Leben in Gemeinschaft: Politische Anthropologie anhand Hesiod 9783787336968, 9783787336951

Hesiod, einer der frühesten bekannten europäischen Dichter, ist auch von philosophischem Interesse, vor allem in ethisch

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Leben in Gemeinschaft: Politische Anthropologie anhand Hesiod
 9783787336968, 9783787336951

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Peters/Peters (Hg.)

PHILOSOPHIEREN MIT GEDANKENEXPERIMENTEN

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PHILOSOPHIEREN MIT GEDANKENEXPERIMENTEN

– METHODEN IM PHILOSOPHIE- UND ETHIKUNTERRICHT – Herausgegeben von Martina und Jörg Peters

Band 2

Die Reihe Methoden im Philosophie- und Ethikunterricht ist auf neun Themenbände angelegt, die bis 2023 erscheinen werden: 1

Philosophieren mit Filmen im Unterricht

2

Philosophieren mit Gedankenexperimenten

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Philosophieren mit Dilemmata

4

Philosophieren mit Bildern und Comics

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Vom Umgang mit philosophischen Texten

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Der Einsatz von Spielen im Philosophie- und Ethikunterricht

7

Literatur und Jugendliteratur im Philosophie- und Ethikunterricht

8

Das Sokratische Gespräch im Philosophie- und Ethikunterricht

9

Theatrales Philosophieren, Musik und Videoclips im Philosophie- und Ethikunterricht



Ausführliche Informationen unter: www.philosophie-didaktik.de

Martina und Jörg Peters

Philosophieren mit Gedankenexperimenten Methoden im Philosophie- und Ethikunterricht

Meiner

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-3653-1 ISBN eBook: 978-3-7873-3696-8 www.meiner.de © Felix Meiner Verlag Hamburg 2020. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53, 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Satz: 3W+P GmbH, Rimpar. Druck und Bindung: Druckhaus Nomos, Sinzheim. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100 % chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.

INHALT Einführung: Der Einsatz von Gedankenexperimenten im Philosophie- und Ethikunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Martina Peters und Jörg Peters

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Gedankenexperimente im Philosophie- und Ethikunterricht . . . . . . . . . . . . . . .

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Gedankenexperimente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Helmut Engels

Das Gedankenexperiment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Paul Georg Geiß

»Was wäre, wenn …?« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

47

Tobias Zürcher

Arten und Funktionen von Gedankenexperimenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Barbara Brüning

Was ist ein philosophisches Gedankenexperiment? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Georg W. Bertram

Gedankenexperimente und Sokratisches Gespräch – ein Vergleich . . . . . . . . . . . . .

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Gisela Raupach-Strey

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Beispiele aus der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Der Ring des Gyges auf dem Prüfstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

89

Beate Marschall-Bradl

Stell’ dir vor, es wäre Krieg … . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Katja Andersson

Wenn ich ein Tier wäre – Gedankenexperimente zu tierethischen Fragen . . . . . . . 101 Alexander Chucholowski

3

Auswahl ethischer und philosophischer Gedankenexperimente . . . . . . . . . . . . 113 Klaus Draken und Jörg Peters

Auswahlbibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127

EINFÜHRUNG

Der Einsatz von Gedankenexperimenten im Philosophie- und Ethikunterricht Martina Peters und Jörg Peters

N

eben dem Besprechen philosophischer Texte im Philosophie- und Ethikunterricht zählen im Bereich der diskursiven Methoden Gedankenexperimente und Dilemmata zu den populärsten Vorgehensweisen. Das vorliegende Buch konzentriert sich ausschließlich auf Gedankenexperimente, da dem Einsatz von Dilemmata ein eigener Band innerhalb dieser Methodenreihe1 gewidmet ist. Warum ist der Einsatz von Gedankenexperimenten im Schulunterricht so beliebt? Weder die Fachphilosophie noch der Philosophie- bzw. Ethikunterricht kann auf das Gedankenexperiment verzichten, weil es ein essentielles Instrumentarium darstellt, um zu philosophischen Einsichten zu gelangen.2 Das Gedankenexperiment stellt nämlich – wie noch zu zeigen sein wird – im Bereich der Philosophie genauso ein Mittel zum Erkenntnisgewinn dar wie das reale Experiment in den Naturwissenschaften. Denkt man beispielsweise an den Naturzustand in der Staatsphilosophie von Thomas Hobbes oder an das »Gehirn im Tank« in der Erkenntnistheorie von Hilary Putnam, so ahnt man schnell, wie herausfordernd und motivierend es sein kann, mit Gedanken zu experimentieren.

1

2

Vgl. Peters, Martina; Peters, Jörg (Hrsg.): Philosophieren mit Dilemmata, Methoden im Philosophie- und Ethikunterricht, Bd. 3, Felix Meiner Verlag, Hamburg 2019. Das war nicht immer so. Der französische Physiker und Philosoph Pierre Duhem urteilt über das Gedankenexperiment zu Beginn des 20. Jahrhunderts folgendermaßen: »[Ein Schüler] wird diese Worte [gemeint ist ein Gedankenexperiment, M. u. J. Peters] mit ungenauem Sinn, diese Beschreibungen unrealisierter und unrealisierbarer Experimente, diese Überlegungen, die nur Taschenspielerkünste sind, auswendig lernen, indem er bei dieser unvernünftigen Gedächtnisarbeit das wenige, das er an gesundem Sinn und kritischem Denken besaß, verliert« (Duhem, Pierre: Ziel und Struktur der physikalischen Theorie, übers. von Adler, Friedrich, Vorwort von Mach, Ernst, eingl., bibliogr. und hrsg. von Schäfer, Lothar, PhB 477, Felix Meiner Verlag, Hamburg 1978, S. 274). Diese Äußerung von 1908 zeigt deutlich, wie groß Duhems Ablehnung gegenüber dem Gedankenexperiment war. Wahrscheinlich wäre er entrüstet, wenn er sehen könnte, wie erfolgreich Gedankenexperimente heute in der wissenschaftlichen Diskussion, in anspruchsvollen Lehrbüchern und vor allen Dingen als methodisches Mittel im Unterricht eingesetzt werden (Vgl. Buschlinger, Wolfgang: Denk-Kapriolen? Gedankenexperimente in Naturwissenschaften, Ethik und Philosophy of Mind, Könighausen & Neumann, Würzburg 1993, S. 9).

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Martina Peters und Jörg Peters

 Was ist ein Gedankenexperiment? Um es formal auszudrücken: Gedankenexperimente sind gedankliche Hilfsmittel, um Theorien – – – – –

zu entwickeln, zu untermauern, zu widerlegen, zu veranschaulichen oder weiterzudenken.

Dabei wird rein gedanklich eine Situation konstruiert, die real in der Regel nicht oder zumindest nur sehr schwer herzustellen ist. Ebenfalls spielt man rein gedanklich durch, welche Konsequenzen sich – bezogen auf eine bestimmte philosophische Frage – daraus ableiten lassen. Zwei Arten von Gedankenexperimenten sind zu unterscheiden, nämlich das kontrafaktische oder irreale Gedankenexperiment und das fiktive Gedankenexperiment mit Bezug zur Realität: 1) Ein philosophisches Gedankenexperiment zeichnet sich durch Kontrafaktizität aus3, also durch die Annahme von Irrealem. Diese Annahme wird aber nicht auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft, so dass sie keine zu untersuchende Hypothese darstellt. Was damit gemeint ist, veranschaulicht folgendes Beispiel: »Stellen Sie sich vor, ein Mensch könne sich unsichtbar machen …« Das Kontrafaktische, das Irreale, ja das Unmögliche an diesem Beispiel besteht darin, dass sich ein Mensch nun einmal nicht unsichtbar machen kann. Es besteht aber durchaus die Möglichkeit, gedanklich durchzuspielen, was alles passieren könnte, wenn ein unsichtbarer Mensch sich unter uns bewegen würde. Aufgrund dieses Gedankenexperiments stellt sich beispielsweise die Frage, ob der Mensch, der die Fähigkeit besitzt, sich unsichtbar zu machen, künftig gerecht oder ungerecht, ethisch oder unethisch handeln wird, weil er keine Konsequenzen seines Handelns zu fürchten hat. Genau dieser Frage gehen etwa Platon im Ring des Gyges oder J. R. R. Tolkien in seinem Monumentalwerk Der Herr der Ringe nach. Beide untersuchen dabei aber nicht den Wahrheitsgehalt der Annahme, sich unsichtbar machen zu können, sondern die sich aus dem Gedankenexperiment ergebende philosophische Fragestellung nach dem gerechten bzw. ethischen Handeln. 2) Ein Gedankenexperiment kann auch aus Prämissen bestehen, die zwar fiktiv sind, aber einen Bezug zur Realität haben, »insofern sie sich auf etwas beziehen, das in der Wirklichkeit tatsächlich möglich ist«.4 Fallbeispiele gehören in diese Kategorie ebenso wie Utopien. In Klassikern wie Utopia von Thomas Morus, Nova Atlantis von Francis Bacon oder La città del Sole von Tommaso Campanella werden (noch) nicht existierende

3

4

Vgl. Engels, Helmut: »Nehmen wir an …«. Das Gedankenexperiment in didaktischer Absicht, Beltz Verlag, Weinheim/Basel 2004, S. 14 – 17 und vgl. Bertram, Georg W.: »Was ist ein philosophisches Gedankenexperiment?«, in: Bertram, Georg W. (Hrsg.): Philosophische Gedankenexperimente. Ein Lese- und Studienbuch, Reclam TB 20414, Philipp Reclam jun., Stuttgart 22016, S. 19 – 22. Engels, Helmut: »Nehmen wir an …«. Das Gedankenexperiment in didaktischer Absicht, a.a.O., S. 40.

Der Einsatz von Gedankenexperimenten im Philosophie- und Ethikunterricht

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Wunschbilder von Gemeinschaften mit realitätsnahen Facetten wie Arbeit, Wissenschaft oder soziale Gerechtigkeit thematisiert. Diese können Schülerinnen und Schülern etwa als Grundlage für eine fundierte Auseinandersetzung mit erstrebenswerten Prinzipien gesellschaftlichen Zusammenlebens dienen, indem die jeweiligen Konsequenzen überprüft und weitergedacht werden. Neben diesen beiden Formen »echter« Gedankenexperimente gibt es auch Überlegungen, die zwar von kontrafaktischen Prämissen ausgehen, aber nicht unter den Begriff des Gedankenexperiments subsumiert werden dürfen: »Ein Beispiel: ›Wenn ich eine Million im Lotto gewonnen hätte, ja dann hätte ich das und das getan.‹ Diese gedankliche Spielerei verdient den Ehrentitel Gedankenexperiment nicht, da der größere Rahmen fehlt, durch den die Ergebnisse dazu dienen könnten, grundsätzliche Fragen zu klären. Tagträumereien sind keine Experimente. Eine tiefgreifende Erkenntnis dürfte durch diese Spielerei nicht zustande kommen.« 5

 Der Unterschied zwischen Real- und Gedankenexperimenten Wenn man sich vor Augen hält, dass sich der Begriff Gedankenexperiment aus den beiden Wörtern ›Gedanken‹ und ›Experiment‹ zusammensetzt, so macht die Separation der Begriffe nicht nur deutlich, dass es sich hierbei um ein Experiment handelt, das in Gedanken durchgeführt wird, sondern verweist zugleich auch darauf, dass es sich im Unterschied zum Realexperiment nicht auf etwas Konkretes oder auf etwas real Existierendes bezieht. Ein Gedankenexperiment ist kein Experiment im eigentlichen Sinne, weil es einen gravierenden Unterschied zwischen beiden gibt: Während ein reales Experiment Theorien durch empirische Anschauung von außen untersucht, bleibt ein Gedankenexperiment grundsätzlich rational. Es nimmt in der Philosophie jene Rolle ein, die das Realexperiment in den Naturwissenschaften innehat. Dementsprechend folgen Gedankenexperimente dem fünf-phasigen Aufbau eines naturwissenschaftlichen Versuchsprotokolls, wie insbesondere die Ausführungen von Engels6 und Muhr7 deutlich machen. Dies gilt aber auch für den Aufbau eines Gedankenexperiments nach Bertram8, wenn man seine drei-phasige Darstellung dahingehend interpretiert, dass er die erste und zweite sowie die vierte und fünfte Phase zu je einer zusammenfasst:

5 6

7

8

Engels, Helmut: »Nehmen wir an …«. Das Gedankenexperiment in didaktischer Absicht, a.a.O., S. 17. Engels, Helmut: »Die Struktur von Gedankenexperimenten«, in: Brockamp, Peter; Draken, Klaus; Hamacher, Wolfram; Maeger, Stefan; Reuber, Rudolf; Schalk, Helge; Strobel, Johannes: Philosophieren, 2 Bde., Bd. 2: Ethik – Staatsphilosophie – Geschichtsphilosophie, C. C. Buchner Verlag, Bamberg 2006, S. 311. Muhr, Daniela: Das Gedankenexperiment als Methode des Philosophierens: Einsatzmöglichkeiten im Philosophieunterricht der Sekundarstufe II, Staatsarbeit am Studienseminar für das Lehramt für die Sekundarstufe II, Krefeld 1996, S. 81–83. Bertram, Georg W.: »Was ist ein philosophisches Gedankenexperiment?«, in: Bertram, Georg W. (Hrsg.): Philosophische Gedankenexperimente. Ein Lese- und Studienbuch, a.a.O., S. 15 – 22.

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Martina Peters und Jörg Peters

Aufbau eines Experiments in den Naturwissenschaften

Aufbau eines Gedankenexperiments nach Engels

Aufbau eines Gedankenexperiments nach Muhr

Aufbau eines Gedankenexperiments nach Bertram

1. Thema

1. Kontext

1. Präsentation der fiktiven Annahme

1. philosophische Fragestellung

2. Versuchsaufbau

2. Versuchsanordnung

2. Rekonstruktion der fiktiven Annahme

3. Versuchsdurchführung

3. Versuchsanleitung

3. Experimentier- bzw. Erprobungsphase

2. kontrafaktisches Szenario

4. Beobachtungen

4. Das eigentliche Experiment

4. Ergebnisaustausch

3. Auswertung des Szenarios in Bezug auf die Fragestellung

5. Deutung (Erklärung) und Auswertung

5. Offenes Ende

5. Ursachenforschung und Problematisierung

Im Schulunterricht wird primär der Ansatz von Helmut Engels verfolgt, dessen Konzeption sehr eng an den Aufbau eines naturwissenschaftlichen Versuchs angelehnt ist. Soll beispielsweise die Frage der persönlichen Lebensgestaltung besprochen werden, könnte die Abfolge des Gedankenexperimentes folgendermaßen aussehen: 1. Kontext: Was ist mir im Leben wirklich wichtig? 2. Versuchsanordnung: Stell dir vor, du könntest jetzt dein Leben noch einmal von vorne anfangen … 3. Versuchsanleitung: Was würdest du anders machen? 4. Das eigentliche Experiment: Ich würde mir überlegen, ob ich … 5. Offenes Ende: Ich nehme mir vor, in Zukunft … zu tun/zu beobachten/zu überprüfen etc.

 Die Funktion von Gedankenexperimenten im Philosophie- und Ethikunterricht Wenn Gedankenexperimente auf diese Weise angelegt sind, bieten sie die Chance, dass alle Schülerinnen und Schüler an der Durchführung teilnehmen können. Das liegt unter anderem daran, dass durch das prinzipiell offene Ende von Gedankenexperimenten Schülerinnen und Schülern viel Raum für Phantasie gegeben ist. Schon aus diesem Grund weisen Gedankenexperimente einen hohen motivationalen Charakter auf; zugleich tragen sie auf spielerische Weise dazu bei, zu philosophischen Erkenntnissen bzw. Einsichten zu gelangen. Dadurch, dass Schülerinnen und Schüler ihre Gedanken zu einem philosophischen Problem frei und ungezwungen äußern können, tragen sie nicht nur dem unter an-

Der Einsatz von Gedankenexperimenten im Philosophie- und Ethikunterricht

11

derem von Markus Tiedemann vertretenen Prinzip der Problemorientierung9, sondern auch dem kantischen Prinzip des Selberdenkens10 Rechnung. Der Philosophieunterricht darf allerdings nicht beim Selberdenken der Schülerinnen und Schüler stehen bleiben, wenn er nicht in einem oberflächlichen Meinungsaustausch verharren will. Deshalb bietet es sich an, im Anschluss an die durchgeführten Gedankenexperimente philosophische Texte zu lesen, um die aufgeworfenen Fragen und Probleme genauer zu entfalten, zu untersuchen und auszuwerten. Damit ist auch schon gesagt, dass die Durchführung eines Gedankenexperimentes im Unterricht niemals nur Zweck sein darf, sondern als »Mittel zu etwas« verstanden werden sollte. Insofern ist der Einsatz von Gedankenexperimenten als philosophische Methode immer abhängig von dem angestrebten Ziel der Unterrichtsstunde oder sogar der gesamten Sequenz.11

 Der Aufbau des Buches Da das vorliegende Buch als ein Leitfaden für den Einsatz von Gedankenexperimenten im Unterricht an Schulen konzipiert worden ist, richtet es sich primär an Studierende, Referendarinnen und Referendare sowie Lehrerinnen und Lehrer der Fächer Philosophie, Ethik, Praktische Philosophie, Werte und Normen und L-E-R. Daraus ergibt sich für den vorliegenden Band eine logische Dreiteilung in einen Theorie-, einen Praxis- und einen Materialteil. Für den Theorieteil ist der Versuch unternommen worden, möglichst alle zentralen Positionen der deutschsprachigen Philosophiedidaktik zum Gedankenexperiment zu Wort kommen zu lassen. Sofern die Rezipientin bzw. der Rezipient dieses Buches noch keine Erfahrungen im Umgang mit Gedankenexperimenten haben sollte, kann sie bzw. er auf diese Weise die theoretischen Grundlagen kennenlernen oder – falls schon Kenntnisse vorhanden sein sollten – diese vertiefen. Im anschließenden Praxisteil wird eine Auswahl von Gedankenexperimenten und ihre Durchführung im schulischen Kontext vorgestellt. Anhand der Beispiele kann man sich einen Eindruck davon verschaffen, wie eine konkrete Umsetzung erfolgen kann, mit welchen Schwierigkeiten zu rechnen ist und wie man diese meistern kann.

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Tiedemann, Markus: »Der problemorientierte Ansatz«, in: Peters, Martina; Peters, Jörg (Hrsg.): Moderne Philosophiedidaktik. Basistexte, Felix Meiner Verlag, Hamburg 2019, S. 213 – 230 (der Aufsatz erschien zuerst unter: Tiedemann, Markus: »Problemorientierte Philosophiedidaktik«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 35, 2013, Heft 1: Außerschulische Lernorte, S. 85 – 96). Kant, Immanuel: »Der ›Selber-denken‹ Ansatz«, in: Peters, Martina; Peters, Jörg (Hrsg.): Moderne Philosophiedidaktik. Basistexte, a.a.O., S. 19 – 22 (der Aufsatz ist auch enthalten in: Kant, Immanuel: »Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen in dem Winterhalbenjahre, von 1765 – 1766«, in: Kant, Immanuel: Kant’s gesammelte Schriften, hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Erste Abtheilung: Werke, Bd. 2: Vorkritische Schriften II (1757– 1777), Druck und Verlag von Georg Reimer, Berlin 1912, S. 303 – 113, S. 305 – 308). Vgl. dazu Muhr, Daniela: Das Gedankenexperiment als Methode des Philosophierens: Einsatzmöglichkeiten im Philosophieunterricht der Sekundarstufe II, a.a.O., S. 83.

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Martina Peters und Jörg Peters

Der letzte Teil des Buches enthält eine umfangreiche Sammlung an nicht (allzu) bekannten Gedankenexperimenten, die alle relevanten Themen, die im Philosophie- und Ethikunterricht eine Rolle spielen, berücksichtigen. Dafür sind Gedankenexperimente aus den folgenden Inhaltsfeldern berücksichtigt worden: 1. Der Mensch und sein Handeln (Unterthemen: »Die Sonderstellung des Menschen«, »Formen des Handelns im interkulturellen Kontext« und »Umfang und Grenzen staatlichen Handelns«) 2. Menschliche Erkenntnis und ihre Grenzen (Unterthemen: »Eigenart des philosophischen Fragens und Denkens«, »Metaphysische Probleme als Herausforderung für die Vernunfterkenntnis« und »Prinzipien und Reichweite menschlicher Erkenntnis«) 3. Das Selbstverständnis des Menschen (Unterthemen: »Der Mensch als Natur- und Kulturwesen«, »Das Verhältnis von Leib und Seele«, »Der Mensch als freies, selbstbestimmtes Wesen« und »Das Menschenbild der Neurowissenschaften und der Forschungen zur künstlichen Intelligenz«) 4. Werte und Normen des Handelns (Unterthemen: »Grundsätze eines gelingenden Lebens«, »Nützlichkeit und Pflicht als ethische Prinzipien«, »Verantwortung in ethischen Anwendungskontexten« und »Unterschiedliche Grundlagen moralischer Orientierungen) 5. Zusammenleben in Staat und Gesellschaft (Unterthemen: »Gemeinschaft als Prinzip staatsphilosophischer Legitimation«, »Individualinteresse und Gesellschaftsvertrag als Prinzip staatsphilosophischer Legitimation«, »Konzepte von Demokratie und sozialer Gerechtigkeit« und »Bedingungen einer dauerhaften Friedensordnung in einer globalisierten Welt«) 6. Geltungsansprüche der Wissenschaften (Unterthemen: »Erkenntnistheoretische Grundlagen der Wissenschaften« und »Der Anspruch der Naturwissenschaften auf Objektivität«) Das Buch schließt mit einer ausführlichen Bibliographie zum Gedankenexperiment aus didaktischer Perspektive. Da das Gedankenexperiment primär im deutschsprachigen Raum in Schulen eingesetzt wird, ist auch nur die deutschsprachige Literatur berücksichtigt worden. Generelle Studien zum Gedankenexperiment finden nur bedingt Berücksichtigung aufgrund der in den Blick genommenen Zielgruppe dieser Reihe und dem damit verbundenen Fokus auf die zu reflektierende Praxis.

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GEDANKENEXPERIMENTE IM PHILOSOPHIE- UND ETHIKUNTERRICHT

Gedankenexperimente Helmut Engels

 Adressaten Jugendlichen und vor allem auch Kindern fällt es nicht schwer, sich auf Gedankenexperimente einzulassen. Sie sind noch nicht wie viele Erwachsene auf das Faktische fixiert. Sie können Gedankenreisen machen und sich eine Welt ausdenken, die mit der Realität nicht viel gemeinsam hat. Fantasy und Science-Fiction tun ein Übriges, dass sie sich mit dem bloß Möglichen, mit dem Unwahrscheinlichen oder sogar mit dem Unmöglichen beschäftigen, und dies mit Lust. Gedankenexperimente sind aber nicht bloß luftige Gedankengebilde, erst recht keine eskapistischen Spielereien, vielmehr haben sie einen harten Kern, der mit bloßem Tagträumen nichts zu tun hat.

