Lebenskreise: Widerstand und Wiederaufbau 9783205791744, 9783205787426

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Lebenskreise: Widerstand und Wiederaufbau
 9783205791744, 9783205787426

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Rudolf von Strasser

Lebenskreise Widerstand und Wiederaufbau

Böhlau Verlag Wien . Köln . Weimar

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Redaktionelle Betreuung: Claudia Lehner-Jobst Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Über­ setzung, des Nachdruckes, der Entnahme von ­Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf ­fotomechanischem oder ­ähnlichem Wege, der Wiedergabe im Internet und der Speicherung in Daten­ ver­arbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. ISBN 978-3­-205­-78742-6 Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, ­insbesondere die der Über­setzung, des Nachdruckes, der Entnahme von ­Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf ­fotomechanischem oder ­ähnlichem Wege, der Wiedergabe im Internet und der Speicherung in Daten­ver­arbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten.

© 2012 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H. und Co.KG, Wien · Köln · Weimar http  ://www.boehlau-verlag.com Druck: General, Szeged

Inhalt Zeitzeuge.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Familiäre Wurzeln. . . . . . . . . . . . . . . . Die Familie Seibt von Ringenhardt. . . . . . . Die Hochzeit der Kinder und eine Tragödie. . . Meine Eltern. . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Familie Strasser. . . . . . . . . . . . . . Die engere Verwandtschaft. . . . . . . . . . . Sissy. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die käufliche Jagd. . . . . . . . . . . . . . . . Unsere Nachbarn.. . . . . . . . . . . . . . . . Erziehung zwischen Wien und Pressburg. . . . . Zola und die Natur.. . . . . . . . . . . . . . . Weltmacht Fußball. . . . . . . . . . . . . . . . Musik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das politische Klima in Wien um 1938. . . . . . Der plötzliche Tod meines Vaters. . . . . . . . . Österreichische Kirche und Nationalsozialisten. . Die Freiheitsbewegung. . . . . . . . . . . . . . In memoriam: Roman Karl Scholz. . . . . . . . Die Motivation.. . . . . . . . . . . . . . . . . Wie stellten wir uns die Zukunft vor?.. . . . . . Zugfieber.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lebenslänglich für Otto Hartmann.. . . . . . . Meine Verhaftung. . . . . . . . . . . . . . . . Depressionen und alte Usancen im „Landl“. . . Die Vernichtung der KPÖ. . . . . . . . . . . . Vom Wiener Landesgericht an die Ruhr. . . . . Flucht aus Anrath?. . . . . . . . . . . . . . . . Drei Wochen Kur. . . . . . . . . . . . . . . . Die Anklageschrift. . . . . . . . . . . . . . . . Der Richter Wilhelm Crohne. . . . . . . . . . 5

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Inhalt

Mein Prozess. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ewige Rätsel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abschied vor dem Tod. . . . . . . . . . . . . . . . Mein bester Freund:. . . . . . . . . . . . . . . . . Hanns Georg von Heintschel-Heinegg. . . . . . . . Von Wien nach Straubing und der Zug der Ungarn. Prügel in Straubing. . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Todesmarsch von Straubing nach Dachau. . . . Heimwärts auf der falschen Seite. . . . . . . . . . . Das Ende des Hauptwachmeisters Toth.. . . . . . . Nach Salzburg. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Salzburger Rendezvous. . . . . . . . . . . . . . . . Die Marine für Dr. Gruber. . . . . . . . . . . . . . Verbleibe weiter in Salzburg. . . . . . . . . . . . . Entlastet oder belastet?. . . . . . . . . . . . . . . . Die Salzburger Nachrichten. . . . . . . . . . . . . Erzbischof Rohracher und die Entnazifierung. . . . Die Familie Strasser findet zusammen. . . . . . . . Von Salzburg nach Wien. . . . . . . . . . . . . . . Frühling 1946: Wiener Stimmungsbilder. . . . . . . APA und die Jahre an der Seite von Julius Raab. . . . Das außenpolitische Referat der ÖVP. . . . . . . . Kammerarbeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erste Reisen durch die USA. . . . . . . . . . . . . Pierre ( South Dakota). . . . . . . . . . . . . . . Personalwechsel: Raab wird Bundeskanzler. . . . . . Zur Inauguration.. . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Kofferraub. . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fiktive Hahnenkämpfe. . . . . . . . . . . . . . . . Jackie Kennedy.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abschied von Sissy. . . . . . . . . . . . . . . . . . Arbeitssuche in New York. . . . . . . . . . . . . . Hier spricht Rudolf Strasser aus New York. . . . . . 6

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Inhalt

Der Aktienboom in den USA und Europa. . . . . . . . . Der Herrgott stiftet eine Ehe. . . . . . . . . . . . . . . . Montags-Lobby für die ÖVP . . . . . . . . . . . . . . . Hans Kudlich als Wahlwerber. . . . . . . . . . . . . . . Zwischen New York und Wien: Die Waldheim-Affäre. . . Immer wieder Jagd. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der „Camp Fire Club“. . . . . . . . . . . . . . . . . . Mein Grizzly.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bären-Silvester. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Suburbia und Besuch aus Ungarn. . . . . . . . . . . . . Unsere Kinder. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kunstverbundenheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Corning, die Glashauptstadt der Welt. . . . . . . . . . . Das Bergstrom-Mahler-Museum von Neenah, Wisconsin. Professor und das Farewell von der Wall Street. . . . . . . Abschied von meiner Mutter. . . . . . . . . . . . . . . . Die Restitution in der Slowakei.. . . . . . . . . . . . . . Bande zwischen Schloss und Dorf. . . . . . . . . . . . . Epilog. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Anmerkungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Bildnachweis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192

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Zeitzeuge

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ie Jagdsaison 2008 ging zu Ende. Große Schneemassen lagen auf den Revieren des Südburgenlandes. Auf Pirschen und Trieben zugezogene Verletzungen hatten meine Beweglichkeit so beeinträchtigt, dass ich den am kommenden Tag angesetzten Fasanentrieb absagen musste. Umso mehr konzentrierte ich mich abends auf das köstliche Wild-Dinner, das den nächsten Jagdtag einleitete. Die dahinplaudernden Gäste waren alte Bekannte, einander selten begegnende Freunde, die versuchten, die herumschwirrenden Geschichten einzufangen und weiterzuführen. Es war eine Jagd bei meinem langjährigen Freund und Jagdherrn Graf Alfons Mensdorff-Pouilly im burgenländischen Luising. Unerwartet erreichte mich eine lautstarke Damenstimme quer über den jagdlich adrett gedeckten Tisch, die mich als „Zeitzeugen“ titulierte. Offenbar hatte es sich herumgesprochen, dass ich kurz vor meinem 90. Geburtstag stand und Sankt Hubertus mir noch am vorhergehenden Abend einen sehr starken Hirsch gesandt hatte, den ich in den hohen Schnee streckte. Seine Grandeln waren so dunkel, als hätten sie einige Monate in schwarzem Kaffeesud gelegen. Es war ein aufregendes Erlebnis gewesen, das sich über zwei Abende in einem Sojafeld abgespielt hatte. Die Trophäe entsprach durchaus dem Anlass, den Sankt Hubertus gewählt hatte. Ob mir denn nicht bewusst sei, wurde ich bei Tisch gefragt, dass man als „Zeitzeuge“, dem das Leben davoneile, eine Art Verpflichtung eingegangen sei, den Lebensfluss nochmals zu durchwaten, um für Familie, Freunde und Nachwelt all das festzuhalten, was in unzählbaren Jahren zu oberflächlich in das Lebensregister eingeordnet worden war? Es gehe nicht um das Auffrischen verblasster Erinnerungen, sondern um das Lockern alter Knoten und so fort. Zum Sinnieren verblieb an diesem Abend jedenfalls kaum Zeit. Versuche, mich als Zeitzeugen in Gespräche einzubinden, hatte es schon öfter gegeben. Schließlich bestand mein Leben aus vielen bunten und so manchen tragischen Episoden. Meistens blieben diese am Flussufer hängen oder man stolperte über verdeckte Wurzeln. Einander widersprechende Interessen standen sich oft im Wege. Ich suchte mir daher immer einen Standpunkt, der als notwendige Aussichtswarte dienen konnte. 9

Lebenskreise

Meist hatte ich Perspektiven aus der Geschichte der Habsburger gewählt, die mir sehr lehrreich erschienen. Erzherzog Johann, zum Beispiel, beeindruckte mich in seiner Konsequenz als Bewahrer und Reformer zugleich. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts erwies sich das Streben nach nationaler Einheit schon stärker, als die in der Reformation entbrannten Religionskämpfe. Auch dies gab mir in meinem Leben oft zu denken. Mir hat es immer viel bedeutet, dass Mitteleuropa katholisch verblieben ist und so, meinem Gefühl nach, kulturell wärmer und verbindlicher.

Familiäre Wurzeln Die Familie Seibt von Ringenhardt

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er mütterliche Zweig meiner Familie steht wohl wegen der glänzenden Karriere meines Großvaters, des Generals der Infanterie Gottfried Seibt von Ringenhardt, im Vordergrund des Familienverbandes. Er wurde 1857 in Verona geboren und hatte den Höhepunkt seines militärischen Aufstieges bereits mit etwa 50 Jahren erreicht. Auch sein Vater, gleichfalls Gottfried Seibt, ein Oberstleutnant, hatte bereits im frühen 19. Jahrhundert der k.k. Armee seine Dienste zur Verfügung gestellt. Der Untergang der Monarchie bedeutete daher für die Familie Seibt einen ebenso tragischen Schlusspunkt, wie das Verschwinden traditioneller Werte aus dem täglichen Leben. Den „bunten Rock des Kaisers“ zu tragen, eine Division zu kommandieren, die Monarchie in vielen farbigen Garnisonen zu repräsentieren, stellten für einen aus dem bürgerlichen Stand aufgestiegenen Berufsoffizier einen großen Erfolg dar. Als „Exzellenz“ tituliert zu werden, mit Erzherzögen Tarock zu spielen und die Laufbahn nobilitiert zu beenden, waren die beachtlichen Verdienste meines Großvaters. All dies schmückte sein Leben und hob die Akzeptanz und das Ansehen der aus zwei Töchtern und einem Sohn bestehenden Familie. Eine lückenlose Dokumentation in Form von jährlich aufgenommenen Familienporträts in den jeweils wechselnden Garnisonen ist ein wertvolles und seltenes Vermächtnis des Großvaters. 10

Lebenskreise

Meist hatte ich Perspektiven aus der Geschichte der Habsburger gewählt, die mir sehr lehrreich erschienen. Erzherzog Johann, zum Beispiel, beeindruckte mich in seiner Konsequenz als Bewahrer und Reformer zugleich. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts erwies sich das Streben nach nationaler Einheit schon stärker, als die in der Reformation entbrannten Religionskämpfe. Auch dies gab mir in meinem Leben oft zu denken. Mir hat es immer viel bedeutet, dass Mitteleuropa katholisch verblieben ist und so, meinem Gefühl nach, kulturell wärmer und verbindlicher.

Familiäre Wurzeln Die Familie Seibt von Ringenhardt

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er mütterliche Zweig meiner Familie steht wohl wegen der glänzenden Karriere meines Großvaters, des Generals der Infanterie Gottfried Seibt von Ringenhardt, im Vordergrund des Familienverbandes. Er wurde 1857 in Verona geboren und hatte den Höhepunkt seines militärischen Aufstieges bereits mit etwa 50 Jahren erreicht. Auch sein Vater, gleichfalls Gottfried Seibt, ein Oberstleutnant, hatte bereits im frühen 19. Jahrhundert der k.k. Armee seine Dienste zur Verfügung gestellt. Der Untergang der Monarchie bedeutete daher für die Familie Seibt einen ebenso tragischen Schlusspunkt, wie das Verschwinden traditioneller Werte aus dem täglichen Leben. Den „bunten Rock des Kaisers“ zu tragen, eine Division zu kommandieren, die Monarchie in vielen farbigen Garnisonen zu repräsentieren, stellten für einen aus dem bürgerlichen Stand aufgestiegenen Berufsoffizier einen großen Erfolg dar. Als „Exzellenz“ tituliert zu werden, mit Erzherzögen Tarock zu spielen und die Laufbahn nobilitiert zu beenden, waren die beachtlichen Verdienste meines Großvaters. All dies schmückte sein Leben und hob die Akzeptanz und das Ansehen der aus zwei Töchtern und einem Sohn bestehenden Familie. Eine lückenlose Dokumentation in Form von jährlich aufgenommenen Familienporträts in den jeweils wechselnden Garnisonen ist ein wertvolles und seltenes Vermächtnis des Großvaters. 10

Familiäre Wurzeln

1. Die Großeltern Gottfried und Irene Seibt von Ringenhardt als jung vermähltes Paar. 11

Lebenskreise

2. Die Familie Seibt von Ringenhardt in der Garnison in Budapest, Mai 1904 (v.l.n.r.): Meine Tante Irene, ihr Bruder Gottfried (Friedl), meine Großmutter, mein Großvater, meine Mutter Antonia.

Dass diese Laufbahn eigentlich schon 1912 wegen einer militärtechnischen Auseinandersetzung mit dem Thronfolger Franz Ferdinand endete, war ein Ärgernis und ist dem bisher so erfolgreichen Offizier sehr nahegegangen. Aus den Archivalien im Militärarchiv in der Wiener Stiftgasse geht hervor, dass mein Großvater mit seiner Division bei einem Manöver nicht, wie mit Franz Ferdinand verabredet, zur Stelle gewesen war.

Die Hochzeit der Kinder und eine Tragödie Am 28. Mai 1918 heiratete mein Vater Alois Viktor Strasser von Györvar, genannt Louis, meine Mutter Antonia von Seibt, genannt Tolly, in einer glanzvollen Zeremonie in der Wiener Karlskirche. Es war eine von hohen Militärs und Mitgliedern des Erzhauses besuchte Doppelhochzeit. Nur selten treten zwei Geschwister gleichzeitig vor den Altar. Die etwas ältere Schwester meiner Mutter, Irene, gab dem Schweizer Maschinenbauingenieur Edgar Wiesner ihr 12

Familiäre Wurzeln

3. Großvater Gottfried Seibt mit Erzherzog Friedrich bei der Hochzeit meiner Eltern.

Ja-Wort. Diese Hochzeit erregte Aufsehen und wurde von Sascha Graf Kolowrat, dem Filmpionier und Entdecker Marlene Dietrichs, gedreht. Der Hochzeitsfilm befindet sich noch heute im Österreichischen Filmarchiv (Filmarchiv Austria). In jenen kriegerischen Zeiten dachte man nicht an eine Hochzeitsreise. Meine Eltern brachen sofort zum Gut der Familie Strasser nach Majorháza bei Pressburg1 (Bratislava) auf, um dort ihr gemeinsames Leben zu beginnen. Der einzige Sohn meiner Großeltern, Dr. Gottfried von Seibt, begann in der Ersten Republik, als Oberleutnant abgerüstet, mit einer Stelle als persönlicher Sekretär des angesehenen und schillernden Bankiers und Flugpioniers Camillo Castiglione eine erfolgreiche Karriere. Er war längere Zeit mit der Bankierstochter Claire von Stransky verlobt, doch mein Großvater stellte sich gegen diese Verbindung. Für den einzigen Sohn hatte der Vater eine andere Alliance vorgesehen. Die Spannungen in der Familie wuchsen. Eines Abends kam der Sohn nicht nach Hause. Zwei Tage lang blieb er vermisst. Dann fiel ein Spielball während des morgendlichen Spazierganges meines Großvaters im Stadtpark in ein Gebüsch, Kinder verfolgten den Ball und führten den 13

Lebenskreise

4. Die Hochzeit meiner Eltern in der Wiener Karlskirche am 28. Mai 1918, aus dem Film von Sascha Graf Kolowrat (Filmarchiv Austria).

Großvater zu seinem toten Sohn. Er hatte Selbstmord begangen. Es war eine chaotische Zeit, in der man sein junges Leben auch gegen viele Widerstände allein gestalten wollte. Selbst große Persönlichkeiten scheiterten immer öfter am Erreichen ihrer Ziele. Großvater Seibt versuchte sein von Vorwürfen zerrissenes Leben durch die Teilnahme am zeitgenössischen Kunstgeschehen zu heilen. Er besuchte fast täglich die klassischen Theateraufführungen und verfolgte die Kunst der modernen Malerei. Im Wiener Belvedere hängt sein 1918 von Anton Kolig (1886–1950) mit flüchtiger Geste gemaltes Porträt, das für Großvaters Geschmack vielleicht zu salopp war. Dafür prangt ein großes buntes Salonbild von Hans Temple noch heute in unserem burgenländischen Jagdhaus. Mein Großvater wurde später auch Präsident des Künstlerhauses sowie Vorstand einiger bedeutender Industrien. Mit einem Wort, er führte das typische Leben eines prominenten Pensionisten, der seinen originären Beruf, in dem er ursprünglich aufgegangen war, eingebüßt hatte. Er starb 1937 in Wien, gottlob ein Jahr vor dem Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland. 14

Familiäre Wurzeln

Meine Großmutter Irene führte dagegen noch ein langes Leben, bis in ihre mittleren 90er-Jahre, in dessen Verlauf sie mir später während meiner Haft unter den Nationalsozialisten oft helfen konnte. Sie stammte aus der sehr angesehenen Kaufmannsfamilie Hofbauer aus der Bácska. Ihre jüngere Schwester Olga heiratete früh den amerikanischen Bierbrauereibesitzer Guy Henry Witthaus und führte in der Neuen Welt ein gesellschaftlich glanzvolles Leben, das uns Kindern äußerst verlockend und erstrebenswert erschien. „Uncle“ Guy Witthaus fiel in New York leider viel zu früh einem Autounfall zum Opfer. Tante Olga verbrachte jeden Sommer in Majorháza. Füllhörner von Spielzeugen ergossen sich bei ihren Besuchen über uns und knüpften uns eng aneinander.

Meine Eltern Ob die Ehe meiner Eltern harmonisch war, ist nach so vielen Jahren schwer zu beurteilen. Jedenfalls waren Vater und Mutter unterschiedliche Charaktere. Jedem fehlte, was der andere im Überfluss besaß. Meinen Vater würde ich als intellektuell begabten Genießer bezeichnen, als einen Menschen, dem viel Humor zu eigen war, den er auch gerne in seiner Familie und unter seinen Freunden versprühte: ein blendender Kartenspieler, guter Jäger und Schütze sowie mit der aktuellen Literatur und dem zeitgenössischen Musikschaffen vertraut. Meine Mutter war eine allgemein anerkannt schöne Frau. Die häu-

5. Meine Eltern, Wien 1918.

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Lebenskreise 6. Auf dem Arm meines Vaters Alois (Louis) von Strasser, 1919.

figen Änderungen des Wohnortes ihrer Familie, von Garnison zu Garnison, wurden zwar durch ihre Schulung im Sacré-Coeur in Budapest und Wien aufgewogen, aber das Interesse meiner Mutter an geistvollen Themen lag dennoch hinter dem meines Vaters zurück. Dafür war sie äußerst temperamentvoll und vermochte Majorháza in einen von anregenden Gästen häufig besuchten gesellschaftlichen Treffpunkt zu verwandeln. Sehr viel später, nach dem Ableben meines Vaters, heiratete meine Mutter einen serbischen Diplomaten, der charakterlich nicht in unsere Familie passte. Aber mit zwei Kindern in Not, eines in politischer Bedrängnis, das andere krank, musste sie wohl eine Stütze akzeptieren, die ein Versprechen bot, sie aus den Kriegswirren herauszuführen. Die Landwirtschaft Majorházas wurde daraufhin verpachtet, meine Mutter führte jedoch den großen Gartenbetrieb mit Blumen, Primeurs und Obst unter Mitwirkung eines hervorragenden Gärtners mit größtem Erfolg, der ihren harten Einsatz belohnte. 16

Familiäre Wurzeln

7. Die Urgroßmutter Strasser mit ihren Kindern, darunter mein Großvater Rudolf.

Die Familie Strasser Auf väterlicher Seite genossen drei bis vier Generationen der Familie Strasser die Segnungen der Monarchie ohne jegliche Störung. Das zeitlich am frühesten nachweisbare Familienmitglied war der 1773 in Kittsee geborene Israel Strasser, später Gastwirt in Raab (Györ). Er starb 1865 im Alter von 92 Jahren. Über Israel und seinen bedeutenden Sohn Alois Strasser brach eine Flut von 17

Lebenskreise 8. Musikdirektor Jani Strasser mit Maria Costa in der Rolle der Gräfin während der Proben von „Il segreto die Susanna“ in Glyndebourne 1958.

Kindern herein. Israel war in erster Ehe mit seiner Nichte, der rothaarigen Fanny Strasser, verheiratet. Sie wurde 1825 in Pressburg geboren und verstarb 1892 in Budapest. Israels Ehe war mit zehn Kindern gesegnet. Seinem Sohn Alois Strasser, der als der Begabteste der Familie galt, schenkte dessen zweite Frau Babette Winkler 13 Kinder. Im Jahr 1850 begründete Alois mit mehreren nahen Verwandten die bald weltbekannte Getreide-Großhandelsfirma Strasser & König sowie 1864 die Budapester Waren-Börse, der er auch als Präsident vorstand. Strasser & König war durch eigene Schiffslinien mit den großen Handels- und Getreideschnittpunkten Europas – Triest und Konstantinopel – verbunden. Das Porträt des Gründers hing im Börsensaal in Budapest. Ich erinnere mich, dass mein Vater uns Kinder dorthin führte, um den Vorfahren zu besuchen. Der Kaiser hatte Alois das Komtur-Kreuz des Franz-Joseph-Ordens verliehen, ansonsten führte er ein eher frugales Leben. Nur wenige seiner Kinder und Brüder wurden Partner bei Strasser & König. Die übrigen honorierte man zwar nobelst, sie verfolgten aber ihre eigenen Interessen. Ein Zweig des Alois führt direkt zur Familie Schnitzler, der der Dichter Arthur und der Chirurg Professor Julius Schnitzler entstammen. Imre Strasser 18

Familiäre Wurzeln

und Irene Egger waren die Eltern Jani Strassers (1902–1976), eines bedeutenden Musikers, der in den frühen 30er-Jahren die Sängerin Audrey Mildmay in Wien unterrichtete und schließlich 1937 als Head of Music des Glyndebourne Festivals nach England ging, das Audrey Mildmay mit ihrem Mann John Christie ins Leben gerufen hatte. Jani galt als Begründer eines etwas langsameren und weicheren Mozart-Stils. Seine Schwester Emmi wurde die Gattin des bekannten Textilgroßindustriellen Edmund von Goldberger.

Die engere Verwandtschaft Mein Großvater Rudolf Marcus Strasser hatte noch vor 1900 den bedeutenden landwirtschaftlichen Besitz Majorháza erworben, der etwa zwanzig Kilometer von Pressburg liegt und über hundert Jahre in der Familie bleiben sollte. Während des Zweiten Weltkrieges wurde Majorháza enteignet und mir später als einzigem in der Slowakei überlebendem Mitglied der Familie Strasser nach dem Ende des Kommunismus zu einem Drittel restituiert. Meine antinationalsozialistische Betätigung während des Krieges hatte dabei sicher mitgespielt. Großvaters Bruder Béla erwarb seinerseits das Grand Hotel in Wien. Sándor, ein weiterer Bruder, ließ sich auf einer anderen slowakischen Domäne, Kisbab bei Neutra, nieder. Seine Frau Selma Fröhlich von Feldau besaß eine bedeutende

9. Großvater Rudolf von Strasser in Majorháza.

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Lebenskreise

10. Schloss Majorháza in seiner Blütezeit, um 1930.

keramische Kunstsammlung, die zu einem kleinen Teil nach dem Krieg über ihren Sohn Herbert in meine persönliche, schon öfter ausgestellte und katalogisierte Porzellankollektion überging. Großvater Rudolf und Béla wurden 1905 mit dem Prädikat „von Györvar“, Sándor mit dem Prädikat „von Kisbab“ nobilitiert. Meine Großmutter väterlicherseits, Mathilde (1864–1922), hatte ich kaum gekannt. Ich war etwa drei Jahre alt, als sie starb. Wir waren uns wohl nicht sehr zugetan, weil ich einen furchtbaren Sturz mit der einzigen Erinnerung an sie verbinde. Sie saß im Park unter einer großen Kastanie, die ihre Äste nach allen Seiten ausbreitete. Ich lief auf sie zu und fiel über eine der großen Wurzeln. Sie hob mich zu sich auf, nur Tränen und Schmerzen. Mathilde entstammte der mährischen Textilfamilie Mandl und verbrachte, wie viele Konvertiten, lange Zeiträume in Gottesdiensten und Andachten, als ob sie für alle vor der Konversion begangenen Sünden auf einmal büßen wollte. In der Wiener Augustinerkirche zog sie sich schließlich eine Lungenentzündung und damit den Tod zu. Ein großes, von unserem talentierten Nachbarn Gyula Heim gemaltes Porträt dieser Großmutter schmückte den großen Salon in Majorháza. Ich konnte 20

Familiäre Wurzeln

11. Im Alter von dreieinhalb Jahren, genannt „Burschi“, am 12. Oktober 1922 in Majorháza.

12. Gyula Heim: Bildnis Mathilde Strasser, Öl auf Leinwand.

dieses Gemälde durch die folgenden Kriegswirren retten. Meine Mutter, die ihre Schwiegermutter offenbar nicht sonderlich schätzte, beurteilte dieses Bild gelegentlich im Vorübergehen mit der Bemerkung: „So schön war sie in Wirklichkeit gar nicht.“ Der Erwerb Majorházas ist übrigens einem tragischen Unfall zuzuschreiben. Der Vorbesitzer, Baron Vaj, besaß bereits um die Jahrhundertwende ein modernes amerikanisches Auto. Das Schicksal wollte es, dass er, neben seiner Mutter sitzend, in die Deichsel eines entgegenkommenden Pferdefuhrwerks steuerte und auf der Stelle verstarb. Baronin Hermine Vaj verkaufte daraufhin die damals 1800 Hektar große Domäne an meinen Großvater. Die Familie der Barone Jessenak gilt als Erbauer des Barockschlosses Majorháza. Das Datum 1755 ist auf mehreren Eisentüren eingeprägt. Durch Erbschaft ging das Schloss an die Familie Vaj über. Den Baustil nannte man 21

Lebenskreise

damals „Grassalkovich-Stil“, denn er ähnelt stark dem spätbarocken Pressburger Stadtpalais, das der in einer Generation gefürstete Protegé Maria Theresias, Fürst Antal Grassalkovich I., ab 1760 in sehr kurzer Zeit durch den Architekten Andreas Mayerhoffer erbauen ließ. Dort lebte noch bis vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges Erzherzog Friedrich mit seiner Töchterschar. Heute ist das Palais Sitz des slowakischen Bundespräsidenten. Auch Schloss Gödöllő war für Grassalkovich bereits ab 1735 erbaut worden, später jedoch in ähnlichem Geschmack erweitert und ergänzt. Mein Vater Alois verfolgte auf Majorháza gleichfalls eine landwirtschaftliche Karriere. Er schloss sein Studium in Magyaróvár (Ungarisch-Altenburg), wo übrigens Albert von Sachsen-Teschen die erste höhere Privatlehranstalt für Landwirtschaft gegründet hatte, und in St. Louis ab. Den Ersten Weltkrieg beendete mein Vater als Oberleutnant bei den Hadik-Husaren. Dass ich ihn in diesen Memoiren in Bezug auf seinen Werdegang vielleicht etwas zu kurz kommen lasse, hat wohl damit zu tun, dass er nach seinem akademischen Studium als Agronom keine in der Monarchie übliche Karriere in der Verwaltung des Staates begann. Mein Vater musste sich außerdem unweigerlich gleich nach seiner Heirat in Wien den Aufgaben in Majorháza stellen. Er war schließlich der einzige Sohn, sein Vater war auch nicht mehr der Jüngste. Die nach dem Krieg über den Grundbesitz verhängte tschechoslowakische Bodenreform stellte die Landwirte vor ganz neue Probleme. Majorházas Gründe wurden halbiert. Tägliche Auseinandersetzungen mit Ämtern und Anwälten standen im Vordergrund. Überdies starb mein Vater mit fünfzig Jahren, viel zu jung. All dies trug dazu bei, dass er seine Fähigkeiten nicht in aller Fülle einzusetzten vermochte.

Sissy Ein massiver Einschnitt in den Ablauf der Familiengeschichte bedeutete das Herzleiden meiner 1924 geborenen Schwester Felicitas, genannt Sissy, das sie sich als Kleinkind bei einem Familienausflug nach Mariazell zuzog. Ihre „Nurse“ hatte meinen Eltern die bereits beginnende Krankheit verschwiegen. Zu jener Zeit war ein einem Herzinfarkt ähnlicher Anfall ohne Behandlung mit passenden Arzneien schwerwiegend. Ich erinnere mich noch an Sendun22

die käufliche Jagd

13. Mit meiner Schwester Sissy, genannt „Baby“, 1930.

gen von Medikamenten, die aus Spitälern in den USA zu uns nach Hause geschickt wurden. Das gesamte Familienleben war aus den gewohnten Fugen gehoben. Aufenthalte in Krankenhäusern gehörten von nun an zum Alltag. Auch das Schulleben meiner Schwester war davon wesentlich beeinflusst und konnte zeitweise nur durch Privatunterricht abgewickelt werden. Sissy wurde von allen Menschen, die ihr in ihrem jungen Leben begegneten, als geduldiger und geradliniger Charakter geschätzt. Sie übte innerhalb unserer Familie einen nicht zu übersehenden, wohltuenden Einfluss aus.

Die käufliche Jagd

J

agd spielte auf Majorháza eine eigene Rolle. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass Jäger von reinstem Schrot und Korn Einwände zu erheben hatten. Es ist tatsächlich so, dass man nur jenen Bereich bejagen sollte, den man auch besitzt. Nun übersteigt meist die Nachfrage nach Jagdmöglichkeiten das Ange23

die käufliche Jagd

13. Mit meiner Schwester Sissy, genannt „Baby“, 1930.

gen von Medikamenten, die aus Spitälern in den USA zu uns nach Hause geschickt wurden. Das gesamte Familienleben war aus den gewohnten Fugen gehoben. Aufenthalte in Krankenhäusern gehörten von nun an zum Alltag. Auch das Schulleben meiner Schwester war davon wesentlich beeinflusst und konnte zeitweise nur durch Privatunterricht abgewickelt werden. Sissy wurde von allen Menschen, die ihr in ihrem jungen Leben begegneten, als geduldiger und geradliniger Charakter geschätzt. Sie übte innerhalb unserer Familie einen nicht zu übersehenden, wohltuenden Einfluss aus.

Die käufliche Jagd

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agd spielte auf Majorháza eine eigene Rolle. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass Jäger von reinstem Schrot und Korn Einwände zu erheben hatten. Es ist tatsächlich so, dass man nur jenen Bereich bejagen sollte, den man auch besitzt. Nun übersteigt meist die Nachfrage nach Jagdmöglichkeiten das Ange23

Lebenskreise 14. Mein Vater Alois (Louis) von Strasser als Jäger.

bot, nicht zuletzt weil die „beati possidentes“ nach dem Ersten Weltkrieg den größeren Teil ihrer Felder durch verschiedene Bodenreformen verloren hatten. Man hätte sich ja mit kleineren Jagden und Strecken begnügen können, aber um die 1930er-Jahre stießen in Mitteleuropa verschiedene Begehrlichkeiten aufeinander. Uns traf ein zunehmender Bedarf an Flugwild, Rebhühnern und Fasanen, weil es sich so fügte, dass um 1930 Amerikaner und Franzosen, die Salzburger Festspiele – Marke Reinhardt – stürmten, auch gerne jagten. So gab es nun in Salzburg Jagdvermittler, darunter Prinz Tassilo Fürstenberg, welche die Jagdmöglichkeiten in Ungarn und Böhmen aus eigener Erfahrung gut kannten und auch mit den Opernliebhabern in Kontakt standen. Wir, die Verpächter, waren an „paying guests“ hoch interessiert und stellten Schloss und Jagd gerne kurzfristig zu Verfügung. Majorháza, von Wien per Automobil damals in knapp zwei Stunden erreichbar, wurde eines Tages von einer unternehmungslustigen und jagdfreudigen Gruppe von Amerikanern besucht, die sich eine Woche lang ein24

die käufliche Jagd

quartierten. Sie fuhren in einem größeren Konvoi von Automobilen vor und richteten sich so häuslich ein, dass die Besitzer in die seit Langem unbenützten Quartiere im Haus übersiedeln mussten. Der amerikanische Gastgeber war ein Großindustrieller namens Conquer Goodyear, die ihm näherstehende Begleiterin war eine Mrs. Bliss, deren Sohn Tony sehr viel später Präsident der New Yorker Metropolitan Opera wurde, gerade als ich zum ersten Mal die Vereinigten Staaten besuchte. Eine damals berühmte Society Beauty, Barbara Marshall Field, erschien in der Gestalt eines sportlich gekleideten Engels. Die Tochter eines Warenhausbesitzers aus Chicago gehörte allem Anschein nach zu Anthony Bliss. Ein- oder zweimal in der Woche wurden die Hausherren zum Dinner an ihren eigenen Tisch geladen und dürften dabei verschiedene Dresscodes gebrochen haben. Mr. Goodyear thronte am Kopf der Tafel in einer ungewöhnlichen Kombination aus schwarzen Pumps, die man zum Frack trägt, dazu Lederhosen, die von einem Smoking-Oberteil gekrönt wurden, mit dem man in Salzburg gewöhnlich das Ende des Don Giovanni verfolgte. 15. Als junger Jäger, um 1932.

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Lebenskreise

Zeitgerecht rollten im Schlosshof auch zwei Cadillacs ein, die für den Abend eine ziemlich komplette Palette der Hofzuckerbäckerei Demel aus Wien lieferten. Unsere Gäste schienen recht überrascht, dass wir alle, samt den Kindern, ziemlich flüssig Englisch sprachen und keine Stallatmosphäre verbreiteten. Um zehn Uhr des folgenden Morgens führten uns mehrere Pferdekutschen zu den viele Rebhühner bergenden großen Maistafeln. Die Kutscher waren in ungarische Uniformen gekleidet, die Peitsche bewegte sich rhythmisch an der Seite des Tschakos. Ich durfte aus Pressburg einige Freunde einladen, die eifrig umherliefen, Hunde führten und Handlangerdienste verrichteten. Zur Technik der Jagd wurde den Gästen erklärt, dass man den vor sich liegenden Maisstreifen möglichst schnell der Breite nach zu durchqueren hatte. Die Schützen waren in Abständen von etwa dreißig Metern aufgestellt. Zwischen ihnen bewegten sich Treiber und Hundeführer. Etwa 15 Meter vor dem Ende des Streifens musste jeder ohne Kommando stehen bleiben. Mucksmäuschenstill. In diesem Moment erhoben sich gewöhnlich die Rebhühner-Ketten und strichen nach vorn oder nach hinten. Die Schützen feuerten ihre beiden Gewehre nacheinander, das entleerte Gewehr wurde gleich vom Büchsenspanner wieder geladen, so dass eine erhebliche Strecke vor dem Maisstreifen herabpurzelte und Hühner mit beschädigten Flügeln, „geflügelt“ genannt, von den Hunden apportiert wurden. Nach dem ersten Beschuss mussten wir aber leider konstatieren, dass die Mehrzahl der Hühner entkommen war und vor den Schützen nicht die erwarteten vierzig bis fünfzig getroffenen Vögel herabflatterten, sondern bestenfalls fünf bis sieben. Der Grund war das Unvermögen unserer Gäste, zu treffen, aber auch ihr langsames Fortkommen im Maisfeld. Da die Vereinbarung zwischen Vater und Goodyear in der Formel „Ein Huhn = Ein Dollar“ bestand, sahen wir einem tristen Jagdergebnis entgegen. Man hatte meinem Vater so etwas Ähnliches prognostiziert und vorgeschlagen, er möge pro Patrone einen Dollar verlangen. Aber dazu war es nun zu spät. Doch Good­year nahm meinen Vater ritterlich zur Seite und proponierte, er möge mich und meinen Freund Laci Kalotay mitschießen lassen. Die Strecke vergrößerte sich im Nu, beide Seiten waren mit dem Resultat hoch zufrieden. Laci lebt übrigens noch heute in Ungarn und wir erfreuen uns an ständigem Kontakt. 26

Unsere Nachbarn

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n einem Umkreis von zehn Kilometern um Majorháza existierte mindestens ein Dutzend von Anwesen, auf denen kultivierte Persönlichkeiten lebten, jeder auf seine Weise gewissermaßen ein Leuchtturm in der sonst schlummernden, sommerheißen bukolischen Landschaft. Bei uns in Majorháza und bei Graf und Gräfin Gyuri und Gabrielle Draskovics in Püspöki (Biskupice) wurden oft kleine Tennisturniere veranstaltet. Auch Traberpferde wurden gezüchtet und auf kleinen Parcours in Pressburg eingesetzt. Es war ein lustiges, anregendes Leben, das wir Kinder und unsere beiden Cousins aus Zürich, die ihre Ferien bei uns verbrachten, liebten. In Vereknye, heute Vrakunya und bereits ein Stadtteil von Bratislava, residierte in einer stattlichen Villa die Familie des berühmten Verlegers Paul Zsolnay. Paul war mit Anna Mahler, einer Tochter Gustav Mahlers und seiner Alma, verheiratet. Ich war damals noch viel zu jung, um die Bedeutung dieser Nachbarn zu verstehen. Ich weiß nur, dass in unserem Gästebuch die Namen Zsolnay, Felix Salten und Peter Altenburg neben Arthur Schnitzler, der ja zur Familie gehörte, eingetragen waren. Meine Mutter war auf einen Gelegenheitsvers Felix Saltens sehr stolz, denn er verglich sie darin mit einem Pfirsich. Ebenfalls nahe an das damalige Pressburg angrenzend, lag eines der beiden im 19. Jahrhundert erworbenen landwirtschaftlichen Güter des zu großem Wohlstand aufgestiege16. Meine Mutter Antonia, genannt „Tolly“. nen Bankiers Baron Eduard Wiener 27

Lebenskreise

von Welten. Der Besitz hieß Gomba und war nur fünf Kilometer von Majorháza entfernt. Der Kontakt zwischen meiner Mutter und ihrer Nachbarin Maria Wiener von Welten, verehelichte Baronin Prosoroff, war besonders während des Zweiten Weltkrieges eng, als ich in NS-Haft in Deutschland einsaß. Nach der Enteignung der Besitzungen in der Slowakei bemerkte meine Mutter oft, wie klug doch Wiener von Weltens gewesen waren. Sie hatten außer Gomba auch ein großes Anwesen bei Leopoldsdorf im österreichischen Marchfeld erworben sowie ein stattliches Palais am Wiener Schwarzenbergplatz. Marias Bruder Rudolf wurde von Tieffliegern in der Nähe Goldeggs getötet, während ihr Gatte, Baron Alexej Prosoroff, dort von herumlungernden Partisanen erschossen wurde. Meine unter Depressionen leidende Mutter wurde nach den Strapazen des Krieges zu Maria nach Leopoldsdorf eingeladen und beim Pflücken großer Bouquets von Maiglöckchen besprachen die beiden Damen die verhängnisvollen Schicksalsschläge, die sie erlitten hatten. Inzwischen waren Marias Kinder Ria und Gyuri bereits so weit herangewachsen, dass wir uns öfter trafen und gemeinsam versuchten, den Anstieg zur Restitution der enteigneten Güter Majorháza und Gomba in Angriff zu nehmen. In Nagylég (Velký Lég) hauste unverheiratet ein komischer Kauz, Paul Benyovsky, der viele Talente in sich vereinte. Er galt als begabter Geigenbauer und Astronom und unterhielt ein wildreiches Gatter, in dem einmal im Jahr eine große Fasanenjagd abgehalten wurde. Nach dem Tode meines Vaters war ich besonders stolz darauf, eingeladen zu werden. Die Familie der Grafen Benyovsky hatte einen aufregenden historischen Hintergrund. Im 18. Jahrhundert kämpfte der damalige Graf Moritz August, noch in Polen ansässig, gegen russische Eindringlinge. Er wurde gefangen genommen und einige Zeit auf einem Inselarchipel bei Kamtschatka festgehalten. Eine lokale Stammesfürstin befreite den attraktiven Mann. Danach gelang ihm die Flucht nach Paris. Als bewährter Abenteurer verdingte er sich wenig später in der französischen Armee, die einen Aufstand in Madagaskar unterdrückte. Es gab heiße Kämpfe, die damit endeten, dass Benyovsky zum König von Madagaskar ausgerufen wurde. Kaiser Joseph II. betraute ihn mit der Schaffung von Handelswegen. Wie unser Nachbar Paul Benyovsky nach Nagylég gekommen war, wussten wir nicht. Das wallende Blut des Abenteurers war jedenfalls in zweihundert Jahren nicht versickert. 28

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Nordöstlich von Majorháza, schon über der kleinen Donau, die man mit einer handgelenkten Fähre überquerte, steht das einst schöne Schloss der Cseklészer Linie der Grafen Esterházy, von Fischer von Erlach erbaut. Damals lebte dort Gräfin Elvira Esterházy mit zehn Kindern aus zwei Ehen mit den Brüdern Charlie und Géza Esterházy. Puffi, der älteste Sohn, hatte einen gewaltigen Leibesumfang. Ein regulärer Strohsessel auf der Veranda des Hotels Sacher vermochte ihn nicht aufzunehmen. Aber es war, als ob der Herrgott diesen mächtigen Korpus gebraucht hätte, um alle Talente unterzubringen, die er ihm geschenkt hatte. Puffi sprach die drei Lokalsprachen, dazu fließend Englisch, Französisch und Italienisch, wie man überhaupt bei Tisch in Cseklész mit einem Gemisch von Sprachen konfrontiert wurde, und das oft in einem einzigen Satz. Angeblich war Puffi nie zur Schule gegangen, aber er spielte herrlich Klavier, zwar nicht nach Noten, aber aus der kreativen Fantasie heraus, mit selbst eingestreuten Andeutungen komplizierter Orchestrierung. Oft zog es ihn zum Steinway nach Majorháza. Mit seinen Halbschwestern Elvira und Eva waren wir viel später noch in New York eng befreundet. Puffis Großmutter, eine Wittelsbacher Prinzessin, empfing einmal im Monat in ihrer Wiener Prachtwohnung, Hofknicks de rigueur. Sie hatte eine Verbindung zwischen ihrem Enkel und Wieland Wagner herbeigeführt. Puffi besaß eine mächtige Tenorstimme, die von Wagner bis zu Eberhard Waechter viele Kenner bewunderten. Aber es fehlte ihm an Energie, diese Begabungen weiterzuentwickeln. Im Kreise seiner Pressburger Freunde gefiel er sich als eine Art Sir John Falstaff. Einige Konzerteinladungen amerikanischer Besatzungsgruppen akzeptierte er später wohl, ohne dann aufzutreten. Er starb früh in einem Schloss bei Hallein. Am Abhang der kleinen Karpathen lag Pudmeritz (Pudmerice), ein neu­ gotisches Schloss, in das der legendäre und überaus charmante Graf Pali Pálffy fünf seiner insgesamt acht Ehefrauen heimführte. Mit seinem Namen verband man in der damaligen Gesellschaftswelt einen mit mächtigem Schnurrbart ausgestatteten großen Beau. Er fühlte sich von der Liebe zu der jeweils ­schönsten und attraktivsten Dame seiner Zeit und Umgebung stets getroffen. Frauen verschiedenster Nationalitäten waren ihm verfallen, denn Pali war sprachgewandt und vermochte in einer sonoren Stimmlage an der Seite eines guten Zigeuner-Primas aus dem sagenhaften Charme melancholischer ungari29

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scher Volkslieder zu schöpfen. Meist mündete seine Kunst in Liebesabenteuer, häufig auch in Scheidung und Drama. Die international bedeutendste seiner Frauen war die französische Schriftstellerin Louise de Vilmorin, die in Pudmeritz nach dem Nachtmahl mittelalterliche Madrigale zur Laute sang. Auch diese Ehe, die 1938 geschlossen wurde, hielt nur wenige Monate. Uns Kindern in Majorháza war Pali der liebste aller Gäste. Das trug ihm schließlich ein, dass er meine Bitte, mein Firmpate zu werden, nicht ausschlug und dass mein erster Rehbock in Pudmeritz erlegt wurde. Von Pali gibt es eine Geschichte, die ich nicht vorenthalten möchte, beschreibt sie doch einen gewissen „Zeitgeist“. Pali war einer der berühmtesten Jäger seiner Zeit. Die Pálffys waren irgendwann im 16. Jahrhundert eine sehr lukrative Ehe mit der begüterten Familie Fugger aus Augsburg eingegangen. Der Wohlstand dieser beiden Familien führte zur politischen Dominanz der Pálffys, die als Paladine Oberungarns mehrere Hundert Jahre die politische Szene dominierten. Teile ihres Vermögens legten die Fugger in den reichen Kupferbergwerken der Slowakei an. Inzwischen war sehr viel Zeit vergangen und der Fugger’sche Reichtum war längst verprasst. Amerikanische Erbinnen traten an seine Stelle. Die Fugger wurden aber auch durch indische Maharadschas ersetzt. Diesen Maharadschas gelüstete es nach kapitalen Hirschen, waren sie doch gewohnt, in ihren indischen Fürstentümern von Elefanten herab auch Tiger zu bejagen. Zunächst ging es mir darum, Pali Pálffy zu schildern, wie er lebte und wie er der Nachwelt in Erinnerung verbleiben wird. Doch es gibt auch eine noch menschlichere Seite dieses ungarischen Magnaten, der überall Sympathien genoss, selbst bei Jan, dem Sohn des Präsidenten Masaryk. Der aufgeschlossene Maharadscha Khengarji III. von Kutch, ein enger Freund Königin Viktorias von England, verbrachte die ersten Wochen eines fern zurückliegenden Septembers bei Pali auf dessen slowakischem Schloss, um sich auf die Hirschbrunft in den Karpaten vorzubereiten. Auch indische Fürsten hatten erkannt, dass die Jagd auf Rekordträger von Rotwildtrophäen zu den Königsdisziplinen zählte und Pali war berühmt dafür, seinen Gästen zu einem „Kapitalen“ zu verhelfen, wozu es alle möglichen Transportaufgaben zu lösen galt, wie das Erklimmen hoher Pässe und Kämme. Man jagte schließlich im Hochgebirge und der von Elefanten-Fauteuils verwöhnte Maharadscha 30

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von Kutch hatte die Siebzig bereits passiert. Eines Tages in Pudmeritz, so hieß es, soll der Maharadscha, der Pali ins Herz geschlossen hatte, nach dem Grund seiner depressiven Stimmung gefragt haben. „Something financial, something I can help you with?“ Der Inder empfand sofort, dass er ins Schwarze getroffen hatte. Er galt zwar unter den indischen Herrschern als weniger reich, aber von altem Stamme und äußerst hilfsbereit. Etwa folgende Konversation könnte geführt worden sein: „Pali, ich könnte Ihnen finanziell schon 17. Der Maharadscha Khengarji III. von Kutch (1866–1942). etwas helfen. Aber wir haben daheim diese lästige konstitutionelle Monarchie eingeführt, und jegliches Investment muss seither verbucht und budgetiert werden. Nicht immer handelt es sich um mein persönliches Vermögen. Schlagen sie mir ein passables public project vor, dem man so einigermaßen ablesen kann, dass es einen decent return bringen wird.“ Ob das dem Maharadscha dargebotene „Brückenprojekt“ damals das erste Mal überhaupt präsentiert wurde, weiß ich nicht, aber es muss von Pali so überzeugend vorgetragen worden sein, dass der in Aussicht gestellte „return of capital“ den Maharadscha zum sofortigen Handeln bewegte. An sich ging es um eine sehr kleine Brücke, die bei Vrakuna (Verekne) bei Pressburg, einen schmalen Donauarm überquerte. Ein Stich nach J. G. Weissenberg aus der Zeit um 1820 zeigt die damals Carolinenbrücke genannte Einrichtung, die seinerzeit dem kaiserlichen Kämmerer und königlich-ungarischen Schatzmeister Fidel Pálffy ab Erdöd gehörte, samt einem zugehörigen, damals neu erbauten und sehr modischen Kaffeehaus. Die Brücke war seit Jahrhunderten Eigentum der Pálffys, denen in der Umgebung Pressburgs meh31

Lebenskreise

18. Ansicht der Carolinen-Brücke samt dem neu erbauten Kaffeehause. Kupferstich nach J.G. Weissenberg, um 1820.

rere Realitäten gehörten, um die sich weder der Staat noch die Familie selbst kümmerte. Teile von Stadtmauern, Kanalsysteme und Wasserzuflüsse waren Besitztümer aus den Türkenkriegen des 17. Jahrhunderts. Pali beschäftigte später einen Historiker, der alte Landkarten nach dem Namen Pálffy durchstöberte. Ansprüche auf solche alten Objekte konnten in den Händen eines geschickten zeitgenössischen Advokaten als Stadtbaugründe anerkannt werden und einen erheblichen Wertzuwachs erleben. Ein sehr unscheinbares Aussehen kennzeichnete die erwähnte Brücke. Aber eine unter dem Wind flatternde Pálffy´sche Standarte wehte an den schmächtigen Brückenpfeilern und ebenso auf einem Holzhäuschen, in dem ein Mann saß, der von Fußgängern, Radfahrern und Kutschen ungefähr fünfzig Böhmische Heller kassierte. Die Pálffy´sche Regimentsuniform aus dem 18. Jahrhundert, die dem Mauteinnehmer übergezogen wurde, hob den Anblick der Brücke. Der 32

Unsere Nachbarn

19. Auf der Terrasse von Majorháza: Botschafter Caius Bredicianu (Tante Olgas Vetter), Großvater Rudolf von Strasser, meine Mutter Tolly, Guy Henry Witthaus, mein Vater Alois (Louis), Tante Olga, ich selbst, Großmutter Irene von Seibt, Sissy, Großvater Gottfried von Seibt.

Maharadscha soll alles genau inspiziert haben, es sei ihm aufgefallen, dass der Verkehr über die Brücke während seines Besuches etwas reger war als sonst, aber er schlug ein. Er pachtete das Pálffy´sche Brücklein auf einhundert Jahre und Pali soll kurz darauf seine Depression losgeworden sein. Was aber mit der PálffyBrücke in den folgenden Kriegsjahren passierte, ist mir nicht bekannt, ebenso wenig, ob sie noch Maut abwirft und an wen. Diese Geschichte ist mir seit meiner Kindheit vertraut und hat mich immer amüsiert. Die Biografie des Maharadschas hat es heute aufgrund seiner Beliebtheit bis ins Internet gebracht. 33

Lebenskreise

Unsere allernächsten Nachbarn in Csákány waren die Razghas. Wie so manche ungarische Familie führen sie ihren Stammbaum auf die sagenhaften arpadischen Könige zurück. Die Razghas wohl zu recht. Pali und Béla, die Söhne des Hauses, emigrierten nach New York, wo wir später jene Freundschaft fortsetzten, die wir damals als Nachbarn begonnen hatten. Dem Gesetz nach hätten sie als Ungarn nicht einmal die Universität in der Slowakei besuchen dürfen. All diese Menschen waren auf ihre Weise Geschichtsträger der pannonischen Tiefebene, nicht nur als Brotgeber, sondern auch als zivilisatorische Gestalter dieser Region. Sie sprachen Deutsch, Ungarisch und später auch Slowakisch, ein ausgeprägt nationales Profil war ihnen fremd. Sie waren das, was die Monarchie geschaffen hatte, Träger eines Ausgleichs zwischen den immer stärker werdenden nationalen Blöcken. Als nach den Verhandlungen von Trianon der slowakisch-tschechische General Štefánik bei Pressburg Opfer eines ungeklärten Absturzes wurde, schenkte mein Großvater dem Staat jene Fläche, auf der heute noch Štefániks Monument steht. Die Slowaken verdächtigten tschechisches Militär, das Flugzeug abgeschossen zu haben. Die Geschichte hat die Haltung all dieser Persönlichkeiten nicht honoriert.

Erziehung zwischen Wien und Pressburg

M

eine persönliche Erziehung in der Mittelschule wurde zwischen der Wiener Theresianischen Akademie und dem Deutschen Realgymnasium in Pressburg aufgeteilt. Mein Besuch des Theresianums galt vor allem dem Ziel, das zu erhalten, was ich an Kulturwerten zu Hause erworben hatte. Mehr Wien, weniger Ungarn. Zu dieser Zeit waren Wien und Berlin die kulturellen Anregungspunkte Mitteleuropas. Die Pressburger Umgebung war durch ihre landwirtschaftlich-jagdlichen Möglichkeiten sehr attraktiv, aber meine Eltern wollten große Theater- oder Opernpremieren in Wien nicht versäumen, sodass sie vor allem ihre Interessen in Wien stillten. Daher ging auch mein erster schulischer Einfluss vom Wiener Theresianum aus, wo viele Kinder der Freunde meiner 34

Lebenskreise

Unsere allernächsten Nachbarn in Csákány waren die Razghas. Wie so manche ungarische Familie führen sie ihren Stammbaum auf die sagenhaften arpadischen Könige zurück. Die Razghas wohl zu recht. Pali und Béla, die Söhne des Hauses, emigrierten nach New York, wo wir später jene Freundschaft fortsetzten, die wir damals als Nachbarn begonnen hatten. Dem Gesetz nach hätten sie als Ungarn nicht einmal die Universität in der Slowakei besuchen dürfen. All diese Menschen waren auf ihre Weise Geschichtsträger der pannonischen Tiefebene, nicht nur als Brotgeber, sondern auch als zivilisatorische Gestalter dieser Region. Sie sprachen Deutsch, Ungarisch und später auch Slowakisch, ein ausgeprägt nationales Profil war ihnen fremd. Sie waren das, was die Monarchie geschaffen hatte, Träger eines Ausgleichs zwischen den immer stärker werdenden nationalen Blöcken. Als nach den Verhandlungen von Trianon der slowakisch-tschechische General Štefánik bei Pressburg Opfer eines ungeklärten Absturzes wurde, schenkte mein Großvater dem Staat jene Fläche, auf der heute noch Štefániks Monument steht. Die Slowaken verdächtigten tschechisches Militär, das Flugzeug abgeschossen zu haben. Die Geschichte hat die Haltung all dieser Persönlichkeiten nicht honoriert.

Erziehung zwischen Wien und Pressburg

M

eine persönliche Erziehung in der Mittelschule wurde zwischen der Wiener Theresianischen Akademie und dem Deutschen Realgymnasium in Pressburg aufgeteilt. Mein Besuch des Theresianums galt vor allem dem Ziel, das zu erhalten, was ich an Kulturwerten zu Hause erworben hatte. Mehr Wien, weniger Ungarn. Zu dieser Zeit waren Wien und Berlin die kulturellen Anregungspunkte Mitteleuropas. Die Pressburger Umgebung war durch ihre landwirtschaftlich-jagdlichen Möglichkeiten sehr attraktiv, aber meine Eltern wollten große Theater- oder Opernpremieren in Wien nicht versäumen, sodass sie vor allem ihre Interessen in Wien stillten. Daher ging auch mein erster schulischer Einfluss vom Wiener Theresianum aus, wo viele Kinder der Freunde meiner 34

erziehung zwischen wie und Pressburg

Eltern ebenfalls erzogen wurden. Freilich zeichneten sich selbst im schulischen Umfeld schon damals die politischen und ideologischen Spannungen zwischen den nach Macht strebenden Nationalsozialisten und der Ständeregierung ab, die in den letzten Jahren vor dem Anschluss doch bemerkenswerte wirtschaftliche Erfolge erringen konnte. Im Unterschied zum relativ liberalen Klima im Pressburger Gymnasium war das Aufeinandertreffen von Schülern aus Familien, deren Angehörige in der damaligen Regierung Karriere machten und jenen aus deutschnational orientierten Elternhäusern im Theresianum oft von wilden Raufereien und Demonstrationen in den Pausen bestimmt. Ein Lehrplan mit alter Tradition konnte sich nicht immer gegenüber umstürzlerischen, inhumanen Gedanken durchsetzen. Die Spannungen in der Hauptstadt wuchsen täglich und endeten schließlich 1934 mit der Ermordung des Bundeskanzlers Engelbert Dollfuß, der in einem Nazi-Putsch in Wien angeschossen wurde und ohne Zulassung von Hilfe verblutete. Der ihm folgende Kanzler Kurt von Schuschnigg, der ehemalige Justizminister des Ständestaates, war der Bedrohung durch den nachbarlichen NS-Staat nicht gewachsen und sah sich dazu gedrängt, vor der Gewalt Hitlers zu weichen. Dies war eigentlich das Ende der Ersten Republik Österreich. Eine Kompromissformel gab es mit Hitler nicht. Schwäche war in diesem Fall auch Mangel an Möglichkeiten. Es war Zeit, das Theresianum und Wien zu verlassen, das Deutsche Gymnasium in Pressburg zu beziehen und das Leben auf Majorháza auszubauen. Wir gaben die Wiener Wohnung auf. Der Einmarsch der Wehrmacht vollzog sich am 12. März 1938 unter dem hörbaren Jubel eines Großteils der österreichischen Bevölkerung. Kein Schuss wurde auf die Deutsche Wehrmacht abgefeuert. Als Beispiel für die Stimmung des damaligen Wien kann die Geschichte der Familie des Landesführers der Heimwehr, Emil Fey, gelten. Sein Sohn Herbert war einer der Anführer des konservativen Lagers unter den Theresianisten. Die Familie beging geschlossen am Abend des deutschen Einmarsches in Wien Selbstmord. Ihnen folgten mehrere Tausend, die ihr Leben aufgaben. Mein Onkel Egon Strasser, Bélas Sohn, beendete sein Leben am selben Abend mit Kopfsprung aus seiner Wohnung in die Johannesgasse. Wir waren also in sehr jungen Jahren mit dem Tod aus Überzeugung, welcher Couleur auch immer, konfrontiert. 35

Lebenskreise

20. Meldungsbuch der Hochschule für Welthandel, 1939.

Schon in den der deutschen Besatzung Österreichs folgenden Tagen rollten heillos überfüllte Eisenbahnwaggons von Wien in das Konzentrationslager Dachau, deren Inhalt aus der Elite der gestürzten österreichischen Regierung und Verwaltung bestand, an der Spitze der letzte österreichische Kanzler der Ersten Republik, Kurt von Schuschnigg. Er war am Tag vorher mit den Worten: „Gott schütze Österreich“ zurückgetreten. Doch war auch die Lage in Pressburg bereits Jahre vor dem Krieg nicht unkompliziert. Das geistige Niveau war damals sehr hoch. Einmal in der Woche präsentierte das dortige Deutsche Theater schöne Opern und Sprechstücke. Auch das Schulniveau war beachtlich. Ich besuchte das Deutsche Gymnasium auch deshalb, weil unser Rechtsberater meine Eltern mahnte, dass man als Gutsbesitzer in der Tschechoslowakei über eine dort gültige Matura 36

erziehung zwischen wien und Pressburg

verfügen sollte. Die Schülerschaft im Pressburger Gymnasium bestand aus in den Karpaten angesiedelten Deutschen, aus liberalen und orthodoxen Juden und aus liberalen Pressburger Altdeutschen, die sich vom Nationalsozialismus fernhielten. Ein begnadeter Professor für deutsche Literatur, Dr. Karl Schön, ragte aus der Lehrerschaft heraus und präsentierte eine klare Übersicht von der Periode der Merseburger Zaubersprüche bis Gerhart Hauptmann. Er war zudem ein hervorragender Goethe-Kenner. Geschichte wurde, wie damals allgemein verbreitet, auf eine Art und Weise unterrichtet, die das zeitgenössische Geschehen nicht thematisierte. Ein Jahr slowakischer Sprachunterricht wurde mir in der siebten Klasse gestundet. Die Restriktionen für die Minderheitengymnasien, wie unseres, bestanden unter anderem darin, dass nur eine beschränkte Anzahl von Schülern die Matura erreichte. Von 43 Kandidaten, die zur deutschsprachigen Matura antraten, absolvierten nur 23 Schüler. Man wollte die deutsche Kultur nicht unbedingt fördern. Doch immerhin habe ich im Laufe meiner Schulzeit in Pressburg Slowakisch gelernt, sodass ich sogar in diesem Fach maturieren konnte. Das akademische Klima war von den Siegermächten des Ersten Weltkriegs bewusst beeinflusst worden. Sie versuchten, ein auskömmliches Verhältnis zu den Minderheiten zu entwickeln, das allerdings in Folge der heraufziehenden Spannungen anfällig wurde. Wenn sich auch das intellektuelle Niveau der Oberstufe in Pressburg nicht zu verstecken brauchte, ja, vielleicht in gewissen Bereichen über das Niveau des Theresianums hinauswuchs, konnte man im Klassenleben eigentlich nie politische oder ideologische Spannungen wahrnehmen. Die Schülerschar war bunter und vielfältiger als in Wien. Das ausgeprägte Zustreben der orthodoxen jüdischen Gläubigen auf ein unabhängiges Israel war sicher deutlich zu erkennen, aber es war nie ein aggressiver Faktor gewesen. Das Pressburger Deutschtum hatte eine lange Vergangenheit, die sicherlich mehr vom Liberalismus als vom Nationalismus charakterisiert wurde. Natürlich konnte man gewisse nationalistische Tendenzen nicht übersehen, aber eher im Sinne eines Mitläufertums der Ereignisse in Deutschland. 1945/46 wurde alles Deutsche aus der Slowakei eliminiert. Viele Pressburger leben heute in Deutschland oder Österreich. Die Kinder der deutschen Pressburger meines Gymnasiums zeigten jedenfalls damals keine NS-Nähe. 37

Lebenskreise

Noch heute denke ich manchmal an meine Pressburger Mittelschulzeit zurück. Wenn ich trotz meines hohen Alters aus dem Fundus meiner Ausbildung schöpfen kann, so deshalb, weil die vor der Besetzung durch die ­Nationalsozialisten in Pressburg selbstverständlich herrschende multikulturelle Schulpolitik auch in mir viel Wertvolles hinterlassen hat. Während man sich in Wien ideologisch aber auch wortwörtlich die Köpfe einschlug, produzierte das bunte Kulturgemisch der Pressburger Gesellschaft eine Art Gleichgewicht, das mehr Inhalt als bloße Meinungen vermittelte. Auch mein tiefgehendes Interesse an deutscher Literatur und Geschichte ist mir seit damals geblieben und hat meinen Horizont erheblich erweitert. Nicht zuletzt wurden wir in drei Sprachen erzogen, die man zumindest einigermaßen beherrschte. Zu Hause unterhielten wir uns auf Deutsch, Slowakisch war die Amtssprache und weite Teile der Bevölkerung sprachen Ungarisch. Viel später schrieb ich einmal in der Zeitung „Die Furche“: „Im Übrigen hat es auf dem Gebiet des nationalen Empfindens meist ein Zuviel, aber selten ein Zuwenig gegeben (26. Oktober 1946).“

Zola und die Natur

F

rüh habe ich den Eindruck gewonnen, dass jede Lebensphase einen bestimmten Eingang und einen ähnlich gestalteten Ausgang besitzt. So kam es eigentlich zum Entstehen der Lebenskreise in meinen Memoiren. Dabei geht es nicht um physische Entwicklungen, sondern um intellektuelle oder seelische „Türöffner“. Diese können von einem Tag auf den anderen ein gesteigertes Interesse an einem Thema wachrufen. Solch ein Moment, ich war damals 14 oder 15 Jahre alt, ist mir noch genau in Erinnerung. An jenem Tag sprang eine Tür auf, die mit der Aufschrift „Lust am Lesen“ bezeichnet war. In einem geräumigen Salon in Majorháza waren viele Möbel mit Büchern angeordnet, die von den verschiedenen, dort wohnenden Generationen benutzt wurden. Seltsamerweise hatte die Generation meiner Großeltern allgemein mehr Interesse an zeitgenössischer Kunst. Dagegen fühlten sich meine Eltern mit Objekten der Kunst des Barock und früherer Epochen näher verwandt. In 38

Lebenskreise

Noch heute denke ich manchmal an meine Pressburger Mittelschulzeit zurück. Wenn ich trotz meines hohen Alters aus dem Fundus meiner Ausbildung schöpfen kann, so deshalb, weil die vor der Besetzung durch die ­Nationalsozialisten in Pressburg selbstverständlich herrschende multikulturelle Schulpolitik auch in mir viel Wertvolles hinterlassen hat. Während man sich in Wien ideologisch aber auch wortwörtlich die Köpfe einschlug, produzierte das bunte Kulturgemisch der Pressburger Gesellschaft eine Art Gleichgewicht, das mehr Inhalt als bloße Meinungen vermittelte. Auch mein tiefgehendes Interesse an deutscher Literatur und Geschichte ist mir seit damals geblieben und hat meinen Horizont erheblich erweitert. Nicht zuletzt wurden wir in drei Sprachen erzogen, die man zumindest einigermaßen beherrschte. Zu Hause unterhielten wir uns auf Deutsch, Slowakisch war die Amtssprache und weite Teile der Bevölkerung sprachen Ungarisch. Viel später schrieb ich einmal in der Zeitung „Die Furche“: „Im Übrigen hat es auf dem Gebiet des nationalen Empfindens meist ein Zuviel, aber selten ein Zuwenig gegeben (26. Oktober 1946).“

Zola und die Natur

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rüh habe ich den Eindruck gewonnen, dass jede Lebensphase einen bestimmten Eingang und einen ähnlich gestalteten Ausgang besitzt. So kam es eigentlich zum Entstehen der Lebenskreise in meinen Memoiren. Dabei geht es nicht um physische Entwicklungen, sondern um intellektuelle oder seelische „Türöffner“. Diese können von einem Tag auf den anderen ein gesteigertes Interesse an einem Thema wachrufen. Solch ein Moment, ich war damals 14 oder 15 Jahre alt, ist mir noch genau in Erinnerung. An jenem Tag sprang eine Tür auf, die mit der Aufschrift „Lust am Lesen“ bezeichnet war. In einem geräumigen Salon in Majorháza waren viele Möbel mit Büchern angeordnet, die von den verschiedenen, dort wohnenden Generationen benutzt wurden. Seltsamerweise hatte die Generation meiner Großeltern allgemein mehr Interesse an zeitgenössischer Kunst. Dagegen fühlten sich meine Eltern mit Objekten der Kunst des Barock und früherer Epochen näher verwandt. In 38

zola und die Natur

der Literatur sprachen wieder Klassiker meine Großeltern stärker an, während sich zeitgenössische Literatur auf dem Nachttischchen meines Vaters türmte, bis sie dann in den Barockkästen verschwand. In Pressburg waren im 18. Jahrhundert hervorragende Handwerker beschäftigt gewesen, die die Palais rund um die Residenz der ungarischen Könige mit solchen Kästen ausschmückten. Die klassische Literatur meiner Großeltern war dagegen in schweren Eichenschränken des späten 19. Jahrhunderts einsortiert. Obwohl mir persönlich die klassische deutsche Literatur das Gerüst meiner Sprache und meines Denkens war, zog es mich immer zum Barockschrank hin, wo sich die internationale zeitgenössische Literatur von Emile Zola abwärts sammelte. Über Zola hatte ich immer gehört, dass er ein etwas anrüchiger Schriftsteller sei und die Wahrheiten des Lebens exaltiert und vielleicht etwas einseitig darstelle. So nützte ich eines Tages die Abwesenheit meiner Eltern und holte mir Emile Zolas „Nana“ aus dem Barockkasten, steckte das Taschenbuch in meine Lederhose und setzte mich auf eine Waldbank, um in die Geheimnisse, die sonst in diesem Alter nicht so frei zugänglich waren, einzudringen. Ich las und las und las eine deutsche Übersetzung Zolas, bis ich plötzlich entdeckte, dass die mich umgebende strahlende Natur mir Einzelheiten zeigte, die von Emile Zola ganz ähnlich beschrieben wurden. Blühende Sträucher neigten sich mir zu, Bienen und Hummeln summten durch den Sommer, wie auch bei Zola, hier wohl zur Verdichtung des Textes. Die langen Schatten der Bäume deckten meine Bank ähnlich wie das Haus, in dem der fromme Graf mit Nana wohnte. Anlässlich dieser Erinnerung reizt es mich heute, nach fast achtzig Jahren, wieder in Zolas Buch nachzublättern, um nochmals zu erkunden, was sich eigentlich genau abgespielt hatte. Ich hatte bei der Lektüre am Waldrand zum ersten Mal verspürt, dass Naturschilderungen oft Naturabläufe auslösen, und dass der Mensch, wie im tiefen Wasser, so auch in der kaum bewegten Natur den Einfluss über sich selbst verlieren kann. Alles das nimmt bei Zola seinen Ausgang im Ablauf der Natur, von den Spielen des Lichtes und der Schatten zu immer stärkerer Integration von Wirklichkeit und künstlerischem Streben. Natur und Schilderung werden eins und alles. So hatte sich für mich damals tatsächlich ein neues Tor geöffnet, hinter dem sich nur schwer definierbare Kräfte zu schaffen machten. Hier begann also ein erster Lebenskreis aufzuspringen 39

Lebenskreise

oder sich zu schließen. Zola hatte mir das Wunder der Übereinstimmung von Natur und menschlichen Vorstellungen vorgespielt, dem ich verfiel. Aber war der Künstler nicht auch schuldlos den Kräften der Natur zum Opfer gefallen?

