010, Simonson et al. 2012). Mittelfristig werden zudem neue Gruppen hinzukommen, die zumindest im Untersuchungssample der vorliegenden Studie noch keine große Rolle spielen. Neben der wachsenden Gruppe von Personen mit jahrzehntelanger atypischer bzw. prekärer Beschäftigung und perforierten Erwerbsbiografien („Patchwork-Biografien“) dürfte in Zukunft auch die Gruppe der langjährig Versicherten mit niedrigem Durchschnittseinkommen zunehmend von Grundsicherungsbedürftigkeit betroffen sein. Letztere Gruppe wird nicht nur ein Opfer der Arbeitsmarkt- und Verteilungsentwicklungen der 1990er und 2000er Jahre sein, sondern auch der politisch beschlossenen Einschnitte in die gesetzliche Rentenversicherung (Brettschneider 2012a). Im Hinblick auf die politische Legitimation der „neuen deutschen Alterssicherungspolitik“ (Schmähl 2006) dürfte sich daher eben diese Gruppe als besonders proble­ matisch herausstellen. Neben der empirischen Analyse der typischen Lebenslaufmuster und Ri­ sikoprofile der verschiedenen „Risikogruppen“ innerhalb der jetzigen Grundsicherungspopulation sowie deren absehbarer zukünftiger Entwicklung liegt ein zweiter, stärker normativ geprägter Schwerpunkt der vorliegenden Studie auf der Diskussion der sozialpolitischen Optionen zur Vermeidung bzw. Begrenzung zukünftiger Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter. Zu diesem Zweck ist zunächst ein knapper, systematisierender Überblick über die aktuelle Reformdebatte und die aktuell diskutierten Lösungsansätze zur „Bekämpfung von Altersarmut“ erarbeitet worden. Die verschiedenen Lö­ sungsansätze und Reformvorschläge lassen sich auf einer allgemeinen Ebe­ ne zunächst einmal dahingehend unterscheiden, welche sozialpolitischen Ziele sie (für welche Adressatengruppe und in welchem Zeithorizont) mit welchen Strategien verfolgen wollen und welche Finanzierung sie hierfür vorsehen. Diese Grundunterscheidung ist insofern hilfreich, als dass in der politischen Diskussion oftmals die konkreten Modelle und Instrumente im Vordergrund stehen, während die dahinter stehenden sozialpolitischen Si­ cherungsziele (und nicht selten auch die Finanzierungsfrage) oftmals eher implizit bleiben. Trotz der enormen Bandbreite der verschiedenen Vorschläge, deren Wur­ zeln zum Teil bereits auf die 1980er Jahre zurückgehen, lässt sich in der aktuellen politischen Debatte eine Schwerpunktsetzung auf kompensato­



IX. Zusammenfassung und Ausblick429

risch-nachsorgende, in der Regel bereits kurz- und mittelfristig wirksame Ansätze konstatieren. Diese sehen im Wesentlichen eine nachträgliche, an das Vorliegen spezifischer Voraussetzungen geknüpfte Aufwertung von An­ wartschaften in der GRV für langjährig Pflichtversicherte im unteren Be­ reich der Einkommensverteilung vor. In diesem Rahmen, der nicht zuletzt auch durch die haushalts- und finanzpolitischen Vorgaben („Schulden­ bremse“) sowie die gesetzlich festgelegten und nach wie vor kaum in Frage gestellten Beitragssatzobergrenzen (20 % bis 2020, 22 % bis 2030) abge­ steckt wird, bewegt sich auch die Regierungspolitik der vergangenen und der aktuellen Legislaturperiode; an dem 2001 eingeführten Drei-Säulen-Pa­ radigma wird grundsätzlich weiterhin festgehalten. Die Analyse der seit Jahren diskutierten, aber bislang noch nicht umgesetzten Reformpläne („Zuschussrente“, „Lebensleistungsrente“ bzw. „Solidarische Lebensleis­ tungsrente“) sowie der bereits zu Beginn der aktuellen Legislaturperiode umgesetzten Reformmaßnahmen („RV-Leistungsverbesserungsgesetz“) zeigt, dass die „Bekämpfung von Altersarmut“ in den letzten Jahren zwar immer wieder als Ziel formuliert, aber seitens der wechselnden Regierungen bis heute nicht konsequent verfolgt wird. Während das im Frühjahr 2014 verabschiedete „Rentenpaket“ ohnehin erklärtermaßen nicht der Vermeidung von Altersarmut, sondern vielmehr der Schließung realer oder vermeintlicher „Gerechtigkeitslücken“ dienen soll, streben auch die bislang bekannten Pläne für eine „Zuschuss“- oder „Le­ bensleistungsrente“ keinesfalls eine möglichst flächendeckende Vermeidung von Grundsicherungsbedürftigkeit im Alter an. Die sozialpolitischen Bemü­ hungen konzentrieren sich vielmehr auf einen bestimmten Personenkreis, nämlich die legitimationspolitisch besonders problematische Gruppe der langjährigen kontinuierlichen Geringverdiener, während andere Risikogrup­ pen (u. a. Erwerbsgeminderte, Langzeitarbeitslose, ungesicherte Selbststän­ dige) durch die Ausgestaltung der Zugangsvoraussetzungen von den geplan­ ten nachträglichen Aufstockungsleistungen größtenteils ausgeschlossen werden. Durch die geplante (bzw. im Fall des „Rentenpakets“ bereits be­ schlossene) Finanzierung eines nicht unwesentlichen Teils dieser Leistungen aus Beitrags- statt aus Steuermitteln kommt es zudem zu verteilungspolitisch hoch problematischen Konsequenzen. Es dominiert somit eine selektive, teilweise geradezu klientelistisch an­ mutende Politik der Privilegierung einzelner Gruppen, die auf einer Logik der „Anerkennung von Lebensleistung“ beruht. Hierbei scheint es weniger um das Ziel der möglichst umfassenden Vermeidung von Altersarmut zu gehen, sondern vielmehr um die (möglichst kostengünstige) Aufrechterhal­ tung der Legitimation der GRV bzw. des Gesamtsystems der Alterssicherung und um die Setzung von Anreizen für ein langes Arbeitsleben sowie für eine zusätzliche private Altersvorsorge. Diese Strategie der selektiven „An­