 Was sind Gedankenexperimente? Vorläufiges Das Gedankenexperiment besteht in dem Versuch, auf der Grundlage kontrafaktischer Vorstellungen philosophisch relevante Erkenntnisse zu gewinnen oder zu vermitteln. Hiermit kompatibel ist die Formulierung: Gedankenexperimente sind wohldurchdachte Was-wäre-wenn-Überlegungen, die dem Erkenntnisgewinn im Zusammenhang mit philosophischen Fragen dienen. Solche mentalen Experimente gibt es in der Philosophie seit der Antike. Eine besondere Bedeutung haben sie in der analytischen Philosophie der Gegenwart gewonnen. Entsprechend modifiziert kommen sie auch in der Physik und in der Geschichtswissenschaft vor, man denke – was Letztere angeht – an die kontrafaktische oder experimentelle Geschichte. Die Fragen, zu deren Beantwortung Gedankenexperimente beitragen sollen, sind im Philosophieunterricht solche, die den Disziplinen der Philosophie zuzuordnen sind, aber auch der Philosophie als Lebensform. Hin und wieder sind sie ein Mittel, um Staunen zu erzeugen, etwa bei der Betrachtung von scheinbar Selbstverständlichem, das durch das Experiment seiner Selbstverständlichkeit entkleidet wird.

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Helmut Engels

Im Folgenden wird die akademische Diskussion über Wert und Reichweite des Gedankenexperiments ausgeklammert. Vielmehr geht es ausschließlich um einen für den Philosophie- und Ethikunterricht relevanten Begriff dieses Verfahrens und seine Anwendung und Vermittlung im Unterricht.

Strukturmomente des Gedankenexperiments Idealtypisch dargestellt haben Gedankenexperimente folgende Strukturmomente:1 1) Zum Gedankenexperiment gehört eine Versuchsanordnung. Sie besteht aus einer oder mehreren Annahmen. »Annahme« bedeutet hier nicht Vermutung oder Hypothese, sondern eine bloße Vorstellung wie in dem Satz »Nehmen wir einmal an, dass morgen die Welt untergeht«. Die sprachlichen Einleitungen solcher Annahmen sind variabel, sie lauten z. B.: – Angenommen, man könnte …, – Gesetzt, man habe …, – Gehen wir einmal davon aus, dass … oder – Stellt euch vor, X wollte … Diese Annahmen könnten stets auch in einem Wenn-Satz ausgedrückt werden: – Wenn X nun die Eigenschaften c, d und e hätte, … Die Annahmen des Gedankenexperiments werden nicht, wie das bei Vermutungen oder Hypothesen der Fall ist, auf ihre Berechtigung oder Gültigkeit hin befragt. Sie sind vielmehr Katalysatoren, die bestimmte Gedanken in Gang setzen. Sie werden nur verändert, wenn sie als Katalysatoren nicht taugen. Die Versuchsanordnung kann aus einem einzigen Satz bestehen. Beispiel: »Nehmen wir einmal an, ein Wissenschaftler hätte eine Substanz erfunden, die irdische Unsterblichkeit verleiht.« Sie kann auch höchst komplex sein. Searles Das Chinesische Zimmer etwa enthält eine ganze Liste von Prämissen.2 Es heißt da: Nehmen wir an, dass …, Nehmen wir weiter an, …, Nehmen wir nun weiterhin an, dass …, Nehmen wir nun auch noch an …, Nun stellen wir uns vor, dass … und so weiter. Man kann solche Annahmen auch als die »Prämissen« des Gedankenexperiments oder als seine »Basis« bezeichnen. Sinnvoll ist oft auch die Bezeichnung »hypothetisches Szenario«. Der Begriff »Versuchsanordnung« macht deutlich, dass es um ein Experiment geht, mit dem man etwas herausfinden möchte. Dass es sich beim Gedankenexperiment um ein Experiment handelt, ist umstritten, insofern es lediglich als besondere Form der Argumentation aufgefasst wird. Für den Philosophie- und Ethikunterricht ist aber gerade der Experimentcharakter von Bedeutung, da die Schülerinnen und Schüler so zu Eigenaktivität und Selbstdenken angeregt werden. 2) Der Versuchsanordnung folgt die Versuchsanweisung. Denn eine bloße Versuchsanordnung sagt noch nichts Genaues über ihre Verwendung. Ich muss wissen, was ich mit dem Vorgestellten tun muss, welche Operationen ich durchzuführen habe.

1

2

Vgl. Engels, Helmut: »Nehmen wir an …«. Das Gedankenexperiment in didaktischer Absicht, Philosophie und Ethik unterrichten, Bd. 2, Beltz Praxis, Beltz Verlag, Weinheim/Basel 2004. Vgl. Freese, Hans-Ludwig: Abenteuer im Kopf. Philosophische Gedankenexperimente, illustr. von Pey, Alexander, Beltz Quadriga, Quadriga Verlag, Weinheim/Berlin 1995, S. 139 – 142.

Gedankenexperimente

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Die Experimentieranweisung kann als Imperativ auftreten, sie hat aber meist die Form einer Frage. Die Frage ist allerdings auch eine Art der Aufforderung. Mit Blick auf die Prämisse »Nehmen wir einmal an, ein Wissenschaftler hätte eine Substanz erfunden, die irdische Unsterblichkeit verleiht« könnte die Anweisung lauten: »Schildere, was in dem Kopf des Wissenschaftlers vor sich gehen könnte!« Als Frage formuliert kann die Anweisung lauten: »Sollte der Wissenschaftler seine Erfindung geheim halten?« Darüber ließe sich nachdenken oder diskutieren. Die Frage könnte aber auch lauten: »Sollte der Wissenschaftler diese Substanz nur besonderen Menschen wie Nobelpreisträgern oder großen Künstlern zugutekommen lassen?« Oder auch: »Würdest du diese Substanz nehmen? Wenn ja, warum, wenn nein, warum nicht?« Die Fragestellung zu ein und derselben Annahme kann recht unterschiedlich sein. Die Fruchtbarkeit bestimmter Szenarien kommt genau daher, dass sie unterschiedliche Operationen ermöglichen. In der Darstellung von Gedankenexperimenten fehlt zuweilen die auf das Szenario unmittelbar bezogene didaktische Experimentieranweisung.3 Die explizite Nennung einer solchen Anweisung ist jedoch sinnvoll, ja notwendig, wenn es darauf ankommt, dass die Schülerinnen und Schüler selbst Gedankenexperimente auf der Grundlage vorgegebener Prämissen durchführen. Denn dann müssen sie genau wissen, was zu tun ist. In literarischen Texten und Filmen, die man als die anschauliche Durchführung von Gedankenexperimenten auffassen kann, fehlt natürlich die Nennung der beiden genannten Strukturmomente. Um Gedankenexperimente handelt es sich allerdings nur, wenn sich die beiden Strukturmomente aus dem Text selbst erschließen lassen. So liegt dem bekannten Film Und täglich grüßt das Murmeltier von 1993 etwa die folgende Prämisse zugrunde:  Stell dir vor, dass ein Mensch mit einer negativen Lebenseinstellung gezwungen wird, ein und denselben Tag immer wieder zu erleben, bis er schließlich herausgefunden hat, worin ein erfülltes Leben besteht. Verleihe diesem Menschen die Erinnerung an die Tage, die sich wiederholt haben, betraue ihn mit einer beruflichen Tätigkeit und statte seine Welt mit Personen aus, die ihm mehr oder minder nahestehen und die auf sein Verhalten reagieren. Die sich hierauf beziehende Anweisung könnte lauten:  Schildere anschaulich, welche Phasen dieser Mensch durchlaufen dürfte, bis er endlich aus der Zeitfalle erlöst wird. 3) Das eigentliche Experiment, die Durchführung, besteht in den Überlegungen und Vorstellungen, die zur Realisierung der Anweisung bzw. zur Beantwortung der gestellten Frage führen. In diese Überlegungen können noch weitere Voraussetzungen einbezogen werden, etwa moralische Normen, Wertentscheidungen, Erkenntnisse der Einzelwissenschaften, Einsichten aus der Lebenserfahrung, lebensweltliches Wissen

3

Vgl. Bertram, Georg W. (Hrsg.): Philosophische Gedankenexperimente. Ein Lese- und Studienbuch, Reclam Taschenbuch 20414, Philipp Reclam jun., Stuttgart 2012.

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Helmut Engels

usw. Je nach Aufgabe können die Schüler und Schülerinnen das Experiment in Form eines diskursiven Textes oder einer anschaulichen Geschichte durchführen. Üblich jedoch sind Unterrichtsgespräche und Diskussionen. Der Ausgang des Experiments sollte nicht von vornherein feststehen, da andernfalls gar nicht von einem Experiment die Rede sein könnte. Bei der Lektüre von Gedankenexperimenten muss man allerdings immer wieder feststellen, dass von der geforderten experimentellen Offenheit nicht die Rede sein kann. Der Autor weiß genau – und er zeigt dies auch dem Leser –, was bei seinen Überlegungen herauskommen soll. Allerdings zeigt die Erfahrung, dass die Ergebnisse der Autoren keineswegs immer identisch sind mit dem, was der selbständig denkende Leser herausbringt. Die Prämissen der Experimente enthalten oft ein größeres Potential, als von den Autoren realisiert wird. Im Unterricht käme es jedenfalls darauf an, geschlossene Gedankenexperimente in echte, also resultatsoffene Experimente zu verwandeln. Zur Terminologie: In einer verkürzenden Redeweise wird auch die Kombination der Momente 1 und 2 schon als Gedankenexperiment bezeichnet, obwohl die Durchführung das eigentliche Experiment darstellt. 4) Das Gedankenexperiment sollte in einen größeren Zusammenhang eingebettet sein, in dem eine Frage aufgetaucht ist, zu deren Beantwortung das Experiment einen Beitrag liefern kann. So kann das oben angeführte Experiment zur Einnahme einer unsterblich machenden Substanz Anlass sein, über die Verantwortung des Wissenschaftlers oder über den Sinn des Todes nachzudenken. Und der Groundhog Day mag Antwort geben zu Fragen nach einem gelingenden Leben oder nach der Verbindlichkeit sittlicher Gebote und Verbote.

Das Gedankenexperiment im engen und im erweiterten Sinn Den Begriff Gedankenexperiment kann man in einem engen, strengen und in einem weiteren Sinne gebrauchen. Im Unterschied zu einer Alltagsfrage wie »Was würdest du tun, wenn du eine Million im Lotto gewonnen hättest?« besteht das Eigentümliche eines strengen Gedankenexperiments darin, dass die Irrealität, die in solchen Sätzen mit »wäre«, »würde«, »hätte« ausgedrückt wird, sozusagen potenziert ist: »Wenn du dich unsichtbar machen könntest, was würdest du dann alles tun?« In diesem WennSatz haben wir nicht nur den Irrealis, sondern zugleich eine Irrealität, die außerhalb des wirklich Möglichen liegt. Wir bewegen uns im Bereich einer bloßen Denkmöglichkeit. Dieser potenzierte Irrealis wird zuweilen als befremdlich empfunden, macht aber gerade den Reiz und auch die Fruchtbarkeit von strengen Gedankenexperimenten aus. Ihre heuristische Kraft verdanken solche Experimente dem Umstand, dass sich hier die kindliche Freude an der Aufhebung des Realitätsprinzips mit strenger Rationalität verbindet. Sie faszinieren, weil sie in uns eine Seite ansprechen, die einer früheren Entwicklungsstufe angehört, und zugleich unseren wachen Verstand herausfordern. Oft stammen die Elemente der Versuchsanordnung sozusagen aus einer Zeit, in der das Wünschen noch geholfen hat: zahllos sind Motive aus Märchen, Mythen, Fantasiegeschichten und Science-Fiction. Die – vorübergehende – Suspendierung der Wirklichkeit

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und ihrer Ansprüche hat ihren guten Sinn. Er kommt in der Redensart »Reculer pour mieux sauter« zum Ausdruck, »Zurücktreten, um weiter springen zu können«.4 Indem ich in einen früheren Zustand, in dem die Gesetze der Realität nicht gelten, regrediere, werden Problemlösungen möglich, die der bloßen Ratio nicht vergönnt sind. Aber: Die Aufkündigung des Realitätsprinzips geschieht beim Gedankenexperiment durchaus bewusst; ich weiß, dass es sich hier um bloße Annahmen handelt. Das Experiment selbst ist der Realität verpflichtet. Es bedarf neben schon genannter Voraussetzungen des Möglichkeitssinns als eines Sinnes nicht nur für das bloß Denkbare, sondern für das real Mögliche. Zu den Gedankenexperimenten im engen Sinn gehören bekannte Beispiele wie Der Seelentausch, Der unsichtbar machende Ring, Die Erlebnismaschine, Reise in die Vergangenheit und Flächenland. Sie gelten als typische Gedankenexperimente. Weniger befremdlich, vielleicht auch weniger faszinierend sind Gedankenexperimente, deren Annahmen im Bereich des real Möglichen liegen. Zu einem erweiterten Begriff des Gedankenexperiments gehören u. a. folgende Formen: Das Gedankenexperiment fungiert als Ersatz für ein Realexperiment, das nicht durchgeführt werden kann oder darf, sei es aus technischen Gründen, aus Kostengründen oder aus moralischen Gründen. Der Film Das Experiment spielt ein Experiment durch, in dem eine Gruppe von Studenten in Gefangene und Gefängniswärter eingeteilt wird. Die Studenten identifizieren sich mit ihren Rollen so sehr, dass die Folgen verhängnisvoll sind. Das Realexperiment, das Stanford-Prison-Experiment, musste aus rechtlichen und moralischen Gründen abgebrochen werden. Erinnert sei auch an das Buch Die Welle, das von einem Realexperiment erzählt, das aus moralischen Gründen nicht zu Ende geführt werden konnte. Zu analysierende Fallbeispiele, wie man sie aus dem Jurastudium oder der Ethik kennt, werden dann als Gedankenexperimente bezeichnet, wenn es sich um ungewöhnliche, eher unwahrscheinliche, extreme Fälle handelt, die ein Problem verdeutlichen sollen. So geht es in dem kleinen Text Die Bergbahn um die Entscheidung, ob der Fahrer der Bahn den Tod eines Gleisarbeiters in Kauf nehmen darf, um fünf aus dem Nebel auftauchende Menschen zu retten.5 Utopien sind großangelegte mentale Experimente. Hier wird durchgespielt und ganz konkret geschildert, welche Folgen sich bei der Verwirklichung bestimmter Prinzipien oder Maßnahmen in Staat und Gesellschaft zeigen würden, man denke an die Verwirklichung der Gleichheit der Menschen, an Besitzlosigkeit, an Anarchie im Sinne von Herrschaftslosigkeit, an Demokratie in allen Lebensbereichen, an die staatlich verordnete Erzeugung von Glück usw. Beispiele positiver Utopien sind Ökotopia von Ernest Callenbach6 und Aldous Huxleys Eiland.7 Negative Utopien zeigen, welche Folgen sich einstellen, wenn sich gegenwärtige Ten-

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7

Vgl. Koestler, Arthur: Diesseits von Gut und Böse, Scherz Verlag, Bern/München/Wien 1965. Freese, Hans-Ludwig: Abenteuer im Kopf. Philosophische Gedankenexperimente, a.a.O., S. 268. Callenbach, Ernest: Ökotopia. Notizen und Reportagen von William Weston aus dem Jahre 1999, übers. von Clemeur, Ursula; Merker, Reinhard, Rotbuch Verlag, Berlin 1978. Huxley, Aldous: Eiland, übers. von Herlitschka, Marlys, Piper Verlag GmbH, München 1973.

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denzen ungehindert fortsetzen würden.8 Die experimentelle Umkehrung lautet allgemein: »Nehmen wir an, es verhielte sich gerade umgekehrt, als gewöhnlich geglaubt wird!« Oder: »Man treffe Maßnahmen, die den üblichen entgegengesetzt sind!« Bei der Umkehrung kann es wichtige Ergebnisse geben (erinnert sei an Kopernikus, Kant, Marx und Einstein). Als Beispiel die folgende Forderung: »Man sollte Kranke bestrafen und ins Gefängnis stecken und Kriminelle in Krankenhäusern therapieren.« Das Durchdenken einer so absurden Vorstellung kann zu bemerkenswerten Ergebnissen hinsichtlich der Freiheit und Verantwortungsfähigkeit des Menschen führen. Weitere Beispiele: – Das Mittel heiligt den Zweck. – Der Mensch ist nicht die Krone der Schöpfung, er ist vielmehr das Entsetzen aller übrigen Lebewesen. – Gott ist nicht männlich, sondern weiblich. – Maßstab des menschlichen Handelns sollte nicht die Vernunft, sondern das Gefühl sein. – Wirklichkeit ist nichts Vorfindliches, sie ist etwas vom Menschen Hervorgebrachtes. Bei manchen Verfahren steht nicht von vornherein fest, ob es sich um Gedankenexperimente im engen Sinne handelt oder nicht. Ein vielfältig anzuwendendes Verfahren ist das des Fremden Blicks. Ein Szenario, das real nicht möglich ist, lautet: »Stell dir vor, ein Chinese aus der Zeit vor tausend Jahren kommt dank einer Erfindung zu uns und geht durch eine moderne Großstadt!« Dagegen enthält die Formulierung »Nehmen wir an, ein Afrikaner aus einem urwüchsigen Dorf käme zu uns und verhielte sich so wie die europäischen Touristen bei ihm!« eine real mögliche Annahme.

 Das Gedankenexperiment im Unterricht Didaktische Qualitätsstufen Der Einsatz von Gedankenexperimenten im Unterricht kann auf mannigfache Weise geschehen, aber nicht alle Möglichkeiten haben den gleichen didaktischen Wert. Folgende Stufen könnten unterschieden werden: 1) Das vorgegebene Gedankenexperiment wird zur Gänze – wie bei der Arbeit mit Texten üblich – gelesen, interpretiert und einer kritischen Betrachtung unterzogen. Ähnliches gilt für die Besprechung von literarischen Texten und Filmen, die »verdeckte« Gedankenexperimente sind. Die Schülerinnen und Schüler erfahren, welche Momente ein Gedankenexperiment ausmachen und welche Funktionen es haben kann. Gegen

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Vgl. dazu z.B. Huxley, Aldous: Schöne Neue Welt, übers. von Herlitschka, Herberth E., dritte revidierte Übersetzung, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1981.

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dieses Vorgehen ist nichts einzuwenden. Gleichwohl gibt es didaktisch effektivere Möglichkeiten des Einsatzes von Gedankenexperimenten im Unterricht. 2) Die Schülerinnen und Schüler bekommen schriftlich oder in Form eines Vortrags lediglich das Szenario des Gedankenexperiments. Nach der Überprüfung, ob alle die Versuchsanordnung verstanden haben, wird die Experimentieranweisung, meist in Form einer Frage, vorgetragen. Jetzt versuchen die Schülerinnen und Schüler in Einzeloder Gruppenarbeit oder unmittelbar im Unterrichtsgespräch, diese Aufgabe durchzuführen. Gefordert sind Selbstdenken, Phantasie und Kreativität. Die Ergebnisse des Experiments werden mündlich vorgetragen und gemeinsam erörtert. Wichtig ist hier, dass die Schüler selbst zu Experimentierenden werden und nicht einfach nachvollziehen und bedenken, was andere vorgedacht haben. Manchmal ist es nötig, die Prämissen zu ändern oder zu ergänzen, damit die Klasse mit ihnen sinnvoll arbeiten kann. Hierzu ein bekanntes Beispiel, Spaemanns Dauereuphorie:

»Stellen wir uns einen Menschen vor, der in einem Operationssaal auf einem Tisch festgeschnallt ist. Er steht unter Narkose. In seine Schädeldecke sind einige Drähte eingeführt. Durch diese Drähte werden genau dosierte Stromstöße in die Gehirnzentren geleitet, die dazu führen, dass dieser Mensch sich in einer Dauereuphorie befindet. Sein Gesicht spiegelt den Zustand äußersten Wohlbehagens. Der Arzt, der das Experiment leitet, erklärt uns, dass dieser Mensch mindestens weitere 10 Jahre in diesem Zustand bleiben wird. Wenn es nicht mehr möglich sein wird, den Zustand zu verlängern, werde man ihn mit dem Abschalten der Maschine unverzüglich schmerzlos sterben lassen. Der Arzt bietet uns an, uns sofort in die gleiche Lage zu versetzen. Und nun frage sich jeder, ob er freudig bereit wäre, sich in diese Art von Seligkeit versetzen zu lassen?« 9 (Im Übrigen haben wir hier eine deutliche Trennung von Versuchsanordnung und Experimentieranweisung.) Die meisten Schüler und Schülerinnen verneinen die von Spaemann gestellte Frage, kommen bei ihrer Begründung aber nicht zum Wesentlichen. Es heißt da: – »Schrecklich, auf dem Tisch zu liegen, mit Drähten im Kopf. Ich würd’s nicht machen.« – »Nee, den Ärzten da so ausgeliefert zu sein auf dem Operationstisch. So wehrlos. Ich würde Nein sagen.« – »10 Jahre, das ist mir doch zu wenig. Nein, nicht mit mir.« Da sich diese Gründe für die Ablehnung nur auf Akzidentelles beziehen, muss man die Prämissen ändern. Man sagt den Schülern: »Dann stellt euch eben eine Art Stargate vor, durch das man hindurchgehen muss, um eine Dauereuphorie zu erreichen.« Jetzt sind die ersten beiden Bedenken – Drähte im Kopf, Wehrlosigkeit – beseitigt. Und was die

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Spaemann, Robert: Moralische Grundbegriffe, BsR 256, Verlag C.H. Beck, München 1982, S. 30.