Weltmacht Fußball

D

er Impuls, mich auch außerhalb der Schule sportlich zu betätigen, wurde bei mir sicherlich nicht durch das Elternhaus angeregt. Er war nie so stark ausgeprägt, als andere durch Konkurrenz angefachte Aktivitäten, aber hinter jeder Sportdisziplin steht ein zusätzlicher Antrieb, der dieser Betätigung den richtigen Platz im Leben einräumt. Fußball und andere Mannschaftssportarten bezeugen ein gewisses Maß an Nationalgefühl, oder einfach ein Zugehörigkeitsgefühl. Man setzt sich für einen bestimmten Club, eine Schulklasse, die Dorfmannschaft oder gar die Nationalmannschaft ein. Unter den österreichischen Vereinsmannschaften war ich, soweit ich zurück denken kann, immer „Rapid“-Anhänger. Mein Mitschüler Fritz Mauthner, Vater der Sacher-Lady und des Opernballsterns, nahm mich um das Jahr 1932 zum ersten Mal zu einem Match gegen die „Austria“ nach Hütteldorf mit. Rapid-Austria galt schon damals als das Derby Österreichs. Fast wäre dieser Plan an meiner konkurrenzlosen Schlamperei gescheitert. Die Ladeninspektion im Internatszimmer des Theresianums während der Sonntagsmesse erbrachte einen Negativrekord an Unordnung in meiner Schreibtischlade und der Wäschekommode. Ergebnis: Ausgangsabzug am Sonntagnachmittag. Kein „Rapid-Austria“ Match in Hütteldorf, ein Tränenausbruch. Musterschüler Mauthner war auch verärgert. Aber der Präfekt lenkte ein: „Wann wollt ihr nach Hütteldorf fahren?“ Die Haltestelle Taubstummengasse lag einen Katzensprung vom Theresianum entfernt. „15 Uhr, Herr Präfekt.“ „Also gut. Wenn du Schillers ‚Glocke’ aufsagen kannst und die erforderliche Ordnung wiederhergestellt ist, könnt ihr fahren. Ich prüfe um 14 Uhr 30.“ Es war gerade 10 Uhr 30. Was der liebe Präfekt nicht wusste und nicht wissen konnte, „Das Lied von der Glocke“ war mein Lieblingsgedicht, das ich schon bei mehreren Familiengeburtstagen aufgesagt hatte. Ich lernte 40

Lebenskreise

oder sich zu schließen. Zola hatte mir das Wunder der Übereinstimmung von Natur und menschlichen Vorstellungen vorgespielt, dem ich verfiel. Aber war der Künstler nicht auch schuldlos den Kräften der Natur zum Opfer gefallen?

Weltmacht Fußball

D

er Impuls, mich auch außerhalb der Schule sportlich zu betätigen, wurde bei mir sicherlich nicht durch das Elternhaus angeregt. Er war nie so stark ausgeprägt, als andere durch Konkurrenz angefachte Aktivitäten, aber hinter jeder Sportdisziplin steht ein zusätzlicher Antrieb, der dieser Betätigung den richtigen Platz im Leben einräumt. Fußball und andere Mannschaftssportarten bezeugen ein gewisses Maß an Nationalgefühl, oder einfach ein Zugehörigkeitsgefühl. Man setzt sich für einen bestimmten Club, eine Schulklasse, die Dorfmannschaft oder gar die Nationalmannschaft ein. Unter den österreichischen Vereinsmannschaften war ich, soweit ich zurück denken kann, immer „Rapid“-Anhänger. Mein Mitschüler Fritz Mauthner, Vater der Sacher-Lady und des Opernballsterns, nahm mich um das Jahr 1932 zum ersten Mal zu einem Match gegen die „Austria“ nach Hütteldorf mit. Rapid-Austria galt schon damals als das Derby Österreichs. Fast wäre dieser Plan an meiner konkurrenzlosen Schlamperei gescheitert. Die Ladeninspektion im Internatszimmer des Theresianums während der Sonntagsmesse erbrachte einen Negativrekord an Unordnung in meiner Schreibtischlade und der Wäschekommode. Ergebnis: Ausgangsabzug am Sonntagnachmittag. Kein „Rapid-Austria“ Match in Hütteldorf, ein Tränenausbruch. Musterschüler Mauthner war auch verärgert. Aber der Präfekt lenkte ein: „Wann wollt ihr nach Hütteldorf fahren?“ Die Haltestelle Taubstummengasse lag einen Katzensprung vom Theresianum entfernt. „15 Uhr, Herr Präfekt.“ „Also gut. Wenn du Schillers ‚Glocke’ aufsagen kannst und die erforderliche Ordnung wiederhergestellt ist, könnt ihr fahren. Ich prüfe um 14 Uhr 30.“ Es war gerade 10 Uhr 30. Was der liebe Präfekt nicht wusste und nicht wissen konnte, „Das Lied von der Glocke“ war mein Lieblingsgedicht, das ich schon bei mehreren Familiengeburtstagen aufgesagt hatte. Ich lernte 40

weltmacht Fussball

immer leicht auswendig – und vergaß ebenso schnell wieder. Aber Schiller hatte in seinem Glockenepos unzählige Strophen eingebaut, die ich noch immer memorieren konnte. So reproduzierte ich um 14 Uhr 30 meine alten Glockenkenntnisse. Wie es aber schon in der ersten Strophe heißt: „Von der Stirne heiß, rinnen muss der Schweiß….“ Der von oben versprochene Segen stellte sich dann tatsächlich ein. Beim Aufsagen vor dem Präfekten produzierte ich ein Geholpere von richtigen und fehlerhaften Strophen, wobei ich darauf achtete, dass sich die Endsilben reimten. Dort liegt ja bei Schiller der eigentliche Effekt. Der Präfekt war sehr erstaunt, half mir über Fehlstellen hinweg und um 15 Uhr betraten wir die Stadtbahnhaltestelle in der Taubstummengasse. Zu Beginn des Spiels waren wir bereits in der Masse Tausender Zuseher untergetaucht, damals noch auf dem Stehplatz. Es war jedenfalls ein dramatischer Einstieg in den Fußball. Das Geheimnis um Schillers „Glocke“ bleibt jedoch diesem Buch vorbehalten. „Rapid“ blieb Zeit meines Lebens mein Lieblingsclub, obgleich es politisch immer ein sozialistisch orientierter Verein war, dessen Prominenz und Führer aus abgelegten Funktionären bestand. Das ergab für mich ein Dilemma. Denn den politischen Sozialismus hatte ich immer abgelehnt. Aber die „Rapid-Viertelstunde“ hat mich begeistert, dieses Aufbäumen der Mannschaft knapp vor dem Ende des Spiels, selbst wenn sie schon hoffnungslos im Hintertreffen lag. Andere Mannschaften gehen zu diesem Zeitpunkt, wie man im Fußball auf Wienerisch sagt, nur mehr „auf den Schläuchen“. Der historisch etablierte Gegner, die „Austria“, ist dagegen eher ein elitärer Verein von Intellektuellen und wohlhabenden Verehrern, demnach ein in meiner Sympathieskala konträr angesiedelter Club, mit vielleicht mehr spielerischen Talenten als Rapid, aber weniger Kampfbereitschaft und Einsatzwillen. Was man jedenfalls hier auch betonen muss, die Qualität der Mannschaften nimmt von der Stadt gegen das Land hin ab. Das ist in den Nachbarländern Österreichs ebenso spürbar wie bei uns und hat auch mich beeinflusst. Damals in Ungarn besaß jedes Dorf eine eigene Fußballmannschaft. Der Sonntagnachmittag war der gar nicht zarten Auseinandersetzung mit Nachbarclubs vorbehalten. Per Fahrrad fuhr die lokale Mannschaft mit heimischem Anhang ins gegnerische Dorf zum „Match“ und zum anschließenden Wirtshausbesuch. Ein Sieg baute den Ruf des Heimatdorfes auf. Schon dabei entwickelte 41

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sich ein gewisser Heimpatriotismus, von dem ich ein „Stückerl“ mitbekam, denn ich war Rechtsaußen der Féler Mannschaft. Fél (Tomašov) war der Ort, zu dem Majorháza gehörte. So wie man sich an diesen oder jenen Schrotschuss auf Fasane, Rebhühner oder Hasen stets erinnert, bleibt die Fußballerinnerung auch dort stehen, wo man einen halbhohen Volley-Schuss im feindlichen Tornetz versenkt hatte. Mehr als zweimal pro Saison geschah das sowieso nicht. Wenn man dann Jahrzehnte später mit dem Auto durch das Dorf fuhr, rief einer dem anderen zu: „Schau das ist der ‚Burschi’“, so wurde ich nämlich zu Hause genannt, „der hat damals für Fél das Goal gegen Schwarzwasser (Feketeviz) geschossen.“ So wird man Teil der Heimatgeschichte und einer verklärten Vergangenheit. Im Theresianum oder im Pressburger Gymnasium war es weniger leicht gewesen, ein lokaler Fußballheld zu werden. Dort wurde viel trainiert, das Spielermaterial war größer, Fans und Zuschauer rekrutierten sich aus der Verwandtschaft und waren nicht weniger fanatisch. Kürzlich fand ich eine Fotografie aus den Jahren kurz nach Kriegsende und einen Aufruf an die Fans unseres damaligen Clubs wieder: EINLADUNG Zum Match des Jahrhunderts Mai 1947 FC Poker gegen Loyality-Club Hört Poker-Freunde, lasst Euch sagen Charterts Räder, Autos, Wagen – oder, wer nicht anders kann Benütze halt die Tramperlbahn Kommt damit heraus gefahren Zum Mauthnerplatz in hellen Scharen, Wo Schabes, den vierten, in Scene geht Um drei gen den Club Loyalität Ein Fußballmatch in großem Stil Ganz große Kanonen bestreiten das Spiel: MANDI MEHRING steht im Tor. 42

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21. FC Poker, stehend: Hiller, Lauda, Wittgenstein, Bucher, Braunsteiner, ich selbst, Igler; kniend:Walter Riedl, Mähring, Hans Riedl, Stantejsky.

PETER BUCHER gleich davor Mit PETER LAUDA im Verein Centerhalf spielt WITTGENSTEIN, Rechts und links von ihm je einer: HASI IGLER – BRAUNSTEINER! Mittelsturm ein Kren, ein Krasser: Zeitungsschmierer RUDI STRASSER! Rechtsverbinder: RIEDL HANS ROLF STANTEJSKY außen ganz Außen links der Schwedenkiller BIBI WINGER! RUDI HILLER Heinls hoher Sekretär Stürmt innen! Sagt, was wollt ihr mehr? ALSO SAMSTAG NICHT VERGESSEN: AUF ZUM MATCH, GLEICH NACH DEM ESSEN 43

Lebenskreise

Selbst während meines viel späteren, langen Aufenthaltes in den USA musste ich dem Fußball über die Schulter blicken. Dabei war europäischer Fußball (soccer) verglichen mit dem amerikanischen Football gar nicht populär. Er wurde etwa in den Highschools gespielt und von kleinen Vereinen, die sich die Minderheitenpflege zur Aufgabe gesetzt hatten. Die Clubs hießen „Die Gottscheer“ und „Hungaria“, es gab auch einige italienische und slowenische Vereine. Ab 1956 dominierte die „Hungaria“ diesen Minderheitensport. In jenem Jahr wurde in Australien die Sommerolympiade ausgetragen. Ungarn verfügte damals über das beste Fußballteam und gewann die olympische Goldmedaille. Spieler wie Puskás, Kocsis und andere entsprachen damals dem Niveau der heutigen Spanier, Brasilianer und anderer einsamer Weltspitzen. Die Ungarische Revolution von 1956 wurde von den ungarischen Fußballspielern zum Anlass genommen, nach den USA abzuspringen. Was sich damals um New York, Los Angeles und New Jersey an ungarischen Fußballstars ansammelte, fand nirgends auf der Welt seinesgleichen. So wurde die „Hungaria“, die sich schließlich aus ungarischen Olympioniken zusammensetzte, mehrere Jahre hindurch US-amerikanischer Meister. Allmählich verflüchtigten sich die magyarischen Stars in die große Fußballwelt, wie Puskas zu Real Madrid, wo sie das Vielfache dessen verdienten, was in den USA geboten wurde. Dort waren sie lediglich von ungarischen Privatiers und Träumern subventioniert worden. Die ärmlichen Plätze unter der Triborough und der Brooklyn Bridge am Hudson River verkamen mangels Pflege und Finanzierung. Erst in den letzten zehn Jahren entwickelte sich wieder ein gewisses Fußballleben in Amerika, der Kern einer Nationalmannschaft der USA, die jetzt an den Weltmeisterschaften teilnimmt. Sie entspricht stärkemäßig den mittelamerikanischen Mannschaften, wie Mexico und Nicaragua, mit denen sie sich in einer Gruppe um den Eintritt in die Weltmeisterschaften misst. Der Weltfußball hat in den letzten Generationen sehr an Bedeutung zugenommen. Die großen Fußballnationen Spanien, Deutschland oder England dominieren so eindeutig, dass die Erinnerungen an Österreichs Siege, als wir Deutschland und den Nachbarn Ungarn noch glatt schlugen, der goldenen Vergangenheit angehören. Besucherzahlen und finanzielle Mittel können in Österreich mit den Großen nicht mithalten, sodass wir heute nur mehr zwischen Bedeutungslosigkeit und Mittelmäßigkeit pendeln. 44

Musik

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eine Knabensingstimme, die im Theresianum im Sopran-Solo oft, vor allem bei Messen von Mozart, zum Einsatz kam, ist mir später als Bariton lange erhalten geblieben. Noch in den 50er-Jahren verfolgte ich mein Gesangsstudium an der Wiener Musikakademie bei Professor Wageneder. Meine erste seriöse Gesangsprofessorin war Louise Ehrenstein (1867–1944), eine bekannte Opernsängerin. Im musikalischen Salon ihrer Prachtvilla auf der Hohen Warte verkehrte sonntags auch der berühmte Rezensent Julius Korngold, der damals seinen allseits angehimmelten Sohn Erich kritisierte, weil er seiner Ansicht nach samt seiner „Toten Stadt“ zu früh nach Hollywood emigriert war. Für Julius Korngold war Johann Strauß das Genie des 19. Jahrhunderts schlechthin. Auch Herbert Mittag ging in Louise Ehrensteins Salon ein und aus. Er wurde die „Zunge der Presse“ genannt. Es waren schillernde und lehrreiche Stunden, die ich auf der Hohen Warte verbrachte. Als ich viel später bereits mitten in meinem Berufsleben in der Bundeshandelskammer stand und es wagte, am 23. Mai 1949 für Freunde und Musik-

22. Meine Lehrerin, die Opernsängerin Louise Ehrenstein, Postkarte mit Inschrift: „Das Leben ist der dunkle Grund von dem die Kunst sich leuchtend hebt! Louise Ehrenstein“.

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Lebenskreise

23. Einladung zum Liederabend im Palais Pálffy, 1949.

liebhaber einen Liederabend im Palais Pálffy zu geben, wurde mir von oben zugewinkt, ich möge mich für die Kunst oder die Kammer entscheiden, beides wäre nur schwer zu vereinbaren. Vielleicht entsprachen die plakatierten Programme des übrigens recht gelungenen Liederabends nicht dem Ernst der damals scharfen sozialpolitischen Auseinandersetzungen zwischen Kammer und Gewerkschaft. Vielleicht aber störten meine eifrigen Sekretärinnen, die zu ihren Kolleginnen in den diversen Kammerbüros liefen, um für meinen Auftritt zu werben, den Betrieb. Ich sang im Figaro-Kammersaal am Josephsplatz ein Programm mit Liedern von Johannes Brahms, Hugo Wolf und Richard Strauss, wunderbar begleitet von Professor Otto Schulhof am Ehrbar-Flügel. Es blieb mir schließlich keine Wahl, ich musste den Kammer-Weg gehen. Gelegentlich hatte ich in Ungarn an der Seite einer Zigeuner-Kapelle gesungen, deren romantische Lieder mir immer sehr gefielen. Das Zymbal der Roma ist ein außerordentlich stimmungsvolles Begleitinstrument. Hier entstand eine gewisse Brücke zu Nikolaus Lenau, dessen lyrisches Sprachtalent die Feinsinnigkeit ungarischer Volkslieder seelennah zu übersetzen vermochte. Mein Studium der Harmonielehre und der Orchestrierung an der Musikakademie verkümmerte allmählich. Schließlich versetzte ich meiner gesanglichen Ambition selbst den Todesstoß. Um noch zumindest an der Musik zu nippen, trat ich als Chorsänger dem Wiener Schubertbund bei. Dieser galt während 46

Musik

des Krieges als eine Art NS-Stimmungsorgel und wurde nach dem Krieg für einige Zeit verboten. Im Zuge der Lockerung des Anti-NS-Trends wurde das Verbot aufgehoben. Bundeskanzler Figl fungierte beim ersten Nachkriegskonzert des Schubertbundes mit den Wiener Symphonikern am 26. Mai 1946 im Großen Saal des Wiener Konzerthauses als Ehrenpräsident. Auch der Unterrichtsminister Dr. Felix Hurdes, der Nationalratspräsident Leopold Kunschak und Wiens Bürgermeister Dr. Theodor Körner waren anwesend. Als einer der Höhepunkte des Programmes wurde ein modernes Oratorium gewählt, ein „mystisches Notturno“ mit dem Titel „Die Trappisten“.2 Hofrat Viktor Keldorfer hatte es komponiert und dem strengsten aller Orden gewidmet, der bis auf den düsteren Gruß „Memento mori“ seine Frömmigkeit durch völliges Schweigen zum Ausdruck bringt. Er war 1938 genötigt worden, die künstlerische Leitung des Schubertbundes zurückzulegen, über seine Kompositionen wurde ein Aufführungsverbot verhängt. 1946 bat ihn die österreichische Regierung um Rückkehr. Als Ehrenchormeister des Schubertbundes nahm er an diesem Konzert teil. Ich wurde für „Die Trappisten“ als Bariton-Solist gewählt, vielleicht auch wegen meiner Vergangenheit im Widerstand. Mir gegenüber sang die junge Kammersängerin Hilde Konetzni, sie verfügte bekanntlich schon damals über eine sehr große Stimme. Von mir war jedenfalls nach ihrem Einsatz nicht mehr viel zu hören. Dies war eigentlich das letzte Mal, dass ich meine Stimme öffentlich darbot, abgesehen von kleinen Gesangsübungen mit der Pianistin Gina Doktor, die ich als Witwe des Musikers Arnold Rosé, dem Gründer des berühmten Rosé-Quartetts, in New York kennengelernt hatte. Musikalität prägte jedenfalls viele Persönlichkeiten meiner Familie. Als eine seiner ersten Neuanschaffungen für Majorháza ließ mein Großvater einen Steinway-Flügel aus New York kommen, dessen Schicksal unbekannt verlief. Kurz nach dem Krieg hieß es, dass die Pressburger Musikakademie einen Steinway ihr Eigen nannte. Das hätte meinen Großvater sehr gefreut. Er legte keinen besonderen Wert auf Besitz. Während der Bayreuther Festspiele wurde in Majorháza der heute nicht mehr existierende Salon im ersten Stock in eine Art Auditorium verwandelt. Jeden Abend wurde auf einem adaptierten großen Billardtisch das Dinner serviert. Neben jedem Gedeck stand ein kleiner Radioapparat, der auf den 47

Lebenskreise

Empfang der Bayreuther Übertragungen eingestellt war. Man saß mit Kopfhörern in bequemen Fauteuils und Wagners berühmteste Sänger, wie Leo Slezak, Anna Bahr-Mildenburg oder Franz Völker, schmeichelten den Ohren. Sehr viel später in meinem Leben gelang es mir, dem Ring der US-amerikanischen Wagner-Fans beizutreten, sodass wir jährlich die eine oder andere Vorstellung in Bayreuth genießen konnten. Tagsüber besuchten wir die herrlichen fränkischen Landschaften mit ihren kleinen, mittelalterlichen Städten. Leider entfernen sich Bayreuth und seine damals historistischen Inszenierungen mit jedem weiteren Jahresring immer mehr von uns. Es scheint sich zu bewahrheiten, dass die Wagner-Aufführungen beim Souper in Majorháza die vollkommensten waren, gaben sie doch der Fantasie den größten Raum.

Das politische Klima in Wien um 1938

D

a ich beabsichtigt hatte, nach der im Jahr 1937 absolvierten Matura in Pressburg wieder nach Wien zurückzukehren und an der Hochschule für Welthandel zu studieren, benützte ich meinen sowohl in Ungarn als auch in der Slowakei gültigen Pass, der die Teilung unseres Landes in zwei Staaten berücksichtigte, aber auch in Deutschland gültig war, um die Höhle der NSLöwen zu inspizieren. Ich wollte vor allem eruieren, ob Ausländer im Dritten Reich studieren durften. Zu meiner größten Überraschung wurden diesen Gaststudenten, wie auch mir damals, ohne Schwierigkeiten die Türen geöffnet. Man wollte demnach Staatsbürger aus den Oststaaten anlocken, sie an Deutschland binden und gewährte ihnen sogar kleine finanzielle Benefizien. Fragen nach meiner Abstammung gemäß den Nürnberger Gesetzen wurden mir nicht gestellt. Sogleich bezog ich also die Wiener Wohnung meiner Großmutter in der Reisnerstraße und hatte zwei Tage später bereits an der Hochschule für Welthandel inskribiert. Die erste kleine Lücke im nationalsozialistischen Verwaltungsbereich hatte ich also durchschlüpft. Eine andere, für mein späteres Leben nicht unbedeutende Bestimmung, brachte die Einführung von kurzen Trimestern statt der üblichen Semester. Ich konnte so mein Wirtschaftsstu48

Lebenskreise

Empfang der Bayreuther Übertragungen eingestellt war. Man saß mit Kopfhörern in bequemen Fauteuils und Wagners berühmteste Sänger, wie Leo Slezak, Anna Bahr-Mildenburg oder Franz Völker, schmeichelten den Ohren. Sehr viel später in meinem Leben gelang es mir, dem Ring der US-amerikanischen Wagner-Fans beizutreten, sodass wir jährlich die eine oder andere Vorstellung in Bayreuth genießen konnten. Tagsüber besuchten wir die herrlichen fränkischen Landschaften mit ihren kleinen, mittelalterlichen Städten. Leider entfernen sich Bayreuth und seine damals historistischen Inszenierungen mit jedem weiteren Jahresring immer mehr von uns. Es scheint sich zu bewahrheiten, dass die Wagner-Aufführungen beim Souper in Majorháza die vollkommensten waren, gaben sie doch der Fantasie den größten Raum.

Das politische Klima in Wien um 1938

D

a ich beabsichtigt hatte, nach der im Jahr 1937 absolvierten Matura in Pressburg wieder nach Wien zurückzukehren und an der Hochschule für Welthandel zu studieren, benützte ich meinen sowohl in Ungarn als auch in der Slowakei gültigen Pass, der die Teilung unseres Landes in zwei Staaten berücksichtigte, aber auch in Deutschland gültig war, um die Höhle der NSLöwen zu inspizieren. Ich wollte vor allem eruieren, ob Ausländer im Dritten Reich studieren durften. Zu meiner größten Überraschung wurden diesen Gaststudenten, wie auch mir damals, ohne Schwierigkeiten die Türen geöffnet. Man wollte demnach Staatsbürger aus den Oststaaten anlocken, sie an Deutschland binden und gewährte ihnen sogar kleine finanzielle Benefizien. Fragen nach meiner Abstammung gemäß den Nürnberger Gesetzen wurden mir nicht gestellt. Sogleich bezog ich also die Wiener Wohnung meiner Großmutter in der Reisnerstraße und hatte zwei Tage später bereits an der Hochschule für Welthandel inskribiert. Die erste kleine Lücke im nationalsozialistischen Verwaltungsbereich hatte ich also durchschlüpft. Eine andere, für mein späteres Leben nicht unbedeutende Bestimmung, brachte die Einführung von kurzen Trimestern statt der üblichen Semester. Ich konnte so mein Wirtschaftsstu48

der plötzliche Tod meines Vaters

dium relativ schnell bereits im Sommer 1940 als Diplomkaufmann abschließen. Die Kandidaten, die neben mir mündlich geprüft wurden, kamen von der Front und trugen deutsche Uniformen, das Eiserne Kreuz und andere Auszeichnungen. Ich dagegen konnte mein Studium „in Zivil“ mühelos und programmgemäß abschließen. Wahrscheinlich hatte die mich stets begleitende Schutzmadonna einen Spalt ihres Gnadenmantels für mich gelüftet. Die Ereignisse der folgenden Jahre hätten zeitlich wohl kaum den Abschluss eines Studiums zugelassen.

Der plötzliche Tod meines Vaters

A

m 2. September 1939 ereilte meine Schwester und mich in Pressburg die Katastrophe, mit der niemand in unserer Familie gerechnet hatte. Während meine Mutter für einige Wochen zu unserer legendären Tante Olga in die USA gereist war, um dort für alle Fälle Einreisemöglichkeiten für uns zu erkunden, starb ganz unerwartet unser Vater. Er war an einer Kiefer-Phlegmone erkrankt. Ich war mit meiner Schwester allein in Majorháza. Ein Freund aus dem Außenamt, Franz Schlechta, kam gerade zu Besuch. Zunächst verspürte Vater arge Zahnschmerzen, was wir noch nicht als Bedrohung empfanden. Das war am 1. September, dem Kriegsbeginn mit Polen. Am nächsten Tag schienen die Schmerzen ungewöhnlich stark zu sein, was meinen Vater bewegte, ein bekanntes Spital in Pressburg aufzusuchen. Zunächst hatte er vermeiden wollen, gerade am Tage des Beginns internationaler Verwicklungen die Grenze zwischen Ungarn und der Slowakei zu passieren, aber dann blieb kein anderer Ausweg. Die Fahrt nach Pressburg verlief ohne Schwierigkeiten. Abends telefonierten wir noch mit dem Spital, es gab keine Veränderung. Der referierende Arzt sprach etwas von einer Mundbodenphlegmone, was mir wenig, aber nichts Gutes sagte. Wir kündigten uns für den kommenden Vormittag im Spital an, unser Vater war zu dem Zeitpunkt schon ins Koma verfallen. Es mangelte an Penicillin, das vielleicht geholfen hätte. Bereits am Nachmittag war mein Vater verstorben. Für uns war es ein völlig unerwarteter Verlauf, die Ärzte hatten uns nicht auf das Äußerste vorbereitet. Vor allem 49

der plötzliche Tod meines Vaters

dium relativ schnell bereits im Sommer 1940 als Diplomkaufmann abschließen. Die Kandidaten, die neben mir mündlich geprüft wurden, kamen von der Front und trugen deutsche Uniformen, das Eiserne Kreuz und andere Auszeichnungen. Ich dagegen konnte mein Studium „in Zivil“ mühelos und programmgemäß abschließen. Wahrscheinlich hatte die mich stets begleitende Schutzmadonna einen Spalt ihres Gnadenmantels für mich gelüftet. Die Ereignisse der folgenden Jahre hätten zeitlich wohl kaum den Abschluss eines Studiums zugelassen.

Der plötzliche Tod meines Vaters

A

m 2. September 1939 ereilte meine Schwester und mich in Pressburg die Katastrophe, mit der niemand in unserer Familie gerechnet hatte. Während meine Mutter für einige Wochen zu unserer legendären Tante Olga in die USA gereist war, um dort für alle Fälle Einreisemöglichkeiten für uns zu erkunden, starb ganz unerwartet unser Vater. Er war an einer Kiefer-Phlegmone erkrankt. Ich war mit meiner Schwester allein in Majorháza. Ein Freund aus dem Außenamt, Franz Schlechta, kam gerade zu Besuch. Zunächst verspürte Vater arge Zahnschmerzen, was wir noch nicht als Bedrohung empfanden. Das war am 1. September, dem Kriegsbeginn mit Polen. Am nächsten Tag schienen die Schmerzen ungewöhnlich stark zu sein, was meinen Vater bewegte, ein bekanntes Spital in Pressburg aufzusuchen. Zunächst hatte er vermeiden wollen, gerade am Tage des Beginns internationaler Verwicklungen die Grenze zwischen Ungarn und der Slowakei zu passieren, aber dann blieb kein anderer Ausweg. Die Fahrt nach Pressburg verlief ohne Schwierigkeiten. Abends telefonierten wir noch mit dem Spital, es gab keine Veränderung. Der referierende Arzt sprach etwas von einer Mundbodenphlegmone, was mir wenig, aber nichts Gutes sagte. Wir kündigten uns für den kommenden Vormittag im Spital an, unser Vater war zu dem Zeitpunkt schon ins Koma verfallen. Es mangelte an Penicillin, das vielleicht geholfen hätte. Bereits am Nachmittag war mein Vater verstorben. Für uns war es ein völlig unerwarteter Verlauf, die Ärzte hatten uns nicht auf das Äußerste vorbereitet. Vor allem 49

Lebenskreise

24. Mit meiner Schwester Sissy im August 1939.

für meine seit Jahren kränkelnde Schwester war der plötzlich eingetretene Schwebezustand der Familie verhängnisvoll, sie war unserem Vater immer sehr verbunden gewesen, auch weil er innerhalb der Familie stiller agierte als meine Mutter. Nun waren mir viele Bürden auferlegt, die ich als menschliche Prüfung empfand. Von diesem Moment an war das Féler Postamt ständig bemüht, meine Mutter telefonisch in den USA zu erreichen, was erst drei Tage später gelang. Noch vor der Ankunft des Dampfers aus New York mit meiner Mutter an Bord war mein Vater in Pressburg beigesetzt worden. Viele Freunde hatten ihn zu Grabe begleitet. Ein letzter Blick durch das Sargfenster auf sein verdunkeltes, nachdenkliches Gesicht wird mir unvergesslich bleiben. Sieht so ein Toter die Welt?

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Österreichische Kirche und Nationalsozialisten

I

n dieser Zeit entwickelten sich die facettenreichen Spannungen und politischen Zusammenstöße zwischen der katholischen Kirche und den Nationalsozialisten. Nach dem Anschluss waren aus diesem Unverhältnis auch die ersten Widerstandsreaktionen erstanden. Die sehr komplizierten Zwischenspiele der katholischen Kirche mit den Nationalsozialisten lassen sich hier kaum interpretieren, haben aber sicherlich größere innere Bedeutung und Gewicht, als oft angenommen wird. Uns und bald auch unsere Widerstandsgruppen beschäftigten diese Vorgänge sehr. Die Aufforderung Kardinal Theodor Innitzers, bei der Volksabstimmung den Anschluss Österreichs an das Dritte Reich am 10. April 1938 zu befürworten, hätte niemand erwartet. Auch sein Höflichkeitsbesuch bei Hitler im Hotel Imperial rief Erstaunen hervor. Der Kardinal handelte sich damit einigen Unmut ein, auch aus den Reihen internationaler kirchlicher Würdenträger und nicht zuletzt des Vatikan. Innitzer versuchte, seine Position in der Folge abzuschwächen und bezeichnete beim jährlichen Rosenkranzfest für die Jugend am 7. Oktober 1938 im Wiener Stephansdom Christus als „unseren Führer“. Mehr als 7.000 Jugendliche nahmen an diesem Gottesdienst gegen den Anschluss teil und formierten sich spontan zu einer Demonstration gegen die Nazis, die von den Parteiformationen und der Gestapo aufgelöst wurde. Als Antwort stürmte am folgenden Abend die Hitlerjugend das Erzbischöfliche Palais. Es gab schwere Verwüstungen und blutige Handgreiflichkeiten. Domkurator Krawarik wurde aus dem Fenster geworfen, er blieb schwer verletzt liegen. Die Polizei erschien selbstverständlich viel zu spät. Jedenfalls hatte Hitler verabsäumt, das Verhältnis zur katholischen Kirche in Österreich von einer neutralen Position aus zu beginnen, obgleich es dazu verschiedene Möglichkeiten gegeben hätte. Man musste weder Gott als Führergestalt herausstellen noch als umstrittene Quelle der ewigen Wahrheit und damit alte Traditionen angreifen. Aber Hitler strebte immer nach dem Extrem, nach dem Primat der Ideologie über die Religion und der eigenen Person über alle anderen Prinzipien. Kardinal Innitzer fiel in die Ungnade der Nationalsozialisten und wurde Ziel zahlreicher Polemiken. Die kirchenfeindliche Haltung wurde besonders in Österreich, aber auch in Deutschland, auf brutalste Weise offenbar. 51

Lebenskreise

Die Freiheitsbewegung

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ährend meines Wiener Studiums auf der Hochschule für Welthandel wurde der Kontakt mit den früheren Kameraden aus dem Theresianum und damit die politischen Verbindungen wieder aufgenommen. Wir fühlten uns ideologisch und politisch noch immer zusammengehörig, jetzt vielleicht noch mehr als früher. Der Widerstand gegen alles, was das NaziRegime täglich an Kontroversiellem schuf, wurde moralisch de facto zur Pflicht. Aber mit welcher Konsequenz und Aktion vorgehen? Die Schaffung von Widerstandszellen aus kleinen Einheiten von Freunden, Verwandten und Gleichgesinnten schien eine sinnlose Sisyphusarbeit zu sein. Was half es schon, Österreicher zusammenzuschließen, die politisch ohnehin „richtig“ eingestellt waren? So beschlossen mein bester Freund, Hanns Georg HeintschelHeinegg, und ich, nach bereits bestehenden Widerstandsgruppen zu forschen. Man suchte und fühlte vorsichtig nach allen Seiten. Nach einigen Wochen wurde Heintschel fündig. Im ehrwürdigen Stift Klosterneuburg stieß er auf eine Gruppe von Gymnasiasten, die ein aus dem Sudetenland stammender Priester, Ordensmann und Religionsprofessor namens Roman Karl Scholz betreute. Die Schüler waren etwa 16-jährig und viele waren durch ihren bürgerlichen Familienhintergrund gefestigte Nazigegner. Herbert Crammer, einer meiner Mitstreiter aus der damaligen Zeit und Klosterneuburger Schüler, schildert, dass der Gruppe um Scholz nicht nur katholische Patrioten angehörten, sondern durchaus für alle Platz war, es gab Liberale und auch Sozialisten.3 Grete Huber-Gergasevics, eine ehemalige Schülerin von Scholz, die später seinen literarischen Nachlass aus dem Gefängnis rettete, schreibt sogar, dass die „Zusammensetzung der Freiheitsbewegung zeigt, wie weit gestreut die Bereitschaft zum Widerstand schon 1939/40“ war, denn die Mitglieder kamen zu diesem Zeitpunkt bereits aus allen Berufsständen, Schichten und Altersstufen.4 Wichtig ist auch festzuhalten, dass Scholz seine jungen Schüler nicht zu diesem riskanten Unternehmen anstiftete, vielmehr trennte er immer bewusst zwischen seiner Berufung als Lehrer, wie etwa in seinen Bibelstunden, und seiner Tätigkeit im Widerstand. Scholz war ein hingebungsvoller Lehrer, ein feinsinniger Lyriker und Prosaist. Es ist nicht eindeutig belegt, auf welche Weise sich Scholz mit dem Natio52

die Freiheitsbewegung

nalsozialismus befasste, er soll 1936 mit klarem Blick vom Reichstag in Nürnberg nach Hause gekommen sein. Bedenkt man seinen kritikfähigen Geist und seine intelligente und aufmerksame Auseinandersetzung mit der Welt, ist es kaum verwunderlich, dass sich Scholz mit allen Zeitgeschehnissen beschäftigt hatte und dass er sich schließlich, ernüchtert von der menschenfeindlichen Ideologie mit ihren falschen Konstrukten, durch seine Freiheitsliebe einen gänzlich anderen Weg weisen ließ, den er mit all seiner Konsequenz bis zu Ende ging. Als Sudentendeutscher war er wohl ursprünglich etwas national angehaucht, aber es wurde erzählt, er habe als überzeugter Demokrat England und auch Winston Churchill besucht und wurde von diesem ermuntert, seinen politischen Weg weiterzugehen. Leider war Churchill damals in England nicht sehr beliebt. Die Engländer litten unter den Wunden des Ersten Weltkrieges und hatten zu gemäßigten Politikern wie Neville Chamberlain und Clement Attlee damals noch mehr Vertrauen. Wer wollte schon einen Zweiten Weltkrieg riskieren? Roman Karl Scholz war im August 1939 aufgrund seiner Kontakte zu Sir Henry Lawson, den er bei einer Kunstführung im Stift Klosterneuburg kennengelernt hatte,5 einer Einladung nach England auf Schloss Brough Hall nahe der schottischen Grenze gefolgt und nutzte die Reise, wie überliefert wird, auch, um die Freiheitsbewegung vorzustellen und um Unterstützung anzusuchen. Doch der Ausbruch des Krieges am 1. September jenes Jahres forcierte seine Rückkehr nach Österreich, das auch namentlich nicht mehr existent war. Die Dramatik dieser Zeit spiegelt sich in Scholz’ „Goneril, die Geschichte einer Begegnung“ wider, die er 1942 in der Gefängniszelle schrieb und deren traumhafte und zugleich bedrohte Schönheit auch heute noch einen ganz eigenen Zauber zu vermitteln vermag. Scholz hatte seine Gruppe, die als Österreichische Freiheitsbewegung oder auch Gruppe Roman Karl Scholz in die Geschichte des österreichischen Widerstandes eingegangen ist, bereits im Mai 1938 gegründet.6 Zunächst sollte die Gruppe mit ihrer ursprünglichen Bezeichnung Deutsche Freiheitsbewegung die Möglichkeit zum Ausdruck bringen, dass Bayern mit Österreich einen süddeutschen Staat bilden könne und Kontakte zu bayerischen Widerstandsgruppen vorstellbar seien. Doch ab Herbst 1938 änderte Scholz aufgrund der 53

Lebenskreise

realen Erfahrung mit dem Besatzer und dessen Umgang mit Österreich seine Haltung. Ab September 1939 wurde die Aggression durch den Kriegsausbruch entgültig manifest und die Gruppe wurde zur Österreichischen Freiheitsbewegung7. Die Österreichische Freiheitsbewegung bot uns eine breite Grundlage, hinter uns standen Ambitionen und leitende Impulse. Es war jemand präsent, der Verantwortung trug: Roman Karl Scholz. Wir legten einen Eid ab, der uns in unserem gemeinsamen Vorgehen enorm bestärkte: „Ich schwöre meinen heiligen Eid, der alle anderen Eide bricht, dass ich der Sache der Deutschen Freiheitsbewegung mit dem Einsatz aller meiner Kräfte dienen, ihrer Führung unbedingten Gehorsam leisten und ihr Geheimnis jederzeit und vor jedermann bewahren werde. Gott ist der Zeuge und Rächer meines Eides.“8 Die Gruppe war in ihrem Aufbau klar konzipiert. Neben der Leitung bestanden sogenannte Hundertschaften, die wiederum aus drei Reihen zu dreißig Mann mit je einem Reihenführer. Eine Reihe sollte aus zehn Dreierschaften9 bestehen, meist waren wir jedoch zu Gruppen aus Freunden zusammengeschlossen, wie in meinem Fall. So bildeten wir eine dieser kleineren, auf besondere Aufgaben spezialisierten Zellen: meine Freunde Hanns Georg Heintschel-Heinegg, Dr. Johann Zimmerl, ein hoch intelligenter, körperlich verwachsener Jurist, der Historiker Dr. Viktor Reimann, der junge Theologiestudent Herbert Christian und ich. Die notwendigen fotografischen Arbeiten verfertigte unser ehemaliger Mitschüler aus der Theresianumzeit, Gerhard Fischer-Ledenice, der auch als Reihenführer fungierte. Er war, ganz nebenbei, mit Heinrich Heine verwandt. Sein Großvater war Maria-Theresien-Ritter. Zu den Klosterneuburgern und anderen Teilorganisationen der Freiheitsbewegung gab es lockeren Kontakt. Auch eine Frauengruppe wurde gegründet, ihr stand die Pianistin Luise Kanitz vor.10 Georg Heintschel-Heinegg sollte den Frauen in Vorträgen und Schulungen, wie sie auch in den Dreierschaften abgehalten wurden, „ideologisches Rüstzeug“11 vermitteln. Meist wurden durch Nationalsozialisten verbotene Schriften als Basis der Schulungen verwendet, die jedoch mit Scholz abgesprochen waren. Die vier formulierten Grundprinzipien der Österreichischen Freiheitsbewegung waren: Freiheit des Glaubens, Freiheit der Meinungsäußerung, Freiheit von Not, Freiheit von Angst. Herbert Crammer beschäftigte sich vor allem mit der Herstellung von Flug54

In memoriam: Roman karl Scholz

zetteln, die mithilfe von Druckstempeln aus einem bekannten Wiener Spielzeugladen am Graben auf ganz einfache Art und Weise angefertigt wurden. Der Kontakt zu Schauspielern des Burgtheaters entstand über Fritz Lehmann. Sein überaus eifriger Kollege Otto Hartmann übernahm sehr bald eine Funktion in der Leitung der Gruppe, ein Umstand, der sich später als sehr verhängnisvoll für uns alle herausstellen sollte. Den folgenden Artikel schrieb ich für die Ausgabe der „Furche“ vom 7. September 1946. Ich möchte ihn an dieser Stelle in seiner Gesamtheit wiedergeben, denn er ist von einer Unmittelbarkeit der Eindrücke, die ich heute nicht mehr rekonstruieren könnte. Es ist eine Charakterisierung des Menschen, des Priesters und des Dichters Scholz.

In memoriam: Roman Karl Scholz Die Furche, 7. September 1946 Forschst Du, was in meinen Werken Dichtung und was Wirklichkeit, folge dieser schlichten Formel, restlos gibt sie Dir Bescheid: Alle Qual ist drin erlitten, alles Glück darin versäumt. Kurz das Traurige ist Wahrheit, doch das Schöne ist erträumt. Roman Karl Scholz

A

ls ich am 23. Februar 1944 gefesselt an der Seite meines zum Tode verurteilten Freundes Roman Karl Scholz den Justizpalast verließ, da fielen mir diese Zeilen ein. Der Dichter hatte sie mir einst im Gefängnis zugesteckt, als wir einen unbewachten Augenblick lang vor unseren Zellen standen. Jetzt wurden wir in das Landesgericht zurückgebracht. Hier, im sogenannten E-Trakt, am Fuße der Stiege, versuchten wir uns ein letztes Mal die Hände zu 55

In memoriam: Roman karl Scholz

zetteln, die mithilfe von Druckstempeln aus einem bekannten Wiener Spielzeugladen am Graben auf ganz einfache Art und Weise angefertigt wurden. Der Kontakt zu Schauspielern des Burgtheaters entstand über Fritz Lehmann. Sein überaus eifriger Kollege Otto Hartmann übernahm sehr bald eine Funktion in der Leitung der Gruppe, ein Umstand, der sich später als sehr verhängnisvoll für uns alle herausstellen sollte. Den folgenden Artikel schrieb ich für die Ausgabe der „Furche“ vom 7. September 1946. Ich möchte ihn an dieser Stelle in seiner Gesamtheit wiedergeben, denn er ist von einer Unmittelbarkeit der Eindrücke, die ich heute nicht mehr rekonstruieren könnte. Es ist eine Charakterisierung des Menschen, des Priesters und des Dichters Scholz.

In memoriam: Roman Karl Scholz Die Furche, 7. September 1946 Forschst Du, was in meinen Werken Dichtung und was Wirklichkeit, folge dieser schlichten Formel, restlos gibt sie Dir Bescheid: Alle Qual ist drin erlitten, alles Glück darin versäumt. Kurz das Traurige ist Wahrheit, doch das Schöne ist erträumt. Roman Karl Scholz

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ls ich am 23. Februar 1944 gefesselt an der Seite meines zum Tode verurteilten Freundes Roman Karl Scholz den Justizpalast verließ, da fielen mir diese Zeilen ein. Der Dichter hatte sie mir einst im Gefängnis zugesteckt, als wir einen unbewachten Augenblick lang vor unseren Zellen standen. Jetzt wurden wir in das Landesgericht zurückgebracht. Hier, im sogenannten E-Trakt, am Fuße der Stiege, versuchten wir uns ein letztes Mal die Hände zu 55

Lebenskreise

drücken; sie waren noch immer gefesselt. Die zum Tode Verurteilten blieben im Parterre, in dessen kahlen kleinen Zellen sie der Hinrichtung harrten, während ich nach meiner fast fünfjährigen Untersuchungshaft, noch weitere fünf Kerkerjahre vor mir, in meine alte Zelle im dritten Stock zurückkehren durfte. Es war die letzte Begegnung mit Scholz. Am 10. Mai 1944 vollstreckte der Henker das Urteil an diesem österreichischen „Hochverräter“. Mit diesem Streich endete ein 32-jähriges Leben, das bis in seine letzten Phasen und Konsequenzen gelebt worden war. Diese Vitalität war das verbindende Moment in einem widersprüchlichen, differenzierten Charakter. Es hat in diesen 32 Jahren keinen Leerlauf gegeben, es war kein Ereignis in der Welt, zu dem er nicht Stellung genommen hätte. Kein Erlebnis ist spurlos an seiner Seele vorübergegangen. Aber über diese Energie hinaus ist es vor allem die Ästhetik, aus der der Mensch Scholz die stärksten Impulse empfing. Eine an Nietzsche erinnernde Scheu vor Unrat und Schmutz in der Welt drückte allen seinen Werten den unverkennbaren Stempel auf. Scholz war ein Feinschmecker unter den Ästheten: Gefühl, Stimmungen und immer wieder abstrakte Ideen, das sind die Motive seiner überreichen Lyrik. Hier setzt das Eigenartige dieser Gestalt an: Die Idee an sich ist wohl abstrakt und kühl, doch sie ruht auf einem warmen, samtenen Kissen gleich einem Juwel im Schmuckkästchen. Auch Demokratie ist für Scholz ideelle Schönheit, die lauterste Lebensform menschlicher Gesellschaft. Ein so Fühlender konnte auf den deutschen Einbruch in Österreich im Jahr 1938 nur mit Auflehnung antworten. Scholz unternahm eine Reise nach England, von der er neben reichen literarischen Früchten die Zusicherung führender englischer Politiker mitbrachte, den österreichischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus zu fördern. Die Widerstandskader der Österreichischen Freiheitsbewegung (Ö.F.B.) bestanden bereits vor dem deutschen Einmarsch, der sich schon zu Beginn des Jahres 1938 deutlich abgezeichnet hatte. Österreichische Idealisten, Studenten mehrheitlich, schlossen sich zu kleinsten Gruppen zusammen, die untereinander nur losen Kontakt pflegten, und leisteten Widerstand. Jeder in seinem Bereich, so weit es eben ging. Hier wurden Flugzettel gestreut, dort versucht, sich Waffen zu beschaffen, nur die versprochene Hilfe von jenseits der Grenzen blieb trotz wiederholter Fühlungnahme mit alliierten Auslandsstellen aus. Alle diese Grüppchen hielt Scholz irgendwie zusammen. Auch hier wieder vital 56

In memoriam: Roman karl Scholz

und energiegeladen, übersah er den Verräter unter seinen engsten Mitarbeitern, Otto Hartmann. Im Juli 1940, nach fast zwei Jahre währender gefahrvoller Arbeit, packte die Gestapo zu. Die erste große Verhaftungswelle ging über Wien, mehrere Hundert Personen, die zur Ö.F.B. in Beziehung standen, wurden verhaftet und damit die Kader zerschlagen. Erst im Gefängnis führte mich mein gleiches Los näher an Scholz heran. Bis dahin wusste ich noch nicht, dass er Priester und Klosterneuburger Chorherr war. Ich musste viel über den Priester Scholz nachdenken. Er war eine Gestalt, wie ich sie im geistlichen Gewand noch nie erlebt hatte. Denn in diesem Verhältnis zwischen Gott und Mensch verkörperte der Mensch die Aktivität. Blendender Kasuist und Dialektiker, repräsentierte er den Typus eines advocatus dei von scharfer geistiger Profilierung. Wenn es im Wesentlichen zwei Typen des katholischen Christen gibt, den in Liebe Demütigen und den durch Wahrheit Bewussten, dann war Roman Karl Scholz der Letztere. Göttliche Offenbarung war ihm Idee und Schönheit zugleich. Vielleicht mag mancher empfunden haben, es träten bei ihm die Franziskusgaben ein wenig hinter der klaren Geistigkeit des Aquinaten zurück. Sein früher Tod hat uns leider verwehrt zu erleben, wie die Güte seines Herzens die starre Hülle trotziger Einsamkeit durchbrochen hätte. Erst die Stille des Kerkers brachte seine dichterische Kraft zur vollen Entfaltung. Dort wurde jeder Gedanke Gedicht, aus den spärlichen Aussprachen mit seinen Freunden entwickelten sich größere dichterische Entwürfe, an denen er nur im Geheimen arbeiten durfte. So entstanden in knapper Folge die „Konquistadoren“, ein Drama aus der Gedankenwelt Spaniens und seiner großen Eroberungen und „Zu spät“, ein Spiel von Liebe und Tod in drei Akten, dem er eine „Rechenschaft“ vorausschickte, in der wir das wunderbare Wort lesen: „Jede wahre Tragödie ist ein Gebet, ein Reden und Rechten des Geschöpfes mit dem Schöpfer.“ Wie eine zarte dunkelblaue Blume erblühte unter seinen Händen die Novelle „Goneril“, ein hauchzarter Liebestraum zwischen englischen Gärten und Schlössern. In seinen letzten Gedichten nahm Scholz jedoch persönlich Stellung zu Gott und kam ihm so nahe wie nie zuvor: Du bist die Kraft, durch die ich alle trage. Du bist die Wahrheit, die ich mutig sage. 57

Lebenskreise

Du bist das Leben, das ich sühnend gebe. Du bist der Tod, aus dem ich ewig lebe. ERGEBUNG Ich nahm das Glück aus Deiner Hand wie Selbstverständlichkeit. Nun reichst Du mir, gefüllt zum Rand, Den bittern Becher Leid. Ich will ihn leeren bis zum Grund, gehorsam Deinem Schluß. Und danken – sei´s mit wehem Mund – Für dieses schwere Muß Und will ganz fügsam sein vor Dir. Ich weiß, wem ich geglaubt! Denn eines Tages drückst Du mir die Krone auf das Haupt.12

Die Motivation

W

ie fällt es einem Jüngling ein, den Kamm aufzustellen und sich einer Widerstandsgruppe gegen die Nationalsozialisten anzuschließen? Es fällt ihm nicht ein, die Idee tritt in gewissen Situationen direkt an ihn selbst heran. In einem Regime wie dem Dritten Reich werden der in jeder Hinsicht kontrollierten Bevölkerung unzählbare Maßnahmen aufgeladen, die befolgt werden müssen und die schließlich das erdrückende Gewicht eines Zwangsregimes annehmen. Wie entsteht der Widerstand? Zunächst schaffen das primitive Nein, dann der automatische Ungehorsam, einen Zustand, der einer diktatorischen Regierung eine Kette kaum zu bewältigender Hindernisse und Grenzen aufbürdet. Zwischen Bremsen oder Sabotieren durch einen Teil der 58

Lebenskreise

Du bist das Leben, das ich sühnend gebe. Du bist der Tod, aus dem ich ewig lebe. ERGEBUNG Ich nahm das Glück aus Deiner Hand wie Selbstverständlichkeit. Nun reichst Du mir, gefüllt zum Rand, Den bittern Becher Leid. Ich will ihn leeren bis zum Grund, gehorsam Deinem Schluß. Und danken – sei´s mit wehem Mund – Für dieses schwere Muß Und will ganz fügsam sein vor Dir. Ich weiß, wem ich geglaubt! Denn eines Tages drückst Du mir die Krone auf das Haupt.12

Die Motivation

W

ie fällt es einem Jüngling ein, den Kamm aufzustellen und sich einer Widerstandsgruppe gegen die Nationalsozialisten anzuschließen? Es fällt ihm nicht ein, die Idee tritt in gewissen Situationen direkt an ihn selbst heran. In einem Regime wie dem Dritten Reich werden der in jeder Hinsicht kontrollierten Bevölkerung unzählbare Maßnahmen aufgeladen, die befolgt werden müssen und die schließlich das erdrückende Gewicht eines Zwangsregimes annehmen. Wie entsteht der Widerstand? Zunächst schaffen das primitive Nein, dann der automatische Ungehorsam, einen Zustand, der einer diktatorischen Regierung eine Kette kaum zu bewältigender Hindernisse und Grenzen aufbürdet. Zwischen Bremsen oder Sabotieren durch einen Teil der 58

Wie stellten wir uns die Zukunft vor?

Bevölkerung und einem positiven Einsatz der Majorität liegt ein Energiepotenzial, dessen Fehlen dem herrschenden Regime sehr schadet. Diese Schwächung muss jedoch als ein fast automatischer, sich geradezu auf natürliche Weise entwickelnder Ablauf erfolgen. Daher wurde nicht nach individuellen Mitarbeitern gesucht, sondern nach engagierten kleineren Gruppen vom Typus der Gymnasiasten aus Klosterneuburg unter Roman Karl Scholz. Es gab auch schon bald nach dem Anschluss kleine Jugendgruppen, die, so wie Heintschel und ich, nach Gleichgesinnten suchten. Dies lag geradezu in der Luft und wurde durch eine Art Vorkriegsatmosphäre begünstigt. Extreme Spannung schuf die nötige psychologische Bereitschaft.

Wie stellten wir uns die Zukunft vor?

D

amals wusste ich nichts von den staatspolitischen Visionen, die Roman Karl Scholz bereits in sich trug. Sie waren in meinem Umkreis des Widerstandes vor unserer Verhaftung kein Thema, obwohl wir uns natürlich viele Gedanken um ideale Staatsgebilde machten. Scholz verfasste schließlich gegen Ende 1942 in Haft einen Entwurf seines Staates Utopia. Zu diesem Zeitpunkt zeichnete sich bereits ein mögliches Ende des Dritten Reiches ab. Eine bessere, wohldurchdachte und neu geordnete Welt sollte die Schreckensherrschaft ersetzen. Weltweite Geltung der Menschenrechte und Gerechtigkeit in der Weltwirtschaft wären Teil der Grundlagen. Ein „syndikalistisches“ Manifest forderte „dikokratische“ Syndikate. So nannte Scholz die Körperschaften, die auf der Herrschaft des Rechts basieren, die in ihrem jeweiligen „Hoheitsbereich dem Gemeinwohl und Glück des Einzelnen dienen“. Auch einen „Weltgerichtshof“ sah Scholz als „höchste Rechtsinstanz“ der Menschheit, der übernationale Gesetze erlässt. Macht und Gewalt könnten nicht mehr willkürlich ausgeübt werden.13 Aus unserer Sicht des Jahres 1938 galt es vor allem, Kontakt zum alliierten Rest der europäischen Welt herzustellen. Diese würde in Kürze angegriffen werden. Die Wehrmacht war allen Formationen der Westlichen Alliierten militärisch so überlegen, dass Adolf Hitler fraglos die politisch-militärischen Vorteile nützen 59

Wie stellten wir uns die Zukunft vor?

Bevölkerung und einem positiven Einsatz der Majorität liegt ein Energiepotenzial, dessen Fehlen dem herrschenden Regime sehr schadet. Diese Schwächung muss jedoch als ein fast automatischer, sich geradezu auf natürliche Weise entwickelnder Ablauf erfolgen. Daher wurde nicht nach individuellen Mitarbeitern gesucht, sondern nach engagierten kleineren Gruppen vom Typus der Gymnasiasten aus Klosterneuburg unter Roman Karl Scholz. Es gab auch schon bald nach dem Anschluss kleine Jugendgruppen, die, so wie Heintschel und ich, nach Gleichgesinnten suchten. Dies lag geradezu in der Luft und wurde durch eine Art Vorkriegsatmosphäre begünstigt. Extreme Spannung schuf die nötige psychologische Bereitschaft.

Wie stellten wir uns die Zukunft vor?

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amals wusste ich nichts von den staatspolitischen Visionen, die Roman Karl Scholz bereits in sich trug. Sie waren in meinem Umkreis des Widerstandes vor unserer Verhaftung kein Thema, obwohl wir uns natürlich viele Gedanken um ideale Staatsgebilde machten. Scholz verfasste schließlich gegen Ende 1942 in Haft einen Entwurf seines Staates Utopia. Zu diesem Zeitpunkt zeichnete sich bereits ein mögliches Ende des Dritten Reiches ab. Eine bessere, wohldurchdachte und neu geordnete Welt sollte die Schreckensherrschaft ersetzen. Weltweite Geltung der Menschenrechte und Gerechtigkeit in der Weltwirtschaft wären Teil der Grundlagen. Ein „syndikalistisches“ Manifest forderte „dikokratische“ Syndikate. So nannte Scholz die Körperschaften, die auf der Herrschaft des Rechts basieren, die in ihrem jeweiligen „Hoheitsbereich dem Gemeinwohl und Glück des Einzelnen dienen“. Auch einen „Weltgerichtshof“ sah Scholz als „höchste Rechtsinstanz“ der Menschheit, der übernationale Gesetze erlässt. Macht und Gewalt könnten nicht mehr willkürlich ausgeübt werden.13 Aus unserer Sicht des Jahres 1938 galt es vor allem, Kontakt zum alliierten Rest der europäischen Welt herzustellen. Diese würde in Kürze angegriffen werden. Die Wehrmacht war allen Formationen der Westlichen Alliierten militärisch so überlegen, dass Adolf Hitler fraglos die politisch-militärischen Vorteile nützen 59

Lebenskreise

würde, ja, im deutschen Interesse nützen musste. Wir glaubten jedoch, dass sich bei einem Einmarsch in Frankreich und in den holländisch-belgischen Raum ein stagnierender Stellungskrieg entwickeln könnte, ähnlich wie im Ersten Weltkrieg. Der „Blitzkrieg“ war ein neues, bis dahin unbekanntes Phänomen. Unser wesentliches Ziel war, dass wir auf der Seite der westlichen Alliierten zum militärischen Einsatz kommen wollten und mussten. Der Erste Weltkrieg und die darauf folgenden Friedensverhandlungen verliefen für die Mittelmächte vor allem deshalb so vernichtend, weil wir uns als Feinde der westlichen Mächte deklariert hatten und keine Möglichkeit bestand, mit der westlichen Seite Kontakt aufzunehmen, wie das etwa den Tschechen oder den Italienern gegen Ende des Ersten Weltkriegs gelungen war. Auch als kleinster Vertreter einer pro-westlichen österreichischen militärischen Einheit hätte man bei den Friedensverhandlungen in St. Germain wohl wesentlich mehr erreichen können. Aus diesen Überlegungen heraus mussten unsere jetzt zur Deutschen Wehrmacht eingerückten Mitglieder und Freunde identifiziert werden können und wir hofften, dass sie auf diese Weise während ihrer Kriegsgefangenschaft einer bereits bestehenden, westlich orientierten, österreichischen militärischen Formation zugeführt würden. So operierten die Franzosen, Polen, Tschechen, Engländer und auch die in eigenen Einheiten auf Seiten der Alliierten kämpfenden Italiener. Zuletzt hatte auch Otto von Habsburg, mit dem wir im Krieg leider gar keinen Kontakt hatten, in Amerika ähnliche Pläne verfolgt, die jedoch von den im Westen fest verankerten Einheiten der Tschechen, Polen und Jugoslawen wieder zerschlagen wurden. Angeblich waren hier freimaurerische Ideenträger im Spiel, die die Monarchie als Bedrohung empfanden. Österreichische Kriegsgefangene wurden aber während des Zweiten Weltkriegs ebenso als Deutsche und als Nationalsozialisten eingestuft wie die deutschen Soldaten selbst. Der wesentliche Fokus unserer Überlegungen galt also immer wieder der Identifizierung unserer Mitglieder. Was sollte mit ihnen geschehen, wenn sie in Kriegsgefangenschaft gerieten? Wie sollte man sie gegenüber den Alliierten ausweisen? Nach langen internen Verhandlungen einigte man sich innerhalb der Widerstandsgruppen auf einen Plan, der vorsah, jedem vereidigten Mitglied eine Legitimation mitzugeben. Ein ein mal ein Zentimeter kleines Porträtfoto 60

Wie stellten wir uns die Zukunft vor?

mit einem Text in englischer und französischer Sprache sollte in die Uniformen eingenäht werden: „Der Inhaber dieses Ausweises ist Mitglied der Österreichischen Freiheitsbewegung. Die alliierten Behörden werden gebeten, ihn besonders zu behandeln und zu verwenden. Wien 1940. Der Präsident des Exekutivkomitees“14 War die Herstellung der Fotos bereits mit großen Gefahren verbunden, so galt es zuerst aber, diese den westlichen Alliierten bekannt zu machen, um unsere Mitglieder als „alliierte“ Sympathisanten einzuführen. Wir standen nun im Frühsommer 1940. Die Widerstandsbewegung war auf einige Hundert Mitglieder und mehrere kleinere Gruppen angewachsen. Mit ihrer steigenden Zahl hatte sie ihren homogenen Charakter eingebüßt. Neben den Klosterneuburger Gymnasiasten und anderen angeschlossenen Gruppen hatten sich auch – so befürchteten wir – Provokateure eingeschlichen, die der Gestapo nahestanden. Diese forderten von uns „seriösere“ Einsätze, wohl um ihre Tätigkeit gegenüber der Gestapo „aufzuwerten“. Der Burgschauspieler Otto Hartmann trat besonders auffallend auf. Er hatte sich vor allem mit mir und unserem Fotospezialisten – Gerhard Fischer-Ledenice – befasst. Von ihm hieß es, er plane sogar einen Anschlag auf einen der Wiener Gasometer. Er wollte dazu Klosterneuburger Jugendliche einsetzen. Diese Provokateure wurden wiederum selbst von der Gestapo bespitzelt, sodass wir frühzeitig in einem engmaschigen Netz gefangen waren. Einige Miniaturfotos mussten schnellstens hergestellt und den westlichen Interessenten übermittelt werden. Dass man mir diese Aufgabe übertragen würde, ahnte ich. Der ungarisch-slowakische Pass, über den ich damals verfügte, wurde von allen als geeignetes Reisedokument angesehen. Überdies besuchten gelegentlich auch befreundete französische Diplomaten unseren Besitz bei Pressburg zu gesellschaftlichen Anlässen. So reiste ich, mit allen Dokumenten und Ausweisen, vor allem mit Identitätskarten ausgerüstet, per Zug von Wien nach Pressburg und von dort nach Majorháza. Es war ein politisch spannender Zeitabschnitt, dieser August 1940. Ich hatte beschlossen, nach Erledigung meiner Mission trotz allem wieder nach Wien 61

Lebenskreise

zurückzukehren. Vonseiten Ungarns drohte mir früher oder später auch die militärische Einberufung. So drängten sich plötzlich alle wichtigen Aufgaben auf einen kurzen Zeitraum zusammen. In einigen Tagen musste ich in Budapest vorsprechen. Zuerst also zur französischen Botschaft, wo man zwar schon über gewisse Informationen zu meiner Person verfügte, mich aber allem Anschein nach noch nicht als akkreditierten Mitarbeiter betrachtete. Ich trug unsere Wiener Vorschläge vor, sie wurden in Budapest diskutiert, die Franzosen forderten jedoch weit mehr Informationen über unsere Organisation, vor allem „aus dem Stephansdom“, also Bürgschaften aus dem erzbischöflichen Ordinariat in Wien. In kürzeren Abständen wurden auch weitere Treffen und ein Kennwort vereinbart: „Dupont Engerau“. Engerau war ein Vorort Pressburgs, rechts der Donau gelegen, Dupont vielleicht ein französischer Deckname.

Zugfieber

T

rotz aller auch familiären Verpflichtungen drängte es mich nach diesem Sommer zurück nach Wien. Ich musste meine Freunde informieren, ich musste über die Gespräche mit den Franzosen in Budapest berichten und beraten, welche Maßnahmen jetzt in Wien zu treffen wären. Immerhin war dieser Besuch ein enger Kontakt mit einer alliierten Macht gewesen, den wir immer angestrebt hatten und auf den man sich später einmal berufen konnte. Schon in der Eisenbahn von Budapest nach Wien war überall Spannung zu spüren. Umhereilende Polizisten, laut rufende Bahnwärter, von Soldat zu Soldat geflüsterte Befehle. An der deutsch-slowakischen Grenze wurde jedes meiner Gepäckstücke entladen und außerhalb des Zuges untersucht. Schriftstücke wurden kopiert. Mein Budapester Zug war wohl schon in Wien, als ich noch an der slowakischen Grenze inspiziert wurde. Schließlich durfte ich mit dem nächsten Zug nach Wien weiterfahren. Man hatte offenbar nichts Verdächtiges gefunden. Am Wiener Ostbahnhof empfing mich mein Freund Viktor von Imhof. Er war das jüngste Mitglied unserer Widerstandsgruppe und flüsterte mir zu, 62

Lebenskreise

zurückzukehren. Vonseiten Ungarns drohte mir früher oder später auch die militärische Einberufung. So drängten sich plötzlich alle wichtigen Aufgaben auf einen kurzen Zeitraum zusammen. In einigen Tagen musste ich in Budapest vorsprechen. Zuerst also zur französischen Botschaft, wo man zwar schon über gewisse Informationen zu meiner Person verfügte, mich aber allem Anschein nach noch nicht als akkreditierten Mitarbeiter betrachtete. Ich trug unsere Wiener Vorschläge vor, sie wurden in Budapest diskutiert, die Franzosen forderten jedoch weit mehr Informationen über unsere Organisation, vor allem „aus dem Stephansdom“, also Bürgschaften aus dem erzbischöflichen Ordinariat in Wien. In kürzeren Abständen wurden auch weitere Treffen und ein Kennwort vereinbart: „Dupont Engerau“. Engerau war ein Vorort Pressburgs, rechts der Donau gelegen, Dupont vielleicht ein französischer Deckname.

Zugfieber

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rotz aller auch familiären Verpflichtungen drängte es mich nach diesem Sommer zurück nach Wien. Ich musste meine Freunde informieren, ich musste über die Gespräche mit den Franzosen in Budapest berichten und beraten, welche Maßnahmen jetzt in Wien zu treffen wären. Immerhin war dieser Besuch ein enger Kontakt mit einer alliierten Macht gewesen, den wir immer angestrebt hatten und auf den man sich später einmal berufen konnte. Schon in der Eisenbahn von Budapest nach Wien war überall Spannung zu spüren. Umhereilende Polizisten, laut rufende Bahnwärter, von Soldat zu Soldat geflüsterte Befehle. An der deutsch-slowakischen Grenze wurde jedes meiner Gepäckstücke entladen und außerhalb des Zuges untersucht. Schriftstücke wurden kopiert. Mein Budapester Zug war wohl schon in Wien, als ich noch an der slowakischen Grenze inspiziert wurde. Schließlich durfte ich mit dem nächsten Zug nach Wien weiterfahren. Man hatte offenbar nichts Verdächtiges gefunden. Am Wiener Ostbahnhof empfing mich mein Freund Viktor von Imhof. Er war das jüngste Mitglied unserer Widerstandsgruppe und flüsterte mir zu, 62

Lebenslänglich für Otto Hartmann

man hätte knapp nach meiner Abreise von Wien in die Slowakei am 28. Juli 1940 etwa zweihundert Mitglieder unserer aus drei Gruppen bestehenden Organisation verhaftet. Lediglich Otto Hartmann und er seien noch auf freiem Fuß, Hartmann spiele noch am Burgtheater. Wir eilten mit dem Taxi zum Bühnentürl des Burgtheaters, um uns von Hartmann Instruktionen zu holen. Er war nicht da. Erst später lernten wir die Zusammenhänge verstehen. Hartmann war also tatsächlich Gestapo-Agent, was viele unserer Mitglieder argwöhnten. Nachdem genügend Widerstandsmitglieder auf der „Liesl“ inhaftiert waren, hatte Hartmann für die Gestapo vielleicht an Bedeutung verloren. „Liesl“ nannte man damals das große Kasernengefängnis nächst dem Morzinplatz. Viktor Imhof war zu jenem Zeitpunkt noch nicht volljährig gewesen und wurde daher erst einige Monate später, im Dezember 1940, verhaftet. Später, bei einer zufälligen Begegnung im Gefängnis, wahrscheinlich war es in Anrath, erzählte mir Dr. Hanns Zimmerl über seine Verhaftung und lieferte einen unwiderlegbaren Beweis von Hartmanns Gestapo-Mitarbeit. Hartmann sei eine Stunde vor Zimmerls Verhaftung in dessen Wohnung gewesen, an das Gesprächsthema konnte er sich nicht genau erinnern. Bei der Verabschiedung wollte Hartmann, der selbst im Aufbruch war, wissen, was Zimmerl jetzt vorhabe. Dieser beschrieb das Ziel seiner Erledigungen. Ebendort wurde er dann wenig später von zwei Gestapo-Beamten verhaftet.