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IX. Zusammenfassung und Ausblick

erkennung von Lebensleistung“, die nicht zuletzt auch bestimmte Vorstel­ lungen von „deservingness“ transportiert, dürfte allerdings im Ergebnis weder zu einer substanziellen Reduzierung der zukünftigen Grundsiche­ rungsbedürftigkeit im Alter führen noch dazu beitragen, die Akzeptanz der GRV und des Alterssicherungssystems insgesamt zu stärken. Durch die of­ fensichtliche Privilegierung bestimmter Gruppen zu Lasten anderer Gruppen und die Vermischung von Versicherung und Fürsorge dürfte vielmehr wei­ teres Vertrauen in die GRV zerstört werden. Im Rahmen der vorliegenden Studie ist ein eigener Vorschlag zur Vermei­ dung und Begrenzung zukünftiger Grundsicherungsbedürftigkeit und finan­ zieller Abhängigkeit im Alter entwickelt worden. Es handelt sich dabei um ein Mehrebenenkonzept, das in erster Linie präventiv ausgerichtet ist und eine Antwort auf veränderte Erwerbs- und Lebensverläufe geben will, die an den Ursachen unzureichender Alterssicherungsansprüche ansetzt. Sozial­ politisches (Mindest-)Sicherungsziel dieses Konzepts ist die Gewährleistung eines existenzsichernden eigenständigen Alterseinkommens für alle Bürge­ rinnen und Bürger, durch das sowohl die Angewiesenheit auf Leistungen der Grundsicherung im Alter als auch die finanzielle Abhängigkeit von Dritten (z. B. vom Ehepartner oder von weiteren Angehörigen) im Normal­ fall vermieden wird. Dieses Ziel erfordert eine koordinierte Politik, die auf insgesamt vier komplementären, aber interventionslogisch „hintereinander geschalteten“ Handlungsebenen ansetzt: − Ermöglichung gelungener (Erwerbs-)Biografien durch eine umfassende soziale Lebenslaufpolitik, − Weiterentwicklung der GRV zu einem universellen Alterssicherungssys­ tem mit Mindestbeitrag, − nachträgliche Kompensation unzureichender Alterseinkünfte durch Stär­ kung des sozialen Ausgleichs in der GRV, − bedarfsgerechte und niedrigschwellige Ausgestaltung der Grundsicherung im Alter. Der beste Schutz gegen Grundsicherungsbedürftigkeit und finanzielle Abhängigkeit im Alter ist eine „gute“ Erwerbsbiografie, in deren Rahmen ein Einkommen erzielt werden kann, das sowohl zur Bestreitung des aktu­ ellen Lebensunterhalts als auch zum Aufbau ausreichender eigenständiger Rentenanwartschaften ausreicht. Um eine solche Biografie für möglichst viele Menschen in der Gesellschaft möglich zu machen, ist eine bessere Koordination und Verzahnung von Bildungs-, Arbeitsmarkt- und Beschäfti­ gungs-, Familien- und Gesundheitspolitik im Rahmen einer übergreifenden „sozialen Lebenslaufpolitik“ notwendig. Die gesetzliche Rentenversicherung als zentrale Säule der deutschen Alterssicherung sollte in diesem Zusam­