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Lebensdauer angeht, so kann man sagen: »O.K., dann stellt euch vor, ihr lebt dort genauso lange, wie ihr in der hiesigen Wirklichkeit leben würdet.« Jetzt kann angemessener darüber gesprochen werden, welche tieferen Gründe es geben könnte, die für oder gegen eine positive Beantwortung der Frage sprechen. Es zeigt sich auch, dass die Schülerinnen und Schüler andere Argumente für die Verneinung der Frage als Spaemann anführen. 3) Hier ist die Aktivität der Schüler gegenüber den vorigen Punkten noch gesteigert: Auf der Grundlage vorgegebener Prämissen und entsprechender Aufgaben schreiben die Schülerinnen diskursive Texte oder – besser noch – kleine Geschichten, die als konkrete und anschauliche Durchführung des Experiments gelten können.10 Bei Letzterem muss eine besondere Sorgfalt auf die Formulierung der Aufgabenstellung gelegt werden. Hierzu ein Beispiel: Im Zusammenhang mit der Bedeutung von Regeln im menschlichen Zusammenleben bietet sich in der Sekundarstufe I das Thema Verkehrsregeln an. Viel zu weit ginge die Aufgabe: »Schildere die Folgen des Fehlens von Verkehrsregeln!« Sie ließe wegen ihrer vagen Formulierung die Schüler im Stich. Genauer wäre die Formulierung: »Stelle dir eine moderne Großstadt vor, in der es keine Verkehrsregeln gibt, und schildere, wie es dort zugeht!« Das ginge zur Not. Angemessen dagegen wäre die letzte Formulierung, wenn man sie durch den Einschub präzisierte: »Du stehst an einer Straßenkreuzung und beobachtest den Verkehr.« Voraussetzung für ein Gelingen ist hier, dass die Aufgabenstellung möglichst eingeengt, möglichst konkret wird. Wer im Unterricht Gedankenexperimente schreiben lassen möchte, muss sich außerdem überlegen, wie er den Schreibprozess erleichtern könnte. Eine Hilfe kann darin bestehen, einen möglichen Anfang der Geschichte vorzugeben, damit die Schüler ins Schreiben kommen. Ein Gedankenexperiment, mit dessen Hilfe man sich bewusst machen kann, was für ein Mensch man ist, lautet: »Stell dir vor, man könne in Sekunden ein Duplikat von dir machen. Alles ist gleich: Körperliches, Geistiges, Seelisches, Fähigkeiten, Erinnerungen, Einstellungen usw. Möchtest du mit ›dir‹ zusammenleben oder zusammen arbeiten? Schreibe deine Überlegungen in Form einer Geschichte nieder.« Die Einstiegshilfe könnte wie folgt aussehen:

Als ich wieder zu Bewusstsein kam, saß mir gegenüber, ebenfalls in einem bequemen Sessel, mein Ebenbild. Ich schaute verblüfft hin: So sah ich also aus, von außen betrachtet. Mein Gegenüber grinste und sagte: »Schon komisch, sich so zu sehen.« Wir standen beide gleichzeitig auf. Ich sagte: »Was machen wir denn heute?« »Das wollte ich dich auch gerade fragen.« Wir beschlossen, erst einmal in die Stadt zu gehen.

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Vgl. Engels, Helmut: »Literarisches Philosophieren. Überlegungen und Beispiele zu einem effektiven Schreibmodus«, in: Ethik & Unterricht 14, 2003, Heft 1: Methoden II, S. 16 – 23 und vgl. Engels, Helmut: »Nehmen wir an …«. Das Gedankenexperiment in didaktischer Absicht, a.a.O., S. 190 – 207.

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Wollt ihr wissen, wie’s weitergeht? O.K. Ich erzähle euch mal, wie es mir – oder besser: uns – ergangen ist. Also: In der ersten Zeit war es … Es ist nun keineswegs notwendig, dass die Schüler hier weiterschreiben. Sie können diese Einleitung auch als Beispiel für einen eigenen Anfang der Geschichte nehmen. Eine weitere Schreibaufgabe besteht darin, den Schülerinnen und Schülern nur den – mehr oder minder umfangreichen – Anfang eines literarischen Gedankenexperiments zu geben und sie weiterschreiben zu lassen. Beispiel: Der Unsterbliche von E. Bencivenga.11 Eine Empfehlung für die Unterrichtsvorbereitung: Die Aufgaben zu Gedankenexperimenten sollten so formuliert werden, dass sie nicht ins Private und Persönliche eindringen und eine Art Nötigung entsteht, Dinge auszuplaudern, die man eigentlich für sich behalten möchte. Überall da, wo die Gefahr des Sich-Outen-Müssens besteht, sollte die Möglichkeit eingeräumt werden, sich auf einen unpersönlichen Standpunkt zurückzuziehen und Formulierungen zu verwenden wie »Folgendes könnte geschehen …« oder »Ich kenne Menschen, die dies so und so beurteilen würden.« 4) Im Sinne einer Methodenkompetenz wäre es erstrebenswert, wenn die Schülerinnen und Schüler lernten, sich selbst die Voraussetzungen von Gedankenexperimenten – Szenario und Experimentieraufgabe – auszudenken und die Experimente selbst durchzuführen. Dies können sie nur, wenn sie wissen, wie ein Gedankenexperiment strukturiert ist und wie es funktioniert. Hilfreich ist hier die Kenntnis einer Reihe von Verfahren, mit deren Hilfe hypothetische Szenarien gebildet werden (s. u.). Sie sollten auch dazu ermuntert werden, in Diskussionen selbständig Gedankenexperimente einzubringen. Zur Einübung in das Entwerfen von Gedankenexperimenten kann man ihnen entsprechende Aufgaben geben. Einige Beispiele: »Denke dir ein Gedankenexperiment aus, mit dessen Hilfe du dir klar machen kannst, – – – –

ob man immer die Wahrheit sagen sollte, wie Routinen im täglichen Leben zu bewerten sind, wie man mit der eigenen Lebenszeit umgehen sollte, ob staatliche Gewalt notwendig ist.«

Schüler sind hier oft kreativer als wir Lehrerinnen und Lehrer. An welcher Stelle innerhalb einer Unterrichtsreihe kann das Gedankenexperiment sinnvoll eingesetzt werden? Eine allgemeine Antwort könnte lauten: In Abhängigkeit von der besonderen Funktion des Gedankenexperiments kann es in jeder Phase sinnvoll eingesetzt werden, denn es kann der Eröffnung eines Fragehorizonts ebenso dienen wie als Zwischenglied einer längeren Argumentationskette oder als Schluss- und Höhepunkt einer sachlichen Auseinandersetzung oder auch der Überprüfung des Besprochenen.

11

Freese, Hans-Ludwig: Abenteuer im Kopf. Philosophische Gedankenexperimente, a.a.O., S. 300 – 301.

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Wozu Gedankenexperimente im Unterricht? Bei der Beschäftigung mit Gedankenexperimenten lernen die Schülerinnen und Schüler eine effektive Methode kennen, die sich seit der Antike bewährt hat. Sie zeichnet sich vor allem durch ihre heuristische Kraft aus. Bei der Durchführung von Gedankenexperimenten üben die Schülerinnen und Schüler das hypothetische Denken, das für die Bewältigung des Alltags ebenso wichtig ist wie für ein verantwortliches Handeln; sie stärken ihre Fähigkeit zur Imagination, sie gewöhnen sich daran, sich das Unübliche, Andersartige, Unvertraute, Fremde, Neue und Unerprobte vorzustellen. Dass hier die Lust am Experimentieren geweckt wird, versteht sich von selbst. Wer Gedankenexperimente selbst durchführt, der lernt u. a.: ¬ ¬ ¬ ¬ ¬ ¬ ¬ ¬

die eigenen Vorstellungen zu klären, Bekanntes, aber nicht Erkanntes zu untersuchen und zu begreifen, sich selbst und andere besser zu verstehen, Normen und Werte zu entdecken, Sinn zu erfassen, mögliche Lebensweisen zu erkunden, Perspektivwechsel durchzuführen, Gefahren zu erkennen usw.

Wichtig auch: Mit ihrer Hilfe kann man Argumente entwickeln und Theoreme plausibel machen oder falsifizieren.

 Zum Erfinden von Gedankenexperimenten Es ist nicht schwer, Gedankenexperimente für den Unterricht ausfindig zu machen. Eine Fülle von Beispielen findet sich in: Abenteuer im Kopf12, »Nehmen wir an …« 13, Philosophische Gedankenexperimente14 (obgleich hier nicht alle Beispiele überzeugen) und vor allem in der großartigen Sammlung von Joachim Eberhardt15. Mit Blick auf Fähigkeiten, Bedürfnisse und Alter der Lerngruppe ist es jedoch sinnvoll, wenn Lehrerinnen und Lehrer selbst Szenarien von Gedankenexperimenten und die entsprechenden Versuchsanweisungen entwerfen.16 Anregungen dazu gibt es genug. So kann man etwa bekannte Beispiele abwandeln. Hoimar von Ditfurth stellt die Frage, ob es eigentlich im Kosmos dunkel würde, wenn alle Augen verschwänden. Es spricht nichts dagegen, sich

12 13 14 15

16

Freese, Hans-Ludwig: Abenteuer im Kopf. Philosophische Gedankenexperimente, a.a.O. Engels, Helmut: »Nehmen wir an …«. Das Gedankenexperiment in didaktischer Absicht, a.a.O. Bertram, Georg W. (Hrsg.): Philosophische Gedankenexperimente. Ein Lese- und Studienbuch, a.a.O. Eberhardt, Joachim: Lexikon philosophischer Gedankenexperimente (2008), auf: https://www.jg-eber hardt.de/doku.php?id=gedankenexperimente:liste_zeitlich (Stand: 17.05.2019). Tagung der UNESCO-Projekt-Schulen 2009: AG 1 Gedankenexperimente, auf: www.ups-newsletter.de/ index.php?id=81 (Stand: 11.11.2013).

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zu einer ähnlichen Frage anregen zu lassen, etwa zu dieser: »Welche Folgen hätte es, wenn alle Menschen mit einem Mal nur noch schwarzweiß sehen könnten?« Im Zusammenhang mit Ästhetik wäre dieses Experiment brauchbar. Den Stoff für eigene Experimente bieten auch Filme wie Clockwork Orange, Blade Runner, Gattaca, Die Truman Show, Matrix, Der 200 Jahre Mann, Was Frauen wollen, A.I. – Künstliche Intelligenz, Avatar, Inception oder Elysium. Bestimmte literarische Werke, vor allem Science-Fiction und Fantasy, sind implizite Gedankenexperimente und können Ideen zu Eigenem liefern. Man denke an Autoren wie Edwin Abbott, William Golding, Aldous Huxley, George Orwell, Stanislaw Lem, Ursula K. Le Guin, Isaac Asimov, Ray Bradbury, Andreas Schlüter und Charlotte Kerner. Das folgende Gedankenexperiment ist Goldings Roman Der Herr der Fliegen verpflichtet:

Nehmen wir Folgendes an: Zehn Mädchen und zehn Jungen im Alter zwischen zehn und vierzehn stranden auf einer einsamen Tropeninsel mit einem erloschenen Vulkan. Es gibt keinen Erwachsenen. Die einzigen Werkzeuge, die man hat: drei Taschenmesser. Einige der Kinder haben Brillen. Auf der Insel gibt es einen Bach mit Trinkwasser. Tropenfrüchte gibt es in Hülle und Fülle. Die einzigen größeren Tiere sind Wildschweine. In der durch ein Korallenriff geschützten Lagune gibt es Fische, Krabben und Muscheln. Das Wetter ist meist sehr angenehm, es kann aber auch Wolkenbrüche geben.  Wenn ihr zu dieser Gruppe gehörtet: Was würdet ihr tun? Welche Regeln würdet ihr euch geben? Zeichnet zuvor gemeinsam die Insel von oben gesehen auf einen Papierbogen. Erfahrungsgemäß fangen die Schülerinnen und Schüler schon bei dem Entwurf der Insel an, Gedanken über Lebensweise und Regeln auszutauschen. Auch außerhalb von Literatur und Film findet sich Anregendes. Hierzu zählt Alan Weismans eher naturwissenschaftlich orientiertes Gedankenexperiment: Die Welt ohne uns. Reise über eine unbevölkerte Erde.17 Die entsprechende Dokufiktion-Serie lautet: Zukunft ohne Menschen (Life After People). Das hier Geschilderte ist interessant, aber nur hier und da philosophisch relevant. Den Dreh zum Philosophischen erreicht man durch folgende Umformulierung der Versuchsanordnung:

Im Rahmen eines großen Experiments wollen Aliens alle Menschen von der Erde wegbeamen an einen Ort, wo es ihnen gut geht. Sie geben den Menschen hundert Tage Zeit bis zum Beginn der Aktion.  Schreibt auf, worum sich die Menschen in diesen hundert Tagen kümmern sollten. Denkt dabei auch an die Tiere (Nein, die Menschen dürfen kein Tier mitnehmen), an mögliche Katastrophen, die eintreten können, wenn die Menschen verschwunden sind.

17

Weisman, Alan: Die Welt ohne uns. Reise über eine unbevölkerte Erde, übers. von Kober, Hainer, Piper Verlag GmbH, München 2007.

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Jetzt kommt in den Blick, in welchem Maße Tiere von uns abhängig sind, Stichworte: Massentierhaltung, Versuchstiere, Pets, Haustiere, Aquarien, Zoo und Zirkus. Und es kommt in den Blick, wo mögliche Katastrophen lauern, denen die Menschen entgegensteuern sollten. Die ethische Dimension wird so eröffnet. Jonas’ sog. ökologischer Imperativ kann den größeren Rahmen bilden: »Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.« Auch Lieder (z. B. Imagine von John Lennon) und Bilder (z. B. The Farm von Alexis Rockman) bieten Anregungen zu eigenen Erfindungen. Ein allgemeiner Ratschlag könnte lauten: Mache ungeniert Anleihe bei Märchen, Mythen, Sagen, Unterhaltungsfilmen und Comics. Der fliegende Teppich aus dem Märchen lässt sich genauso gut für ein Gedankenexperiment verwenden wie Harry Potters Mantel, der unsichtbar macht. Und die Zeitraffung im Mönch von Heisterbach ist genauso brauchbar wie der Tausch der Seelen von Mann und Frau oder Vater und Sohn in Hollywoodfilmen. Erfahrene Experimentatoren würden für einen Entwurf von Versuchsanordnungen noch folgende Vorschläge machen:  Lass in Gedanken verschwinden, was es gibt: Dinge, Fähigkeiten oder Vorstellungen.  Erfinde ideale Wesen oder Wesen, die ungeahnte Fähigkeiten haben.  Hebe Gattungsgrenzen auf, etwa die zwischen Mensch und Tier, Mensch und Automat, Roboter und Tier, Tier und Pflanze.  Denke dir Maschinen und Apparate aus, die etwas können, was noch nicht möglich ist oder auch nie möglich sein wird.  Lass Unbelebtes lebendig sein, statte es mit Bewusstsein aus.  Spiele mit der Zeit, reise in ihr vor und zurück, mache Neuanfänge möglich.  Schildere Zukünftiges als Wünschbares, Optimales, Ideales.  Stell dir vor, in Zukunft sei das vollständig verwirklicht, was sich heute schon tendenziell ankündigt.  Vervielfältige, was singulär ist, mache zu Singulärem, was es in großer Anzahl gibt.  Vergrößere oder verkleinere weit über das mögliche Maß hinaus.  Denke dir ein irreales Bild aus, das als Analogon zu einem problematischen Sachverhalt dienen kann.  Nimm als wahr an, was keineswegs bewiesen ist, und arbeite damit.  Stell dir vor, du wüsstest bestimmte Dinge nicht, die dir durchaus vertraut sind.  Denke dir als allgemein wirklich, was nur hier und da zutrifft.  Gehe davon aus, du könntest einen bestimmten Bereich der Wirklichkeit mit fremden Sinnen wahrnehmen oder aus einer fremden Perspektive betrachten.  Blende als nichtexistierend aus, was die Beurteilung des Kerns einer Sache stören würde. Erläuterung zum zuletzt genannten Ratschlag: Dieses Verfahren kann man auch als »fokussierende Abstraktion« bezeichnen, wobei »Abstraktion« als »absehen von etwas« oder nach Kant als »absondern von etwas« zu verstehen ist. Diese Art der Abstraktion wird durchgeführt, wenn bei einer Sachanalyse von allen akzidentellen Fak-

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toren, die in der Realität eine Rolle spielen, abgesehen und das Wesentliche der Sache scharf in den Blick genommen werden soll. Ein Beispiel: Die Gegner der Todesstrafe haben ein breites Spektrum von Argumenten, die alle gegen die Todesstrafe sprechen und in ihrer Breite auch überzeugend sind. Wenn man allerdings den Kern des Problems Todesstrafe herausarbeiten will, so empfiehlt sich folgendes Vorgehen:

Nehmen wir an, die Tat des Angeklagten sei absolut korrekt erfasst, so dass es keinen Justizirrtum geben kann. Nehmen wir ferner an, Richter und Geschworene richteten sich streng nach dem Gesetz und ließen sich nicht durch Vorurteile oder Neigungen beeinflussen. Nehmen wir ferner an, dass die Vollstreckung keinerlei negative Auswirkungen hätte: Die Mentalität eines Volkes wird nicht beeinflusst; Henker, begleitender Arzt, Angehörige des Strafvollzugs, Staatsanwalt und Richter leiden nicht unter dem Urteil und seiner Vollstreckung; es gibt keine Angehörigen, denen die Diskriminierung wegen des Urteils Nachteile bringt oder denen die Art der Vollstreckung seelische Schmerzen zufügt; die Hinrichtung ist für den Delinquenten nicht grausamer als eine lebenslange Haft. Wenn all dies ausgeblendet ist, kommt das Wesentliche der Todesstrafe in den Blick: Wäre es jetzt sittlich gerechtfertigt, einen Menschen zu töten, der gemordet hat? Die isolierende, das Wesentliche herauspräparierende Abstraktion schiebt beiseite, was nicht das Eigentliche des Problems der Todesstrafe ausmacht, und ermöglicht so eine Diskussion, ob Menschen das Recht haben, um der Gerechtigkeit willen das Leben eines Menschen auszulöschen. Kaum eine Erkenntnismethode ist spannender und fruchtbarer als das Gedankenexperiment. Es verbindet Phantasie mit Rationalität, Gefühl mit dem Denken, Offenheit mit Strenge; seine Motivationskraft beruht nicht zuletzt auf seiner Anschaulichkeit.

Quelle: Engels, Helmut: »Gedankenexperimente«, in: Nida-Rümelin, Julian; Spiegel, Irina; Tiedemann, Markus (Hrsg.): Handbuch Philosophie und Ethik, 2 Bde., Bd. 1: Didaktik und Methodik, UTB 8617, Ferdinand Schöningh, Paderborn 2015, S. 187 – 196 (vom Autor für diesen Band überarbeitet).

Das Gedankenexperiment Paul Georg Geiß

 Gedankenexperiment (hermeneutisch, analytisch, spekulativ) Gedankenexperimente werden seit der Antike als Methode verwendet, um philosophische Erkenntnisse zu gewinnen oder philosophische Einsichten zu vermitteln. Seit damals faszinieren Gedankenexperimente viele Menschen aufgrund ihres spielerischen Charakters und ihrer kontrafaktischen Annahmen, die in Kombination mit einem methodisch-strengen Denken überraschende Einsichten hervorbringen und unerwartete Schlussfolgerungen nahelegen. Aus diesem Grunde wurden sie seit den Anfängen der Philosophie auch als beliebtes didaktisches Mittel für das Philosophieren eingesetzt. Eines der bekanntesten Gedankenexperimente der antiken Philosophie findet sich im zweiten Buch von Platons Politeia, in dem Platons Bruder, Glaukon, Sokrates demonstrieren möchte, dass Menschen nur aufgrund der eigenen Ohnmacht und Schwäche Gerechtigkeit walten lassen:1

Der Ring des Gyges2

Dass aber auch die Menschen, die (Gerechtigkeit) üben, nur aus ihrer Ohnmacht, nicht Unrecht tun zu können, also nur wider Willen gerecht sind, das können wir am besten unter folgender Annahme erkennen. Wir geben dem Gerechten wie Ungerechten die Möglichkeit, frei nach ihrem Willen zu handeln; hierauf folgen wir ihnen und beobachten, wohin jeden sein Trieb führt. Die Möglichkeit, von der ich spreche, wäre am besten dann gegeben, wenn die Menschen die Kraft hätten, wie sie der Sage nach Gyges, der Ahnherr des Lyders Kroisos, gehabt hat. Dieser stand nämlich als Hirt im Lohndienst bei dem damaligen Herrn von Lydien. Unter starkem Regen und Beben barst die Erde und auf seinem Weideplatz entstand ein Spalt. Da er dies voll Staunen sah, stieg er hinab und erblickte dort unter anderen wunderbaren Dingen, von denen die Sage erzählt, ein hohles Ross aus Erz mit kleinen Türen; als er sich hineinbeugte, sah er drinnen einen Mann, offenbar tot, überlebensgroß, ohne irgendetwas am Leib, nur mit einem goldenen Ring am Finger; ihn zog er ab und stieg heraus. Als sich die Hirten, wie gewöhnlich, zusammenfanden, um dem König den Monatsbericht über die Herden zu geben, kam

1

2

Platon: Der Staat (Politeia), übers. und hrsg. von Vretska, Karl, RUB 8205, Philipp Reclam jun., Stuttgart 1982, 359 c – 360 d (S. 126 – 128). Ibid.

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auch er hin, mit dem Ring am Finger. Als er nun unter den anderen saß, drehte er zufällig den Stein des Ringes gegen sich ins Handinnere; dadurch wurde er seinen Nachbarn unsichtbar, und sie sprachen über ihn, als wäre er nicht da. Und er wunderte sich, fasste wieder den Ring und drehte den Ring nach auswärts: und schon war er wieder sichtbar. Und da er dies gewahr wurde, erprobte er die Kraft des Ringes und so geschah es ihm: drehte er den Stein nach innen, wurde er unsichtbar, drehte er nach außen, sah man ihn. Da er dies erkannte, erreichte er sofort die Wahl unter die Königsboten. Dort angekommen, verführte er die Gattin des Königs, verschwor sich mit ihr gegen den König, tötete ihn und ergriff die Macht. – Wenn es nun zwei solcher Ringe gäbe, und den einen sich der Gerechte, den andern der Ungerechte ansteckte, dann wäre wohl keiner aus solchem Stahl, dass er der Gerechtigkeit treu bliebe und es über sich brächte, von fremdem Gut abzustehen und es nicht zu berühren; wo er doch vom Markt ohne Angst und unbemerkt nach Belieben nehmen, in jedes beliebige Haus eintreten, mit jeder Frau verkehren, jedermann töten und aus dem Gefängnis befreien, kurz unter den Menschen wandeln könnte wie ein Gott. Bei solchem Vorgehen würde er sich in nichts von dem Ungerechten unterscheiden, sondern beide gingen denselben Weg. Dies wäre also – so könnte man sagen – ein gewichtiger Beweis dafür, dass man nur unter Zwang, nie also aus eigenem Willen gerecht handle, weil eben das Gerechte für den einzelnen kein Gut sei. Wo einer sich nur fähig fühle zum Unrecht, dort tue er es auch. Denn jedermann erwartet von der Ungerechtigkeit für sich persönlich viel größere Vorteile als von der Gerechtigkeit, und er hat recht, wie jedermann sagen wird, der über dieses Thema spricht. Denn wenn einer trotz einer so günstigen Gelegenheit kein Unrecht begeht und sich nicht an fremdem Gut vergreift, dann halten ihn alle, die ihn sehen, für den einfältigsten und törichtesten Menschen; aber voreinander würden sie ihn loben und sich belügen, nur aus Angst, ein Unrecht zu erleiden. – So weit dies also. Helmut Engels bezeichnet solche Gedankenexperimente als rein oder als Gedankenexperimente im engeren Sinn, weil sie alle typischen Merkmale aufweisen.3

 Merkmale eines reinen Gedankenexperiments Im Gegensatz zu der inflationären Verwendung des Begriffs »Gedankenexperiment« für alle Formen von Überlegungen, die mit der Frage »Was wäre, wenn …?« beginnen, schlägt Engels vor, Gedankenexperimente anhand von vier Strukturmerkmalen zu definieren:4 1) Zu jedem Gedankenexperiment gehört eine Versuchsanordnung, die im Gegensatz zu einem realen Experiment nur in der Vorstellung durchgeführt wird. Ein reines Ge-

3

4

Engels, Helmut: »Nehmen wir an …«. Das Gedankenexperiment in didaktischer Absicht, Philosophie und Ethik unterrichten, Bd. 2, Beltz Praxis, Beltz Verlag, Weinheim/Basel 2004, S. 28 – 30. Ibid., S. 14 – 17.