Lebenslänglich für Otto Hartmann

A

n dieser Stelle scheint mir der richtige Moment gekommen, über jenen Mann etwas ausführlicher zu berichten, dessen Denunziationen die bereits kurz nach dem Anschluss gegründeten österreichischen Widerstandsgruppen zerschlug und elf meiner Freunde auf dem Schafott zu Tode brachte. Mehr als Hundert österreichische NS-Gegner beförderte er ins Konzentrationslager oder Zuchthaus. Über Otto Hartmann sind wir deshalb so gut informiert, weil am 22. November 1947 ein zwei Wochen dauernder Prozess, der gegen ihn ange63

Lebenslänglich für Otto Hartmann

man hätte knapp nach meiner Abreise von Wien in die Slowakei am 28. Juli 1940 etwa zweihundert Mitglieder unserer aus drei Gruppen bestehenden Organisation verhaftet. Lediglich Otto Hartmann und er seien noch auf freiem Fuß, Hartmann spiele noch am Burgtheater. Wir eilten mit dem Taxi zum Bühnentürl des Burgtheaters, um uns von Hartmann Instruktionen zu holen. Er war nicht da. Erst später lernten wir die Zusammenhänge verstehen. Hartmann war also tatsächlich Gestapo-Agent, was viele unserer Mitglieder argwöhnten. Nachdem genügend Widerstandsmitglieder auf der „Liesl“ inhaftiert waren, hatte Hartmann für die Gestapo vielleicht an Bedeutung verloren. „Liesl“ nannte man damals das große Kasernengefängnis nächst dem Morzinplatz. Viktor Imhof war zu jenem Zeitpunkt noch nicht volljährig gewesen und wurde daher erst einige Monate später, im Dezember 1940, verhaftet. Später, bei einer zufälligen Begegnung im Gefängnis, wahrscheinlich war es in Anrath, erzählte mir Dr. Hanns Zimmerl über seine Verhaftung und lieferte einen unwiderlegbaren Beweis von Hartmanns Gestapo-Mitarbeit. Hartmann sei eine Stunde vor Zimmerls Verhaftung in dessen Wohnung gewesen, an das Gesprächsthema konnte er sich nicht genau erinnern. Bei der Verabschiedung wollte Hartmann, der selbst im Aufbruch war, wissen, was Zimmerl jetzt vorhabe. Dieser beschrieb das Ziel seiner Erledigungen. Ebendort wurde er dann wenig später von zwei Gestapo-Beamten verhaftet.

Lebenslänglich für Otto Hartmann

A

n dieser Stelle scheint mir der richtige Moment gekommen, über jenen Mann etwas ausführlicher zu berichten, dessen Denunziationen die bereits kurz nach dem Anschluss gegründeten österreichischen Widerstandsgruppen zerschlug und elf meiner Freunde auf dem Schafott zu Tode brachte. Mehr als Hundert österreichische NS-Gegner beförderte er ins Konzentrationslager oder Zuchthaus. Über Otto Hartmann sind wir deshalb so gut informiert, weil am 22. November 1947 ein zwei Wochen dauernder Prozess, der gegen ihn ange63

Lebenskreise

strengt wurde, mit einer lebenslänglichen Kerkerstrafe abgeschlossen wurde und der Prozessverlauf in der Presse publiziert wurde. In der Zweiten Republik galt die Todesstrafe für schwere Delikte noch bis 1968. Dem Sündenregister nach wäre diese bei Hartmann durchaus anwendbar gewesen. Dieser Prozess spiegelte die verschiedenartigen politischen Farben des Verräters wider, aus denen sein Charakter zusammengesetzt war.15 Ich war als Zeuge geladen und konnte mich über Hartmanns Rolle als Verräter ausführlich äußern. Während des Ständestaates hatte sich Otto Hartmann auch öffentlich mit Heimwehrexponenten gezeigt, er dürfte sich aber schon einige Monate später den illegalen Nationalsozialisten als Mitarbeiter angeboten haben. Als Schauspieler am Burgtheater wird er von folgenden Kollegen als beruflicher „Versager“ im Prozess bezeichnet: Buschbeck, Hörbiger, Henning, Reimers, Zeska, Wolters, Lehmann und Wildgans. Diese Aussagen über sein berufliches Talent müssen jedoch etwas modifiziert werden, weil er ja alle diese Berufskollegen in irgendeiner Form bei der Gestapo denunziert hatte. Einer seiner Gestapo-Chefs, der berüchtigte Johann Sanitzer, möglicherweise auch derjenige, der mich im September 1940 verhaftete, meinte über Otto Hartmann im Verlauf des Prozesses: „Wenn sie Hartmann den Franz Moor [in Schillers „Die Räuber“] hätten spielen lassen, wäre das vielleicht alles nicht passiert.“ So aber entwickelte sich Hartmann vom Mitglied der Heimwehren zum SA-Mann, der Adolf Hitler vor dem Eingang zum Hotel Imperial stolz bewachte, nachdem dieser an der Spitze der Deutschen Wehrmacht in Österreich eingezogen war. Er war also sowohl Werkzeug der Gestapo, der sich als Agent Provocateur angeboten hatte, als auch Opfer seines üblen Charakters und seiner beruflichen Schwächen. Hartmann erfüllte jedenfalls seinen Auftrag, einmal in der Woche bei der Gestapo zu referieren. Sein Gestapo-Einsatz soll ihm 30.000 Reichsmark eingebracht haben. Nachdem Hartmann nach der Hinrichtung des Rechtsanwaltes Dr. Hanns Zimmerl heuchelnd dessen alte Mutter besuchte, um mit ihr den Verwahrungsort etwas wenigen Geldes und einer Markensammlung zu besprechen, erschien am folgenden Tag die Gestapo bei der alten Dame und beschlagnahmte am von Hartmann verratenen Orte die wenigen Wertstücke. Auch Frauen verhafteter Widerstandskämpfer soll Hartmann behelligt haben. Hierbei handelt es sich nicht um Ondits, sondern um während des zweiwöchigen 64

Lebenslänglich für Otto Hartmann

Prozesses gegen Hartmann vorgebrachte Aussagen, die auch von der Wiener Zeitung veröffentlicht wurden. Dort las man über Hartmann, er habe laut, klar und selbstbewusst gesprochen und sei besonders bemüht gewesen, Haltung zu wahren. Auf die Frage, ob er sich schuldig bekenne, antwortete Hartmann mit betonter Entschiedenheit: „Nein!“16 Interessant ist für mich vor allem, dass ich bei meiner Einvernahme durch die Gestapo am Morzinplatz über jenen Komplex nicht befragt wurde, der die Akkreditierung unserer Mitglieder betraf, obwohl dieser Plan im HartmannProzess nach dem Krieg eingehend besprochen wurde. Im Hartmann-Prozess wurde mehrmals ein Agent Dr. Glaser erwähnt, den ich in Pressburg hätte treffen sollen. Ich habe Dr. Glaser niemals getroffen und kann nur vermuten, dass Glaser für andere Denunziationen vorgesehen war.17 Warum sollte er aber dann mit mir zusammengeführt werden? Es ist natürlich auch denkbar, dass bei der großen Anzahl von Angeklagten aus der Widerstandsbewegung mit verschiedenen menschlichen Instrumentarien gearbeitet wurde. Das hieße, dass die Todesurteile bereits vor der Verhandlung fixiert waren, ebenso wie die „leichteren Strafen“, und von einer objektiven „Justiz“ keine Rede gewesen sein konnte. Die elf von der „Wiener Zeitung“ veröffentlichten und als exekutiert gemeldeten Mitglieder verschiedener Österreichischer Widerstandsgruppen, die, das möchte ich hier wiederholen, nicht erst gegen Ende des Krieges aktiv wurden, sondern bereits unmittelbar nach dem Anschluss, sind: Prof. Roman Karl Scholz, Dr. Jakob Kastelic, Dr. Karl Lederer, Dr. Hanns Zimmerl, Diplomingenieur Alfred Miegl, Rudolf Wallner, Diplomkaufmann Gerhard FischerLedenice, Günther Loch, Hanns Georg von Heintschel-Heinegg, Augustin Grosser und Hauptmann Burian. Nach dem Zusammenbruch der NS-Herrschaft hielt sich Hartmann zunächst in Tirol auf, wo er einige Zeit erstaunlicherweise bei der österreichischen Kriminalpolizei Dienst machte, bis er schließlich von französischen Soldaten verhaftet werden konnte. Während der Untersuchungshaft in Wien gelang ihm einmal die Flucht, doch wurde er schon einige Tage später wieder festgenommen. Nach zehn Jahren Haft wurde er, nach vielen abgelehnten Amnestiegesuchen, im Jahr 1957 von Bundespräsident Dr. Adolf Schärf pardoniert. Viele von uns konnten diese Entscheidung nicht nachvollziehen. 65

Lebenskreise

Meine Verhaftung

D

as Verschwinden Hartmanns aus dem Burgtheater, die spärlichen Informationen Imhofs über den Verhaftungscoup der Gestapo im Juli 1940 und das Fehlen jeglicher Vorwarnung verwirrten und desorientierten mich. An diesem Abend, und auch später, dachte ich immer wieder darüber nach, wie sich ein „Pro“ [ein Professioneller, Anm. d. Bearb.] an meiner Stelle verhalten hätte. Er wäre wohl noch in dieser Nacht in die Slowakei zurück geflüchtet und hätte neue Orientierung gesucht. Dazu wäre es allerdings notwendig gewesen, die Donau und die March schwimmend zu überqueren und an die 80 Kilometer zurückzulegen. Derart robust war ich um Mitternacht nicht mehr. Solch eine Flucht lässt sich wohl in der Fantasie konzipieren, aber nicht von einem Amateur ausführen. So verbrachte ich in der Wohnung meiner Großmutter eine nur sehr kurze Nacht. Sie wusste gar nicht dass ich bei ihr eingekehrt war, als um fünf Uhr morgens zwei Gestapobeamte in langen Ledermänteln an der Eingangstür läuteten und mich zur Abgabe einiger „kleiner Auskünfte“ auf die sogenannte „Elisabeth-Promenade“ mitnahmen. Es war der 15. September 1940. Die Beamten forderten mich wiederholt auf, dass ich eine Zahnbürste mitnehmen sollte, was eigentlich nicht in Relation zu „kleinen Auskünften“ stand. Das Spurenlesen bei meiner ersten Einvernahme durch die Gestapo war nicht schwierig und verlief auch nicht brutal. Alle Gespräche, alle Belange, über die Hartmann Bescheid wusste, waren auch der Gestapo bekannt. Zu leugnen wäre in diesem Augenblick ohnehin sinnlos gewesen. Bei diesen Einvernahmen wurde ich zu keinem Zeitpunkt zu meinen Gesprächen in der französischen Botschaft in Budapest befragt, weil ich nach meiner Rückkehr nach Wien und vor meiner Verhaftung Hartmann gar nicht mehr treffen oder sprechen konnte. So dachte ich zumindest. Ich musste ja gar nicht bei den Franzosen gewesen sein. Niemand als meine französischen Gesprächspartner hätten es nachweisen können. Dieses ganze Kapitel fiel also bei den Gestapo-Erhebungen, aber auch im Prozess „unter den Wagen“ – wie man oft in Wien sagt. Gerade diese Begegnung in Budapest hätte jedoch das Beil formen können, das meinem Leben das Ende bereitet hätte. Erst kürzlich eröffneten sich zu diesen Fragen vollkommen neue Perspektiven, wovon ich etwas später berichten werde. 66

Depressionen und alte Usancen im „Landl“

N

ach etwa 14 Tagen waren meine Einvernahmen bei der Gestapo abgeschlossen. Ebenso die Verhöre jener Mitglieder der Freiheitsbewegung, die bereits vor mir verhaftet worden waren. Wir wurden damals von der „Liesl“ ins „Landl“, wie das Wiener Landesgericht populär bezeichnet wurde, überstellt. Ich und wohl viele andere mussten sich nun erst an den tristen Tagesablauf im Gefängnis gewöhnen. Mein Zellenbruder hieß Kovacik, wenn ich mich recht erinnere. Er hatte bereits geraume Zeit im KZ Buchenwald zugebracht. Um ihn als politischen Typus einzuordnen, käme wohl am ehesten der „katholische Kommunist“ infrage, obwohl er meines Wissens nach nicht der KPÖ angehörte. Er hatte eine intelligente, heilsame Art, mich, den vom Gefängnisleben unberührten, psychologisch etwas härter anzufassen. Diese raue Behandlung war sehr wichtig, damit der Häftling die ersten Wochen ohne neurologischen Schaden übersteht. Kovacik hatte viel marxistische Literatur studiert, ein Kapitel, das mir ganz fremd war. Die marxistischen Thesen hatten mit ihren klar formulierten Schwarz-Weiß-Theorien viele Menschen beeindruckt. Mich faszinierte die Materie damals sehr, denn dass meine Haft zeitlich weit über den Rahmen der bei meiner Verhaftung angedeuteten „kleinen Auskunft“ hinausgehen würde, war bereits deutlich abzusehen. Ich ergab mich daher einem intensiven Studium, einer Art Geschichtsphilosophie, von dem viele noch heute erhaltene Gefängnisheftchen Zeugnis geben, in denen ich mit winziger und Platz sparender Schrift meine Gedanken niederschrieb oder historische und philosophische Werke kopierte. Einige alte Gebräuche im Gefängnis, die das Leben der Häftlinge erleichtern, lernte nun auch ich kennen. Als eine der genialsten Erfindungen würde ich das „Klo-Telefon“ bezeichnen. Es war natürlich nur für den Kurzgebrauch und nicht für ausführliche Tratschereien gedacht. Das Wiener Landesgericht besteht aus mehreren übereinanderliegenden Stockwerken, die durch Toilettenrohre miteinander verbunden sind. Wollte man nun „telefonieren“, musste man mittels einer Bürste das Wasser aus dem System pumpen und dem Nachbarn zurufen, dass und wohin man sprechen wollte. Eine geradlinige Verbindung war relativ einfach herzustellen, um Ecken war es dagegen eher schwierig, aber nicht unmöglich, Kontakte einzuleiten. Vielleicht würde man aber 67

Lebenskreise

auch vom „Geheimdienst“ des Hauses abgehört werden, ein Wächter könnte ganz einfach sein Ohr an die Zellentür legen. Die Zelleninsassen wussten nicht, wie das Telefon von außen bekämpft wurde. Im Krieg herrschte jedoch überall Personalmangel, sodass man behaupten kann, der Erfindungsgeist der Häftlinge habe das Eingesperrt-Sein durchbrochen. Gewöhnlich wurde nach dem Abservieren des Abendessens „telefoniert“. Dann hallte und widerhallte der Hof von lauten und geflüsterten Gesprächen. Stellt man sich vor, dass bei solchen Konversationen lebenswichtige Informationen von Stock zu Stock wanderten, muss man dieser Erfindung eine gewisse Bewunderung beimessen. Wie überall auf der Welt entstehen Märkte dort, wo ein Bedarf existiert. Im Landesgericht erhielten Untersuchungshäftlinge pro Woche fünf bis sechs Zigaretten. Diese Tabakration entsprach „auf dem freien Markt“ fünf bis sechs Scheiben Brot. So gewöhnten sich manche Häftlinge durch Tauschhandel das Rauchen ab. Andere konnten nicht widerstehen. Manch ein talentierter „Händler“ machte in langjähriger Gefangenschaft ganz gute Geschäfte. Kleines angesammeltes Kapital wurde gegen Zinsen an das Wachpersonal verliehen. So entstanden vielleicht nicht immer lupenreine „Netzwerke“, aber Einrichtungen, die jedermann halfen. Diese Finanzkonstruktionen habe ich später auch in den Gefängnissen des Rheinlandes angetroffen. Über meine in verschiedenen „Häusern“ gesammelten Erfahrungen hätte ich eine Art Baedeker schreiben können. Ohne je Rechtswissenschaften studiert zu haben, stellte ich mir gelegentlich die Frage, warum nach meiner Verhaftung im September 1940 und den relativ kurzen Gestapo-Erhebungen etwa drei Jahre vergingen, bevor gegen uns „Hoch- und Landesverräter“ Anklage erhoben und der Prozess angestrengt wurde. Warum so viel Zeitvergeudung? Folgende Erklärung ergab sich als naheliegend: Für die NS-Justiz oder die Gestapo war ein politischer Prozess immer ein Akt, der eine bestimmte politische Zielsetzung im Auge hatte. Mit der Verfolgung unserer Widerstandsgruppen wurden vor allem junge, konservative Nazi-Gegner bekämpft. Während der Zeit der großen deutschen „Blitzkriege“ waren wir Jugendliche wenig interessante Gegner. Wir sympathisierten auch nicht mit den Kommunisten. Daher wurden die Prozesse gegen uns „Jung-Bürgerliche“ zunächst auf Eis gelegt. Später würde man sie als wirksames Abschreckungsmittel verwenden, wenn sich in Europa zweite oder dritte 68

die Vernichtung der KPÖ

Kriegsfronten öffnen sollten, wie nach den Invasionen in Frankreich oder Italien. Der Ablauf des Krieges bestimmte also auch die Terminsetzung unserer Prozesse. Hinrichtungen als abschreckendes Bespiel wurden ja in der Presse laufend publiziert und erfüllten sicher ihren psychologischen Zweck. Jedenfalls hatten sie auf uns Häftlinge starke Wirkung. „Wieder einer geköpfelt“, rief einer dem anderen zu. Der gute Goethe hatte wenig Einfluss auf die praktikabel reduzierte „Häfensprache“.

Die Vernichtung der KPÖ

Z

u dem Zeitpunkt, als wir von der „Liesl“ in das Landesgericht, also der Justiz überstellt worden waren, durfte die Ausrottung der Kommunisten durch die Nationalsozialisten ihren Höhepunkt erreicht haben. Sie hatten es zumeist auf politisch und militärisch gut geschulte Spanienkämpfer abgesehen. Diese waren das erste feindliche Ziel im frisch besetzten Österreich, weil sie durch ihre Verbindung zur Sowjetunion am besten für den militärischen Einsatz vorbereitet waren. Am Abend wussten wir im „Landl“ für gewöhnlich, ob am nächsten Morgen exekutiert werden würde. Des Henkers Auto, genannt „der schwarze Rabe“, war in diesem Fall hinten im Hof geparkt, um ihn vor Unbill zu schützen. Die Todeskandidaten riefen sich von ihrem Fenster aus über den Hof Abschiedsparolen zu. Ein erschütterndes Memento mori. Die Schulungszentrale der KPÖ hatte in jener Zeit eine interessante „Therapie“ für ihre Inhaftierten ersonnen. Bekanntlich kam es damals, im Zusammenhang mit dem sogenannten Molotov-Ribbentrop-Pakt, zu einer temporären Annäherung zwischen Russen und Nationalsozialisten, deren Ziel die Aufteilung Polens war, wie in der Geschichte zuvor schon oft geschehen. Jede der beiden Großmächte stattete der Hauptstadt des Gegners einen feierlichen Besuch ab. Wer wollte bei einer solchen Inszenierung an künftige militärische Auseinandersetzungen glauben? Wenn man das Pech hatte, diesen außenpolitischen Handel als Kommunist in deutschen oder österreichischen Gefängnissen mitzuerleben, mag man sich als alter Rotspanienkämpfer entsetzt gefragt haben, wozu man eigentlich sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte. Die KPÖ 69

die Vernichtung der KPÖ

Kriegsfronten öffnen sollten, wie nach den Invasionen in Frankreich oder Italien. Der Ablauf des Krieges bestimmte also auch die Terminsetzung unserer Prozesse. Hinrichtungen als abschreckendes Bespiel wurden ja in der Presse laufend publiziert und erfüllten sicher ihren psychologischen Zweck. Jedenfalls hatten sie auf uns Häftlinge starke Wirkung. „Wieder einer geköpfelt“, rief einer dem anderen zu. Der gute Goethe hatte wenig Einfluss auf die praktikabel reduzierte „Häfensprache“.

Die Vernichtung der KPÖ

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u dem Zeitpunkt, als wir von der „Liesl“ in das Landesgericht, also der Justiz überstellt worden waren, durfte die Ausrottung der Kommunisten durch die Nationalsozialisten ihren Höhepunkt erreicht haben. Sie hatten es zumeist auf politisch und militärisch gut geschulte Spanienkämpfer abgesehen. Diese waren das erste feindliche Ziel im frisch besetzten Österreich, weil sie durch ihre Verbindung zur Sowjetunion am besten für den militärischen Einsatz vorbereitet waren. Am Abend wussten wir im „Landl“ für gewöhnlich, ob am nächsten Morgen exekutiert werden würde. Des Henkers Auto, genannt „der schwarze Rabe“, war in diesem Fall hinten im Hof geparkt, um ihn vor Unbill zu schützen. Die Todeskandidaten riefen sich von ihrem Fenster aus über den Hof Abschiedsparolen zu. Ein erschütterndes Memento mori. Die Schulungszentrale der KPÖ hatte in jener Zeit eine interessante „Therapie“ für ihre Inhaftierten ersonnen. Bekanntlich kam es damals, im Zusammenhang mit dem sogenannten Molotov-Ribbentrop-Pakt, zu einer temporären Annäherung zwischen Russen und Nationalsozialisten, deren Ziel die Aufteilung Polens war, wie in der Geschichte zuvor schon oft geschehen. Jede der beiden Großmächte stattete der Hauptstadt des Gegners einen feierlichen Besuch ab. Wer wollte bei einer solchen Inszenierung an künftige militärische Auseinandersetzungen glauben? Wenn man das Pech hatte, diesen außenpolitischen Handel als Kommunist in deutschen oder österreichischen Gefängnissen mitzuerleben, mag man sich als alter Rotspanienkämpfer entsetzt gefragt haben, wozu man eigentlich sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte. Die KPÖ 69

Lebenskreise

ließ daher in verschiedenen Gefängnissen Schulungsblätter verteilen, um den Häftlingen zu erklären, Stalin habe versucht, die Deutsche Wehrmacht tief in die Sowjetunion zu locken, um sie dann leichter zu vernichten. Man hatte den Eindruck, die Kommunisten hätten an alles gedacht und wären wie ein globaler Wirtschaftsbetrieb auf alles vorbereitet gewesen. Aber wer waren die Verteiler der Informationen? In Österreich wohl altes Wachpersonal, das schon zur Zeit des „Bürgerkriegs“ von 1934 eingestellt worden war und Beamtenstatus besaß. Selbst die NS-Verwaltung konnte diese Veteranen nicht so einfach eliminieren.

Vom Wiener Landesgericht an die Ruhr

I

m Juli 1941 wurden wir in einem Massentransport per Bahn vom Wiener Landesgericht ins Ruhrgebiet befördert, verteilt auf die Gefängnisse in den Städten Anrath, Krefeld, Duisburg, Hamborn und Düsseldorf. Dort konnte sich niemand erklären, was man mit diesen vielen Österreichern vorhatte. Erst allmählich sickerten die Zusammenhänge durch, Häftlinge durften niemals in heimatlichen Anstalten untergebracht werden, aus „Sicherheitsgründen“. Wie vieles im Leben mehrere Seiten hat, so auch die NS-Haftpolitik. Original ausgebildetes und vereidigtes Wachpersonal war in Deutschland bereits rar geworden. Die Mannschaft, die uns im Rheinland bewachte, bestand de facto aus Zivilisten, die ihre Geschäfte wegen Rohstoffmangels zusperren mussten – Konditoren ohne Zucker, Lebensmittelhändler ohne Esswaren, Textilhändler ohne Stoffe. Überdies hatte die NS-Führung übersehen, dass die Bewohner des Rheinlandes, so wie wir, Katholiken waren und mit uns zumindest ein wenig sympathisierten. Etwa ein Gefängnisarzt, der bereitwillig meine Verlegung aus dem primitiven Zellenbau in eine spitalsartige Einrichtung verfügte. Es war auch wohl kein Zufall, dass das Bewachungspersonal in Anrath morgens nach dem Spaziergang gelegentlich die Zellentüren offen stehen ließ, sodass wir wider offizielle Erlaubnis miteinander plaudern konnten. Neben mir „wohnte“ damals Burgschauspieler Fritz Lehmann, der über einen satten Humor verfügte. Ein Witz von ihm konnte die gute Laune den ganzen Tag über 70

Lebenskreise

ließ daher in verschiedenen Gefängnissen Schulungsblätter verteilen, um den Häftlingen zu erklären, Stalin habe versucht, die Deutsche Wehrmacht tief in die Sowjetunion zu locken, um sie dann leichter zu vernichten. Man hatte den Eindruck, die Kommunisten hätten an alles gedacht und wären wie ein globaler Wirtschaftsbetrieb auf alles vorbereitet gewesen. Aber wer waren die Verteiler der Informationen? In Österreich wohl altes Wachpersonal, das schon zur Zeit des „Bürgerkriegs“ von 1934 eingestellt worden war und Beamtenstatus besaß. Selbst die NS-Verwaltung konnte diese Veteranen nicht so einfach eliminieren.

Vom Wiener Landesgericht an die Ruhr

I

m Juli 1941 wurden wir in einem Massentransport per Bahn vom Wiener Landesgericht ins Ruhrgebiet befördert, verteilt auf die Gefängnisse in den Städten Anrath, Krefeld, Duisburg, Hamborn und Düsseldorf. Dort konnte sich niemand erklären, was man mit diesen vielen Österreichern vorhatte. Erst allmählich sickerten die Zusammenhänge durch, Häftlinge durften niemals in heimatlichen Anstalten untergebracht werden, aus „Sicherheitsgründen“. Wie vieles im Leben mehrere Seiten hat, so auch die NS-Haftpolitik. Original ausgebildetes und vereidigtes Wachpersonal war in Deutschland bereits rar geworden. Die Mannschaft, die uns im Rheinland bewachte, bestand de facto aus Zivilisten, die ihre Geschäfte wegen Rohstoffmangels zusperren mussten – Konditoren ohne Zucker, Lebensmittelhändler ohne Esswaren, Textilhändler ohne Stoffe. Überdies hatte die NS-Führung übersehen, dass die Bewohner des Rheinlandes, so wie wir, Katholiken waren und mit uns zumindest ein wenig sympathisierten. Etwa ein Gefängnisarzt, der bereitwillig meine Verlegung aus dem primitiven Zellenbau in eine spitalsartige Einrichtung verfügte. Es war auch wohl kein Zufall, dass das Bewachungspersonal in Anrath morgens nach dem Spaziergang gelegentlich die Zellentüren offen stehen ließ, sodass wir wider offizielle Erlaubnis miteinander plaudern konnten. Neben mir „wohnte“ damals Burgschauspieler Fritz Lehmann, der über einen satten Humor verfügte. Ein Witz von ihm konnte die gute Laune den ganzen Tag über 70

Vom wiener Landesgericht an die Ruhr

25. Meine Zelle in Krefeld, 1942. Tusche und Deckfarben auf Papier.

aufrecht erhalten. Ein Gruß von seiner charmanten Frau, der Burgschauspielerin Maria Kramer, erinnerte an lustige Zeiten und versprühte Hoffnungen. Wo die NS-Brutalität wirklich ihren Ausdruck fand, war im gelegentlichen Anketten der Häftlinge an die Heizkörper während der Luftangriffe, derer es oft mehrere am Tag gab. Manchmal brannte der ganze Horizont zwischen Hamburg und Essen, was man von meinem Fenster in Anrath aus beobachten konnte. Das Düsseldorfer Inquisitenspital soll einen Volltreffer erlitten haben, gottlob vier Wochen, nachdem wir es in Richtung Wien verlassen hatten. Man betete, man berechnete das Pfeifen der Bomben und die Zeit bis zum Einschlag der nächsten, man legte Gelübde ab, für den Fall, dass man heil von den Heizkörpern abgeknüpft würde. Eines meiner Gelübde betraf die Schenkung eines bedeutenden Glases meiner Sammlung, die ich dann im Jahr 1999 endlich ausführen konnte. Es war ein venezianisches Glas der Renaissance, in der Literatur als „Petroneller Willkhumb“ bekannt, das ich dem Wiener Kunsthistorischen Museum zueignete. In Anrath war uns erlaubt, ein Buch pro Woche aus der großen Bücherei zu borgen. Bei näherer Durchsicht konnte man feststellen, dass der Bestand 71

Lebenskreise

sicherlich seit Beginn der NS-Ära nicht auf seinen politischen oder ideologischen Gehalt durchforstet worden war. Monatelang studierte ich die 26-bändige Geschichte Englands von Thomas B. Macaulay. Oswald Spenglers faszinierender „Untergang des Abendlandes“ hingegen stand sicher auf dem nationalsozialistischen Index der philosophischen und historischen Werke jeder Bibliothek des Dritten Reiches. Doch niemand interessierte sich ernstlich für den Inhalt unserer Lektüre.

Flucht aus Anrath?

E

s ist ein zermürbendes Leben, das man in einem Gefängnis führt. Nach zweieinhalb Jahren Haft, bei mehr als dürftiger Kost, war man fast nur mehr „Haut und Knochen“. Nie werde ich den mittäglichen Wrukeneintopf an Sonntagen vergessen. Die Steckrüben wurden als „Delikatesse“ bezeichnet. Auch die manuelle Arbeit darf nicht unterschätzt werden. Wir mussten täglich zweihundert Papiersäckchen für die Pharmaindustrie kleben. Wen der Arzt von der manuellen Arbeit dispensierte, dem verblieb lediglich der „Selbstunterricht“, ein Synonym für das Lesen und Studieren der Parteibuchtexte. Allmählich verlernte man, geradlinig zu denken, krause Ideen und Pläne verknüpften sich miteinander. Es war nicht verwunderlich, dass sich Pläne einer Flucht aus dem Gefängnis immer wieder einen Platz in den Überlegungen suchten. Auch in Anrath kamen solche Gedanken auf. Wie ich schon angedeutet hatte, war hier der Austausch zwischen den Zellen etwas lockerer als in anderen Gefängnissen. Auch zwischen den Häftlingen und dem die Arbeit austeilenden Personal waren persönliche Kontakte häufig. Solch ein Gehilfe stand auch im engen Dialog mit uns österreichischen Häftlingen. An sich war er wegen eines kriminellen Deliktes in Haft und kein „Politischer“ wie wir. Gerade solche Typen suchten oft unsere Nähe, da der Kontakt mit uns das Stigma aufhob, das sie als Kriminelle belastete. Der junge Mann stammte allem Anschein nach aus gutem ostpreußischem Hause und er beteuerte, das Labyrinth der Preußischen Seenplatte genau zu kennen. Vieles sprach dafür, dass er zu einem erfolgrei72

Lebenskreise

sicherlich seit Beginn der NS-Ära nicht auf seinen politischen oder ideologischen Gehalt durchforstet worden war. Monatelang studierte ich die 26-bändige Geschichte Englands von Thomas B. Macaulay. Oswald Spenglers faszinierender „Untergang des Abendlandes“ hingegen stand sicher auf dem nationalsozialistischen Index der philosophischen und historischen Werke jeder Bibliothek des Dritten Reiches. Doch niemand interessierte sich ernstlich für den Inhalt unserer Lektüre.

Flucht aus Anrath?

E

s ist ein zermürbendes Leben, das man in einem Gefängnis führt. Nach zweieinhalb Jahren Haft, bei mehr als dürftiger Kost, war man fast nur mehr „Haut und Knochen“. Nie werde ich den mittäglichen Wrukeneintopf an Sonntagen vergessen. Die Steckrüben wurden als „Delikatesse“ bezeichnet. Auch die manuelle Arbeit darf nicht unterschätzt werden. Wir mussten täglich zweihundert Papiersäckchen für die Pharmaindustrie kleben. Wen der Arzt von der manuellen Arbeit dispensierte, dem verblieb lediglich der „Selbstunterricht“, ein Synonym für das Lesen und Studieren der Parteibuchtexte. Allmählich verlernte man, geradlinig zu denken, krause Ideen und Pläne verknüpften sich miteinander. Es war nicht verwunderlich, dass sich Pläne einer Flucht aus dem Gefängnis immer wieder einen Platz in den Überlegungen suchten. Auch in Anrath kamen solche Gedanken auf. Wie ich schon angedeutet hatte, war hier der Austausch zwischen den Zellen etwas lockerer als in anderen Gefängnissen. Auch zwischen den Häftlingen und dem die Arbeit austeilenden Personal waren persönliche Kontakte häufig. Solch ein Gehilfe stand auch im engen Dialog mit uns österreichischen Häftlingen. An sich war er wegen eines kriminellen Deliktes in Haft und kein „Politischer“ wie wir. Gerade solche Typen suchten oft unsere Nähe, da der Kontakt mit uns das Stigma aufhob, das sie als Kriminelle belastete. Der junge Mann stammte allem Anschein nach aus gutem ostpreußischem Hause und er beteuerte, das Labyrinth der Preußischen Seenplatte genau zu kennen. Vieles sprach dafür, dass er zu einem erfolgrei72

Flucht aus Anrath?

chen Fluchthelfer werden könnte. Jedenfalls heizten seine Erzählungen die Fluchtfantasien an. Aber zwischen Anrath und den unzähligen preußischen Seen, wo man sich vielleicht gut verstecken konnte, lagen Hunderte von Kilometern. Auch sei unsere Gefängnismauer scharf bewacht, hieß es immer. Neben dem „Preußen aus gutem Hause“ schwirrte noch ein anderer Typ mir bis dahin völlig unbekannten Wesens als eine Art „Faci“ [Faktotum, Anm. d. Bearb.] frei im Gefängnis herum. Er hatte den Spanischen Bürgerkrieg als Kommunist überlebt. Während aber die meisten Kameraden seiner Couleur ihr Leben auf dem Schafott einbüßten, besaß er als Überbleibsel alter Konflikte innerhalb des NS-Apparates vermutlich einen Mentor, der ihn schützte. Auch er war ein Arbeitsbeschaffer und besuchte die Zellen, die er mit Material versorgte. Oft sprach er mir Mut zu, denn, wie er behauptete, „Adelige oder Kapitalisten“ würden im Dritten Reich niemals hingerichtet. Ich hatte allerdings in Wien Gegenteiliges erlebt. Man wusste nicht recht, was er im Schilde führte. Jedenfalls hätte er einen Fluchtversuch unter Führung des „Preußen aus gutem Hause“ niemals unterstützt. Hingegen äußerte er versteckte Warnungen. Andererseits war gewiss, dass alle zu einer Flucht notwendigen Utensilien, von Leitern bis zu Schlüsseln, an einem Ort aufbewahrt wurden, den diese drei Personen kannten, der Preuße, der Spanienkämpfer und die Arbeitsaufsicht. Ob echte Fluchtpläne existierten, weiß ich nicht. Dass sie mich interessieren, war klar und bekannt. Sie mussten in jedem Fall mit starken Luftangriffen zusammenfallen, an denen es ja nicht mangelte. Eines späten Abends entlud sich wieder ein Bombenteppich über uns. Es war ein Höllenspektakel. Ich besaß keinerlei Instruktionen, hatte mein Fluchtinteresse nur einmal angedeutet. Ich wusste auch nicht, ob man mit mir an diesem Abend rechnete. Ich lag angekleidet auf meinem Bett. Bis zur Entwarnung vergingen etwa zwei Stunden, dann schlief ich ein. Es dürfte wohl alles schiefgegangen sein, vielleicht war alles nur die wilde Fantasie der Hoffnung gewesen? Am nächsten Morgen rauschte der Preuße an meiner Zelle vorbei und flüsterte: „Alle Schlüssel und Fluchtgeräte waren verschwunden, es war nichts zu machen.“ Meinem Empfinden nach war gar nichts vorbereitet gewesen. Jemand, vielleicht der Spanienkämpfer, hatte alles verhindert, wohl für immer. Er schien 73

Lebenskreise

jedenfalls davon überzeugt gewesen zu sein, dass eine Flucht fehlschlagen würde. Wahrscheinlich ging die Sache so zum Besten für alle Beteiligten aus.

Drei Wochen Kur

I

m Krefelder Untersuchungsgefängnis, wohin ich nach vielen Monaten Aufenthalt in Anrath verlegt wurde, war es möglich gewesen, zweimal in der Woche den Anstaltsarzt zu besuchen. Er hatte uns durch feines Mienenspiel und kleine Bemerkungen angedeutet, dass er mit uns sympathisierte. Der Amtsarzt positionierte sich des Öfteren am Fensterrand seiner Ordination, um seine Patienten beim Spaziergang um ein Blumenbeet im Hof zu beobachten, ohne selbst gesehen zu werden. Eines Tages war es dann so weit. Nach wiederholten „Hustenkrämpfen“, die von seinem Fenster aus gut zu diagnostizieren waren, verfügte er meine Überführung aus dem Krefelder Gefängnis in das Inquisitenspital in Düsseldorf-Derendorf. Mir erschien diese Zeit wie ein dreiwöchiger Kuraufenthalt in der Schweiz. Der Düsseldorfer „Obersanitätswachmeister“ erkor mich zu einem seiner „Facis“, der außerhalb der Zelle durch schriftliche Aufzeichnungen Hilfsdienste leistete. Diese Tätigkeit bedeutete sofort mehr Essen, denn es blieb mir überlassen, zu entscheiden, wer den Nachschlag, also den letzten Löffel aus einem großen Nahrungseimer, erhielt. Man konnte mit dem Wachpersonal auf den Gängen Konversation führen. Auch ich hatte ja etwas zu erzählen. Im Austausch hörten wir Details über Verwüstungen durch Luftangriffe und über die Stimmung der Bevölkerung im Rheinland. Alle sechs Monate durfte mich meine Großmutter besuchen. Sie näherte sich bereits dem achtzigsten Lebensjahr. Während der letzten sechs Monate war es ihr gelungen, mehrere Flaschen Lebertran von befreundeten Apothekern in Wien zu erwerben. In Düsseldorf musste sie damit über zerstörte Schienen und Straßenruinen klettern, um zu mir ins Gefängnis zu kommen. Die Hälfte der zur Konversation gewährten Stunde war immer bereits abgelaufen, als sie mir noch die Stärkungsmittel ausfolgte, die zuvor natürlich eingehend von amtlicher Seite untersucht werden mussten. Eine Portion Lebertran 74

Lebenskreise

jedenfalls davon überzeugt gewesen zu sein, dass eine Flucht fehlschlagen würde. Wahrscheinlich ging die Sache so zum Besten für alle Beteiligten aus.

Drei Wochen Kur

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m Krefelder Untersuchungsgefängnis, wohin ich nach vielen Monaten Aufenthalt in Anrath verlegt wurde, war es möglich gewesen, zweimal in der Woche den Anstaltsarzt zu besuchen. Er hatte uns durch feines Mienenspiel und kleine Bemerkungen angedeutet, dass er mit uns sympathisierte. Der Amtsarzt positionierte sich des Öfteren am Fensterrand seiner Ordination, um seine Patienten beim Spaziergang um ein Blumenbeet im Hof zu beobachten, ohne selbst gesehen zu werden. Eines Tages war es dann so weit. Nach wiederholten „Hustenkrämpfen“, die von seinem Fenster aus gut zu diagnostizieren waren, verfügte er meine Überführung aus dem Krefelder Gefängnis in das Inquisitenspital in Düsseldorf-Derendorf. Mir erschien diese Zeit wie ein dreiwöchiger Kuraufenthalt in der Schweiz. Der Düsseldorfer „Obersanitätswachmeister“ erkor mich zu einem seiner „Facis“, der außerhalb der Zelle durch schriftliche Aufzeichnungen Hilfsdienste leistete. Diese Tätigkeit bedeutete sofort mehr Essen, denn es blieb mir überlassen, zu entscheiden, wer den Nachschlag, also den letzten Löffel aus einem großen Nahrungseimer, erhielt. Man konnte mit dem Wachpersonal auf den Gängen Konversation führen. Auch ich hatte ja etwas zu erzählen. Im Austausch hörten wir Details über Verwüstungen durch Luftangriffe und über die Stimmung der Bevölkerung im Rheinland. Alle sechs Monate durfte mich meine Großmutter besuchen. Sie näherte sich bereits dem achtzigsten Lebensjahr. Während der letzten sechs Monate war es ihr gelungen, mehrere Flaschen Lebertran von befreundeten Apothekern in Wien zu erwerben. In Düsseldorf musste sie damit über zerstörte Schienen und Straßenruinen klettern, um zu mir ins Gefängnis zu kommen. Die Hälfte der zur Konversation gewährten Stunde war immer bereits abgelaufen, als sie mir noch die Stärkungsmittel ausfolgte, die zuvor natürlich eingehend von amtlicher Seite untersucht werden mussten. Eine Portion Lebertran 74

Die Anklageschrift

und eine zusätzliche Schnitte Brot mit Salz kamen mir damals einem Gourmet-Häppchen gleich. Leider ist auch im Gefängnisleben immer alles relativ. Auf einigermaßen freudige Ereignisse folgten wieder Katastrophen. Jetzt brach in mein friedliches Düsseldorfer Tuskulum die schon lange gefürchtete Zustellung der Anklageschrift ein.

Die Anklageschrift

S

ogleich wurde neuerlicher Zellenverschluss über mich verhängt. Keine Abschläge mehr, keine Bewegung auf dem Gang, sehr schnell war man wieder in der Position des Staatsfeindes. Die epistellange Anklageschrift enthielt mehrere Punkte, die gewöhnlich mit der Todesstrafe geahndet wurden: „Hochverrat“, „Landesverrat“ und „Zersetzung der Wehrkraft“. Meine Situation in Düsseldorf war nach Erhalt der Anklageschrift sehr prekär, weil mir über viele Wochen kein Rechtsanwalt zur Verfügung stand. Der Prozess war für den 22. Februar 1944 angesetzt. Man musste uns also per Bahn nach Wien zurückschaffen. „Auf Transport“ hieß diese Beförderungsart. Man war nirgends mehr zu Hause, verbrachte unzählige Stunden in einem holpernden, vergitterten Eisenbahnwaggon. Der Transport von Düsseldorf nach Wien wurde mindestens achtmal unterbrochen. Je nach Schwere der Schienenschäden wurden wir an bestimmten Stationen ausgeladen. Dort kamen wir in Turnsälen unter, um ein paar Tage auf den nächsten Zug zu warten, der uns dann wieder ein Stück näher Richtung Wien bringen sollte. Wenn ich mich recht erinnere, hieß die erste Station nach Düsseldorf Zabern (Saverne). Dort erhielten wir zwei Handtücher, die uns mehrere Wochen, verlaust und verschmutzt wie wir waren, bedeckten. Sehr beeindruckend war die Einfahrt in das verschneite Ulm, wo uns der Zug wieder einmal „ausspie“. Es war der Heilige Abend des Jahres 1943. Wir rutschten in Holzpantoffeln über den Hauptplatz, am prächtigen Dom vorbei. Wächter mit knurrenden Wolfshunden führten uns in das Hauptgefängnis. Die geistigen Eindrücke dieses Abends hatten mich so entkräftet, dass ich 75

Die Anklageschrift

und eine zusätzliche Schnitte Brot mit Salz kamen mir damals einem Gourmet-Häppchen gleich. Leider ist auch im Gefängnisleben immer alles relativ. Auf einigermaßen freudige Ereignisse folgten wieder Katastrophen. Jetzt brach in mein friedliches Düsseldorfer Tuskulum die schon lange gefürchtete Zustellung der Anklageschrift ein.

Die Anklageschrift

S

ogleich wurde neuerlicher Zellenverschluss über mich verhängt. Keine Abschläge mehr, keine Bewegung auf dem Gang, sehr schnell war man wieder in der Position des Staatsfeindes. Die epistellange Anklageschrift enthielt mehrere Punkte, die gewöhnlich mit der Todesstrafe geahndet wurden: „Hochverrat“, „Landesverrat“ und „Zersetzung der Wehrkraft“. Meine Situation in Düsseldorf war nach Erhalt der Anklageschrift sehr prekär, weil mir über viele Wochen kein Rechtsanwalt zur Verfügung stand. Der Prozess war für den 22. Februar 1944 angesetzt. Man musste uns also per Bahn nach Wien zurückschaffen. „Auf Transport“ hieß diese Beförderungsart. Man war nirgends mehr zu Hause, verbrachte unzählige Stunden in einem holpernden, vergitterten Eisenbahnwaggon. Der Transport von Düsseldorf nach Wien wurde mindestens achtmal unterbrochen. Je nach Schwere der Schienenschäden wurden wir an bestimmten Stationen ausgeladen. Dort kamen wir in Turnsälen unter, um ein paar Tage auf den nächsten Zug zu warten, der uns dann wieder ein Stück näher Richtung Wien bringen sollte. Wenn ich mich recht erinnere, hieß die erste Station nach Düsseldorf Zabern (Saverne). Dort erhielten wir zwei Handtücher, die uns mehrere Wochen, verlaust und verschmutzt wie wir waren, bedeckten. Sehr beeindruckend war die Einfahrt in das verschneite Ulm, wo uns der Zug wieder einmal „ausspie“. Es war der Heilige Abend des Jahres 1943. Wir rutschten in Holzpantoffeln über den Hauptplatz, am prächtigen Dom vorbei. Wächter mit knurrenden Wolfshunden führten uns in das Hauptgefängnis. Die geistigen Eindrücke dieses Abends hatten mich so entkräftet, dass ich 75

Lebenskreise

mich nicht erinnern konnte, ob ich seit einem Tag oder mehreren Tagen nicht mehr verköstigt worden war. Unsere zum Prozess bestimmte Gruppe bestand nur aus Österreichern. Unter uns Häftlingen gab es einige Prominenz, Abt Dr. Sylvester Birngruber von Wilhering in Oberösterreich, den brillanten Theologiestudenten Herbert Christian aus Wien, Karl Smekal, den späteren Parlamentssekretär der ÖVP, Alfred Graf Orssich, meinen engen Freund, den Theologen Hanns Georg Heintschel-Heinegg, und unseren Anführer Roman Karl Scholz. Die Destination des Zuges und der Transportzweck waren auf allen Türen plakatiert: „Prozess des Volksgerichts (2. Senat), Vorsitz: Dr. Wilhelm Crohne, wegen Hoch- und Landesverrats, Zersetzung der Wehrkraft, gegen Dr. Roman Karl Scholz und Komplizen. Wiener Landesgericht, 22. 2. 1944.“ Das Unheimliche an unserem Transport war, dass wir alle zum selben politischen Prozess nach Wien fuhren, mit der Gewissheit, dass etwa die Hälfte der „Reisenden“ nicht mehr zurückkehren würde. Wir wussten es, ohne es je auszusprechen. Eine kleine Konzession bestand in der Erlaubnis, miteinander kommunizieren zu dürfen. Wir waren vollkommen unterernährt, aber konzentriert auf Gespräche über politische, ideologische und theologische Themen, die wir führten, um uns von unserer elenden Situation abzulenken. Was ist doch der Mensch für ein eigentümliches Wesen! Was hatte Gott mit uns vor? Es ist mir entfallen, wie viele Stationen zwischen Ulm und dem Wiener Landesgericht noch zurückzulegen waren. Etwa noch sechs. Es war also gegen Mitte Februar 1944, als wir in Wien eintrafen und unsere alten Zellen im Wiener Landesgericht wieder bezogen, die wir verlassen hatten, um ins Rheinland gebracht zu werden. Mein damaliger „Häfenbruder“ Kovacik war nicht mehr da. Vermutlich hingerichtet. Er hatte mir viel bedeutet, weil er mich, den Gefängnisnovizen, in den taktischen Habitus des Zellenlebens und in die Mentalität des politischen Gegners eingeführt hatte.

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Der Richter Wilhelm Crohne

A

m folgenden Tag um zehn Uhr wurde ich meinem persönlichen Anwalt Dr. Erich Führer vorgestellt. Als politischer Angeklagter durfte man einen privaten Verteidiger wählen oder aber einen von der Justiz bestimmten akzeptieren. Letzteres wäre sinnlos gewesen. Dr. Führer dagegen bekleidete das hohe Amt des Präsidenten der Wiener Anwaltskammer. Er war mit einer Dame verheiratet, mit der meine Eltern schon lange vor der NS-Zeit Kontakt gepflegt hatten. Damals allerdings war sie noch im Anti-NS-Lager mit dem bekannten Anwalt Dr. Rochlitzer verheiratet und vernetzt. Dr. Führer war sehr optimistisch und bemüht, meine Angst zu zerstreuen. Der Vizepräsident des Volksgerichthofes, der Berliner Jurist Dr. Wilhelm Crohne, meinte er, sei nicht so schlimm wie sein Ruf, man könne ihn mit Blutrichtern wie Roland Freisler nicht vergleichen. Übrigens seien viele Akten, darunter auch meine Gestapo-Akte, bei Luftangriffen in Berlin verbrannt. Wir mussten schnellstens eine neue „Verantwortung“ konzipieren, soweit es zeitlich überhaupt noch möglich war. Diese neue Stellungnahme flog schnell über das Papier und bewegte sich in folgende Richtung: „Der Angeklagte Strasser sei ein leichtsinniger, gerne in Abenteuer verwickelter Mensch, der nicht erkannt hatte, dass er mit dem Feuer spielte.“ Diese Verteidigung schien angesichts meiner Jugend von damals 21 Jahren nicht unlogisch, allein mir fehlte der Glaube an den Erfolg. Wie konnte sich eine so gewaltige Polizei- und Justizmaschinerie von solchen, wie mir schien, oberflächlichen Argumenten beeinflussen lassen? Und würde Dr. Führer nicht damit nur sich selbst Mut zusprechen? Jedes gerettete Leben eines Widerständlers war ja nach dem Krieg eine gewisse Entlastung für belastete Nationalsozialisten, die sich selbst täglich ihren Prozessen näherten. Dr. Führer ließ gelegentlich durchsickern, dass der NS-Apparat nicht mehr an den Endsieg glaube. Die alliierten Heere seien an so vielen Fronten durchgebrochen, der totale militärische Zusammenbruch des Dritten Reiches sei bereits greifbar nahe. Das waren freilich alles nur mündliche Informationen, aber doch riskante Beurteilungen, die Dr. Führer an einen angeklagten „Hochverräter“ weitergab. Aber dann lasen wir wieder im „Völkischen Beobachter“ von den beängstigenden Racheschwüren der deutschen Soldaten, viele von ihnen noch Kinder. 77

Lebenskreise

In erster Linie aber fürchteten wir uns vor Dr. Crohne. Konnte dieser noch immer, nach Tausenden verhängten Todesurteilen, mit seinem eigenen Überleben nach dem Krieg rechnen?

Mein Prozess

I

ch muss gestehen, dass mich die letzten Wochen vor dem Prozess während meines Transportes nach Wien aus dem Gleichgewicht geworfen hatten. Ich war mit einem Schnurrbart verhaftet worden, den ich übrigens heute noch trage. Die gerichtlichen Vorschriften verlangten, dass man genauso vor dem Richter erscheinen musste, wie man verhaftet wurde. Ich hatte immer versucht, diesen Schnurrbart zu entfernen, weil ich mich als bärtiger Jüngling vor den Augen Dr. Crohnes noch weniger komfortabel fühlte. Mein Selbstbewusstsein war bereits so tief gesunken, ich achtete sogar auf solche Details. Das Volksgericht war ein eindeutig politisches Instrument der nationalsozialistischen Justiz. Es bestand aus hohen Funktionären der obersten NS-Formationen. Unter Vorsitz einiger gefürchteter Blutrichter im roten Talar drängten sich mehrere Dutzend Mitglieder der SS, der SA und des Arbeitsdienstes Macht demon­s­ trierend in einem großen Saal des Wiener Justizpalastes. Es war ein unglaubliches Aufgebot. Die ganze Stimmung war turbulent, nicht wie man annehmen könnte, durch ein angespanntes Schweigen erstarrt. Folgende Funktionäre saßen neben Crohne auf der Richterbank: SS-Brigadechef Dr. Köhler, SA-Gruppenführer Haas, Vertreter des Oberreichsanwaltes Karl Figge und Arbeitsführer Müller. Was mir noch heute nicht aus der Erinnerung weichen will, ist das gleichförmige Brüllen Dr. Crohnes. Er wiederholte immer wieder, es dürfe nicht vergessen werden, dass täglich Tausende deutsche Soldaten fielen und dass man bei der „Beurteilung“ dieser „Verbrecher“, damit waren wohl wir gemeint, den deutschen Soldaten Gerechtigkeit zukommen lassen müsse. Als ich während des Prozesses vor ihm stand, dem tiefrot bekleideten, schreienden Männchen mit einer Art mittelalterlichem schwarzen Barett als Kopfbedeckung, hatte ich den Eindruck eines menschlichen Automaten, der niemals zu schreien aufhören würde. Aus all seinen Darbietungen während dieses Schauspiels war nie78

Lebenskreise

In erster Linie aber fürchteten wir uns vor Dr. Crohne. Konnte dieser noch immer, nach Tausenden verhängten Todesurteilen, mit seinem eigenen Überleben nach dem Krieg rechnen?

Mein Prozess

I

ch muss gestehen, dass mich die letzten Wochen vor dem Prozess während meines Transportes nach Wien aus dem Gleichgewicht geworfen hatten. Ich war mit einem Schnurrbart verhaftet worden, den ich übrigens heute noch trage. Die gerichtlichen Vorschriften verlangten, dass man genauso vor dem Richter erscheinen musste, wie man verhaftet wurde. Ich hatte immer versucht, diesen Schnurrbart zu entfernen, weil ich mich als bärtiger Jüngling vor den Augen Dr. Crohnes noch weniger komfortabel fühlte. Mein Selbstbewusstsein war bereits so tief gesunken, ich achtete sogar auf solche Details. Das Volksgericht war ein eindeutig politisches Instrument der nationalsozialistischen Justiz. Es bestand aus hohen Funktionären der obersten NS-Formationen. Unter Vorsitz einiger gefürchteter Blutrichter im roten Talar drängten sich mehrere Dutzend Mitglieder der SS, der SA und des Arbeitsdienstes Macht demon­s­ trierend in einem großen Saal des Wiener Justizpalastes. Es war ein unglaubliches Aufgebot. Die ganze Stimmung war turbulent, nicht wie man annehmen könnte, durch ein angespanntes Schweigen erstarrt. Folgende Funktionäre saßen neben Crohne auf der Richterbank: SS-Brigadechef Dr. Köhler, SA-Gruppenführer Haas, Vertreter des Oberreichsanwaltes Karl Figge und Arbeitsführer Müller. Was mir noch heute nicht aus der Erinnerung weichen will, ist das gleichförmige Brüllen Dr. Crohnes. Er wiederholte immer wieder, es dürfe nicht vergessen werden, dass täglich Tausende deutsche Soldaten fielen und dass man bei der „Beurteilung“ dieser „Verbrecher“, damit waren wohl wir gemeint, den deutschen Soldaten Gerechtigkeit zukommen lassen müsse. Als ich während des Prozesses vor ihm stand, dem tiefrot bekleideten, schreienden Männchen mit einer Art mittelalterlichem schwarzen Barett als Kopfbedeckung, hatte ich den Eindruck eines menschlichen Automaten, der niemals zu schreien aufhören würde. Aus all seinen Darbietungen während dieses Schauspiels war nie78

Ewige Rätsel

mals ein kreativer Gedanke herauszuhören. Ein Unbeteiligter kann sich die Situation nur schwer vorstellen. In kaum zehn Minuten waren die Todesurteile gegen Scholz, Zimmerl und Heintschel-Heinegg gefällt. Herbert Christian erhob sich und betete. Er verweigerte jegliche sachliche Antwort. Nach seiner Auffassung herrschte hier eine Automatik des Todesurteils, die dem Gesetz widersprach. Wozu dann antworten? Man verurteilte ihn zum Tode, einige Wochen später jedoch wurde dieses Urteil in lebenslängliche Haft verwandelt. Diplomkaufmann Rudolf Strasser wurde aufgerufen. Die Empfehlungen meines Verteidigers Dr. Erich Führer befolgend, betonte ich, dass ich die ganze Causa nicht als einen schwerwiegenden Eingriff betrachtet hatte: „Es war eine dumme Spielerei. Von mir eigentlich nie ernst genommen.“ Konkrete Fakten wurden mir, soweit ich mich erinnern kann, nicht vorgeworfen. Für mich forderte der Staatsanwalt „lebenslänglich“, Dr. Crohne entschied sich für zehn Jahre Zuchthaus. Dass er das Wort „Tod“ nicht verwendete, horribile dictu, vielleicht verschluckt hatte, fiel mir allerdings sogleich auf. Dieses vernichtende Wort wurde durch verächtlich ausgespuckte „zehn Jahre Zuchthaus“ ersetzt. Mein Atem stockte zunächst, wie nach einem erschöpfenden Lauf. Nach vier Jahren bereits verbüßter Untersuchungshaft also noch weitere sechs Jahre Zuchthaus. Alles wirbelte in meinem Kopf. Mit welcher faktischen Haftzeit musste ich noch rechnen? Wir schrieben bereits das Jahr 1944. Die Russen standen vor Budapest, die Amerikaner am Rhein, in Frankreich und Italien. Schon klickten wieder die Handschellen und ich saß auf einer Bank außerhalb des Gerichtssaales. Jegliche Empfindung in mir schien wie erloschen. Am 26. April 1945 nahm sich Wilhelm Crohne mit seiner ganzen Familie das Leben.

Ewige Rätsel

S

päter, als ich schon längst in Freiheit war und der Zweite Weltkrieg sein blutiges Ende genommen hatte, musste ich den Verlauf dieses Prozesses immer wieder überdenken. Das Eigenartige war, dass meine persönlichen 79

Ewige Rätsel

mals ein kreativer Gedanke herauszuhören. Ein Unbeteiligter kann sich die Situation nur schwer vorstellen. In kaum zehn Minuten waren die Todesurteile gegen Scholz, Zimmerl und Heintschel-Heinegg gefällt. Herbert Christian erhob sich und betete. Er verweigerte jegliche sachliche Antwort. Nach seiner Auffassung herrschte hier eine Automatik des Todesurteils, die dem Gesetz widersprach. Wozu dann antworten? Man verurteilte ihn zum Tode, einige Wochen später jedoch wurde dieses Urteil in lebenslängliche Haft verwandelt. Diplomkaufmann Rudolf Strasser wurde aufgerufen. Die Empfehlungen meines Verteidigers Dr. Erich Führer befolgend, betonte ich, dass ich die ganze Causa nicht als einen schwerwiegenden Eingriff betrachtet hatte: „Es war eine dumme Spielerei. Von mir eigentlich nie ernst genommen.“ Konkrete Fakten wurden mir, soweit ich mich erinnern kann, nicht vorgeworfen. Für mich forderte der Staatsanwalt „lebenslänglich“, Dr. Crohne entschied sich für zehn Jahre Zuchthaus. Dass er das Wort „Tod“ nicht verwendete, horribile dictu, vielleicht verschluckt hatte, fiel mir allerdings sogleich auf. Dieses vernichtende Wort wurde durch verächtlich ausgespuckte „zehn Jahre Zuchthaus“ ersetzt. Mein Atem stockte zunächst, wie nach einem erschöpfenden Lauf. Nach vier Jahren bereits verbüßter Untersuchungshaft also noch weitere sechs Jahre Zuchthaus. Alles wirbelte in meinem Kopf. Mit welcher faktischen Haftzeit musste ich noch rechnen? Wir schrieben bereits das Jahr 1944. Die Russen standen vor Budapest, die Amerikaner am Rhein, in Frankreich und Italien. Schon klickten wieder die Handschellen und ich saß auf einer Bank außerhalb des Gerichtssaales. Jegliche Empfindung in mir schien wie erloschen. Am 26. April 1945 nahm sich Wilhelm Crohne mit seiner ganzen Familie das Leben.

Ewige Rätsel

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päter, als ich schon längst in Freiheit war und der Zweite Weltkrieg sein blutiges Ende genommen hatte, musste ich den Verlauf dieses Prozesses immer wieder überdenken. Das Eigenartige war, dass meine persönlichen 79

Lebenskreise

Gespräche in der französischen Botschaft in Budapest weder bei den Einvernahmen der Gestapo in Wien, noch während des Crohne-Prozesses vor dem Volksgericht zur Sprache gekommen waren. Es waren aber wohl die gravierendsten Vergehen meiner Widerstandstätigkeit gewesen. Wer hatte mich von dieser Anklage reingewaschen? Wer hatte geholfen, sie zu vertuschen? 66 Jahre später, im Dezember 2010, sah ich zum ersten Mal die vermeintlich im Brand vernichtete Gestapo-Akte über die Gruppe Roman Karl Scholz, die von Berlin nach Wien zurückgefunden hatte und nun im Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes aufbewahrt wird. Ich besitze jetzt auch eine Kopie dieses umfangreichen Schlussberichtes der Gestapo. Hier lese ich, dass ich im Februar 1940 in der Wohnung Heintschels vereidigt wurde und meinen monatlichen Mitgliedsbeitrag von einer Reichsmark beglichen habe. Alle wichtigen Details der Aufträge, die mir unsere Gruppe erteilt hatte sowie der Inhalt meiner Budapester Gespräche mit den Franzosen sind hier nachzulesen. So sei ich vor meiner Abreise in der Wohnung von Gerhard Fischer-Ledenice mit Heintschel und Scholz zusammengekommen, um Instruktionen zu erhalten, die in diesem Akt feinsäuberlich von der Gestapo aufgelistet wurden. Im Juli sei ich schließlich, wieder in der Wohnung von Fischer-Ledenice, von Scholz beauftragt worden, auch bei der englischen Vertretung in Budapest vorzusprechen. Dieses erwähnte letzte Treffen ist meiner Erinnerung komplett entfallen, oder war es eine zusätzliche Denunziation Otto Hartmanns? All dies hätte nur zu leicht zu meinem Verhängnis werden können. Was hatte sich also hinter den Kulissen meines Prozesses abgespielt? Korruption oder eine andere Art von Quidproquo? Später wurden sogenannte Himmler-Deals, wie etwa „Freiheit für Vermögen“, abgeschlossen, denen die gesamte Familie meiner Frau ihr Leben verdankte. Dies traf bei mir sicherlich nicht zu, derart viel Geld stand uns nicht zur Verfügung. Was auch immer passiert war, es war meine Rettung und meine Himmelfahrt zurück ins Leben. Als ich nach dem Krieg im Prozess der Republik Österreich gegen Dr. Führer selbst als Zeuge aussagte, versuchte ich, alle Objektivität, die ich aufbringen konnte, für ihn einzusetzen. Er wurde zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt. Auch Mitglieder prominenter österreichischer Familien hatten für Dr. Führer 80

Abschied vor dem Tod

ausgesagt, so die nach Kanada geflüchtete Familie Bloch-Bauer. Diese Hilfe benötigte er dringend. Seine Frau hatte ihn verlassen, er war inzwischen mit der Burgschauspielerin Vera Balser-Eberle verheiratet.

Abschied vor dem Tod

E

s gab kaum eine Möglichkeit, von den zum Tode verurteilten Freunden Abschied zu nehmen. Jeder wurde vom Justizpalast in einen anderen Trakt des Landesgerichtes verbracht. Ich kann mich jedoch daran erinnern, dass wir versucht hatten, einander zu umarmen, bevor wir auseinandergerissen wurden. Ich kann mich auch erinnern, dass Scholz Otto Hartmann noch einmal begegnete und schrie: „Das ist der Verräter, der uns alle aufs Schafott brachte!“ Hanns Georg von Heintschel-Heinegg, mit dessen Verwandten ich immer noch in engem Kontakt stehe, muss ein qualvolles Sterben erlebt haben. Frühmorgens am 10. Mai 1944 wurde er zur Exekution aus seiner Zelle geholt. Knapp vor der tatsächlichen Hinrichtung wurde er begnadigt und in seine Zelle zurückgeführt. Eines der vielen Gnadengesuche, die jeder zum Tode Verurteilte während seines Aufenthaltes im Todestrakt noch losschickte, hatte offenbar Erfolg gezeigt. Was sich während seiner Anwesenheit im Hinrichtungstrakt an anderen Todeskandidaten abgespielt hatte, konnte er seinen Zellengenossen nun genauestens und mit allem Grauen schildern.18 Im darauffolgenden Dezember 1944 wurde die Begnadigung jedoch aufgehoben und Heintschel enthauptet. Es war ein fürchterliches Spiel mit Menschenleben, mit Freunden, die das Schicksal zusammengeschweißt hatte, die man nun für immer verlor.

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Abschied vor dem Tod

ausgesagt, so die nach Kanada geflüchtete Familie Bloch-Bauer. Diese Hilfe benötigte er dringend. Seine Frau hatte ihn verlassen, er war inzwischen mit der Burgschauspielerin Vera Balser-Eberle verheiratet.

Abschied vor dem Tod

E

s gab kaum eine Möglichkeit, von den zum Tode verurteilten Freunden Abschied zu nehmen. Jeder wurde vom Justizpalast in einen anderen Trakt des Landesgerichtes verbracht. Ich kann mich jedoch daran erinnern, dass wir versucht hatten, einander zu umarmen, bevor wir auseinandergerissen wurden. Ich kann mich auch erinnern, dass Scholz Otto Hartmann noch einmal begegnete und schrie: „Das ist der Verräter, der uns alle aufs Schafott brachte!“ Hanns Georg von Heintschel-Heinegg, mit dessen Verwandten ich immer noch in engem Kontakt stehe, muss ein qualvolles Sterben erlebt haben. Frühmorgens am 10. Mai 1944 wurde er zur Exekution aus seiner Zelle geholt. Knapp vor der tatsächlichen Hinrichtung wurde er begnadigt und in seine Zelle zurückgeführt. Eines der vielen Gnadengesuche, die jeder zum Tode Verurteilte während seines Aufenthaltes im Todestrakt noch losschickte, hatte offenbar Erfolg gezeigt. Was sich während seiner Anwesenheit im Hinrichtungstrakt an anderen Todeskandidaten abgespielt hatte, konnte er seinen Zellengenossen nun genauestens und mit allem Grauen schildern.18 Im darauffolgenden Dezember 1944 wurde die Begnadigung jedoch aufgehoben und Heintschel enthauptet. Es war ein fürchterliches Spiel mit Menschenleben, mit Freunden, die das Schicksal zusammengeschweißt hatte, die man nun für immer verlor.