IX. Zusammenfassung und Ausblick431

menhang zu einer universellen Bürgerversicherung ausgebaut werden und wieder ein explizites sozialpolitisches (Mindest-)Sicherungsziel erhalten. Da die grundsätzliche Vorleistungsabhängigkeit und Vorleistungsbezogenheit der GRV grundsätzlich beibehalten werden sollte, entspricht dem Mindest­ sicherungsziel der eigenständigen Existenzsicherung im Alter auch eine Mindestbeitragspflicht während der gesamten Erwerbsphase. Grundsatz ist, dass alle Bürgerinnen und Bürger dabei unterstützt und zugleich auch dazu angehalten werden, durch eigene Beitragsleistungen ein ausreichendes ei­ genständiges Alterseinkommen in der GRV aufzubauen. In diesem Zusam­ menhang ist auch eine stärkere Aufklärung der Bürgerinnen und Bürger über die langfristigen Konsequenzen bestimmter (Lebens-)Entscheidungen, insbesondere hinsichtlich ihrer Beteiligung an Bildung und Erwerbsarbeit, für ihre spätere Absicherung im Alter notwendig. Da ein präventives Konzept, wie es hier vorgeschlagen wird, erst lang­ fristig wirksam werden kann, werden Maßnahmen der nachträglichen Kom­ pensation unzureichender Alterseinkünfte in der GRV für einen langen Übergangszeitraum notwendig bleiben. In diesem Zusammenhang sollte eine befristete Verlängerung der „Rente nach Mindestentgeltpunkten“ unter er­ leichterten bzw. modifizierten Zugangsvoraussetzungen in Erwägung gezo­ gen werden. Unter dem Gesichtspunkt der Armutsvermeidung erscheint insbesondere die Verbesserung der rentenrechtlichen Absicherung des Er­ werbsminderungsrisikos vordringlich. Letztlich wird im Sinne eines ursa­ chengerechten Ansatzes auch kein Weg daran vorbei führen, die beschlos­ sene Absenkung des Rentenniveaus noch einmal auf den Prüfstand zu stellen; denn selbst der niedrigste Beitragssatz ist noch zu hoch, wenn die Versicherten hierfür keine angemessene Gegenleistung erwarten können. Es wird allerdings trotz allem nicht zu vermeiden sein, dass es in den nächsten Jahrzehnten zu einem Anstieg der Grundsicherungsbedürftigkeit kommen wird; die Versäumnisse der Vergangenheit können im Rahmen eines vorleis­ tungsbezogenen Systems wie der deutschen GRV auch bei einem deutlichen Ausbau des sozialpolitischen Ausgleichs nicht mehr vollständig ausgegli­ chen werden. Insofern gehören zu einem umfassenden Konzept zur Vermei­ dung bzw. Linderung von Altersarmut auch Maßnahmen, die auf eine be­ darfsgerechtere und „humanere“ Ausgestaltung der Grundsicherung im Alter abzielen; der Grundsatz der Nachrangigkeit der Sozialhilfe sollte dabei al­ lerdings gewahrt bleiben. Die kurzfristigen politischen Durchsetzungschancen des im Rahmen der vorliegenden Studie entwickelten Mehrebenenkonzeptes zur Begrenzung von Grundsicherungsbedürftigkeit und finanzieller Abhängigkeit im Alter sind zumindest in der aktuellen politischen Konstellation sicherlich als eher gering einzuschätzen. Insbesondere die Weiterentwicklung der GRV zu ei­ nem universellen Alterssicherungssystem mit Mindestbeitragspflicht würde

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IX. Zusammenfassung und Ausblick

auf enormen politischen Widerstand stoßen, wie die jüngsten Erfahrungen im Zusammenhang mit dem eher halbherzigen Versuch der Einführung einer Vorsorgepflicht für bislang nicht obligatorisch abgesicherte Selbstständige gezeigt haben. Nichtsdestotrotz zeigt das hier präsentierte, sicherlich in vielen Punkten sehr weit gehende Konzept im Sinne eines Diskussionsbei­ trags wichtige Perspektiven für die Weiterentwicklung des deutschen Alters­ sicherungssystems auf. Erstens formuliert die vorliegende Studie ein nachdrückliches Plädoyer für eine konsequente Stärkung und Revitalisierung der gesetzlichen Rentenversicherung als tragender Säule des deutschen Alterssicherungssystems und eine Absage an eine wie auch immer geartete Vorstellung einer „Armutsver­ meidung aus drei Säulen“. Mehr als ein Jahrzehnt nach dem Paradigmen­ wechsel in der deutschen Alterssicherungspolitik wird immer deutlicher, dass das neue Drei-Säulen-Modell sowohl hinsichtlich des Ziels der Lebens­ standardsicherung als insbesondere auch hinsichtlich des Ziels der Armuts­ vermeidung an seine Grenzen stößt. Angesichts der eingeschränkten Vorsor­ gefähigkeit vieler Geringverdiener und der allgemeinen menschlichen Ten­ denz zur Minderschätzung künftiger Bedürfnisse wäre es utopisch zu glau­ ben, dass auf Freiwilligkeit basierende Vorsorgesysteme wie beispielsweise die Riester-Rente die durch die Rentenreformen aufgerissene Vorsorgelücke im unteren Einkommensbereich auch nur einigermaßen schließen können. Armutsvermeidung ist eine genuin staatliche Aufgabe und kann nur im Rahmen eines (im Hinblick auf dieses Ziel weiterzuentwickelnden) staat­ lichen Pflichtversicherungssystems gelöst werden. Zweitens formuliert die vorliegende Studie ein Plädoyer für eine stärker systematisch vorgehende Alterssicherungspolitik, die im Rahmen eines über­ greifenden Gesamtkonzepts von einem klar definierten und normativ gut begründeten sozialpolitischen (Mindest-)Sicherungsziel ausgeht und die verschiedenen Einzelmaßnahmen konsequent aus diesem Ziel ableitet und auf dieses Ziel hin ausrichtet. Die Alterssicherungspolitik der letzten Jahre erscheint demgegenüber als ein Sammelsurium unkoordinierter, teilweise widersprüchlicher Einzelmaßnahmen, das je nach aktueller Kassenlage Leis­ tungen kürzt (wie beispielsweise die Streichung der Beitragszahlung für SGB II-Empfänger im Rahmen des Haushaltsbegleitgesetzes 2011) oder neue „Wohltaten“ verteilt (wie beispielsweise die Einführung der „Rente ab 63“ im aktuellen RV-Leistungsverbesserungsgesetz) und hinsichtlich der Gegenfinanzierung dieser Maßnahmen gegen elementare ordnungs- und verteilungspolitische Grundsätze verstößt. Drittens wird im Rahmen der vorliegenden Studie für einen universalistischen und präventiven Ansatz in der Alterssicherung plädiert. Eine Politik der selektiven „Honorierung von Lebensleistung“, wie sie von den beiden großen Volksparteien in den letzten Jahren verfolgt worden ist, wird weder