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dankenexperiment beruht allerdings auf kontrafaktischen Grundannahmen, die nicht real umsetzbar sind. Solche Annahmen könnten sein: »Stelle dir vor, du kannst noch einmal mit der Schule beginnen.« oder »Gehen wir davon aus, dass es ein Mittel gibt, das Unsterblichkeit verleiht.«. Typisch für diese zum Teil kontrafaktische Versuchsanordnung sind die genannten einleitenden Worte: »Stellen wir uns einmal vor …« oder »Angenommen, man könnte …«. Solche Grundannahmen können weder wahr noch falsch sein, da sie aufgrund ihres kontrafaktischen Charakters nicht überprüfbar sind. Sie sind daher keine falsifizierbaren wissenschaftlichen Hypothesen, sondern haben eher die Funktion von Katalysatoren für die Initiierung bestimmter philosophischer Denkprozesse. 2) Wie bei einem realen Experiment muss die Versuchsanordnung auch mit einer Frage oder einem Fragenkomplex verbunden sein: Unter der Annahme, dass jemand noch einmal mit seiner Schullaufbahn beginnen kann, wäre ein solcher Fragenkomplex: Würdest du die gleichen Schulentscheidungen treffen? Was würdest du anders machen? Was würdest du auf jeden Fall vermeiden? Oder, wenn es ein Mittel für die Untersterblichkeit gäbe: Würdest du dieses Mittel einnehmen? Würdest du wollen, dass jemand – ob nahestehend oder nicht – dieses Mittel einnimmt? Diese Annahmen eines Gedankenexperiments legen noch nicht fest, wie dieses durchgeführt werden soll. Sie bieten einen gewissen Spielraum, der durch den Fragekomplex näher bestimmt wird. Durch die Frage »Würdest du diese Mittel verbieten, wenn du die Macht dazu hättest?« würde das Gedankenexperiment eine stärkere politische Dimension bekommen und die Frage berühren, welche Bereiche des Zusammenlebens überhaupt politisch beeinflusst werden sollten. 3) Das eigentliche Gedankenexperiment besteht in der Folge aus den Überlegungen zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragen. In diesen Überlegungen können weitere Annahmen getätigt, moralische Normen und Alltagserfahrungen einbezogen oder es kann auf wissenschaftliche Erkenntnisse zurückgegriffen werden. Wenn jemand noch einmal seine Schullaufbahn bestimmen könnte, wäre es für ihn vielleicht wichtig zu wissen, ob er auch in einer anderen Schule seine besten Freunde kennenlernen würde. Oder: Wenn es ein Mittel für die Unsterblichkeit gibt, macht es einen Unterschied, ob dieses nur von einem selbst oder von allen eingenommen werden kann? Wichtig ist dabei, dass der Ausgang des Experiments offen bleibt und verschiedene Denkmöglichkeiten entstehen lässt. 4) Gedankenexperimente stehen in einem größeren Rahmen, der sich auf ein philosophisches Problem oder eine entsprechende Fragestellung bezieht. Für dieses Problem wird eine Erweiterung einer Erkenntnis angestrebt. So kann in einem Prolog ein philosophisches Problem aufgeworfen werden, während in einem Epilog die gewonnenen Einsichten bewertet und mögliche Konsequenzen daraus gezogen werden. Gedankenexperimente sind daher keine bloßen Phantasiereisen oder Gedankenspiele im Konjunktiv des »Was wäre, wenn?« (»Was wäre, wenn ich in der Lotterie gewonnen hätte?« »Wie wäre es, wenn ich einen Schacht durch die Erde graben könnte?«). Erst durch ein philosophisches Problem wird aus einem Gedankenspiel ein philosophisches Gedankenexperiment. Wenn wir diese vier idealtypischen Strukturmerkmale auf Platons »Ring des Gyges« beziehen, wird sichtbar, dass es sich um ein reines Gedanken-

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experiment handelt. In Zeile 1 – 2 kann ein philosophisches Problem als Prolog des Rahmens bestimmt werden: Handeln Menschen nur widerwillig gerecht, weil sie aufgrund ihrer eigenen Schwäche befürchten müssen, Unrecht durch die Stärkeren zu erleiden, oder geschieht ihr Handeln auch aus einer Position der Stärke? (Vgl. Pascal: Pensée 298) Der Prolog weist gleichzeitig darauf hin, dass wir dieses Problem »am besten unter folgender Annahme erkennen« können: Die Versuchsanordnung besteht darin, dass einem Gerechten und einem Ungerechten – wie dem Hirten Gyges – die Möglichkeit gegeben wird, »frei nach seinem Willen zu handeln«, ohne dabei beobachtet zu werden und die Folgen des eigenen Handelns verantworten zu müssen. Dieser kontrafaktische Zustand wird durch einen Ring hergestellt, der unsichtbar macht. Die Fragestellung zu dieser angenommenen Situation lautet, ob ein Gerechter in dieser Situation anders handeln würde als ein Ungerechter (»Wenn es nun zwei solcher Ringe gäbe, und den einen sich der Gerechte, den andern der Ungerechte ansteckte …«). Für Glaukon können die Überlegungen zur Beantwortung des Fragekomplexes nur in eine Richtung gehen: Der Charakter eines vermeintlich Gerechten wäre nicht »aus solchem Stahl, dass er der Gerechtigkeit treu bliebe« (Z 23). Er würde auf dem Marktplatz fremdes Gut stehlen, in ausgesuchten Häusern Frauen verführen, Menschen töten oder aus dem Gefängnis befreien. Glaukon führt diese Überlegungen als Beweis dafür an, dass das Gerechte für sich genommen kein erstrebenswertes Gut sei, und führt im Epilog noch weitere Argumente für diesen Sachverhalt an: Ein ungerechtes, nicht zu ahndendes Verhalten bringt mehr Vorteile als ein gerechtes. Jemand, der diesen Vorteil nicht ergreift, würde von den Mitmenschen als einfältig und dumm abgestempelt werden. Gleichzeitig würden diese aber aus Angst, ein Unrecht zu erleiden, den Gerechten über ihre eigentliche Einstellung täuschen und dessen Verhalten loben. Wie steht es mit der Offenheit dieses Gedankenexperiments? Für Glaukon scheint das Ergebnis schon im Vorhinein festzustehen: Alle Menschen handeln letztlich eigennützig und suchen nur ihren eigenen Vorteil. Hiervon sind auch Fragen der Gerechtigkeit nicht ausgenommen. Ist dies jedoch der einzig mögliche Ausgang? Mitdenkende Leser von Gedankenexperimenten können mitunter durchaus zu anderen Lösungen kommen. Ob die Überlegungen und Schlussfolgerungen richtig sind, lässt sich am besten prüfen, indem man selbst dieses Gedankenexperiment durchführt. Es mag sein, dass viele mir bekannte Leute unbeobachtet Dinge tun, die sie im Licht der Öffentlichkeit für unanständig und unfair halten. Auch die medialen Möglichkeiten für voyeuristisches Verhalten scheinen Glaukons These zu bestätigen. Wäre es aber nicht auch möglich, dass wir mit diesem Ring unbemerkt Gutes tun würden und es lustig fänden, für jemanden etwas Nettes zu machen, ohne dass der Betroffene seine Gönner kennen würde, wie Gareth B. Matthews’ elfjährige Schülerin Anna behauptete?5 Die scheinbar mangelnde Offenheit von Glaukons »Ring des Gyges« hängt weniger mit dem Gedankenexperiment selbst, sondern mehr mit seinem demonstrativen Gebrauch

5

Ibid., S. 31.

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zusammen. Glaukon verwendet es, um seinen skeptischen Standpunkt zur Frage der Gerechtigkeit zu veranschaulichen.

 Gedankenexperimente im weiten Sinn und verdeckte Gedankenexperimente Helmut Engels schlägt vor, die Verwendung von Gedankenexperimenten im Philosophieunterricht in zwei Richtungen zu erweitern. In empirischen Wissenschaften wie der Physik werden Gedankenexperimente als Ersatz für Realexperimente aus technischen (z. B. zu hohen Kosten) oder aus prinzipiellen Gründen (z. B. moralische Grenzen im Umgang mit Menschen) durchgeführt.

Gedankenexperimente mit realitätsbezogenen Prämissen Eines der berühmtesten dieser überprüfbaren Gedankenexperimente wurde Galileo Galilei (1564 – 1642) zugeschrieben, mit dem die aristotelische Annahme, dass schwere Körper schneller fallen als leichte, widerlegt werden konnte. Wenn man einen leichten und einen schweren Körper zu einem zusammenbände, dann müsste dieser gleichzeitig langsamer – der leichte bremst den schweren Körper – und schneller – der schwere Körper reißt den leichten mit sich – herunterfallen, was nicht gleichzeitig der Fall sein kann.6 Auch Albert Einstein (1879 – 1955) war ein Meister dieser Erkenntnismethode. Mit dem Gedankenexperiment über eine im Raum bewegte Kabine mit Lichtquelle konnte er durch die Widersprüchlichkeit der angenommenen Beobachtungen nachweisen, dass es keinen Äther im Raum geben kann und Lichtgeschwindigkeit eine konstante Größe sein muss.7 Das Fahrstuhl-Gedankenexperiment erbrachte hingegen den Nachweis, dass ein Beobachter in einem abgeschlossenen System nicht feststellen kann, ob er sich in der Schwerelosigkeit fernab von Massen oder im freien Fall nahe einer Masse befindet.8 Gedankenexperimente, die auf nichtkontrafaktischen und daher überprüfbaren Annahmen beruhen, gibt es auch in der Philosophie, die Engels als Gedankenexperimente mit realitätsbezogenen Prämissen bezeichnet. Ein solches hat Norbert Diesenberg vorgeschlagen, um einen Text zum kantianischen Rechtsbegriff für die Schüler verständlich zu machen, indem er sie auffordert, sich in die Lage eines völlig allein lebenden Menschen (Robinson) vor der Ankunft eines anderen Menschen (Freitag) zu versetzen:

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7

8

Freese, Hans-Ludwig: Abenteuer im Kopf. Philosophische Gedankenexperimente, illustr. von Pey, Alexander, Beltz Quadriga, Quadriga Verlag, Weinheim/Berlin 21995, S. 199. Einstein, Albert; Infeld, Leopold: Die Evolution der Physik, übers. von Preusser, Werner, rororo Sachbuch 8342, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 1987, S. 149 – 160. Ibid., 191– 198.

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»Robinson verfügt zunächst über eine maximale Handlungsfreiheit. Sie wird nur durch natur- und situationsgegebene Bedingungen begrenzt. Dies ändert sich schlagartig, als Freitag auftritt. Denn durch die raum-zeitliche Kontiguität der beiden Personen – es gibt notwendigerweise Berührungspunkte – ergibt sich die Möglichkeit des Konflikts, nämlich durch die wechselseitige Behinderung der Handlungsfreiheiten beider: Als Beispiel wird angenommen, Robinson sei Langschläfer, während Freitag ein Frühaufsteher sei, der zudem dem Sonnenkult huldigt und daher mit lautem Trommeln jeden Morgen den Sonnenaufgang begrüßt.«9 Die Fragestellung könnte für die Schüler lauten: Welche verschiedenen Möglichkeiten der Konfliktbewältigung sind denkbar? Welche davon sind rechtlich vertretbar? Ein solches Experiment wäre auf jeden Fall real durchführbar, wenn es auch gute Gründe gibt, eine solche Situation nicht durchleben zu müssen.

Positive und negative Utopien Wenn sich solche realitätsbezogenen Prämissen von Gedankenexperimenten auf die Gestaltung des menschlichen Lebens im Großen beziehen und durchführbar wären, aber aus guten Gründen nur gedanklich vollzogen werden, dann handelt es sich um Utopien. Dazu gehört auch Platons Politeia, in der alle Facetten der Frage nach der Gerechtigkeit im Großen durchgedacht werden. In Utopia von Thomas Morus (1478 – 1535) wird ein Staat auf der Grundlage von religiöser Toleranz und Verzicht auf Privateigentum gedacht. Gedankenexperimente können auch der Handlung von Romanen zugrunde liegen.10 Die amerikanische Science-Fiction- und Fantasy-Autorin Ursula K. Le Guin entwickelte ein solches Szenario in Planet der Habenichtse (1974) mit der ernst genommenen Prämisse der Besitzlosigkeit, während der amerikanische Schriftsteller und Universitätslehrer Ernest Callenbach eine ökologisch und sozialverträgliche Gesellschaft in seinem für die Umweltbewegung einflussreichen Roman Ökotopia (1975) beschrieb. Solche Gedankenexperimente im Großen stellen positive Utopien dar, die sich die Frage stellen: Wie müssten alle gesellschaftlichen Bereiche gestaltet sein, wenn sie auf dem Wert der Freiheit, der Gleichheit, der Besitzlosigkeit oder des Glücks aufgebaut wären? Negative Utopisten gehen hingegen umgekehrt vor: Sie zeichnen nicht ideale Gesellschaften, welche die gut befundenen Werte verwirklichen, sondern denken gegenwärtig beobachtete problematische und negativ bewertete Tendenzen in ihrer

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10

Diesenberg, Norbert: »Das Problem der philosophischen Begründung von Recht und Gerechtigkeit«, in: Lehrerfortbildung in Nordrhein-Westfalen. Gymnasiale Oberstufe. Philosophie, Heft 3.1– 3.5, S. 75 – 161: S. 124 – 125. Vgl. Macho, Thomas; Wunschel, Annette (Hrsg.): Science & Fiction. Über Gedankenexperimente in Wissenschaft, Philosophie und Literatur, Fischer Taschenbuch 15838, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2004.

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Gesellschaft weiter. Wie würden Gesellschaften aussehen, die Fun und Thrilling, das Besitzstreben oder das Sicherheitsdenken auf ihre Fahnen geschrieben haben? Eine solche negative Utopie liefert Aldous Huxleys Schöne neue Welt (1932), in der Föten und Embryonen in Hinblick auf ein gesellschaftliches Kastensystem (von Alpha-Plus-Eliten bis Epsilon-Minus-Hilfsarbeitern) manipuliert und die Gesellschaftsmitglieder durch Konsum, Sex und durch die Droge Soma sediert werden. George Orwells 1984 (1949) lässt hingegen einen totalitären Überwachungsstaat entstehen, der durch den Ausbau von Sicherheits- und Kontrollmechanismen keine Privatsphäre mehr zulässt.

Verdeckte Gedankenexperimente In vielen Werken der Lyrik, der erzählenden Prosa, der Science-Fiction oder des Films werden solche Gedankenexperimente nicht explizit präsentiert. Wenn sich in solchen Werken hypothetische Annahmen – meist kontrafaktischer Art – und eine darauf bezogene Fragestellung oder Anweisung erschließen lassen und der Inhalt des Werks als Durchführung dieser Versuchsanordnung angesehen werden kann, können auch solche Werke als Quellen für Gedankenexperimente herangezogen werden. Engels spricht in diesem Zusammenhang von verdeckten Gedankenexperimenten und findet eine ganze Reihe solcher verdeckter Gedankenexperimente: etwa in Bert Brechts (1898 – 1956) Geschichten von Herrn Keuner (1926) über die Frage, ob es einen Gott gibt, in Franz Kafkas Erzählung Die Verwandlung (eines Menschen in einen Käfer) aus dem Jahr 1912, in einem mit den Worten »Die Gesellschaft der Zukunft« beginnenden Gedicht des deutschen Essayisten Dieter Wellershoff (geb. 1924) im Kontext einer technisch-perfekten Beglückung des Menschen, in der Science-Fiction-Erzählung Experimenta felicitologica (1971) von Stanislaw Lem, in der alle Menschen durch die Entfaltung des schöpferischen Geistes glücklich werden, bis hin zu Thomas Manns (1875 – 1955) Erzählung Die vertauschten Köpfe (1940), in der zwei sehr konträre Freunde mit Hilfe einer Göttin ihren Kopf im jeweils anderen Körper wiederfinden.11 Auch in Filmen können solche versteckten Gedankenexperimente ermittelt werden. Stanley Kubricks Uhrwerk Orange (1971) könnte die Experimentalfrage zugrunde liegen, was passiert, wenn ein bösartiger Mensch durch die klassische Konditionierung eines starken Übelkeitsgefühls in einer sich rächenden Gesellschaft zum Gutsein gezwungen wird. Peter Weirs Truman Show (1998) untersucht die Frage, inwieweit das ganze Leben eines Menschen in der künstlich errichteten Studio-Küstenstadt Seahaven Gegenstand einer Live-Übertragung für das Fernsehen werden kann. Lola rennt (1998) von Tom Tykwer ist ein gutes deutschsprachiges Beispiel für ein philosophisches Gedankenexperiment im Film: Lola bekommt drei Mal die Möglichkeit, innerhalb von 20 Minuten

11

Engels, Helmut: »Nehmen wir an …«. Das Gedankenexperiment in didaktischer Absicht, a.a.O., S. 57– 74.

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einen größeren Geldbetrag aufzutreiben, um das Leben ihres Freundes Manni zu retten. Welche Rolle spielt dabei das Ineinandergreifen von Zufall und Entscheidung?12 Diese Gedankenexperimente sind auf allgemeinere philosophische Problemstellungen beziehbar (Moralität aus Freiheit, Wirklichkeit und Schein bzw. Zufall und Selbstbestimmung) und eignen sich durch ihre Anschaulichkeit in Form von ausgewählten Filmausschnitten für den Unterricht.

 Verwendungszwecke von Gedankenexperimenten Gedankenexperimente wie Platons »Ring des Gyges« müssen nicht demonstrativ zum Einsatz kommen, sondern können auch als heuristisches Werkzeug des Erkenntnisgewinns oder als mäeutisches Mittel zum Bewusstmachen eines naheliegenden, aber durch Gedankenlosigkeit und Vorurteile verdunkelten Sachverhalts eingesetzt werden.13 Für den Philosophieunterricht birgt vor allem der heuristische und der mäeutische Einsatz ein hohes didaktisches Potential. Diese unterschiedlichen Einsatzmöglichkeiten sollen daher an weiteren philosophiegeschichtlichen Beispielen veranschaulicht werden.

Demonstrativer Einsatz von Gedankenexperimenten In einem Buch über die moralischen Grundbegriffe setzt sich der deutsche Philosoph Robert Spaemann mit der psychoanalytisch-hedonistischen Position auseinander, in der der Mensch als ein Lebewesen erscheint, das bewusst und unbewusst nach individuellem Wohlbefinden (Lustprinzip) strebt und nur durch die gesellschaftlichen Konventionen an der Lustmaximierung und Befriedigung seiner Wünsche gehindert wird (Realitätsprinzip). In Hinblick auf diese Position wirft Spaemann die Frage »Stimmt es, dass der Mensch ein verhinderter Hedonist ist, dem es nur um Lustmaximierung geht?« auf und hat sich folgendes Gedankenexperiment ausgedacht: Glücklicher Mensch14

»Stellen wir uns einen Menschen vor, der in einem Operationssaal auf einem Tisch festgeschnallt ist. Er steht unter Narkose. In seine Schädeldecke sind einige Drähte eingeführt. Durch diese Drähte werden genau dosierte Stromstöße in bestimmte Gehirnzentren geleitet, die dazu führen, dass dieser Mensch sich in einer Dauereuphorie

12 13

14

Ibid., S. 81–87. Engels, Helmut: »Gedankenexperiment«, in: Rehfus, Wulff D.; Becker, Horst (Hrsg.): Handbuch des Philosophie-Unterrichts, Schwann Handbuch, Pädagogischer Verlag Schwann-Bagel, Düsseldorf 1986, S. 396 – 399: S. 397– 398. Spaemann, Robert: Moralische Grundbegriffe, BsR 256, Verlag C.H. Beck, München 51994, S. 30 – 31.

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befindet. Sein Gesicht spiegelt den Zustand äußersten Wohlbehagens. Der Arzt, der das Experiment leitet, erklärt uns, dass dieser Mensch mindestens weitere zehn Jahre in diesem Zustand bleiben wird. Wenn es nicht mehr möglich sein wird, den Zustand zu verlängern, werde man ihn mit dem Abschalten der Maschine unverzüglich schmerzlos sterben lassen. Der Arzt bietet uns an, uns sofort in die gleiche Lage zu versetzen.« Damit verbunden stellt Spaemann die Frage an den Leser, ob er »freudig bereit wäre, sich in diese Art von Seligkeit versetzen zu lassen«.15 Er nimmt dabei an, dass niemand mit dem Menschen auf dem Operationstisch tauschen möchte, da sich dieser Mann »außerhalb der Realität befindet«, ohne es selbst zu merken, und weil die Realität für uns nicht »das Widrige, das Widerständige, dem wir uns notgedrungen anpassen müssen«, ist. Diese Realität möchten wir vielmehr um keinen Preis missen. Sie ist daher nicht ein Hindernis für unser Leben, sondern ihr eigentlicher Inhalt. Mit diesen Überlegungen erscheint für Spaemann auch die übergeordnete Frage (Rahmen des Gedankenexperiments) beantwortet: Der Mensch ist kein verhinderter Hedonist, denn der Lustgewinn ist eigentlich nicht das, was wir anstreben und für wertvoll halten.16 Damit hat dieses Gedankenexperiment seine demonstrative Funktion erfüllt. Der Zweifel an der Richtigkeit der Auffassung von Freud ist bestätigt worden. Das didaktische Potential solcher demonstrativen Gedankenexperimente besteht für Schülerinnen und Schüler nicht nur darin, sie in Hinblick auf ihre Merkmale zu analysieren. Sie sollten vor allem auch selbst anhand der Versuchsanordnung und des Fragekomplexes durchgedacht und diskutiert werden. Dabei zeigte sich, dass in der Versuchsanordnung viele Lerngruppen aus ganz anderen Gründen nicht ihr Leben mit dem des Mannes auf dem Operationstisch tauschen wollten: ¬ Eine solche Situation würde die Freiheit des Einzelnen abschaffen. ¬ Wenn jemand immer euphorisch ist, merkt er gar nicht, dass er sich in diesem Zustand befindet. ¬ Wenn man sich in einer solchen Traumwelt befindet, gibt es keine individuelle Entwicklung mehr. ¬ Zu einem vollen Leben gehören auch die unangenehmen Erfahrungen wie Leid und Schmerz. Ein solcher Vergleich des eigenen Denkens mit dem Denken eines Philosophen kann sehr horizonterweiternd und bewusstseinsbildend wirken und würde auch das mäeutische Potential von demonstrativ entwickelten Gedankenexperimenten freilegen.