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Lebenskreise

Mein bester Freund: Hanns Georg von Heintschel-Heinegg

Ü

ber Hanns Georg von Heintschel-Heinegg, der seit der ersten Klasse des Theresianums mein Mitschüler, enger Freund, aber auch etwas wie ein persönlicher Berater war, möchte ich ausführlicher erzählen. Wir ähnelten uns in vielen Zügen. Auch er war, wie ich, von humanistischen Themen angezogen. Wir liebten beide das Theater und die Literatur, Hanns Georg baute sich bald eine sehr schöne Bibliothek auf, ich erinnere mich an die frühen bibliophilen Insel-Bücher in seinen Regalen. Er wäre ein wunderbarer Literaturprofessor geworden, sein Wissen auf diesem Gebiet war enorm. Darüber hinaus aber besaß mein Freund die Gabe des tiefen Glaubens, was ihn schließlich nach der Matura zum Theologiestudium am Collegium Canisianum in Innsbruck bewegte. In der Schule hatte man manchmal den Eindruck, dass ihm seine Gläubigkeit die Freude am pulsierenden Leben ersetzte. Dennoch war das Gymnasium für uns auch ein lustiges Spiel- und Anregungsfeld, das wir mit Humor absolvierten. Zweifellos verbanden uns politische Ansichten und Überlegungen. Mit dem Anschluss wurden 1938 alle bisher geführten Gespräche plötzlich aktuell. Hanns Georg musste das Priesterseminar verlassen und kam nach Wien zurück. Wir spürten die gemeinsame Verpflichtung zu einem Widerstand gegen die uns überrollende Ideologie. So stieß Hanns Georg auf Roman Karl Scholz und seine Gruppe und die Dinge nahmen ihren Lauf. In meiner Erinnerung ergänzten sich die beiden als Typen sehr gut, während Roman Karl Scholz Lebensfreude mit seinem Glauben unschwer zu verbinden vermochte, war Hanns Georg der Typ des stillen Studiosus, ein schneller Versteher der Zusammenhänge. Die Familie Heintschel war das Produkt eines typischen alten MonarchieKonglomerates: Hohe Ministerialbeamte, Gutsbesitzer, vom Tief der ersten Kriegsniederlage noch immer nicht erholt. Seine Schwester Annemarie (Mädy) war höchst attraktiv, die Familie ein oft aufgesuchtes Reservat an lustigen Annehmlichkeiten. Hanns Georg kam auch im Kreis anderer gemeinsamer Freunde nach Majorháza. Ich denke an einen Sommer, in Begleitung einer von uns allen umschwärmten Engländerin. Doch eigentlich schien Hanns Georg 82

mein bester Freund

nur ein einziges Mal in seinem Leben vom Charme eines blonden Mädchens gestreift worden zu sein. Fest hielt ihn nichts. Noch besser beschreibt den bewunderten Freund ein aus dem Gefängnis an seine Cousine Lotte Meinl, geborene Heintschel, gerichteter Weihnachtsbrief vom 18. November 1941, während er von der Gestapo am Morzinplatz eingesperrt war. Er enthüllt hier seine selten geäußerte Beziehung zu Gott: „Gott hat mit jedem Menschen seine eigene Geschichte. Und es ist wirklich etwas Wunderbares um die Gnadenführung, die uns zuteil wird. Ich bin in vielem Leiden von Daseinsstufe 26. Mein bester Freund Hanns Georg von Heintschel-Heinegg als Theologie-Student, zu Daseinsstufe gehoben worden, um 1937. es ist der Meißel Gottes – aber auch die gütige Hand. Mag nun nach Seinem Willen das Tor des Todes aufgehen, ich bin lange bereit und möchte es empfangen als Tor der Herrlichkeit, in jenes Land, wo die Freudenlieder nie verhallen. Mag aber mit Seiner Gnade noch einmal das irdische Leben über mich kommen, damit ich es bewältige, so will ich danken als für die Gnade noch viel Wirken zu können mit den in mir reifenden Gaben für Gottes Reich. So sehe ich jetzt mein Leben wie im Feuerofen, und lerne aus dem Geheimnis des Kreuzes zu leben. Von da kommt ja auch alle Freude.“ Ein wenig Hoffnung war ihm geblieben, der NS-Maschinerie doch noch zu entkommen: „Wir müssen das Zerfallende überwinden und uns die Zukunft selbst gestalten! Gott hat so viel in unsere Hand gelegt.“ In einem anderen Brief dieser Zeit an seinen Freund Viki Imhof schreibt er, dass er „bei allem Jenseitsblick manchmal so recht herzhaft mit Euch leben möchte, in schlichter Freude am Gestalten und Erleben, in Gottes geheimnisreicher zarter und doch rauschend symphonischer Welt!“ 83

Lebenskreise

Hanns Georg wurde am 5. Dezember 1944 hingerichtet, drei lange Haftjahre war er den Prüfungen Gottes unter besonderen Härten ausgesetzt. Zuerst wurde er zum Tode verurteilt, knapp vor der Hinrichtung begnadigt, und Monate später doch zu Tode gebracht. Was hat sich in dieser Zeit der unvorstellbaren Proben abgespielt? Jedenfalls muss er Gott nähergekommen sein, als viele andere Menschen. In meine bereits erwähnten Gefängnisheftchen klebte ich immer wieder auch Zettelchen mit Gedichten von Hanns Georg, in feiner Schrift niedergeschriebene Poesie, signiert mit verschlungenem CH für Cornelis Heyn, seinem poetischen Alter Ego und Pseudonym. Auf einem dieser dünnen vergilbten Papiere steht: „Ein paar Sachen zum Divertissement!“, verfasst in der Krefelder Gefangenschaft. Wir tauschten in dieser Form oft unsere Gedanken, Ängste und Visionen aus. Von Abschied und sehnendem Erinnern ist in diesen Gedichten zu lesen, aber auch von einem Sinn, den wir in unserem Schicksal erahnten. Abschied vom Jünglingsalter Es kommen wieder helle Nächte; Stunden, in denen lang Vergangenes ersteht. Die Ruhe, ja, ich habe sie gefunden, ich habe doch so viel um sie gefleht. Dies ist mein Pfad, Gott hat ihn wohl gerichtet; ich gehe ihn, wenn auch Gestrüpp mich reißt. Doch da sind sanfte Plätze ausgelichtet, darin mich eine Bank verweilen heißt. Ein Waldessaum, von dort bin ich gekommen, ein Hain, von nahem Blütenduft durchhellt. Schon bin ich ganz aus solcher Welt genommen Und in ein herbes Ackerland gestellt. Von jenem Strauch nur lasst mich eine Blüte Zu friedlichem Gedenken lösen! Dort 84

von Wien nach Straubing

hängt noch ein Saum von altem Frohgemüte; bald wär auch er aus meinen Augen fort. Ihr andern, blühet zu! Bald tragt ihr Beeren, Dann bin ich weit und sehe sie nicht mehr. Mit holder Frucht mögt ihr die Welt bescheren! Ich hab mein Angebind. Das ist genug Gewähr. Krefeld, Vig. d. fest. Corp. Christ., 3. Juni 1942 CH

Von Wien nach Straubing und der Zug der Ungarn

T

rotz aller bis heute unerklärlicher Gnaden meiner vergleichsweise milden Verurteilung lag noch ein weiter, gefährlicher Weg in die Freiheit vor mir. Zunächst wurde ich auf einen langen Transport mit der Eisenbahn von Wien in das Zuchthaus von Straubing in Bayern geschickt, wo ich nach dem Urteil des Volksgerichtshofes sechs weitere Jahre verbüßen sollte. Etwa um die gleiche Zeit und am gleichen Tag, an dem sich unser Häftlingszug von Wien nach Straubing in Bewegung setzte, stand ein kleinerer Zug auf einem Nebengleis der Westbahn in Purkersdorf bei Wien, besetzt mit 34 ungarischen Passagieren. Das Ziel dieses Zuges war Stuttgart, von wo die Insassen nach Portugal geflogen werden sollten. Dieser Exodus war als Kompensation für die totale Enteignung der mächtigen ungarischen Familie Manfred Weiss vorgesehen. Sie besaß einen der größten mitteleuropäischen Industriekomplexe, Banken und Finanzanlagen, Bergwerksbetriebe und landwirtschaftliche Güter. Bereits im 19. Jahrhundert hatte Baron Manfred Weiss auf der Halbinsel Csepel bei Budapest begonnen, dieses Konglomerat zu errichten, das in seiner Blütezeit etwa 40.000 Arbeiter beschäftigte. In der folgenden Generation hielt Dr. Franz Chorin, selbst führender Bankier in Ungarn, Industrieller und als Politiker Oberhausmitglied, seine schützende und kontrollierende Hand über diese an den Krupp-Konzern erin85

von Wien nach Straubing

hängt noch ein Saum von altem Frohgemüte; bald wär auch er aus meinen Augen fort. Ihr andern, blühet zu! Bald tragt ihr Beeren, Dann bin ich weit und sehe sie nicht mehr. Mit holder Frucht mögt ihr die Welt bescheren! Ich hab mein Angebind. Das ist genug Gewähr. Krefeld, Vig. d. fest. Corp. Christ., 3. Juni 1942 CH

Von Wien nach Straubing und der Zug der Ungarn

T

rotz aller bis heute unerklärlicher Gnaden meiner vergleichsweise milden Verurteilung lag noch ein weiter, gefährlicher Weg in die Freiheit vor mir. Zunächst wurde ich auf einen langen Transport mit der Eisenbahn von Wien in das Zuchthaus von Straubing in Bayern geschickt, wo ich nach dem Urteil des Volksgerichtshofes sechs weitere Jahre verbüßen sollte. Etwa um die gleiche Zeit und am gleichen Tag, an dem sich unser Häftlingszug von Wien nach Straubing in Bewegung setzte, stand ein kleinerer Zug auf einem Nebengleis der Westbahn in Purkersdorf bei Wien, besetzt mit 34 ungarischen Passagieren. Das Ziel dieses Zuges war Stuttgart, von wo die Insassen nach Portugal geflogen werden sollten. Dieser Exodus war als Kompensation für die totale Enteignung der mächtigen ungarischen Familie Manfred Weiss vorgesehen. Sie besaß einen der größten mitteleuropäischen Industriekomplexe, Banken und Finanzanlagen, Bergwerksbetriebe und landwirtschaftliche Güter. Bereits im 19. Jahrhundert hatte Baron Manfred Weiss auf der Halbinsel Csepel bei Budapest begonnen, dieses Konglomerat zu errichten, das in seiner Blütezeit etwa 40.000 Arbeiter beschäftigte. In der folgenden Generation hielt Dr. Franz Chorin, selbst führender Bankier in Ungarn, Industrieller und als Politiker Oberhausmitglied, seine schützende und kontrollierende Hand über diese an den Krupp-Konzern erin85

Lebenskreise

nernden Anlagen. Franz Chorin war mit Baronin Daisy Weiss, einer Tochter von Manfred Weiss, verheiratet. Sofort nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Ungarn, am 19. März 1944, wurden Franz Chorin und mehrere Mitglieder der Familie im KZ Maria Lanzendorf bei Wien interniert. Sie wurden jedoch bald wieder nach Budapest zurückgebracht, um mit Himmlers Schergen ein Abkommen, „Freiheit gegen totale Enteignung“, zu verhandeln. Eine kleine Satire, die Baron Moritz Kornfeld, Schwager Dr. Chorins, zu diesem Thema geschrieben hat, zeigt ein wenig von dem heilsamen Galgenhumor, der bisweilen weiterhalf: „Abgeschor´n bis auf die Sohle, kam ich in die Metropole. Wo ich freudig unterschieb, dass mir kein Vermögen blieb…“ Die „Metropole“ ist eine Anspielung auf das Hotel Metropol in Wien am Morzinplatz, das die Gestapo zu ihrem Hauptquartier gemacht hatte. Die Verhandlungen dauerten viele Wochen, weil die deutschen Enteigner jedes kleinste Besitzteil einstecken wollten und weil viele Mitglieder der Familie als „Arier“ den Nürnberger Gesetzen gar nicht unterworfen waren. Endlich saßen die 34 ungarischen Reisenden in Unterpurkersdorf und warteten nervös auf die Abfahrt ihres Zuges nach Stuttgart. Die Nervosität war nicht unbegründet. Denn der Zug hätte ebenso einfach nach Osten dirigiert werden können, wo einige Konzentrationslager noch immer bereitstanden. Es wäre nicht der erste deutsche Wortbruch gewesen. Niemand hätte diesen Purkersdorfer Zug jemals wiedergefunden oder zurückgeholt. In den Waggons befanden sich unter anderen auch meine zukünftigen Schwiegereltern und Daisy Chorin, die ich zehn Jahre später in New York kennenlernen sollte und 1956 heiratete. Die damalige Stimmung reflektiert eine weitere Gedichtstrophe Kornfelds: „Nichts mehr auf die Nerven geht, als ein Zug der ewig steht.“

Prügel in Straubing

D

em Straubinger Zuchthaus ging ein schlechter Ruf voraus. Als Leiter fungierte der gefürchtete Hauptwachtmeister Toth, einer der ehemaligen Wächter Adolf Hitlers, als dieser zu Beginn seiner Karriere im Zuchthaus 86

Lebenskreise

nernden Anlagen. Franz Chorin war mit Baronin Daisy Weiss, einer Tochter von Manfred Weiss, verheiratet. Sofort nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Ungarn, am 19. März 1944, wurden Franz Chorin und mehrere Mitglieder der Familie im KZ Maria Lanzendorf bei Wien interniert. Sie wurden jedoch bald wieder nach Budapest zurückgebracht, um mit Himmlers Schergen ein Abkommen, „Freiheit gegen totale Enteignung“, zu verhandeln. Eine kleine Satire, die Baron Moritz Kornfeld, Schwager Dr. Chorins, zu diesem Thema geschrieben hat, zeigt ein wenig von dem heilsamen Galgenhumor, der bisweilen weiterhalf: „Abgeschor´n bis auf die Sohle, kam ich in die Metropole. Wo ich freudig unterschieb, dass mir kein Vermögen blieb…“ Die „Metropole“ ist eine Anspielung auf das Hotel Metropol in Wien am Morzinplatz, das die Gestapo zu ihrem Hauptquartier gemacht hatte. Die Verhandlungen dauerten viele Wochen, weil die deutschen Enteigner jedes kleinste Besitzteil einstecken wollten und weil viele Mitglieder der Familie als „Arier“ den Nürnberger Gesetzen gar nicht unterworfen waren. Endlich saßen die 34 ungarischen Reisenden in Unterpurkersdorf und warteten nervös auf die Abfahrt ihres Zuges nach Stuttgart. Die Nervosität war nicht unbegründet. Denn der Zug hätte ebenso einfach nach Osten dirigiert werden können, wo einige Konzentrationslager noch immer bereitstanden. Es wäre nicht der erste deutsche Wortbruch gewesen. Niemand hätte diesen Purkersdorfer Zug jemals wiedergefunden oder zurückgeholt. In den Waggons befanden sich unter anderen auch meine zukünftigen Schwiegereltern und Daisy Chorin, die ich zehn Jahre später in New York kennenlernen sollte und 1956 heiratete. Die damalige Stimmung reflektiert eine weitere Gedichtstrophe Kornfelds: „Nichts mehr auf die Nerven geht, als ein Zug der ewig steht.“

Prügel in Straubing

D

em Straubinger Zuchthaus ging ein schlechter Ruf voraus. Als Leiter fungierte der gefürchtete Hauptwachtmeister Toth, einer der ehemaligen Wächter Adolf Hitlers, als dieser zu Beginn seiner Karriere im Zuchthaus 86

Prügel in Straubing

Landsberg einsaß. Toth hatte dort scheinbar des Führers volle Sympathien gewonnen, während dieser „Mein Kampf“ verfasste. Derartig viel NS-Adel in einer Person konnte nur Übles bedeuten, und so war es auch tatsächlich. Straubing roch nach einer riesigen Grabkammer, die in zahlreiche Arbeitsbaracken unterteilt war. Während der 14 Monate, die ich in Straubing bis Kriegsende verbrachte, war ich „Stricker“ und „Schneider“. Aber es dürfte in Straubing noch viele andere „Ateliers“ gegeben haben, die wir nicht kannten. Man wohnte zunächst in einer Einzelzelle. Arbeitsbeginn war um sieben Uhr, Arbeitsende um 18 Uhr. Jede Werkstatt wurde von mehreren fachkundigen Wärtern überwacht. Die dort arbeitenden Häftlinge waren zumeist Ex-Politiker aller möglichen europäischen Länder, Luxemburger, Belgier, Holländer, Tschechen, Franzosen und andere. Angeblich soll unter ihnen auch Leon Blum gearbeitet haben, er ist mir jedoch nie begegnet. Die „Stricker“ arbeiteten in Straubing an langen Tischen – man hätte an die Meistersinger denken können – vor großen Maschinen und großen Wollknäueln. Die Hebel der Geräte mussten ständig bewegt werden. Das Endprodukt waren lange Kniestrümpfe. Dort in den Arbeitsbaracken durfte nicht gesprochen werden. Es erforderte daher große mimische Geschicklichkeit, wollte man seinem Nachbarn unbemerkt etwas zuflüstern. Ein österreichischer Freund, der spätere Nationalrat Dr. Viktor Reimann, der auch ein enger Mitarbeiter von Roman Karl Scholz war, wurde „Redakteur“ der Gefängniszeitung „Der Leuchtturm“. So wie ich, war er zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Zuvor hatte er bei dem national beeinflussten Historiker Dr. Srbik an der Wiener Universität studiert. Für die Gefängniszeitung durfte Reimann neben moralisch akzeptablen Erzählungen den Wehrmachtsbericht, wenn auch zwei Wochen verspätet, veröffentlichen. Wir hatten daher verabredet, uns in die Warteschlange vor der medizinischen Ordination einzureihen, wo mir Reimann die neuesten Informationen aus dem Wehrmachtsbericht zuflüsterte. Ich eilte zurück in die Strickerei und wurde bei der Verbreitung dieser Nachrichten erwischt. Tags darauf rief man mich zum Rapport bei Hauptwachtmeister Toth. Nach Nennung meines Namens und Zusammenschlagens meiner Hacken flog sein dicker Schüsselbund gegen meinen Mund. Die Schüssel brachen zwei meiner Zähne aus, worunter ich lange litt. Danach wurde mir das „Urteil“ ver87

Lebenskreise

kündet, zwei Tage und zwei Nächte Kellerhaft. Diese Inszenierung im Keller war sehr „modern“ und einfach. In der Mitte des Raumes stand ein vereister Holzblock, ein Klo in der Ecke. Um fünf Uhr Nachmittag, vor dem Schlafengehen, erhielt ich eine dünne, durchsichtige Baumwolldecke, die am Morgen wieder eingezogen wurde. Die Nahrung bestand aus einer Schnitte Brot und einem kleinen Blechkrug Kaffee. Dazu wurde mir die Bemerkung serviert: „Unsere Soldaten haben nicht einmal das.“ Dann die totale Dunkelheit. Wie verbringt man so die Zeit? Zählen, „Vater unser“ beten, sich selbst Geschichten vortragen. Ich habe auch versucht, die schönen ungarischen Volkslieder meiner Kindheit ins Deutsche zu übersetzen, doch ohne Schreibzeug kam ich damit nicht weit. Es ist kaum vorstellbar, wie langsam unter solchen Umständen die Zeit vergeht. Ein Tag in eisiger Dunkelhaft, gefolgt von einer ebenso eisigen Nacht, ist eine lange Qual. Am übernächsten Tag in der Früh öffnete sich die Tür, Befreiung, ich torkelte zurück in die Strickerei. Sofort musste ich wieder beginnen, zu arbeiten. Plötzlich fielen aus meinem Sitz vier Paar neu gestrickte Strümpfe, die mein Nachbar, ein Luxemburger MP [Member of Parliament, Anm. d. Bearb.], während meiner Kellerkur für mich angefertigt hatte. Es kam die Mittagspause und ich fand unter meinem Sitz sechs dicke Brotscheiben. Die Rührung überkam mich. Ich hatte zumindest einen moralischen Sieg errungen, mit dem auch ein militärischer einherging – denn in diesen zwei Tagen hatten die Alliierten an allen Fronten große Fortschritte gemacht. In der zweiten Straubinger Phase avancierte ich zum Schneider. Ob dies nun tatsächlich ein Aufstieg oder eine Demontage war, blieb unklar. Jedenfalls hatten die Wächter die geheimnisvolle Hilfsaktion meiner Kameraden bemerkt und sicherlich nicht gutgeheißen; sie transferierten mich in eine andere Werkstatt. Ich kannte niemanden in dieser neuen Schneidergruppe. Die Aufgabe der etwa zwanzig in einer Baracke arbeitenden Schneider war die Anfertigung eines Polizeisakkos pro Arbeitstag. Da ich bis dahin noch nie mit einer Nähmaschine in Berührung gekommen war, benötigte ich einige Wochen, um das „Instrumentarium“ bedienen zu lernen und zu verhindern, am Abend mit blutigen Händen in die Zelle zurückzukehren. Frühmorgens wurden von einem eigenen Team Einzelteile aus dem Stoffballen nach Kartonvorlagen zugeschnitten. Das waren Aufgaben für geübte Meister. Dann muss88

der Todesmarsch von Straubing nach Dachau

ten wir, „die Ameisen“, diese Stücke sehr genau zusammennähen. Epauletten und Krägen mussten rangkonform befestigt werden. Abends war „Vorzeigeparade“. Man defilierte an den Inspektoren vorbei. Die Sakko-Ärmel sollten drei Zentimeter neben der Tasche lose fallen. Dazu musste man die Achselhöhlen möglichst weit ausschneiden und dann die Ärmel so einheften, dass alles zusammenpasste. Einem jahrzehntelang praktizierenden Schneider mag die Ärmelpräzision immer gelingen. Wir behalfen uns mit einem Trick: Je mehr Material man aus dem Ärmelloch ausschnitt, desto leichter ließ sich der Ärmel sogar ohne Heften einnähen. Man musste aber auch sehr viel bügeln, was eigentlich verboten war. Das Bügeleisen erfüllte die Funktion eines Flickzeugs. Schließlich spähte das Kriegsende bereits um viele Ecken – waren diese Polizeisakkos überhaupt noch von Nutzen?

Der Todesmarsch von Straubing nach Dachau

A

llmählich waren beängstigende Phänomene zu erkennen. Während man zu Beginn der Haftzeit in Straubing die Nacht allein in einer Einzelzelle verbracht hatte, stieg jetzt der Häftlingsbelag pro Zelle täglich an. Letztlich schliefen in einer Straubinger Zelle bereits sieben Häftlinge. Die Front rückte näher. Große Gefängniskomplexe zwischen der Westfront und Straubing wurden evakuiert und nach Osten verlegt. Auch die Wehrmachtsberichte bestätigten den alliierten Vormarsch. Das Wachpersonal wurde gereizter und nervöser. Da und dort sichtete man schon Beamte in Zivil. Und dann kam der Tag, an dem Oberwachtmeister Toth seinem etwa 6.000-köpfigen „Volk“ verkündete, dass Straubing zu Fuß evakuiert werden müsse. Strategische Pläne wurden selbstverständlich nicht bekannt gegeben. Aber bald sickerte die Nachricht durch, es ginge nach Dachau, das mehr als einhundert Kilometer von Straubing entfernt liegt. Also doch ein blutiges Ende? Die Ausrüstung bestand aus einem Paar Holzpantoffeln, einem grau-blau gestreiften Twill-Anzug, einer Art Bademantel und einer Blechschüssel. Man wurde wiederholt aufgefordert, lange Schlangen zu bilden. In der Kolonne durften keine Zwischenräume entstehen. Das Wachpersonal müsse sich sofort 89

der Todesmarsch von Straubing nach Dachau

ten wir, „die Ameisen“, diese Stücke sehr genau zusammennähen. Epauletten und Krägen mussten rangkonform befestigt werden. Abends war „Vorzeigeparade“. Man defilierte an den Inspektoren vorbei. Die Sakko-Ärmel sollten drei Zentimeter neben der Tasche lose fallen. Dazu musste man die Achselhöhlen möglichst weit ausschneiden und dann die Ärmel so einheften, dass alles zusammenpasste. Einem jahrzehntelang praktizierenden Schneider mag die Ärmelpräzision immer gelingen. Wir behalfen uns mit einem Trick: Je mehr Material man aus dem Ärmelloch ausschnitt, desto leichter ließ sich der Ärmel sogar ohne Heften einnähen. Man musste aber auch sehr viel bügeln, was eigentlich verboten war. Das Bügeleisen erfüllte die Funktion eines Flickzeugs. Schließlich spähte das Kriegsende bereits um viele Ecken – waren diese Polizeisakkos überhaupt noch von Nutzen?

Der Todesmarsch von Straubing nach Dachau

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llmählich waren beängstigende Phänomene zu erkennen. Während man zu Beginn der Haftzeit in Straubing die Nacht allein in einer Einzelzelle verbracht hatte, stieg jetzt der Häftlingsbelag pro Zelle täglich an. Letztlich schliefen in einer Straubinger Zelle bereits sieben Häftlinge. Die Front rückte näher. Große Gefängniskomplexe zwischen der Westfront und Straubing wurden evakuiert und nach Osten verlegt. Auch die Wehrmachtsberichte bestätigten den alliierten Vormarsch. Das Wachpersonal wurde gereizter und nervöser. Da und dort sichtete man schon Beamte in Zivil. Und dann kam der Tag, an dem Oberwachtmeister Toth seinem etwa 6.000-köpfigen „Volk“ verkündete, dass Straubing zu Fuß evakuiert werden müsse. Strategische Pläne wurden selbstverständlich nicht bekannt gegeben. Aber bald sickerte die Nachricht durch, es ginge nach Dachau, das mehr als einhundert Kilometer von Straubing entfernt liegt. Also doch ein blutiges Ende? Die Ausrüstung bestand aus einem Paar Holzpantoffeln, einem grau-blau gestreiften Twill-Anzug, einer Art Bademantel und einer Blechschüssel. Man wurde wiederholt aufgefordert, lange Schlangen zu bilden. In der Kolonne durften keine Zwischenräume entstehen. Das Wachpersonal müsse sich sofort 89

Lebenskreise

in solche Zwischenräume einreihen. Es bestehe Erschießungsgefahr bei Nichteinhaltung dieser Vorschriften. Der große Tag der Evakuierung von Straubing brach um sechs Uhr früh an. Er versprach nichts Gutes. Es hatte bereits viele Tage mehr als je zuvor geregnet, auch in der Nacht vor dem Aufbruch. Hauptwachtmeister Toth saß wie Napoleon zu Pferd an der Spitze seiner Truppen. Sein Gebrüll ließ die Befehle unverständlich verhallen. Zwei bis drei Kilometer ging es bergab, rechts und links vom Schotterweg eines großen Futterrübenfeldes. Etwa eine halbe Stunde lang verlief der Marsch ruhig. Plötzlich erschienen am Himmel fünf, dann zehn, dann zwanzig amerikanische Abfangjäger. Unruhe machte sich breit. Würden sie auf uns schießen? Wir verkrochen uns in die Rübenfurchen am Rande der Felder. Aber sie schossen nicht. Sie „tänzelten“ ziemlich tief über unseren Köpfen und winkten mit etwas Tuchartigem – vielleicht mit der US-Flagge. Wir antworteten enthusiastisch mit den Blechschalen. Sofort entstand ein heilloses Durcheinander. Einige Kolonnen begannen sich aufzulösen, die ersten Bewacher verschwanden. Vermutlich trugen sie Zivilkleidung unter den Uniformen. Vom Beginn des Marsches an waren die einzelnen Nationalgruppen beisammengeblieben, weil wir annahmen, dass wir nach einer Befreiung auch wieder als geschlossene nationale Einheit behandelt werden würden. So kam es dann auch. Ein Dutzend Österreicher hielt wie Pech und Schwefel zusammen, darunter waren Abt Sylvester Birngruber von Willhering, Viktor Reimann, Graf Alfred Orssich und andere, an deren Namen ich mich nicht erinnere. Am Himmel, als ständige Begleiter, alliierte Kampflugzeuge und Ströme von Regen, die jeden Schritt zur Qual machten. Die anfangs lange geschlossene Kolonne war jetzt praktisch aufgelöst. Man befürchtete Liquidierungen separierter Gruppen, aber nichts dergleichen passierte. Die zweite verregnete Nacht verbrachten wir auf freiem Feld. Dann und wann pflückte man eine Rübe und steckte sie sich in den Mund, allgemeine Verköstigung gab es keine mehr. Zuletzt entledigten wir uns verzweifelt der regenschweren Mäntel. Unser österreichisches Trüppchen näherte sich einem kleinen, von dichten Weiden gesäumten Fluss, der Amper. Wir wateten im Dauerregen den Flussdamm entlang. Da hörten wir plötzlich Gefechtslärm und Schüsse. Aus dem Nebel erschienen sechs US-Panzer, die einige deutsche 90

Heimwärts auf der falschen Seite

Jeeps vor sich hertrieben. Das war unser Moment. Wir Österreicher ließen uns den Damm herunterrollen und verschwanden im Weidengestrüpp der Amper. Alle Wächter waren bereits längst verschwunden. Das Gefecht konnte man vom Versteck in der Au aus genau beobachten. Die US-Tanks warfen einige Konserven und Flaschen in unsere Richtung. Wir versuchten, sie zu ergattern. Da wurde die Au der Amper lebendig. Gefangene aus allen Richtungen stürzten sich auf die noch verbliebenen Konserven. Für uns Österreicher blieben nur einige Flaschen Rotwein. Doch die Gefahr war noch nicht gebannt. Wir hatten in der Aufregung übersehen, in welche Richtung sich die Deutschen, in welche sich die USPanzer entfernt hatten. Wohin sollten wir Häftlinge weiterziehen? In den Auen waren wir nicht sicher. Heckenschützen konnten hinter jedem Baum lauern. Wir folgten einer tiefen Panzerspur in Richtung der Ortschaft Oberhummel. Es regnete noch immer, wir waren dem körperlichen Zusammenbruch nahe. Nach zwei weiteren Stunden Fußmarsches fanden wir „unsere“ US-Panzer am Ortsrand von Oberhummel wieder. Wir hatten uns also selbst befreit. Der anderen Spur zu folgen, jener der Jeeps, hätte bedeutet, den Deutschen direkt vor die Rohre zu laufen. Sie hätten uns wahrscheinlich wie Hasen auf einer Treibjagd abgeschossen. Wir trugen schließlich noch immer unsere nassen Zuchthausfetzen. Am späteren Abend des 8. Mai 1945 ergaben sich die Deutschen. Der Krieg war zumindest für uns in Oberhummel, in der Umgebung der prachtvollen Kathedrale von Freising, zu Ende.

Heimwärts auf der falschen Seite

J

etzt mussten einige Tausend befreite und geflüchtete Häftlinge untergebracht werden. Während sich die Einwohner von Oberhummel nach dem Ende des kriegerischen Gefechts zunächst unsichtbar gemacht hatten, wurden sie von den amerikanischen Megafonkommandos bald wieder ans Tageslicht geordert. Das US-Kommando forderte in deutscher Sprache für uns Häftlinge Häuser und Wohnungen sowie Lebensmittel und Kleidung, die innerhalb von 91

Heimwärts auf der falschen Seite

Jeeps vor sich hertrieben. Das war unser Moment. Wir Österreicher ließen uns den Damm herunterrollen und verschwanden im Weidengestrüpp der Amper. Alle Wächter waren bereits längst verschwunden. Das Gefecht konnte man vom Versteck in der Au aus genau beobachten. Die US-Tanks warfen einige Konserven und Flaschen in unsere Richtung. Wir versuchten, sie zu ergattern. Da wurde die Au der Amper lebendig. Gefangene aus allen Richtungen stürzten sich auf die noch verbliebenen Konserven. Für uns Österreicher blieben nur einige Flaschen Rotwein. Doch die Gefahr war noch nicht gebannt. Wir hatten in der Aufregung übersehen, in welche Richtung sich die Deutschen, in welche sich die USPanzer entfernt hatten. Wohin sollten wir Häftlinge weiterziehen? In den Auen waren wir nicht sicher. Heckenschützen konnten hinter jedem Baum lauern. Wir folgten einer tiefen Panzerspur in Richtung der Ortschaft Oberhummel. Es regnete noch immer, wir waren dem körperlichen Zusammenbruch nahe. Nach zwei weiteren Stunden Fußmarsches fanden wir „unsere“ US-Panzer am Ortsrand von Oberhummel wieder. Wir hatten uns also selbst befreit. Der anderen Spur zu folgen, jener der Jeeps, hätte bedeutet, den Deutschen direkt vor die Rohre zu laufen. Sie hätten uns wahrscheinlich wie Hasen auf einer Treibjagd abgeschossen. Wir trugen schließlich noch immer unsere nassen Zuchthausfetzen. Am späteren Abend des 8. Mai 1945 ergaben sich die Deutschen. Der Krieg war zumindest für uns in Oberhummel, in der Umgebung der prachtvollen Kathedrale von Freising, zu Ende.

Heimwärts auf der falschen Seite

J

etzt mussten einige Tausend befreite und geflüchtete Häftlinge untergebracht werden. Während sich die Einwohner von Oberhummel nach dem Ende des kriegerischen Gefechts zunächst unsichtbar gemacht hatten, wurden sie von den amerikanischen Megafonkommandos bald wieder ans Tageslicht geordert. Das US-Kommando forderte in deutscher Sprache für uns Häftlinge Häuser und Wohnungen sowie Lebensmittel und Kleidung, die innerhalb von 91

Lebenskreise

fünf Stunden an einem Sammelplatz abzuliefern waren. Autos und LKWs sollten leihweise zur Verfügung gestellt werden. „Eigentlich ganz richtig“, hörte ich einige deutsche Einwohner sich äußern. Jetzt erwachte das Dorf zu neuem Leben. Man schleppte, schob und bemühte sich, dem Nachbarn zuvorzukommen. Aber wer erhielt nun die besten Häuser, Wohnungen, die reinste Kleidung und die meiste Nahrung? Freilich die Franzosen, Polen, Tschechen, Holländer und Belgier, alle, die auf alliierter Seite gekämpft hatten, bei den Partisanen oder in der Résistance. Wo wurden die Österreicher untergebracht? Im Heuschober einer großen Scheune. Bequem, aber doch erniedrigend. Erst drei Wochen später, nachdem Angehörige anderer Nationalitäten vom Roten Kreuz heimbefördert worden waren, durften wir in Zimmer und Häuser einziehen. Es war genau so, wie wir es in vielen Gesprächen über den Widerstand vorausgesagt hatten: Wer wenig oder nichts für die Sieger leistete, wurde auch nicht belohnt. Weder materiell noch außenpolitisch. Wer sich nicht rechtzeitig auf der Seite der Sieger eingereiht hatte, dem half eine spätere Teilnahme nichts mehr. Die oft zitierte Widerstandgruppe Ö 5 wurde erst in den letzten Kriegsmonaten für Österreich aktiv. Die Gruppe Roman Karl Scholz dagegen war bereits 1938 gebildet worden. Vielleicht hätten uns erfolgreiche Verhandlungen mit den Franzosen geholfen. Aber sie waren an der Gestapo und Hartmann gescheitert.

Das Ende des Hauptwachmeisters Toth

I

n Oberhummel herrschte doch grundsätzlich Freundschaft und Harmonie. Zumindest war keinerlei Animosität zwischen den Nationalitäten zu verspüren. Viele daheim wussten nicht einmal, ob ihre Lieben noch lebten. Ich wusste wenigstens, dass Mutter und Schwester vor den Russen aus Majorháza über Wien weiter nach dem Westen geflüchtet waren. In Wien hatten sie noch kurz mit meiner Großmutter telefoniert und sind dann weiter Richtung Tirol geflohen. Dies berichtete mir meine Großmutter am Telefon aus Wien nach Oberhummel. Die Räumung des Ortes ging schnell vor sich. Zunächst wurden wir Österreicher in italienische Khaki-Uniformen gesteckt. Die alten gestreiften 92

Lebenskreise

fünf Stunden an einem Sammelplatz abzuliefern waren. Autos und LKWs sollten leihweise zur Verfügung gestellt werden. „Eigentlich ganz richtig“, hörte ich einige deutsche Einwohner sich äußern. Jetzt erwachte das Dorf zu neuem Leben. Man schleppte, schob und bemühte sich, dem Nachbarn zuvorzukommen. Aber wer erhielt nun die besten Häuser, Wohnungen, die reinste Kleidung und die meiste Nahrung? Freilich die Franzosen, Polen, Tschechen, Holländer und Belgier, alle, die auf alliierter Seite gekämpft hatten, bei den Partisanen oder in der Résistance. Wo wurden die Österreicher untergebracht? Im Heuschober einer großen Scheune. Bequem, aber doch erniedrigend. Erst drei Wochen später, nachdem Angehörige anderer Nationalitäten vom Roten Kreuz heimbefördert worden waren, durften wir in Zimmer und Häuser einziehen. Es war genau so, wie wir es in vielen Gesprächen über den Widerstand vorausgesagt hatten: Wer wenig oder nichts für die Sieger leistete, wurde auch nicht belohnt. Weder materiell noch außenpolitisch. Wer sich nicht rechtzeitig auf der Seite der Sieger eingereiht hatte, dem half eine spätere Teilnahme nichts mehr. Die oft zitierte Widerstandgruppe Ö 5 wurde erst in den letzten Kriegsmonaten für Österreich aktiv. Die Gruppe Roman Karl Scholz dagegen war bereits 1938 gebildet worden. Vielleicht hätten uns erfolgreiche Verhandlungen mit den Franzosen geholfen. Aber sie waren an der Gestapo und Hartmann gescheitert.

Das Ende des Hauptwachmeisters Toth

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n Oberhummel herrschte doch grundsätzlich Freundschaft und Harmonie. Zumindest war keinerlei Animosität zwischen den Nationalitäten zu verspüren. Viele daheim wussten nicht einmal, ob ihre Lieben noch lebten. Ich wusste wenigstens, dass Mutter und Schwester vor den Russen aus Majorháza über Wien weiter nach dem Westen geflüchtet waren. In Wien hatten sie noch kurz mit meiner Großmutter telefoniert und sind dann weiter Richtung Tirol geflohen. Dies berichtete mir meine Großmutter am Telefon aus Wien nach Oberhummel. Die Räumung des Ortes ging schnell vor sich. Zunächst wurden wir Österreicher in italienische Khaki-Uniformen gesteckt. Die alten gestreiften 92

Nach Salzburg

Zuchthausanzüge, noch immer nicht ganz trocken, wurden auf einem großen Scheiterhaufen verbrannt. Ein kurzer Abstecher im Jeep zurück ins Zuchthaus Straubing, wo der letzte Abschnitt unseres Kreuzwegs begonnen hatte, führte zu den alten Zivilkleidern zurück, in denen wir verhaftet worden waren. Alles war noch so aufbewahrt, wie es im Wiener Landesgericht abgelegt worden war. An mangelnder Ordnung ist das Dritte Reich sicher nicht zugrunde gegangen. Eine letzte Episode, von mehreren Häftlingen miterlebt, betrifft das Ende des Hauptwachtmeisters Toth. Er war mit seinem Tross auf eine amerikanische Panzereinheit gestoßen. Da er nicht Englisch sprach, las er von einem Blatt Papier: „Ich habe den Auftrag, diese von mir geführten Zuchthäusler in das KZ Dachau zu bringen und dort der deutschen Polizeileitung abzuliefern.“ Er sei geschlagen worden, vom Pferde gerissen und inhaftiert, ist überliefert, die Gefangenen wurden sofort befreit.

Nach Salzburg

A

ls letzte aller Häftlingsgruppen wurden wir Österreicher per delaboriertem Lastwagen aus Oberhummel nach Salzburg verfrachtet. Dort schien es fast unmöglich, eine Unterkunft zu finden. Flüchtlingskolonnen aller Länder strömten in die Stadt. Ich hätte bei einigen Freunden anklopfen können, aber Pater Birngruber, der unsere Gruppe anführte, brachte uns im Priesterseminar des Salzburger Erzbistums am Makartplatz unter. Als

27. In Salzburg, um 1946.

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Nach Salzburg

Zuchthausanzüge, noch immer nicht ganz trocken, wurden auf einem großen Scheiterhaufen verbrannt. Ein kurzer Abstecher im Jeep zurück ins Zuchthaus Straubing, wo der letzte Abschnitt unseres Kreuzwegs begonnen hatte, führte zu den alten Zivilkleidern zurück, in denen wir verhaftet worden waren. Alles war noch so aufbewahrt, wie es im Wiener Landesgericht abgelegt worden war. An mangelnder Ordnung ist das Dritte Reich sicher nicht zugrunde gegangen. Eine letzte Episode, von mehreren Häftlingen miterlebt, betrifft das Ende des Hauptwachtmeisters Toth. Er war mit seinem Tross auf eine amerikanische Panzereinheit gestoßen. Da er nicht Englisch sprach, las er von einem Blatt Papier: „Ich habe den Auftrag, diese von mir geführten Zuchthäusler in das KZ Dachau zu bringen und dort der deutschen Polizeileitung abzuliefern.“ Er sei geschlagen worden, vom Pferde gerissen und inhaftiert, ist überliefert, die Gefangenen wurden sofort befreit.

Nach Salzburg

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ls letzte aller Häftlingsgruppen wurden wir Österreicher per delaboriertem Lastwagen aus Oberhummel nach Salzburg verfrachtet. Dort schien es fast unmöglich, eine Unterkunft zu finden. Flüchtlingskolonnen aller Länder strömten in die Stadt. Ich hätte bei einigen Freunden anklopfen können, aber Pater Birngruber, der unsere Gruppe anführte, brachte uns im Priesterseminar des Salzburger Erzbistums am Makartplatz unter. Als

27. In Salzburg, um 1946.

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Lebenskreise

wir dort einen langen Korridor betraten, waren bereits an die fünfzig blütenweiß überzogene Betten nebst Nachtkästchen in Reih und Glied aufgestellt. Dieser Gang wurde durch mehrere Wochen unsere Behausung. Die Verköstigung übernahm die Stadt Salzburg im Restaurant „Bratwurstglöckerl“. Bekleidung und Schuhe kamen aus israelischen Quellen. Zunächst verbrachte ich im Salzburger Landeskrankenhaus eine mehrwöchige Mast- und Erholungskur. Zufällig fiel ich in die Hände meines Schularztes Dr. Zeska aus dem Theresianum. Er war inzwischen Leiter des großen Salzburger Landeskrankenhauses geworden und nahm sich vor, mein Nettogewicht von dreißig Kilo aufzubessern. Nach drei Wochen fühlte ich mich wie neugeboren und bereit, in den Wiederaufbau einzusteigen. Ich hatte das Dritte Reich überlebt und war 26 Jahre alt.

Salzburger Rendezvous

I

n Salzburg traf man sich oft auf der Staatsbrücke. Die große Passage über die Salzach war über Monate das Stelldichein unzähliger Menschen aus allen Himmelsrichtungen. Eines Tages, als ich dem schmutzigen Salzachwasser nachblickte, das sich später mit der Donau in Richtung Wien verbinden würde, klopfte mir ein alter Wiener Freund, Vicki Wittgenstein, auf die Schulter. Er las auf seiner Taschenuhr zwölf Uhr Mittag. Die große Turmuhr bestätigte dies mit lauten, bestimmten Schlägen: „Jetzt heiratet gerade dein alter Flirt in Wien.“ Das Wort „Flirt“ schwirrte wie ein lästiges Insekt um meine Ohren. Dann sprudelten von Vickis Lippen weitere für mich neue Nachrichten aus Wien. Das Ehepaar B. wurde im Heinrichshof von Bomben erschlagen. Dieser Freund war in Russland, ein anderer in Afrika gefallen. Das waren eben die Tagesthemen in Wien während meiner Abwesenheit. Ich konnte daher nicht diminutiv antworten: „Elf meiner Freunde wurden im Wiener Landesgericht geköpft.“ Where have all the flowers gone?19

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Lebenskreise

wir dort einen langen Korridor betraten, waren bereits an die fünfzig blütenweiß überzogene Betten nebst Nachtkästchen in Reih und Glied aufgestellt. Dieser Gang wurde durch mehrere Wochen unsere Behausung. Die Verköstigung übernahm die Stadt Salzburg im Restaurant „Bratwurstglöckerl“. Bekleidung und Schuhe kamen aus israelischen Quellen. Zunächst verbrachte ich im Salzburger Landeskrankenhaus eine mehrwöchige Mast- und Erholungskur. Zufällig fiel ich in die Hände meines Schularztes Dr. Zeska aus dem Theresianum. Er war inzwischen Leiter des großen Salzburger Landeskrankenhauses geworden und nahm sich vor, mein Nettogewicht von dreißig Kilo aufzubessern. Nach drei Wochen fühlte ich mich wie neugeboren und bereit, in den Wiederaufbau einzusteigen. Ich hatte das Dritte Reich überlebt und war 26 Jahre alt.

Salzburger Rendezvous

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n Salzburg traf man sich oft auf der Staatsbrücke. Die große Passage über die Salzach war über Monate das Stelldichein unzähliger Menschen aus allen Himmelsrichtungen. Eines Tages, als ich dem schmutzigen Salzachwasser nachblickte, das sich später mit der Donau in Richtung Wien verbinden würde, klopfte mir ein alter Wiener Freund, Vicki Wittgenstein, auf die Schulter. Er las auf seiner Taschenuhr zwölf Uhr Mittag. Die große Turmuhr bestätigte dies mit lauten, bestimmten Schlägen: „Jetzt heiratet gerade dein alter Flirt in Wien.“ Das Wort „Flirt“ schwirrte wie ein lästiges Insekt um meine Ohren. Dann sprudelten von Vickis Lippen weitere für mich neue Nachrichten aus Wien. Das Ehepaar B. wurde im Heinrichshof von Bomben erschlagen. Dieser Freund war in Russland, ein anderer in Afrika gefallen. Das waren eben die Tagesthemen in Wien während meiner Abwesenheit. Ich konnte daher nicht diminutiv antworten: „Elf meiner Freunde wurden im Wiener Landesgericht geköpft.“ Where have all the flowers gone?19

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Die Marine für Dr. Gruber

V

on der gegenüberliegenden Seite der Brücke winkte Herbert Braunsteiner, ein anderer Freund, und eilte auf uns zu. Herbert war während des Krieges in Frankreich versteckt gewesen. Er hatte den Rhein Richtung Heimat durchschwommen, die Enns Richtung Salzburg. Damals musste man ungewöhnliche Verkehrswege einschlagen. Der Zugverkehr war gefährlich, die Russen holten sich an der Grenzstation Enns Personen aus den Waggons, die ihnen interessant schienen. Manche, wie die Sektionschefin Dr. Margarete Ottilinger, kamen erst einige Jahre später mit den Kriegsgefangenen aus Sibirien zurück. Nach Kriegsende hatte sich Braunsteiner in der österreichischen Innenpolitik engagiert und wurde als Sekretär des ersten Unterrichtsministers Dr. Hurdes eines der Gründungsmitglieder der ÖVP. Seine Aufgabe war es, die lokalen, neu errichteten ÖVP-Gruppen zu informieren und zu koordinieren. Man musste sie besuchen und ihnen das Neueste aus Wien erzählen, Post gab es noch keine. Die neuen ÖVP-Filialen arbeiteten unter dem Einfluss der Besatzungsmächte. Diese hatten, jede für sich, ihre politischen Favoriten in Österreich. In Wien standen freilich Dr. Leopold Figl und Julius Raab im Vordergrund. Den Sowjets lagen die Sozialisten Dr. Karl Renner und General Theodor Körner näher. In Salzburg wählten die Amerikaner den Anwalt Dr. Möbius, den ehemaligen Bürgermeister von Klagenfurt, zu ihrem Favoriten. Er hatte fast den ganzen Krieg über im Konzentrationslager verbracht. So besaß jede Besatzungsmacht ihr eigenes Steckenpferd. Außerdem näherten sich die ersten freien Wahlen, die vorbereitet werden mussten. Zuvor aber wurde mit den Sowjets in Niederösterreich über die Gründung einer provisorischen Regierung und über die Wiedereröffnung des alten Parlaments verhandelt. Dabei passierte ein von allen Teilnehmern laut belachtes Intermezzo, das wert ist, als historische Anekdote vermerkt zu werden. Bei der Regierungsaufstellung des Provisoriums mussten bereits gewisse Verfassungsregeln eingehalten werden. Drei Vertreter der drei politischen Parteien (ÖVP, SPÖ, KPÖ) sollten berücksichtigt werden, ebenso die Vertreter der neun Länder, also die acht Landeshauptleute und der Bürgermeister von Wien. Das war ein schwieriges Zusammensetzen von Puzzlesteinen. Dabei wurde leider der 95

Lebenskreise

Tiroler Landeshauptmann Dr. Karl Gruber vergessen. Aber Dr. Gruber, ein wichtiger Außenpolitiker der ÖVP und Tiroler Landeshauptmann, der in der letzten Phase des Widerstandes sehr aktiv war, durfte einfach nicht fehlen. Was tun? Eine neue provisorische Regierung zusammenbasteln? Da meldete sich ein Spaßmacher und rief laut in den Saal: „Gebt’s eam, dem Gruber, die Marine.“ Homerisches Lachen. Karl Gruber wurde aber schließlich doch Außenminister, eine Position, die er durch viele Jahre bekleidete, zunächst zu jedermanns Zufriedenheit. Die allerseits als frei anerkannten Wahlen erfolgten am 25. November 1945. Sie endeten mit einer überraschenden Niederlage der KPÖ mit nur vier Mandaten, die ÖVP erhielt 85 und die SPÖ 76 Mandate. Dabei versuchten die Sowjets jegliche Art der Machtausübung in den von ihnen politisch kontrollierten Industrien zu entfalten. Leopold Figl, die sehr populäre Lichtgestalt des Landes, wurde erster Bundeskanzler.

Verbleibe weiter in Salzburg

I

ch musste jetzt einige wichtige persönliche Entscheidungen treffen. Mit meinem slowakisch-ungarischen Reisepass und vielen Dokumenten, die mich als Widerstandskämpfer und Antifaschisten auswiesen, hätte ich mich ungehindert von Salzburg nach Majorháza und Bratislava bewegen können. Aber einige mit mir in Straubing inhaftierte tschechoslowakische Politiker hatten mich gewarnt: „Deine tschechischen Sprachkenntnisse sind dürftig. Jetzt kommt bei uns die Zeit der langen Messer. Wenn du Pech hast, werden dich unsere Landsleute mit Tausenden Sudetendeutschen wohl nach Deutschland abschieben. Ein weiteres Lagerleben würdest du kaum überstehen.“ Die mich beratenden tschechoslowakischen Häftlinge waren ein sozialistischer Abgeordneter aus Kladno, Josef Hladky, und Josef Kyn, Generaldirektor der Tschechoslowakischen Nationalbank, sowie Dr. Josef Wranek aus Češky Brod, Staatssekretär im Prager Unterrichtsministerium. Die Überlegung der Tschechen in Straubing war richtig gewesen. Der Gutsbesitz Majorháza wurde sofort enteignet und mir sehr viel später, erst nach dem Ende des Kommunismus, teilweise restituiert. 96

Lebenskreise

Tiroler Landeshauptmann Dr. Karl Gruber vergessen. Aber Dr. Gruber, ein wichtiger Außenpolitiker der ÖVP und Tiroler Landeshauptmann, der in der letzten Phase des Widerstandes sehr aktiv war, durfte einfach nicht fehlen. Was tun? Eine neue provisorische Regierung zusammenbasteln? Da meldete sich ein Spaßmacher und rief laut in den Saal: „Gebt’s eam, dem Gruber, die Marine.“ Homerisches Lachen. Karl Gruber wurde aber schließlich doch Außenminister, eine Position, die er durch viele Jahre bekleidete, zunächst zu jedermanns Zufriedenheit. Die allerseits als frei anerkannten Wahlen erfolgten am 25. November 1945. Sie endeten mit einer überraschenden Niederlage der KPÖ mit nur vier Mandaten, die ÖVP erhielt 85 und die SPÖ 76 Mandate. Dabei versuchten die Sowjets jegliche Art der Machtausübung in den von ihnen politisch kontrollierten Industrien zu entfalten. Leopold Figl, die sehr populäre Lichtgestalt des Landes, wurde erster Bundeskanzler.

Verbleibe weiter in Salzburg

I

ch musste jetzt einige wichtige persönliche Entscheidungen treffen. Mit meinem slowakisch-ungarischen Reisepass und vielen Dokumenten, die mich als Widerstandskämpfer und Antifaschisten auswiesen, hätte ich mich ungehindert von Salzburg nach Majorháza und Bratislava bewegen können. Aber einige mit mir in Straubing inhaftierte tschechoslowakische Politiker hatten mich gewarnt: „Deine tschechischen Sprachkenntnisse sind dürftig. Jetzt kommt bei uns die Zeit der langen Messer. Wenn du Pech hast, werden dich unsere Landsleute mit Tausenden Sudetendeutschen wohl nach Deutschland abschieben. Ein weiteres Lagerleben würdest du kaum überstehen.“ Die mich beratenden tschechoslowakischen Häftlinge waren ein sozialistischer Abgeordneter aus Kladno, Josef Hladky, und Josef Kyn, Generaldirektor der Tschechoslowakischen Nationalbank, sowie Dr. Josef Wranek aus Češky Brod, Staatssekretär im Prager Unterrichtsministerium. Die Überlegung der Tschechen in Straubing war richtig gewesen. Der Gutsbesitz Majorháza wurde sofort enteignet und mir sehr viel später, erst nach dem Ende des Kommunismus, teilweise restituiert. 96

Entlastet oder belastet?

Die Zeit war unberechenbar. Heute wurde man als antifaschistischer Held gefeiert, dem gerade noch der Kopf auf den Schultern verblieben war, morgen wurde man als „eine Art Deutscher“ bedroht, der angeblich ČSR-Interessen verletzte. Gerhard Scholten, der Vater des späteren österreichischen Ministers für Wissenschaft, Forschung und Kunst, Rudolf Scholten, war im Krieg tatsächlich von den Nationalsozialisten in Auschwitz inhaftiert gewesen, später als Deutscher von den Tschechen in Theresienstadt gefangen gehalten worden. So blieb ich zunächst in Salzburg und stellte mich auf Österreich ein. Da Publizistik und Politik im Vordergrund meiner Interessen standen und sich damit wohl am meisten bewegen ließ, war mein beruflicher Weg einigermaßen vorbestimmt. Politisch war der Großteil unserer Widerstandsgruppe eher konservativ positioniert gewesen. Als nun Herbert Braunsteiner als Bote aus Wien bekräftigte, dass die ÖVP aufgrund ihrer christlich-sozialen Tradition als treibende Kraft wahrnehmbar wurde, schien sich alles zu fügen. Salzburg wurde zum Knotenpunkt.

Entlastet oder belastet?

J

etzt hatte ich genügend Zeit, nachzudenken. Die im Jahr 1938 gehegte Hoffnung, das Dritte Reich zu überleben, hatte sich erfüllt. Trotz der gewaltigen Übermacht der Nationalsozialisten, die zu Beginn des Krieges von Blitzsieg zu Blitzsieg eilten, hatte mir die Teilnahme am Widerstand, das aktive Auftreten gegen die Nazis, das Leben gerettet. Ich hatte zwar einige Jahre in Gefängnissen und Zuchthäusern gelitten, aber die Vernichtungslager waren mir erspart geblieben, ebenso der Tod auf dem Schlachtfeld oder das Schafott. Von unseren Gefängniszellen aus konnten wir zusehen, wie das Dritte Reich verbrannte. Die deutschen Justizbehörden wählten für uns „bürgerliche Verbrecher“ ein langsames Verfahren der Gesetzesvollstreckung, die zwar für elf meiner Kameraden am Schafott endete, für die Mehrzahl aber in Freiheit. Wo wären wir heute, hätten wir passiv die Order der Nazis befolgt? Die Überlegung, dass Aktivismus doch über Passivität siegt, hat mich immerhin über das 92. Lebensjahr hinausgehoben. Es macht Sinn, den Gegner herauszufordern, 97

Entlastet oder belastet?

Die Zeit war unberechenbar. Heute wurde man als antifaschistischer Held gefeiert, dem gerade noch der Kopf auf den Schultern verblieben war, morgen wurde man als „eine Art Deutscher“ bedroht, der angeblich ČSR-Interessen verletzte. Gerhard Scholten, der Vater des späteren österreichischen Ministers für Wissenschaft, Forschung und Kunst, Rudolf Scholten, war im Krieg tatsächlich von den Nationalsozialisten in Auschwitz inhaftiert gewesen, später als Deutscher von den Tschechen in Theresienstadt gefangen gehalten worden. So blieb ich zunächst in Salzburg und stellte mich auf Österreich ein. Da Publizistik und Politik im Vordergrund meiner Interessen standen und sich damit wohl am meisten bewegen ließ, war mein beruflicher Weg einigermaßen vorbestimmt. Politisch war der Großteil unserer Widerstandsgruppe eher konservativ positioniert gewesen. Als nun Herbert Braunsteiner als Bote aus Wien bekräftigte, dass die ÖVP aufgrund ihrer christlich-sozialen Tradition als treibende Kraft wahrnehmbar wurde, schien sich alles zu fügen. Salzburg wurde zum Knotenpunkt.

Entlastet oder belastet?

J

etzt hatte ich genügend Zeit, nachzudenken. Die im Jahr 1938 gehegte Hoffnung, das Dritte Reich zu überleben, hatte sich erfüllt. Trotz der gewaltigen Übermacht der Nationalsozialisten, die zu Beginn des Krieges von Blitzsieg zu Blitzsieg eilten, hatte mir die Teilnahme am Widerstand, das aktive Auftreten gegen die Nazis, das Leben gerettet. Ich hatte zwar einige Jahre in Gefängnissen und Zuchthäusern gelitten, aber die Vernichtungslager waren mir erspart geblieben, ebenso der Tod auf dem Schlachtfeld oder das Schafott. Von unseren Gefängniszellen aus konnten wir zusehen, wie das Dritte Reich verbrannte. Die deutschen Justizbehörden wählten für uns „bürgerliche Verbrecher“ ein langsames Verfahren der Gesetzesvollstreckung, die zwar für elf meiner Kameraden am Schafott endete, für die Mehrzahl aber in Freiheit. Wo wären wir heute, hätten wir passiv die Order der Nazis befolgt? Die Überlegung, dass Aktivismus doch über Passivität siegt, hat mich immerhin über das 92. Lebensjahr hinausgehoben. Es macht Sinn, den Gegner herauszufordern, 97

Lebenskreise

manchmal auch nur durch einen „Insektenstich“. Es muss jedoch Absicht und Entschlossenheit erkennbar sein. Man hat mich nach Kriegsende oft gefragt, ob mich die Erlebnisse während meines Einsatzes im Widerstand, also die Reminiszenzen an Einvernahmen bei der Gestapo, die Verhandlung vor dem Volksgericht, die lange Haft und häufige Befürchtungen, unter dem Schafott zu sterben, gezeichnet hätten. Selbst kann man das schwer beurteilen. Die vielen Jahre, die auf diese Widerstandsperiode folgten, zeigten mir wenig gesundheitliche Schäden oder nervliche Störungen an. Ich dürfte wohl irgendwann vorsichtshalber eine harte Platte eingezogen haben, um meine verwundbaren Organe zu schützen, und doch empfinde ich, dass ich gelegentlich anders funktioniere als andere Menschen meiner Umwelt. Ich habe mich in einer Einzelzelle im Zuchthaus immer wohler gefühlt, als mit Mithäftlingen, deren Reden und Denken man aus längerer Gewohnheit schon im Voraus kannte. Vielleicht ist man für sich selbst die größte Überraschung. Vielleicht verkümmern in fünf Jahren Haft die Rezeptoren für allgemeine Wahrnehmungen, spezielle Empfindlichkeiten entwickeln sich weiter. Man büßt vielleicht etwas Verständnis für das normale Leben ein. Es passiert auch immer seltener, dass man in harmonischen Gleichklang mit den Schwingungen von Menschen gerät, die ähnlich gestimmt sind, wie man selbst. Wenn ja, dann ist es so, als ob beide Instrumente in der gleichen Tonart vom gleichen Stimmer aufeinander eingestellt wurden. Die Schwingungen harmonieren wie die Wellen, ob sie vom erhellenden Blick, von der Tonalität der Sprache oder von gleichen Überlegungen ihren Ausgang nehmen. Es ist die Selbstanalyse, das Aufschreiben der Erinnerungen, das Beobachten einiger weniger Nahestehender, wie ein Spiel auf einem eigenen SoloInstrument. Soweit konnte ich meine eigenen Veränderungen verspüren und vielleicht auf meine Zwangsisolation zurückführen. Auch die Jagd isoliert und beschränkt den Kontakt auf die Natur und das verborgene Wild. Vielleicht war sie deshalb immer meine große Leidenschaft. Auch die intensive Befassung mit Kunst und Geschichte hat mir immer über ansonsten Fehlendes hinweggeholfen.

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Die Salzburger Nachrichten

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inige Zeit später wurden Viktor Reimann und ich als Redakteure bei der neuen US-Tageszeitung „Salzburger Nachrichten“ eingestellt. Herbert Braunsteiner hatte sich wohl erfolgreich für uns beide bei den Amerikanern eingesetzt. Als eines ihrer höchsten Ziele hatten sich die amerikanischen Besatzer die völlige Ausrottung der NS-Ideologie zur Aufgabe gestellt. Das bedeutete eine Erneuerung des Erziehungssystems und die Einführung der vollkommenen Meinungsfreiheit in der Publizistik. Die in Salzburg stationierte US-Heeresgruppe „Rainbow Division“ übernahm die Ausführung dieses Planes. Falls ideologisch überhaupt einzuordnen, könnte man die „Salzburger Nachrichten“ als liberal bezeichnen. Die Zeitung existiert noch immer in Österreich und zieht auch heute eine stabile Leserschaft an. Ein talentierter Berliner, der in Hollywood beschäftigte Grafiker Louis Ehrmann, war unser erster Chefredakteur. Zunächst mangelte es an Druckpapier. Als die Zeitung dann tatsächlich erschien, war man in Salzburg über eine politisch ungebundene Gazette wesentlich glücklicher, als über die propagandistische NS-Presse. In der ersten Zeit wurden amerikanische Themen etwas in den Vordergrund gestellt, nach einigen Monaten fand man zu einem objektiven Gleichgewicht. Viktor Reimann bearbeitete die Kultur, ich die Außenpolitik. Wir waren zwar keine Routiniers, aber Reimanns Leistungen als Musikrezensent wurden zunehmend anerkannt und gelobt. Mein außenpolitisches Ressort umfasste einen breit gefächerten Bereich. Man möge nicht übersehen, dass ein wesentlicher Teil der Nachkriegsgeschichte Außenpolitik war. Ob es sich nun um die immer wieder aufflackernden Spannungen zwischen den Großmächten handelte, um die ideologische Neuordnung des europäischen Kontinents oder um die Schlichtung zahlreicher Ansprüche der aufseiten des Westens kämpfenden Siegerstaaten an das NS-Erbe. Manche dieser Spannungen sind noch immer ungelöst. Ein neuer Freund entstand uns in der Person des Schriftstellers und späteren Abgeordneten Dr. Herbert Kraus. Später sollte er in der österreichischen Innenpolitik noch eine fühlbare Rolle spielen. Er folgte, ebenso wie Dr. Will99

Lebenskreise

fried Gredler, einer Linie, die noch der national-liberalen Politik des 19. Jahrhunderts, etwa Georg Schönerers, entsprach. Sie führte bereits wieder zu großdeutschen Konzepten, die zwar antinazistisch, aber nicht antideutsch waren. Die Partei VdU (Verband der Unabhängigen) entwickelte sich allmählich zu einer Mittelpartei ähnlich der heutigen von Heinz-Christian Strache und ähnlich strukturierten Politikern geführten nationalen Mittelparteien. Ein noch weiterer Schritt nach rechts wäre durch das bald nach dem Krieg geschaffene „Wiederbetätigungsverbot“ (NS-Verbotsgesetz) blockiert worden. Herbert Kraus lud uns sehr bald in das fast leer stehende Haus seines Schwagers, des Grafen Ledochowski, in der Hellbrunner Allee ein. Die Ledochowskis lebten in der Zwischenzeit mit ihren kleinen Kindern auf einer Alm. Vom Salzburger Erzbistum waren Viktor Reimann und ich also in ein bemerkenswertes Anwesen übersiedelt. Dr. Kraus hatte zwei junge Ukrainer namens Mitya und Anatol aus dem Krieg „mitgebracht“. Sie hatten ungefähr den Status von Kammerdienern. Dass ihr Regiment des Hellbrunner Schlössls nicht immer nach westlichdemokratischen Regeln erfolgte, ist ein anderes Problem. Die beiden Ukrainer entpuppten sich bald als geschickte Operateure eines schwarz-weißen Marktes, der sich damals in Salzburg an allen Ecken und Enden etablierte, für die Bewohner der Stadt aber auch viele Hungerlücken schloss. Der Währungswechsel von Reichsmark zu Schilling war beispielsweise ein einträgliches Geschäft. Hier dürften die beiden Ukrainer ein kleines Grundkapital für die Zukunft verdient haben. Eines Abends kehrte ich aus der Redaktion heim und fand mein Zimmer vom Boden bis zu den Wänden mit Reichsmark-Noten bedeckt. Tags darauf wurden daraus Österreichische Schillinge. Zum günstigen offiziellen Kurs in Deutschland eingekauft, war das freilich ein gutes Geschäft. Aus einem verlassenen Militärstützpunkt hatten die beiden drei ausgediente BMW-Motorräder der ehemaligen Wehrmacht „heimgeholt“. Sie waren fähig gewesen, die Maschinen selbst zu reparieren und erwirkten von der Stadtverwaltung deren Eigentum und Zulassung. Wenn damals jemand wirtschaftswichtige Arbeiten an altem Kriegsgerät ausführte, konnte er dieses dadurch erwerben. Eine BMW-Maschine durfte auch ich zur Fahrt in die Redaktion benützen. Die beiden „Kammerdiener“ erwiesen sich zudem als Meister der 100

erzbischof Rohracher

Fertigung von Wodka. Einmal wären sie beinahe von der Zollpolizei erwischt worden. Sie entkamen jedoch über die glatten Wände des Hauses. Es wurde immer wieder gemunkelt, dass Vertreter der Exekutive an diesem Geschäft selbst mitverdienten. Viele machten damals in Salzburg auf solche Weise Karriere. Das waren die „mobilen“ Zeiten von 1946.

Erzbischof Rohracher und die Entnazifierung

A

ls Journalist hatte ich bald eine nicht ganz freundliche Begegnung mit Erzbischof Dr. Andreas Rohracher in seiner prächtigen Salzburger Residenz. Ich hatte für die „Salzburger Nachrichten“ einen Leitartikel geschrieben, der das erzbischöfliche Missfallen – und nicht nur seines – erregt hatte. Mein Artikel betraf ein kompliziertes, bis heute umstrittenes Kapitel jener Zeit, die Entnazifizierung, den Versuch, die Überreste der bis in das frühe 19. Jahrhundert zurückreichenden deutschnationalen Ideologie auszumerzen. Reimann und ich wurden in die erzbischöfliche Residenz gebeten. Dr. Rohracher kam gleich zur Sache: „Ihr und Ihrer Freunde Ziel ist es doch – wenn ich Sie richtig verstehe – die zerstörte Demokratie wieder aufleben zu lassen. Nun wurden nach diesem schrecklichen Krieg fast alle Hauptträger des Regimes ausgeschaltet. Natürlich die mörderische Reichsführung, die SS, die SA, die Jugendverbände sowie viele andere Spitzen weiterer ultranationaler Organisationen. Das waren sicherlich mehrere Zehntausend Menschen. Viele dieser Ausgeschiedenen leben noch in Häftlingslagern, also nicht einmal im Kreis ihrer Familien, und jetzt – wie ich lese – greifen Sie auch noch Mitglieder der Wehrmacht an. Ja bitte, mit wem wollen Sie denn eigentlich eine ideologisch vielseitige Demokratie aufbauen?“ Der Erzbischof hatte dieses Thema vor allem deshalb so scharf präsentiert, weil ich in meinem Leitartikel in den „Salzburger Nachrichten“ darauf hingewiesen hatte, dass man in zeitgenössischen Schriften die Wehrmacht moralisch bisher fein säuberlich von den Parteiverbänden getrennt hatte, obwohl auch sie, wie man unschwer nachweisen kann, Morde und andere Atrozitäten verübt hatte. 101

erzbischof Rohracher

Fertigung von Wodka. Einmal wären sie beinahe von der Zollpolizei erwischt worden. Sie entkamen jedoch über die glatten Wände des Hauses. Es wurde immer wieder gemunkelt, dass Vertreter der Exekutive an diesem Geschäft selbst mitverdienten. Viele machten damals in Salzburg auf solche Weise Karriere. Das waren die „mobilen“ Zeiten von 1946.