IX. Zusammenfassung und Ausblick433

das Problem der wachsenden Altersarmut noch die dadurch drohenden Ak­ zeptanzprobleme der GRV lösen können, sondern stattdessen eher neue Gerechtigkeits- und Akzeptanzprobleme schaffen. Benötigt wird nicht eine Politik der selektiven nachträglichen Kompensation zugunsten ausgewählter „Normerfüller“, sondern vielmehr eine universalistische, konsequent prä­ ventiv ausgerichtete Politik, die die Menschen in ihren Lebensläufen beglei­ tet und sie dabei unterstützt (und zugleich auch dazu auffordert), aus eigener Kraft eine existenzsichernde eigenständige Altersvorsorge aufzubauen. Eine lebenslauforientierte und lebensbegleitende Alterssicherungspolitik mit dem Mindestsicherungsziel der Gewährleistung einer eigenständigen Existenzsi­ cherung im Alter für jede und jeden erfordert sicherlich einen enormen politischen und institutionellen Koordinationsaufwand; im Hinblick auf das Ziel der Gewährleistung selbstbestimmter ökonomischer und gesellschaftli­ cher Teilhabe im Alter ist sie den meisten anderen Ansätzen jedoch deutlich überlegen.

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Sachverzeichnis 30-30-Modell  360, 362 58-er Regelung  204 Abhängigkeit  26, 83, 160, 191, 330, 391 Abtreibung  312 Adressaten  353 ff. adult worker model  397 aktive Arbeitsmarktpolitik  323, 402 Akzeptanzproblem  28, 367 f., 433 Alkohol  114, 116, 118 ff., 137, 161 ff., 186, 210 f., 290 f., 302, 305 f., 308 ff., 315, 341 Alleinerziehung  63, 77, 148, 154 f., 159 ff., 170 ff., 197, 213, 257, 297, 323, 404 Altersarmut  28 ff., 60 f., 69, 76, 81, 235, 246, 268, 273, 283, 319, 332, 335, 352 ff., 369, 395 Alterseinkommen  53, 62, 70, 94, 113 ff., 192, 205 ff., 253, 332, 340, 354, 367 ff. Altersrente  31, 45, 50, 61, 94, 101, 112, 140, 145 ff., 254, 334 f., 349 f. –– für besonders langjährig Versicherte  382, 284 –– für Frauen  256, 260, 290 f., 298 –– für langjährig Versicherte  342 –– für Schwerbehinderte  167, 207, 342 Alterssicherungsbericht  18 Alterssicherungsstärkungsgesetz  373 Altersvermögensergänzungsgesetz  30 Anwartschaften  70 f., 111 ff., 137 f., 145 ff., 152, 155 ff., 162, 163 ff., 180, 252 ff., 286 ff., 299, 304, 321, 325 f., 335 ff., 342, 347, 356 ff., 372, 394, 412 Anwerbeabkommen  230, 232, 236, 239 Anwerbephase  228 ff.

Anwerbestaaten  44, 232 Arbeitgeber  89, 104, 134, 150, 163, 192, 197 f., 242, 406, 412 ff. Arbeitsamt  120 ff., 171 f., 181, 193, 211, 238, 259, 278, 282, 295, 298, 302 Arbeitsbeschaffungsmaßnahme  298, 304 Arbeitslosengeld  88, 169, 302, 304, 310, 313, 376, 383 Arbeitslosengeld II  30, 76, 204, 219, 280, 346, 383 Arbeitslosenhilfe  30, 88, 105, 159, 169, 204, 219, 238, 298, 302, 304, 376, 383 Arbeitslosigkeit  55 f., 80, 92, 100, 102 ff., 113, 124, 145, 154, 167, 176, 182, 205, 221 f., 235, 246, 252, 272, 288 ff., 304 ff., 319, 325 ff., 344 ff., 362 Arbeitsmigranten  130, 142, 228 ff., 246 f., 273, 318, 334, 338, 427 Arbeitszeitoptionsmodelle  405 Armutsgefährdungsquote  19 f., 69, 77 Armutsrisikoschwelle  20, 195, 354 Asylbewerber  228, 337 Asylkompromiss  249 atypische Beschäftigung  104, 343, 389 Aufenthaltserlaubnis  270 Aufenthaltsgesetz  271 Aufstockung  360 ff. Auftraggeber  415 Aussiedler  247 ff. Autonomie  391 Babyboomer  320 ff., 394 Beamte  58, 71 Bedürftigkeitsprüfung  29, 355, 360 Behindertenausweis  48