15 16

Ibid., S. 31. Vgl. Engels, Helmut: »Nehmen wir an …«. Das Gedankenexperiment in didaktischer Absicht, a.a.O, S. 18 – 20.

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Heuristische Gedankenexperimente Gedankenexperimenten kann im Bereich von praktischen Fragen eine wichtige heuristische Funktion zukommen. Sie bilden einen lösungszentrierten Orientierungsrahmen, der das Auffinden von Regeln und Prinzipien für ethische und rechtliche Fragen anleiten soll. Otfried Höffe spricht etwa beim kategorischen Imperativ von Immanuel Kant von einem Gedankenexperiment, welches das Auffinden und Bewerten von moralisch guten Handlungen ermöglicht:17 »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.« 18 Dabei ist die Vorstellung, dass alle Menschen nach den eigenen persönlichen Grundsätzen handeln, die »Fiktion« dieses kantianischen Gedankenexperiments:

Nehmen wir einmal an, dass alle Menschen nach einer persönlichen Maxime handeln müssten, da diese zu einem allgemeinen Gesetz erhoben wird. Könntest du dies für dich und alle wollen?  Kann man wollen, dass alle Menschen öffentliche Verkehrsmittel verwenden?  Kann man wollen, dass alle Menschen unseres Planeten mit eigenen Autos unterwegs sind?  Kann man wollen, dass sich alle Menschen vegetarisch ernähren?  Kann man wollen, dass alle Menschen mit Flugzeugen verreisen? Die Durchführung des Gedankenexperiments besteht dann aus den Überlegungen, die zur Beantwortung einzelner Fragen führen. Das Ergebnis ist immer, dass der autonommoralisch denkende Mensch das sittlich Gute in unterschiedlichsten konkreten Lebenssituationen bestimmt. Im Bereich der Rechtsphilosophie kommt dem Gedankenexperiment des amerikanischen Rechtsphilosophen John Rawls eine ähnliche heuristische Funktion zu. In seinem einflussreichen Buch Theorie der Gerechtigkeit führt er eines der bekanntesten Gedankenexperimente der Gegenwartsphilosophie durch, mit dem Grundsätze für die Gestaltung und Rechtfertigung von politisch-gesellschaftlichen Ordnungen und die institutionelle Zuweisung von Rechten und Pflichten gefunden werden sollen. Dabei bestimmt er die Gerechtigkeit als erste »Tugend« sozialer Institutionen, vergleichbar mit der Wahrheit in Theorien und Denksystemen. Doch wie kann diese soziale Tugend der Gerechtigkeit inhaltlich bestimmt werden? Rawls schlägt folgendes Gedankenexperiment vor:

17

18

Höffe, Otfried: Immanuel Kant, BsR 506, Verlag C.H. Beck, München 72007, S.185; vgl. Engels, Helmut: »Gedankenexperiment«, in: Rehfus, Wulff D.; Becker, Horst (Hrsg.): Handbuch des Philosophie-Unterrichts, a.a.O., S. 397. Kant, Immanuel: »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«, in: Kant, Immanuel: Werkausgabe, 12 Bde., Bd. 7: Kritik der praktischen Vernunft – Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, hrsg. von Weischedel, Wilhelm, stw 56, Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 131996, BA 52 (S. 51).

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Der Schleier des Nichtwissens19

»Wir wollen uns also vorstellen, dass diejenigen, die sich zu gesellschaftlicher Zusammenarbeit vereinigen wollen, in einem gemeinsamen Akt die Grundsätze wählen, nach denen Grundrechte und -pflichten und die Verteilung der gesellschaftlichen Güter bestimmt werden. […] Die Entscheidung, die vernünftige Menschen in dieser theoretischen Situation der Freiheit und Gleichheit treffen würden, bestimmt die Grundsätze der Gerechtigkeit. […] Dieser Urzustand wird natürlich nicht als ein wirklicher geschichtlicher Zustand vorgestellt, noch weniger als primitives Stadium der Kultur. Er wird als rein theoretische Situation aufgefasst, die so beschaffen ist, dass sie zu einer bestimmten Gerechtigkeitsvorstellung führt. Zu den wesentlichen Eigenschaften dieser Situation gehört, dass niemand seine Stellung in der Gesellschaft kennt, seine Klasse oder seinen Status, ebenso wenig sein Los bei der Verteilung natürlicher Gaben wie Intelligenz oder Körperkraft. Ich nehme sogar an, dass die Beteiligten ihre Vorstellung vom Guten und ihre besonderen psychologischen Neigungen nicht kennen. Die Grundsätze der Gerechtigkeit werden hinter einem Schleier des Nichtwissens festgelegt. Dies gewährleistet, dass dabei niemand durch die Zufälligkeiten der Natur oder der gesellschaftlichen Umstände bevorzugt oder benachteiligt wird.« Wie würden die Beteiligten hinter einem solchen Schleier des Nichtwissens die Grundsätze der Gerechtigkeit festlegen? Auch dieses Gedankenexperiment können Lerngruppen selbst durchführen, nachdem sie einige Gerechtigkeitsprinzipien (Jedem das Gleiche/Jedem das Seine (nach Leistung, Bedürfnis, Vereinbarung etc.)) zu differenzieren gelernt haben. Rawls geht allerdings davon aus, dass in dieser fiktiven »theoretischen Situation« alle Beteiligten zwei Gerechtigkeitsprinzipien wählen würden: Zwei Gerechtigkeitsprinzipien

»…einmal die Gleichheit der Grundrechte und -pflichten; zum anderen den Grundsatz, dass soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten, etwa verschiedener Reichtum oder verschiedene Macht, nur dann gerecht sind, wenn sich aus ihnen Vorteile für jedermann ergeben, insbesondere für die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft.« Wenn Lerngruppen nach intensivem Nachdenken und intensiver Diskussion auch andere Gerechtigkeitsprinzipien einbeziehen, so spricht dies für den didaktisch-heuristischen Wert dieses Gedankenexperiments.

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Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit, übers. von Vetter, Hermann, stw 271, Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1975, S. 28 – 29.

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Mäeutische Gedankenexperimente Die meisten Gedankenexperimente können im Philosophieunterricht auch in mäeutischer Absicht eingesetzt werden. Dabei möchte man dem, der es durchführt, Möglichkeiten für das Nachvollziehen und Bewusstmachen von Lebensbezügen eröffnen, die einerseits naheliegend und klar erkennbar, aber durch Vorurteile und unreflektierte Meinungen verstellt sind. Solche philosophischen Bildungsprozesse können durch Perspektivenwechsel und Transformationen in Gedankenexperimenten angeregt werden. Dies wird sehr schön in der (auch verfilmten) Kurzgeschichte Der Zweihundertjährige (1978) von Isaac Asimov sichtbar. Sein Gedankenexperiment zur Frage, was einen Menschen denn zum Menschen macht, könnte nach Engels folgende Aufgabenstellung sein: Der Zweihundertjährige20

»Nehmen wir an, es sei möglich, dass sich ein Roboter mit einem Positronenhirn zu einem Wesen entwickelt, das offiziell als Mensch anerkannt wird. Welche Eigenschaften und Fähigkeiten müsste er besitzen und erwerben, welche Entscheidungen müsste er treffen und welche Stadien müsste er durchlaufen?« Der Held dieser Geschichte ist ein Roboter, der nach den drei Grundregeln der Robotik (»Verletze nie ein menschliches Leben! Gehorche den Befehlen von Menschen! Beschütze dich selbst, sofern nicht Regel eins zu beachten ist!«) programmiert und in der Familie Martin als Butler und Dienstmädchen tätig ist. Er mag Kinder – wie es von außen erscheint –, erhielt von der jüngsten Tochter den Namen »Andrew« und besitzt die Fähigkeit, nach eigenen Vorstellungen Holzschnitzarbeiten durchzuführen. Mit dem dadurch entstandenen Verdienst kann Andrew sich mit einem gerichtlichen Beschluss freikaufen. Sein Wunsch, ein Mensch zu werden, zeigt sich auch darin, dass er bis auf sein elektronisches Gehirn seinen Metallkörper durch täuschend echte Prothesen ersetzen lässt. Durch eine Operation wird er zuletzt sterblich und stirbt als Zweihundertjähriger, nachdem er zu einem Menschen erklärt worden ist. Andrew durchläuft mehrere Stadien auf seinem Weg zur Menschwerdung, die mit der Herausbildung von spezifisch menschlichen Eigenschaften einhergehen: die Fähigkeit, Gefühle für Menschen zu empfinden, die schöpferische Kreativität als Holzschnitzer, die Freiheit zu einem selbstbestimmten Leben und zuletzt die Sterblichkeit selbst, die ihm dann auch seinen Namen als Zweihundertjähriger verleiht. Auch hier können die von der Lerngruppe gefundenen Merkmale mit jenen der Erzählung verglichen werden.

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Engels, Helmut: »Nehmen wir an …«. Das Gedankenexperiment in didaktischer Absicht, a.a.O., S. 143.

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 Kunstgriffe in Gedankenexperimenten Gedankenexperimentatoren können sich unterschiedlicher Kunstgriffe bedienen, um die Versuchsanordnung zu bestimmen. Diese Kunstgriffe können sich eher auf kontrafaktische oder eher auf reale Annahmen stützen und werden als Nächstes beschrieben. Wenn sich Schüler selbst Gedankenexperimente ausdenken, sind elementare Kenntnisse dieser Kunstgriffe von Vorteil. Die Darstellung dieser Kunstgriffe orientiert sich an Helmut Engels’ ausgezeichneter Monographie, die alle weiterführenden Literaturangaben beinhaltet und in der die besprochenen Gedankenexperimente auch thematisch geordnet sind.21

Kunstgriffe mit kontrafaktischen Annahmen Kontrafaktische Versuchsanordnungen können durch die Imagination einer defizitären Situation geschaffen werden. Dabei stellen Experimentatoren eine Mangelsituation her oder bringen typisch menschliche Fähigkeiten zum Schwinden. In letzterem Fall könnte auch von einer Subtraktion von Fähigkeiten gesprochen werden.  Nehmen wir an, Menschen leben seit ihrer Geburt in einer mit Hausrat und Kunstgegenständen ausgestatteten Höhle, finden durch Zufall einen Höhlenausgang und entdecken zum ersten Mal die Welt der Natur außerhalb dieser Höhle. Wie würden sie die Existenz dieser Welt den Höhlenbewohnern erklären?  Nehmen wir an, alle Menschen haben die Fähigkeit verloren, die Bedürfnisse und Werthaltungen anderer Menschen zu verstehen. Wie würde das menschliche Zusammenleben aussehen? Kontrafaktische Annahmen entstehen auch in der entgegengesetzten Denkrichtung durch das Ausdenken einer Überflusssituation oder durch die Addition von besonderen Fähigkeiten:  Nehmen wir an, dass wir in einer Welt leben, in der die Grundbedürfnisse rein durch die natürlichen Lebensbedingungen oder durch Robotik-Systeme gedeckt werden. Welchen Stellenwert würde die Arbeit in einer solchen Gesellschaft haben?  Jemand hat die Fähigkeit, unbemerkt die Gedanken anderer zu lesen. Wie würde er mit dieser besonderen Fähigkeit umgehen? Defizitäre Situationen können auch mit fiktiven Analogien gedacht werden, in denen ein Analogon verwendet und entwickelt wird, um einen komplexeren Sachverhalt darzustellen.

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Ibid., S. 88 – 184.

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 Die platonische Höhle könnte – wenn man das Höhlengleichnis als Gedankenexperiment deutet – als ein Analogon verstanden werden, um auf der Sachebene komplexe Probleme des Wirklich-Seienden und seiner Erkenntnis anzudeuten.  Nehmen wir an, dass die Menschen keine Farben sehen und einzelne Menschen für kurze Zeit die Fähigkeit des Farbensehens vorübergehend erwerben. Würden sie ihre Erfahrung beschreiben können? Was bedeutet dieses Beschreibungsproblem für die Erkenntnisfähigkeit im Allgemeinen? Eine ganz spezielle kognitiv-defizitäre Situation wird durch die Simulation von Nichtwissen über bestimmte persönliche Sachverhalte geschaffen, wie dies John Rawls mit der »theoretischen Situation« des »Schleiers des Nichtwissens« zum Ausdruck brachte:  Nehmen wir an, dass Menschen weder ihre eigene zukünftige gesellschaftliche Position noch ihre zukünftigen Interessen, Begabungen und Vorlieben kennen. Auf welche Gerechtigkeitsprinzipien für den Aufbau einer Gesellschaft würden sie sich einigen?  Nehmen wir an, dass es einen Kreislauf der Wiedergeburt alles Lebendigen gäbe und niemand wüsste, welcher Spezies (Mensch, Tier, Pflanze) er in seinem zukünftigen Leben angehören werde. Auf welche Grundsätze und Umgangsformen zwischen den Spezies würden sich darüber nachdenkende Menschen einigen? Engels zählt noch weitere Kunstgriffe mit kontrafaktischen Annahmen auf: Bei der experimentellen Umkehrung wird angenommen, dass sich ein offensichtlicher Sachverhalt genau umgekehrt verhält (»Nehmen wir an, dass beim moralischen Handeln nur das unbewusst absichtslose Tun zählt, …«), bei imaginären Erfindungen handelt es sich um Apparate, die bestimmte Fähigkeiten oder Situationen hervorbringen (»Nehmen wir an, ein böser Wissenschaftler hat von uns unbemerkt unsere Gehirne in einen Tank verpflanzt, …«) (Gehirn im Tank von Hilary Putnam, Film »Matrix«). In so genannten Transformationen verwandeln sich Wesen in andere, z. B. ein Mensch in ein Tier (Die Verwandlung von Kafka), ein Roboter in einen Menschen (Der Zweihundertjährige von Isaac Asimov), in Kommutationen werden hingegen Körper oder Seelen von Menschen getauscht (Bernard Williams Bauer und König, Thomas Manns Die vertauschten Köpfe).

Kunstgriffe mit realen oder kontrafaktischen Annahmen Gedankenexperimente können auch durch Kunstgriffe eingeleitet werden, die auf realen Annahmen beruhen. Einen solchen Kunstgriff stellt die nichtwissenschaftliche Hochrechnung eines negativ bewerteten gesellschaftlichen Phänomens dar. Solche Hochrechnungen beruhen nicht auf statistisch-wissenschaftlichen Extrapolationen von gegenwärtigen Phänomenen, sondern stellen befürchtete Gesellschaftszustände dar, wenn sich ein bestimmtes negativ bewertetes Phänomen (z. B. Eugenetik) uneingeschränkt durchsetzt. Ein Beispiel dafür wäre der Film Gattaca (1997) von Andrew Niccol,

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in dem das Erbgut von Babys künstlich manipuliert wird und die Bildungswege dieser Babys durch DNA-Analysen bestimmt werden.  Nehmen wir an, wir leben in einer eugenetisch designten Gesellschaft, in der die Zugehörigkeit zur gesellschaftlichen Elite von der Summe der genetisch positiven Eigenschaften eines Menschen (körperliche Stärke, lange Lebensdauer, Unverwundbarkeit für Erkrankungen etc.), das heißt von der genetischen Güte der Desoxyribonukleinsäure (DNS) abhängt. Wären Menschen einer solchen Gesellschaft überhaupt noch frei?  Nehmen wir an, dass alle Menschen den Lebensstandard eines Europäers aus dem Mittelstand erreicht haben. Welche Auswirkungen hätten die Ernährungsgewohnheiten und das Mobilitätsverhalten auf die Umwelt unseres Planeten? Auch der Kunstgriff der fokussierenden Abstraktion kann von realen Situationen ausgehen. Dabei werden Kontextsituationen eines Phänomens so gedacht, dass alle möglichen zufälligen Begleit- und Folgeerscheinungen einer Sache zugunsten des Wesentlichen bewusst ausgeklammert werden:  Nehmen wir an, dass bei der Beweisaufnahme für ein Verbrechen keine Fehler unterlaufen sind, dass es keine Justizirrtümer gibt, dass ein zum Tode Verurteilter bei seiner Exekution nicht leiden muss und auch die Vollstreckung eines Todesurteils keine negativen Auswirkungen auf die Mentalität und Einstellungen von Menschen in einer Gesellschaft hat. Wäre es moralisch gerechtfertigt, einen Menschen zu töten, weil dieser davor einen Menschen umgebracht hat?  Nehmen wir an, dass es in 50 Jahren durch eine gefährliche medizinisch nicht kontrollierbare Viruserkrankung zur Entvölkerung ganzer Kontinente gekommen ist. Ist es sittlich zu rechtfertigen, dass wir die Ressourcen der Erde beliebig ausgebeutet, das Aussterben von Tierarten in Kauf genommen und riesige Müllhalden auf den Kontinenten hinterlassen haben, auch wenn es keine Menschen mehr gibt, die diese Kontinente besiedeln könnten? Die fiktive Nichtung bezieht sich auf Gedankenexperimente, die von der Nichtexistenz ganz konkreter Gegenstände unserer natürlichen oder kulturell-technischen Welt ausgehen. Das wohl bekannteste Beispiel dieses Kunstgriffes findet sich in Kants »Kritik der reinen Vernunft«: »Man kann sich niemals eine Vorstellung davon machen, dass kein Raum sei, ob man sich gleich ganz wohl denken kann, dass keine Gegenstände darin angetroffen werden.« 22

22

Kant, Immanuel: »Kritik der reinen Vernunft 1«, in: Kant, Immanuel: Werkausgabe, 12 Bde., Bd. 3: Kritik der reinen Vernunft, hrsg. von Weischedel, Wilhelm, stw 55, Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1990, A24 (S. 72).

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 Nehmen wir an, du nimmst Gebrauch von deiner Fähigkeit, dir alle möglichen Dinge aus dem Raum wegzudenken, wie etwa die von Menschen geschaffenen kulturellen Errungenschaften oder alle natürlichen Dinge wie Bäume, Berge, Meere etc. Kannst du den Raum selbst auch wegdenken? Im Bereich der Technikethik wären Gedankenexperimente denkbar, welche die ethische Bewertung von Technikfolgen anhand der Kontrastfolie des Fehlens einer solchen Technologie in einer Gesellschaft durchführen:  Nehmen wir an, wir leben in einer Gesellschaft ohne Elektrogeräte. Welche Auswirkungen hätte dies auf das Zusammenleben in dieser Gesellschaft? Der Kunstgriff des hypothetischen Fürwahrhaltens lässt sich gut für die Überprüfung von philosophischen Lehren und Standpunkten einsetzen, indem die grundlegenden Voraussetzungen dieser Positionen bewusst für wahr gehalten und auf ihre möglichen Konsequenzen hin überprüft werden:  Nehmen wir an, es gibt einen Gott, der die Menschen erschaffen hat, aber in dieser Welt nicht direkt wirkt (Deismus). Welche Konsequenzen würden sich daraus praktisch und intellektuell für unsere Lebensführung ergeben?  Nehmen wir an, dass die platonische Ideenlehre stimmt und dass es platonische Urbilder oder Ideen (ontologischer Idealismus) gibt, nach denen ein Weltenbildner alle Naturdinge geformt hat. Welche Konsequenzen würden sich daraus für unser Leben ableiten lassen? Der Perspektivenwechsel oder der fremde Blick ist ein weiterer Kunstgriff, den man sowohl für kontrafaktische wie auch reale Versuchsanordnungen einsetzen kann. Dabei geht es darum, ein Phänomen nicht nur aus verschiedenen bekannten Perspektiven zu betrachten, wenn etwa ein durch einen Fußball zerbrochenes Fenster aus den gegenwärtig bekannten Perspektiven eines Vaters, eines Lehrers, eines Soziologen, eines sportlichen Mannes, des kleinen Bruders oder eines angepassten Schülers bewertet wird. Der Perspektivenwechsel erfordert vor allem auch die Einnahme einer unbekannten und fremden Perspektive, die zum Beispiel ein Betreuer von körperlich behinderten Menschen einzunehmen lernt, wenn er selbst in einem Rollstuhl für einen Nachmittag durch die Stadt geschoben wird.

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 Nehmen wir an, wir hätten Augen mit einer hundertfach feineren Auflösung oder Augen mit einer hundertfach größeren Auflösung. Oder Ohren, welche die feinsten Luftschwingungen registrieren könnten. Wie würde uns dann die Welt erscheinen? (Nietzsches »Im Gefängnis«)23  Nehmen wir an, Menschen bekommen die Fähigkeit, sich in die Wirklichkeitswelt verschiedener Tiere zu versetzen. Wie würde die Welt einer Zecke, einer Spinne und eines Adlers aussehen? (Uexkülls Seifenblasen)

 Didaktischer Einsatz im Unterricht Unterrichtsmethode Kindern und Jugendlichen fällt es in der Regel nicht schwer, sich auf Gedankenexperimente einzulassen. Sie sind weniger als Erwachsene am Faktischen orientiert und können mit Vorstellungen spielen und sich andere Welten ausdenken. Diese gedankliche Beschäftigung mit dem Kontrafaktischen ist auch stark durch Bücher, Fernsehen oder Filme wie jene über Harry Potter oder Der Herr der Ringe vermittelt. Gedankenexperimente können daher auch ohne eine ausführlichere inhaltliche Einführung im Unterricht Verwendung finden. Als Unterrichtsmethode können Gedankenexperimente je nach philosophiedidaktischer Absicht demonstrativ, heuristisch oder stärker mäeutisch eingesetzt werden. Möchte man etwa die Unzulänglichkeit einer philosophischen Position wie jene des Hedonismus aufzeigen, könnte Spaemanns Gedankenexperiment zur »Dauereuphorie« demonstrativ in einem Lehrvortrag eingesetzt werden. Das gleiche Experiment könnte aber auch in mäeutischer Absicht verwendet werden, indem die Lerngruppe selbst dazu angehalten wird, die Situation im Operationssaal durchzudenken und ihre Entscheidung, ob sie ihr Schicksal mit dem Mann auf dem Operationstisch teilen wollen oder nicht, zu begründen. Dies geschieht durch die Vorlage der Versuchsanordnung mit der Experimentalfrage und die Diskussion möglicher Ergebnisse im Lehrer-SchülerGespräch. Dieses Experiment könnte auch als heuristisches Mittel des Erkenntnisgewinns dienen, wenn es darum geht herauszufinden, ob Menschen tatsächlich in ihrem Leben nach Lustmaximierung streben. Gedankenexperimente sind auch unterschiedlich in einer Unterrichtsreihe zu einem Themenbereich einsetzbar. Sie können in der Problemeröffnungsphase als impulsgebendes Medium für die Herstellung von philosophischem Problembewusstsein eingesetzt werden, sie können aber auch in der Problembearbeitungsphase für die

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Nietzsche, Friedrich: »Morgenröte«, in: Nietzsche, Friedrich: Das Hauptwerk, 4 Bde., Bd. 2: Morgenröte – Die fröhliche Wissenschaft, hrsg. von Perfahl, Jost, Nymphenburger Verlag, München 1990, Aphorismus 117, S. 103 – 104.