Erzbischof Rohracher und die Entnazifierung

A

ls Journalist hatte ich bald eine nicht ganz freundliche Begegnung mit Erzbischof Dr. Andreas Rohracher in seiner prächtigen Salzburger Residenz. Ich hatte für die „Salzburger Nachrichten“ einen Leitartikel geschrieben, der das erzbischöfliche Missfallen – und nicht nur seines – erregt hatte. Mein Artikel betraf ein kompliziertes, bis heute umstrittenes Kapitel jener Zeit, die Entnazifizierung, den Versuch, die Überreste der bis in das frühe 19. Jahrhundert zurückreichenden deutschnationalen Ideologie auszumerzen. Reimann und ich wurden in die erzbischöfliche Residenz gebeten. Dr. Rohracher kam gleich zur Sache: „Ihr und Ihrer Freunde Ziel ist es doch – wenn ich Sie richtig verstehe – die zerstörte Demokratie wieder aufleben zu lassen. Nun wurden nach diesem schrecklichen Krieg fast alle Hauptträger des Regimes ausgeschaltet. Natürlich die mörderische Reichsführung, die SS, die SA, die Jugendverbände sowie viele andere Spitzen weiterer ultranationaler Organisationen. Das waren sicherlich mehrere Zehntausend Menschen. Viele dieser Ausgeschiedenen leben noch in Häftlingslagern, also nicht einmal im Kreis ihrer Familien, und jetzt – wie ich lese – greifen Sie auch noch Mitglieder der Wehrmacht an. Ja bitte, mit wem wollen Sie denn eigentlich eine ideologisch vielseitige Demokratie aufbauen?“ Der Erzbischof hatte dieses Thema vor allem deshalb so scharf präsentiert, weil ich in meinem Leitartikel in den „Salzburger Nachrichten“ darauf hingewiesen hatte, dass man in zeitgenössischen Schriften die Wehrmacht moralisch bisher fein säuberlich von den Parteiverbänden getrennt hatte, obwohl auch sie, wie man unschwer nachweisen kann, Morde und andere Atrozitäten verübt hatte. 101

Lebenskreise

„Wollen Sie jetzt auch noch die ehemaligen Wehrmachtsangehörigen, die unser Vaterland verteidigt hatten, ausgrenzen?“ Diese nicht nur von Seiten des Klerus vorgetragene Frage wurde sehr bald von der Führung der aktiven politischen Parteien aufgeworfen. Zuerst interessierten sich die Sozialisten in Kärnten und im Burgenland für die ehemaligen Nationalsozialisten und schlugen ihnen gegenüber mildere Töne an. So wurden das zunächst braune Kärnten und das Burgenland allmählich rötlich eingefärbt. Durch die Bemühungen der ÖVP, vor allem durch Dr. Alfred Maleta, wuchs der schwarze Einfluss in Oberösterreich. Man sprach dort von „Minderbelasteten“. Dieser Wechsel vollzog sich bei einem Kongress in Oberweis. Auch die Gestaltung des Salzburger Kulturlebens und die Politik der Wiener Oper während des Krieges wurden auf ihre ideologischen Grundsätze untersucht. Der Tenor Otto von Pasetti, zeitweiliger Lebensgefährte der großen Lotte Lenya, emigrierte 1937 und kehrte als amerikanischer Geheimdienstoffizier nach Österreich zurück. Er war als Leiter der Theater- und Musikabteilung des amerikanischen Nachrichtenkontrolldienstes beauftragt, die Bühnen- und Filmkünstler auf ihre Mitarbeit in NS-Propagandaproduktionen zu prüfen und Berufsverbote zu verhängen. Der Intendant und Ministerialrat Dr. Egon Hilbert, der selbst zu den ersten Dachauer Opfern zählte, war für die Reorganisation der Salzburger Festspiele verantwortlich und untersuchte die Zusammenarbeit der Wiener Opernszene mit der NS-Maschinerie. Selbst so bedeutende Dirigenten wie Wilhelm Furtwängler, Herbert von Karajan und Hans Knappertsbusch, die während der NS-Zeit in Europa musiziert und von der NS-Ägide profitiert hatten, wurden von ihrer künstlerischen Arbeit suspendiert. Karl Böhm, der nicht wenige seiner mitunter kritischen Orchestermusiker bedroht hatte, galt auch nicht als politisches Vorbild. Die noch vor dem Anschluss nach Deutschland emigrierten berühmten Gesangskünstler, wie Franz Völker, Josef von Manowarda und Gertrude Rünger, konnten erst nach und nach wieder in Wien auftreten. Es herrschte also nach dem Krieg ein raues und nicht gerade vor undurchsichtigen Intrigen gefeites Klima. Es hat geraume Zeit gedauert, bis Karajan oder Furtwängler zumindest in Europa wieder vor das Pult treten durfte. In den USA sollten sie noch längere Zeit unerwünscht bleiben. Den von den Nazis verfolgten Diri102

die Familie Strasser findet zusammen

genten Josef Krips setzte man wieder anderen Komplikationen aus. Er dirigierte auf Bitte der Bundesregierung in Moskau und wurde sozusagen als „Dank“ für seinen staatspolitischen Einsatz als „Kommunistenfreund“ verleumdet. Der anfänglich nicht ganz erfolglose Demokratisierungsprozess in Österreich bröckelte langsam ab. Politisch orientierte Nazis wachsen heute schon wieder aus den nachgeborenen Generationen heran, folgen aber nicht nur opportunistisch den Altparteien Rot und Schwarz, sondern lassen sich von charismatischen Leitfiguren anlocken, die ihre eigenen Rechtsparteien geschaffen haben. Ideologien sind eben zähe Glaubensbekenntnisse, die ihre Wurzeln viele Generationen lang bewahren und hüten.

Die Familie Strasser findet zusammen

E

ines Tages rief mich eine Dame in der Redaktion an. Sie hätte zufällig meine Mutter und meine Schwester in Tirol getroffen. Da wir unsere Artikel in den „Salzburger Nachrichten“ gewöhnlich namentlich signierten, war es nicht schwer gewesen, meinen Wohnort ausfindig zu machen. So trafen wir uns nach sechs Jahren Trennung in Salzburg wieder. Wir bestimmten zunächst einmal unsere neue Lebenseinteilung. Schwester Sissy übersiedelte zu mir nach Salzburg ins „Ledochowski-Schlössl“, wo sie Anatol und Mitya auch etwas einbremsen konnte. Meine Mutter akzeptierte die Einladungen einiger französischer Familien, die vor dem Krieg in Majorháza gejagt hatten und konnte sich dadurch einigermaßen erholen. Der Zweite Weltkrieg und mein Schicksal in jenen Jahren hatten den Zustand meiner Schwester, auch auf psychischer Ebene, weiter verschlechtert. Doch wir beiden Geschwister waren vereint in Salzburg noch rastloser, als jedes auf sich allein verwiesen. Obwohl Sissys Gesundheit weiter nachließ, beschlossen wir eine „schwarze“ Reise nach Majorháza. Wir wussten wohl, dass in der ČSR der Kommunismus herrschte, wir hatten aber auch erfahren, dass die Austreibung der Deutschen und Ungarn aus der ČSR mehr oder weniger abgeschlossen war. Wohl war die uns freundschaftlich gesinnte lokale Aristokratie zum Großteil vor den Sowjets geflohen, aber einige Freunde zeig103

die Familie Strasser findet zusammen

genten Josef Krips setzte man wieder anderen Komplikationen aus. Er dirigierte auf Bitte der Bundesregierung in Moskau und wurde sozusagen als „Dank“ für seinen staatspolitischen Einsatz als „Kommunistenfreund“ verleumdet. Der anfänglich nicht ganz erfolglose Demokratisierungsprozess in Österreich bröckelte langsam ab. Politisch orientierte Nazis wachsen heute schon wieder aus den nachgeborenen Generationen heran, folgen aber nicht nur opportunistisch den Altparteien Rot und Schwarz, sondern lassen sich von charismatischen Leitfiguren anlocken, die ihre eigenen Rechtsparteien geschaffen haben. Ideologien sind eben zähe Glaubensbekenntnisse, die ihre Wurzeln viele Generationen lang bewahren und hüten.

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E

ines Tages rief mich eine Dame in der Redaktion an. Sie hätte zufällig meine Mutter und meine Schwester in Tirol getroffen. Da wir unsere Artikel in den „Salzburger Nachrichten“ gewöhnlich namentlich signierten, war es nicht schwer gewesen, meinen Wohnort ausfindig zu machen. So trafen wir uns nach sechs Jahren Trennung in Salzburg wieder. Wir bestimmten zunächst einmal unsere neue Lebenseinteilung. Schwester Sissy übersiedelte zu mir nach Salzburg ins „Ledochowski-Schlössl“, wo sie Anatol und Mitya auch etwas einbremsen konnte. Meine Mutter akzeptierte die Einladungen einiger französischer Familien, die vor dem Krieg in Majorháza gejagt hatten und konnte sich dadurch einigermaßen erholen. Der Zweite Weltkrieg und mein Schicksal in jenen Jahren hatten den Zustand meiner Schwester, auch auf psychischer Ebene, weiter verschlechtert. Doch wir beiden Geschwister waren vereint in Salzburg noch rastloser, als jedes auf sich allein verwiesen. Obwohl Sissys Gesundheit weiter nachließ, beschlossen wir eine „schwarze“ Reise nach Majorháza. Wir wussten wohl, dass in der ČSR der Kommunismus herrschte, wir hatten aber auch erfahren, dass die Austreibung der Deutschen und Ungarn aus der ČSR mehr oder weniger abgeschlossen war. Wohl war die uns freundschaftlich gesinnte lokale Aristokratie zum Großteil vor den Sowjets geflohen, aber einige Freunde zeig103

Lebenskreise

ten große Zivilcourage und verblieben an Ort und Stelle. Hohe sowjetische Offiziere, darunter der legendäre Marschall Rodion Malinovsky, untersuchten eines Tages das Pálffy-Batthyány-Schloss in Kis Magyar. Sie suchten nach Schmuck und Pretiosen und schossen wild um sich, fanden aber nichts. Sie drohten der Besitzerin, Gräfin Dundi Esterházy, sie zu erschießen. Schmuck fand sich trotzdem keiner, längst war er dahin. Schließlich ließ sich der sowjetische General Feder und Tinte bringen und schrieb: „Ich, Marschall ­Malinovsky, habe dieses Schloss untersuchen lassen und in Ordnung befunden.“ Dieses Alibi wurde dann an andere Schlösser in ganz Ungarn als eine Art Freibrief weitergeleitet. Das Dokument soll manchem Bedrohten geholfen haben. Die aus den Dörfern vertriebenen Deutschen oder Ungarn kamen bei Nacht und wollten ihre zurückgelassenen Schätze bergen, die dort bei Freunden deponiert waren. So auch Sissy. Einige von unserem Großvater noch im 19. Jahrhundert angeschaffte bedeutende impressionistische Gemälde holten wir bei ehemaligen Nachbarn ab. „Alliierte“ Freunde aus Österreich brachten sie uns später nach Wien. Gewisse Grenzpfade, die als sicher galten, hatten sich inzwischen entwickelt. Das bekannte Gemälde Theodor von Hörmanns, „Des Kranken Augenweide“, hängt jetzt in meiner Wiener Wohnung. Ein bei Majorháza von Olga Wisinger-Florian nach der Natur gemaltes großes „Mohnfeld“ befindet sich bei meinem in Kalifornien als Winzer tätigen Sohn Rudi. Der bereits erwähnte Steinway-Flügel, den mein Großvater 1910 aus New York kommen ließ und an dem er leidenschaftlich musiziert hatte, war nicht mehr aufzufinden. Ein Blick auf das Schloss Majorháza war mehr als erschütternd. Es war eine zerfallene Schule für Roma-Kinder, mit noch etwas barockem Charme. Alles, was nicht niet- und nagelfest gewesen war, war herausgebrochen worden oder eingestürzt. Vom Dach und den teuren Fenstern bis zu den Fundamenten war fast alles ruiniert. Die Felder waren Teil einer Kolchose. Und dennoch hatte der Ausflug nach Majorháza Vorteile gebracht. Vor allem wurde damals die rechtliche Grundlage für die sehr viel spätere Restitution gelegt. Wir Geschwister und Erben konnten unsere Anwesenheit zu einem sehr wichtigen Zeitpunkt in der Slowakei dokumentieren.

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die Familie Strasser findet zusammen

Der schlimmste Eindruck, den ich damals aus Majorháza mitnahm, war die geschändete Ruhestätte meines Vaters. Meine Mutter hatte das Grab an einer bewaldeten Stelle des Parks stimmungsvoll herrichten lassen und mit seltenen Blumen und verschiedenen Arten von Tannenbäumen bepflanzt. Jetzt war das Grab geöffnet, der Sarg verschwunden und die Grube mit alten Automobilreifen vollgestopft. In New York schilderte ich viel später dem UNO-Generalsekretär Dr. Kurt Waldheim diesen Grab­ 28. Sissy mit ihrem Cockerspaniel Arianne. raub. Er bezeichnete ihn als „Schändung“, als eine „gesetzeswidrige Friedensstörung“, einen Verstoß der ČSR gegen die UNO-Charta. Mit seiner Hilfe setzte ich in New York Ende der 60er-Jahre einen schriftlichen Protest auf. Zwölf Jahre später hatte dieser Vorstoß ein dramatisches Nachspiel. So lange hatte es gedauert, bis meine New Yorker Beschwerde über Prag in Bratislava eingetroffen war. Die Causa wurde von etwa 14 slowakischen Beamten in Anwesenheit meiner Familie und des österreichischen Generalkonsuls in Bratislava abgehandelt. Jedes Ministerium entsandte drei Vertreter. Ich stellte die Frage, welche Zukunft man dem alten Familiengrab auf dem AndreasFriedhof in Bratislava zumessen könne. Dort waren seit ungefähr 1930 meine väterlichen Großeltern beigesetzt. „Gar keine!“, antworteten die slowakischen Beamten, denn ihre Absicht war, den Andreas-Friedhof aufzulassen und daraus einen Park zu errichten, was übrigens nie geschehen ist. Noch heute liegen dort über hundert Jahre alte Gräber. Jedenfalls inspirierte diese Antwort mein neues Gräber-Konzept. Schon am späten Nachmittag fuhr eine größere Autokolonne von Bratislava zum bereits informierten Bürgermeister der Ortschaft Tomášov, dem früheren ungarischen Dorf Fél neben Majorháza. Der Bürgermeister war offiziell aus 105

Lebenskreise

Bratislava ersucht worden, meiner Familie auf dem Dorffriedhof ein größeres Stück Erde zu überlassen. Innerhalb eines Jahres sollten die Überreste der Vorfahren überführt werden. Wir vereinbarten, in einem Jahr nach Fertigstellung des neuen Grabmals in Tomášov wieder zusammenzukommen. Die Särge und die architektonischen Anlagen sollten vom Andreas-Friedhof nach Tomášov gebracht und in einer neuen Gruft installiert werden. Niemand hätte es für möglich gehalten, dass diese Überführung innerhalb eines Jahres tatsächlich abgeschlossen sein konnte. Aber am festgelegten Tag weihte der ungarische Dorfpfarrer unter großer Beteiligung der lokalen Bevölkerung das neue Familiengrab in Tomášov ein. In Vorahnung bürokratischer Vorschriften im Verlauf der späteren Restitution wurden die Namen meiner Frau und der meine bereits in den Grabstein eingraviert, sodass nur mehr unsere Sterbedaten hinzuzufügen sind. Diese Gravierung hatte sich als äußerst überzeugendes Argument entpuppt, da die lokale Administration nun einsah, dass wir beide auch in Zukunft in Tomášov „bleiben“ wollten. Wir entkamen so dem Verdacht, als Spekulanten zu gelten. Das neue Grab gehört uns vierzig Jahre lang. In ihm sind alle Familienmitglieder, die einmal in Majorháza gelebt hatten, vereint.

Von Salzburg nach Wien

N

och war ich in Salzburg stationiert, begann aber, eine Übersiedlung nach Wien in Erwägung zu ziehen. Für meine Arbeit bei den „Salzburger Nachrichten“ waren häufige Reisen nach Wien notwendig geworden, etwa für Recherchen im Bundeskanzleramt, wo sich allmählich die Vorbereitungen für die Staatsvertragsverhandlungen verdichteten. Ich musste weiters auch den Kontakt mit dem enteigneten Besitz in Majorháza aufrechterhalten und meiner kranken Schwester, die nun wieder in Wien lebte, beistehen. Ich war Pater familias geworden. In den letzten Monaten war ich meist täglich durch zerstörte Städte gekommen. In Wien war ich bisher allerdings nicht gewesen, außer damals in einem Polizeiauto, das mich zum Prozess brachte, und in wieder einem anderen, das 106

Lebenskreise

Bratislava ersucht worden, meiner Familie auf dem Dorffriedhof ein größeres Stück Erde zu überlassen. Innerhalb eines Jahres sollten die Überreste der Vorfahren überführt werden. Wir vereinbarten, in einem Jahr nach Fertigstellung des neuen Grabmals in Tomášov wieder zusammenzukommen. Die Särge und die architektonischen Anlagen sollten vom Andreas-Friedhof nach Tomášov gebracht und in einer neuen Gruft installiert werden. Niemand hätte es für möglich gehalten, dass diese Überführung innerhalb eines Jahres tatsächlich abgeschlossen sein konnte. Aber am festgelegten Tag weihte der ungarische Dorfpfarrer unter großer Beteiligung der lokalen Bevölkerung das neue Familiengrab in Tomášov ein. In Vorahnung bürokratischer Vorschriften im Verlauf der späteren Restitution wurden die Namen meiner Frau und der meine bereits in den Grabstein eingraviert, sodass nur mehr unsere Sterbedaten hinzuzufügen sind. Diese Gravierung hatte sich als äußerst überzeugendes Argument entpuppt, da die lokale Administration nun einsah, dass wir beide auch in Zukunft in Tomášov „bleiben“ wollten. Wir entkamen so dem Verdacht, als Spekulanten zu gelten. Das neue Grab gehört uns vierzig Jahre lang. In ihm sind alle Familienmitglieder, die einmal in Majorháza gelebt hatten, vereint.

Von Salzburg nach Wien

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och war ich in Salzburg stationiert, begann aber, eine Übersiedlung nach Wien in Erwägung zu ziehen. Für meine Arbeit bei den „Salzburger Nachrichten“ waren häufige Reisen nach Wien notwendig geworden, etwa für Recherchen im Bundeskanzleramt, wo sich allmählich die Vorbereitungen für die Staatsvertragsverhandlungen verdichteten. Ich musste weiters auch den Kontakt mit dem enteigneten Besitz in Majorháza aufrechterhalten und meiner kranken Schwester, die nun wieder in Wien lebte, beistehen. Ich war Pater familias geworden. In den letzten Monaten war ich meist täglich durch zerstörte Städte gekommen. In Wien war ich bisher allerdings nicht gewesen, außer damals in einem Polizeiauto, das mich zum Prozess brachte, und in wieder einem anderen, das 106

von salzburg nach Wien

mich zur Westbahn Richtung Zuchthaus Straubing beförderte. Ich konnte mir daher gar nicht vorstellen, wie ich jetzt als freier Mensch in Wien leben würde. Der Verkehr war auf einige Straßenbahnen reduziert. Einer meiner späteren Chefs in der Kammer, der Leiter der Sektion Industrie und spätere Finanzminister Dr. Eugen Margaretha, erzählte mir, dass er täglich zu Fuß aus seiner Hietzinger Wohnung in die Kammer am Stubenring marschierte und abends die sieben Kilometer wieder nach Hause ging. Wessen Wohnung nicht zerbombt war, der blieb in seiner alten Behausung, auch wegen der niedrigen Vorkriegsmieten. Ein bereits älterer Freund, Dr. Luigi Marquet, dem der Übertritt in das Außenamt gelungen war, plauderte in einem äußerst amüsanten Büchlein über die Abendveranstaltungen dieser Zeit. Damen, die im zweiten oder in anderen von den Sowjets besetzten Stadtbezirken wohnten, wurden aus dem ohnehin dürftigen Gesellschaftsleben ausgespart. Nur wenige Galane waren bereit, die Damen unter allerlei Gefahren abzuholen oder wieder nach Hause zu bringen. In der Nähe des Naschmarktes hatte ein junges Ehepaar zu einer Silvesterparty geladen. Plötzlich gab es Schießereien. Drei junge Herren warfen sich in den verschneiten Straßengraben. „Sind wir denn alle drei bei Schütz eingeladen?“, richtete einer die Frage an den anderen. Man ging am Abend nicht gerne aus. Taxis waren teuer, Autos besaß fast niemand. Immer wieder kam es vor, dass Nachtvögel nicht mehr nach Hause zurückkehrten, denn die Sowjets mussten persönlich für die Verhafteten geradestehen. Fehlte einer, so wurde ein anderer an seiner Stelle von der Straße aufgelesen. Trotzdem war das Leben ein Aufatmen, die Fesseln einer unmenschlichen Ideologie waren gelöst. Jetzt ging es darum, eine neue Heimat aufzubauen. Man spürte den Aufwind. Schließlich gab es aber in Wien wieder einen Frühling. Einen dieser traumhaft schönen Tage beschrieb ich im Jahr 1946 unter dem Titel „Wiener Stimmungsbilder“.

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Lebenskreise

Frühling 1946: Wiener Stimmungsbilder

D

ie Frühjahrssonne scheint zum ersten Mal verheißungsvoll auf Wien, und die Gesichter der Wiener strahlen ganz wenig von ihrem Glanze zurück. Aber auch dieses Wenige ist ein erheblicher Fortschritt, wenn man an die düsteren Wintermienen denkt, die sich über Hunger und Kälte zusammenbrauten. Der Hunger hat zwar in Wien keineswegs nachgelassen, aber sein Kompagnon, die Kälte, scheint für dieses Jahr gebrochen zu sein. Das hilft den Wienern fast über die letzte Rationskürzung hinweg, die sich hier praktisch kaum auswirkt – nach der Gleichung Null minus Null ist Null. Ich habe zwar niemanden auf der Kärtnerstraße oder auf dem Naschmarkt angesprochen, aber auf ihren Stirnen steht geschrieben: „Jetzt san ma auss‘n Wasser“, jetzt kann uns nichts mehr passieren. Es sind vor allem jene Kreise, die sich vor einer zweiten Atombombe mehr fürchten, als vor allen Bomben des letzten Krieges. Hiroshima hatte einen besonderen Schatten geworfen. Aber der blaue Himmel über Wien lässt sich durch weltpolitische Wolkenbildung nicht trüben. Aus irgendeiner lange verschlossenen Lade haben die Wiener Damen ein wenig von ihrem einstigen Charme hervorgeholt. Sie stehen dabei in einem eigentümlichen Kontrast zu den Schutthaufen und den ausgebrannten Häusern. Es gibt Menschen, die wenig Sinn für Realitäten aufbringen und sich darüber den Kopf zerbrechen, woher die Wiener Damen nach sechs Jahren Krieg und zertrümmerter Textilindustrie ihre funkelnagelneuen Seidenstrümpfe hernehmen. Vor allem ist es erstaunlich, wenn man diese „Neuerscheinungen“ mengenmäßig mit der Zahl der Angehörigen der Besatzungskräfte vergleicht. Ihnen sei gesagt, dass sogar die Preise am schwarzen Markt vor der Frühjahrssonne dahinschmelzen, wenn auch nicht in gleichem Maße, wie die wilden alliierten Krieger aus Osten und Westen vor dem Charme der Wienerinnen. Man hat in Wien oft den Eindruck eines Kampfes gegenüber mächtigen Gewalten, der mit unzulänglichen Mitteln geführt wird. So sieht man vielerorts Abteilungen der Wiener Feuerwehr und des Bauamtes der Stadt Wien bei ihren Bemühungen, die ausgebrannten Häuser einzureißen. Ein besonders beklagenswertes Haus steht an der Ecke Himmelpfortgasse und Kärnt108

Frühling 1946

nerstraße. Hier waren die Feuerwehrmänner besonders rührig am Werk. Mit einem dicken Drahtseil, das sie um einen Pfeiler in einem mittleren Stockwerk schlangen und mittels einer Winde suchten sie dem Gerippe zu Leibe zu rücken. Aber dieses Gebäude war zäh und widerstand allen Bemühungen. Auf einmal gab es einen großen Ruck, das Seil hatte den Pfosten durchschnitten, das Haus aber steht heute noch, und wer es nicht glaubt, möge sich davon überzeugen. Aber auch sonst ist man sehr bemüht, das Stadtbild soweit als möglich in Ordnung zu bringen. Man sieht Lastautos durch die Straßen fahren, die den Schutt wegführen, welchen, wie sich manche Wiener erinnern, schon anno 1945 die Nazis hätten wegräumen sollen. Der Graben ist eine der ersten von Schutt befreiten Straßen. In den Wiener Kaffeehäusern bietet man den Gästen ein dunkles Getränk an, das man eher mit Kaffee (Betonung auf der ersten Silbe) als mit Café (Betonung auf der zweiten Silbe) bezeichnen könnte. Dunkel sind auch die Gerüchte, die herumschwirren. Sie wollen von einem neuen Schillinggesetz wissen. Einmal heißt es, die Tausender würden abgestempelt, dann soll wieder etwas mit den Hunderten geschehen. Zu rauchen gibt es in Wien sehr wenig, es sei denn, man könnte sich aus den verschiedenen Aufrufen und Versprechungen und einigem Matratzeninhalt eine Zigarette drehen. Daher kommt es vielleicht, dass die Kaffeehausluft von Bosheit und stickigem Rauch erfüllt ist. Die Ausdrücke „frei“ und „besetzt“ werden wechselweise verwendet. Jüngst diskutierte ich mit einem alten Herrn, wer diskutiert in Wien nicht, über den Wiederaufbau Österreichs und der Stadt. Wir standen vor der zerstörten Albertina und beobachteten gerade zwei Maurer, die damit beschäftigt waren, dieses Juwel etwas zu restaurieren. Da wies mein Gesprächspartner mit der Hand auf die zwei Maurer, seufzte tief und meinte: „So sieht der Wiederaufbau Österreichs aus“, zog den Hut und verabschiedete sich. Erfreulicherweise war dies ein alter Sektionschef, und die Jugend denkt im Allgemeinen etwas anders. Allerdings schmiedet sie bislang erst in Privatzirkeln ihre Aufbaupläne. So entstand kürzlich ein „Quiriten-Klub“ der den Mitgliedern ermöglichte, sich in hitzige Diskussionen einzulassen. So schließt sich ein Kreis zwischen Jugend und Alter, der die Nörgler etwas links liegen lässt. Während aber in der Sparte Politik und Menschentum die Gegensätze auf­ einanderprallen, meint es die Frühlingssonne viel universeller: Sie scheint auf 109

Lebenskreise

junge Feuerköpfe, verkalkte Sektionschefs, österreichische Nazis, Demokraten und Besatzungstruppen. Sie ist der einzige wirkliche demokratische Faktor in dieser, wie man in Wien meint, undemokratischen Zeit. Der echte Wiener fühlt sich immer benachteiligt.

APA und die Jahre an der Seite von Julius Raab

M

eine Aufgaben bei den „Salzburger Nachrichten“ begannen sich inzwischen deutlich nach Wien zu verlagern. Überdies wurden damals die Redaktionen der Zeitungen in Österreich neu besetzt. Die Führung der „Salzburger Nachrichten“ war umstritten und lag den Amerikanern sehr am Herzen. Besondere Bemühungen, die Zeitung unter ihre Kontrolle zu bekommen, zeigten Journalisten und Politiker, die nach rechts tendierten, vornehmlich Anhänger des 1949 von Herbert Kraus und Viktor Reimann gegründeten VdU (Verband der Unabhängigen). Diese Tendenz wollten und konnten die Amerikaner nicht zulassen. So wurde außerhalb aller Spekulationen ein verdienter alter Journalist aus der Geheimbüchse gezogen, der selbst sieben Jahre in Konzentrationslagern verbracht hatte. Er hieß Dr. Gustav Canaval und war vor allem mit der Generation von konservativen Politikern aus der Ersten Republik eng vertraut. Die Amerikaner gaben ihm das „Permit No. 1“, und er wurde erster österreichischer Chefredakteur. An sich hätte ich seiner Einstellung und Mentalität entsprechen müssen. Ich brachte vieles mit, was uns verband. Aber es zog mich zu sehr nach Wien, wo Dr. Canaval selbst Präsenz zeigen wollte. In Wien wollte er persönlich regieren, nicht zuletzt, weil bereits erste Früchte der Staatsvertragsverhandlungen zu reifen begannen. Canaval war zwanzig Jahre älter als ich. Ich sah noch viele Aufgaben vor mir, auch außerhalb der Journalistik. So wählte ich einen neuen Weg, der sich mir im richtigen Augenblick bot. Ich beschloss, ganz nach Wien zu übersiedeln und ein interessantes Angebot der APA, der Austria Presse Agentur, anzunehmen. Hier liefen alle wichtigen Nachrichten zusammen. Wie so vieles in Österreich damals bereits unter den Einfluss der großen Parteien ÖVP und SPÖ geriet, so auch die APA. Nach der Wahlniederlage von 110

Lebenskreise

junge Feuerköpfe, verkalkte Sektionschefs, österreichische Nazis, Demokraten und Besatzungstruppen. Sie ist der einzige wirkliche demokratische Faktor in dieser, wie man in Wien meint, undemokratischen Zeit. Der echte Wiener fühlt sich immer benachteiligt.

APA und die Jahre an der Seite von Julius Raab

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eine Aufgaben bei den „Salzburger Nachrichten“ begannen sich inzwischen deutlich nach Wien zu verlagern. Überdies wurden damals die Redaktionen der Zeitungen in Österreich neu besetzt. Die Führung der „Salzburger Nachrichten“ war umstritten und lag den Amerikanern sehr am Herzen. Besondere Bemühungen, die Zeitung unter ihre Kontrolle zu bekommen, zeigten Journalisten und Politiker, die nach rechts tendierten, vornehmlich Anhänger des 1949 von Herbert Kraus und Viktor Reimann gegründeten VdU (Verband der Unabhängigen). Diese Tendenz wollten und konnten die Amerikaner nicht zulassen. So wurde außerhalb aller Spekulationen ein verdienter alter Journalist aus der Geheimbüchse gezogen, der selbst sieben Jahre in Konzentrationslagern verbracht hatte. Er hieß Dr. Gustav Canaval und war vor allem mit der Generation von konservativen Politikern aus der Ersten Republik eng vertraut. Die Amerikaner gaben ihm das „Permit No. 1“, und er wurde erster österreichischer Chefredakteur. An sich hätte ich seiner Einstellung und Mentalität entsprechen müssen. Ich brachte vieles mit, was uns verband. Aber es zog mich zu sehr nach Wien, wo Dr. Canaval selbst Präsenz zeigen wollte. In Wien wollte er persönlich regieren, nicht zuletzt, weil bereits erste Früchte der Staatsvertragsverhandlungen zu reifen begannen. Canaval war zwanzig Jahre älter als ich. Ich sah noch viele Aufgaben vor mir, auch außerhalb der Journalistik. So wählte ich einen neuen Weg, der sich mir im richtigen Augenblick bot. Ich beschloss, ganz nach Wien zu übersiedeln und ein interessantes Angebot der APA, der Austria Presse Agentur, anzunehmen. Hier liefen alle wichtigen Nachrichten zusammen. Wie so vieles in Österreich damals bereits unter den Einfluss der großen Parteien ÖVP und SPÖ geriet, so auch die APA. Nach der Wahlniederlage von 110

apa und die jahre an der Seite von Julius raab

1945 legten die sozialistischen Führer jetzt stark zu und besetzten den ihnen gebührenden Einflussbereich bei der APA mit einer bekannten Journalistin, die bereits ein buntes Leben hinter sich hatte. In einer gerade jetzt erschienenen Biografie werden ihr obskure Beziehungen zu zwei Herren zugeschrieben, die schließlich für sie zu einer längeren Haftstrafe führten.20 Ein Giftmordversuch konnte ihr zwar nicht nachgewiesen werden, aber sie hatte viel von ihrem Glanz verloren. Sie half als Lagerälteste im KZ Ravensbrück vielen Mitinsassen und erreichte als eine Art Heldin gegen die Nazis wieder Ansehen zurück, vor allem bei den Sozialisten. Man erzählte, sie sei die Urahnin eines großartigen serbischen Fürsten Vukobrankovics gewesen, sie nannte sich aber schließlich Elisabeth Thury. Fürst Vukobrankovics habe für die Serben 1489 die Schlacht am Amselfeld verloren und wurde nach serbischem Brauch gerade deshalb als Heros verehrt. Sie war mit allen sozialistischen Persönlichkeiten befreundet und daher auch deren Vertrauensperson bei der APA. Auch mir räumte die APA eine Art Monopolstellung ein. Ich war dazu ausersehen, Spitzenpolitiker der ÖVP zu interviewen und ihnen zu mehr Publicity zu verhelfen. So entwickelte sich eine Art Naheverhältnis zwischen dem Begründer der Bundeswirtschaftskammer, Julius Raab, und mir. Ich stand noch nicht allzu lange im Dienst der APA, als mir Raab schon die Betreuung der Presse- und Publikationsabteilung der Bundeswirtschaftskammer anbot, die ich sieben Jahre lang an seiner Seite führte. Da ich allmählich meine eigene Bleibe errichten wollte, rief Raab in meiner Gegenwart den für die Wohnpolitik zuständigen ÖVP-Nationalrat Prinke an, mir sogleich eine Wohnung in Wien zuzuweisen. Diese Wohnung im ersten Bezirk lag sowohl in der Nähe der APA als auch der Bundeshandelskammer. Nach Vergrößerungen in den letzten zehn Jahren bewohne ich sie heute mit meiner Frau Daisy noch immer. Eine Erinnerung an Julius Raab. Julius Raab war bei der Regierungsbildung im Jahr 1945 übergangen worden, da man ihn beschuldigte, in der Ersten Republik als „Heimwehrfaschist“ eine prominente Rolle gespielt zu haben. Diese hauptsächlich von den Sozialisten erhobenen und an die Alliierten herangetragenen Vorwürfe bezogen sich immer noch auf die bürgerkriegsähnlichen Zusammenstöße in der ersten Republik, die auch zur Auflösung des Parlaments und zu einer neuen Verfassung führten. Eine umso wichtigere Rolle spielte er in der Zweiten Republik 111

Lebenskreise

als Organisator und Förderer der Wirtschaft. Die von ihm gegründete und gesetzlich verankerte Bundeswirtschaftskammer mit obligatorischer Mitgliedschaft wurde eine der wichtigsten Wirtschaftsorganisationen des Landes. Ob es notwendig war, die Dezentralisierung auf neun Landeskammern auszudehnen, sei dahingestellt. Die obligatorische Mitgliedschaft erforderte einen großen und teuren Apparat. Gemeinsam mit der Landwirtschaftkammer, der Arbeiterkammer und dem Gewerkschaftsbund entstand eine Art wirtschaftspolitische Nebenregierung, die bei den Lohn- und Preisverhandlungen, bei der Zuweisung knapper Rohmaterialen und Arbeitskräfte eine wirtschaftlich ausgleichende Rolle spielte und soziale Konflikte im Keim erstickte. Wegen seiner freundlichen Art, mit Gegnern umzugehen, wurde Raab an der Seite des charakterlich ähnlich veranlagten Bundeskanzlers Leopold Figl wohl zum mächtigsten Politiker der ersten Phase der jungen Nachkriegsgeschichte Österreichs. Seine Freundschaft zum Präsidenten des Gewerkschaftsbundes, Johann Böhm, beweist eine oft zitierte Groteske. Ein junger strebsamer Sozialist ersuchte mich, Raabs „schwarzen Presse-Adlatus“, ich möge doch für ihn intervenieren, weil sein eigener Chef – Böhm – ihn nicht avancieren ließ. Bei internen Diskussionen bemerkte Raab oft: „Das bring’ ich beim Böhm nicht durch.“ Es war die Taktik Raabs, in Verhandlungen beide Seiten reüssieren zu lassen. Vor allem in einer Koalitionsregierung. Raab verfügte überdies über einen gütigen Humor, der gelegentlich trocken oder bissig werden konnte. Er redete nicht viel, dafür aber prägnant. Darüber hinaus zehrte er von einer tiefen religiösen Gläubigkeit. Diese schwarz-roten Freundschaften nach dem Krieg waren übrigens nichts ganz Seltenes. Sie hatten ihren Kern oft in den miteinander verbrachten Leidenszeiten, in gemeinsamen Erlebnissen während der NS-Verfolgung. Sicherlich hat mich auch in meinem späteren langen Leben kein Politiker so fasziniert, wie Julius Raab. Ohne dass er einen besonderen Stil der Zusammenarbeit vorgab, entwickelte sich eine automatische Kooperation, die von gegenseitigem Verständnis ausging. Komische Episoden über Raab haben fortgelebt und sind vielfach bereits bekannt. Die folgende ist selbst erlebt. Raab nahm mich auf eine Dienstreise nach Paris mit. Wir hatten schließlich in Paris die, nach New York, zweite Außenhandelsstelle errichtet. Außerdem 112

apa und die jahre an der Seite von Julius raab

lag meine kranke Schwester damals in einem Pariser Spital. Neben mir saßen noch einige hilfsbereite österreichische Diplomaten im Coupé, dazu ein französischer Begleiter, den wohl der französische Besatzungschef General Béthouart mitgeschickt hatte, vermutlich Sicherheit oder Geheimdienst. Bei der Ankunft in Paris stand der österreichische Botschafter, Dr. Schmitt, mit einiger Begleitung am Bahnsteig. Nach kurzer Begrüßung durch den Botschafter ging Raab auf den Sicher29. Julius Raab (1891–1964) mit seiner heitsmann zu und entließ ihn mit berühmten Virginia-Zigarre. gebührender Würde: „I brauch ihn jetzt nicht mehr, Herr Doktor“, dabei wäre es gerade bei den jetzt zu erwartenden Gesprächen dessen Aufgabe gewesen, seine Ohren offen zu halten. Raabs Anrede „Herr Doktor“ und dessen freundliche Entlassung löste keine Spannung, sondern ein allgemeines Schmunzeln aus. Man ging in Frieden auseinander. Eine Anekdote besonderen Charakters soll hier noch festgehalten werden, obgleich sie vielleicht schon publiziert ist. Sie betrifft einen österreichischen Diplomaten, den Bundeskanzler Raab zu sich bestellt hatte. Ein Termin wurde fixiert, Raab wollte einen bekannten ausländischen Botschafter empfangen und benötigte den österreichischen Diplomaten als Übersetzer. Zum Leidwesen aller hatte sich der Diplomat und Dolmetscher verspätet. Und zwar erheblich verspätet. Er wurde vom Portier und den Kollegen gesucht, bis er schließlich auftauchte. Fassungslos über sein eigenes Versäumnis betrat er Raabs Büro. Hier muss vorausgeschickt werden, dass Bundeskanzler Raab die Familie des Zuspätkommenden sehr gut kannte und dass der Verspätete Raabs Büro gerade zu der geheiligten Tageszeit betrat, als der Bundeskanzler Kaffee trank, Zeitung las und seine legendäre Virginia paffte. Eine geraume Zeit soll Raab die Gegenwart des Verspäteten gar nicht zur Kenntnis genommen haben. Dann blickte er zu ihm auf und bemerkte sehr 113

Lebenskreise

ernst: „Lieber Freund, wenn so etwas noch einmal passiert…“ – der Verspätete soll innerlich geschlottert und eine raue Drohung erwartet haben – „… dann sag’ ich es deiner Mutter!“ Wahrscheinlich hatte Raabs drohender Finger mehr Wirkung als ein Donnerwetter. Seither habe man im Curriculum des Diplomaten nichts mehr von Verspätungen feststellen können.

Das außenpolitische Referat der ÖVP

D

ie Arbeit, die ich in der Bundeskammer leisten musste, war ideologisch auf die Verbreitung ihres freiwirtschaftlichen Einflusses ausgerichtet und auf die Publizierung ihrer Arbeit für die Mitglieder. Durch eine andere enge Beziehung zum Generalsekretär der ÖVP, Dr. Alfred Maleta, mit dem ich häufig außenpolitische Fragen diskutierte, wurde ich aber auch mit Zustimmung Raabs aufgefordert, innerhalb des Generalsekretariats der ÖVP eine Art außenpolitisches Referat aufzubauen, an dessen Spitze Maleta persönlich stehen sollte. Er konnte so auch unabhängig vom Außenamt die außenpolitische Szene beobachten. Dieses außenpolitische Referat innerhalb der ÖVP wurde in verschiedenen parteiinternen Gremien und bei zahlreichen Besprechungen immer wieder gefordert. Es entstand zunächst aus einer eher lapidaren Notwendigkeit heraus. Viele ÖVP-Mandatare sprachen nur bescheiden Englisch. Dagegen beherrschten die Sozialisten die englische Sprache besser. Viele von ihnen waren 1938 in die englischsprachige Emigration geflüchtet, sodass sich unserem Empfinden nach zwischen den Sozialisten und den Amerikanern oder Engländern bessere Beziehungen entwickeln konnten, als es der ÖVP gelingen mochte. Bei gelegentlichen Unterhaltungen konnte sich Julius Raab zum Beispiel leichter mit Russen unterhalten, auch wenn er nicht Russisch sprach, während sozialistische Emigranten die englische oder französische Sprache früher und besser beherrschten und auch engere Kontakte zu wichtigen Alliierten unterhielten. Manche der sozialistischen Emigranten verblieben auch nach dem Krieg in Washington und wurden von den Amerikanern in ihre Verwaltung eingebaut. Besonders in das State Department und in den Bereich 114

Lebenskreise

ernst: „Lieber Freund, wenn so etwas noch einmal passiert…“ – der Verspätete soll innerlich geschlottert und eine raue Drohung erwartet haben – „… dann sag’ ich es deiner Mutter!“ Wahrscheinlich hatte Raabs drohender Finger mehr Wirkung als ein Donnerwetter. Seither habe man im Curriculum des Diplomaten nichts mehr von Verspätungen feststellen können.

Das außenpolitische Referat der ÖVP

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ie Arbeit, die ich in der Bundeskammer leisten musste, war ideologisch auf die Verbreitung ihres freiwirtschaftlichen Einflusses ausgerichtet und auf die Publizierung ihrer Arbeit für die Mitglieder. Durch eine andere enge Beziehung zum Generalsekretär der ÖVP, Dr. Alfred Maleta, mit dem ich häufig außenpolitische Fragen diskutierte, wurde ich aber auch mit Zustimmung Raabs aufgefordert, innerhalb des Generalsekretariats der ÖVP eine Art außenpolitisches Referat aufzubauen, an dessen Spitze Maleta persönlich stehen sollte. Er konnte so auch unabhängig vom Außenamt die außenpolitische Szene beobachten. Dieses außenpolitische Referat innerhalb der ÖVP wurde in verschiedenen parteiinternen Gremien und bei zahlreichen Besprechungen immer wieder gefordert. Es entstand zunächst aus einer eher lapidaren Notwendigkeit heraus. Viele ÖVP-Mandatare sprachen nur bescheiden Englisch. Dagegen beherrschten die Sozialisten die englische Sprache besser. Viele von ihnen waren 1938 in die englischsprachige Emigration geflüchtet, sodass sich unserem Empfinden nach zwischen den Sozialisten und den Amerikanern oder Engländern bessere Beziehungen entwickeln konnten, als es der ÖVP gelingen mochte. Bei gelegentlichen Unterhaltungen konnte sich Julius Raab zum Beispiel leichter mit Russen unterhalten, auch wenn er nicht Russisch sprach, während sozialistische Emigranten die englische oder französische Sprache früher und besser beherrschten und auch engere Kontakte zu wichtigen Alliierten unterhielten. Manche der sozialistischen Emigranten verblieben auch nach dem Krieg in Washington und wurden von den Amerikanern in ihre Verwaltung eingebaut. Besonders in das State Department und in den Bereich 114

das aussenpolitische Referat der ÖVP

30. Bei der Pressekonferenz mit dem Secretary of State, Dean Acheson, am 23. Juni 1950 in Washington D.C. Foto: O’Donnell.

sozialer Agenda. Diesen Nachteil für die ÖVP entdeckte ihr Generalsekretär Dr. Alfred Maleta. Er versuchte, mittels eines Kommunikationszentrums die Verbindung mit fremdsprachigen Administratoren zu fördern. Drei Beschäftigte wurden eingestellt, was damals schon eine beachtliche Belastung des kleinen Parteiapparates war. Ich musste nach meiner Kammerarbeit auch noch in die ÖVP-Zentrale laufen, um die Korrespondenz zu erledigen. Wir hatten dieses Problem mit den Amerikanern direkt in Wien besprochen, vor allem mit einem ehemaligen Theresianisten, dem Botschaftsrat Hans von Imhof, dem älteren Bruder meines einstigen Widerstandskameraden Viktor Imhof. Hans konnte gerade noch vor Kriegsausbruch in die USA flüchten. Sein Schiff hatte auf der Reise über den Atlantik rechtzeitig das deutsche Hoheitsgewässer verlassen, sonst hätte es umkehren müssen, und Imhof wäre vermutlich den deutschen Behörden ausgeliefert worden. So konnte er in Harvard unter Professor Henry Kissinger Vorbereitungsstudien für seine spätere diplomatische Karriere abschließen. Er starb plötzlich im Alter von fünfzig 115

Lebenskreise

Jahren in Washington als Botschaftsrat der Vereinigten Staaten und wurde neben seinen Eltern in Baden bei Wien beigesetzt. In Wien kam man zur Erkenntnis, dass nicht jedes Thema über die offizielle Botschaftsebene transportiert werden sollte und es das Beste wäre, wenn jede der beiden österreichischen Parteien einen Vertreter nach Washington entsenden würde. Diesen Vertretern sollte es offenstehen, Informationen einzuholen und weiterzuleiten. Schließlich wurde dieses Konzept umgesetzt. Die Sozialisten nominierten einen bedeutenden Journalisten namens Erich Hacker. Für die ÖVP wurde ich nach Washington entsandt. Hacker war angeblich ein Verwandter des Julius Deutsch, der als österreichischer General im Spanischen Bürgerkrieg auf der Seite der Regierungstruppen gekämpft hatte. Eine weitere Aufgabe des außenpolitischen Referates war die Zusammenarbeit mit den christlich-sozialen Schwesterparteien Europas. Schon damals begannen in Italien, Frankreich, Luxemburg, Belgien und der Bundesrepublik Deutschland Bestrebungen fühlbar zu werden, die sich in Richtung einer engeren europäischen Zusammenarbeit entwickelten. Dies geschah noch nicht im Sinne unserer heutigen EU-Verfassung, aber durch den Austausch von Ideen, die in die Gesetzgebung der politisch verwandten Staaten einflossen. Der einige Aufmerksamkeit weckende erste Kongress der NEI (Nouvelles Equipes Internationales) wurde in Tours veranstaltet. Ich selbst war an der Vorbereitung dieser Veranstaltung intensiv beteiligt. Für mich lag im europäischen Gedanken ein großes Zukunftspotenzial. Leider blieben alle diese Aktivitäten auf der Ebene engagierter mittelhoher Kongressmitarbeiter stecken. Bei diesem Kongress in Tours fehlten aber die Großen, Adenauer, De Gasperi und andere damals bekannte Staatsoberhäupter. Die Impulse gingen vor allem von Robert Schuman und Frankreich aus. In Österreich war Generalsekretär Dr. Maleta stark engagiert und geriet dadurch in ein gewisses Spannungsfeld mit Außenminister Dr. Gruber, der an diesen frühen europäischen Initiativen wenig Interesse zeigte. Persönliche Eifersucht spielte eine nicht geringe Rolle. Außenpolitik lief also sowohl über die Partei als auch über das Außenamt. Während aber Maleta mehr die parteipolitischen Hebel bediente, war Raab interessierter, die internationalen christlichen Beziehungen zu fördern.

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Kammerarbeit

D

as Sprachrohr der Bundeshandelskammer war die Presseabteilung. Dort wurden oft täglich mehrere wirtschaftpolitische Bulletins verfasst. Sie waren meist von bundesweiter wirtschaftspolitischer Bedeutung und mussten sofort an die Tagespresse weitergeleitet werden. Dabei ging es vielleicht weniger um die präzise Formulierung dieser Aussendungen, als vielmehr um den politischen Inhalt. Die Kammer war der Träger der freien Marktwirtschaft und daher eine der Säulen des Wiederaufbaus. Überdies führten die Unterorganisationen der Kammer, die Sektionen, eine Art autonomes Eigenleben. Jede dieser Organisationen, wie die Sektionen Gewerbe, Handel, Banken oder Industrie, wollte ihre Arbeit einem möglichst breiten Publikum bekannt machen. Eigentlich hätten sie diese Arbeit selbstständig ausführen können, um meine Pressestelle nicht zusätzlich zu belasten. Leiter der wirtschaftspolitischen Abteilung der Bundeshandelskammer war Professor Reinhard Kamitz. Er war bereits zu Beginn des Dritten Reichs prominenter Volkswirtschaftler an der Hochschule für Welthandel gewesen. Damals war ich sein Schüler. Nach Ende des Krieges hatte er eine Wirtschaftsphilosophie begründet, die sowohl der Demokratie entsprach als auch die raschere Entfaltung eines Wirtschaftswachstums forderte. Es gelang ihm, die Brücke vom Dritten Reich zur Zweiten Republik, ohne zu stolpern, zu überqueren, wobei Raab sicherlich mitgeholfen hat. Häufig mussten längere Reden für Spitzen der Kammer vorbereitet werden. Größere Projekte der Bundeshandelskammer wurden an der Quelle oder auf Reisen entwickelt. Eines dieser Projekte war die Veröffentlichung sogenannter „Werkszeitungen“, wie ich sie im Jahr 1952 in den USA über mehrere Wochen studieren konnte. Die Aufgabe dieser kleinformatigen „Heimpublikationen“ war, in einem größeren Betriebsbereich ein freundliches Klima zwischen Managern und Arbeitern zu sichern. Sie berichteten über eigene Firmenangelegenheiten, Sport, gemeinsame Reisen und Ausflüge, sie veröffentlichten Berichte über neue soziale und industrielle Einrichtungen und vieles mehr. Die Redaktion lag im jeweiligen Unternehmen. Eine Gesamtredaktion bereitete fachlichen Lesestoff für mehrere gleich orientierte Organe vor. Auch wirtschaftspolitische Theorien wurden zentral redigiert. 117

Lebenskreise

31. Berichterstattung aus den USA nach Wien.

Um diese Strukturen zu studieren, begaben sich einige Journalisten und Sozialpolitiker der österreichischen Kammerorganisationen auf Einladung des US State Departments im Juni 1952 von Bremerhaven nach New York. So gewannen wir auch einen interessanten Einblick in das Leben der US Navy, die nach dem Krieg noch immer die wichtigsten Transportaufgaben, auch zivile, erfüllte. Wir erhielten militärische Distinktionen, ich wurde Major und erhielt 325 Dollar pro Monat, einen Betrag, mit dem man schlecht, aber recht in den USA leben konnte. Gemeinsam mit mir waren der Bürgermeister von Bregenz, der Energieexperte Migsch und ein Landwirtschaftsfachmann auf diese Reise eingeladen. Sie sollte etwa dreißig Tage in Anspruch nehmen. Während der Administration Truman hatten die Amerikaner mehrere interessante Entwicklungsprogramme dieser Art ersonnen, die in Europa gut ankamen. Sie wurden „Political Leadership Program“ genannt und mit öffentlichen Geldern finanziert. Jüngere, politisch strebsame Administratoren aus befreundeten Staaten sollten angesprochen und mit amerikanischen Ideen und Plänen vertraut gemacht werden, jeder in seinem Fach. Die Pläne wurden in den USA sehr gelobt, ihr späteres Auslaufen sehr bedauert. 118

Erste Reisen durch die USA

Meine Reiseroute wurde von der US Chamber of Commerce ausgearbeitet und gesponsert. Man machte mich vor allem mit Public-Relations-Programmen vertraut, die mich kreuz und quer durch die Staaten führten. Die Reise ermöglichte mir auch, besondere sozialpolitische Kenntnisse zu erwerben, wie beispielsweise die Konzeption der bereits besprochenen Werkzeitungen. Andererseits war man in den USA daran interessiert, das völlig unbekannte österreichische Konstrukt der Handelskammern mit obligatorischer Mitgliedschaft kennenzulernen. Was in meinen Vorträgen besonders gut ankam, war der Erfolg des Wirtschaftsaufbaus nach einem amerikanischen Konzept, dem Marshall-Plan. Die von den Amerikanern investierten öffentlichen Gelder wurden in Österreich öfter reinvestiert, sodass sie in Form einer Spirale anwuchsen und die Kredite ziemlich schnell getilgt werden konnten. Kreditoren hören gerne, dass ihr Geld in der „alten Heimat“ erfolgreich angelegt war.

Erste Reisen durch die USA

M

ein erster längerer Aufenthalt in den USA galt der mittelgroßen Stadt Kankakee im Staate Illinois. Der Direktor der dortigen Handelskammer, Ron Henrekin, hatte mein gesamtes Reiseprogramm zusammengestellt. Es war nicht nur ein glücklicher Zufall, dass ich in Kankakee auf den wohl größten mittelamerikanischen Ford-Automobil-Vertreter stieß, sondern auf einen fanatischen, internationalen Katholiken. Er hieß Romy Hames, die Familie stammte aus Lothringen und war gegenüber katholischen Initiativen jeglicher Art sehr aufgeschlossen. Sein Bruder war Bischof einer ebenfalls mittelgroßen Stadt in Michigan. Nach meinem Vortrag nahm mich Romy am Arm und führte mich in die nahegelegene Grabeskirche von Kankakee. Es ist eines jener robusten Bauwerke, das sich aus unbearbeitetem Stein zusammensetzt. Außer uns beiden war niemand in der Kirche. Ob ich wohl wüsste, dass man in Rom kürzlich das Grab Petri entdeckt hatte? „Nein.“ Ob ich gelesen hätte, dass bei der Öffnung des Grabes kleine Reliquien verschwunden seien? „Nein.“ Romy setzte ein verschmitztes Lächeln auf und flüsterte mir zu: „Sie befinden sich unter 119

Erste Reisen durch die USA

Meine Reiseroute wurde von der US Chamber of Commerce ausgearbeitet und gesponsert. Man machte mich vor allem mit Public-Relations-Programmen vertraut, die mich kreuz und quer durch die Staaten führten. Die Reise ermöglichte mir auch, besondere sozialpolitische Kenntnisse zu erwerben, wie beispielsweise die Konzeption der bereits besprochenen Werkzeitungen. Andererseits war man in den USA daran interessiert, das völlig unbekannte österreichische Konstrukt der Handelskammern mit obligatorischer Mitgliedschaft kennenzulernen. Was in meinen Vorträgen besonders gut ankam, war der Erfolg des Wirtschaftsaufbaus nach einem amerikanischen Konzept, dem Marshall-Plan. Die von den Amerikanern investierten öffentlichen Gelder wurden in Österreich öfter reinvestiert, sodass sie in Form einer Spirale anwuchsen und die Kredite ziemlich schnell getilgt werden konnten. Kreditoren hören gerne, dass ihr Geld in der „alten Heimat“ erfolgreich angelegt war.

Erste Reisen durch die USA

M

ein erster längerer Aufenthalt in den USA galt der mittelgroßen Stadt Kankakee im Staate Illinois. Der Direktor der dortigen Handelskammer, Ron Henrekin, hatte mein gesamtes Reiseprogramm zusammengestellt. Es war nicht nur ein glücklicher Zufall, dass ich in Kankakee auf den wohl größten mittelamerikanischen Ford-Automobil-Vertreter stieß, sondern auf einen fanatischen, internationalen Katholiken. Er hieß Romy Hames, die Familie stammte aus Lothringen und war gegenüber katholischen Initiativen jeglicher Art sehr aufgeschlossen. Sein Bruder war Bischof einer ebenfalls mittelgroßen Stadt in Michigan. Nach meinem Vortrag nahm mich Romy am Arm und führte mich in die nahegelegene Grabeskirche von Kankakee. Es ist eines jener robusten Bauwerke, das sich aus unbearbeitetem Stein zusammensetzt. Außer uns beiden war niemand in der Kirche. Ob ich wohl wüsste, dass man in Rom kürzlich das Grab Petri entdeckt hatte? „Nein.“ Ob ich gelesen hätte, dass bei der Öffnung des Grabes kleine Reliquien verschwunden seien? „Nein.“ Romy setzte ein verschmitztes Lächeln auf und flüsterte mir zu: „Sie befinden sich unter 119

Lebenskreise 32. Romy Hames mit seiner Ehefrau, Kankakee (Illinois).

dieser Altarplatte.“ Das Innere der Grabeskirche war mit Dutzenden, vielleicht Hunderten Papstporträts geschmückt, sodass man annehmen musste, dass Romy mehrmals im Jahr seine Aufwartung in Rom machte. Die Kirche von Kankakee mit den verborgenen Schätzen ist nicht das einzige von ihm erbaute Gotteshaus. So wie andere Wohltäter kleine Erinnerungsstätten hinterlassen, so streute Hames Kirchen über den großen Staat Illinois. Zwischen uns entwickelte sich eine enge Freundschaft. Nicht nur, weil er – so wie ich – ein exzentrischer Sammler war, sondern weil man seine Interessen schnell durchschauen konnte. Es war alles klar abgegrenzt und verständlich. Da ich mich in den folgenden Jahren häufig in den Vereinigten Staaten aufhielt, führte ich mehrere österreichische Minister nach Kankakee – Bundeskanzler Figl, Generalsekretär Maleta und noch manche andere österreichische Abgeordnete. Für jeden gab Romy ein lustiges Dinner, ließ ihm die Ehrenbürgerschaft von Kankakee verleihen und den goldenen Schlüssel der Stadt überreichen. Wann immer ein Notfall eintrat, und diese gab es immer wieder, half Romy. Ich durfte auch eines seiner Automobile benutzen, um mein umfangreiches Itinerary zu bewältigen. Die Reiseroute gab vor, dass ich am 28. Juni 1952 von Washington D.C. über Knoxville und Kankakee nach Chicago, New York, Minneapolis, Aberdeen und Rapid City in South Dakota fahren sollte, dazwi120

Erste Reisen durch die USA

schen den Yellowstone Park besichtigen und weiter über den Staat Montana nach Seattle, Portland und San Francisco reisen würde. Durch ganz Kalifornien und nach Las Vegas führte mich der Weg in den Grand Canyon, von dort nach New Mexico und Texas, nach Alabama, Georgia, South Carolina und Virginia, um schließlich am 24. Oktober 1952 wieder in Washington D.C. anzukommen. Ich möchte nur einige Stationen dieser Reise herausheben, die mir tief in Erinnerung geblieben sind. Eines Abends entdeckte ich einen ganz ausgefallenen Landschaftstypus. Es gab dort keine asphaltierten Straßen, stattdessen roten Sandboden. Mächtige Schlaglöcher machten sogar das Einhalten einer minimalen Geschwindigkeit äußerst schwierig. Die leicht hügelige Landschaft war zumeist von verschiedenen Nadelbaumarten bewachsen. Auf der Fahrt über solch naturbelassene Straßen trug ich meist meine kurze Lederhose. Sie war der beste Schutz gegen Hitze und boshafte Insektenstiche. Außerdem hatte sie einen gewissen PR-Effekt, da noch niemand zwischen Arizona und Utah, wo ich mich jetzt befand, eine steirische Lederhose gesehen hatte. Auf diesen ungastlichen Wegen wurde man stets durch Schilder aufgefordert, Rettungsgeräte im Auto mitzuführen, da man sich hier „auf eigene Gefahr“ bewege. Man solle Schaufeln, Seile und Ersatzreifen mitführen und befände sich überdies in „Rattlesnake Country“. Ich gewann den Eindruck, dass die Verkehrsbehörden eigentlich davon abraten wollten, diese Wege zu befahren, und konnte schon nach wenigen zurückgelegten Kilometern herausfinden, warum. Nach einer Biegung erreichte ich eine fast neue Tankstelle, die von zwei fröhlichen jungen Burschen bedient wurde. Sie bestätigten mir, dass hier sehr wenige Autos vorbeikämen oder tankten, weil dieser ganze Bereich als Mormonengebiet gelte. Die angedrohten Klapperschlangen wurden zwar bestätigt, waren jedoch ohne große Bedeutung. Im Hintergrund stand ein Schulgebäude, daneben einige Lebensmittelläden und ein den Ort überragendes Haus, bei dessen Beschreibung die jungen Burschen einen Finger auf den Mund legten und flüsterten: „This is the CIA building.“ Ich würde ja wohl wissen, dass die Lebensart der fundamentalistischen Mormonen im Prinzip verboten sei und sie ständig unter Beobachtung stünden. Ich hatte bisher weder von Problemen mit Mormonen gehört, noch von dem kleinen Flecken roter Erde, der mich umgab. Die Tankwarte bestanden darauf, ich möge die kleine Schule besuchen, wo ihre Anverwandten unter121

Lebenskreise

richteten und studierten. Hier kam meine Lederhose gerade recht. Ich betrat ein Klassenzimmer und wurde mit größter Liebenswürdigkeit empfangen. Ich sollte etwas über Österreich erzählen und ein oder zwei Lieder singen. Ich gab das muntere Volkslied „Alles neu macht der Mai“ zum Besten, es gefiel sehr. Schließlich durfte ich für diese Nacht die Gastfreundschaft im Haus des Lehrers genießen. Was ich hier alles über Mormonen und ihre dramatische Geschichte in den USA lernte, war unglaublich, wie etwa die Verluste, die sie erlitten hatten, weil man sie bei allen kriegerischen Auseinandersetzungen stets in die erste Reihe der Militärformation platzierte. Die ursprünglich praktizierte „plural marriage“ sei auf diese Ausfälle zurückzuführen, erzählte man mir. Darüber hinaus hätte die überwiegende Mehrzahl der Mormonen dieser „plural marriage“ schon lange entsagt. Sie folgten einem historischen Vertrag, den sie mit den Bundesbehörden abgeschlossen hatten, sonst hätte es kein Utah gegeben. Es sei ein großer Zufall, dass ich gerade auf diese kleine Gruppe gestoßen sei, die noch diese ältere Lebensart pflegte. Es sei auch nicht jedem Mitglied der Religionsgemeinschaft erlaubt, mehrere Frauen zu ehelichen. Nur den erfolgreichsten Anführern der kleinen Gruppe wurde dies zugestanden. Sie waren „Apostel“, die eigentlichen Clanführer. Die so Privilegierten lebten in separierten Niederlassungen, jeweils mit einer Ehefrau. Man sah in größeren Abständen, über die Hügel verstreut, mehrere Anwesen. Gegen diese Lebensart konnte auch die CIA nichts einwenden. Am nächsten Tag wurde ich mit herzlichen Grüßen verabschiedet. Ich musste meine österreichische Adresse hinterlassen und erhielt reichlich Literatur, die ich später sorgfältig studierte. Ich kann mich noch erinnern, dass jenes Buch, das die meiste Aufklärung vermittelte, „Family Kingdom“ hieß. Ich habe es nicht mehr wiedergefunden. Etwa ein Jahr später, während der Regierung Eisenhower, mussten sich meine neuen Freunde gegen irgendwelche Vorschriften vergangen haben. Ich erhielt zahlreiche Briefe, die mich aufforderten, über ihr Schicksal in möglichst vielen Zeitungen nach Europa zu berichten. Man hätte ihnen ihre Kinder entzogen und diese würden nun in eigenen Schulen unterrichtet und ihre Lebensart den letzten Vereinbarungen mit der US-Regierung genau angepasst. Diese Sprengel von Fundamentalisten waren für ein Gesamtbild keineswegs symptomatisch. Ich erinnere mich auch noch an innenpolitische Reibungen während der Regierungsbildung Eisenhowers. Einige wenige Kandidaten aus 122

Erste Reisen durch die USA

den Reihen der Mormonen wurden ins Kabinett nominiert, darunter ein berühmter Mediziner aus Salt Lake City. Er wurde zuletzt nicht ins Kabinett aufgenommen, weil man gewisse „Unebenheiten“ nicht übersehen wollte. Dabei galt das akademische Niveau des College of Utah als eines der höchsten in den USA. Berühmt sind vor allem die über Jahrzehnte zusammengetragenen historischen Dokumente. Sie sind unersetzbar und werden bei allen großen wissenschaftlichen Arbeiten verwendet. Das Zusammenlegen von Puzzlesteinen ist in einem Millionenstaat nicht so einfach, um alle seit Generationen aufgetretenen kleinen Risse unsichtbar zu machen.

Pierre ( South Dakota) Ein wichtiger Zwischenstopp auf meiner langen USA-Reise war Pierre im Staate South Dakota. Wirtschaftlich gesehen bildete die Gegend ein bedeutendes Zentrum mittelgroßer Holzverarbeitungsindustrien und erfreute sich eines ansteigenden Tourismus in wilder, zerklüfteter Landschaft. Auch hier gab es freundlichen Empfang und aufklärende Vorträge, vermischt mit einem stimmungsvollen Picknick, das hier in Anlehnung an die Planwagen, mit denen der Westen erobert worden war, als „Chuck Wagon Luncheon“ bezeichnet wurde. Man erinnerte an das Leben auf diesen langen und gefährlichen Reisen und die seltenen entspannenden Pausen an Feiertagen. Die von Kiefern bewachsenen Hügel wurden von einem riesenhaften Monument gekrönt, das die Porträtbüsten der vier wichtigsten Präsidenten trug: Washington, Lincoln, Roosevelt und Jefferson. Es ist eines jener nationalen Symbole, das in Amerika jedes Schulkind kennt und das in Millionen von Ansichtskarten vervielfältigt wurde: Mount Rushmore. Die in den Fels gehauenen Köpfe erinnerten mich an den Stil des österreichischen Bildhauers Hrdlicka, die Kiefernlandschaft dagegen an das von Maria Theresia angelegte Steinfeld bei Wiener Neustadt. Neben dem fröhlich tanzenden Völkchen grasten kleinere Büffelherden, wie sie früher zum allgemeinen Dekor der amerikanischen Landschaftsmalerei gehörten. Unter den breiten Leder-Stetsons versteckten sich die Gesichter der von der Sonne dunkel gebrannten „Honoratioren“ des Staates, vom Gouverneur 123

Lebenskreise

abwärts bis zu den Büffelhütern. Überall roch es nach Bier und Hamburgern. Jetzt galt es, den schwierigen Weg zum Gouverneur zu finden, denn viele dieser ländlichen Politiker blieben gerne stumm. Auf meine Lederhose weisend, erklärte ich dem Gouverneur, dass man in Österreich solch eine seltene Hose nur dann trage, wenn man sich auf eine seltene Jagd begebe. Diesen Bezug hatte auch der Gouverneur verstanden. „Aber wir jagen ja erst Anfang September die Büffel“, meinte er bedauernd. Ich vermerkte noch deutlich, dass mich diese Jagd ganz besonders interessieren und dass ich in allen österreichischen Jagdzeitungen ausführlich berichten, die Schönheit und Aufregung solch einer Jagd genau schildern würde. Viel Hoffnung auf Einladung nahm ich nicht mit. Dann war ich aber schon in Richtung Westen dahin. Auf weitere Episoden meiner Reise möchte ich hier verzichten, außer darauf, dass ich mit meinem Auto in einen Salzsee einbrach und mich längere Zeit erholen musste, denn bis zum nächsten Spital galt es noch, zehn Kilometer in extremer Hitze zu marschieren. Zu meiner größten Überraschung erhielt ich aber die Einladung zur Büffeljagd zeitgerecht aus Pierre und stellte mich, samt der Lederhose, am verabredeten Ort zum richtigen Datum ein. Mit mir war noch ein protestantischer Pastor eingeladen, der sich in schwarzem Talar mit weißem Rundkragen einfand. Lederhose und Talar, eine passende Mischung. Unser Jagdführer hieß Simon. Weil ja doch mindestens einmal im Jahr einige Tiere aus der Büffelherde eliminiert werden mussten, verstand Simon sein Metier einigermaßen. „Man müsse aus dem Auto schießen“, aus dem alten, labilen Waldwagen. In Europa war es verpönt, aus einem LKW zu schießen. Wenn man den Büffel unter dem Träger, wie der Jäger den Hals nennt, trifft, verendet er sofort. Hin und wieder kam es vor, dass eine Herde angriff, um den gefallenen Kameraden zu decken. Wir fuhren mit gespannten Erwartungen los. Das Auto hatte keinerlei Federung und warf uns hin und her. Die erste Gruppe von zehn Büffeln stand etwa zwölf Kilometer entfernt in einer Talsohle und äste. Simon gab mir den stärksten Bullen frei. Wir näherten uns, ohne die Herde zu verscheuchen. Ich erlegte den starken Bullen auf sechzig Meter Entfernung. Simon reichte mir ein altes Feldgewehr, das möglicherweise noch aus dem Bürgerkrieg stammte. Plötzlich erhob sich ein Staubwirbel und der Rest der Herde begann um das erlegte Tier zu kreisen, wie es manchmal beim Taubenschießen passiert. 124

Erste Reisen durch die USA

Man konnte in diesem Wirbel die einzelnen Tiere nicht mehr voneinander unterscheiden. Da rief mir Simon plötzlich zu: „Da ist sie … schieß diese Kuh auch noch!“ Es handelte sich um ein im Vorjahr angeschweißtes weibliches Tier, dessen Hinterlauf stark lahmte. Auch dieser Wunsch wurde ihm und mir erfüllt. Inzwischen näherte sich Simons Freund mit einem anderen halb zerfallenen Wagen und begann, die beiden Büffel abzuschleppen, aufzubrechen und zu häuten. Es war jedenfalls ein stimmungsvoller und aufregender Jagdtag, wie ich ihn sehr lange nicht mehr erlebt hatte, weil Krieg und Kerker dazwischenlagen. Gewisse Zweifel kamen in mir auf, wie mich nun meine Braut Daisy in New York mit zwei schmutzigen Büffelfellen empfangen und wo ich diese Trophäen in einer kleinen Wohnung unterbringen würde. Sie haben uns auch im weiteren Verlauf des Lebens noch Sorge bereitet, angefangen mit der Suche im Telefonbuch nach einer „Putzerei“, die sich auf Büffelfelle spezialisierte. Die Felle überlebten noch viele Jahre an den Wänden unseres weißen Holzhauses in Pelham und unseres Jagdhauses in Pennsylvania. Von dort wurden sie angeblich nach maliziösem Vermerk meiner Frau „gestohlen“, und seither leben sie nur mehr in meiner Erinnerung. Ich habe in den USA noch oft gejagt, Waldschnepfen im Frühjahr und Herbst, das schnelle Haselhuhn, das durch dichtes Gebüsch schaukelt, den wilden Truthahn, der sich durch Balzlaute anlocken lässt, verschiedene amerikanische Hirscharten im Westen und Osten des Landes, Wapitis in den Rocky Mountains, doch niemals konnten diese Unternehmungen die Schönheit des Jagens unserer Jugendzeit in Majorháza und der Slowakei auslöschen. Den Tag, an dem ich mit etwa 14 Jahren ungefähr neunzig Rebhühner zwischen hohen Maisstauden, Zuckerrüben und Kartoffelbüschen zur Strecke brachte, werde ich nie vergessen. Ebenso wenig wird jemals die Erinnerung an die hoch streichenden Fasanen in unserem Park, die manchmal getroffen in die Badezimmerfenster fielen, verblassen oder der aufkommende Stolz, wenn man neben einem schönen Mädchen die Hasen „roulieren“ ließ und sich dann unter Akazienbäumen bei Melonen und Zigeunermusik ausruhte und sich verwöhnen ließ. In keinem Aspekt des Lebens ist für mich der Unterschied zwischen Heimat und Fremde stärker zu verspüren gewesen, als bei der Jagd. Über kein Thema konnte man länger und einprägsamer erzählen oder ­schreiben. Es gibt kein Erlebnis, das man nach Jahren noch so deutlich vor 125

Lebenskreise

33. Mein Vater und die „Zigeunerkapelle“ beim Jagdpicknick in Majorháza.

34. Picknick bei der Rebhuhnjagd, mit Marielli McNeven, um 1937.

126

Personalwechsel: Raab wird Bundeskanzler

sich sehen kann, wie ein erlegtes Schottisches Grouse, das zwischen zwei Erikabüschen sanft mit dem Kopf nach vorne fällt.