456 Sachverzeichnis Behinderung  47, 53 f., 66, 97, 113, 119, 161, 166, 174, 205, 207, 276, 304 Beitragsaufstockung  413 Beitragssatz  365 ff. Beratung  407 f. Berufskrankheit  54, 237 berufsständische Versorgung  190 Beschäftigungsfähigkeit  406 Beschäftigungsverhältnis  104 f., 325, 342 ff., 414 f. Betreuungsgeld  405 betriebliche Vorsorge  18, 33, 50, 69 f., 75, 125 ff., 130, 235, 321, 337, 341, 353, 356, 359 f., 392 ff., 418, 426 betriebliches Eingliederungsmanagement  406 Beveridge  364 Bildungsbiografie  70, 119 Bildungssystem  70, 284, 334, 374, 396, 398 Biografiedimension  54 Biografiemuster  196, 221, 244, 267, 303, 314 Bismarck  364 Bruttobedarf  373, 410 ff. Bundesamt für Migration und Flücht­ linge  271 Bundessozialhilfegesetz  27 Bundesvertriebenen- und Flüchtlings­ gesetz  134, 249 Bundesverwaltungsamt  249 Bürgerversicherung  26, 395 DDR  284 ff., 338 Depression  114 ff., 118 Deutsche Rentenversicherung Bund  45 Drei-Phasen-Modell  147 ff., 221 Drei-Säulen-Paradigma  369, 429 Ehegattensplitting  395, 405 Einbürgerung  130, 228, 250 Eingliederungsmanagement  395, 406 Eingliederungsprinzip  251 ff. Einkommensarmut  19 ff., 81 Einkommensverteilung  287, 402, 429

Entgeltpunkte  29, 50, 56, 63 ff., 67, 152 f., 252 ff., 288, 325 f., 339, 342, 345, 348 f., 360 f., 372 ff., 380 f., 417 f. Entgeltumwandlung  18, 72 Ernährermodell  117, 150, 175, 190, 195, 307, 322 ff. Erwerbsausstieg  105, 123, 155 Erwerbsbiografie  54 ff., 100 ff., 396, 404 Erwerbseinstiegsalter  55, 345 Erwerbsminderung  27 ff., 35 ff., 65 ff., 80, 117 ff., 144, 176, 179, 243, 263, 291, 296, 304, 318, 330, 349, 360 ff., 376, 379, 385 ff., 419 Erwerbsminderungsrente  31, 67, 69, 106, 118, 176, 245, 310, 377, 384 ff., 388, 419 Erwerbsorientierung  62, 66, 159, 171, 189, 196, 298, 342 Erwerbsphase  53, 55 f., 105, 131, 199, 227, 342, 355 ff., 378, 397, 402, 431 Erwerbsreduzierung  329 Erwerbstätigenversicherung  355, 358 Erwerbsunfähigkeit  117, 162, 176, 183, 188, 240, 245, 296, 302f, 426 Erwerbsunterbrechung  55, 65, 92, 105, 110 ff., 124, 134, 141, 143, 172, 175 f., 186, 193 f., 211, 233, 290 f., 300, 326, 329, 350, 376, 405, 418, 426 Erwerbsverlauf  55 f., 64, 67, 104, 267, 289, 320, 327 ff., 346, 357 f., 398 Existenzminimum  27, 35, 184, 189, 283, 346, 370, 392, 413, 420 Exklusion  54, 319, 341, 344 Familienbiografie  54, 59 ff., 106 ff., 425 Familienphase  105 ff., 110 f., 159, 164, 166 ff., 174, 178, 192 f., 404 f. Fehlanreiz  368, 378, 395, 405 Flüchtlinge  336 f. Freibetrag  33, 204, 362 ff., 421 Fremdrentengesetz  94, 101, 103, 131, 250 ff., 267 Fürsorge  363, 375, 389, 395, 398, 404 f., 412, 430