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Paul Georg Geiß

Darstellung einer bestimmten Position oder als ein Glied einer größeren Argumentationskette Verwendung finden. Denkbar ist auch der heuristische Einsatz von Gedankenexperimenten, um schwierige philosophische Texte zu erschließen, wie dies Diesenberg zum Kant-Text »Was ist Recht?« vorgeschlagen hat.24 Auch in der Transferphase lassen sich philosophisch erworbene analytische oder argumentative Kompetenzen zu einem Themenbereich mit Gedankenexperimenten weiter vertiefen.

Arbeitsmethode In Wahl- oder Pflichtmodulen könnte das Gedankenexperiment als Arbeitsmethode vermittelt werden, die auch bei Abiturprüfungen gut zum Einsatz kommen kann. Dabei könnten mehrere Stufen des Kompetenzerwerbs erreicht werden.

Kompetenzerwerb beim Gedankenexperiment 1) Ein Gedankenexperiment lesen, das philosophische Problem ermitteln, die Kernaussage herausarbeiten und weiterführende Fragen stellen. 2) Ein vorgelegtes Gedankenexperiment in Hinblick auf den Aufbau und seine Merkmale (Prolog/Fragestellung, Versuchsanordnung, Experimentalfrage, Durchführung, Ergebnis/Epilog, verwendete Kunstgriffe, Art des Gedankenexperiments) analysieren und kritisch Position beziehen. 3) Ein Gedankenexperiment mit vorgegebener Fragestellung, Versuchsanordnung und Experimentalfrage selbständig durchführen und die möglichen Ergebnisse philosophisch reflektieren. 4) Für eine angegebene Versuchsanordnung einen Rahmen und eine dafür passende Experimentalfrage finden und das Gedankenexperiment durchführen. 5) Sich ein Gedankenexperiment zu einem philosophischen Problem (Rahmen) selbst ausdenken und philosophisch reflektieren. Diese erste Stufe entspricht der hermeneutischen Texterschließungskompetenz, wie sie auch für die behandelten Textsorten des Regelunterrichts angestrebt wird. Für die analytische Methodenkompetenz sind hingegen systematisierte Kenntnisse der Methode wie auch Erfahrungen mit Einzelbeispielen zu vermitteln. Die Progressionsstufen 3 bis 5 beziehen sich auf den problemlösenden Einsatz des Gedankenexperiments im

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Diesenberg, Norbert: »Das Problem der philosophischen Begründung von Recht und Gerechtigkeit«, a.a.O.

Das Gedankenexperiment

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Unterricht, der bei Abiturprüfungen auch Aufgabenstellungen für den 3. Anforderungsbereich möglich macht. Wichtig ist dabei, den Schülerinnen und Schülern möglichst konkrete Versuchsanordnungen und Fragestellungen zu geben, die sie auch in schriftlicher Form durchführen können.25 Das didaktische Potential des Vergleichs einzelner Schülerarbeiten mit dem Originaltext kann dann für die Vertiefung des philosophischen Problemverständnisses genutzt werden.26

Geiß, Paul Georg: »Gedankenexperiment (hermeneutisch, analytisch, spekulativ)«, in: Geiß, Paul Georg: Fachdidaktik Philosophie. Kompetenzorientiertes Unterrichten und Prüfen in der gymnasialen Oberstufe, Verlag Barbara Budrich, Opladen/Berlin/Toronto 2017, S. 249 – 266.

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Viele konkrete Unterrichtsbeispiele finden sich auch im Reader zum Philosophie- und Ethiklehrertag am 10.11.2011 in Ockenheim: Engels, Helmut: Das Gedankenexperiment in Philosophie und Ethik, online unter: http://fv-philosophie.de/hp/index.htm (Stand: 01.07.2014). Vgl. Engels, Helmut: »Nehmen wir an …«. Das Gedankenexperiment in didaktischer Absicht, a.a.O., S. 185 – 224.

»Was wäre, wenn …?« Tobias Zürcher

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ann immer ich Schülerinnen und Schüler nach ihrer Meinung zum Unterricht befrage, erwähnen nicht wenige von ihnen die Beispiele. Dabei loben sie entweder die »vielen guten Beispiele« oder sie kritisieren den Einsatz von »zu schwierigen Texten« und wünschen sich mehr Beispiele zu den darin verhandelten Fragen. Die Sicht der Klasse spiegelt dabei jeweils meine eigene (Un-)Zufriedenheit als Lehrer: Gelingt es, Beispiele zu finden, die zum Denken anregen, die die Relevanz der Frage verdeutlichen, die ein Problem vereinfachen? Werden die Schülerinnen und Schüler herausgefordert, weil das Beispiel zeigt, dass eine Frage subtiler ist, als zunächst vermutet? Wenn ja, so liegt darin ein nicht unwesentlicher Teil des Glücks dieses Berufs. Wenn nein, bleibt vielleicht das Gefühl, an den Schülerinnen und Schülern vorbei unterrichtet zu haben. Wenn sie »Beispiel« sagen, so meinen sie (meistens) Veranschaulichungen, Konkretisierungen, Geschichten und auch Gedankenexperimente. Warum schätzen sie diese, und warum ist es gut, dass sie das tun? Zum Beispiel deshalb:

»Stelle dir Menschen vor in einer unterirdischen Wohnstätte mit lang nach aufwärts gestrecktem Eingang, entsprechend der Ausdehnung der Höhle; von Kind auf sind sie in dieser Höhle festgebannt mit Fesseln an Schenkeln und Hals; sie bleiben also immer an der nämlichen Stelle und sehen nur geradeaus vor sich hin, durch die Fesseln gehindert ihren Kopf herumzubewegen.« 1 Wer diese Geschichte einmal gehört hat, vergisst sie nicht mehr. Schülerinnen und Schüler nehmen diese Geschichte manchmal ein, zwei Jahre später auf und verwenden sie in Essays oder Vertiefungsarbeiten. Woran liegt das? Wir lesen die Geschichte und stellen uns unweigerlich Fragen: Was geschieht mit den Menschen, die nur die Schatten dessen sehen, was die »Gaukelkünstler« hinter ihnen in den Lichtschein des Feuers bewegen? Der Autor stellt Fragen, die wir uns zu eigenen machen: Können die Gefesselten je etwas anderes sehen als die Schatten? Die Absonderlichkeit der Szene schafft Raum, Ungewohntes zu denken. Diese Gedanken führen aber nicht zu Verworrenheit und Beliebigkeit. Dies deshalb, weil die Geschichte gleichzeitig exakt konstruiert und doch offen für Interpretation ist. Sie ist voller Metaphern, doch der Erzähler nimmt uns gleichsam an die Hand, indem er früh beginnt, Interpretationen vorzuschlagen. Den-

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Platon: Sämtliche Dialoge, 7 Bde., Bd. 5: Der Staat, übers., hrsg., mit Einleitungen, Literaturübersichten, Anmerkungen und Register versehen von Apelt, Otto, in Verbindung mit Hildebrandt, Kurt; Ritter, Constantin; Schneider, Gustav, Felix Meiner Verlag, Hamburg 1988, 514 a-b (S. 269).

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noch sind wir als Lesende gefordert, uns eigene Deutungen zu überlegen. Es mag auch sein, dass wir beginnen, in Gedanken an der Szene selbst Änderungen vorzunehmen, um zu schauen, welchen Einfluss dies auf die Interpretation haben könnte. Wir rätseln, knobeln und fantasieren und gewinnen dabei viel: Zunächst – und das sollten wir nie unterschätzen – macht das Spaß. Dann können wir uns sehr gut an Szenen und Geschichten erinnern, und schließlich erlangen wir ein besseres Verständnis von allgemeinen Begriffen, mit denen wir uns die Welt zugänglich machen. Von allen bildhaften, erzählerischen oder episodischen Mitteln, die wir beim Philosophieren verwenden können, verschaffen Gedankenexperimente den größten Ertrag. Sie bringen die Vorteile von einfachen Beispielen, bieten darüber hinaus aber ein erhebliches Potenzial für Begriffsarbeit und Argumentation. Im Folgenden werden Gedankenexperimente als philosophische Methode charakterisiert, ihre Eigenschaften erläutert und die mit ihnen erreichbaren Unterrichtsziele und didaktischen Vorteile diskutiert. Anschließend wird die Durchführung zweier ziemlich unterschiedlicher Gedankenexperimente anhand eines Ablaufschemas skizziert. Schließlich folgen Anregungen, wie im Unterricht selber Gedankenexperimente entworfen werden können.

 Wozu Gedankenexperimente im Unterricht? In einem Gedankenexperiment wird experimentiert, ohne sich die Hände schmutzig zu machen oder irgendwelche technischen Geräte zu benutzen. Wie jede andere Arbeit mit Begriffen ist auch die Durchführung eines Gedankenexperiments eine LehnstuhlArbeit.2 Wir experimentieren mit Hypothesen, interessanten Bedingungen, vermuteten Eigenschaften von Situationen und Menschen und stellen uns vor, was passieren könnte oder wie sich die Geschichte deuten, bewerten oder zu Ende denken lässt. Dabei stellt sich eine wichtige Vorfrage: Können wir mit Gedankenexperimenten tatsächlich Erkenntnisse gewinnen, die wir nicht auch, womöglich einfacher, auf anderem Weg erlangen könnten? Ist ein (schematisiertes) Argument nicht der direktere Weg? Obwohl es über alle philosophiegeschichtlichen Epochen unzählige Gedankenexperimente gibt, bleibt die Frage, was wir mit Gedankenexperimenten eigentlich erkennen. Was soll ein Experiment, das gar nicht real durchgeführt wird? Führen Gedankenexperimente etwa zu synthetischem Wissen a priori? Fördern sie lediglich Intuitionen? Testen wir bloß unseren common sense? Der Status von Gedankenexperimenten als philosophischer Methode ist umstritten.3 Die Kritik bezieht sich einerseits auf die

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Vgl. Dummett, Michael: »Begriffsanalysen ohne Definitionshoheit«, in: Schulte, Joachim; Wenzel, Uwe Justus (Hrsg.): Was ist ein ›philosophisches‹ Problem?, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2001, S. 27– 41. Vgl. Kühne, Ulrich: Die Methode des Gedankenexperiments, stw1742, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005. Umfassende Studie zur Geschichte und Leistungsfähigkeit von Gedankenexperimenten, mit besonderem Fokus auf deren Verwendung in den Naturwissenschaften; und vgl. Brown, James Robert: »Thought Experiments«, first published Sat Dec 28, 1996; substantive revision Tue Aug 12, 2014, in: Stanford Encyclopedia of Philosophy, auf: https://plato.stanford.edu/entries/thought-experiment/ (Stand: 17.05.2019).

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Funktion von modallogischen Überlegungen (zu Möglichkeit und Notwendigkeit, possible-world-scenarios), aber auch, weniger prinzipiell, auf die Art und Weise, wie Gedankenexperimente durchgeführt werden. So würden wir mehr oder weniger zufällig bestimmte Wertungen und Interpretationen vornehmen, ohne eben darlegen zu können, weshalb wir das tun. Solange also der Stellenwert dieser Interpretationen nicht geklärt sei, solle man ein Moratorium für Gedankenexperimente einführen.4 Ob diese Kritik auch den Philosophieunterricht betrifft, hängt davon ab, was wir genau erreichen wollen, wenn wir auf diese Weise philosophieren. Es kann durchaus sein, dass es ab einem bestimmten Grad der Detailliertheit einer Frage nicht mehr ergiebig ist, die Ungenauigkeiten und Interpretationsspielräume von Gedankenexperimenten zuzulassen, weil die Differenzen dann in einen unbefriedigenden Streit über Intuitionen münden. Für den Unterricht trifft dieser Vorbehalt aber aus zwei Gründen nicht zu: Einerseits beschäftigen wir uns selten mit den allerfeinsten Verästelungen eines Problems und andererseits ist es durchaus interessant, wenn sich dank des Gedankenexperiments eine Meinungsverschiedenheit auf unterschiedliche und sehr grundlegende Ansichten und Wertungen zurückführen lässt und diese nun artikuliert werden können. Die Vorteile von Gedankenexperimenten im Philosophieunterricht gegenüber anderen Methoden sind zahlreich. Wir klären diese Vorteile und bestimmen gleichzeitig, was ein Gedankenexperiment ist. Gedankenexperimente sollen auf Begriffe fokussieren. Sie thematisieren Begriffe zur Erschließung der Welt. Bertram spricht von »Grundbegriffe[n] des menschlichen Weltverhältnisses«.5 Es geht um Gerechtigkeit, Bewusstsein, Wissen, Leben und Tod und dergleichen mehr. Wir »experimentier[en] mit der Welt und unserer Bezugnahme auf sie in Gedanken«.6 Danach wird ein Begriff besser verstanden, vielleicht wird er sogar revidiert, oder ein neuer Begriff wird gewonnen. Im (einfacheren) Fall der Illustration ist das Gedankenexperiment ein erzählerisch ausgebautes Beispiel, der Unterschied zwischen reiner Illustration (»x ist ein typisches y«) und einem Argument ist aber fließend. Mit einem Beispiel sagen wir, dass etwas ein Fall von etwas anderem ist. Das Beispiel ist existenzielle Quantifizierung (prädikatenlogisch 8x [Fx]: Fa); es ermöglicht die Überlegung, ob Fa existiert. Falls ja, so wird 8x [Fx] zwar dadurch nicht wahr, aber möglicherweise gestärkt, entweder je wichtiger der Fall Fa für uns ist oder je mehr weitere Fälle (Fb, Fc…) wir finden. Das Beispiel dient dazu, die Relevanz oder Erklärungsreichweite einer Annahme zu bestimmen. Diese wird solange bestätigt, bis ein Gegenbeispiel ~Fa gefunden ist, das die Reichweite der Annahme einschränkt oder diese sogar falsifiziert. Ein Beispiel: Die Annahme sei »Lügen ist immer falsch«. Also ist auch »Freunde anlügen« falsch. Weil Freunde uns wichtig sind und die Frage, ob wir sie anlügen dürfen, für Freundschaften wichtig ist, ist diese Ableitung aus der Annahme

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Hintikka, Jaakko: »The Emperor’s New Intuitions«, in: The Journal of Philosophy 96, 1999, Issue 3, 127– 147: S. 147. Bertram, Georg W. (Hrsg.): Philosophische Gedankenexperimente. Ein Lese- und Studienbuch, Reclam Taschenbuch 20414, Philipp Reclam jun., Stuttgart 2012, S. 60. Tetens, Holm: Philosophisches Argumentieren. Eine Einführung, bsr 1607, Verlag C.H. Beck, München 2015, S. 116.

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relevant. Finden wir aber den Fall: »Freunde anlügen ist dann richtig, um sie vor großen Enttäuschungen zu bewahren«, so müssen wir die Annahme korrigieren (Lügen ist dann höchstens »oft falsch«) oder verwerfen. Gedankenexperimente enthalten solche Beispiele, das heißt, sie finden auf Grundlage eines passenden erzählerischen Rahmens statt. Dieser Rahmen ist typischerweise kontrafaktisch, was ein reines Beispiel (regelmäßig) nicht ist. Ist das Gedankenexperiment darauf hin konzipiert, ein Gegenbeispiel zu finden (bspw.: »Stell dir vor, du versprichst deinem Freund Franz, alle seine unveröffentlichten Bücher zu verbrennen; sollst du das Versprechen halten?«), so handelt es sich um ein »kritisches« Gedankenexperiment, das oftmals als reductio ad absurdum rekonstruiert werden kann (bspw.: »Stell dir vor, Lügen wäre erlaubt, dann würde Lügen unmöglich, also kann Lügen nicht erlaubt sein«). Falls eine These gestützt werden soll, ist es ein »apologetisches« 7 Gedankenexperiment.8 Gedankenexperimente können Teil längerer argumentativer Zusammenhänge sein und in regelrechten Argumentationsketten aufeinander »antworten«. Gedankenexperimente fördern Intuitionen. Es ist sinnvoll, diesen das »erste (wenn auch nicht »letzte«) Wort« zu einem philosophischen Problem zuzugestehen. Dennett bezeichnet Gedankenexperimente als »Intuitionenpumpen«.9 Gedankenexperimente eignen sich ausgezeichnet als Ausgangspunkt für Diskussionen. Als »heuristisches Mittel«10 dienen sie dazu, Argumente und Wertungen zu artikulieren oder neue zu entwickeln. Im Unterricht ist dies sehr ergiebig: Wenn es mit einem Gedankenexperiment möglich ist, die Schülerinnen und Schüler mit einem (ansonsten kaum zugänglichen) Problem bekannt zu machen und dazu erst noch Meinungen zu evozieren, so ist enorm viel erreicht. Der Einstieg in eine größere Unterrichtssequenz, ja selbst der Beginn des gemeinsamen Philosophierens (vgl. Höhlengleichnis) wird mit einem Gedankenexperiment sehr zugänglich und unmittelbar. Ein Gedankenexperiment schafft eine bestimmte Vergleichshinsicht zu unserer aktualen Welt. So ist etwa in der konstruierten Welt des Höhlengleichnisses vieles irreal, doch etwas ist gleich wie in unserer Welt: der Mensch, der nach Erkenntnis strebt und sich (nicht) mit Trugbildern abspeisen lässt. Das Szenario ist logisch (wohl sogar nomologisch) möglich. Das Erzählerische schafft sofort Zugang, die Szene ist klar, sie ist illustrativ, aber nicht übermäßig mit Details ausgestattet, die von den zentralen Punkten ablenken könnten. Wir können Gedankenexperimente als gut aufgeräumte Situationen in einer möglichen Welt bezeichnen. Aufgrund der »Aufgeräumtheit« unter-

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Ob es sich um ein »kritisches« oder ein »apologetisches« Gedankenexperiment handelt, hängt von der Ausgangslage ab. Das obige Beispiel kann ebenso gut als Verteidigung des Lügenverbots verstanden werden. Vgl. Popper, Karl Raimund: »On the Use and Misuse of Imaginary Experiments, especially in Quantum Theory«, in: Popper, Karl Raimund: The Logic of Scientific Discovery, Hutchinson & Co., London 1959, S. 442 – 456. Dennett, Daniel: Intuition Pumps And Other Tools for Thinking, W. W. Norton & Company, New York/NY 2003, S. 6. Pfister, Jonas: Werkzeuge des Philosophierens, RUB 19138, Philipp Reclam jun., Stuttgart 2013, S. 103.

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scheiden sich Gedankenexperimente von den meisten anderen Geschichten. Erst diese Eigenschaft ermöglicht es, einen (oder eine begrenzte Zahl von) Grundbegriff(en) besser zu verstehen oder in der (kreativen) Auseinandersetzung mit Gedankenexperimenten neue Grundbegriffe hervorzubringen. Gedankenexperimente sind von Ablenkung gereinigte Fälle. Diese Reduktion ist entscheidend, wichtiger noch als der vielgenannte Aspekt des Kontrafaktischen.11 Die Tatsache, dass das Gedachte hier-undjetzt nicht (real) passiert oder zutrifft, hat lediglich damit zu tun, dass wir nicht immerzu alles erleben können (und wollen!), worüber wir nachdenken.12 Gedankenexperimente haben kreatives Potenzial. Sie sind oft überraschend; das Kontrafaktische ist ungewöhnlich, ermöglicht neue Sichtweisen, vielleicht ein Einfühlen in einen Akteur und somit einen Perspektivenwechsel. Sie können provokant sein und dadurch zur Verteidigung oder Kritik bestehender Positionen herausfordern. Aus diesen Gründen sind sie besonders lernfreundliche oder »gehirn-affine Lehr- und Lernkonzepte«.13 Sie eignen sich, Motivation zu erzeugen bzw. diese auf den Unterrichtsgegenstand zu richten. Uns fallen Ereignisse oder Sachverhalte dann besonders auf, wenn sie ungewohnt oder überraschend sind. An etwas interessiert sein, bedeutet, einen Unterschied (inter esse) zu machen zwischen für uns Gewöhnlichem (und mithin Langweiligem) und Neuem. Daraus folgt, dass auch guter Unterricht neu und wohl in geeigneter Dosis überraschend sein sollte. Das Überraschende und emotional »Beladene« sowie der Einzelfall werden gegenüber dem Gewohnten und Allgemeinen besser memoriert.14 Das Weiterdenken-Können einer Geschichte ist zudem ein selbstgesteuerter Prozess, der hohe persönliche Bezugnahme oder Identifikation ermöglicht. Es ist nicht erstaunlich, dass die außergewöhnlichen Geschichten, welche Gedankenexperimenten zugrunde liegen, oft guten Stoff für Literatur und Film hergeben (denken wir an den ersten Film aus der Matrix-Reihe, Minority Report, Blade Runner u.v.a.). Im

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Engels, Helmut: »Nehmen wir an …«. Das Gedankenexperiment in didaktischer Absicht, Philosophie und Ethik unterrichten, Bd. 2, Beltz Praxis, Beltz Verlag, Weinheim/Basel/Berlin 2004, S. 14. In einem in der Philosophie des Geistes berühmten Gedankenexperiment von David Chalmers geht es darum, sich (philosophische) Zombies vorzustellen. Diese Wesen sind äußerlich und in ihrem gesamten Verhalten von normalen Menschen nicht zu unterscheiden, jedoch nicht in der Lage, etwas zu erleben (es ist »niemand zu Hause«). Chalmers meint, es sei logisch möglich, dass es Zombies gäbe (vgl. Chalmers, David J.: The Conscious Mind. In Search of a Fundamental Theory, Oxford University Press, Oxford/New York/NY 1996, S. 96). Unter der Bedingung der logischen Möglichkeit ist es interessant, darüber zu diskutieren, ob es auch nomologisch möglich ist, dass es Zombies gibt. (Etwas ist nomologisch möglich, wenn es nach der Geltung der gegebenen Naturgesetze möglich ist, wobei angenommen wird, dass diese Naturgesetze kontingent sind.) Gewissermaßen geht es hier bereits um die Frage, ob das Gedankenexperiment denkbar ist. Gedankenexperimente können also auch die Grenzen des Denkbaren thematisieren. Schirp, Heinz: »Neurowissenschaften und Lernen. Was können neurobiologische Forschungsergebnisse zur Weiterentwicklung von Lehr- und Lernprozessen beitragen?«, in: Caspary, Ralf (Hrsg.): Lernen und Gehirn. Der Weg zu einer neuen Pädagogik, Herder Spektrum, Herder Verlag, Freiburg/Basel/Wien 7 2006, S. 99 – 127: S. 101. Vgl. Standop, Jutta: »Zusammenhänge zwischen Emotionen und Lernen – was geschieht im Gehirn?«, in: unterrichten / erziehen 20, 2001, Heft 6, S. 291– 294; und vgl. Spitzer, Manfred: Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens, Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg/Berlin 2002, S. 35.