Personalwechsel: Raab wird Bundeskanzler

N

ach vier Monaten intensiver Studien und Reisen kehrte ich, voll bepackt mit amerikanischem Material, nach Wien zurück und hatte bereits konkrete Pläne für die Verwertung meiner Eindrücke ausgearbeitet. Doch hier erwartete mich ein völlig neues Szenario. In der Bundeshandelskammer konnte ich gerade noch einige Erfahrungen aus den USA in Vorträgen unterbringen, da wurde ich auch schon Zeuge und irgendwie auch Opfer personeller Änderungen, die sich wie eine Spirale vom obersten Echelon bis in das „Mittelfeld“ drehten. Jede Änderung löste eine andere aus. Manche können hier gar nicht mehr erfasst werden. 1953 verließ Julius Raab sein gelungenes Kind, die Bundeshandelskammer, und wurde Bundeskanzler. Wodurch dieser Wechsel ausgelöst wurde, lässt sich aus meiner Sicht nicht mehr genau rekonstruieren. Jeder Politiker möchte, nicht nur in seinen Träumen, die höchste Stufe der Verwaltung, nämlich das Amt des Bundeskanzlers, erreichen. Ob Figl zu diesem Zeitpunkt schon von seinem schweren Krebsleiden wusste, kann ich nicht beurteilen. Er sollte 1965 sterben, nachdem er noch eine erhebliche Zeit als Außenminister und niederösterreichischer Landeshauptmann gedient hatte. Dr. Gruber, der charakterlich nicht überall geschätzt wurde, musste wegen einer beleidigenden Bemerkung gegenüber Figl in seinen Memoiren das Außenamt räumen und dafür den Botschafterposten in Washington beziehen. Dazwischen lag noch eine Nationalratswahl, die der ÖVP nur mehr einen knappen Sieg beschied und Dr. Bruno Kreisky erstmals als Staatssekretär in das Kabinett katapultierte: ein großes Karussell von Personalrochaden. Mich persönlich betrafen diese Verschiebungen indirekt, weil sie mir Julius Raab, meinen Mentor, aus der Bundeshandelskammer entführten. Generalsekretär der Kammer und deren eigentlicher Leiter wurde Dr. Franz Korinek, dem ein völlig anderer Arbeitsstil wie jener Raabs zu eigen war. 127

Personalwechsel: Raab wird Bundeskanzler

sich sehen kann, wie ein erlegtes Schottisches Grouse, das zwischen zwei Erikabüschen sanft mit dem Kopf nach vorne fällt.

Personalwechsel: Raab wird Bundeskanzler

N

ach vier Monaten intensiver Studien und Reisen kehrte ich, voll bepackt mit amerikanischem Material, nach Wien zurück und hatte bereits konkrete Pläne für die Verwertung meiner Eindrücke ausgearbeitet. Doch hier erwartete mich ein völlig neues Szenario. In der Bundeshandelskammer konnte ich gerade noch einige Erfahrungen aus den USA in Vorträgen unterbringen, da wurde ich auch schon Zeuge und irgendwie auch Opfer personeller Änderungen, die sich wie eine Spirale vom obersten Echelon bis in das „Mittelfeld“ drehten. Jede Änderung löste eine andere aus. Manche können hier gar nicht mehr erfasst werden. 1953 verließ Julius Raab sein gelungenes Kind, die Bundeshandelskammer, und wurde Bundeskanzler. Wodurch dieser Wechsel ausgelöst wurde, lässt sich aus meiner Sicht nicht mehr genau rekonstruieren. Jeder Politiker möchte, nicht nur in seinen Träumen, die höchste Stufe der Verwaltung, nämlich das Amt des Bundeskanzlers, erreichen. Ob Figl zu diesem Zeitpunkt schon von seinem schweren Krebsleiden wusste, kann ich nicht beurteilen. Er sollte 1965 sterben, nachdem er noch eine erhebliche Zeit als Außenminister und niederösterreichischer Landeshauptmann gedient hatte. Dr. Gruber, der charakterlich nicht überall geschätzt wurde, musste wegen einer beleidigenden Bemerkung gegenüber Figl in seinen Memoiren das Außenamt räumen und dafür den Botschafterposten in Washington beziehen. Dazwischen lag noch eine Nationalratswahl, die der ÖVP nur mehr einen knappen Sieg beschied und Dr. Bruno Kreisky erstmals als Staatssekretär in das Kabinett katapultierte: ein großes Karussell von Personalrochaden. Mich persönlich betrafen diese Verschiebungen indirekt, weil sie mir Julius Raab, meinen Mentor, aus der Bundeshandelskammer entführten. Generalsekretär der Kammer und deren eigentlicher Leiter wurde Dr. Franz Korinek, dem ein völlig anderer Arbeitsstil wie jener Raabs zu eigen war. 127

Lebenskreise 35. Vortrag im Festsaal der Wiener Handelskammer unter dem Titel „Von der NATO bis ins Weisse Haus“ über die Bedeutung der Wahl Eisenhowers für Europa, gehalten am 20. Februar 1953.

Ich hatte bereits geschildert, wie ideal und frei es sich mit Julius Raab arbeiten ließ. Diese Zeiten waren nun vorbei. Jedes Bulletin für die Presse musste von diesem perfekten Bürokraten geprüft und approbiert werden. Verzögerungen und kleine Reibungen waren die unaufhaltsame Folge. Ich hatte irgendwo gelesen, dass nach dem Krieg junge Beamte „hinaufgeschwemmt“ wurden, denen noch die Routine und die Geduld, in einem derart großen Apparat zu arbeiten, fehlten. Gehörte ich zu jenen? Jedenfalls fühlte ich mich nicht mehr wohl in meiner Haut. Nach sieben Jahren weitgehender Freiheit an Raabs Seite bedeutete der Korinek-Stil für einen Publizisten einen tiefen Einschnitt. Bald nachdem Dr. Korinek Generalsekretär geworden war, meldete ich mich am Ballhausplatz beim Bundeskanzler an und bat ihn kurzerhand um Versetzung an die Außenhandelsstelle in New York, die von meinem engen Freund und späteren Trauzeugen Alfred Bleyleben geführt wurde, der mich gut verwenden konnte, wie er meinte. Raab sah mir lange in die Augen, zog an seiner Virginia und murmelte kaum verständlich: „I wer’ mit ihm sprechen“, gemeint war wohl Korinek. Dabei hatte er sich wohl selbst zugeraunt: „Wieder 128

Persoalwechsel: Raab wird Bundeskanzler

einer, der auf Nimmerwiedersehen nach Amerika geht.“ An sich war ein solch endgültiger Schritt niemals meine Absicht gewesen. Ich hatte meine Emigration eigentlich schon im Widerstand, im Kerker, hinter mich gebracht. Die Versetzung nach New York wurde genehmigt. Aber meine eigenmächtige, persönliche Intervention bei Raab war sicher nicht nach Korineks Geschmack gewesen. So funktioniert Bürokratie eben nicht. Ich fühlte auch, dass mein Einstand in New York kein ungetrübter Neubeginn war. Ich habe oft darüber nachgedacht, ob ich vorschnell, jugendlich leichtsinnig gehandelt hatte und ob ich nicht dem Schicksal in Wien seinen Lauf hätte lassen sollen. Die anfängliche Arbeit an der Außenhandelsstelle mundete mir auch nicht. Es waren meist Interventionen bei US-Importeuren, die ihre Rechnungen für aus Österreich bezogene Waren längere Zeit nicht bezahlt hatten, oder Mahnungen an österreichische Lieferanten wegen zu spät gelieferter Aufträge. Ich konnte nicht behaupten, dass mich diese Arbeit fasziniert hätte. In diese Arbeitsperiode fielen aber auch zwei wichtige Fälle, die sogar den Kongress in Washington befassten. Zuerst ging es um Verletzungen von Monopolvereinbarungen durch die Firma Swarovski in Tirol. Swarovski war es als Erstem gelungen, eigenartig schön glänzende, artifizielle Schmucksteine zu erzeugen, die in Amerika auf alle Kleidungsstücke genäht wurden, auf Wäsche, Kleider, Taschen und Accessoires sowie auf vieles andere, was die amerikanische Fantasie verschönern wollte. Die Nachfrage nach den Steinen war enorm und konnte in den festgelegten Kontingenten nicht untergebracht werden. Aber in Wattens in Tirol dürften sich die Produzenten gedacht haben: Was scheren uns Kontingente, wenn die Nachfrage laufend ansteigt. So kam es zu Zollverletzungen, die sogar die US-Gesetzgebung befassten. Ebenso natürlich die Presse. So wurde die „Causa“ Swarovski eine oft besprochene Angelegenheit. Aber verglichen mit den Steinen von Swarovski beschäftigte ein anderes Kammerproblem den US-Kongress weit mehr. Hier hatte Raab in New York übersehen, dass die Besetzung der Außenhandelsstellen durch geeichte Kammerbeamte erfolgen sollte. Für die New Yorker Stelle hatte sich aber ein tüchtiger, aus dem Balkan stammender Ex- und Importhändler stark gemacht. Ein Herr de Brun, dessen Appetit auf Selbstspeisung besonders ausgeprägt war. Hinter ihm stand die österreichische Creditanstalt, geführt vom eben129

Lebenskreise

so machthungrigen Generaldirektor Joham. Die Gelder, die hier zirkulierten, waren öffentliche amerikanische Mittel aus dem berühmtem Marshall-Plan, die dafür vorgesehen waren, die österreichische Wirtschaft anzukurbeln, sicherlich aber nicht, die Firma de Bruns zu füttern. Neben de Brun arbeiteten noch zwei weitere private Kaufleute in eigenem Interesse in New York. Das löste einen Skandal größeren Ausmaßes im US-Kongress und den Medien aus. In der Bundeshandelskammer hatte man offenbar nicht bedacht, dass man eine Rotte hungriger, unkontrollierter Kaufleute nicht an einen Futtertrog heranlassen dürfte, dessen Inhalt eigentlich für die Allgemeinheit vorgesehen war. Seither werden sämtliche Kandidaten für die Außenhandelsstellen der Kammer von streng prüfenden Beamten ausgewählt. Außenhandelsstellen gibt es heute schon Dutzende in allen Handelsmetropolen der Welt. Die Skandale gehören der Vergangenheit an. Der Marshall-Plan hat seine Aufgabe erfüllt.

Zur Inauguration

W

ährend nach Kriegsende das Interesse an der amerikanischen Innenpolitik in Österreich hauptsächlich von Spezialisten für Zeitgeschichte wahrgenommen wurde, begann in den 50er-Jahren eine neue Phase der Innenund Außenpolitik Fuß zu fassen. Dies hatte wohl mit den Staatsvertragsverhandlungen zu tun, aber auch mit der Faszination, die der große Kriegsheld Amerikas, Dwight D. Eisenhower, nach seiner Wahl zum Präsidenten auslöste. Das Interessante an „Ike“ war, dass ausgerechnet ein Spitzenmilitär die Vereinigten Staaten wieder in Richtung ziviler Normalisierung zurückzuführen bestrebt war. Die Mehrzahl der Amerikaner hatte eigentlich erwartet, dass auf den typischen demokratischen Parteipolitiker Harry S. Truman der politisch ähnlich strukturierte Republikaner Robert Taft folgen würde. Niemand konnte ahnen, dass Taft, der präsumtive Nachfolger, bereits sehr krank war und wohl selbst erkannt hatte, dass seine Kräfte für den nächsten Präsidenten-Turnus nicht mehr reichen würden. Wenige Stunden vor Beginn des Republikanischen 130

Lebenskreise

so machthungrigen Generaldirektor Joham. Die Gelder, die hier zirkulierten, waren öffentliche amerikanische Mittel aus dem berühmtem Marshall-Plan, die dafür vorgesehen waren, die österreichische Wirtschaft anzukurbeln, sicherlich aber nicht, die Firma de Bruns zu füttern. Neben de Brun arbeiteten noch zwei weitere private Kaufleute in eigenem Interesse in New York. Das löste einen Skandal größeren Ausmaßes im US-Kongress und den Medien aus. In der Bundeshandelskammer hatte man offenbar nicht bedacht, dass man eine Rotte hungriger, unkontrollierter Kaufleute nicht an einen Futtertrog heranlassen dürfte, dessen Inhalt eigentlich für die Allgemeinheit vorgesehen war. Seither werden sämtliche Kandidaten für die Außenhandelsstellen der Kammer von streng prüfenden Beamten ausgewählt. Außenhandelsstellen gibt es heute schon Dutzende in allen Handelsmetropolen der Welt. Die Skandale gehören der Vergangenheit an. Der Marshall-Plan hat seine Aufgabe erfüllt.

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ährend nach Kriegsende das Interesse an der amerikanischen Innenpolitik in Österreich hauptsächlich von Spezialisten für Zeitgeschichte wahrgenommen wurde, begann in den 50er-Jahren eine neue Phase der Innenund Außenpolitik Fuß zu fassen. Dies hatte wohl mit den Staatsvertragsverhandlungen zu tun, aber auch mit der Faszination, die der große Kriegsheld Amerikas, Dwight D. Eisenhower, nach seiner Wahl zum Präsidenten auslöste. Das Interessante an „Ike“ war, dass ausgerechnet ein Spitzenmilitär die Vereinigten Staaten wieder in Richtung ziviler Normalisierung zurückzuführen bestrebt war. Die Mehrzahl der Amerikaner hatte eigentlich erwartet, dass auf den typischen demokratischen Parteipolitiker Harry S. Truman der politisch ähnlich strukturierte Republikaner Robert Taft folgen würde. Niemand konnte ahnen, dass Taft, der präsumtive Nachfolger, bereits sehr krank war und wohl selbst erkannt hatte, dass seine Kräfte für den nächsten Präsidenten-Turnus nicht mehr reichen würden. Wenige Stunden vor Beginn des Republikanischen 130

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36. Die „Convention“ von 1952 mit „Ike“ Eisenhower.

Konvents entschloss sich also Taft zurückzutreten. Während alle Anwesenden noch auf ihn warteten, erschien auf der großen Bühne eine geradezu „wagnereske“ Gestalt: der Kriegsheld Eisenhower, nicht nur zum ungeheuren Jubel der Republikaner! Damit war die Wahl des Jahres 1953 praktisch bereits entschieden. Selbst dem sehr geschliffenen und routinierten Demokraten Adlai Stevenson, Eisenhowers demokratischem Gegenkandidaten, mangelte es an menschlicher Substanz, um Eisenhower und dessen heroische Kriegsvergangenheit aufzuwiegen. Aus Österreich war natürlich auch Julius Raab zur Convention (Nominierung) geladen. Aber seine bescheidene Einstellung zu solchen Einladungen war meist: „Fahr’ Du nach Amerika. Ich werde ja in St. Pölten gewählt.“ Umso ambitionierter gaben sich die beiden anderen Repräsentanten der Volkspartei, ihr Generalsekretär Dr. Alfred Maleta sowie der Generalsekretär des Wirtschaftbundes und Raabs Intimus, Bundesrat Fritz Eckert. Ihre Interessen waren vor allem von ihren persönlichen Neigungen für Publizität und neuerdings für Außenpolitik angefacht. Ich sollte die beiden von New York nach Chicago begleiten und sie überhaupt während ihres Aufenthaltes in den USA 131

Lebenskreise

betreuen. Unbedingt müsse es mir gelingen, so war mein Auftrag, dass Eisenhower ihnen vor der Kamera freundlich lächelnd die Hand schüttelte und dass dieses Foto dann am folgenden Montag als Aufmacher im „Kleinen Volksblatt“ der ÖVP in Wien erscheinen müsse. Diese Order wurde mir mehrmals täglich ans Herz gelegt, als ob Eisenhower nichts anderes zu tun gehabt hätte.

Der Kofferraub Indessen ergab sich eine Unannehmlichkeit, die mich unter großen Druck setzte. Beiden Herren wurden ihre Koffer, samt Vorkriegsanzügen des berühmten Wiener Herrenschneiders Knize und anderen unwiederbringlichen Accessoires, aus dem Auto gestohlen. Dies alles trotz meiner ständigen Warnung, sich nicht vom Auto zu entfernen. Der Wagen war zwar sehr pittoresk am Ufer des Lake Michigan geparkt gewesen, aber die Diebe hatten meinen Gang zum Hotelportier beobachtet und ausgenützt, um zuzuschlagen. Ich war unterwegs, die Eintrittskarten zur Convention abzuholen. So hatte ich gegen den bitteren Groll meiner beiden Schützlinge über den Verlust ihrer Anzüge anzukämpfen, die freilich so kurz nach Kriegsende nicht leicht wieder zu ersetzen waren. Der legendäre Meister Knize lebte damals übrigens in den USA und in Kanada. Er hatte sein Geschäft in New York gerade zugesperrt. Die Ansprüche der neuen Klientel waren zu hoch, ebenso wie seine Rechnungen. Wir mussten also sofort in das Polizeikommissariat von Chicago, damit, wie Dr. Maleta meinte, dort sofort ein Akt über diesen schändlichen Raub an österreichischen Parlamentariern angelegt werde. Er war davon überzeugt, dass man für die Auffindung des Raubgutes Chicagos beste Polizeispezialisten einsetzen würde. Als ihm der Kommissar spöttisch lächelnd erklärte, dass sich bis zu dieser Stunde in Chicago bereits mehr als vierhundert Autoeinbrüche ereignet hatten, ließen beide österreichische Politiker die Köpfe hängen, ein Bild, das unweigerlich an Heines französische Grenadiere denken ließ. Nun waren wir aber tatsächlich nicht allzu gut gekleidet. Ein adäquater Ersatz der Anzüge wäre zu kostspielig gewesen. So rief ich meinen Freund Romy Hames in Kankakee, Illinois, an, der unseren österreichischen Gästen 132

Zur Inauguration

bereits die Ehrenbürgerschaft der Stadt beschafft hatte und uns sicher weiterhelfen würde. Tatsächlich erreichten wir Kankakee zeitgerecht und auch das einzige noch geöffnete Warenhaus, sodass die Beraubten Ersatzanzüge als Geschenk von Romy Hames entgegennehmen konnten. Diese waren zwar nicht von Knize geschneidert, erfüllten jedoch passabel ihren Zweck. Nun ging es aber um den eigentlichen Plan, den „Handshake“ mit Eisenhower. Man konnte sich schon im Voraus ausmalen, welch ein Tumult sich beim Erscheinen Eisenhowers oder nach seiner Rede abspielen würde. Ich war ratlos und begab mich aus den sich mit Menschen füllenden Sälen zu den „sanitären Einrichtungen“. Ich erwartete auch dort ein „Full House“, traf aber lediglich den einsam sinnierenden Gouverneur des Staates Minnesota, Harold Stassen, den ich aus Washington ganz gut kannte. Er empfing für gewöhnlich ausländische Journalisten sehr freundlich. Harold Stassen war schon einige Male auf dem Weg zur Präsidentschaftskandidatur der Republikaner gescheitert, und als ich ihm mein scheinbar unlösbares Dilemma schilderte, setzte er ein subtiles Lächeln auf. Er versprach zu helfen. Er hatte Ike selbst noch nie zuvor getroffen. So würde ein „Handshake“ auch ihm nicht schaden. Die beiden Österreicher mögen sich hinter ihn in die lange Reihe stellen und Ike würde wohl jedem die Hand schütteln. Stassen würde sie vorstellen. Diese Strategie funktionierte tadellos. Ike, Maleta und Eckert figurierten auf der Titelseite des Parteiblattes der ÖVP, ich erntete einiges Lob. Das Match Knize gegen Eisenhower endete also unentschieden, denn ein Foto von Ike kann man aufstellen, einen Knize-Anzug nur in den Kasten hängen. Kürzlich traf ich in Wien Maletas Tochter. Sie erzählte mir, wie sie ihren Vater damals vor 58 Jahren am Flugplatz abholte und ihn kaum erkannte. Von einem ausladenden Sombrero beschattet, trug er auch noch einen amerikanischen Anzug.

Fiktive Hahnenkämpfe

F

rüher oder später musste es schon prinzipiell zwischen der offiziellen Botschaft und den Partei-Lobbyisten zu offenen Reibungen kommen. Solch ein „Rencontre“ hätte sich etwa folgendermaßen abspielen können: „Was tun 133

Zur Inauguration

bereits die Ehrenbürgerschaft der Stadt beschafft hatte und uns sicher weiterhelfen würde. Tatsächlich erreichten wir Kankakee zeitgerecht und auch das einzige noch geöffnete Warenhaus, sodass die Beraubten Ersatzanzüge als Geschenk von Romy Hames entgegennehmen konnten. Diese waren zwar nicht von Knize geschneidert, erfüllten jedoch passabel ihren Zweck. Nun ging es aber um den eigentlichen Plan, den „Handshake“ mit Eisenhower. Man konnte sich schon im Voraus ausmalen, welch ein Tumult sich beim Erscheinen Eisenhowers oder nach seiner Rede abspielen würde. Ich war ratlos und begab mich aus den sich mit Menschen füllenden Sälen zu den „sanitären Einrichtungen“. Ich erwartete auch dort ein „Full House“, traf aber lediglich den einsam sinnierenden Gouverneur des Staates Minnesota, Harold Stassen, den ich aus Washington ganz gut kannte. Er empfing für gewöhnlich ausländische Journalisten sehr freundlich. Harold Stassen war schon einige Male auf dem Weg zur Präsidentschaftskandidatur der Republikaner gescheitert, und als ich ihm mein scheinbar unlösbares Dilemma schilderte, setzte er ein subtiles Lächeln auf. Er versprach zu helfen. Er hatte Ike selbst noch nie zuvor getroffen. So würde ein „Handshake“ auch ihm nicht schaden. Die beiden Österreicher mögen sich hinter ihn in die lange Reihe stellen und Ike würde wohl jedem die Hand schütteln. Stassen würde sie vorstellen. Diese Strategie funktionierte tadellos. Ike, Maleta und Eckert figurierten auf der Titelseite des Parteiblattes der ÖVP, ich erntete einiges Lob. Das Match Knize gegen Eisenhower endete also unentschieden, denn ein Foto von Ike kann man aufstellen, einen Knize-Anzug nur in den Kasten hängen. Kürzlich traf ich in Wien Maletas Tochter. Sie erzählte mir, wie sie ihren Vater damals vor 58 Jahren am Flugplatz abholte und ihn kaum erkannte. Von einem ausladenden Sombrero beschattet, trug er auch noch einen amerikanischen Anzug.

Fiktive Hahnenkämpfe

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rüher oder später musste es schon prinzipiell zwischen der offiziellen Botschaft und den Partei-Lobbyisten zu offenen Reibungen kommen. Solch ein „Rencontre“ hätte sich etwa folgendermaßen abspielen können: „Was tun 133

Lebenskreise

dieser Strasser oder der Hacker in Washington?“ So fragt der Botschafter aus Washington in Wien an. „Sie besuchen alle möglichen US-Ministerien, ohne vorher unsere Zustimmung einzuholen.“ Die Antwort aus Wien war meistens ein Schweigen oder lautete von Freunden des Botschafters aus dem Außenamt: „Kümmere dich nicht um sie.“ Natürlich hätten alle Aktivitäten koordiniert werden müssen. Doch in Wien will jeder Funktionär seine Position ausbauen und festigen. In Österreich war Sachpolitik fast immer mit Parteipolitik verknüpft. Unterdessen entwickeln verschiedene Aufgaben auch verschiedene Färbungen, je nachdem, wer sie analysiert oder bearbeitet. Des Lobbyisten Einfluss in Wien oder in Washington D.C. wird daher immer nur so stark sein, wie es sein Auftraggeber für richtig hält, um breitere Parteiinteressen nicht zu schädigen. Wenn der Botschafter aber darauf bestünde: „Der Strasser muss weg, er hat unlängst einen dummen Fehler begangen“, dann müsste man auf ein Machtwort aus Wien warten. Wessen? Das kann man meist nicht voraussagen. Auch Aufgaben wechseln ihre Bearbeiter. Gelegentlich, jedoch selten, kam der Vorgesetzte des Lobbyisten nach Washington, um zu versuchen, solche Angelegenheiten zu bereinigen. Zunächst aber wurde der Lobbyist von Freunden der heimischen Botschaft gebeten, keine Schwierigkeiten zu machen: „Warum gehst du nicht selbst ins Außenamt? Bei deinen Verbindungen? Das würde alles applanieren.“ Bei diesem Argument wurde übersehen, dass hier sowieso eine Art Kleinkrieg zwischen Partei und Verwaltung im Gange war, mit zwei möglichen Resultaten: Der Vorgesetzte verteidigt seinen zelotischen Vertreter erfolgreich, mit etwa diesen Worten: „Herr Botschafter, der Strasser wäre ja gar nicht in Washington, wenn Sie, Herr Botschafter, jener politischen Linie folgen würden, die wir Ihnen vorgegeben haben. So mussten wir halt selbst handeln.“ Damit wäre alles gesagt gewesen und der Botschafter könnte nach den nächsten Wahlen überlegen, nach welchem „Posten“ es ihn gelüstete. Die Wahlen müssten aber freilich im Sinne des Lobbyisten ausgehen. Wehe aber, wenn dem Lobbyisten oder Emissär charakterliche Schwächen oder Ausrutscher nachgewiesen würden. Dann hätte sich der Botschafter durchgesetzt. Die Lobby verlöre an Einfluss, und wenn der Lobbyist Glück hätte, erhielte er noch „zur Erinnerung“ an seinen Einsatz ein in Wien gelöstes Flugticket und könnte heimfliegen. 134

jACKIE kENNEDY

Dies ist ein fiktiver, aber durchaus realistischer Ablauf innenpolitischer Hahnenkämpfe, die ich nicht am eigenen Leib erlebte, aber durchaus hätte erleben können. Es zeigt genau, wie die Partei ihre Interessen zu verfolgen sucht, während die Verwaltung alten Regeln und Gebräuchen nachgeht. Freilich verschärften sich diese Reibungen noch mehr, weil zwischen den österreichischen Antagonisten auch noch Besatzungskräfte mitmischten.

Jackie Kennedy

I

n Washington wohnte ich diesmal bei einem ehemaligen Theresianisten, Tony Haas. Er studierte in Washington Chemie. Nebst seiner gemütlichen Wohnung bot Tony noch seine reichlichen amerikanischen Kontakte an. Darunter befand sich auch Jackie Bouvier, Präsident Kennedys spätere Gattin. Damals war sie noch längst nicht verheiratet. Sie mochte ihre alten europäischen Bekannten. Der Abend begann in einem kleinen gemütlichen Bistro in Georgetown, das „Après“ endete in ihrer Küche, wo anregende Konversation und amüsante Plaudereien abwechselten. Wir hatten viel gelacht in dieser Küche. Jahre später traf ich die schöne Präsidentengattin in einem engen New Yorker Antiquitätenladen. Ob ich inzwischen verheiratet sei? Jawohl, mit einem ungarischen Mädchen. „Ich hätte mir auch nie vorgestellt“, meinte sie darauf, „dass Sie eine Amerikanerin heiraten würden.“ So dürfte also meine „Public Relation“ für Washington nicht die richtige gewesen sein. Kurz darauf verstarb meine Schwester Sissy in Paris. Ich musste meinen Aufenthalt in Washington abbrechen.

Abschied von Sissy

W

ährend all der aufregenden Neuerungen der Nachkriegszeit ereignete sich wieder ein familiäres Unglück, das mich sehr traf. Trotz ihres heldenhaften Kampfes gegen die ständige Schwächung erlag meine Schwester Sis135

jACKIE kENNEDY

Dies ist ein fiktiver, aber durchaus realistischer Ablauf innenpolitischer Hahnenkämpfe, die ich nicht am eigenen Leib erlebte, aber durchaus hätte erleben können. Es zeigt genau, wie die Partei ihre Interessen zu verfolgen sucht, während die Verwaltung alten Regeln und Gebräuchen nachgeht. Freilich verschärften sich diese Reibungen noch mehr, weil zwischen den österreichischen Antagonisten auch noch Besatzungskräfte mitmischten.

Jackie Kennedy

I

n Washington wohnte ich diesmal bei einem ehemaligen Theresianisten, Tony Haas. Er studierte in Washington Chemie. Nebst seiner gemütlichen Wohnung bot Tony noch seine reichlichen amerikanischen Kontakte an. Darunter befand sich auch Jackie Bouvier, Präsident Kennedys spätere Gattin. Damals war sie noch längst nicht verheiratet. Sie mochte ihre alten europäischen Bekannten. Der Abend begann in einem kleinen gemütlichen Bistro in Georgetown, das „Après“ endete in ihrer Küche, wo anregende Konversation und amüsante Plaudereien abwechselten. Wir hatten viel gelacht in dieser Küche. Jahre später traf ich die schöne Präsidentengattin in einem engen New Yorker Antiquitätenladen. Ob ich inzwischen verheiratet sei? Jawohl, mit einem ungarischen Mädchen. „Ich hätte mir auch nie vorgestellt“, meinte sie darauf, „dass Sie eine Amerikanerin heiraten würden.“ So dürfte also meine „Public Relation“ für Washington nicht die richtige gewesen sein. Kurz darauf verstarb meine Schwester Sissy in Paris. Ich musste meinen Aufenthalt in Washington abbrechen.

Abschied von Sissy

W

ährend all der aufregenden Neuerungen der Nachkriegszeit ereignete sich wieder ein familiäres Unglück, das mich sehr traf. Trotz ihres heldenhaften Kampfes gegen die ständige Schwächung erlag meine Schwester Sis135

jACKIE kENNEDY

Dies ist ein fiktiver, aber durchaus realistischer Ablauf innenpolitischer Hahnenkämpfe, die ich nicht am eigenen Leib erlebte, aber durchaus hätte erleben können. Es zeigt genau, wie die Partei ihre Interessen zu verfolgen sucht, während die Verwaltung alten Regeln und Gebräuchen nachgeht. Freilich verschärften sich diese Reibungen noch mehr, weil zwischen den österreichischen Antagonisten auch noch Besatzungskräfte mitmischten.

Jackie Kennedy

I

n Washington wohnte ich diesmal bei einem ehemaligen Theresianisten, Tony Haas. Er studierte in Washington Chemie. Nebst seiner gemütlichen Wohnung bot Tony noch seine reichlichen amerikanischen Kontakte an. Darunter befand sich auch Jackie Bouvier, Präsident Kennedys spätere Gattin. Damals war sie noch längst nicht verheiratet. Sie mochte ihre alten europäischen Bekannten. Der Abend begann in einem kleinen gemütlichen Bistro in Georgetown, das „Après“ endete in ihrer Küche, wo anregende Konversation und amüsante Plaudereien abwechselten. Wir hatten viel gelacht in dieser Küche. Jahre später traf ich die schöne Präsidentengattin in einem engen New Yorker Antiquitätenladen. Ob ich inzwischen verheiratet sei? Jawohl, mit einem ungarischen Mädchen. „Ich hätte mir auch nie vorgestellt“, meinte sie darauf, „dass Sie eine Amerikanerin heiraten würden.“ So dürfte also meine „Public Relation“ für Washington nicht die richtige gewesen sein. Kurz darauf verstarb meine Schwester Sissy in Paris. Ich musste meinen Aufenthalt in Washington abbrechen.

Abschied von Sissy

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ährend all der aufregenden Neuerungen der Nachkriegszeit ereignete sich wieder ein familiäres Unglück, das mich sehr traf. Trotz ihres heldenhaften Kampfes gegen die ständige Schwächung erlag meine Schwester Sis135

Lebenskreise

sy im Alter von 25 Jahren in Paris den Folgen der bis dahin an Menschen noch nicht durchgeführten Herzklappenoperation. Mehrere berühmte französische Chirurgen, mit denen wir auch persönlich befreundet waren, studierten ihren Fall über längere Zeit, bevor man sich zur Operation entschloss, die Sissy selbst unbedingt wollte. Nach der wohl zu sehr behüteten, von ihrem Leiden gezeichneten Jugend wollte Sissy von unserer Mutter getrennt und unabhängig leben. Als sie spürte, dass sich ihr Zustand weiter verschlechterte, fuhr sie alleine nach Paris. Am Operationstisch entschieden sich die Chirurgen gegen den Eingriff, wohl auch aus psychologischen Gründen. Als man Sissy sehr schonend mitteilte, dass man den Eingriff verschieben müsse, brach sie bei dem vielleicht falsch interpretierten Wort „inoperabel“ zusammen und verstarb. Diesmal hatten sie die Kräfte verlassen.

Arbeitssuche in New York

B

ald kehrte ich in die USA zurück und begann jetzt in New York nach anderen, nicht ausschließlich an Österreich gebundene Tätigkeiten Ausschau zu halten. Früher oder später musste ich ja die Nabelschnur durchschneiden. Sentimentalität und Heimweh durften keine dominierende Rolle mehr spielen. Manchmal streifte mich ein Gedanke an den früheren Einsatz für das geliebte – und jetzt vielleicht enttäuschende – Österreich. Bevor ich Wien verlassen hatte, gelang es mir noch, einige interessante journalistische Korrespondenzverträge zu schließen, darunter mit dem Österreichischen Rundfunk, mit der „Wochenpresse“, der „Furche“ und anderen Wochenblättern. Der damalige Nachrichtenchef des Rundfunks, Karl Polly, sowie der Chef des ORF, Alfons Übelhör, waren Mitarbeiter im Widerstand gewesen. Diese Verbundenheit bestand ungebrochen weiter und wir versuchten, einander auch noch nach dem Krieg zu helfen und zu fördern.

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Lebenskreise

sy im Alter von 25 Jahren in Paris den Folgen der bis dahin an Menschen noch nicht durchgeführten Herzklappenoperation. Mehrere berühmte französische Chirurgen, mit denen wir auch persönlich befreundet waren, studierten ihren Fall über längere Zeit, bevor man sich zur Operation entschloss, die Sissy selbst unbedingt wollte. Nach der wohl zu sehr behüteten, von ihrem Leiden gezeichneten Jugend wollte Sissy von unserer Mutter getrennt und unabhängig leben. Als sie spürte, dass sich ihr Zustand weiter verschlechterte, fuhr sie alleine nach Paris. Am Operationstisch entschieden sich die Chirurgen gegen den Eingriff, wohl auch aus psychologischen Gründen. Als man Sissy sehr schonend mitteilte, dass man den Eingriff verschieben müsse, brach sie bei dem vielleicht falsch interpretierten Wort „inoperabel“ zusammen und verstarb. Diesmal hatten sie die Kräfte verlassen.

Arbeitssuche in New York

B

ald kehrte ich in die USA zurück und begann jetzt in New York nach anderen, nicht ausschließlich an Österreich gebundene Tätigkeiten Ausschau zu halten. Früher oder später musste ich ja die Nabelschnur durchschneiden. Sentimentalität und Heimweh durften keine dominierende Rolle mehr spielen. Manchmal streifte mich ein Gedanke an den früheren Einsatz für das geliebte – und jetzt vielleicht enttäuschende – Österreich. Bevor ich Wien verlassen hatte, gelang es mir noch, einige interessante journalistische Korrespondenzverträge zu schließen, darunter mit dem Österreichischen Rundfunk, mit der „Wochenpresse“, der „Furche“ und anderen Wochenblättern. Der damalige Nachrichtenchef des Rundfunks, Karl Polly, sowie der Chef des ORF, Alfons Übelhör, waren Mitarbeiter im Widerstand gewesen. Diese Verbundenheit bestand ungebrochen weiter und wir versuchten, einander auch noch nach dem Krieg zu helfen und zu fördern.

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Hier spricht Rudolf Strasser aus New York

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unächst lief jedoch alles normal weiter, so wie es vereinbart gewesen war. Neben der Arbeit für die Außenhandelsstelle sandte ich einmal in der Woche einen zehnminütigen außenpolitischen Kommentar aus New York nach Wien: „Hier spricht Rudolf Strasser aus New York.“ Das im Tonstudio der Voice of America aufgenommene Band verließ New York jeden Montagmorgen mit der Diplomatenpost in Richtung Wien. Erstaunlicherweise wird meine Rundfunkstimme gelegentlich noch jetzt, nach sechzig Jahren, in Wien wiedererkannt. 1972 begann die Zeit des Watergate-Skandals, und es stellte sich die Frage, ob Präsident Richard Nixon politisch überleben würde. Aber nach dem Abflauen dieser sensationellen Themenreihe empfand ich neuerdings, dass die Inhalte meiner Tätigkeiten zu divergent wurden und weder wirtschaftlich noch innenpolitisch zusammenpassten. Sie deckten sich nicht mehr mit meinen beruflichen Visionen. So wurde die Wall Street endgültig zum Zentrum meiner Interessen. Da ich mich in Wien intensiv mit außenpolitischen Problemen befasst hatte, vor allem im Generalsekretariat der ÖVP, und diese auf den Kurs der Aktien starken Einfluss ausübten, bot ich meine Analysen öfter amerikanischen Brokern an. Ich konnte mir daher eine Arbeit als außenpolitischer Berater einer großen Bank gut vorstellen. Die Partner der großen Banken hatten aber im State Department in Washington ihre eigenen Vertrauten. Diese standen naturgemäß den Ereignissen viel näher als ich, da ihnen alle internen Analysen des State Department zur Verfügung standen. So gab ich diese Fährte bald auf und kam zur Erkenntnis, dass man eine spezifische Entdeckung und eine eigene Nische finden musste, um an der Wall Street Erfolg zu haben. Diese Leerstelle musste dann durch harte Arbeit ausgefüllt werden.

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Lebenskreise

Der Aktienboom in den USA und Europa

B

ald ergab sich solch eine Möglichkeit. Jetzt bewährte sich der Vorteil meiner osteuropäischen Sprachkenntnisse und meiner alten Beziehungen zu österreichischen Banken und Sparkassen, die mir von meiner Kammerarbeit in Wien als Mitglieder noch gut bekannt waren. Diese Verbindungen ließen sich auch unschwer von Österreich auf Deutschland ausdehnen. Auf beiden Seiten, sowohl in Amerika wie in Europa, stieg jetzt das Interesse an US-Wertpapieren, die einen enormen Aufschwung erlebten. Selbst in kleinsten deutschen Landesbanken wollte man amerikanische Aktienfonds und -Portefeuilles zusammenstellen. Die amerikanischen Broker waren ihrerseits am Wachstum der europäischen Märkte interessiert. Wie war diese Situation plötzlich entstanden? Die Wirtschaft diesseits und jenseits des Atlantiks erlebte das erwartete Wachstum nach dem Kriege, aber die deutschen und österreichischen Banken konnten nicht benefizieren. Sie durften zu dieser Zeit nicht am Handel an der Wall Street partizipieren: Ein Pönale für ihre aktive Kriegsteilnahme. Zunächst musste ich zu angesehenen US-Banken Kontakte herstellen. Das Investmenthaus Kidder, Peabody & Co. hatte seit über hundert Jahren enge Beziehungen zu europäischen und vor allem auch deutschen Banken gepflegt und suchte jetzt neue Verbindungen zu Europa. So wurde ich engagiert, deutsche und österreichische Kunden zu akquirieren. In dieser lukrativen Nische sollte ich sehr erfolgreich werden. Dies bedeutete jedoch zahllose Reisen nach Europa und viel Arbeit.

Der Herrgott stiftet eine Ehe

G

ewöhnlich entstehen Ehen, wenn beide Partner zueinander streben und das sichere Empfinden entwickeln, beieinander bleiben und eine Familie gründen zu wollen. Bei uns beiden waren sicherlich noch höhere Mächte im Spiel. Unabhängig voneinander wussten wir nicht, ob wir den Krieg überleben würden. Nachdem die deutsche Wehrmacht im März 1944 Ungarn besetzt 138

Lebenskreise

Der Aktienboom in den USA und Europa

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ald ergab sich solch eine Möglichkeit. Jetzt bewährte sich der Vorteil meiner osteuropäischen Sprachkenntnisse und meiner alten Beziehungen zu österreichischen Banken und Sparkassen, die mir von meiner Kammerarbeit in Wien als Mitglieder noch gut bekannt waren. Diese Verbindungen ließen sich auch unschwer von Österreich auf Deutschland ausdehnen. Auf beiden Seiten, sowohl in Amerika wie in Europa, stieg jetzt das Interesse an US-Wertpapieren, die einen enormen Aufschwung erlebten. Selbst in kleinsten deutschen Landesbanken wollte man amerikanische Aktienfonds und -Portefeuilles zusammenstellen. Die amerikanischen Broker waren ihrerseits am Wachstum der europäischen Märkte interessiert. Wie war diese Situation plötzlich entstanden? Die Wirtschaft diesseits und jenseits des Atlantiks erlebte das erwartete Wachstum nach dem Kriege, aber die deutschen und österreichischen Banken konnten nicht benefizieren. Sie durften zu dieser Zeit nicht am Handel an der Wall Street partizipieren: Ein Pönale für ihre aktive Kriegsteilnahme. Zunächst musste ich zu angesehenen US-Banken Kontakte herstellen. Das Investmenthaus Kidder, Peabody & Co. hatte seit über hundert Jahren enge Beziehungen zu europäischen und vor allem auch deutschen Banken gepflegt und suchte jetzt neue Verbindungen zu Europa. So wurde ich engagiert, deutsche und österreichische Kunden zu akquirieren. In dieser lukrativen Nische sollte ich sehr erfolgreich werden. Dies bedeutete jedoch zahllose Reisen nach Europa und viel Arbeit.

Der Herrgott stiftet eine Ehe

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ewöhnlich entstehen Ehen, wenn beide Partner zueinander streben und das sichere Empfinden entwickeln, beieinander bleiben und eine Familie gründen zu wollen. Bei uns beiden waren sicherlich noch höhere Mächte im Spiel. Unabhängig voneinander wussten wir nicht, ob wir den Krieg überleben würden. Nachdem die deutsche Wehrmacht im März 1944 Ungarn besetzt 138

dER hERRGOTT STIFTET EINE eHE

37. Hochzeit mit Daisy Chorin am 11. Oktober 1956 in New York.

hatte und meinen künftigen Schwiegervater, Dr. Franz Chorin, das von allen verehrte Oberhaupt der Familie, im KZ Oberlanzendorf bei Wien interniert hatte, beraubte Himmlers Waffen-SS 33 Mitglieder der Familie ihres gesamten Vermögens. Mit Dr. Chorin wurde ein Arrangement vereinbart, das Vermögen für Freiheit bedeutete. Ich wiederhole hier immer wieder, „die Himmler139

Lebenskreise

SS“, weil diese überall in der Welt als schlimmste Kriegsverbrecherorganisation bekannt wurde, doch zuletzt geneigt war, die Ausreise dieser großen Familie über Stuttgart nach Portugal zu genehmigen. Möglichst alle Anteile der Besitztümer mussten jedoch vorher noch den Deutschen ausgefolgt werden. Himmler bediente sich dabei eines inzwischen auch berüchtigt gewordenen Helfers, des Obersturmbannführers Kurt Becher, dessen Technik von australischen Historikern in einer Publikation beschrieben wurde. Die Familie meiner späteren Frau Daisy wartete monatelang in Portugal auf ihre US-Visa und landete erst 1947 in New York. Schließlich erreichte auch ich im Jahr 1952 jene Seite des Atlantiks. Mathematisch gerechnet müssten wir uns eigentlich viel früher getroffen haben, weil unsere Biotope schon in Europa nahe beisammen gelegen hatten und wir sogar in New York gleichzeitig in verwandten Bereichen arbeiteten: Daisy bei Radio Free Europe für die politische Wiederherstellung Ungarns in einem freien Europa, ich in New York bei der Österreichischen Außenhandelsstelle und als Berichterstatter des Österreichischen Rundfunks und anderer Medien. Doch dauerte es noch eine geraume Weile, bis uns das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben näher zueinander führte. In New York gab es Opern, Bälle und politische Diskussionsrunden, auf denen wir uns immer wieder trafen. Mit einem Blick nach vorn, aber auch mit vielen Blicken zurück in die tränenverklärte, langsam verblassende Vergangenheit. Doch für uns beide musste das Leben weitergehen. Wir wollten uns für unser Überleben dankbar erweisen und den zahllosen Toten des NS-Regimes eine junge Familie entgegensetzen. Am 11. Oktober 1956 wurden wir von einem prominenten ungarischen Priester, Monsignore Béla Varga, in der New Yorker Jesuitenkirche getraut. Varga war ein weltoffener Mann, mit dem ich oft fischte und der zu Hause Präsident des ungarischen Parlaments war. Gegen finanzielle Unterstützung seiner ungarischen Heimatgemeinde am Balaton (Plattensee) konnten Ungarn und Amerikaner Säckchen von „Heimaterde“, die er geweiht hatte und die manche mit in ihr Grab nahmen, erwerben. Am Tag nach der strahlenden, selig machenden Hochzeit besetzten russische Panzer Budapest. Die ungarische Revolution war gescheitert, wir brachen unsere Hochzeitsreise in Kuba ab, hofften aber doch noch auf den Rückzug der Roten Armee. Die Nieder140

Montags-Lobby für die ÖVP

schlagung des Aufstandes führte zur totalen Auflösung aller ungarischen Strukturen. Das Land versank im Marxismus. Gottlob wurden wir durch unsere schnell wachsende Familie von den schrecklichen Ereignissen in Ungarn und meiner Enteignung in der Slowakei abgelenkt. In Kürze waren zwei Söhne und eine Tochter geboren. Ihre gesunde Entwicklung und Erziehung in amerikanischen Schulen verschoben unsere ursprünglichen Pläne, bald wieder nach Wien zurückzukehren. Ein neues Österreich gab es ja seit 1955 wieder und ich empfand meinen Aufenthalt in den USA nie als permanente Emigration. Allerdings dauerte es noch fast vierzig Jahre bis zum allgemeinen Zusammenbruch des Kommunismus, ehe wir in Österreich wieder Fuß fassten. Zwei Familien von Strasser und ein kleiner neuer Zweig der Grafen Einsiedel samt siebenköpfiger Enkelschar leben nun auf die USA und Deutschland verteilt. Wenn dies alles nicht „Gottes Fügung“ war.

Montags-Lobby für die ÖVP

E

s war mir wichtig, nicht nur mit jenen Personen Kontakte zu pflegen, denen ich durch die Außenhandelsstelle verbunden war. Meine Beziehungen zum außenpolitischen Referat der ÖVP machten es geradezu erforderlich, dass ich mit den in den USA lebenden politischen Emigrantenkreisen einen engeren Kontakt aufrechterhielt. Schließlich pflegte ich auch noch eine rege Korrespondenz mit dem Generalsekretär der ÖVP, Dr. Maleta. Er war an den Vorgängen, die die österreichischen Politiker in den Vereinigten Staaten betrafen, äußert interessiert. Erst kürzlich hat mir der Zufall meine Korrespondenz mit Maleta des Jahres 1954 als eine Art politischer Klein-Tsunami zugeschwemmt, sodass mir die Sujets, die uns damals bewegten, wieder klar in Erinnerung traten. Zuvor muss ich bis in das Jahr 1953 zurückkehren, als sich in Österreich ein innenpolitischer Skandal ereignete, der den damaligen Außenminister Karl Gruber und seine Memoiren betraf. Gruber bezeichnete Bundeskanzler Figl als eine Art kommunistischen Kollaborateur, weil er mit dem führenden kommu141

Montags-Lobby für die ÖVP

schlagung des Aufstandes führte zur totalen Auflösung aller ungarischen Strukturen. Das Land versank im Marxismus. Gottlob wurden wir durch unsere schnell wachsende Familie von den schrecklichen Ereignissen in Ungarn und meiner Enteignung in der Slowakei abgelenkt. In Kürze waren zwei Söhne und eine Tochter geboren. Ihre gesunde Entwicklung und Erziehung in amerikanischen Schulen verschoben unsere ursprünglichen Pläne, bald wieder nach Wien zurückzukehren. Ein neues Österreich gab es ja seit 1955 wieder und ich empfand meinen Aufenthalt in den USA nie als permanente Emigration. Allerdings dauerte es noch fast vierzig Jahre bis zum allgemeinen Zusammenbruch des Kommunismus, ehe wir in Österreich wieder Fuß fassten. Zwei Familien von Strasser und ein kleiner neuer Zweig der Grafen Einsiedel samt siebenköpfiger Enkelschar leben nun auf die USA und Deutschland verteilt. Wenn dies alles nicht „Gottes Fügung“ war.

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s war mir wichtig, nicht nur mit jenen Personen Kontakte zu pflegen, denen ich durch die Außenhandelsstelle verbunden war. Meine Beziehungen zum außenpolitischen Referat der ÖVP machten es geradezu erforderlich, dass ich mit den in den USA lebenden politischen Emigrantenkreisen einen engeren Kontakt aufrechterhielt. Schließlich pflegte ich auch noch eine rege Korrespondenz mit dem Generalsekretär der ÖVP, Dr. Maleta. Er war an den Vorgängen, die die österreichischen Politiker in den Vereinigten Staaten betrafen, äußert interessiert. Erst kürzlich hat mir der Zufall meine Korrespondenz mit Maleta des Jahres 1954 als eine Art politischer Klein-Tsunami zugeschwemmt, sodass mir die Sujets, die uns damals bewegten, wieder klar in Erinnerung traten. Zuvor muss ich bis in das Jahr 1953 zurückkehren, als sich in Österreich ein innenpolitischer Skandal ereignete, der den damaligen Außenminister Karl Gruber und seine Memoiren betraf. Gruber bezeichnete Bundeskanzler Figl als eine Art kommunistischen Kollaborateur, weil er mit dem führenden kommu141

Lebenskreise

nistischen Politiker Österreichs, Ernst Fischer, Gespräche geführt hätte. Diese Geschichte ist unter den Namen: „Figl-Fischerei“ in die Gazetten eingeflossen. Eine geschmacklose Bemerkung, denn als Bundeskanzler muss man wohl auch mit dem Gegner politisieren können. Überdies war es wichtig, mit den Mitgliedern der „Nouvelles Equipes Internationales“, deren Kongress in Tours bereits erwähnt wurde, in Verbindung zu bleiben. So kam es mir sehr gelegen, dass wir in der größeren Wohnung auf der Park Avenue, in die wir übersiedelt waren, jeden ersten Montag des Monats politisch und philosophisch motivierte Treffen veranstalten konnten. Dort besprachen wir das erste Sprießen der europäischen Ideen. Es kamen meist sehr interessante, bunt gemischte Exilantengrüppchen bei uns zusammen. Die Tschechoslowakei vertrat bei mir der bedeutende Abgeordnete ­Tuchachek, aus Ungarn stammte der international sehr versierte Journalist Andor Gellért sowie der kroatische Geschichtsprofessor Radica der Columbia University. Überdies profitierten wir alle von den Informationen des sehr einflussreichen „Außenministers“ der amerikanischen Gewerkschaften, Love­stone, der unseren Kreis außerordentlich unterstützte und dessen Gedankengänge ungemein förderte. Ein weiterer Montagabend-Freund war der später auch als aktives tschechoslowakisches Kabinettsmitglied tätige Pavel Tigrid, der uns seine Erfahrungen zur Verfügung stellte. Diese interessante und fruchtbare Zusammenarbeit scheiterte schließlich an Zeitmangel und unserem Umzug nach Pelham. Mein Schwiegervater, dessen frühere Funktionen als bedeutender Bankier und Politiker auch in den Vereinigten Staaten in Erinnerung geblieben waren, war eine zentrale Anlaufstelle der ungarischen Emigration. Unter anderen kam der ehemalige Ministerpräsident Miklós Kállay nahezu täglich zu Besuch und Gedankenaustausch. Alles war auf eine Befreiung von den Kommunisten ausgerichtet. In der New Yorker Wohnung meiner Schwiegereltern traf ich auch oft Otto von Habsburg, der dort in gewissen Abständen wichtige ungarische Politiker empfing. Ich holte ihn gewöhnlich von seinem Hotel ab und begleitete ihn in die Park Avenue Nr. 1000. Immer wieder fiel mir auf, wie leicht und flüssig man mit ihm konversieren konnte. Eine viel geübte Kunst. Mein Schwiegervater bestand darauf, dass alle geladenen Gäste zehn Minuten vor Otto anwesend waren. 142

Montags-Lobby für die ÖVP

38. Mit Daisy im Gespräch mit Otto von Habsburg.

Es geschah einmal, dass ein als etwas schusselig anzusprechender ungarischer Wirtschaftspolitiker mit Otto und mir gleichzeitig den Lift betrat. Sie waren einander zuvor noch nie begegnet. Um dem Spät-Gekommenen jeglichen Vorwurf des Hausherrn zu ersparen, verließ Otto den Lift. Er proponierte, noch einige Minuten vor der Wohnungstür spazieren zu gehen. Der Ökonom möge vorgehen, um kein Aufsehen zu erregen. Eine souveräne Geste. Ich nehme an, dass Otto in New York auch mit Politikern anderer Nationalitäten zusammentraf, die auch sehr erpicht waren, seine Sicht der Dinge zu hören. Er war immer aufklärend und erfrischend. Sein Netz von außenpolitischen Kontakten breitete sich weithin aus. Ein vollkommen andersartiges Netzwerk hatte sich in New York um den Österreicher Clifford Forster gebildet. Während sich bei mir zumeist Exilpolitiker aus dem Südosten sammelten, führte Forster, der schon mehrere Jahrzehnte in New York als Anwalt tätig war, einen weit gespannten politischen Salon, in dem vor allem Schriftsteller und Ideologen zusammenfanden. Viele dieser Persönlichkeiten waren einstmals Träger kommunistischer Ideen gewesen und inzwischen Exponenten radikal antikommunistischer Ideologien geworden, wie Eugen Lyons und Ralph de Toledano. Andere Namen sind in 143

Lebenskreise

meinem Unterbewusstsein versunken. Den Salon, dem auch gesellschaftlich Interessierte angehörten, führte Forsters von vielen adorierte Lebensgefährtin Blouet. Auch sie war in ihrer Jugend nicht nur eine hervorstechend schöne Frau, sondern ein hochrangiges Mitglied der kommunistischen Partei gewesen. Sie war zwischen Paris und Moskau gependelt, ehe auch sie die große komplette Kehrtwendung machte und sich unter die radikalen Antikommunisten reihte. In diesem Salon verkehrten darüber hinaus Diplomaten aus westlichen Konsulaten und Botschaften, zum Beispiel der deutsche UNOBotschafter Rüdiger von Wechmar, und sicherlich auch Vertreter amerikanischer Informationsdienste. Es war die Zeit der Ost-West-Spannungen und so ging es darum, wichtige Beziehungen zu knüpfen, aber sich zugleich hinter gesellschaftlichen Vorhängen zu verbergen. Um nun auf die kürzlich wiedergefundene Korrespondenz mit Maleta zurückzukommen, so ergab sich daraus eine ernüchternde Erkenntnis. Wie schon angedeutet, musste ich immer wieder in Washington Eindrücke über österreichische Politiker und aufstrebende Persönlichkeiten einholen. Denn 1954 stand der Staatsbesuch Julius Raabs, damals bereits Bundeskanzler, in Washington vor der Tür. Es galt herauszufinden, wo er freundliche und weniger freundliche Einstellungen zu erwarten hatte, denn Raab war in Amerika nicht unbedingt eine angesehene Sterngestalt. Seine etwas raue Persönlichkeit lag den Sowjets vielleicht mehr als den Amerikanern. Man traute Raab in den USA zwar vollkommen, aber seine Konversationen mit amerikanischen Politikern verliefen nicht immer glatt und mangelten oft inneren Gehalts. Immer wieder wurde von sozialistischer Seite auch seine Rolle im „Bürgerkrieg“ von 1934 hochgespielt. Besonders übel wurde Raab in den USA angekreidet, dass er während seines Staatsbesuches eine Einladung zum Frühstück in der sowjetischen Botschaft annehmen ließ. Raabs Besuchsprogramm beinhaltete damals auch stundenlange Gespräche mit Botschafter Gruber, der alles unternahm, um seine Position „im Exil am Potomac“, also in Washington, abzustreifen und in die österreichische Innenpolitik zurückzukehren. Seine Gegner zu Hause versuchten dies zu verhindern und als Raab nach seiner Heimkehr in Österreich Gruber als Botschafter in Washington über den grünen Klee lobte, wusste man, dass jener nicht so bald nach Wien zurückberufen werden würde. 144

Hans Kudlich als Wahlwerber

Es zeigte sich aber, dass der von mir so bewunderte Innenpolitiker Julius Raab als Staatskanzler weniger hervorstach. Dagegen konnte ich in meinen Notizen nachlesen, dass Kanzler Figls Staatsbesuch 1952 in den USA sehr erfolgreich war. „Er erntete eine tolle Publicity“, spaltenlange Leitartikel, Fotos, Fernsehübertragungen und vieles mehr. Solch ein Erfolg ist viel Geld wert. Auch der anfänglich von der Botschaft kritisierte Besuch bei den SteirerVereinen in Chicago sei ein „Treffer“ gewesen. Unter dem nachgebildeten Grazer Uhrturm tanzten junge Mädchen in Trachten und musizierten Senioren auf ihren Blasinstrumenten. Eine durch mich von langer Hand vorbereitete Begegnung zwischen führenden Republikanern und Julius Raab, die für den Staatsbesuch von 1954 vorgesehen war, wurde bei der Programmgestaltung von der österreichischen Botschaft glatt gestrichen. Ein Staatsbesuch sei kein Parteitreffen und überdies hätte der Demokrat Truman Julius Raab eingeladen. Das war auch für mich blamabel, da ich bereits die ranghohen republikanischen Senatoren Hendrixon und den Parteivorsitzenden Gabrielson auf den bevorstehenden Besuch aufmerksam gemacht hatte. Dagegen hatte ich noch niemals gehört, dass man US-demokratischen Einfluss bei sozialistischen Staatsbesuchen ausgeschaltet hätte. Dieses Thema der Zusammengehörigkeit der Parteien war schon seit Langem intern diskutiert worden. Die Schwierigkeit bestand darin, dass die Republikaner in verschiedene Fraktionen gespalten waren und daher keine adäquaten Partner darstellten. Zwischen Sozialisten und Demokraten dürfte es nur sehr selten Differenzen gegeben haben. Diese Verbindung war sicher reibungsloser und für die SPÖ vorteilhafter, vielleicht auch materiell.

Hans Kudlich als Wahlwerber

I

n der politischen Werbung ist es manchmal vorteilhaft, Persönlichkeiten aus der Vergangenheit auszugraben, um sie zeitgenössischen Amtsanwärtern zur Seite zu stellen. Besonders dann, wenn diese geschichtlichen Personen charakteristische Eigenheiten besaßen, die man mit den Ambitionen des zeitgenössischen politischen Kandidaten gut verbinden kann. 145

Hans Kudlich als Wahlwerber

Es zeigte sich aber, dass der von mir so bewunderte Innenpolitiker Julius Raab als Staatskanzler weniger hervorstach. Dagegen konnte ich in meinen Notizen nachlesen, dass Kanzler Figls Staatsbesuch 1952 in den USA sehr erfolgreich war. „Er erntete eine tolle Publicity“, spaltenlange Leitartikel, Fotos, Fernsehübertragungen und vieles mehr. Solch ein Erfolg ist viel Geld wert. Auch der anfänglich von der Botschaft kritisierte Besuch bei den SteirerVereinen in Chicago sei ein „Treffer“ gewesen. Unter dem nachgebildeten Grazer Uhrturm tanzten junge Mädchen in Trachten und musizierten Senioren auf ihren Blasinstrumenten. Eine durch mich von langer Hand vorbereitete Begegnung zwischen führenden Republikanern und Julius Raab, die für den Staatsbesuch von 1954 vorgesehen war, wurde bei der Programmgestaltung von der österreichischen Botschaft glatt gestrichen. Ein Staatsbesuch sei kein Parteitreffen und überdies hätte der Demokrat Truman Julius Raab eingeladen. Das war auch für mich blamabel, da ich bereits die ranghohen republikanischen Senatoren Hendrixon und den Parteivorsitzenden Gabrielson auf den bevorstehenden Besuch aufmerksam gemacht hatte. Dagegen hatte ich noch niemals gehört, dass man US-demokratischen Einfluss bei sozialistischen Staatsbesuchen ausgeschaltet hätte. Dieses Thema der Zusammengehörigkeit der Parteien war schon seit Langem intern diskutiert worden. Die Schwierigkeit bestand darin, dass die Republikaner in verschiedene Fraktionen gespalten waren und daher keine adäquaten Partner darstellten. Zwischen Sozialisten und Demokraten dürfte es nur sehr selten Differenzen gegeben haben. Diese Verbindung war sicher reibungsloser und für die SPÖ vorteilhafter, vielleicht auch materiell.

Hans Kudlich als Wahlwerber

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n der politischen Werbung ist es manchmal vorteilhaft, Persönlichkeiten aus der Vergangenheit auszugraben, um sie zeitgenössischen Amtsanwärtern zur Seite zu stellen. Besonders dann, wenn diese geschichtlichen Personen charakteristische Eigenheiten besaßen, die man mit den Ambitionen des zeitgenössischen politischen Kandidaten gut verbinden kann. 145

Lebenskreise

Solch eine Figur aus dem 19. Jahrhundert war der Abgeordnete zum ersten österreichischen Reichsrat, Hans Kudlich. In die Geschichte, zumindest in jene der Monarchie, ist der 1825 im schlesischen Lobenstein als Sohn eines robotpflichtigen Bauern geborene Politiker und Arzt eingegangen. Kudlich kämpfte an Abraham Lincolns Seite für die Sklavenbefreiung. Er war als Idol für zeitgenössische österreichische Bauernpolitiker geradezu prädestiniert. Kudlich war als jüngster Reichsratsabgeordneter tief in die politischen Wirren des Jahres 1848 verwickelt und wurde interessanterweise, trotz seiner prodeutschen Einstellung, mit vielen Stimmen böhmischer Wähler gewählt. Er soll auch gegen den Antisemitismus Stellung bezogen haben, weil dieser das Deutschtum schwäche. Nicht zuletzt auf seinen und seinesgleichen Einsatz zurückgehend, hob der junge Kaiser Franz Joseph I. die „bäuerliche Untertänigkeit“ am 4. März 1849 auf, sodass Kudlich zu einer Art Bauernbefreier wurde. Nun zog Kudlich nach Deutschland, wo er in Frankfurt eine ähnliche politische Tätigkeit entfaltete wie in Wien und sich als Politiker im Pfälzer Aufstand für die progressive Seite einsetzte. In Bern und Zürich studierte er Medizin und promovierte 1852, um soziale Anliegen der bäuerlichen Bevölkerung besser vertreten zu können. Um 1850 treffen wir Kudlich plötzlich in den USA. In Hoboken, New Jersey, ließ er sich nieder und setzte sich für die Sklavenbefreiung ein. Hoboken zählte um 1900 ungefähr 60.000 Einwohner, davon 20 Prozent deutsche Immigranten. Daher brach auch hier seine Sympathie für deutsche Anliegen durch, wo schon lange vor seiner Ankunft kleinere deutsche Kolonien entstanden waren. Kudlich wurde schließlich US-Bürger. Er starb 1917 in Hoboken. Über seine letzte Ruhestätte war man sich noch bis vor nicht allzu langer Zeit im Unklaren. Nun näherte sich in Österreich der wichtige niederösterreichische Wahltermin, an dessen Einzelheiten ich keine präzisen Erinnerungen mehr habe. Der Kandidat der ÖVP hatte die recht gute PR-Idee einer Kranzniederlegung und Feierlichkeiten am Grabe Kudlichs, das in Hoboken vermutet wurde, um auf seine eigene Kandidatur aufmerksam zu machen. Schöne Kränze aus Niederösterreich waren bereits im Eiskasten des österreichischen Konsulats gelagert, Blasmusik am Grabe Kudlichs war vorgesehen, die in deutscher Spra146

Hans Kudlich als Wahlwerber

che redigierte Würdigung war vorbereitet. Für Fotografen und Journalisten des Österreichischen Rundfunks waren Flugtickets nach New York gebucht. Mit der Vorbereitung und Realisierung des Projekts war ein Public-RelationsSpezialist des New Yorker Konsulates schon frühzeitig beauftragt worden, der sich wohl die Ausführung zu einfach vorgestellt hatte. Die Annahme, dass man wie am Wiener Zentralfriedhof einfach anrufen kann, um Auskunft über ein bestimmtes Grab zu erhalten, erwies sich als Fehler. Kein Mensch wusste in Hoboken, wer Kudlich war, oder gar, wo seine sterblichen Reste ruhten. Die Nervosität am österreichischen Konsulat in New York wuchs stündlich. Mein Freund aus der Public-Relations-Abteilung wusste weder ein noch aus. Jeder Österreicher in New York City wurde nach Kudlich befragt, fast niemand wusste, wer er war. Computer gab es noch nicht. Schließlich meldete Wien, dass eine kontaktierte Verwandte Kudlichs so etwas wie eine GroßGroßnichte des Bauernbefreiers war. Das war also die erste solide Spur. Freilich hatte sie keine Daten parat. Aber ihre Mitteilung nach ihrem ersten Ausruf: „Jessas … der Onkel Hans!“ durfte man als Quelle akzeptieren. Er war wohl in Hoboken gestorben und eingeäschert worden, aber, so fügte die Nichte an, „die Asche war über dem Böhmerwald verstreut worden“. Das war das Ende der in Niederösterreich großartig geplanten Wahlwerbung in Hoboken, an einem imaginären Grab. Die Blumen der Kränze sind längst verblüht, die Blasmusik und die niederösterreichischen Wahlwerber blieben zu Hause. Hätte man damals einen Computer besessen, hätte man wohl anders agiert. Kudlichs Biografie ist in allen Einzelheiten zu finden, auch dass er als neuntes Kind eines Robot-Bauern in Lobenstein geboren worden war und dass man 1925 seine Asche in der Urnenhalle seines Geburtsortes beigesetzt hatte. Wer weiß aber, ob die Wahlwerber und der Bläserchor auch nach Lobenstein statt nach Hoboken, New Jersey, gereist wären. Publicity war in Lobenstein sicher weniger zu holen als in der Neuen Welt. Ich konnte nicht mehr feststellen, ob mein New Yorker Public-RelationsFreund heute noch lebt. Jedenfalls tat er später auf einem anderen Kontinent Dienst. Ob er für dieses interne Desaster allein Verantwortung trug, möchte ich bezweifeln. Der Plan entstand ursprünglich wohl in Wien. Aber der Wahlwerber aus Niederösterreich wurde auch ohne Kudlichs „Intervention“ in 147

Lebenskreise

eine hohe niederösterreichische Position gewählt. Zumindest ist die Anekdote bestens geeignet, die Strategien der österreichischen Wahlwerbung nach dem Krieg zu charakterisieren.