Sachverzeichnis Garantierente  362, 364 Gastarbeiter  44, 78, 130f, 134, 142, 228 f., 232 f., 334 f., 428 Gefängnis  143, 280, 309, 311 ff., 316 Gehbehinderung  47, 97, 113, 119, 166 geringfügige Beschäftigung  54, 57, 116, 148, 164 f., 171, 192 f., 233, 325, 327, 343 Geringqualifizierte  68, 346, 357, 395 Geringverdiener  57, 75 f., 143, 204, 319, 342 f., 346 f., 350, 359, 361, 366, 370, 376, 378, 429, 432 Geschiedenenwitwenrente  158, 299 f. gesetzliche Rentenversicherung  27, 225, 318, 424, 428, 430 Gesundheitsbiografie  53 f., 66 f., 88, 90, 113 ff., 145, 174 f., 292, 304 f., 317, 351, 425 Gesundheitsmanagement  406 Gesundheitsschutz  406 Gleichberechtigung  149 f. Gleichstellung  149 f., 155, 252, 274, 325 f., 358, 374, 396 ff., 404 f., 418 Grundrente  28, 32, 352, 356, 364, 392 Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung  27 ff., 69, 318, 349, 360, 419 f. Grundsicherungsbedürftigkeit  27 ff., 35 ff., 53 ff., 318 ff. Grundsicherungspopulation  36, 39, 41 f., 44, 51, 57, 71, 84 f., 107, 120, 284, 318, 321, 331, 333, 335, 341, 347, 427 f. Grundsicherungsquote  38 f., 41, 43 ff., 58, 287, 338, 424 Grundsicherungsschwelle  95, 100, 140, 195, 227, 260, 268, 349 f. Grundsicherungsstatistik  36 ff., 46 ff., 61, 69, 95, 106, 202, 426 Haushaltseinkommen  34, 65, 117, 160, 176, 179, 185, 188, 192, 195, 268, 287, 324, 334, 392 Haushaltsführung  55, 111, 145, 148, 150, 244, 320, 328, 330, 426

457

Haushaltskontext  59, 68, 83, 112, 140, 145, 191, 318, 330, 338, 350, 355, 426 Heiratserstattung  94, 149 ff., 155 f., 166 ff., 173 f., 178, 180, 182, 322 Hilfe zum Lebensunterhalt  28, 34, 88, 159 f., 162, 169, 313 Hinterbliebenenrente  50, 59 ff., 87, 94, 152, 180, 189, 191, 195, 253, 268, 326, 412 Insolvenz  54, 130, 197, 215, 224, 235, 263, 306, 393 Integrationsprobleme  54, 133, 135, 137, 238, 273, 335 Jobcenter  211, 241, 313 Juden  270, 272, 274, 336 Jugoslawien  77 ff., 134, 190, 230 ff., 248 Kasachstan  248, 255, 257 ff., 264, 267 Kinderbetreuung  136, 145, 159 f., 172, 194, 300, 322, 401, 404 Kindererziehungszeiten  149, 151 ff., 158, 162, 180, 182, 184, 189, 243, 246, 381 f., 418 Konkurs  126 f., 130, 203, 205, 210, 212, 224, 226, 316, 393 Kontingentflüchtlinge  101, 120, 131, 135, 142 f., 221, 228 ff., 232, 270 ff., 283 f., 318, 334, 336 ff., 427 Kosten der Unterkunft  46 f., 87, 94 ff., 163, 187, 208, 213, 292 Kranken- und Pflegeversicherung  47 f., 202, 205, 348 f. Krankengeld  237 Krankheit  53 f., 66, 81, 89, 92, 96, 113, 117 ff., 136, 161, 174, 177, 180, 183, 186, 211, 223, 237 f., 266, 290 ff., 302 ff., 315, 357, 360, 383, 406, 409, 411 Kriegsfolgenbereinigungsgesetz  249 f., 253, 259 f., 267 Künstlersozialkasse  129, 199, 220, 415

458 Sachverzeichnis langjährig prekär und diskontinuierlich Beschäftigte  342, 343 ff. Langzeitarbeitslosigkeit  54, 65, 67, 104, 116, 118, 126, 134, 143, 182, 212, 235, 291, 304, 306, 401 f., 414 Lebensarbeitszeit  18, 349, 369, 406 f. Lebenserwartung  42, 53, 56, 61, 66, 125, 129, 148, 208, 316, 323, 328, 333, 374, 391 f., 418 Lebenslauf  21, 23 ff., 27, 53, 56, 61, 66, 125, 129, 148, 208, 316, 323, 328, 333, 374, 398, 405, 408, 433 Lebenslaufberatung  408 Lebenslaufforschung  23, 425 Lebenslaufpolitik  5, 26, 392, 394ff, 407 f., 417, 430 Lebensleistungsrente  343, 362, 369 ff., 374 f., 378, 389, 417 f., 429 Lebensstandardsicherung  17 f., 432 Lebensverlauf  20, 22 f., 53 f., 70, 86 ff., 105, 111, 113 f., 125 f., 140, 143, 154, 163, 169, 171, 190, 196, 219, 221, 241, 245, 305 f., 317 f., 330, 351, 357, 396 ff., 405, 408, 424 f., 430 Lebensversicherung  78, 95, 129 f., 163, 166, 178 f., 184, 186, 206, 209, 212, 214 ff., 224 ff., 287, 393 Legitimation  368, 428 f. Leiharbeit  343 f., 357, 403 Lohndiskriminierung  350 Lohnentwicklung  35, 46, 285, 348, 350, 402 Lohnpolitik  357, 402 Lohnquote  350, 403 Lohnspreizung  350 Mehrbedarf  32, 47 ff., 97 f., 119, 161, 166, 205, 279 Mehrsäulenparadigma  17 Migranten  78, 80, 230 Migrationsbiografie  53, 76, 88, 130, 137, 425 Migrationshintergrund  76 ff., 85, 130, 136, 137, 228, 335, 399 Mikrozensus  20, 77 f., 106, 107, 171, 228, 247