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Unterricht sind Literatur und Film gute Ausgangslagen für die Durchführung von Gedankenexperimenten. Wir führen sie durch, indem wir uns fragen, wie wir unter gegebenen Umständen denken oder handeln würden. Im Gegensatz zu Szenen, die direkt auf Argumentation hin entworfen sind, schaffen literarische Vorlagen für Gedankenexperimente die Möglichkeit, sich intensiv mit Personen zu identifizieren oder sich von ihnen abzugrenzen. Die Beschreibung einer Person in einem Roman fordert uns auf, unsere eigenen Erfahrungen mit denen dieser Person zu vergleichen und damit unweigerlich zu Verbündeten oder Kritikern zu werden (so beispielsweise die Darstellung des Raskolnikow in Dostojewskis Verbrechen und Strafe). Ein anderes eindrückliches Beispiel liefert Philip Roth15, der die Geschichte der USA ab 1942 unter der Annahme fortschreibt, dass nicht der bisherige Amtsinhaber Franklin D. Roosevelt, sondern der Fliegerheld und Antisemit Charles Lindbergh zum Präsidenten der USA gewählt wird. Plastischer und eindringlicher kann das Irreale und doch Mögliche nicht beschrieben werden. Wie erwähnt, sind Gedankenexperimente nicht die Geschichten selbst, die ihnen zugrunde liegen, sondern sie bestehen (zusätzlich) in einer Durchführung.16 Wir stellen uns eine kontrafaktische Situation nicht bloß vor, sondern denken sie weiter. Wenn ich mir lediglich ausmale, wie die Altstadt von Bern in 100 Jahren aussehen wird, dann habe ich noch nicht experimentiert. Dies geschieht erst, wenn wir die Geschichten in uns »drehen und wenden« und die Art, wie wir das tun, eine gewisse Offenheit hat. (Gedankenexperimente sind keine Beweise, die wir formal prüfen könnten.) Die Durchführung eines Gedankenexperiments ist eine begriffliche Tätigkeit. Wir prüfen Varianten, bedenken Folgerungen und die Kohärenz mit anderen Gedanken. Aus diesem Grund sind Realexperimente kein Ersatz für Gedankenexperimente, obwohl auch das Realexperiment zu begrifflicher Arbeit veranlassen kann. Es wäre möglich (obwohl höchst unwahrscheinlich), dass ich mich tatsächlich entscheiden müsste, wie die Weichen einer Straßenbahn zu stellen wären, die einen oder mehrere Menschen zu überfahren droht.17 Doch selbst dann bliebe begriffliche Arbeit, nämlich die Klärung der Frage, was ich tun soll und aus welchen Gründen ich es tun soll. Dies kann ich glücklicherweise erörtern, auch ohne die Situation erleben zu müssen (vermutlich sogar besser). Das gilt nicht nur für Grundbegriffe der Ethik. Gedankenexperimente können auch naturwissenschaftliche Grundbegriffe thematisieren. Es gibt berühmte Beispiele aus dem Grenzbereich zwischen Physik und Philosophie wie Schrödingers Katze18, aber auch das »Turmexperiment« über den freien Fall schwerer Körper ist (nach überwie-

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Roth, Philip: The Plot against America, Vintage International, New York/NY 2005. Trotzdem nenne ich im Folgenden auch die Vorlagen, Geschichten, Szenen etc. selbst Gedankenexperimente (so wie es auch Sammlungen von Gedankenexperimenten in Büchern gibt, obwohl diese erst noch durchgeführt werden müssen, um tatsächlich zu Experimenten zu werden). Zum Trolley-Problem vgl. Foot, Philippa: »The Problem of Abortion and the Doctrine of the Double Effect«, in: Foot, Philippa: Virtues and Vices, Basil Blackwell, Oxford 1978, S. 19 – 32. Vgl. Genz, Henning: Gedankenexperimente, Wiley-VCH, Weinheim/New York/Toronto 1999, S. 194 – 198.

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gender Auffassung) von Galilei realiter nicht durchgeführt worden.19 Es war für Galilei schlicht nicht nötig, möglichst genaue Messungen vorzunehmen, um Aristoteles’ Annahme, die Fallgeschwindigkeit hinge vom spezifischen Gewicht ab, zu widerlegen. Es reichte ein (gedankliches) Modell, um die aristotelische Annahme ad absurdum zu führen. Schließlich ist aber realen wie gedanklichen Experimenten gemein: Eine gute Versuchsplanung verlangt, auf Wesentliches zu reduzieren und Zufallsvariablen (physikalischer oder gedanklicher Art) auszuschalten.

 Gedankenexperimente durchführen Im vorangegangenen Abschnitt wurde einleitend die Eignung von Gedankenexperimenten zur Themeneinführung und zum Anstoß von Debatten hervorgehoben. Es gibt aber viele Einsatzmöglichkeiten und Ziele. Während der Impuls zu einer neuen Sequenz typischerweise im Plenum als Lehr- oder Klassengespräch gegeben wird, eignen sich Gedankenexperimente ebenfalls gut für Einzel- und Gruppenarbeiten, zur Übung von Textverständnis oder zur Rekonstruktion von Argumenten und zum Ermitteln von Absichten des Autors. Wie eine umfassendere Arbeit mit Gedankenexperimenten aussehen könnte, soll anhand zweier Beispiele (eines aus der praktischen und eines aus der theoretischen Philosophie) dargelegt werden. Dazu wird ein Schema zur Bearbeitung in Teilschritten vorgeschlagen, das den bisher ermittelten Eigenschaften und Zielen von Gedankenexperimenten Rechnung trägt. Zunächst wird 1) eine Geschichte (Szene) vorgestellt. Sie kann gelesen, durch die Lehrperson erklärt oder auch in einem Kurzfilm angeschaut werden (z. B. mit einem Clip aus der Reihe 60 Second Adventures in Thought20 ). Nicht immer muss der Weg über einen Text führen. In jedem Fall sollte ein gemeinsames Grundverständnis der Ausgangslage sichergestellt werden. Ist dies getan, so werden (z. B. zunächst in Einzelarbeit) 2) Intuitionen ermittelt und erste Interpretationen versucht. Diese können 3) mit anderen verglichen, geordnet und unter Rückgriff auf bekannte Argumente und Theorien geprüft werden. Anschließend kann 4) die Deutung des Autors gelesen oder auf anderem Weg (z. B. textvergleichend) ermittelt und 5) kritisch dazu Stellung genommen werden. In vielen Fällen können dann 6) Einwände oder argumentativ anschließende Gedankenexperimente anderer Autoren mit einbezogen werden. Im Kontext der Schritte 5) und 6) bieten sich 7) eigene Modifikationen des Gedankenexperiments an, um den Fokus auf besonders umstrittene Aspekte zu rich-

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Norton, John D.: »Are Thought Experiments Just What You Thought?«, in: Canadian Journal of Philosophy, 26, 1996, Issue 3, S. 333–366: S. 340 – 345. Auf der Seite der Open University gibt es mehrere Kurzfime zu Gedankenexperimenten unter dem Titel: 60 Second Adventures in Thought, auf: https://www.open.edu/openlearn/body-mind/60-secondadventures-thought (Stand: 17.05.2019).

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ten.21 Betrachten wir als erstes Beispiel die Geschichte von Jim und Pedro von Bernard Williams (1929 – 2003), die von einer moralisch herausfordernden22 Situation handelt:

Jim befindet sich auf dem Marktplatz einer südamerikanischen Kleinstadt. Dort stehen zwanzig Indianer an einer Wand. […] Vor ihnen stehen mehrere bewaffnete Männer in Uniform. Ein dicker Mann in einem durch und durch verschwitzten Khakihemd stellt sich als der Hauptmann vom Dienst heraus. Nachdem er Jim eine ganze Zeit lang befragt hat, wobei sich herausstellt, dass Jim zufällig hierher gelangte, während er auf einer botanischen Expedition war, erklärt er ihm, dass die Indianer eine zufällig zusammengesetzte Gruppe von Einwohnern seien, die wegen ihrer Proteste gegen die Regierung jetzt getötet werden sollen, um andere mögliche Protestierer an die Vorteile des Nichtprotestierens zu erinnern. Wie auch immer, da Jim ein angesehener Besucher aus einem fremden Land ist, freut sich der Hauptmann, ihm das Privileg eines Gastes zu gewähren, selber einen von den Indianern zu töten. Falls Jim einwilligt, werden die restlichen Indianer aufgrund der besonderen Umstände laufen gelassen. […] Die Männer an der Wand und die übrigen Dorfbewohner verstehen die Lage und bitten ihn offensichtlich, einzuwilligen. Was soll(te) er tun?23 1) Welche Akteure kommen vor? Was wird von ihnen verlangt, und welche Handlungsalternativen haben sie? Zum gemeinsamen Grundverständnis gehört, dass Jim nicht fliehen oder die bewaffneten Männer überwältigen kann, ohne dass die Indianer getötet würden. Kein deus ex machina wird Jim aus dieser Zwickmühle befreien. In 2) und 3) stellt sich die Frage des Autors: Was soll Jim (oder wir an seiner Stelle) tun? Nebst dem Vergleich der Handlungsentscheidungen ist ein Vergleich der Handlungsgründe interessant. Wir können fragen, ob wir diese Handlungsgründe auch in anderen Fällen gutheißen. Sollen wir im Allgemeinen möglichst viele Leben retten oder niemals mit der Anzahl Leben rechnen; sollen wir Verbote strikt beachten, uns niemals »schmutzige« Hände machen oder die Wünsche der Mehrheit befolgen? Diese Debatte über die Gründe moralischen Handelns kann (abhängig vom Vorwissen) strukturiert und bedarfsweise mit verschiedenen normativen Ethiken verglichen werden. Williams hat seine Geschichte explizit als Kritik des Utilitarismus formuliert. Die systematische Einordnung 4) können Schülerinnen und Schüler entweder selbst vornehmen, oder die Geschichte ist bereits in dieser Absicht angekündigt. Wie sieht die utilitaristische Lösung

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Natürlich sind andere Reihenfolgen oder kürzere Bearbeitungen denkbar: Besteht viel Vorwissen, könnte von 1) direkt zu 4) übergegangen werden. Vielleicht wird 7) bereits früher nötig sein, um über Variantenbildung genau zu ermitteln, welche Grundbegriffe thematisiert werden sollen. In einigen Fällen sind 1) und 2) sehr ergiebig (»Stellen wir uns den Menschen im ›Naturzustand‹ vor…«), ohne sogleich mit Rousseau, Hobbes oder Rawls etc. anzuschließen. Ist die Situation »lösbar« in dem Sinne, dass mindestens eine Handlungsalternative moralisch richtig ist? Der Autor sieht es so. Die Geschichte ermöglicht aber auch die Diskussion, ob es in der Moral überhaupt »echte« Dilemmata gibt. Williams, Bernard: Kritik des Utilitarismus, übers. und hrsg. von Köhler, Wolfgang R., Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 1979, S. 61– 62.

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überhaupt aus? Welches Ergebnis erhalten wir nach Anwendung des Nutzenkalküls, indem wir Leid und Freude der Beteiligten für die jeweilige Handlungsalternative veranschlagen? Diese Berechnung könnte einzeln oder in kleinen Gruppen durchgeführt und gemeinsam verglichen werden. Liegen die Ergebnisse einigermaßen beieinander, wäre das zunächst ein gutes Zeichen für den (klassischen) Utilitarismus. Im Falle großer Unterschiede ließen sich prinzipielle Probleme diskutieren: Zeigen sich darin unüberwindbare Schwierigkeiten bei der Berechnung von Leid und Freude? Vermutlich wird jede utilitaristische Berechnung aufzeigen, dass Jim einen Indianer töten müsste. Wie stehen wir zu diesem Ergebnis? 5) In einem späteren Abschnitt seines Textes beantwortet Williams seine eigene Frage: Jim sollte einen Indianer töten. Die utilitaristische Betrachtung sei aber trotz gleichlautender Handlungsanweisung falsch, denn »es geht nicht bloß darum, ob die Antworten richtig oder offensichtlich sind. Es fragt sich eher, welche Art von Überlegungen in eine Beantwortung hineinspielen«.24 Was blendet der Utilitarismus aus? Viele Schülerinnen und Schüler nennen das »schlechte Gewissen«. Sollten sie ein solches haben, und falls ja, warum? Williams sagt, dass »jeder von uns besonders dafür verantwortlich ist, was er tut, und nicht so sehr dafür, was andere tun. Diese Überlegung hängt sehr eng mit dem Wert der Integrität zusammen«.25 Die Geschichte ist also ein kritisches Gedankenexperiment, daraufhin entworfen, ein Defizit einer Theorie aufzuzeigen. Ob Williams damit recht hat, kann vielfältig geprüft werden. Schülerinnen und Schüler können eine Replik aus der Sicht einer Utilitaristin bzw. eines Utilitaristen schreiben, sie können als Rollenspiel ein Streitgespräch zwischen Jeremy Bentham und Williams führen (und dergleichen mehr). Der Übergang zu 6) ist fließend. Was sagen überzeugte Utilitaristinnen zu dieser Geschichte? (Was antwortet Williams’ Co-Autor, der Utilitarist J.C.C. Smart?) Was bedeutet Integrität überhaupt? Wann handeln wir integer? Haben wir damit Erfahrungen gemacht? Lässt sich Integrität in Leid und Freude »übersetzen« oder versagt die Umrechnung in Nutzen tatsächlich? Zeigt das Beispiel eine Pluralität (und Inkommensurabilität) von Werten, die gegen den Utilitarismus spricht? Diese Überlegungen sind auf einer taxonomisch hohen Stufe anzusiedeln. Schülerinnen und Schüler sind besser in der Lage, diese Probleme zu diskutieren, je eher es ihnen aufgrund von Vorwissen gelingt, gleichsam die »Adlerperspektive« auf die normative Ethik einzunehmen. Wahlweise können Grundfragen der Ethik angegangen werden: Spielt es eine Rolle, ob ich etwas tue oder unterlasse? (Wie unterscheide ich beides?) Spielt es eine Rolle, aus welchen Gründen ich etwas tue? Was leisten tugendethische Ansätze? Welche Handlungsweise gebietet die Pflichtethik bzw. der kategorische Imperativ? Wie verhält sich der folgende Satz dazu: »[W]ehe dem! welcher die Schlangenwindungen der Glückseligkeitslehre durchkriecht«?26 Handelt es sich um eine Pflichtenkollision zwischen »Hilfeleisten« und »Nicht-Töten«,

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Ibid., S. 62. Ibid., S. 63. Kant, Immanuel: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre. Metaphysik der Sitten, erster Teil, hrsg. von Ludwig, Bernd, PhB 360, Felix Meiner Verlag, Hamburg 1999, S. 155.

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mit der eine »gemäßigte« Pflichtethik besser umgehen kann? Wie könnte eine Liste von prima-facie-Pflichten aussehen, und wie würden wir daraus das Gebotene bestimmen? 27 Die Fülle an Anschlussmöglichkeiten ist typisch für die Offenheit von Gedankenexperimenten und ermöglicht auch eine individualisierte Bearbeitung z. B. im Rahmen von selbst organisiertem Lernen. 7) Modifikationen an der Geschichte helfen uns, implizite Wertungen sichtbar zu machen: Spielt es eine Rolle, wie viele Menschenleben in Gefahr sind? Ändern wir unsere Überzeugung, wenn es nur ein Mensch, oder zwei … oder tausend sind? Spielt es eine Rolle, ob die Indianer, wie Williams suggeriert, für eine gerechte Sache kämpfen? Was wäre, wenn sie statt Unterdrückte Angehörige einer mafiösen Organisation wären? Welche vergleichbaren Fälle kennen wir aus den Medien, aus Filmen etc., und wie werten wir in diesen Fällen? Wenden wir uns einem Gedankenexperiment aus der theoretischen Philosophie zu. Thomas Nagel (*1937) fragt darin, wie es ist, eine Fledermaus zu sein. Anders als in Williams’ Geschichte ist in diesem Gedankenexperiment zunächst gar nicht so klar, worin das Kontrafaktische besteht. Nagel beschreibt nicht, was wäre, sondern was ist (nämlich die Fledermaus). Ins Irreale führt hingegen unser Versuch eines Perspektivenwechsels. Wir sollen uns überlegen, ob wir unser Ich gleichsam in eine Fledermaus übertragen können. Was würden wir erleben, wenn wir diese Metamorphose bis an die Grenze des Vorstellbaren gemacht haben? Nagel nimmt grundlegend an, dass Fledermäuse etwas erleben (»have experience«). Sie sind uns nahe genug, damit dies plausibel ist (sie sind Säugetiere), und doch ziemlich fremd, weil sie einen anderen Sinnesapparat haben (im Englischen noch deutlicher: »fundamentally alien form of life«.)28 Wir lesen bei Nagel:

[D]as Wesentliche an dem Glauben, dass Fledermäuse Erlebnisse haben, sei, dass es irgendwie ist, eine Fledermaus zu sein. Heute wissen wir, dass die meisten Fledermäuse […] die Außenwelt primär durch Radar oder Echolotortung wahrnehmen […] Obwohl das Fledermaus-Radar klarerweise eine Form von Wahrnehmung ist, ist es in seinem Funktionieren keinem der Sinne ähnlich, die wir besitzen. Auch gibt es keinen Grund zur Annahme, dass es subjektiv so wie irgendetwas ist, das wir erleben oder das wir uns vorstellen können. Das scheint für den Begriff davon, wie es ist, eine Fledermaus zu sein, Schwierigkeiten zu bereiten. Wir müssen überlegen, ob es uns irgendeine Methode erlauben wird, das Innenleben der Fledermaus aus unserem eigenen Fall zu erschließen, und falls nicht, welche alternativen Methoden es geben mag, um sich davon einen Begriff zu machen.29

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28

29

Ross, W. D.: »Ein Katalog von Prima-facie-Pflichten«, in: Birnbacher, Dieter; Hoerster, Norbert (Hrsg.): Texte zur Ethik, dtv 30096, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1997, S. 253 – 268. Nagel, Thomas: »What Is it Like to Be a Bat?«, in: The Philosophical Review 83, 1974, Issue 4, S. 435 – 450: S. 437. Nagel, Thomas: »Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?«, in: Bieri, Peter (Hrsg.): Analytische Philosophie des Geistes, Beltz Verlag, Weinheim/Basel/Berlin, S. 262 – 276: S. 262 – 263.

»Was wäre, wenn …?«

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Damit ist die Frage gestellt: Können wir wissen, wie es ist, eine Fledermaus zu sein? Wie ist diese Frage gemeint? Vielleicht behaupten Schülerinnen und Schüler, sie könnten sich umfassend in eine Fledermaus einfühlen. Dann wäre das Gedankenexperiment vielleicht bereits beendet. Denn gelänge es jemandem, umfassend und exakt wie eine Fledermaus zu erleben, so läge die Annahme nahe, er oder sie sei (zumindest in diesem Zeitpunkt) tatsächlich eine Fledermaus. Vielleicht behaupten andere, Fledermäuse hätten keine Erlebnisse. Beides bestreitet Nagel. Wie viel Raum in 1) diesen Einwänden gegeben wird, ist offen; fortgeschrittenen Schülerinnen und Schülern wird es leichter fallen, diese Annahmen zunächst (for the sake of the argument) zu akzeptieren und zu schauen, wohin die Reise führt.30 Nagels Beschreibung kann nicht wie Williams Geschichte in einen Frage- und einen Antwortteil unterschieden werden. Es bietet sich daher an, sofort den ganzen Text zu lesen. Die Schritte 2) und 3) können in diesem Fall nicht unabhängig erledigt werden. Unsere Intuition ist zentrales Thema von Nagels Geschichte, und sie bleibt zu prüfen, gerade auch, wenn die systematische Einordnung 4) geschehen ist. Nagel fragt nach der Natur des Bewusstseins. Können wir dieses objektiv beschreiben? Können wir etwas über das Bewusstsein lernen, indem wir die Fledermaus beobachten und ihre Biologie untersuchen? Gibt es einen Unterschied zwischen der Funktionsweise des Bewusstseins (in der Verhaltenssteuerung, bei der Unterscheidung von Wachheit und Schlaf, im Grad der Aufmerksamkeit, in Prozessen der Informationsverarbeitung etc.) und dessen qualitativem Erlebnischarakter?31 Nagel kritisiert den (physikalischen) Reduktionismus in der Philosophie des Geistes. Was sind seine Thesen, und (wie) begründet er diese? Um 5) Nagels Deutung besser zu verstehen, muss klar sein, was ein Analogieschluss ist. Wo werden Analogien gezogen? Zunächst nimmt Nagel an, dass wir aufgrund eigener Erlebnisse auf das Erleben von anderen hinreichend ähnlichen Wesen schließen dürfen. Wir schließen dabei aufgrund der Ähnlichkeit des Sinnesapparats auf die Ähnlichkeit des subjektiven Erlebnisses. Besteht keine Ähnlichkeit des Sinnesapparats, so bleibt uns das Erlebnis unverständlich. Da wir keine Erfahrungen mit einem Echolotsystem haben, fehlt uns die Vergleichsmöglichkeit. Auch Nachahmung hilft nicht weiter: Denn jede Nachahmung würde mich nur erleben lassen, »[…] wie es für mich wäre, mich so zu verhalten, wie sich eine Fledermaus verhält. Das aber ist nicht die Frage. Ich möchte wissen, wie es für eine Fledermaus ist, eine Fledermaus zu sein«.32 Alles Wissen über Fledermäuse könnte uns die Erfahrung, wie es ist, eine Fledermaus zu sein, nicht verschaffen. Die Schülerinnen und Schüler können aufgefordert werden, selbst eine Formulierung des Analogiearguments zu finden. Außerdem können sie die

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Auf die Einwände detailliert einzugehen, würde allerdings einen ganz ähnlichen Fortgang nehmen, wie wenn Nagels Annahmen akzeptiert würden. Denn wie soll jemand begründen, dass er sich in Fledermäuse einfühlen kann? Chalmers, David J.: »Facing Up to the Problem of Consciousness«, in: Journal of Consciousness Studies 2, 1995, Issue 3, S. 200 – 219. Nagel, Thomas: »Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?«, in: Bieri, Peter (Hrsg.): Analytische Philosophie des Geistes, a.a.O., S. 264.