Zwischen New York und Wien: Die Waldheim-Affäre

D

ie Arbeiten für das New Yorker Bankhaus Kidder, Peabody & Co., dem ich von 1958 bis 1973 angehörte, zwangen mich, etwa zwei- bis dreimal im Monat nach Deutschland, Österreich und in die Schweiz zu fliegen. Kidders europäische Filialen in London, Paris und Genf standen mir immer offen. Wir waren, wo auch immer wir auftraten, eine „geschlossene Familie“ aus Angehörigen verschiedener Nationen. In der Pariser Firmenbranche war ich mehr oder weniger sesshaft, weil die naheliegenden deutschen Banken von dort aus leichter kontaktiert werden konnten. Momentan stand aber Österreich im Vordergrund, wo sich ein größerer politischer Konflikt anbahnte. Überdies kannte ich viele meiner österreichischen Kunden noch aus der Zeit meiner Arbeit in der Bundeshandelskammer persönlich, wo sie unsere Klienten und Mitglieder waren. In Österreich war die Beziehung zwischen Politik und Wirtschaft seit jeher sehr eng. Ein Sieg bei Parlamentswahlen oder für das Amt des Bundespräsidenten hatte oft Neubesetzungen wichtiger Posten zur Folge und erbrachte vielleicht mehr Geschäfte. So musste man in Österreich das politische Umfeld ebenso gut kennen, wie die Klienten selbst. Man musste die Akteure der politischen Parteien getroffen haben, und zwar nicht nur die überall sichtbaren, sondern auch jene, die sich von den Kameras fernhielten und hinter den Kulissen die Fäden zogen und Aufträge erteilten. Diesmal ging es um die Wahl des Bundespräsidenten. Gewöhnlich hatten in der Zweiten Republik die Sozialisten den Bundespräsidenten gestellt, der in Österreich vom Volk gewählt wird. Mit Kurt Waldheim stand den Sozialisten aber ein mächtiger Herausforderer gegenüber, weil dieser bereits von 1972 bis 1981 Generalsekretär der Vereinten Nationen war. Bei seiner dritten 148

Lebenskreise

eine hohe niederösterreichische Position gewählt. Zumindest ist die Anekdote bestens geeignet, die Strategien der österreichischen Wahlwerbung nach dem Krieg zu charakterisieren.

Zwischen New York und Wien: Die Waldheim-Affäre

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ie Arbeiten für das New Yorker Bankhaus Kidder, Peabody & Co., dem ich von 1958 bis 1973 angehörte, zwangen mich, etwa zwei- bis dreimal im Monat nach Deutschland, Österreich und in die Schweiz zu fliegen. Kidders europäische Filialen in London, Paris und Genf standen mir immer offen. Wir waren, wo auch immer wir auftraten, eine „geschlossene Familie“ aus Angehörigen verschiedener Nationen. In der Pariser Firmenbranche war ich mehr oder weniger sesshaft, weil die naheliegenden deutschen Banken von dort aus leichter kontaktiert werden konnten. Momentan stand aber Österreich im Vordergrund, wo sich ein größerer politischer Konflikt anbahnte. Überdies kannte ich viele meiner österreichischen Kunden noch aus der Zeit meiner Arbeit in der Bundeshandelskammer persönlich, wo sie unsere Klienten und Mitglieder waren. In Österreich war die Beziehung zwischen Politik und Wirtschaft seit jeher sehr eng. Ein Sieg bei Parlamentswahlen oder für das Amt des Bundespräsidenten hatte oft Neubesetzungen wichtiger Posten zur Folge und erbrachte vielleicht mehr Geschäfte. So musste man in Österreich das politische Umfeld ebenso gut kennen, wie die Klienten selbst. Man musste die Akteure der politischen Parteien getroffen haben, und zwar nicht nur die überall sichtbaren, sondern auch jene, die sich von den Kameras fernhielten und hinter den Kulissen die Fäden zogen und Aufträge erteilten. Diesmal ging es um die Wahl des Bundespräsidenten. Gewöhnlich hatten in der Zweiten Republik die Sozialisten den Bundespräsidenten gestellt, der in Österreich vom Volk gewählt wird. Mit Kurt Waldheim stand den Sozialisten aber ein mächtiger Herausforderer gegenüber, weil dieser bereits von 1972 bis 1981 Generalsekretär der Vereinten Nationen war. Bei seiner dritten 148

Die Waldheim-Affäre

UNO-Kandidatur scheiterte er nur ganz knapp an den Chinesen. Waldheims sozia­listischer Gegenkandidat in Österreich war ein Arzt, der ehemalige Gesundheitsminister Dr. Kurt Steyrer. Seine Chancen gegen Waldheim waren gering. So griffen die Sozialisten zur Giftflasche. Ich war damals gerade in Wien. Aus allen Kaffeehäusern klang die sozialistische Drohung, sie würden diesmal Waldheims NS-Vergangenheit an die große Glocke hängen, die er, in einer vor der Wahl erschienenen Biografie – so behaupteten jedenfalls Steyrers Anhänger – verschwiegen hatte. Herr Pusch, Intimus des Kanzlers Sinowatz und Verschwörungsspezialist, sprach auf der Terrasse des Kaffeehauses Landtmann bereits vom großen Sieg Steyrers, obwohl Waldheim im ersten Wahlgang nur 0,5 Prozent auf die absolute Majorität fehlten. Ich saß gerade ein paar Meter von ihm entfernt, er kannte mich aber nicht persönlich. Hinter Dr. Steyrer stand nicht nur die sozialistische Regierung, sondern standen auch verschiedene internationale jüdische Organisationen unter der Führung ihres Präsidenten Neal Sher. Auch die österreichische Auslandsorganisation, der Austro-American Council North-East (AAC), dessen Vorstandsmitglied ich war, hatte sich von Waldheim losgesagt. Einige Mitglieder verfassten eine Resolution, in der sie den Bundespräsidenten zum Rücktritt aufforderten. Dieser formale Schritt wurde angeblich einstimmig gebilligt. Krankheitshalber war ich, wie einige andere abwesende Vorstandsmitglieder, nicht von dieser Aktion unterrichtet und konnte leider auch nicht gegen diese Resolution stimmen. Entgegen den Vereinbarungen wurden die Resolution und die Abstimmung an die Presse weitergeleitet. Ich legte daraufhin meine Funktion zurück. Die solcherart erfolgte Intervention des AAC in die innenpolitischen Angelegenheiten Österreichs konnte ich nicht unterstützen. Schließlich bewirkte aber meine Haltung eine Akzeptanz meiner Einwände, und ich trat dem Vorstand später wieder bei. Mir war immer wichtig gewesen, dass der AAC sich für das zeitgenössische Österreich einsetzte und den komplexen österreichischen Charakter erklärte, vor allem, wie er sich 1938 manifestierte. In meiner Rede vor dem Rücktritt versuchte ich, dem AAC zu erläutern, dass auch ich oft genug versucht war, Resolutionen einzubringen. Bruno Kreisky habe dafür manchen Grund geboten. Ich sei überzeugt, dass ein Rücktritt Waldheims nicht förderlich sei. Die ganze politische Landschaft würde in eine vom Wahlvolk nicht erwünschte 149

Lebenskreise

Richtung verschoben werden: „Ich fürchte mich vor den Dolchstoß-Geschichten der 30er-Jahre, vor dem Antisemitismus, vor dem Anschlag auf die Demokratie, die ja in Österreich sowieso zart gepflanzt ist, und, ehrlich gesagt, vor Dr. Haider.“ Es war trotz allem nicht unsere Aufgabe, in New York über die österreichische Innenpolitik abzustimmen. In meiner erwähnten Rede vor dem AAC, die ich kürzlich als vergilbtes Manuskript in einer Mappe wiederfand, formulierte ich dieses Postulat folgendermaßen: „Man muss Österreich so verkaufen, wie es ist, nicht wie man es gerne hätte. Wir haben eine gute Story zu erzählen. Die Geschichte, wie die Politiker der früher gegnerischen Lager aus dem Krieg kamen, die Hemdsärmel hochstülpten und das moderne Österreich schufen. Diese Geschichte steht hinter dem deutschen Aufbauwunder nicht zurück. Jawohl: die Geschichte, wie recht oder schlecht ein großer Teil der ehemaligen Nazis wieder in den Aufbauprozess eingebaut wurde. Vielleicht zu früh, weil die Parteien nach Ausweitung des Wählerreservoirs suchten. […] So kam es eben zur Pardonierung von Nazis, wahrscheinlich auch solcher, die niemals hätten pardoniert werden sollen, wie ein Otto Hartmann, der elf meiner Freunde der Widerstandsbewegung ans Schafott lieferte. Aber alles in allem hätte die Nachkriegsarbeit nicht geleistet werden können, hätte man nicht Gras über die Gräber wachsen lassen. Und ich glaube, das war auch richtig. Die heutige Generation möchte zur Tagesordnung übergehen, die will den Zweiten Weltkrieg nicht noch einmal kämpfen.“ Das am 14. April 1988 in Wien tagende Präsidium des übergeordneten Auslandsösterreichwerkes unter Präsident Fritz Molden erwirkte nun einen Beschluss, der AAC möge sich von nun an jeder Befassung mit österreichischer Innenpolitik enthalten und seine Aufgabe weiterhin statutenmäßig darin sehen, für Österreich positive Arbeit zu leisten. Fast die gesamte New Yorker Presse stand trotzdem gegen Waldheim, allen voran die „New York Times“. Später zeigte sich, dass auch Teile der amerikanischen Administration gegen Waldheim agierten, obwohl Präsident Ronald Reagan mit dem österreichischen Botschafter Thomas Klestil in Washington ein besonders gutes Verhältnis pflegte. Mit einem Wort, Waldheims im Ausland lebende Anhänger wurden ruhiggestellt. Es entstanden peinliche Situationen, weil sowohl sozialistische als 150

Die Waldheim-Affäre

auch der ÖVP nahestehende Beamte zu gegensätzlichen Einstellungen quasi gedrängt wurden. Immer wieder an die „New York Times“ gerichtete objektive Leserbriefe, die im Gegensatz zu solchen standen, in denen Waldheim als „SSSchlächter“ bezeichnet war, wurden nicht publiziert. Ich kann hier aus eigener Erfahrung sprechen. Für ein demokratisches „Mustersystem“ ein bisher unbekanntes Vorgehen. Nach einigen Monaten hatte sich die Situation innerhalb der WaldheimGegnerschaft wohl etwas gelockert, denn ein Vertreter der „New York Times“ lud Fritz Molden und mich in New York zu einem Gespräch ein, in dem seitens der Zeitung Folgendes erklärt wurde: Das gegen Waldheim gerichtete politische Material sei aus Wien gekommen und von sozialistisch orientierten Konsularbeamten in New York verteilt worden. Dies sind keine „symbolischen“ Schilderungen. Als Teilnehmer dieses Gespräches fühle ich mich frei und berechtigt, zu erklären, dass eine Darstellung im Feuilleton der Presse vom 26. März 2011, signiert von Hans Werner Scheidl, gerade mit Bezug auf die Verteilerfunktion des Austrian Information Service den Tatsachen nicht entsprochen haben kann. Ich habe keine Ursache anzunehmen, dass die Information des Vertreters der „New York Times“ unglaubwürdig war. So viel zu diesem Rätsel und ewigen „Fangerlspiel“. Wie es aber manchmal in der Geschichte passiert, schlug die Stimmung in Österreich vor der zweiten Wahl zugunsten Waldheims um. Er wurde 1986 im zweiten Wahlgang mit 53 Prozent der Stimmen zum Bundespräsidenten gewählt. Zugleich steigerte sich die Reaktion der unterlegenen Sozialisten zu Hasstiraden gegen den neu Gewählten. Seine Wahlwerbesprüche: „Jetzt erst recht“ oder „ Ich habe nur meine Pflicht erfüllt“ hatten beim jüngeren Wähler Feuer entfacht, können aber – besonders außenpolitisch – nicht als schlau bezeichnet werden. Der sozialistische Bundeskanzler Fred Sinowatz trat am Tag nach dem Wahlsieg Waldheims zurück, sein Nachfolger wurde Franz Vranitzky, der die Koalition seines Vorgängers mit der FPÖ unter Jörg Haider aufhob. Waldheim hatte zwar an den Urnen gesiegt, er und Österreich insgesamt wurden aber weiterhin mehrere Jahre hindurch kritisiert und gespalten. Er wurde von der amerikanischen Regierung auf die sogenannte Watchlist gesetzt, eine Einreise in die USA wurde ihm verwehrt. Historikerkommissionen traten zusammen, um Waldheims Position als Stabsoffizier in Griechenland zu prü151

Lebenskreise

fen. Das offizielle Ergebnis: Waldheim sei kein Kriegsverbrecher gewesen, aber ein gut informierter, an zentraler Stelle positionierter Mann. Es war gerade diese „zentrale Positionierung“, die Waldheim in seinen Memoiren verschwiegen oder zumindest nicht ausführlich genug beschrieben hatte. Waldheim und Österreich wurden international boykottiert. Staatsbesuche wurden abgesagt. Der sozialistische Ex-Kanzler Sinowatz wurde in einem österreichischen Gerichtsprozess zu einigen Monaten Gefängnis und einer hohen Geldstrafe rechtskräftig verurteilt. Waldheim starb 2007, manche Politologen bezeichneten ihn als Spiegel der österreichischen Seele. Er selbst fasste seine Politik in einem Interview wenige Wochen vor seinem Tod so zusammen: „Es war notwendig, ja, unverzichtbar, dass wir Österreicher uns von der reinen Opferrolle verabschiedet haben. Sie war zwar Grundlage unseres inneren Friedens nach 1945, des Wiederaufbaus und unserer Nachkriegsidentität, aber doch nur ein Teil der Wirklichkeit.“

Immer wieder Jagd

D

ie Jagd hat sicher einen großen Teil meines langen Lebens ausgefüllt. Nach Abzug meiner Kerkerhaft und längeren Jagdpausen nach dem Krieg kann ich fast siebzig Jahre als leidenschaftlicher Jäger zusammenzählen. Ich bin mit 92 Jahren noch immer fähig, auf einen Hochsitz zu klettern. ­Herunterzusteigen war zumindest im Winter 2011 noch problemlos. Leider hat sich der Zustand meiner Augen stark verschlechtert, sodass sich in der letzten Saison bereits fünf Rehböcke über die ihnen angetragene Kugel mokierten, ohne Anzeichen größerer Befangenheit. Fünf Generationen der Familie Strasser besaßen ausgezeichnete Schrotflinten, an die ich mich noch lebhaft erinnere. Großvater Rudolf Strasser, der Erwerber von Majorháza, jagte spät im Leben und stets mittelmäßig. Großvater Seibt, dem als General die Waffe Teil seines Berufes, fast eine Art „Essbesteck“ hätte sein sollen, fand an der Jagd kein Vergnügen. Dabei hätte ihm später als Pensionisten die Gegend um Majorháza paradiesische Möglichkeiten der Jagd auf Flugwild geboten. 152

Lebenskreise

fen. Das offizielle Ergebnis: Waldheim sei kein Kriegsverbrecher gewesen, aber ein gut informierter, an zentraler Stelle positionierter Mann. Es war gerade diese „zentrale Positionierung“, die Waldheim in seinen Memoiren verschwiegen oder zumindest nicht ausführlich genug beschrieben hatte. Waldheim und Österreich wurden international boykottiert. Staatsbesuche wurden abgesagt. Der sozialistische Ex-Kanzler Sinowatz wurde in einem österreichischen Gerichtsprozess zu einigen Monaten Gefängnis und einer hohen Geldstrafe rechtskräftig verurteilt. Waldheim starb 2007, manche Politologen bezeichneten ihn als Spiegel der österreichischen Seele. Er selbst fasste seine Politik in einem Interview wenige Wochen vor seinem Tod so zusammen: „Es war notwendig, ja, unverzichtbar, dass wir Österreicher uns von der reinen Opferrolle verabschiedet haben. Sie war zwar Grundlage unseres inneren Friedens nach 1945, des Wiederaufbaus und unserer Nachkriegsidentität, aber doch nur ein Teil der Wirklichkeit.“

Immer wieder Jagd

D

ie Jagd hat sicher einen großen Teil meines langen Lebens ausgefüllt. Nach Abzug meiner Kerkerhaft und längeren Jagdpausen nach dem Krieg kann ich fast siebzig Jahre als leidenschaftlicher Jäger zusammenzählen. Ich bin mit 92 Jahren noch immer fähig, auf einen Hochsitz zu klettern. ­Herunterzusteigen war zumindest im Winter 2011 noch problemlos. Leider hat sich der Zustand meiner Augen stark verschlechtert, sodass sich in der letzten Saison bereits fünf Rehböcke über die ihnen angetragene Kugel mokierten, ohne Anzeichen größerer Befangenheit. Fünf Generationen der Familie Strasser besaßen ausgezeichnete Schrotflinten, an die ich mich noch lebhaft erinnere. Großvater Rudolf Strasser, der Erwerber von Majorháza, jagte spät im Leben und stets mittelmäßig. Großvater Seibt, dem als General die Waffe Teil seines Berufes, fast eine Art „Essbesteck“ hätte sein sollen, fand an der Jagd kein Vergnügen. Dabei hätte ihm später als Pensionisten die Gegend um Majorháza paradiesische Möglichkeiten der Jagd auf Flugwild geboten. 152

immer wieder jagd

Dass in Majorháza sechs gute Schützen pro Tag gut und gerne eintausend Rebhühner erlegen konnten, war oft bewiesen worden. Heute muss man wohl die Strecke auf 60 bis 80 Hühner reduzieren. Überdies werden die Rebhühner zu Recht immer wieder geschont. Das Schlimmste für die gedeihliche Entwicklung eines gesunden Wildstandes ist Unruhe. Dass diese im Krieg überhandnahm, ist vorstellbar. Überdies verstanden die Russen auch etwas von Waffen, sie raubten die besten englischen und belgischen Flinten und zogen damit ab. Die Jagd bei uns zu Hause auf der Schüttinsel war aber auch ein „lyrischer“ Zeitvertreib. Jagdbegeisterte Mädchen aus den nachbarschaftlichen Gütern waren durch jagdliche Fähigkeiten zu beeindrucken. Zu Mittag konnte man unter Akazienbäumen mit angewärmten und gebutterten Maiskolben bei Zigeunermusik in das heiße Firmament blicken und den jungen Damen dabei aufregende Episoden erzählen. Die erste Nachkriegswaffe erwarb ich erst 1957 in New York bei dem berühmten Sporthaus Abercrombie & Fitch mit meinen ersten ersparten 1.000 Dollar. Da ich nicht mehr Geld besaß, musste ich mich mit einer PurdeyDoppellaufbüchse und einem Ersatzlauf begnügen. Das komplette Paar hätte 1.500 Dollar gekostet. Damals konnte ich mir gar nicht vorstellen, dass man je noch einmal, wie vor dem Krieg, mit Büchsenspanner und einem Paar Gewehren jagen würde. Bei den Grouse-Jagden in Schottland fehlte mir dann das Paar bitter, aber das war erst 15 Jahre später. Ich war momentan jedenfalls sehr stolz auf eineinhalb Purdeys, Jahrgang 1916. Es war mir, als ob ich einen Rolls Royce besäße. Der Vorbesitzer war ein Mr. Lions aus St. Louis. Die Firma Purdey listet alle Details der Vorbesitzer auf und verwahrt die Unterlagen auf ewig. Mein früh verstorbener Vater hatte es bloß zu einem Paar sehr guter belgischer Flinten der Marke „Forgeron“ gebracht, die meine Mutter in der Wiener Wohnung meiner Großmutter parken hatte wollen. Diese verweigerte aber den „Parkplatz“ und übergab die Waffen dem ersten Russen, der sie inspizierte. Sie meinte, korrekt gehandelt zu haben. Hinter jedem Russen sah man damals in Wien einen Gottseibeiuns. Jedenfalls waren zunächst beide Läufe meiner Purdey-Büchse, ein engerer und ein weiterer Lauf, für die kleinen Stöberjagden entlang des Delaware im Staate Pennsylvania mehr als ausreichend. Ich pachtete in diesem ziemlich fel153

Lebenskreise

sigen Hügelland einen etwa 300 Hektar langen Revierstreifen mit einer hölzernen Jagdhütte darauf, in dem viele Weißwedelhirsche, Schwarzbären, wilde Truthähne, Grouse (Haselhuhn) und Waldschnepfen lebten. Ein Zimmer der Hütte überließen wir unserem Freund, dem New Yorker Kulturattaché Dr. Wilhelm von Schlag, einem bemerkenswerten Jäger, Bastler und Handwerker. Nach seiner Rückkehr nach Wien übernahm ein ungarisches Ehepaar, Paul von Nemeskéri-Kiss, Schlags Revieranteil. Palis Vater war Oberjagdmeister des ungarischen Reichsverwesers Horthy. Pali war gleichfalls ein guter Schütze und besaß eine gute Vorsteh-Hündin, Aida, die uns zu manchem Wildvogel verhalf. Durch das Revier schlängelte sich ein kleiner Bach, in dem Saiblinge und an tieferen Stellen auch größere Regenbogenforellen gediehen. Schwarzbären plünderten unsere Abfallkübel, doch gelang es mir nie, einen zu erlegen. Die offizielle Schusszeit auf den Schwarzbären beschränkte sich in Pennsylvania auf einen Tag pro Jahr. An diesem Tag, so wie während der beiden Wochen zulässiger Schusszeit auf Weißwedelhirsche, wimmelte es von Rot-Hemden in den öffentlichen Wäldern, denn jeder eine Jagdkarte besitzende US-Staatsbürger musste bei der Jagd sichtbar rot gekleidet sein. Alles in allem war der Wildbestand auf diesem schönen Flecken wilden Landes befriedigend. Dort wo der kleine Bach in den großen Delaware-Fluss mündete, lagen die kleinen Städte Port Jervis und Metamoras mit hübschen Häusern, teilweise aus dem frühen 19. Jahrhundert. Eines soll aus dem Familienbestand einer berühmten Sängerin jener Zeit stammen und ein Konzertsaal gewesen sein, jetzt war es ein nettes Hotel. Das war also unser „Hangout“ für die Wochenenden. Wenn wir viel Energie aufbrachten, so bestand die Strecke meist aus drei Stücken Flugwild, vor allem wenn die Hündin aktiv und zum Stöbern bereit war. Daneben gelang es meist, einen Hirsch pro Jahr zu erlegen. Meine Söhne Christoph und Rudy tummelten sich entlang des Baches, pflückten Schwarzbeeren und brachten kleine Saiblinge nach Hause. Die Mütter entwickelten etwas übertriebene Ängste, denn uns begegneten hin und wieder giftige Klapperschlangen. Sie waren aber eigentlich nur dann gefährlich, wenn man auf einen Stein trat, unter dem sie gerade schliefen. Die Kinder schwiegen tapfer, wenn sie einer Schlange begegneten. Wozu Aufregung säen? 154

immer wieder jagd

Nach amerikanischem Jagdrecht mussten Hirsche „geborgen“ und konsumiert werden. Den Amerikanern war seit jeher das Wildbret wichtiger als die Trophäe.

Der „Camp Fire Club“ Hatte man während der Woche Zeit, so besuchte man den unweit von New York bei Chappaqua gelegenen „Camp Fire Club“, den Präsident Theodor Roosevelt im Jahre 1897 gegründet hatte. Dieser „Camp Fire Club“ ist auch heute noch eine typisch amerikanische und äußerst segensreiche Einrichtung, die bei praktischer Übung den Charakter, die Disziplin und die Jagdmoral fördert. Unter den ungefähr fünfhundert Mitgliedern konnte man kaum gesellschaftliche Unterschiede feststellen. Sie waren alle „Herren“, ob Polizist, bekannter Anwalt oder Arzt. In einem stimmten sie alle überein: in der Verehrung der Jagd, in der Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften und im aufrechten Charakter. Werbung gab es keine. Ein Mitglied empfahl das andere, wenn es diese Empfehlung persönlich verantworten konnte. Es gab auch Eliminierungen bei Verstößen gegen die Moral. Das große, aus Holz gezimmerte Club-Haus stand am Rand eines weiten Sees der gegen extra Bezahlung meist von Kindern befischt werden durfte. Bergaufwärts standen Holzhütten, die von den Mitgliedern gemietet werden konnten. Auf Reinlichkeit und Ordnung in den Hütten wurde geachtet. An die Haupthütte schloss sich ein großer Speisesaal mit einem Herd an, auf dem die köstlichsten „Hamburger“ der USA gebraten wurden. Eine enorme Bibliothek wurde aus vielen Nachlässen von Mitgliedern zusammengetragen, auch die Sammlung an Trophäen aus aller Welt kam so zustande. In der „bebuschten“ Landschaft standen in kleinen Remisen die modernsten Schießanlagen für Tontaubendisziplinen, Revolverspezialisten und Kugelschützen. Die amerikanische Industrie bringt in diesem Bereich ständig neue Trainings- und Prüfungsgeräte heraus, was sich bei den olympischen Schießleistungen der US-Teams meist positiv auswirkt. Das beste Training bieten die im „Camp Fire Club“ zweimal im Jahr abgehaltenen „Outings“, im Frühjahr und im Herbst. Dieses „Outing“ ist eine clubinterne, zweitägige Konkurrenz, in der die Leistungen der Teilnehmer etwa in zwanzig Bewerben gepunktet 155

Lebenskreise

und statistisch gemessen werden. Diese Disziplinen betreffen unter anderem das Schrotschießen, Tontaubenkonkurrenzen aller Art, das Revolverschießen, Kugelschießen auf sich bewegende und fixierte Ziele mit Waffen verschiedener Kaliber. Dazu kommen mehrere Disziplinen des Bereiches Fliegenfischen, wie Genauigkeit und Entfernung, oder mit dem Spinnangelgerät sowie Rudern und Kanubewerbe. Das Kanu musste auf dem Rücken von einem Startplatz zum anderen geschleppt werden. Die letzte Konkurrenz sollte schließlich den Nachweis erbringen, dass man mit drei Zündhölzern, einem Holzblock und einem Beil Feuer entzünden und pancakes in freier Natur herstellen konnte. Das Hochwerfen und Auffangen der garen Kuchenblätter mit einer Pfanne beendete diese Konkurrenz. Die Sieger wurden mit Medaillen ausgezeichnet. Was aber den „Camp Fire Club“ besonders charakterisierte, war das Zusammenfinden kleinerer Gruppen mit spezifischen Jagdinteressen. Diese unternahmen gemeinsam Jagdreisen auf der ganzen Welt. Nach Alaska oder in die Mongolei ging es auf spezielle Wildschafe, in den Rocky Mountains auf den Riesenhirschen, den Wapiti, in Schottland auf das schnell fliegende Grouse, bei dessen Beschuss man so viel „vorhalten“ muss, dass man es noch kaum vor sich sieht, während man abdrückt. Die spezialisierten Gruppen jagten häufig zusammen und kannten sich von Jugend auf. Sie schossen meist sehr gut und zählten zu den eher wohlhabenden Mitgliedern. Irland war dagegen das Ziel weniger betuchter Schrotspezialisten. Dort massierten sich im Winter Wildenten aller Art. Wer aber noch jung war und eine komplette Schulter besaß, der flog nach Argentinien und vermochte dort täglich an die Tausend kleine Wildtauben zu erlegen. Nach ein bis zwei Tagen mussten die Gewehrläufe erneuert werden, die Schulter nach ein bis zwei Jahren. Narren gab und gibt es ja in jedem Bereich des Lebens. Das ist jedenfalls keine ernst zu nehmende Jagd, und überdies gibt es lustigere Möglichkeiten, überflüssige Energien und kostspielige Patronen loszuwerden. Während des Jahreslaufs trugen verschiedene Clubs gegeneinander Schießwettbewerbe aus. Der „Camp Fire Club“ gewann fast immer. Außerhalb des Clubs gab es bei kleineren Dörfern Schießkonkurrenzen auf lebende Tauben, gar nicht unähnlich dem „Tire au Pigeon“ in Monte Carlo. Die Schützen unterschieden sich aber wesentlich von jenen in Monaco. 156

immer wieder jagd

Mein Grizzly Einige Jagderlebnisse spielen sich noch nach Jahren immer wieder vor meinem geistigen Auge ab, jederzeit abrufbar. Ich möchte daher meinen Enkeln die Bereicherung ihres Lebens durch die Jagd oder durch das Fischen sehr empfehlen. Beides ist leider ein aussterbendes Vergnügen und dürfte aus einer Welt, die immer wieder einer Art verzerrter Gerechtigkeit huldigt, bald verschwinden. Die großartigen Erinnerungen an meine Alaska-Expeditionen, an herrliches Fliegenfischen auf den atlantischen Lachs in Kanada, Norwegen, Island oder Schottland, die erfolgreichen Jagden auf Riesenelche und Karibus, die nur einmal erfolgreiche Pirsch auf die Schneeziege und mehrere Fehlschüsse auf das doppelt gehörnte Wildschaf stehlen sich langsam aus meinem Gedächtnisspeicher. Nur der Grizzly aus dem Yukon Territory hat sich in meinen Erinnerungen wohl für immer fest gemacht. Ich hatte meinen Jagdfreund Georg Prinz Fürstenberg in Anchorage, Alaska, getroffen. Wir hatten diese Jagd auf Elch, Ziege, Schaf und Karibu schon

39. Mit dem „Großen Grizzly“ im Yukon Territory, 19. September 1968.

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Lebenskreise

lange geplant. Mit Georg jagte ich mehrere Male im Jahr in den Donauauen und schon bald nach dem Krieg in der Umgebung von Strobl. Er war ein Schulfreund aus dem Theresianum. Überdies zählte er zu den Gründungsmitgliedern des so erfolgreichen Wiener St. Johanns Club, eines Herrenclubs, der dem geselligen Beisammensein, der Weiterbildung seiner Mitglieder durch Vorträge und Diskussionen dient. Der Club betreibt auch ein Restaurant. Nicht wenige der jungen Mitglieder profitieren von den Empfehlungen der erfahrenen Älteren. Wir waren nun schon das zweite Mal zusammen in Alaska. Ein aus Schlesien stammender Baron Skal, der sich in Alaska niedergelassen hatte, war uns sehr behilflich. Er vermittelte ausgebildete und erprobte Guides, ein Headhunter der Jagd. Diesmal war Georgs Jagdzeit leider kurz bemessen. Nachdem er einen mittelstarken Elch erlegt hatte, musste er nach Hause gebracht werden, um sich die bei einem Unfall verletzte Wirbelsäule operieren zu lassen. Die Spätfolgen haben sicherlich zu seinem viel zu frühen Verlassen der Welt und der Jagdgefilde beigetragen. Am kommenden Tag jagte ich mit meinem Guide unweit des Platzes, an dem Georg seinen Elch geschossen hatte. Auf einige Kilometer Entfernung hörten wir das Zermalmen großer Knochen und rücksichtsloses Stampfen und Wühlen im Unterwuchs. Es musste sich ein ansehnlicher Bär am Luder des Elches gütlich tun. Der Wind war gut. Mein aggressiver Jagdführer hatte sofort einen Plan: „Angehen durch das dichte Erlengestrüpp.“ Meist pflanzte sich dann der Bär etwa zehn Meter vor dem Jäger auf. „Sofort schießen, die Kugel unter das Haupt des stehenden Bären antragen. Den Bären gar nicht in Bewegung kommen lassen!“ Und wenn das schnellste Säugetier der Welt einem langsamen europäischen Jäger zuvorkommt? Ich klopfte an den Kopf des Guides. Das schien mir zu gefährlich. Es war Anfang August 1956. Für Oktober war meine Heirat geplant. Ich schoss den Bären stattdessen nachts am 3. Mondansitz, unweit des Luders, und war dann ebenso stolz, als hätte ich ihn stehend niedergerungen. Er besetzte den 24. Platz auf der „Boone & Crocket“-Liste. Er hat es sich verdient, noch heute in meinem burgenländischen Jagdhaus zu ruhen, und er wird wohl versuchen, dort länger auszuhalten als ich. Noch einige andere Bärengeschichten spuken durch meine Erinnerungen. Wir wollten einige Tage später auf einer der Kenai Peninsula vorgelagerten 158

immer wieder jagd

Insel auf einen besonderen Braunbärentypus jagen, dessen etwas abnorme Schädelform ihn als Trophäe noch weiter nach vorne im „Boone & Crocket“Register gerückt hätte. Mein Guide war bereits mit Zeltausrüstung im Flugzeug unterwegs, um einen passenden Landeplatz zu finden. Der Abflug war von einem kleinen Flugplatz in Seward geplant, wo ich warten sollte, bis er mich abholte. Während ich also seiner Rückkehr harrte, huschte plötzlich ein Wohnwagen durch meine Wahrnehmung, der – wie ich bemerkte – ein österreichisches Kennzeichen trug, das große A, und das in Seward, Alaska. Der Fahrer hielt an, wir tratschten miteinander, er kam aus Wiener Neustadt und plante eine Reise über Südamerika nach Feuerland. War sein Erscheinen nun ein schlechtes Omen für meine Bärenjagd? Eigentlich wollte ich umdrehen und verzichten, auf die ominöse Insel zu fliegen. Aber warum zögern, wir waren ja hier, um zu jagen. Mitten durch die Insel zog sich ein kleiner, von Büschen fast zugedeckter Fluss. Es musste dort von laichenden Lachsen wimmeln. Man hörte auch einige größere Tiere plätschern, vielleicht waren es Bären. Auf dem Bauch im hohen Gras hin gekrochen, das Gewehr schussbereit. Doch die filmreifen Bären, die sich gegenseitig die Lachse wegschnappten, waren nicht da. Aber unter den Lachsen gab es orgiastische Spiele von Fischen mit aufgeschlitzten Bäuchen, wie bei Bruegel, die sich gnadenlos bekämpften.

Bären-Silvester Mein Grizzly verließ mich aber nicht. Am Silvesterabend veranstalteten wir in Pelham öfter ins Literarische ausschweifende Vorträge. Der Star des Abends war meist ein Schriftsteller, darunter der bekannte Deutsch-Böhme Johannes Urzidil. Er erhielt immer großartige Unterstützung von seiner „petiten“, witzigen Gattin, besonders wenn er schon etwas müde war. Urzidil gehörte zum Prager Literatenkreis, zu Max Brod, Franz Kafka und Franz Werfel. Das Leben beider Ehegatten war früh von Familiendramen geprägt. Frau Urzidil war die Tochter eines berühmten Prager Rabbiners, der sie, die große Lyrikerin Gertrude Thieberger, niemals einem deutsch-böhmischen Dichter anvertraut hätte, auch wenn er bereits mit dem Großen Österreichischen Staatspreis aus159

Lebenskreise

gezeichnet gewesen wäre, wie später für „Goethe in Böhmen“ oder „Die verlorene Geliebte“. Es blieb also nichts anderes übrig, böhmakelte Urzidil, als 1922 bei Nacht und Nebel durchzugehen. Dem Rabbiner gefiel dies gar nicht, es gab Skandale, aber die beiden schmunzelten noch in der Silvesternacht von 1960 darüber. Wie es so manchmal passiert, muss es in jener Nacht hoch hergegangen sein. Weder meine Frau noch ich erinnern uns heute daran, wie und wann wir am l. Januar ins Bett gekommen waren. Erst etwa um zehn Uhr morgens am Neujahrstag rief ein junges Ehepaar an, um sich zu bedanken, vor allem aber, um zu klagen, dass die Gattin ihre Kontaktlinsen verloren habe, und zwar auf dem großen Bärenfell, das vor dem brutzelnden Kamin ausgebreitet lag. Verschlafen wie ich war, kroch ich zum Bären, um nachzusehen. Ich fand wirklich eine Haftschale, nach der anderen werde ich später suchen, wenn ich einmal Zeit habe. Bei der Suche im Bärenfell stieß ich auf einige interessante Spuren, die ich noch heute nicht aufklären kann oder vielleicht auch nicht will. Eine halbe Stunde später rief eine alleinstehende Dame an, um sich zu bedanken und zu fragen, ob sie nicht ihre „Boutons“ über dem Bären verstreut hätte. Der Herr, der sie ihr seinerzeit geschenkt hatte, meinte, sie stammten von Cartier. Aber daran hätte sie nie geglaubt, denn er besaß damals kein Geld und sie konnte auf dem Etuideckel noch den Namen „Jolie Gabor“ lesen, den Namen einer Budapester Kunstschmuckhändlerin, die auch sonst in der Herren- und Damenwelt, allerdings über ihre Töchter Zsa Zsa und Eva, ein große Rolle gespielt hatte. Es blieb also zunächst bei wiederholten „Prosit Neujahr“-Anrufen, die mehr dem Bären galten. Als ich das zottelige Fell aber neuerlich untersuchen musste, war ich auf eine noch wärmere Spur gestoßen, die mich zu meinem geliebten Heinrich Heine führte. Auf dem Hinterkopf des Bären, dort wo die Erhöhung abklingt und sich flach ausbreitet, hatte jemand ein Büschlein herrlich glänzender blonder Haare hinterlassen. Es waren wohl die Relikte einer Loreley, die sich dort hatte kämmen lassen. Nun wurden die Verdachtsmomente noch dichter. Nachdem ich das Bärenmaul näher begutachtete und etwas auseinandergezogen hatte, konnte ich zwischen den noch einigermaßen scharfen Zähnen ein zartes schwarzes Seidentuch finden. Ich rief nach meiner Frau. Dai160

suburbia und Besuch aus Ungarn

sy eilte herbei und identifizierte das Tüchlein als ein fein besticktes Dessous, das man damals eigentlich noch kaum verwendete. Mein Gott, was hatte die betroffene arme Dame in ihrer Bedrängnis dieser Nacht alles erleben müssen? Der letzte Fund am Bären war dann etwas ernüchternder. Diesmal hatten zwei Dackel, die in Begleitung eines Diplomatenpaares zu uns gekommen waren, dem Grizzly den halben Lauscher abgebissen. Vor dem nächsten Silvester musste ich aufgrund der Ereignisse von 1960 den Bären in den Keller verfrachten. Inzwischen sind die Zeiten auch für meinen Bären ruhiger geworden. Der als ständiger Silvestergast schon vorgemerkte Botschafter Heinz Heymerle ist dahingegangen, manch anderer Freund folgte ihm nach.

Suburbia und Besuch aus Ungarn

N

ach dem dritten Kind, unserer heiß geliebten Tochter Daisy, wendete sich der Blick für Wohnen und Leben mehr in Richtung des grünen Landes, nach „Suburbia“, wo man einen vollkommen anderen Lebensstil pflegte als in Manhattan. Die ländlichen Gemeinden am Ufer des Atlantiks oder kleiner Waldungen bestehen aus rustikalen gemütlichen Häusern, häufig aus weiß gestrichenem Holz, oft nahe eines Golfclubs, wo sowohl Kinder dem Swimmingpool huldigen als auch ältere Mitglieder Tennis, Golf oder Bridge spielen konnten, im Club-Restaurant zudem relativ gut speisten und politisierten. Man trug hier lieber, symbolisch gesprochen, Schlips als Krawatte. Wir hatten die Wohnung in New York aufgegeben und ungefähr zwanzig Kilometer außerhalb der Stadt in Pelham Manor (NY) ein weißes Holzhaus gekauft, in dem wir uns alle sehr wohl fühlten. Das Haus war von blühenden Büschen, Magnolien und Obstbäumen eingefasst und bot auch den Kindern alles, was sie sich wünschten. Braun gebrannte italienische Gärtner pflegten und bewässerten den zähen Rasen. Wenn es dunkel wurde, schlüpften Waschbären aus ihren Höhlen in den Stämmen alter Bäume und taten sich an den Küchenabfällen gütlich. Sie wurden von professionellen „Jägern“ gefangen und angeblich im Zoo freigelassen, fanden sich aber nach einigen Tagen wieder bei uns im Garten ein. Ein lukratives Geschäft. 161

suburbia und Besuch aus Ungarn

sy eilte herbei und identifizierte das Tüchlein als ein fein besticktes Dessous, das man damals eigentlich noch kaum verwendete. Mein Gott, was hatte die betroffene arme Dame in ihrer Bedrängnis dieser Nacht alles erleben müssen? Der letzte Fund am Bären war dann etwas ernüchternder. Diesmal hatten zwei Dackel, die in Begleitung eines Diplomatenpaares zu uns gekommen waren, dem Grizzly den halben Lauscher abgebissen. Vor dem nächsten Silvester musste ich aufgrund der Ereignisse von 1960 den Bären in den Keller verfrachten. Inzwischen sind die Zeiten auch für meinen Bären ruhiger geworden. Der als ständiger Silvestergast schon vorgemerkte Botschafter Heinz Heymerle ist dahingegangen, manch anderer Freund folgte ihm nach.

Suburbia und Besuch aus Ungarn

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ach dem dritten Kind, unserer heiß geliebten Tochter Daisy, wendete sich der Blick für Wohnen und Leben mehr in Richtung des grünen Landes, nach „Suburbia“, wo man einen vollkommen anderen Lebensstil pflegte als in Manhattan. Die ländlichen Gemeinden am Ufer des Atlantiks oder kleiner Waldungen bestehen aus rustikalen gemütlichen Häusern, häufig aus weiß gestrichenem Holz, oft nahe eines Golfclubs, wo sowohl Kinder dem Swimmingpool huldigen als auch ältere Mitglieder Tennis, Golf oder Bridge spielen konnten, im Club-Restaurant zudem relativ gut speisten und politisierten. Man trug hier lieber, symbolisch gesprochen, Schlips als Krawatte. Wir hatten die Wohnung in New York aufgegeben und ungefähr zwanzig Kilometer außerhalb der Stadt in Pelham Manor (NY) ein weißes Holzhaus gekauft, in dem wir uns alle sehr wohl fühlten. Das Haus war von blühenden Büschen, Magnolien und Obstbäumen eingefasst und bot auch den Kindern alles, was sie sich wünschten. Braun gebrannte italienische Gärtner pflegten und bewässerten den zähen Rasen. Wenn es dunkel wurde, schlüpften Waschbären aus ihren Höhlen in den Stämmen alter Bäume und taten sich an den Küchenabfällen gütlich. Sie wurden von professionellen „Jägern“ gefangen und angeblich im Zoo freigelassen, fanden sich aber nach einigen Tagen wieder bei uns im Garten ein. Ein lukratives Geschäft. 161

Lebenskreise

Eine Tante meiner Frau kam uns eines Tages aus Ungarn in „Suburbia“ besuchen. Sie hatte Geschichte studiert und wusste mehr vom amerikanischen Bürgerkrieg als ich. Sie beging still die Gründe, stellte dann und wann eine Frage. Sie inspizierte die barock stilisierten Räume und schüttelte den Kopf bei der Besichtigung der rund dreihundert Gläser in meinen Vitrinen. Endlich konnte sie meiner Hauptfrage nicht mehr ausweichen: „Also, wie gefällt es Dir hier bei uns, liebe Tante?“ Ein kleines Räuspern leitete ihren Kommentar ein: „Die Kinder sind entzückend, aber wir hätten in Ungarn niemals ein bemaltes Holzhaus als Residenz bezeichnet, wie oft auch immer George Washington dort geschlafen haben mag.“ Zwei Kontinente, verschiedene Stilvorstellungen. Uns haben sich die Charaktereigenschaften der „ländlichen“ Amerikaner besonders eingeprägt. Dazu gehört die große Hilfsbereitschaft gegenüber Nachbarn und in Not geratenen Freunden. Jedes Familienleben wird dann und wann von Katastrophen heimgesucht. Oft schlagen diese dann zu, wenn die Betroffenen am wenigsten abwehrbereit sind. Immer wieder konnten wir erleben, dass sich in solchen Situationen Hilfsstäbe bildeten, die die bedürftigen Familienmitglieder aufnahmen. Die Kinder wurden verköstigt, versorgt, in die Schule gebracht und wieder abgeholt. Notwendige Arztbesuche wurden erledigt, fehlende Nahrungsmittel beschafft. Wenn die vom Unfall Betroffenen nach Hause kamen, lief der Familienbetrieb bereits wie ein eingespieltes „Werkel“. All das leitet sich aus der nordamerikanischen Geschichte ab, als die „Settlers“ den Gefahren von Isolation und Naturkatastrophen ausgesetzt waren und die einzigen Verbindungswege von Pferdekutschen oder von den ersten Eisenbahnen befahren wurden. Es ist interessant, dass diese von außen aufgezwungenen Gefahren so stark in den Abwehrmechanismus der Bevölkerung übergehen, dass sie zu etwas wie einem Schutzinstinkt werden. Vielleicht liegt hier die innere Stärke von „Suburbia“, weil sich solche Reflexe in den großen Städten weniger deutlich antreffen lassen. Ein weiterer großer Vorteil des Landlebens ist das dort eingebürgerte Schulsystem, das qualitativ den städtischen Schulen weit überlegen ist. Man zahlt in „Suburbia“ zwar gemäß seines Grundstücks Schulsteuer, aber der Schulbesuch selbst ist kostenlos. Dem Ausdruck „Public School“ hängt etwas Derogatorisches nach, aber zwei unserer Kinder haben in Pelham die Public School besucht, und dieser Weg führte sie auch in gute Universitäten. In der Stadt hätte man unbedingt Privatschulen 162

unsere Kinder

besuchen müssen, die sehr teuer sind, wenn man ein höheres Bildungsniveau erreichen wollte und damit die Chance auf ein namhaftes College.

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nsere Kinder sind in dieser amerikanischen Welt aufgewachsen und wurden in vieler Hinsicht davon mehr geprägt, als von Daisys und meiner Vergangenheit. Unsere Söhne Christoph und Rudy haben Amerikanerinnen geheiratet und sind schließlich noch tiefer in den amerikanischen Lebensstil gerückt als unsere Tochter Daisy, die heute in Deutschland lebt. Ich würde meinen jüngeren Sohn Rudy eher als einen landwirtschaftlichen Typen bezeichnen, der als Weinbauer im kalifornischen Napa Valley arbeitet und meinem Großvater väterlicherseits, Rudolf, dem Erwerber von Majorháza, am ähnlichsten ist. Doch ist die amerikanische Erziehung spezifischer ausgerichtet als die europäische, selbst wenn sich Letztere ein Jahrhundert früher entwickelte. Rudys Frau Rita hat finnisch-amerikanische Wurzeln, und das Paar lebt mit seinen drei Kindern Nikolaus, Max und Pia auf einem Berg, der sich Diamond Mountain nennt. Dort führen sie ein, mit europäischen Weinbauern verglichen, sehr kultiviertes Leben. Ihr von Loggien getragenes großes Haus im italienischen Stil ist von Rosengärten umgeben. Rudy, so sagt man, ist mit seinem Weinberg eng verbunden. Wenn wir ihn telefonisch nicht erreichen, so führt er gerade Konversation mit seinen Cabernet-Sauvignon-Reben und erkundigt sich nach deren Wohlbefinden. Das nach der Wirtschaftskrise schwächere Geschäft wird durch seinen persönlichen Einsatz intensiviert. Ein Winzer sei selbst auch sein bester Verkäufer, meint er. Obgleich nur Rudy Deutsch spricht, genießt die Familie jedes Jahr die Wunder des europäischen Lebens, vor allem in Österreich. Die Weinwirtschaft „Von Strasser“ am Diamond Mountain ist zwar auf Cabernet-Sorten spezialisiert, doch produziert sie seit Kurzem auch Grünen Veltliner nach Wachauer Art. Rudys Hang zur Landwirtschaft begann sich mit einem Studium des Apfelanbaus zu entfalten, dann folgte er einer jungen Dame, die für den Weinbau mehr Vorliebe zeigte, nach Kalifornien. 163

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besuchen müssen, die sehr teuer sind, wenn man ein höheres Bildungsniveau erreichen wollte und damit die Chance auf ein namhaftes College.

Unsere Kinder

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nsere Kinder sind in dieser amerikanischen Welt aufgewachsen und wurden in vieler Hinsicht davon mehr geprägt, als von Daisys und meiner Vergangenheit. Unsere Söhne Christoph und Rudy haben Amerikanerinnen geheiratet und sind schließlich noch tiefer in den amerikanischen Lebensstil gerückt als unsere Tochter Daisy, die heute in Deutschland lebt. Ich würde meinen jüngeren Sohn Rudy eher als einen landwirtschaftlichen Typen bezeichnen, der als Weinbauer im kalifornischen Napa Valley arbeitet und meinem Großvater väterlicherseits, Rudolf, dem Erwerber von Majorháza, am ähnlichsten ist. Doch ist die amerikanische Erziehung spezifischer ausgerichtet als die europäische, selbst wenn sich Letztere ein Jahrhundert früher entwickelte. Rudys Frau Rita hat finnisch-amerikanische Wurzeln, und das Paar lebt mit seinen drei Kindern Nikolaus, Max und Pia auf einem Berg, der sich Diamond Mountain nennt. Dort führen sie ein, mit europäischen Weinbauern verglichen, sehr kultiviertes Leben. Ihr von Loggien getragenes großes Haus im italienischen Stil ist von Rosengärten umgeben. Rudy, so sagt man, ist mit seinem Weinberg eng verbunden. Wenn wir ihn telefonisch nicht erreichen, so führt er gerade Konversation mit seinen Cabernet-Sauvignon-Reben und erkundigt sich nach deren Wohlbefinden. Das nach der Wirtschaftskrise schwächere Geschäft wird durch seinen persönlichen Einsatz intensiviert. Ein Winzer sei selbst auch sein bester Verkäufer, meint er. Obgleich nur Rudy Deutsch spricht, genießt die Familie jedes Jahr die Wunder des europäischen Lebens, vor allem in Österreich. Die Weinwirtschaft „Von Strasser“ am Diamond Mountain ist zwar auf Cabernet-Sorten spezialisiert, doch produziert sie seit Kurzem auch Grünen Veltliner nach Wachauer Art. Rudys Hang zur Landwirtschaft begann sich mit einem Studium des Apfelanbaus zu entfalten, dann folgte er einer jungen Dame, die für den Weinbau mehr Vorliebe zeigte, nach Kalifornien. 163

Lebenskreise

Christoph, der ältere unserer Söhne, hat ebenfalls eine Amerikanerin geheiratet. Ihre Kinder Christian und Andreas besuchen im nördlichen Connecticut Schule und Kindergarten. Ihr Haus liegt an einem etwas feuchten Waldrand, der Christian häufig zum Studium von Reptilien und Fischen inspiriert. Christoph ist Broker, der die ups and downs von Rohstoffpreisen, vor allem von Kupfer, zum Ausgangspunkt seines Handels verwendet. Mir scheint immer, dass er seinen Beruf, so wie ich, eher in einem intellektuellen Bereich hätte entwickeln sollen. Auch die Leidenschaft für die Jagd und das Fischen hat Christoph von mir geerbt. Seit vielen Jahren hält er den „Präzisionspreis“ des „Camp Fire Clubs“ in einer bestimmten Fischerei-Disziplin. Wie wir alle jagt er auch in Europa, in den USA ist er zudem ein ausgezeichneter Bogenschütze. Bei Christoph hat auch die Musikalität der Familie Strasser ihre Fortsetzung gefunden. Ich erinnere mich an seinen aufgeregten Anruf, als er mir von einem eben gehörten Schubert-Lied erzählte, das ihn als eine Art Initialzündung sehr berührt hatte. Es war auch mein Lieblingslied, das „Fischermädchen“ aus dem „Schwanengesang“, das auf einem Text von Heinrich Heine beruht. Unserer Tochter Daisy gelang es nach ihrer Heirat, selbst in Düsseldorf einen ausgeprägten amerikanischen Lebensstil beizubehalten. Sie pflegte jedoch schon in den New Yorker Kreisen der Deutsch-Österreicher viele europäische Freundschaften und hat mehrere Jahre die Salzburger Festspiele in New York kommerziell vertreten. Ihr Gatte Fabian Graf Einsiedel repräsentiert den Typus des fröhlichen, lebenslustigen Rheinländers, der mit vielen sächsischen Genen angereichert ist. Fabian betreibt das Anlagegeschäft mit viel Erfolg, aber auch die Jagd und das Tennis, Letzteres ebenso hervorragend wie sein Sohn, bei dem die „Spargelspitzen“ schon zu sprießen beginnen. Sebastian und seine Schwester, Daisy IV., versuchen, europäische Nester zu bauen, ohne noch Vorstellungen zu haben, auf welchen Bäumen. Alle zusammen führen sehr offene, gastfreundliche Häuser. Ein wenig mag hier die Solidarität der Settler-Kultur, vereint mit einer lange vergangenen europäischen Welt, zutage treten. Uns Eltern bringt jedenfalls der enge Zusammenhalt der Kinder viel Freude, auch wenn sie auf verschiedenen Kontinenten leben. Ob sich auch meine Liebe zur Kunst in einem meiner Nachkommen vererbt hat?

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Kunstverbundenheit

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chon in unserer ersten gemeinsamen, ziemlich kleinen Wohnung in der Madison Avenue, die nahe an das Gebäude des österreichischen Konsulates anschloss, wo auch die Handelsdelegation der Bundeswirtschaftskammer untergebracht war, versuchten Daisy und ich, etwas europäischen Wohnstil nach New York zu übertragen. Dafür bot sich auf dem beengtem Raum ein flaches, weiß lackiertes Brett an, das über dem Kamin angebracht war. Es war eine Art Zierfries, dieses mantelpiece, auf das man Cachepots für Blumen, Fotorahmen, Biedermeiergläser und Porzellane stellen konnte. Das Arrangement gab dem Raum ein gewisses Flair. Diese dekorativen Ausstattungsobjekte stammten noch aus unseren Elternhäusern oder waren Hochzeitsgeschenke. Viele Emigranten hatten solchen Bric-à-Brac in die USA mitgebracht, nachdem sie ihre NS-Fluchtsteuer gezahlt hatten. Manche von ihnen sind selbst Antiquitätenhändler geworden. Es wäre übertrieben zu behaupten, dass dieses Zierbrett und sein Bestand die Grundlage meiner in den folgenden Jahrzehnten zusammengetragenen Glassammlung bildete, aber man kann es als Ausgangspunkt bezeichnen. Meine Sammlung ging schließlich vor einigen Jahren in den Besitz des Kunsthistorischen Museums in Wien über. Aus Majorháza barg diese erste New Yorker Bleibe übrigens ein hübsches Biedermeierbild mit einem Wanderburschen, dem eine Wahrsagerin die Zukunft deutet. Es hängt jetzt in der Wohnung meines Enkels Sebastian Einsiedel, der in Wien studiert und dem die Wahrsagerin hoffentlich auch eine gute und zutreffende Prognose stellt. Bald empfanden wir diese Wohnung in New York als zu klein, vor allem, wenn wir an den erhofften Kindersegen und auch an den Ausbau unserer Sammlung dachten. Mit den ersten beiden Kindern übersiedelten wir bald in eine geräumige Wohnung auf der Park Avenue in Manhattan. Die Park Avenue zeigte bei der Nr. 1175 eine leichte Neigung, die anlässlich der gelegentlichen Winterstürme sogar als Rodel- und Skiabfahrtsstrecke verwendet wurde. Die Wände unserer Wohnung waren mit eingebauten Vitrinen ausgestattet, in denen sich Gläser und Porzellane ansehnlich reihten. Im großen Vorzimmer begannen sich allmählich die Jagdtrophäen zu sammeln. Endlich hatten wir auch Platz, unseren gesellschaftlichen Aufgaben nachzukommen. 165

Lebenskreise

Nicht alles, was durch die Kriegswut in Europa vernichtet worden war, konnte in New York ersetzt werden, die amerikanische Metropole bot jedoch eine reiche Auswahl an Möbeln britischer, französischer und mitteleuropäischer Stile. Meine Bezugsquellen für Antiquitäten fand ich sowohl in Europa als auch in den USA. Kurz nach dem Krieg wurden die USA von keramischen Objekten und schönen Gläsern überschwemmt, die zu sehr günstigen Preisen zu erwerben waren. Die früheren Bankiers und neuerdings Antiquitätenhändler sowie die Leiter der kleinen Auktionshäuser in New York, waren bar jeglicher Fachkenntnisse, sodass man, wenn man die Materie einigermaßen beherrschte, sehr gut und günstig kaufen konnte. Noch vor meiner Ankunft in New York wurde beispielsweise der in die Emigration gerettete Teil einer Wiener Porzellansammlung versteigert. Es war die bedeutende Sammlung des ehemaligen österreichischen Brauereibesitzers Anton Redlich. Kein Objekt erreichte mehr als einen zweistelligen Zuschlag. Der unscheinbare Katalog war mit der Hand geschrieben, die Schätzungen entsprachen nur bei wenigen Objekten dem eigentlichen Wert. Freilich lebten und arbeiteten damals in New York auch kenntnisreiche Händler, wie Leopold Blumka aus Wien oder Hanns Weinberg aus Berlin, welche die erworbenen Objekte zunächst zurückhielten, um sie viel später mit gewaltigen Preisaufschlägen an Museen und Sammler zu veräußern. Das amerikanische Auktionshaus Parke-Bernet bot höhere Qualität professionell an. Die Kataloge waren dort sogar ausführlicher und zudem gedruckt. Aber bereits einige Jahre später hatten die „Engländer“ Sotheby’s und Christie’s die Auktionsszene in New York übernommen, Sotheby’s übernahm Parke-Bernet im Jahr 1964. Langsam erkannte man, dass nicht nur Objekte preisbildend wirkten, sondern vor allem Wissen. Neben meinem Hauptinteresse, dem Glas, fielen auch wunderbare Porzellanobjekte in meinen Schoß, die mich als Verehrer des 17. und 18. Jahrhunderts besonders interessierten. Der Werkstoff Porzellan eignete sich vielleicht noch besser als Glas, durch malerische Dekore historische Geschehnisse und Lebensformen wiederzugeben. Es war seit seiner Erfindung Gegenstand scharfer Konkurrenzkämpfe der Manufakturen und ihrer politisch ambitionierten Herrscher. Das Wiener Porzellan, insbesondere jenes des frühen 18. 166

kunstverbundenheit

Jahrhunderts, erregte daher schon lange mein Interesse, doch schuf es eine weitere scharfe Schnittfläche in meiner Budgetstruktur. Daher wurde, was ich an Wiener Porzellan zusammenfügte, ein Ensemble schöner Objekte, nicht aber eine repräsentative Sammlung, wie meine Gläser. Immerhin sind Wiener Porzellane von der ersten Manufaktur du Paquier bis zur Periode Conrad von Sorgenthal, also von Barock bis Klassizismus, in meinem Besitz geblieben und auch an zahlreichen Ausstellungen und Publikationen beteiligt gewesen. Darunter auch an sehr positiv aufgenommenen Ausstellungen im Liechtenstein Museum in Wien, das unter seinem Direktor Dr. Johann Kräftner und dessen fürstlich-universalen Vorlieben zur Begeisterung für das Wiener Porzellan wesentlich beigetragen hat.21 Kein Museum in Wien eignet sich besser für die Ausstellung dieser zarten Schätze, weil auch das stilistisch entsprechende Gartenpalais einen fabelhaften Rahmen bietet. Der Fürst beherbergt übrigens auch in seiner Vaduzer Residenz eine bedeutende Sammlung an Wiener Porzellan. Gerade die barocken Porzellane der ersten Wiener Manufaktur, mit kaiser­ lichem Privileg im Jahr 1718 von einem Hofkriegsratsagenten namens Claudius Innocentius du Paquier gegründet, beeindruckten mich immer wegen ihrer fantastischen Formen und Dekore. Fast scheint die Souveränität des Kaisers des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation auf dieses scheinbar unabhängig blühende Kunststreben du Paquiers abgefärbt zu haben. Er hatte Meiss­ner Arkanisten aus Sachsen abgeworben und deren Kenntnisse mit dem Wiener Barock aufs Gelungenste vermählt. August der Starke war darüber nicht erfreut, seine Spione berichteten ständig vom Fortgang der Wiener Manufaktur, bis diese eines Tages von einem der Meissner Abtrünnigen mit Wissen des sächsischen Gesandten verwüstet wurde. Du Paquier gab nicht auf und schwang sich noch zu einigen produktiven Höhenflügen auf, die einen ganz direkten Einblick in das Form- und Farbengefühl des barocken Wien, aber auch in die kulturellen und geistesgeschichtlichen Interessen seiner adeligen Bewohner geben. Ein Engländer namens John F. Hayward war der erste Kunsthistoriker, der nach dem Krieg ein umfangreiches wissenschaftliches Werk über die Manufaktur du Paquier veröffentlichte. Dieses Buch hat etwa zwanzig Jahre lang die Kenntnisse dieses Bereichs gehütet. In der Zwischenzeit wurde das Du167

Lebenskreise

Paquier-Porzellan von einigen Wissenschaftlern aus dem Dornröschenschlaf erweckt und zu einem der gesuchtesten Bereiche des europäischen Porzellans, das sich auf heutigen Auktionen mit frühem Meissen preislich in scharfer Konkurrenz misst. Gerade in den USA hat du Paquier einige passionierte Liebhaber gefunden. Die bedeutendste Privatsammlung befindet sich heute in Connecticut, während das Metropolitan Museum in New York durch Donations und Ankäufe vor allem der Nachkriegszeit auf diesem Gebiet in den USA führend ist. Aber es ging nicht nur um Literatur, Fachkonferenzen und Messen. Spezialindustrien etwa im Glasbereich gründeten Museen und wissenschaftliche Anstalten, die dem ganzen Bereich neuen Auftrieb gaben. Das weltweit beispielgebende Glasmuseum ist heute das Corning Museum of Glass im nördlichen Teil des Staates New York, das als Forschungs- und Ausbildungszentrum von größter Bedeutung ist. Das Museum wurde im Zusammenhang mit dem seit dem späten 19. Jahrhundert bestehenden Unternehmen Corning Inc. gegründet, das heute mit mehr als 23.000 Mitarbeitern Glas und Keramik für die Verwendung in Wissenschaft und Industrie herstellt.

Corning, die Glashauptstadt der Welt

W

ir waren gerade mit drei Kindern in unser „Suburbia“-Haus in Pelham eingezogen und fanden uns von Kisten, Trophäen und Möbeln umzingelt, die wir von der Park Avenue mitgebracht hatten. Auf dem Land wird nur wenig distanzierte Höflichkeit entfaltet, wenn man das nachbarliche Haus besucht. So standen viele Kinder rund um den Eingang unseres neuen Heims und verfolgten gespannt das Montieren einiger Jagdtrophäen im Stiegenhaus. Bei der Betrachtung zweier ausgestopfter Auerhähne aus den österreichischen Alpen, die einander von Wand zu Wand zu balzten, riefen die Buben: „Ausgestopfte Indianer!“ Zwei Häuptlinge, die sich seinerzeit bekriegten. Shrunken heads nannten die Buben die ausgestopften Geschöpfe, die an Indianerhäuptlinge erinnerten, nachdem sie den Kriegspfad verlassen hatten und in die ewigen Jagdgründe eingegangen waren. 168

Lebenskreise

Paquier-Porzellan von einigen Wissenschaftlern aus dem Dornröschenschlaf erweckt und zu einem der gesuchtesten Bereiche des europäischen Porzellans, das sich auf heutigen Auktionen mit frühem Meissen preislich in scharfer Konkurrenz misst. Gerade in den USA hat du Paquier einige passionierte Liebhaber gefunden. Die bedeutendste Privatsammlung befindet sich heute in Connecticut, während das Metropolitan Museum in New York durch Donations und Ankäufe vor allem der Nachkriegszeit auf diesem Gebiet in den USA führend ist. Aber es ging nicht nur um Literatur, Fachkonferenzen und Messen. Spezialindustrien etwa im Glasbereich gründeten Museen und wissenschaftliche Anstalten, die dem ganzen Bereich neuen Auftrieb gaben. Das weltweit beispielgebende Glasmuseum ist heute das Corning Museum of Glass im nördlichen Teil des Staates New York, das als Forschungs- und Ausbildungszentrum von größter Bedeutung ist. Das Museum wurde im Zusammenhang mit dem seit dem späten 19. Jahrhundert bestehenden Unternehmen Corning Inc. gegründet, das heute mit mehr als 23.000 Mitarbeitern Glas und Keramik für die Verwendung in Wissenschaft und Industrie herstellt.

Corning, die Glashauptstadt der Welt

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ir waren gerade mit drei Kindern in unser „Suburbia“-Haus in Pelham eingezogen und fanden uns von Kisten, Trophäen und Möbeln umzingelt, die wir von der Park Avenue mitgebracht hatten. Auf dem Land wird nur wenig distanzierte Höflichkeit entfaltet, wenn man das nachbarliche Haus besucht. So standen viele Kinder rund um den Eingang unseres neuen Heims und verfolgten gespannt das Montieren einiger Jagdtrophäen im Stiegenhaus. Bei der Betrachtung zweier ausgestopfter Auerhähne aus den österreichischen Alpen, die einander von Wand zu Wand zu balzten, riefen die Buben: „Ausgestopfte Indianer!“ Zwei Häuptlinge, die sich seinerzeit bekriegten. Shrunken heads nannten die Buben die ausgestopften Geschöpfe, die an Indianerhäuptlinge erinnerten, nachdem sie den Kriegspfad verlassen hatten und in die ewigen Jagdgründe eingegangen waren. 168

Corning, die Glaushauptstadt der Welt

Es herrschte jedenfalls große Aufregung, als der mit uns schon seit Längerem befreundete Direktor des Corning Glasmuseums abends eintraf und sich bereit erklärte, unsere Gläser, die er noch aus Manhattan kannte, in die neu eingebauten Vitrinen einzuräumen. Sie waren für diesen Transport von spezialisierten „Packern“ aus Corning sorgfältig verstaut worden. Die Gläser boten in den frisch lackierten Vitrinen, gut beleuchtet, einen hinreißenden Eindruck. Auch der Direktor von Corning, ein Franzose namens Paul Perrot, war „stupéfait“. Vor allem bestaunte er ein buntes venezianisches Ziborium aus dem 15. Jahrhundert, das er noch nicht gesehen hatte und das er sogleich als Titelblatt für sein Jahresmagazin „Journal of Glass Studies“ in Anspruch nahm. Dies waren nun nicht mehr Gläser von „Zierbrett-Niveau“, sondern seltene Objekte aus großherrschaftlichen Sammlungen, wie sie auch in Corning permanent ausgestellt waren. An diesem Abend vertiefte sich die alte Freundschaft zwischen Perrot und uns. Sie hält noch immer, obgleich Perrot nicht mehr in Corning arbeitet und inzwischen von zwei weiteren Direktoren abgelöst wurde, mit denen mich eine ebenso enge Zusammenarbeit verbindet: Dwight Lamnon und David Whitehouse. Das Corning Museum of Glass war für mich eine Art Universität. Es liegt zwar weitab im Norden des Staates New York an der kanadischen Grenze, aber eingebettet in Ahornwälder, die im Herbst feuerrot erglühen. Die Museumspräsentation ist in historisch unterschiedliche Perioden unterteilt, die von Spezialisten betreut werden. Besonders beeindruckend ist die ausgedehnte Bibliothek, die nicht nur über umfangreiche Buchbestände, selbst aus dem Mittelalter, verfügt, sondern durch ihre Vernetzung mit fast jeder der großen Büchereien der Welt alle Wünsche nach seltenen Dokumenten erfüllen kann. Die Ausstellungshallen sind permanent besetzt. Oft kann man mehrere Sonderausstellungen zugleich besuchen. Ein Künstler, der das Glasblasen vieler historischer Stile beherrscht, hält für private Interessenten Workshops ab. Bill Guddenrath ist durch seine Fähigkeit, auch komplizierteste Glasobjekte in historischen venezianischen Techniken persönlich anzufertigen, in der Lage, echte Gläser von Fälschungen zu unterscheiden. Er gilt als einer der populärsten Mitarbeiter des Museums. Weil Fälschungen gerade bei mittelalterlichen Gläsern eher häufig vorkommen, habe ich schon anfänglich bei der Abgrenzung meines Sammelgebietes diesen zumeist undekorierten Glasbereich von meinen Interessen ausgeschlos169

Lebenskreise

sen. Als Entree meiner Sammlung betrachte ich die Gläser der Renaissance, weil diese Epoche den Beginn eines neuen Welt- und Menschenbildes schuf, das auch die Wissenschaften zu neuen Erkenntnissen geführt hat. So präsentierte sich die Renaissance auch als ein Revier „progressiver“ Künstler und Entdecker. Das Barock vollendete schließlich, was die Renaissance unfertig zurückließ. Auch politisch war die Barockzeit bestrebt gewesen, erste Initiativen des Mittelalters abzurunden. In der Geschichte und in der Kunst wurden bedeutende Persönlichkeiten verherrlicht. Dass auch nationale Eigenheiten in diesem Bild prominent aufscheinen, lässt sich wohl so erklären, dass die Großmächte Frankreich, Spanien und England, aber auch einige deutsche Fürstentümer gerade damals ihren politischen und künstlerischen Höhepunkt erklommen. Das Rokoko hatte für mich schon zu viel Kraft verloren, vermochte aber noch immer einen zarten Reiz zu entfalten. Die Französische Revolution hatte dann dämpfend auf Stil und Ausstattung gewirkt. Im Biedermeier scheint der Fortschritt einerseits ruhen zu wollen, wird aber gleichzeitig zu erfinderischen Höhenflügen eigener Art angetrieben. Wenn man nun alle diese Substrate vor das geistige Auge stellt und von diesen ableitet, welche stilistische Sprache diese Perioden verwendeten, so entsteht ein fast geschlossenes Bild, ein Weltbild. Ich habe im Corning Museum all das gefunden, was ich zur Formung meiner Weltsicht benötigte. Das Wichtigste war für mich als Sammler die Prägung historischer Umfelder und die Einhaltung kultureller und historischer Rahmen. Diese selbst auferlegten Grenzen entsprechen gewöhnlich auch dem eigenen Geschmack. Bei mir ließen sich Alter und Stil durch einen Raum zwischen der Renaissance und dem Rokoko eingrenzen. Die historischen Kenntnisse der politischen Kräfte einer Periode halfen mir auch immer, Objekte leichter zu bestimmen. Eine der interessantesten Strukturen der amerikanischen Museen ist die Organisation der „Fellows“, die den Museen Mitteleuropas fehlt. Dies hängt wohl damit zusammen, dass die europäischen Museen zumeist staatlich subventioniert werden, während in den USA die Finanzierung durch Beiträge aus Stiftungen oder ihrer Mitglieder erfolgt. Die „Fellows“ sind eine Mitgliederorganisation, die mit der Problematik des Museums auf das Engste verbunden ist. Mitglieder beherrschen die lokalen Thematiken als Sammler, Händler oder 170

Das Bergstrom-Mahler-Museum

Künstler und sind daher auch beruflich mit der Materie eng vertraut. Sie können zwar Vorschläge einbringen, aber keine Entscheidungen treffen. Übrigens ebenso wenig, wie die staatlich finanzierten europäischen Museen. Die Fellows erscheinen bei allen Ausstellungen, Vorträgen oder sonstigen Ereignissen, organisieren Gastlichkeiten und festigen dadurch den Zusammenhalt zwischen Publikum und Museum. Als Spezialisten halten sie auch selbst Vorträge und bereichern die Literatur. Zwei Jahre war ich selbst Präsident der Corning Fellows. Ich hatte auch versucht, einen der Festtage im Jahr an zentraler Stelle in New York City zu organisieren, leider vergeblich. Es musste sich alles „upstate“ in Corning abspielen. Die dort ansässige Industrie verblieb so auch verstärkt im Blickpunkt der Museumsbesucher oder Konsumenten.