Mindestbeitragspflicht  26, 394, 409 f., 412 ff., 416 f., 431 Mindestbemessungsgrundlage  413 f. Mindestlohn  19, 346, 350, 403, 413 Mindestrente  28, 227, 364 Mindestsicherungssysteme  20, 31, 34 f., 46, 106, 336, 348, 354, 360 Mindestsicherungsziel  6, 26, 392 f., 397, 409 f., 413, 431, 433 Minijob  104, 324 f., 343, 346 f., 357 Mütterrente  379 ff. Nachhaltigkeitsfaktor  17, 35, 359, 365, 381 f. Nettobedarf  25, 33, 51, 94, 97 f., 182, 368, 380 f. Niedriglohn  153 Niedriglohnsektor  332, 343, 357, 393, 403 Normalarbeitsverhältnis  196, 320, 342 ff. Obdachlosigkeit  305 Obligatorium  359, 379 Outsider  343 f. Paradigmenwechsel  17, 69, 351, 359, 366, 369, 432 Patchwork-Biografien  428 Pfändung  125, 130, 203, 226 Pflegebedürftigkeit  53, 65, 111 f., 176, 180, 183, 186, 408 Pflegezeiten  63, 65 f., 111 f., 145, 153, 173, 182, 189, 266, 322, 361, 370, 418 Polen  44, 232, 248 Portabilität  337 Prävention  393, 406 f. Primärverteilung  402 f. Privatvorsorge  76, 373 problemzentriertes Interview  86 ff. Qualifikation  37, 63, 68, 71 f., 74, 119, 123 f., 135, 159 f., 165, 197, 204, 206, 222, 238, 240, 272, 280, 284, 315, 336

Sachverzeichnis Regelsatz  31 ff., 46 f., 94, 96, 97, 170, 348, 420 Rehabilitation  406 f. Rente –– ab  63 379, 382 ff., 387, 432 –– nach Kinderzahl  352 –– nach Mindesteinkommen  153 –– nach Mindestentgeltpunkten  149, 152 f., 342, 361, 372, 417, 431 Rentenangleichungsgesetz  284 Rentenanpassung  18, 21, 34 f., 46, 67, 100, 285 f., 348, 365, 382, 420 Rentenanpassungsformel  17, 35, 355, 359, 365, 403, 420 Rentenbestandsstatistik  254 Rentendialog  371 f. Renteneintrittsalter  18, 21, 113, 148, 208, 221 f., 232, 289, 321, 334, 406 Rentenniveau  5, 18, 80, 320, 325, 342, 348 ff., 359, 367, 369, 381 f., 384, 402, 411, 419 f., 431 Rentenpaket  373, 379 ff., 386 ff., 429 Rentenreform  21, 150, 341, 347, 350 f., 432 Rentensplitting  412 Rentenübergang  105, 321 Rentenüberleitungsgesetz  252, 259, 268, 285, 300 Rentenversicherungsträger  27, 29, 151, 176, 304, 337, 358, 365, 387 Rentenzugangsstatistik  80, 288 f., 326 Riester  27 f., 29, 72, 75 f., 347, 361, 373, 379, 392 f., 432 Risikodimensionen  25, 88, 90 f., 94 ff., 305 Risikogruppen  22 ff., 69, 90, 92 f., 141 ff., 318 f., 321 f., 331, 341, 376, 424, 426 ff. Risikokonstellation  22 ff., 92 f., 107, 144, 154, 196, 220 f., 230, 244, 267, 303, 307, 314, 342 Risikoprofil  90, 92, 136, 140, 246, 426, 428 Rollenmuster  123, 149

459

Rumänien  44, 248, 255, 260 ff. Russland  85, 95, 248, 261, 265, 271, 274, 277, 279, 283 RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz  382, 385 RV-Lebensleistungsanerkennungsgesetz  372, 376 RV-Leistungsverbesserungsgesetz  153, 369, 379, 381, 386 ff., 407, 419, 429, 432 Schattenwirtschaft  110, 190, 246 Scheidung  53, 60, 65, 89, 107, 112 f., 118, 130, 136, 147 f., 154, 156 ff., 161 f., 164 f., 167 ff., 188, 191, 196 f., 204 ff., 207 f., 214, 218, 220, 241, 243, 257, 280, 295, 297, 299 f., 312, 330, 402 Schuldprinzip  158 Schwangerschaft  53, 155, 164, 168, 312 Schwarzarbeit  95, 101, 104, 145, 155, 160, 162 f., 169, 175, 181, 187, 198, 233, 316, 426 Schwerbehindertenausweis  32, 97, 301 Schwerbehinderung  304 Selbstständigkeit  92, 101, 104 f., 129 f., 141, 143, 157, 166, 184, 188, 193, 197, 199, 201 ff., 212, 216, 221 f., 224 f., 227, 235, 316, 319, 331, 333, 343, 415, 426 Sockelrente  356, 364 solidarische Lebensleistungsrente  369, 371, 374 f., 378, 389, 429 Solidarrente  362 Solo-Selbstständige  201, 220, 332 f., 343 Sorgerecht  60, 214, 312 ff. Sowjetunion  45, 77 f., 94, 101, 111, 120, 124, 128, 136, 143, 232, 265, 270, 273 f., 277 Sozialamt  28 ff., 82 f., 96, 160, 177, 208, 259, 298, 304, 313, 379, 410, 423 soziale Devianz  305