Das Bergstrom-Mahler-Museum von Neenah, Wisconsin

I

nzwischen hatte sich mein Ruf als Glas-Connaisseur einigermaßen gefestigt. Meine Kontakte nach Corning führten mich zu einer kleinen, qualitativ hochwertigen Glassammlung in der ländlichen Stadt Neenah, die sich aus Geschenken einer Sammlerin und eines Sammlers zusammensetzte. Eine der beiden war Evangeline Bergstrom, die von ihrem Mann, dem Industriellen John Nelson Bergstrom unterstützt wurde. Sie hinterließ dem Museum ihre sehr bedeutende Sammlung von Briefbeschwerern, den populären paperweights. Die Gläser im Museum von Neenah gehörten einst dem österreichischen Papier-Industriellen und Erfinder Ernst Mahler, der es nach seiner Emigration in die USA zu Ansehen und Reichtum in zwei kleineren, aber wichtigen Papierbereichen gebracht hatte. In der bekannten Firma Kimberly-Clark wurden die von Mahler entwickelten Monopol-Produkte Kleenex und Kotex erzeugt. Nachdem Ernst Mahler in Amerika vor allem als Industriechef arbeitete, hatte er sich von seiner noch österreichischen Glassammlung etwas distanziert. Sein Bruder Josef Mahler, der in Larchmont im Staat New York lebte 171

Das Bergstrom-Mahler-Museum

Künstler und sind daher auch beruflich mit der Materie eng vertraut. Sie können zwar Vorschläge einbringen, aber keine Entscheidungen treffen. Übrigens ebenso wenig, wie die staatlich finanzierten europäischen Museen. Die Fellows erscheinen bei allen Ausstellungen, Vorträgen oder sonstigen Ereignissen, organisieren Gastlichkeiten und festigen dadurch den Zusammenhalt zwischen Publikum und Museum. Als Spezialisten halten sie auch selbst Vorträge und bereichern die Literatur. Zwei Jahre war ich selbst Präsident der Corning Fellows. Ich hatte auch versucht, einen der Festtage im Jahr an zentraler Stelle in New York City zu organisieren, leider vergeblich. Es musste sich alles „upstate“ in Corning abspielen. Die dort ansässige Industrie verblieb so auch verstärkt im Blickpunkt der Museumsbesucher oder Konsumenten.

Das Bergstrom-Mahler-Museum von Neenah, Wisconsin

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nzwischen hatte sich mein Ruf als Glas-Connaisseur einigermaßen gefestigt. Meine Kontakte nach Corning führten mich zu einer kleinen, qualitativ hochwertigen Glassammlung in der ländlichen Stadt Neenah, die sich aus Geschenken einer Sammlerin und eines Sammlers zusammensetzte. Eine der beiden war Evangeline Bergstrom, die von ihrem Mann, dem Industriellen John Nelson Bergstrom unterstützt wurde. Sie hinterließ dem Museum ihre sehr bedeutende Sammlung von Briefbeschwerern, den populären paperweights. Die Gläser im Museum von Neenah gehörten einst dem österreichischen Papier-Industriellen und Erfinder Ernst Mahler, der es nach seiner Emigration in die USA zu Ansehen und Reichtum in zwei kleineren, aber wichtigen Papierbereichen gebracht hatte. In der bekannten Firma Kimberly-Clark wurden die von Mahler entwickelten Monopol-Produkte Kleenex und Kotex erzeugt. Nachdem Ernst Mahler in Amerika vor allem als Industriechef arbeitete, hatte er sich von seiner noch österreichischen Glassammlung etwas distanziert. Sein Bruder Josef Mahler, der in Larchmont im Staat New York lebte 171

Lebenskreise

und gleichfalls schon in Österreich Glas zusammengetragen hatte, befasste sich für beide als Sammler, Käufer und Verkäufer, vor allem auf europäischen Märkten. Nach dem Tod der beiden Brüder Mahler übernahm Josefs Witwe Fritzi die Sammlung in Larchmont, während Ernsts Sammlung dem Museum in Neenah vermacht wurde. Nun nahte der 25. Geburtstag des kleinen Museums in Neenah. Ich wurde gebeten, die Sammlung zu katalogisieren und ansehnlicher zu gestalten. Nach erster Besichtigung musste ich feststellen, dass Ernst Mahlers Glaskollektion für eine größere Ausstellung zu einseitig und zu schmächtig war. Sie bestand überwiegend aus zweifellos sehr schönen „Salon-Gläsern“ des Biedermeier, womit ich gerne einen Glastypus bezeichne, der hauptsächlich von den Malern Mohn, Kothgasser und deren Mitarbeitern bemalt und dekoriert wurde, ferner aus bunten oder weißen Schnittgläsern und einigen emaillierten Objekten. Es fehlten sämtliche Glastypen aus der Zeit der Renaissance und des Barock. Nach einigem Kopfzerbrechen fiel uns das Art Institute of Chicago ein, aber auch das Museum in Corning, die uns vielleicht mit Leihgaben aushelfen konnten. Unser Ziel war, einen Überblick über die Glaserzeugung seit der Renaissance darzustellen. In Chicago, wie übrigens auch im Metropolitan Museum in New York, befanden sich die in den Zwanzigerjahren versteigerten Spitzengläser des Berliner Bankiers Jacques Mühsam, die dem Publikum über viele Jahrzehnte vorenthalten gewesen waren. Schließlich formten Ernst Mahler, das Art Institute of Chicago und das Corning Museum of Glass eine wirklich bedeutende Ausstellung, die ab 1979 zu sehen war. Ich verfasste dazu einen Katalog, Masterpieces of Germanic Glass. 15th to 19th Centuries, der längst vergriffen ist. Nebenbei bemerkt gehörten zur „Sammler-Clique“ der Brüder Mahler in Österreich zwei weitere Glasliebhaber, deren Sammlungen als weltbedeutend bezeichnet werden können. Die Sammlung Karl Ruhmann war etwa mit der Kollektion Albert Figdors vergleichbar, die 1891 dem Kunsthistorischen Museum in Wien angeboten, aber durch den Obersthofmeister Kaiser Franz Josephs, Alfred von Montenuovo, als eine Art sozial anrüchiger Besitz eines jüdischen Sammlers zurückgewiesen wurde. Sie umfasste bedeutendstes Kunsthandwerk. Heute dekoriert die universale Sammlung Figdor einige Museen in Deutschland. Figdor hatte der Stadt Heidelberg den Großteil vermacht, andere Teile der Sammlung gelangten 1930 zu Auktionen bei Paul 172

Das Bergstrom-Mahler-Museum

40. Deckelbecher mit Parisurteil, wohl Georg Schwanhardt d. Ä., Nürnberg, um 1632 (Zwei Ansichten).

Cassirer in Berlin und Glückselig in Wien. Der Katalog bestand aus fünf Bänden und wurde von keinen geringeren Kunsthistorikern als Max Friedländer und Otto von Falke verfasst. Nur ein geringer Teil der Sammlung Figdor ist in Wiener Museen erhalten. Auch der Wiener Karl Ruhmann, ebenfalls Papier-Magnat, gehörte zum Typus des Universalsammlers, wie Figdor. Kunstgegenstände aus Silber und Zinn reihten sich neben feinste Tapisserien und andere Textilien, Gläser, Fayencen und Porzellane, darunter aus der Manufaktur du Paquier. Dazu sammelte Ruhmann die schönsten Biedermeiergemälde. Die Wände seiner Wiener Wohnung waren mit Dutzenden von bedeutenden Bildern aus der Hand Ferdinand Georg Waldmüllers angetan. Er besaß im steirischen Wildon ein schönes Schloss als barocke Behausung für weitere Kunstschätze und einen eigenen Pavillon für seine bedeutende Zinnsammlung. Eines seiner wichtigsten Schnittgläser gelangte über meine Sammlung ins Kunsthistorische Museum. Die Bestimmung dieses Glases kostete mich ganze zwei Jahre. Ich habe im kommunistischen Osten wie im freien Westen unter großen Mühen geforscht, mit dem Ergebnis, dass es sich um eines der frühesten Schnittgläser handelt, 173

Lebenskreise

das in den Bereich des Glaskünstlers Georg Schwanhardt aus Nürnberg oder dessen Lehrer Caspar Lehmann, der am Prager Hof tätig war, gehört. Dieses Glas war vor Ruhmann übrigens im Besitz Albert Figdors. In meinen Erinnerungen eines Glassammlers (Böhlau Verlag, 2003) habe ich mich ausführlich mit der inzwischen verstorbenen Witwe Karl Ruhmanns auseinandergesetzt, die noch viele Pfade beschreiben könnte, über die Karl Ruhmanns Sammlung verschwunden ist. Als Letzten dieses Österreichischen Papier-„Circle“ muss man noch Karl Landegger erwähnen, der es in der Emigration zu sagenhaften Soros-artigen Besitztümern und zu ebensolcher Bedeutung gebracht hatte und überhaupt etwas von diesem Typus des späten Wirtschaftsgenies besaß. In den Nachschlagewerken zählt man 65 schlüsselfertige Papierfabriken auf, die Landegger von Asien bis Afrika bauen ließ und die die Amerikaner im Rahmen eines Marshall-Plans finanzierten. Alle möglichen Rohstoffe wie Gras, Stroh, Heu, Bambus wurden alternativ als Basis für die Papiererzeugung verwendet. Was ihn mit dem Sammeln von Glas verband, war seine erste und letzte Frau Lena, die als enge Freundin Ruhmanns auch dessen Sammelpassion folgte. Lenas Sammlung beinhaltete ebenfalls Salongläser, jedoch von höchster Qualität. Sie hat mir ein blau-weiß en relief geschnittenes Glas mit dem Porträt der Königin Viktoria geschenkt, das ich noch heute in ehrendem Gedenken verwahre. Der weltberühmte Industrielle Karl Landegger verließ eines Tages seine Lena, um eine junge Asiatin von strahlender Schönheit zu heiraten. Man hörte erst wieder von ihm, als er seinem Ende entgegensiechte und Lena, die als einzige seine Sammlung verstand und seinen Nachlass hätte verwalten können, zum zweiten Mal ehelichte. Ich erinnere mich daran, wie Lena ihre Gläser an eine Glaswand montiert präsentierte, die einen Wintergarten von ihrem geschmackvollen Salon trennte. Fritzi Mahler, mit ihr schließt sich der Wiener Papier-Zirkel, verwahrte die Sammlung ihres verstorbenen Josef in Larchmont noch lange und attraktiv ausgestellt, sie hinterließ alle Gläser ihrem Sohn. Ich habe meine Glassammlung dem KHM teils geschenkt teils überlassen, weil ich in meinem hohen Alter meine Grenzen stärker empfinde und weil mir dieses wunderbare Wiener Museum von Kindheit an nahestand. Der Herrgott hatte es mir ermöglicht, den Krieg zu überleben und das Museum immer 174

Das Bergstrom-Mahler-Museum

wieder zu besuchen. Überdies empfand ich den bisherigen Glasbestand des KHM, gemessen an der gesamten Bedeutung des Hauses, etwas bescheiden. Man darf nämlich nicht übersehen, dass einige Schlagadern der Glasmacherkunst über Venedig auch ins Böhmische und Tirolische führten. Nicht nur Rudolf II. in Prag, sondern auch Erzherzog Ferdinand von Tirol unterhielt bedeutende Kunst- und Wunderkammern. So hat Ferdinand auf Schloss Ambras bei Innsbruck mithilfe venezianischer Künstler eine bedeutende Glassammlung aufgebaut. Erst kürzlich wurde durch die Veröffentlichung eines Ambraser Gästebuches („Trinkbuch“) durch den Genealogen Prof. Ludwig Igalffy neues Licht auf das Leben und Treiben in Ambras geworfen. Die Persönlichkeiten, die dort verkehrten, Feste feierten und dem ausschweifenden Trunk eine große Bedeutung zusprachen, sind in diesem Trinkbuch überliefert. Zwischen der Kunstkammer des KHM und jener in Schloss Ambras sollen nun etwa dreihundert meiner Gläser ihre Bleibe finden. Ein längerer Weg führte zu dieser Entscheidung. Zunächst dürfte es Liebe auf den ersten Blick zwischen der Herrschern über das KHM und meiner Sammlung gewesen sein. Ein Besuch in meiner Wiener Wohnung ließ Funken sprühen. Dann entstand der Entschluss des Museums, eine von März bis Juni 2002 dauernde Ausstellung mit vierhundert Gläsern meiner Sammlung zu organisieren, die wegen ihres großen Publikumserfolges bis in den September verlängert wurde und etwa 500.000 Zuschauer anzog. Bei den Vorbereitungen zu dieser Ausstellung traf ich erstmals Dr. Johann Kräftner, den heutigen Direktor der Sammlungen des Fürsten von und zu Liechtenstein, der nicht nur hervorragende Fotos für meinen Katalog „Licht und Farbe“ in der sommerlichen Wüstenhitze meiner kleinen Wohnung schuf, sondern auch für das Konzept und die Ausstellungsarchitektur verantwortlich zeichnete. Er entdeckte den Charakter meiner Gläser und erweckte sie in seiner Arbeit zum Leben. Schließlich vollzog sich die Trennung von meinen „Pensionären“, deren erste Exemplare wohl mindestens seit fünfzig Jahren bei mir untergebracht waren. Für einige Zeit stagnierte der weitere Verlauf, weil zwischen der Renovierung der Kunstkammer und den für die Modernisierung des Schulwesens erforderlichen Geldern nur schwer eine objektive Verteilung herbeigeführt 175

Lebenskreise

werden konnte. Doch die für beide Bereiche zuständige Ministerin fand einen Kompromiss, der beide Seiten zufriedenstellte. Nun sollen siebzig meiner besten Gläser in der Wiener Kunstkammer ihr glänzendes Leben weiterführen, indes die Glassammlung in Schloss Ambras eine kräftige Infusion von etwa 230 Gläsern erhalten soll. Einige gläserne Zimelien des 19. Jahrhunderts und meine Porzellane bleiben bei mir und fordern den Forschergeist weiterhin heraus.

Professor und das Farewell von der Wall Street

K

urz nach der Eröffnung der Ausstellung in Neenah beendete ich meine Broker-Tätigkeit bei Kidder, Peabody & Co. Wir schrieben das Jahr 1973. Ich kann heute nicht mehr alle Gründe rekonstruieren, warum ich diese äußert lukrative Tätigkeit an den Nagel hing. Aber gewisse Voraussetzungen, die zu meinem bisherigen Erfolg geführt hatten, veränderten sich zusehends, und der Plan, nach Wien zurückzukehren, schwirrte noch immer durch unsere Zukunftsvisionen. Meine geschäftliche Situation hatte sich aufgrund der wieder erfolgten Zulassung deutscher und österreichischer Banken an der Wall Street verschlechtert. Die Banken ersparten sich nun viele Spesen durch ihre eigenständige Präsenz und etablierten sich auch optisch wieder am größten Finanzplatz der Welt. Das bereits seit mehreren Jahren geplante Projekt, in Frankfurt am Main eine Kidder-Peabody-Dependance zu eröffnen und mich zu deren Leiter zu ernennen, platzte an den seit geraumer Zeit schwächeren Börsengängen. Schließlich, so erklärte Kidder, Peabody & Co., könnte ich auch weiterhin meine deutschen und österreichischen Kunden von Paris aus betreuen, wie ich das bereits seit einigen Jahren praktiziert hatte. Ich hätte also meine bis dahin außerordentlich günstige Sonderstellung bei Kidder, Peabody & Co. aufgeben und meine Tätigkeit in den Rahmen unzähliger anderer Kollegen einreihen müssen. Auch das wäre keine Katastrophe gewesen, wenn es mich nicht seit Langem nach Wien gelockt hätte. Jetzt schien der letztgeeignete 176

Lebenskreise

werden konnte. Doch die für beide Bereiche zuständige Ministerin fand einen Kompromiss, der beide Seiten zufriedenstellte. Nun sollen siebzig meiner besten Gläser in der Wiener Kunstkammer ihr glänzendes Leben weiterführen, indes die Glassammlung in Schloss Ambras eine kräftige Infusion von etwa 230 Gläsern erhalten soll. Einige gläserne Zimelien des 19. Jahrhunderts und meine Porzellane bleiben bei mir und fordern den Forschergeist weiterhin heraus.

Professor und das Farewell von der Wall Street

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urz nach der Eröffnung der Ausstellung in Neenah beendete ich meine Broker-Tätigkeit bei Kidder, Peabody & Co. Wir schrieben das Jahr 1973. Ich kann heute nicht mehr alle Gründe rekonstruieren, warum ich diese äußert lukrative Tätigkeit an den Nagel hing. Aber gewisse Voraussetzungen, die zu meinem bisherigen Erfolg geführt hatten, veränderten sich zusehends, und der Plan, nach Wien zurückzukehren, schwirrte noch immer durch unsere Zukunftsvisionen. Meine geschäftliche Situation hatte sich aufgrund der wieder erfolgten Zulassung deutscher und österreichischer Banken an der Wall Street verschlechtert. Die Banken ersparten sich nun viele Spesen durch ihre eigenständige Präsenz und etablierten sich auch optisch wieder am größten Finanzplatz der Welt. Das bereits seit mehreren Jahren geplante Projekt, in Frankfurt am Main eine Kidder-Peabody-Dependance zu eröffnen und mich zu deren Leiter zu ernennen, platzte an den seit geraumer Zeit schwächeren Börsengängen. Schließlich, so erklärte Kidder, Peabody & Co., könnte ich auch weiterhin meine deutschen und österreichischen Kunden von Paris aus betreuen, wie ich das bereits seit einigen Jahren praktiziert hatte. Ich hätte also meine bis dahin außerordentlich günstige Sonderstellung bei Kidder, Peabody & Co. aufgeben und meine Tätigkeit in den Rahmen unzähliger anderer Kollegen einreihen müssen. Auch das wäre keine Katastrophe gewesen, wenn es mich nicht seit Langem nach Wien gelockt hätte. Jetzt schien der letztgeeignete 176

Professor und das Farewell von der Wall street

Moment gekommen zu sein, mit meiner inzwischen sehr umfangreichen Glassammlung nach Wien zurückzukehren und ihr dort den gebührenden Platz zu erwirken. Unsere drei Kinder waren flügge geworden und viele persönliche Gründe sprachen für eine Heimkehr. Bis es so weit war, wollten meine Frau und ich ein immer schon erträumtes „Kleinunternehmen“ starten, das darin bestand, in den Vereinigten Staaten interessante Kunstobjekte zu erwerben und diese auf mitteleuropäischen Auktionsmärkten zu verkaufen. Für derartige Vergnügen hatten wir bisher keine Zeit gehabt. Zuvor wurde ich von Kidder-Peabodys bekanntem Präsidenten Al Gordon mit einer schönen Rede und einigem Kopfschütteln verabschiedet. Er hatte damals das hohe Alter von 85 Jahren erreicht und war noch in der Lage, zu Fuß von seiner Wohnung am Gracie Square in die Wall Street zu gehen. 1968 hatte er mir ein Silbertablett geschenkt, in das meine Leistungen eingraviert waren. Sie konnten sich sehen lassen, nicht nur wegen des Silbers: „Rudolf von Strasser in honour of his outstanding contribution to our sales organisation in 1967.“ Ich widmete mich wieder mehr dem Journalismus und arbeitete als Korrespondent für „Die Furche“ und die „Wochenpresse“ sowie den Österreichischen Rundfunk. Ganz konnte ich in meinem Leben die Feder nie aus der Hand legen. Blieb die Politik unkommentiert, so befasste ich mich mit der Bearbeitung meiner Sammlung und publizierte einschlägige Artikel in Fachzeitschriften. Unser inzwischen auf die Beine gestelltes kaufmännisches Familienunternehmen „R. von S. Inc.“ profitierte von einer günstigen Ausgangslage. Wir besaßen kein Geschäftslokal, alles was wir akquirierten wurde zu Hause in praktischen und stabilen amerikanischen Kaffeedosen für Europa verpackt. Wir benötigten weder Personal noch sonstige manuelle Hilfe. Was wir brauchten, waren zwei Paar scharfe Augen und ebenso viele schnelle Füße, um das auf den Flohmärkten Erkannte vor den Konkurrenten zu erreichen und zu kaufen, denn diese Flohmärkte waren auch die Haupteinkaufsquelle unzähliger kleiner Antiquitätenläden in New York und Umgebung. Es war günstig, schon während der Woche mit den „Flöhen“ zu telefonieren, um festzustellen, wohin man am Samstag im Morgengrauen eilen sollte, wenn der Markt für alle Besucher gleichzeitig „aufs Läuten“ eröffnete. Wir suchten in erster Linie 177

Lebenskreise

Biedermeiergläser, Porzellanobjekte, Bric-à-Brac, Kunstgewerbliches, Silber, aber auch Aquarelle, Miniaturen oder Ölbilder mit europäischen Sujets. Alle diese Gegenstände waren damals noch auf den amerikanischen Flohmärkten billiger als auf den mitteleuropäischen Auktionen. Es entstand aber auch immer wieder das Dilemma: Behalten oder verkaufen? Vor allem bei schönen Stichen, Aquarellen und Ölbildern, die auch noch heute unsere Wiener Wohnung schmücken, wurden wir gelegentlich schwach. Oft wurde von Deutsch sprechenden Verkäufern die etwas zerknirschte Frage gestellt: „ Habe ich Ihnen vielleicht wieder etwas verschoncken?“ Meist kamen die Objekte von der nächst kleineren Markteinheit, den „garage sales“. Das waren Entrümpelungsaktionen durch neue Mieter, die das alte Haus räumten, um es neu einzurichten. Aber wie man eine Zeit lang recht gut profitieren konnte, so ließen allmählich die Erfolge nach. Nichts blieb geheim. Plötzlich erschienen auch europäische Händler persönlich auf den amerikanischen Flohmärkten. Was wir als Zwischenhändler zwischen den USA und Europa verdienten, wurde jetzt ihr Gewinn. Zunächst kamen europäische „Bettelhändler“ vom Londoner Portobello Market oder von den Pariser Marchés aux Puces. Das konnte man noch ertragen. Als uns aber die ersten europäischen Großhändler aus München, Paris oder London in die Quere liefen, oder die Haifische, die sich sonst in Maastricht nähren, wussten wir, dass wir fortan unsere Zeit vergeudeten. Auch die Gegenstände selbst verloren an Qualität. Es war eine sehr lustige Zeit gewesen, die etwas Geld und einige Gegenstände abgeworfen hatte, die ich auch heute noch sehr gerne habe. Nun aber gab es auf längere Sicht keine Raison-d´être mehr, in New York zu bleiben. Jetzt ging es darum, die Vorbereitungen für die Übersiedlung nach Wien voranzutreiben. Dieser Schritt wollte gut überlegt sein, und seine Durchführung sollte noch bis 1991 dauern. Noch vor unserer endgültigen Rückkehr nach Wien erschien im Jahr 1989 mein erster großer Sammlungskatalog unter dem Titel Dekoriertes Glas, verfasst in Zusammenarbeit mit dem bekannten Glashistoriker Walter Spiegl, der das 19. Jahrhundert bearbeitete. Es wurde eine umfassende und interpretative Publikation, die meinen Namen als Glas-Connaisseur in Europa wieder in Erinnerung brachte.

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abschied von meiner Mutter

Bundespräsident Kurt Waldheim verlieh mir kurz darauf den Professorentitel. Zu dieser Zeit erhielt ich auch das Ehrenzeichen für die Verdienste um die Befreiung Österreichs mit der Inschrift „Für Österreichs Freiheit“, die nur an Angehörige von Widerstandsgruppen für ihren Kampf gegen das Dritte Reich verliehen wird. Auch diese Ereignisse erinnerten mich wieder an meine engen Beziehungen zu Österreich, dem ich mich noch immer verpflichtet fühlte.

Abschied von meiner Mutter

S

chließlich starb in Pelham meine Mutter im hohen Alter von 86 Jahren. Nachdem ihre Mutter, jene tapfere Großmutter, die mich noch im Kerker rührend besucht hatte, in Wien mit 93 Jahren verschieden war, zog Tolly zu uns nach New York, wo sie ein kleines Appartement bewohnte und sich mit großer Leidenschaft den Segnungen des amerikanischen Fernsehens widmete. Einige wenige ihrer Jugendfreunde traf sie in New York wieder. Aber die Veränderungen verwirrten sie. Wie konnte auch jemand, der 1918 in Wien geheiratet hatte, die Mentalität der Enkel und deren Erziehung etwa im Jahr 1975 verstehen. Unverständnis führte immer wieder zu Differenzen und Entfremdung. Ich habe in dieser Zeit jedoch auch den Eindruck gewonnen, dass das Nebeneinander unterschiedlicher Generationen erziehend und aufklärend wirken kann. Daisy und ich standen am Bett meiner Mutter und ich hielt ihre erlöschende Hand, bis ich keine Regung mehr spürte. Ich dankte ihr innig, obgleich es zwischen uns manche Reibung gegeben hatte. Nun ruht auch sie schon seit geraumer Zeit im großen Familiengrab am Dorffriedhof von Tómašov, unweit von Majorháza.

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abschied von meiner Mutter

Bundespräsident Kurt Waldheim verlieh mir kurz darauf den Professorentitel. Zu dieser Zeit erhielt ich auch das Ehrenzeichen für die Verdienste um die Befreiung Österreichs mit der Inschrift „Für Österreichs Freiheit“, die nur an Angehörige von Widerstandsgruppen für ihren Kampf gegen das Dritte Reich verliehen wird. Auch diese Ereignisse erinnerten mich wieder an meine engen Beziehungen zu Österreich, dem ich mich noch immer verpflichtet fühlte.

Abschied von meiner Mutter

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chließlich starb in Pelham meine Mutter im hohen Alter von 86 Jahren. Nachdem ihre Mutter, jene tapfere Großmutter, die mich noch im Kerker rührend besucht hatte, in Wien mit 93 Jahren verschieden war, zog Tolly zu uns nach New York, wo sie ein kleines Appartement bewohnte und sich mit großer Leidenschaft den Segnungen des amerikanischen Fernsehens widmete. Einige wenige ihrer Jugendfreunde traf sie in New York wieder. Aber die Veränderungen verwirrten sie. Wie konnte auch jemand, der 1918 in Wien geheiratet hatte, die Mentalität der Enkel und deren Erziehung etwa im Jahr 1975 verstehen. Unverständnis führte immer wieder zu Differenzen und Entfremdung. Ich habe in dieser Zeit jedoch auch den Eindruck gewonnen, dass das Nebeneinander unterschiedlicher Generationen erziehend und aufklärend wirken kann. Daisy und ich standen am Bett meiner Mutter und ich hielt ihre erlöschende Hand, bis ich keine Regung mehr spürte. Ich dankte ihr innig, obgleich es zwischen uns manche Reibung gegeben hatte. Nun ruht auch sie schon seit geraumer Zeit im großen Familiengrab am Dorffriedhof von Tómašov, unweit von Majorháza.

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Lebenskreise

Die Restitution in der Slowakei

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o wie die marxistische Revolution am Anfang des 20. Jahrhunderts eher unerwartet über die östliche Welthälfte hereinbrach, verlor sie etwa siebzig Jahre später ihre Dynamik und sackte wie ein sich leerender Luftballon ab. Beide umwälzenden Ereignisse geschahen fast ohne Vorwarnung und überraschten Politologen ebenso wie die betroffenen Teile der Menschheit. Man erinnert sich vielleicht noch an Kommentare aus dem Jahr 1989: „Wenn mir jemand vorausgesagt hätte, dass morgen die Mauer eingerissen würde, hätte ich an seinem Verstand gezweifelt.“ Zu diesem Zeitpunkt lebten wir noch in New York, waren aber bereits auf dem Sprung nach Österreich. Wir sehnten uns nicht zuletzt für unseren Lebensabend nach einem verdichteten Kulturklima. Nach fast vierzig Jahren in den USA suchten wir wieder eine andere Lebenseinstellung, wohl die letzte. Es war ja nicht so, dass wir während unserer Abwesenheit alle Kontakte zu Europa abgebrochen hatten. Wir verbrachten immer unsere Sommerferien in Österreich. Manche Freundschaften schlummerten dahin und ein Telefonanruf weckte sie wieder zu neuem Leben. Dieser kam diesmal aus Prag von einem Freund, den ich mehrere Jahre weder gesehen noch gesprochen hatte: Max Turnauer, ein aus Böhmen emigrierter Industrieller, den ich früher auf dem Weg zur und von der Sonntagsmesse im Stephansdom getroffen hatte. Wir nannten diesen Weg damals die „Sonntags-Route“. Man verwickelte sich gewöhnlich in eine lockere Konversation und machte einige oberflächliche oder sogar intelligente Bemerkungen zur Weltlage. Max residierte damals als Vertreter des Malteser-Ordens in der von den Kommunisten besetzten tschechoslowakischen Hauptstadt, ein Zentrum, das sich immer brüsten konnte, über eine glänzende „Akustik“ zu verfügen. Damals herrschte hinter dem Eisernen Vorhang nicht mehr die bisherige Totenstille, aber wie stark es dort wirklich brodelte, konnte man bestenfalls ahnen oder abschätzen. Max rief am Telefon alte Gespräche in Erinnerung: „Ich habe dir vor Jahren versprochen, dich anzurufen, wenn ich den Augenblick für gekommen erachte, dass du herüberfliegen und dich nach deinen ‚Latifundien’ umsehen solltest. Ich halte die Zeit für reif.“ Nun hatte ich damals oft Kontakt mit Böhmen, aber nicht aus politischen Motiven, sondern als engagierter Glas180

Die restitution in der Slowakei

sammler, der mit der Wiege der Glasmacherkunst stets in Verbindung bleiben wollte. Die Kuratoren des Prager Kunstgewerbemuseums zeigten sich immer hilfsbereit, wenn es darum ging, glashistorische Probleme zu lösen. Ich war ein aktiver „Student“ der Glasgeschichte und fragte oft in Prag nach, ob man sozusagen an oberster wissenschaftlicher Stelle mit meinen Konklusionen übereinstimmte. Mitunter erwiesen mir die böhmischen Kuratoren große Gastfreundschaft und ich durfte bei ihnen übernachten. Wir trafen uns auch dann und wann bei internationalen Glaskongressen und ich konnte die böhmische Gastfreundschaft in New York erwidern. Jetzt war es September und ich flog nicht nach Prag, sondern nach Bratislava, meinem alten Pressburg, um den Zustand unseres enteigneten Besitzes Majorháza zu analysieren. Darauf war diesmal nicht zu viel Zeit zu verwenden. Das Schloss Majorháza zerfiel zusehends. In den wenigen bewohnbaren Räumen lebten nach wie vor fast ausschließlich Roma-Kinder, wie mir der Direktor des Hauses, Dr. Argalaš, erklärte. Die Tatsache, dass sich hier eine Schule für un- oder schwer erziehbare Kinder befand, ließ sich aus jedem Rohr und Ziegelstein erkennen. Meine Frau wollte dort nicht allzu gerne übernachten, Argalaš beruhigte uns aber, von den fünfzig Buben seien nur zwei Mörder. Ob sich am Besitzstand etwas bewegen könnte? Nein, vielleicht, aber wann? Und wenn überhaupt, dann dürften sich lediglich ČSR-Staatsbürger damit befassen. Mit Ende des Jahres 2000 laufe die Frist ab, allenfalls die slowakische Staatsbürgerschaft zurückzuerwerben. Argalaš schien sich mit meiner Situation recht gut auszukennen. Felder restituiert zu erhalten, sei überhaupt unmöglich, dazu müsste man ohne Unterlass in der ČSR gelebt haben. Argalaš schien auch nicht feindlich gesinnt zu sein. Er wusste, dass die Familie Strasser seit mehr als hundert Jahren in Majorháza ansässig gewesen war, aber von der Kommunistischen Partei als Mitglied der ungarischen Minderheit enteignet wurde. Was ich denn eigentlich wollte? Gott sei Dank war das Wort „Restitution“ unter meine Bewusstseinsschwelle gerutscht. Diese Bezeichnung wurde immer und überall schlecht aufgenommen. „Jagen!“, blitzte es durch mein Gehirn. Ich sei von slowakischen Bewohnern des Dorfes zur Jagd eingeladen worden, aber ich könne mir kein Hotelzimmer in Bratislava leisten.

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Lebenskreise

Diese Antwort stellte sich später als eine der klügsten heraus, die mir in diesem Moment hätten einfallen können. Argalaš pfiff einige seiner Zöglinge herbei, ließ ein paar verrottete Zimmer im Schloss reinigen und stellte sie mir als seinem „Jagdgast“ zur Verfügung. Es war wie das Öffnen einer Tür zu einem an sich unzugänglichen Labyrinth mit der Aushändigung eines Schlüssels auf rotsamtenem Polster. Um zehn Uhr des kommenden Morgens sprach ich bereits beim Bürgermeister des zugehörigen Dorfes Tomašov vor und meldete mich als im Schloss wohnhaft an. Ich hatte also in der Slowakei so etwas wie eine zulässige Bleibe. Für den ungarischen Bürgermeister und die dort arbeitenden Beamten war ich eine noch nie erlebte Sensation, sie taten alles, um mein weiteres Leben in der Slowakei zu ermöglichen. Die Situation blieb aber nicht so einfach. Argalaš wurde vom Unterrichtsministerium, dem Majorháza unterstellt war, aufgefordert, mich aus dem Schloss zu expedieren. Ich nistete mich aber sogleich mithilfe unseres Bürgermeisters in der Nachbargemeinde Šamorín (Somorja) ein. Wieder als „Jagdgast“. Immer wieder überprüften die Behörden, ob ich dort wohl wirklich schlafe, Wäsche waschen ließ und es sonstige Zeichen eines Alltags gäbe. Wo meine Frau wäre? Sie wohne getrennt von mir in Österreich, war meine Antwort. So „genial“ sich der erste Schritt erwiesen hatte, so fehlerhaft war der nächste. Man bräuchte jetzt den besten slowakischen Anwalt, meinte Argalaš, der die Tür wieder in die Angeln heben würde. Leider wurde aus diesem „Besten aller Anwälte“ und seiner Frau ein Paar aus Schillers „Die Räuber“. Bevor er etwas von der Restitutionsmaterie anzurühren bereit war, wollte der Anwalt für eine Woche mit seiner Frau nach New York reisen, bei uns wohnen und dort die bevorstehende Heirat seiner Tochter aufrüsten. Was konnte ich darauf antworten? „Nech sa paci“ (Bitte bedienen Sie sich). Wie konnte ich bei einem solchen „Geschäft“ überhaupt verlieren? Man konnte! Und noch dazu viel. Pakete über Pakete wurden auf meine Kosten aus New York nach Bratislava verschickt. Nach einer Woche fuhr der beste slowakische Anwalt mit seiner Frau wieder nach Hause und versprach, sich in Kürze meiner Angelegenheit anzunehmen. Nach weiteren zehn Tagen erreichte mich ein Brief, dem ich entnehmen musste, dass mein Anwalt sich in dieser Angelegenheit aufgrund der 182

Die restitution in der Slowakei

Rechtslage außerstande sehe, etwas für mich zu tun. Ich hätte mich früher darum kümmern sollen. Hochachtungsvoll… Ich hatte zwar nicht mit einer glatten Schiene nach Majorháza gerechnet, aber doch mit langsamem Fortschritt, unterbrochen von einigen erlegten Enten, Tauben und Rehböcken. Aber nun stand ich mit leeren Händen und ohne Hoffnung in der Slowakei. Die alte ČSR-Republik war gespalten, was die Sache noch komplizierter machte. Ich flog enttäuscht nach New York zurück und begann mithilfe von Freunden aus Corning meine Glassammlung für die Übersiedlung nach Wien zu packen. Zumindest für diesen Schatz hatte ich konkrete Pläne. Kurz darauf kam mir ein ungarisches Ehepaar auf einer Cocktailparty zu Hilfe: „Den besten aller slowakischen Anwälte findest du nicht unter Slowaken, sondern unter Ungarn.“ Ein etwas stupender, aber logischer Ausspruch, der sich schließlich bewahrheiten sollte. Der mir an diesem Abend empfohlene Anwalt war tatsächlich geborener Ungar, er sprach neben seiner Muttersprache nur Slowakisch. Während des kommunistischen Regimes war er ungarischer Abgeordneter in Prag gewesen und hatte zu allen Türen in Prag, Brünn (Brno) und Bratislava Zutritt. Er hatte, als alter Parlamentarier, überall und in allen Landen Freunde. Wieder zurück in Bratislava, traf ich mit ihm sogleich die notwendigen Vereinbarungen und er machte sich schleunigst an die Arbeit. Die neu ausgestellte slowakische Staatsbürgerschaft musste etwa Ende September in meinem Portefeuille liegen. Wir hatten bis dahin noch etwa zwanzig Tage Zeit. Seine Tätigkeit als ungarischer Abgeordneter im von Kommunisten beherrschten Prager Parlament war mir nicht bekannt, als ich die Verträge unterschrieb. Ich wusste auch nicht, dass der Regimewechsel in der ČSR nicht nur ohne Blutvergießen abgelaufen war, sondern auch ohne wesentlichen Postenwechsel in der Verwaltung. Mit dieser „seidenen Revolution“ hatte eigentlich niemand gerechnet. Es fehlte aber an frisch eingeschulten Beamten, teilweise sogar an neuen Gesetzen. Das war das ideale Klima für meinen neuen Anwalt. Er wusste, wo die für mich Zuständigen saßen, wo die Akten lagerten. Sogar in Brünn (Brno), wo wir nie gelebt hatten, fanden sich Dokumente aufbewahrt. Und so gelang die Beschaffung der neuen slowakischen Identitätskarte in relativ kurzer Zeit. Denn die Familie Strasser war nach dem Ersten Weltkrieg automatisch tschechoslowakisch geworden, 183

Lebenskreise

sodass es nicht allzu schwierig war, diesen Status wieder aufleben zu lassen. Vor allem auch deshalb, weil meine Schwester Sissy und ich den Versuch der Erneuerung dieser Staatsbürgerschaft nach dem Zweiten Weltkrieg schon einmal, wie berichtet, versucht hatten. Die Ansuchen von damals steckten noch in den alten Mappen und bewiesen, dass wir zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Slowakei waren. Die neue slowakische Identitätskarte lag eine Woche vor Ablauf der Frist vor. Nun konnte der Anstieg auf den Kalvarienberg, der eigentliche Kampf um Schloss, Park und Felder beginnen. Er sollte weitere sechs bis sieben Jahre dauern. Inzwischen änderten sich jedoch das Personal in der Verwaltung, in der Gesetzgebung und nicht zuletzt die Ziele, die die Regierung mit den enteigneten Objekten verband. Zuerst retournierte mir das Unterrichtsministerium Schloss und Park. Im Zuge dessen wurde ich verpflichtet, das Haus langsam zu reparieren. Die Kosten für Dach, Fenster und Rohre stiegen fast täglich. Ebenso schnell wurden die Instandsetzungen von den Kindern wieder zerstört. Die kleine Pacht, die ich für die Vermietung des Schlosses an die Schule einnahm, floss in weitere Reparaturen, es war das berühmte Fass ohne Boden. Oft fragte ich mich, ob es nicht besser gewesen wäre, das verwünschte Schloss in einem Teich versinken zu lassen. Ich hatte bereits weit mehr ausgegeben als eingenommen. Die Entscheidungen entzogen sich aber letztlich meinem Einfluss. Die fleißig arbeitende Slowakei mit ihrem auf eine europäische Mitgliedschaft eingestellten Bestreben wurde sehr bald in die NATO aufgenommen. Das machte den Bau neuer Kasernen vorrangig. In die alten Kasernen zogen die RomaKinder ein, die aus Majorháza ausgelagert wurden. Nun besaß ich zwar ein Schloss mit Park, es war jedoch leer und brachte kein Einkommen mehr. Ich musste daher die Reparaturen einstellen und auf eine bessere Zukunft hoffen. Nicht nur die Slowakei, sondern ein großer Teil Europas schwankte damals zwischen neuerlichem Abstieg aus der Konjunktur und der Fortsetzung des wirtschaftlichen Aufstiegs, der ja langsam die Verwüstungen des Zweiten Weltkrieges geschlossen hatte. Die enormen wirtschaftspolitischen Veränderungen, die zum Ende des Kommunismus geführt hatten, mussten sich bald auswirken. Es entstand daher ein sehr spekulatives Klima, in dem man sich stets die Frage stellte, wozu ein Schloss mit 18 Hektar Park dienen konnte? Hotel und Fremdenverkehr, Sport und Wellness, Kulturzentrum und Ausbildungsstät184

Die restitution in der Slowakei

te? Vor jedem dieser Projekte stand ein Fragezeichen, das zu berücksichtigen war. Es häuften sich Anfragen, Angebote und Vorschläge, aber ich traute niemandem die Kreativität und das Kapital zu, effektiv einzusteigen. Schließlich erhielten wir eine hieb- und stichsichere Proposition von einer slowakischen Familie, die in den USA offenbar Kapital angesammelt hatte. Die Anziehungskraft von Majorháza lag für sie nicht in dem verfallenen Gebäude, sondern in der günstigen Lage nahe Bratislava, Wien und den ungarischen Wirtschaftsbereichen. In relativ kurzer Zeit konnten wir mit den slowakischen Interessenten einen Kaufvertrag abschließen, der uns alle zufrieden stellte. Die Käufer wollten in der Slowakei investieren und verwendeten nach eigenen Angaben dazu Geld, das sie als Ärzte und Wissenschaftler in den USA verdient hatten. Ich habe seither mit den neuen Besitzern von Majorháza gelegentlich gesprochen, wusste aber zunächst nicht, wohin ihre Investitionen führen würden. Inzwischen wurden mir auch ungefähr dreihundert Hektar Felder auf der Schüttinsel restituiert, die gut verpachtet und von tüchtigen Bauern bewirtschaftet werden. Nicht zuletzt möchte ich hier betonen, dass der Aufstieg auf den „Kalvarienberg“ durch meine Vergangenheit im Widerstand gegen die Nationalsozialisten erleichtert wurde. Ein an meiner Seite beschäftigter Häftling in der Schneiderei von Straubing, der auch die Evakuierung des Zuchthauses, den berüchtigten „Todesmarsch“, mitmachen musste, war Josef Kyn. Vor seiner Verhaftung war er Präsident der tschechoslowakischen Nationalbank. Als ich nachweisen musste, dass ich kein Faschist gewesen war, legte ich seinen Brief vom 7. Januar 1946 meiner Petition bei. Hier möchte ich den Brief aus dem Tschechischen übersetzt wiedergeben: JOSEF KYN Generaldirektor der Legio Bank Prag, den 7. Januar 1946 Verehrter Freund, Danke für die Nachricht, die ich mit großer Freude zur Kenntnis genommen habe und der ich entnehme, dass Sie in guter Gesundheit aus den Gefahren und vor allem von diesem gemeinsamen Todesmarsch zurückgekommen sind. 185

Lebenskreise

Wenn etwas nicht unser Land betrifft, kann ich nicht helfen. Aber ich werde alles tun, um Ihnen bei uns zu helfen. Ich habe Ihren Brief meinem Direktor Cozlovi nach Bratislava weiter geschickt. Sie können sich sofort an ihn wenden, denn er hat über Sie schon die besten Informationen von mir erhalten. Nochmals vielen Dank für Ihre Grüße, die ich auch gerne an Ihre Familie erwidere. Ihr „Häfenbruder“ („Kriminalni Kamerad“) Ich konnte mehrere Briefe und Bestätigungen dieser Art vorweisen, sogar von Kommunisten, die bezeugten, dass ich objektiver Gesinnung gewesen war. Karl Berger, beispielsweise, war wegen seiner „illegalen Arbeit für die KPÖ“ vier Jahre lang mit mir im Straubinger Zuchthaus gewesen. Er bestätigte, dass mein Verhalten gegenüber den anderen politischen Häftlingen „solidarisch, politisch einwandfrei und kompromisslos“ war. Weiter werde ich beschrieben: „Er hat sich innerhalb des Gefängnisses für die Betreuung schwer bestrafter Häftlinge selbstlos eingesetzt und dabei mit den Inhaftierten der KPÖ reibungslos zusammengearbeitet. Er ist demokratischer Gesinnung, und ich kann ihn als überzeugter Kommunist nicht anders als einen kompromisslosen Antifaschisten bezeichnen.“22 „Faschist“ war das Schimpfwort jener Zeit. Freilich reichten Briefe dieser Art für eine Restitution nicht aus, aber sie waren eine angenehme Begleitmusik. Da das Schloss als erstes retourniert wurde, wohnten wir anfänglich dort. Mein Freund Thomas Wassibauer hatte einen Trakt äußerst gemütlich restauriert und mit unseren amerikanischen Möbeln eingerichtet. Die alten Kastanien blickten durch die Fenster und waren sehr verwundert. Trotz der Gesetzeslage empfand ich das Schloss jedoch nicht wirklich als mein Eigen. Überall hing fremde Wäsche, lag die Deponie von Bewohnern, die hier Fuß gefasst hatten, weil sie sich einfach dazu befugt fühlten und nicht weichen wollten. Wie sollte man diesen kommunistischen Relikten begegnen? Ich möchte hier noch anmerken, dass es den späteren slowakischen Besitzern von Majorháza 186

bande zwischen Schloss und Dorf

sehr wohl gelang, die Sanierung des Parks und des Schlosses zu erreichen. Es hatte sie viel Geld und wohl höchsten politischen Druck gekostet, aber ich gehe davon aus, dass mir dieser Coup wohl nie geglückt wäre. Man hätte uns immer noch der ungarischen Minderheit zugerechnet. Bis vor kurzer Zeit hatte ich wenig Kontakt zu den neuen Besitzern, die ihre Pläne für sich behielten. Nun scheint sich herauszustellen, dass Majorháza zu einem hochkarätigen Hotel umgebaut wird und auf seine Vergangenheit durch das Anbringen der Wappen früherer Bewohner hingewiesen wird. Der historische Hintergrund des Hauses sollte erhalten bleiben, im „Vorfeld“ des alten Pressburg. Ich werde den jetzigen Besitzern die dafür notwendigen Relikte gerne schenken. Vor allem freut mich, dass aus der „Nachkriegsruine“ wieder ein sehr ansehnliches Gebäude entsteht, das auch der Umgebung zugute kommt. An dieser Stelle möchte ich noch eine staatsrechtliche Erklärung anfügen, die meine Situation erhellt. Vor Abschluss des Restitutionsverfahrens stellte die nach den vielen Jahren der Bearbeitung meines Falles schon etwas ausgelaugte Sachbearbeiterin in Bratislava die Frage, welcher Nationalität ich mich jetzt eigentlich zugehörig fühle? Ich antwortete zu ihrem größten Erstaunen: „Rakousko – Österreich“. Ich bin also Besitzer einer slowakischen Identitätskarte und empfinde mich als Österreicher. Für die zusätzliche Akzeptanz der slowakischen Staatsbürgerschaft musste ich auch noch die Bewilligung des in Österreich für mich zuständigen Landeshauptmannes des Burgenlandes einholen. Derartig vielschichtige Exemplare leben nur selten zwischen Wien und Bratislava.

Bande zwischen Schloss und Dorf

D

ie noch bis zum heutigen Tag andauernde warmherzige Beziehung mit der aus dem Gewerblichen stammenden Familie Lipka möge zuletzt noch aufzeigen, wie auch im 20. Jahrhundert Kontakte zwischen Herrschaft und Dienerschaft ein Treueverhältnis hielten. In Tomášov (Fél) lebte und arbeitete um 1900 eine ungarische Familie Letuschek, deren Oberhaupt Schuster und Flickschneider war. Er sorgte sich vor allem um die Verlängerung 187

bande zwischen Schloss und Dorf

sehr wohl gelang, die Sanierung des Parks und des Schlosses zu erreichen. Es hatte sie viel Geld und wohl höchsten politischen Druck gekostet, aber ich gehe davon aus, dass mir dieser Coup wohl nie geglückt wäre. Man hätte uns immer noch der ungarischen Minderheit zugerechnet. Bis vor kurzer Zeit hatte ich wenig Kontakt zu den neuen Besitzern, die ihre Pläne für sich behielten. Nun scheint sich herauszustellen, dass Majorháza zu einem hochkarätigen Hotel umgebaut wird und auf seine Vergangenheit durch das Anbringen der Wappen früherer Bewohner hingewiesen wird. Der historische Hintergrund des Hauses sollte erhalten bleiben, im „Vorfeld“ des alten Pressburg. Ich werde den jetzigen Besitzern die dafür notwendigen Relikte gerne schenken. Vor allem freut mich, dass aus der „Nachkriegsruine“ wieder ein sehr ansehnliches Gebäude entsteht, das auch der Umgebung zugute kommt. An dieser Stelle möchte ich noch eine staatsrechtliche Erklärung anfügen, die meine Situation erhellt. Vor Abschluss des Restitutionsverfahrens stellte die nach den vielen Jahren der Bearbeitung meines Falles schon etwas ausgelaugte Sachbearbeiterin in Bratislava die Frage, welcher Nationalität ich mich jetzt eigentlich zugehörig fühle? Ich antwortete zu ihrem größten Erstaunen: „Rakousko – Österreich“. Ich bin also Besitzer einer slowakischen Identitätskarte und empfinde mich als Österreicher. Für die zusätzliche Akzeptanz der slowakischen Staatsbürgerschaft musste ich auch noch die Bewilligung des in Österreich für mich zuständigen Landeshauptmannes des Burgenlandes einholen. Derartig vielschichtige Exemplare leben nur selten zwischen Wien und Bratislava.

Bande zwischen Schloss und Dorf

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ie noch bis zum heutigen Tag andauernde warmherzige Beziehung mit der aus dem Gewerblichen stammenden Familie Lipka möge zuletzt noch aufzeigen, wie auch im 20. Jahrhundert Kontakte zwischen Herrschaft und Dienerschaft ein Treueverhältnis hielten. In Tomášov (Fél) lebte und arbeitete um 1900 eine ungarische Familie Letuschek, deren Oberhaupt Schuster und Flickschneider war. Er sorgte sich vor allem um die Verlängerung 187

Lebenskreise

unserer Kinderkleider. Seine slowakische Frau arbeitete als eine Art Assistentin des lokalen Arztes, der ihr einige physiotherapeutische Handgriffe beibrachte. Sie war im Dorf als „Mariska néni“ bekannt und widmete sich später auch als Masseuse meiner Mutter im Schloss. Ihre Fähigkeit war aber nicht nur durch die Geschicklichkeit ihrer Hände bedingt, sie funktionierte auch als so etwas wie ein Lokalblatt, das meiner Mutter den Tratsch aus Fél jeden Morgen brühwarm servierte. Da ich mich in früher Jugend natürlich oft im Dorf herumtrieb, litt auch ich unter der Vielzüngigkeit der Mariska néni, wobei ich hinzufügen muss, dass der ungarisch-slowakische Menschenschlag gelegentlich außerordentlich attraktive Mädchen schuf und damit für genügend Gesprächsstoff gesorgt war. Die nächste Letuschek-Generation nannte sich Lipka. Eine begnadete und gesprächige Masseurin gab es nicht mehr, mein Zeitgenosse Jozsef Lipka wurde in Pressburg Fleischhauer, was damals ein sehr einträglicher Beruf war. Er war aber über die lokalen Ereignisse ebenso gut informiert, wie vor ihm seine Mutter. Nur dass ich jetzt Benefizient seiner Informationen wurde. Er pendelte per Fahrrad von Fél nach Majorháza und zurück, wann immer es zeitlich möglich war. Wenn ich gerade von einer Reise heimkehrte, wurde Joszef auch für mich zur Gazette. Manchmal spielte er mit mir Fußball in der Féler Mannschaft. Er wusste, wer wilderte und seine Finger nach Verbotenem ausstreckte. Er war eine Art Postkasten und führte nebenbei einen schönen Obstgarten. Seine Frau war wiederum Slowakin, des Ungarischen nicht mehr mächtig, aber sie liebte Daisy und mich, ebenso wie einst Mariska néni. Ihr Sohn Lali, von einer Ungarin bereits geschieden, mit zwei Kindern, schwang sich kürzlich zum Bürgermeisterkandidaten von Fél auf, unterlag jedoch seinem ungarischen Vorgänger. Mehrere derartige Verbindungen von Schloss zu Dorf festigten und harmonisierten die sozialen Beziehungen unseres ländlichen Lebens. Man darf aber auch nie vergessen, dass diese Bande zweiseitig sein müssen. Die Relationen zur Beamtenhierarchie, dem Bürgermeister, dem Notar und dem Oberlehrer, vollzogen sich vor allem im Rahmen der letzten Jagden des Jahres. Die mit „Kolophoni“ benannten lokalen Gäste freuten sich immer unendlich, an solch einem Jagdereignis teilnehmen zu dürfen und so die Gegenseitigkeit aufzufrischen.

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Epilog

I

n diesen vergangenen Zeiten, durch die ich mich zwängen musste, schlossen sich die Lebenskreise nicht immer nach eigenem Wunsch und Gutdünken. Und doch scheint es mir gelungen zu sein, die Zeichnung der Kreise mitzubestimmen. Widerstand und Wiederaufbau – ein kleines „E“ trennt die beiden ersten Teile dieser Begriffe, doch bedeutet es mein Leben. Der Widerstand gegen das NS-Regime hat mir, so grotesk es klingen mag, mein Leben während des Krieges gerettet. Nach der Befreiung hat mir meine intensive Teilnahme am Wiederaufbau des Landes unter den Fittichen wichtiger ÖVP-Politiker Lebensfreude und Ambition geschenkt. Meine glückliche Ehe, meine gelungene Familie, meine guten Freunde und alle meine Steckenpferde verschönerten mein Leben wesentlich. Die Faszination meiner Glassammlung hat einen weiteren, vielleicht meinen genussreichsten Lebenskreis eröffnet, der mich wichtigen Spezialisten und Gleichgesinnten aus der Museums- und Sammlerwelt näherrückte. Das von mir zeitlebens verehrte Kunsthistorische Museum in Wien, die ehemals kaiserlichen Sammlungen, hat sich zu meiner Freude diesem Interesse angeschlossen. Nachdem wir aus den USA nach Wien heimgekehrt waren, nahmen sich Ministerin Dr. Elisabeth Gehrer und Generaldirektor Dr. Wilfried Seipel meiner Sammlung an. Die jetzt amtierende Generaldirektorin Dr. Sabine Haag plant, sie in der neuen Aufstellung der Wiener Kunstkammer prominent zu platzieren. Der stellvertretende Generaldirektor Dr. Franz Pichorner und die Direktorin von Schloss Ambras, Dr. Veronika Sandbichler, sowie Dr. Paulus Rainer haben ebenfalls wesentlichen Anteil an der Realisierung des Vorhabens, diesen Gläsern, die mein Leben über lange Phasen begleiteten, in den Kunstkammern von Wien und Schloss Ambras bei Innsbruck eine ihren Intentionen entsprechende, wunderbare Heimat zuzuweisen. Allen diesen Persönlichkeiten spreche ich meinen aufrichtigsten Dank aus. Ich hoffe, noch etwas länger in der Lage zu sein, dem Museum meine Verbundenheit so zu vermitteln, wie ich sie selbst empfinde, und das Dasein meiner Gläser in ihrem alten Glanz und Luxus zu verfolgen. Für die Vollendung der Lebenskreise danke ich vor allem meiner geliebten Frau Daisy, die meine Ideen immer wieder lenkte und meine handschrift­lichen 189

Lebenskreise

Notizen in digitale Form und zu bedrucktem Papier brachte, denn der Computer ist mir noch immer ein Fremdling. Dr. Claudia Lehner-Jobst danke ich für ihre Fähigkeit, meine Gedanken in ein attraktiveres Sprachgewand gekleidet zu haben, das auch meinen Empfindungen voll entspricht. Uns beide verbindet eine große Liebe zur angewandten Kunst und ihrer Bedeutung im sonst oft einschichtigen Leben. Dr. Eva Reinhold-Weisz und ihren Mitarbeiterinnen möchte ich für die hervorragende Betreuung vonseiten des Böhlau Verlages danken. Man hat auch in meinem Alter noch immer den Wunsch, weiterzumachen. Unlängst, aus Anlass meines 92. Geburtstages, gelang es meinen Enkeln, diesen Wunsch in einer zeitgenössischen Metapher auszudrücken. Dass ein junger Mensch, den die Spannung des Fußballs packt, einem Schiedsrichter eine bedeutende Rolle beimisst, verwundert nicht weiter. So hofft mein Enkel Sebastian, der „Unabhängige“ möge meinem Spielverlauf noch einige „Verlängerungen“ anhängen. Dieser Hoffnung schließe ich mich gerne an. Es sollten aber nicht nur drei oder vier Minuten sein, wie üblicherweise auf dem Fußballfeld. Daher lehne ich es ab, den lieben Herrgott auf den gleichen Lebensrasen zu stellen. Ich verlasse mich lieber, wie schon so manches Mal, auf seine Gnade, als auf das willkürlich geblasene Pfeiferl.

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Anmerkungen

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Die Ortsnamen werden so verwendet, wie sie zum jeweiligen Zeitpunkt der Lebensgeschichte geläufig waren, werden aber bei Erstnennung zusätzlich mit ihrem heutigen Namen bezeichnet. Mein Dank gilt Professor Fritz Brucker, dem heutigen Chormeister des Schubertbundes, für das Auffinden des Programmes. An dieser Stelle möchte ich Hofrat Dr. Herbert Crammer für seine Zeit und wertvollen Erinnerungen danken. Grete Huber-Gergasevics: Roman Karl Scholz, Klosterneuburg 2010, S. 138 Grete Huber-Gergasevics: op.cit., S. 142/43 In der Serie der Monographien zur Zeitgeschichte gab das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes einen Band zu dieser Gruppe heraus: Christine Klusacek: Die Österreichische Freiheitsbewegung. Gruppe Roman Karl Scholz, Wien 1968. Bei dieser Gelegenheit möchte ich mich sehr herzlich bei Frau Dr. Elisabeth Klamper für ihre Zeit und Hilfe beim Auffinden verschiedener Dokumente bedanken. Einige Quellen geben Herbst 1939 als Zeitpunkt der Namensänderung an, HuberGergasevics schreibt 1940. Grete Huber-Gergasevics: op.cit. , S. 136. Klusacek: op.cit., S. 9, dort zitiert nach einer persönlichen Mitteilung von Dr. Viktor Reimann im Januar 1967. Nach Grete Huber-Gergasevics passte Scholz den Wortlaut des Eides, den ursprünglich Scholz und Reimann einander geschworen hatten, der politischen Situation im Herbst 1938 an, als die Nationalsozialisten deutlich agressiver vorgingen. Er wurde weniger „hochtrabend“. Grete Huber-Gergasevics: op.cit., S. 136. Wohl änderte sich nach der Namensänderung auch der Wortlaut auf die „Sache der Österreichischen Freiheitsbewegung“. Ebda., S. 10 Ebda., S. 11 und 48 Zitiert nach Christine Klusacek, laut persönlicher Mitteilung durch Luise Kranitz im November 1966, ebda. S. 11, Anmerkung 8 Roman Karl Scholz: Gedichte aus dem Gefängnis, ausgewählt für Die Furche, 7. September 1946 Grete Huber-Gergasevics: op. cit., S. 204–215. Nach Huber-Gergasevics hatte Scholz den Studenten Othmar Klein im Oktober 1943 zum „Erben und Hüter seines Ideengutes“ eingesetzt, Klein fiel 1945 an der Ostfront. Dr. Herbert Crammer übernahm den politischen Nachlass und übergab das Manuskript 1990 dem Stift Klosterneuburg.

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Lebenskreise 14 Ebda., S. 13, zitiert nach Hellmut Andics: Der Staat, der keinen Namen hatte, in: Die Presse, 21. August 1962 15 Die Prozessakten befinden sich im Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes (DÖW) in Wien. 16 Der Denunziant Hartmann vor dem Volksgericht, in: Wiener Zeitung, Nr. 256, Jg. 240, S. 1/2 17 Nach mündlichen Angaben von Dr. Elisabeth Klamper, DÖW, am 14. Dezember 2010, verbarg sich hinter dem Decknamen Glaser ein besonders zu fürchtender Spitzel, ein in Pressburg (Bratislava) und Agram (Zagreb) tätiger Redakteur jüdischer Herkunft namens Koppel, der der Gestapo mit dem Auftrag, die Gruppe um Scholz auszuforschen, zuarbeitete. 18 Christine Klusacek schildert diese Vorgänge nach dem Notizbuch des Gefängnispfarrers Rieger, op.cit. S. 31–34. 19 1955 von Pete Seegers komponiert. Das berühmte Anti-Kriegs-Lied wurde 1962 erstmals von Marlene Dietrich in deutscher Sprache gesungen. 20 Rudolf Preyer: Die Thury: Mit Gift und Feder, Wien 2010 21 Der Katalog meiner Wiener Porzellansammlung, Glanz und Farbe (Wien 2009), wurde von Dr. Claudia Lehner-Jobst verfasst. 22 Karl Berger, Brief vom 28. März 1946, abgestempelt von der Österreichischen Zensurstelle 144.

Bildnachweis: Abb. 4 Filmarchiv Austria Abb. 8 Guy Gravett (Picture Index) Abb. 17 wikimedia.org Abb. 40, Farbabbildung 1, Farbabbildung 10: Kunsthistorisches Museum, Wien Alle anderen Abbildungen: Archiv des Autors

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Lebenskreise 14 Ebda., S. 13, zitiert nach Hellmut Andics: Der Staat, der keinen Namen hatte, in: Die Presse, 21. August 1962 15 Die Prozessakten befinden sich im Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes (DÖW) in Wien. 16 Der Denunziant Hartmann vor dem Volksgericht, in: Wiener Zeitung, Nr. 256, Jg. 240, S. 1/2 17 Nach mündlichen Angaben von Dr. Elisabeth Klamper, DÖW, am 14. Dezember 2010, verbarg sich hinter dem Decknamen Glaser ein besonders zu fürchtender Spitzel, ein in Pressburg (Bratislava) und Agram (Zagreb) tätiger Redakteur jüdischer Herkunft namens Koppel, der der Gestapo mit dem Auftrag, die Gruppe um Scholz auszuforschen, zuarbeitete. 18 Christine Klusacek schildert diese Vorgänge nach dem Notizbuch des Gefängnispfarrers Rieger, op.cit. S. 31–34. 19 1955 von Pete Seegers komponiert. Das berühmte Anti-Kriegs-Lied wurde 1962 erstmals von Marlene Dietrich in deutscher Sprache gesungen. 20 Rudolf Preyer: Die Thury: Mit Gift und Feder, Wien 2010 21 Der Katalog meiner Wiener Porzellansammlung, Glanz und Farbe (Wien 2009), wurde von Dr. Claudia Lehner-Jobst verfasst. 22 Karl Berger, Brief vom 28. März 1946, abgestempelt von der Österreichischen Zensurstelle 144.

Bildnachweis: Abb. 4 Filmarchiv Austria Abb. 8 Guy Gravett (Picture Index) Abb. 17 wikimedia.org Abb. 40, Farbabbildung 1, Farbabbildung 10: Kunsthistorisches Museum, Wien Alle anderen Abbildungen: Archiv des Autors

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Farbabbildungen

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Abb. 1: Trophäe des Hirschen, erlegt um meinen 90. Geburtstag (2008).

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Abb. 2: Hanns Temple (1857–1931): Portrait Gottfried Seibt von Ringenhardt (gest. 1937) als Feldmarschall Leutnant, Öl auf Leinwand, um 1928.

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Abb. 3: Der „Petroneller Willkhumb“, Venedig 1480–90 (Geschenk aus der Sammlung Rudolf von Strasser an das Kunsthistorische Museum in Wien am 24. April 1999).

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Abb. 4: Theodor von Hörmann (1840–1895): Des Kranken Augenweide, Öl auf Leinwand, um 1890.

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Abb. 5: Olga Wisinger-Florian (1844–1926): Mohnfeld bei Majorháza, Öl auf Leinwand, um 1900.

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Abb. 6: Trophäe eines guten Weißwedel-Hirsches aus Millrift, Pennsylvania (1987).

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Abb. 7: Pelham Manor, unser Zuhause in New York.

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Abb. 8: Unsere Kinder Daisy, Rudy und Christoph, 2008.

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Abb. 9: Henkelkrug mit Eidechse, Manufaktur Du Paquier, Wien, 1730/35. Sammlung Rudolf von Strasser.

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Abb. 10: Der „Puchheim-Pokal“, Venedig, um 1500, als Titelsujet für die Ausstellung Licht und Farbe im Kunsthistorischen Museum, Wien, 2002.

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Abb. 11: Mit Kardinal József Mindszenty in New York nach dessen Befreiung aus der US-Botschaft in Budapest, um 1970.

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Abb. 12: Nach einem journalistischen Gespräch mit Präsident George Bush sen. und Horst Denk, dem Chairman der Republikanischen Partei in New York, 11. Mai 1972.

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Abb. 13: Mein Ehrenzeichen um die Verdienste zur Befreiung Österreichs.

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Abb. 14: Mit meiner Daisy, wieder auf der Jagd.

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