460 Sachverzeichnis Sozialhilfe  21, 27 ff., 69, 88, 105, 160 ff., 165, 169 ff. 181, 186, 188, 197, 207, 211, 224, 241, 255, 260, 262, 298, 310, 363, 366, 370, 373, 431 Sozialhilfestatistik  19, 36 Sozialversicherungsabkommen  131, 273 Sozialversicherungsbeiträge  215, 219 Sozialversicherungspflicht  201, 212, 402 Spätaussiedler  130 f., 134 f., 248 ff., 253 ff., 259 f., 264 ff., 335, 337 Sprachtest  250 f., 265, 267 f., 281 Statuspassagen  88 Statusphasen  105, 110, 409 Steuer  365, 368, 375, 409 Sucht  118, 137, 305, 315, 341, 408 Systemwechsel  284, 292, 296, 356, 392 Tarifvertrag  403 Teilhabe  70, 391, 398, 402, 405, 407, 422, 433 Teilzeit  57, 110, 112, 147 f., 166, 170, 178, 186, 193, 217, 243, 260 297 f., 324, 326, 328, 342, 372, 376, 405 Teilzeit- und Befristungsgesetz  323, 405 Transferleistung  105, 159, 176, 188, 397 Türkei  45, 77, 80, 85, 119, 123, 134, 230, 232, 236 ff. Typenbildung  91 ff. 141, 143 f. 318, 427 Ukraine  85, 131, 134, 248, 261, 264, 271, 274, 277, 279 ff. Umverteilung  324, 360, 365, 381, 402, 409, 414 Unabhängigkeit  264, 391, 410 Unfall  114 ff., 117, 136, 176, 178 f., 207 f., 261, 406 Unfallrente  118, 179, 207 Unfallversicherung  285 Ungarn  85, 95, 134, 232, 248 Ungleichheit  18 f., 321

Unterbeschäftigung  329 Unterhalt  29, 159 f., 170 ff., 215, 218, 299 f. Unterhaltsersatz  299 Untersuchungssample  82 ff., 92, 95 f., 101, 105 f., 107, 111 ff., 119 f., 125, 130, 137 ff., 147, 150 f., 153 f., 171 f., 190, 224, 232, 255, 275, 289, 305 ff., 314, 316, 318, 322, 381, 406, 422, 425 ff. Verbraucherpreisindex  348 Vermögen  21, 31, 33 f., 78, 125, 149, 157, 167, 176, 180, 203, 207, 315, 361, 402 Vermögensanrechnung  33 f. Versichertenbiografie  22, 53, 63, 141, 143, 145, 180, 344, 357 Versicherungsjahre  37, 94, 152 f., 167, 180, 216, 284, 289, 358, 362, 372 f., 417 Versicherungslücken  105, 297, 319, 342, 357 f., 402, 409 Versorgungsausgleich  60, 63, 107, 145, 147, 149, 157 ff., 163 f., 165 ff., 173, 188 f., 191, 204 ff., 208, 214 f., 218, 220, 243, 246, 299 f., 322, 326 voll eigenständiges System  352 Vollzeit  55, 57, 110, 112, 146 ff., 159 ff., 164, 166 f., 169 ff., 177, 190, 192 f., 202, 204 ff., 233, 237, 243, 257, 262, 290, 297 ff., 301, 324, 327 f., 347 ff., 370 ff. Vorsorgebereitschaft  72, 125, 129 f., 199, 359, 426 Vorsorgebiografie  18, 22, 72, 125, 137, 145, 199, 212, 219, 393, 397, 425 Vorsorgefähigkeit  125, 128, 130, 140, 199, 235, 333, 359, 415, 426, 432 Vorsorgeinformation  359 Wachstums- und Beschäftigungsförde­ rungsgesetz  268, 335 Weiterbildung  164, 178, 194, 344, 398, 409

Sachverzeichnis461 Werkverträge  343, 357, 403 Wiedereinstieg  62, 110, 124, 147 f., 159 f., 163 f., 171 f., 178, 189, 192 ff., 204 f., 208, 211 f., 221, 224, 233, 238, 304, 323 Witwen  59 ff., 147, 160, 173 Wohngeld  69, 88, 97, 171, 176, 180, 186 Zahlbetrag  50, 67, 145, 147, 173, 176, 182, 286, 386 Zerrüttungsprinzip  158 Zurechnungszeit  67, 361 f., 384 ff., 419

Zusatzversorgung  72, 95, 125 ff. 166, 361 Zuschussrente  19, 343 361, 369 ff., 389, 418, 429 Zuverdienermodell  324, 330, 374, 376 Zuwanderung  85, 131 ff., 228 ff., 232 ff. 244, 248 253 f., 259, 266 f., 272, 275 ff., 282, 283 f., 335 Zuwanderungsgesetz  249, 251, 271 Zuwanderungsrecht  249, 254, 266 ff., 270 f. Zwei-Phasen-Modell  147 f., 150, 173, 180, 182