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beiden Sichtweisen (Innenperspektive und Fremdperspektive) auf das Bewusstsein unterscheiden. Da die Analogie schließlich (von Nagel) verneint wird, stellt sich die Frage, was seine allgemeine Schlussfolgerung ist. Hier ist interessant zu sehen, dass es eine weniger weitreichende und eine extrem weitreichende Schlussfolgerung gibt. Im Rahmen der Kritik 6) können wir fragen, wie tragfähig ein Analogieschluss zur Erklärung des Bewusstseins anderer überhaupt ist. Zeigt Nagel lediglich, dass wir uns das Bewusstsein hinreichend fremder Wesen nicht vorstellen können, oder zeigt er, dass uns jedes fremde Bewusstsein letztlich rätselhaft bleiben muss? Eine interessante Partnerarbeit besteht nun darin, zu versuchen sich das jeweils fremde Bewusstsein (des Gegenübers) vorzustellen. Wir können dies schon als Modifikation 7) von Nagels Szenario verstehen. Kann ich wissen, wie es ist, mein menschliches Gegenüber zu sein? Begründe ich meine Antwort mit Verweis auf das Verhalten, nenne ich bestimmte biologische Eigenschaften oder vergleiche ich direkt mit mir selbst? Der Versuch kann auf ein ähnliches Gedankenexperiment ausgeweitet werden: Was zeigt uns der Turing-Test, Alan Turings imitation Game33, der mittlerweile mit hoch entwickelten Computerprogrammen durchgeführt wird? Oder hat John Searle recht, wenn er mit dem Gedankenexperiment über das chinesische Zimmer34 zu zeigen versucht, dass eine »künstliche Intelligenz« niemals verstehen wird, was sie funktional leistet, und mithin kein Bewusstsein haben kann?

 Gedankenexperimente entwerfen Die beiden Beispiele im 3. Teil zeigen vielfältige Möglichkeiten, wie existierende Gedankenexperimente durchgeführt werden können. Ungleich schwieriger ist es, selbst ein Gedankenexperiment zu entwerfen. Schülerinnen und Schüler sind eher in der Lage, Gedankenexperimente zu entwerfen, wenn sie bereits einiges Wissen und Übung im Argumentieren haben, wenn sie gerne schreiben und vor allem auch genug Zeit haben, ihre Gedanken zu entwickeln. Gute Erfahrungen wird man damit in längeren, individualisierten Sequenzen machen – alles andere dürften seltene und glückliche »Zufallsfunde« sein. Es liegt in der Natur der Sache, dass für diesen kreativen Prozess keine zuverlässige Anleitung gegeben werden kann.35 Trotzdem eine Anregung: Verstehen wir Philosophieren als Auseinandersetzung mit allgemeinen Begriffen, so ist die erste Frage, welcher Begriff thematisiert werden soll. Vielleicht wird das Gedankenexperiment bereits (kritisch oder apologetisch) auf eine Schlussfolgerung hin entworfen. Die Schülerin bzw. der Schüler muss also ihr bzw. sein Argumentationsziel kennen. In der Regel ist es einfacher, wenn dieses Ziel detailliert ist – vielleicht, weil sie damit auf ein beste-

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Turing, Alan M.: »Computing Machinery and Intelligence«, in: Mind New Series 59, 1950, Issue 236, S. 433 – 460. Searle, John: »Minds, Brains and Programs«, in: Behavioral and Brain Sciences 3, 1980, Issue 3, S. 417– 457. Engels, Helmut: »Nehmen wir an …«. Das Gedankenexperiment in didaktischer Absicht, a.a.O., S. 88 – 184.

»Was wäre, wenn …?«

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hendes Argument oder eine wichtige Unterscheidung Bezug nimmt (es ist einfacher, einen Aspekt des Utilitarismus zu kritisieren als die Theorie insgesamt). Die Szene muss nun zunächst entwickelt und dann auf einen (oder wenige) Aspekt(e) reduziert werden, sie schafft Kontrast, indem sie Weniges ausleuchtet und Unwesentliches eliminiert. Menschen und Umstände sind etwas mehr schwarzweiß als in Wirklichkeit. Die Szene kann Handlungsalternativen (auf zwei) einschränken. Sie kann menschliche Fähigkeiten verstärken oder erfinden (Gedanken lesen; perfekte Erinnerung; unsterblich sein etc.) oder ausschalten (Blindheit, Gedächtnisverlust etc.). Die Umgebung selbst kann schwarzweiß werden (vgl. Mary, Jackson 1982)36, unmenschlich sein (Mörder klopft an die Tür) oder ohne andere Menschen gedacht werden (Aufwachsen bei Wölfen). Weniger ist dabei mehr: Gedankenexperimente ähneln Novellen, nicht Romanen. Schülerinnen und Schüler haben sich beispielsweise die Frage gestellt, ob Unwissenheit nicht besser ist als Wissen. Sie schrieben dazu sinngemäß folgenden Geschichte: Stell dir vor, du wärst ein Bauer mit einem großen Feld. Jeden Tag kommt ein Dieb vorbei, der eine Sonnenblume abschneidet. Das Feld ist so groß, es fällt dir nicht auf. Wünschst du dir, dass ein aufmerksamer Nachbar dich auf den täglichen Diebstahl aufmerksam macht, oder wäre dir lieber, das niemals zu erfahren? Die Realisierung des Gedankenexperiments kann fächerübergreifende Anteile aufweisen. So haben Schülerinnen und Schüler sich (ausgehend von Kant) über Wahrnehmung Gedanken gemacht und folgende Installation gebaut: Der Betrachter hält den Kopf in eine Box hinein und sieht die schwachen Umrisse eines Schattens. Nun kann eine kleine Lampe eingeschaltet werden, der Schatten wir deutlicher, der Gegenstand wird zunehmend in mehreren Dimensionen (und Farben) wahrgenommen. Die Anweisungen laufen über einen (Handy-)Lautsprecher, wobei eine Stimme fragt, wie es wäre, in der farblosen oder der zweidimensionalen Welt zu existieren. Etwas einfacher als das komplette Entwerfen eines Gedankenexperiments ist es, dieses substanziell abzuändern. Der Unterschied zur »Modifikation« (vgl. 2.) ist fließend, könnte aber darin gesehen werden, dass mit der Änderung nun ein wesentlich neues Argumentationsziel gewählt bzw. neue Begriffe thematisiert werden. Peter Singer hat folgende Geschichte entworfen37 : Ein kleines Kind droht vor meinen Augen in knietiefem Wasser zu ertrinken. Ich könnte es retten, doch würde ich dabei Schuhe und Kleidung ruinieren. Singers Auswertung lautet: Wenn wir (was er annimmt) das Kind retten, so müssten wir auch bereit sein, Geld (in der Höhe des Wertes von Schuhen und Kleidung) zu spenden, um notleidenden Kindern in der Dritten Welt das Leben zu retten. Häufig wenden Schülerinnen und Schüler ein, dass wir bei einer Geldspende niemals sicher sein könnten, dass damit Gutes bewirkt wird. Wie könnten wir Singers Geschichte ändern, um seine Konklusion gegen den Einwand zu verteidigen? Der Einwand betrifft die Erfolgswahrscheinlichkeit der Hilfe, die in der Grundversion (implizit) als sehr hoch unterstellt wird. Ändern wir

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Vgl. das von Frank Jackson verfasste Gedankenexperiment »Mary« in: Jackson, Frank: »Epiphenomenal Qualia«, in: The Philosophical Quarterly 32, 1982, Issue 127, S. 127– 136. Singer, Peter: Leben retten. Wie sich die Armut abschaffen lässt – und warum wir es nicht tun, übers. von Kanter, Olaf, Arche Verlag, Zürich 2010, S. 16.

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diese und schauen wir, was sich ändert: Das Kind treibt in einem stehenden Gewässer, ich sehe es, nachdem ich mit dem Fahrrad vorbeigefahren bin und es sich bereits nicht mehr bewegt. Wie hoch ist die Chance, dass es noch lebt? Höher als 50 % oder doch nur 10 %? Bin ich trotzdem bereit, Kleidung und Schuhe zu ruinieren, um es (vielleicht) zu retten? Ist nun die Erfolgswahrscheinlichkeit einer Geldspende (an eine seriöse Hilfsorganisation) nicht höher als diese 50 % oder 10 %? Falls ja, muss ich a fortiori auch Geld spenden, wenn ich den Rettungsversuch ins Wasser wage.

 Eignen sich alle Arten von Gedankenexperimenten gleichermaßen für den Unterricht? Zu Beginn wurde darauf hingewiesen, dass ein Streit über Intuitionen auch unfruchtbar sein kann. Als Test könnten wir fragen, ob überhaupt noch ein verständlicher Grundbegriff thematisiert wird oder nicht; wenn der Grundbegriff noch einer ist, mit dem Schülerinnen und Schüler etwas anfangen können, umso besser. Gibt es Themen, über die wir auch in Gedanken nicht experimentieren sollten? »Nein!«, rufen wir als Philosophinnen und Philosophen, das Denkverbot schützt nur schlechte Argumente. Als Pädagoginnen und Pädagogen sollten wir trotzdem Folgendes im Auge behalten: Zu viel Provokation kostet Zeit und lenkt im schlimmsten Fall vom Thema ab. Wir sollten die Unterrichtszeit für das Philosophieren verwenden und nicht mit (falscher) Empörung verschwenden. Gedankenexperimente können zu Überlegungen animieren, die sonst »teuer« erarbeitet werden müssten. Sie lassen sich in allen philosophischen Teildisziplinen (von der Wissenschaftstheorie, über die Ethik bis zur Philosophie des Geistes) einsetzen und bieten Möglichkeiten zur interdisziplinären Arbeit. Sie lassen anschaulich philosophieren, bleiben aber nicht im »Wahrnehmungsbrei« stecken, weil sie nach umfassender und differenzierter Beschreibung verlangen. Den Lernenden ermöglichen sie eine »erfahrungs-, lebens-, leib- und interessengebundene Zugangsweise« 38 zu einem abstrakten Thema. Nichts ist gleichzeitig so spektakulär und doch so einfach und jederzeit möglich wie das »Hantieren mit Gedanken« in unserem ganz eigenen »Labor des Geistes«. Quelle: Zürcher, Tobias: »Gedankenexperiment«, in: Pfister, Jonas; Zimmermann, Peter (Hrsg.): Neues Handbuch des Philosophie-Unterrichts, UTB 4514, Haupt Verlag, Bern 2016, S. 313 – 330.

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Brüning, Barbara; Martens, Ekkehard (Hrsg.): Anschaulich philosophieren: Mit Märchen, Fabeln, Bildern und Filmen, Philosophie und Ethik unterrichten, Bd. 5, Beltz Verlag, Weinheim/Basel/Berlin 2007, S. 12.

Arten und Funktionen von Gedankenexperimenten Barbara Brüning

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tellen wir uns vor, die Naturwissenschaften würden das Opfer der Auswirkungen einer Katastrophe. Die Öffentlichkeit lastet den Wissenschaften mehrere verheerende Umweltpannen. Es kommt verbreitet zu Unruhen. Labore werden niedergebrannt, Physiker gelyncht, Bücher und Geräte vernichtet. Schließlich übernimmt eine politische Bewegung des Nichtwissens die Macht und schafft mit Erfolg den naturwissenschaftlichen Unterricht an Schulen und Universitäten ab, indem sie die noch lebenden Wissenschaftler ins Gefängnis wirft und liquidiert. Später setzt die Gegenströmung gegen diese zerstörerische Bewegung ein und einige aufgeklärte Menschen versuchen, die Wissenschaften wieder zu beleben, wenngleich sie weitgehend vergessen haben, was das einmal war. Sie besitzen nur noch Bruchstücke: ein Wissen um Experimente ohne Kenntnis des theoretischen Zusammenhangs, der diesen Experimenten erst ihre Bedeutung verlieh; Teile von Theorien, die entweder zu den anderen Theoriefragmenten, die noch bekannt sind, oder zu den Experimenten keinen Bezug haben; Geräte, deren Verwendungszweck man vergessen hat; halbe Kapitel aus Büchern, einzelne Seiten von Artikeln, die nicht immer ganz lesbar sind, weil sie zerrissen wurden oder angekohlt sind … Mit diesem Gedankenexperiment beginnt die englische Philosoph Alasdair MacIntyre sein berühmtes Buch Der Verlust der Tugend1. Er beschäftigt sich darin mit der Frage, ob wir mit unserem lückenhaften Wissen über die griechischen Tugenden genaue Aussagen darüber machen können, welche Bedeutung sie einst in der antiken Polis hatten. Um die Leserinnen und Leser zu eigenen Reflexionen anzuregen und gleichzeitig jedoch die Fragestellung seiner Untersuchung zu verdeutlichen, überträgt MacIntyre dieses Beispiel auf die Naturwissenschaften. Wie würde eine Gesellschaft funktionieren, die sich nur auf Bruchstücke aus den Naturwissenschaften stützen kann? MacIntyre setzt mit seinen Überlegungen eine Tradition fort, die bereits von Platon in seinen Dialogen angewendet wurde: die Aktivierung der philosophischen Phantasie durch Gedankenexperimente.

1

MacIntyre, Alasdair: Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, übers. von Riehl, Wolfgang, stw 1193, Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1995, S. 13 – 14.

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 Arten von Gedankenexperimenten Gedankenexperimente sind imaginativ-spielerische Experimente mit Gedanken und imaginären Möglichkeiten, die von faktischen Gegebenheiten abstrahieren und Sachverhalte betreffen, die in der Realität nicht existieren, aber dennoch existieren könnten und in bestimmten Fällen auch dem gesunden Menschenverstand zuwiderlaufen. Sie regen zu neuen Sichtweisen der Wirklichkeit an, indem sie Umstände und Elemente kombinieren, die in der Realität nicht zusammentreffen, aber möglicherweise zusammentreffen könnten, sollten oder müssten: »Ohne den Möglichkeitssinn würde unser Wirklichkeitssinn verkümmern, und wir wären auf immer Gefangene im Hier und Jetzt. Die Fähigkeit, durch das Tatsächliche hindurch das Mögliche zu erkennen, verdankt der Mensch sich selbst und seinem bisherigen evolutionären Erfolg. Ohne ihn wäre sein Handeln niemals über das Niveau der Reflexe und Instinkte hinausgelangt. In der Entwicklung des Möglichkeitssinns sollten wir deshalb eines der vornehmsten Ziele von Bildung erblicken, denn er schärft nicht nur sinnliche Wahrnehmung, sondern ist auch eine exzellente Schulung des analytischen Denkens.« 2 Helmut Engels (vgl. den Beitrag Gedankenexperimente auf den Seiten 9 – 20 in diesem Band) unterscheidet zwischen Gedankenexperimenten im engeren Sinn (kontrafaktische Gedankenexperimente) und Gedankenexperimenten im weiteren Sinn (realitätsnahe Gedankenexperimente).3 Gedankenexperimente im engen Sinn haben einen Hypothesencharakter und sind ganz oder teilweise Gegenstand philosophischer Phantasie. Wenn wir also das Beispiel einer Gesellschaft ohne Naturwissenschaften von MacIntyre in Gedanken durchspielen würden, so kämen wir entweder zurück zur Urgesellschaft, über deren Struktur wir nur sehr wenig wissen, oder wir würden darüber spekulieren, wie ein Leben ohne Technik aussehen könnte. Diese Spekulation hätte von vornherein irrealen Charakter. Sie könnte nicht verifiziert oder falsifiziert werden und wäre auch nicht Gegenstand einer philosophischen Theorie, sondern lediglich Methode zur Überprüfung unseres Denkens: Wäre ein Leben ohne oder mit Bruchstücken von Naturwissenschaften überhaupt möglich oder wünschenswert? Bezogen auf MacIntyres Intention heißt dies: Können wir mit bruchstückhaften Kenntnissen überhaupt sichere Aussagen über die Wirkungsweise der Tugenden in der griechischen Antike machen? Kontrafaktische Gedankenexperimente zeichnen sich dadurch aus, dass sie lediglich instrumentellen Charakter tragen und ihre eigenen Prämissen nicht hinterfragen. Sie erheben im Unterschied zu Hypothesen keinen Wahrheitsanspruch, der empirisch (experimentell) oder nichtempirisch in Form einer Plausibilitätsprüfung bewiesen werden soll, sondern fungieren nur als Katalysatoren des Denkprozesses. So geht es MacIntyre nicht darum, plausibel zu machen, dass eine imaginäre Welt ohne Bezug zu

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3

Freese, Hans-Ludwig: Abenteuer im Kopf. Philosophische Gedankenexperimente, illustr. von Pey, Alexander, Beltz Quadriga, Quadriga Verlag, Weinheim/Berlin 1995, S. 19 – 20. Vgl. Helmut Engels: »Das Gedankenexperiment«, in: Rehfus, Wulff D; Becker, Horst (Hrsg.): Handbuch des Philosophie-Unterrichts, Pädagogischer Verlag Schwann-Bagel GmbH, Düsseldorf 1986, S. 396 – 399.

Arten und Funktionen von Gedankenexperimenten

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naturwissenschaftlichen Erkenntnissen eintreten werde oder sollte. Er will lediglich zum Nachdenken darüber anregen, ob ethische Ideen und Theorien ohne die Kenntnis ihres Kontextes zu neuen philosophischen Erkenntnissen beitragen können. Eine besondere Variante der Gedankenexperimente im engeren Sinn ist die Methode des »fremden Blicks”. Hierbei handelt es sich um ein Verfahren, bei dem die fiktive Betrachtung eines Menschen und seiner Lebensverhältnisse einschließlich der Kultur durch einen Nichtmenschen oder Außerirdischen realisiert wird. Durch den fremden Blick wird das bisher als selbstverständlich Akzeptierte im Sinne des Sokrates einer neuen Betrachtungsweise unterzogen, d. h. »in einem neuen Licht gesehen«. Bestimmte Eigentümlichkeiten treten zu Tage, die vorher niemand bemerkt hat. In der philosophischen Tradition war es vor allem der französische Aufklärer Voltaire, der in seinem Roman Mikromégas (Kleiner Großer) dieses Verfahren angewendet hat: Mikromégas stammt von einem anderen Planeten (ähnlich wie die Figur Alf aus der gleichnamigen amerikanischen Fernsehserie) und betrachtet die Erdbewohner mit den Augen eines Riesen. Der Schweizer Autor Erich Scheurmann hatte am Ende des 20. Jahrhunderts mit seinem Roman Der Papalagi einen ähnlichen Erfolg errungen wie einst Voltaire. Der Papalagi ist der weiße Mann, dessen Lebensweise von dem Südseehäuptling Tuiavii einer kritischen Betrachtung unterzogen wird.4 Realitätsnahe Gedankenexperimente beschäftigen sich demgegenüber mit »Ausflügen in mögliche Welten« 5, die im Unterschied zu kontrafaktischen Gedankenexperimenten Gegenstand einer verifizierenden und falsifizierenden Betrachtungsweise sein können und potentiell die Möglichkeit enthalten, von realen Experimenten abgelöst zu werden. Zu dieser Kategorie gehören innerhalb der europäischen philosophischen Tradition die großen Gesellschafts- und Staatsutopien von Platon bis Karl Marx, in denen Modelle menschlichen Zusammenlebens wie z. B. gesellschaftliche Systeme, die als Vision eine Gleichheit an materiellen Gütern prädisponieren, »durchgespielt« werden. Auch in vielen europäischen Kunst- und Volksmärchen wird Bezug auf Entwürfe möglicher gerechter Welten genommen, wie beispielsweise in dem russischen Märchen Listige Wissenschaft von Nikolaj Afanasjev. Dort treibt ein Vater seinen Sohn zur Wissenschaft, damit er gehorsam, aber gelehrt ausführt, was der Vater von ihm verlangt, wie z. B. die Erfindung von Unsterblichkeit. Der Sohn wird jedoch von einem Zaubermeister zum Gebrauch der eigenen Vernunft angeleitet und verwirft die Unsterblichkeitsthese. Stattdessen konstruiert er eine Welt, in der alle Menschen vernünftig handeln.6 Das

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Vgl. Voltaire: »Mikromegas«, in: Villiers de L’Isle-Adam, Auguste de; Volaire: Der Tischgast der letzten Feste – Mikromegas, übers. von Wehr, Elke (Der Tischgast der letzten Feste) und Lehmann, Ilse (Mikromegas), Die Meisterwerke der phantastischen Literatur, Bd. 14, Edition Weitbrecht in Thienemanns Verlag, Stuttgart 1984; und vgl. Scheurmann, Erich: Der Papalagi. Die Reden des Südseehäuptlings Tuiavii aus Tiavea, Tanner + Staehelin, Zürich 1977. Vgl. hierzu Freese, Hans-Ludwig: Abenteuer im Kopf. Philosophische Gedankenexperimente, a.a.O. S. 23. Vgl. Vgl. Afanasjew, Alexandr N.: Listige Wissenschaft (chitraja nauka), auf: http://hobbitaniya.ru/afana syev/afanasyev142.php/ (Stand: 26.07.2019)

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Märchen regt durch seinen offenen Schluss an, darüber nachzudenken, ob eine derartige Welt wünschenswert wäre. Gedankenexperimente im weiteren Sinn sind also eine gedankliche Konstruktion von fiktiven Welten, die im Bereich einer reell vorstellbaren Zukunftsvision stehen, sozusagen eine wirklichkeitsnahe Fiktion sind wie z. B. die Utopie Nova Atlantis von Francis Bacon. Er entwarf in seiner Darstellung das Bild einer Gesellschaft mit Laboratorien, Sternwarten und unterirdischen Fabriken, die heutzutage Wirklichkeit geworden ist. Zu den Gedankenexperimenten im weiteren Sinn gehören: – Utopien, in denen Gesellschaftsmodelle gedanklich unter bestimmten Gesichtspunkten durchgespielt werden. – methodische Zweifel: Ein formulierter Gedanke oder eine Theorie wird in Frage gestellt, um sie beispielsweise noch einmal auf ihre Gültigkeit hin zu prüfen. – Umkehrung von Theorien, Gedanken, Meinungen, um sie noch einmal »von der anderen Seite her zu durchdenken”, z. B. »Die Weiterentwicklung unserer Gesellschaft ist (nicht) auf Technik angewiesen.« oder »Der Mensch ist (k)ein Vernunftwesen.«.

 Die didaktischen Funktionen von Gedankenexperimenten Die Entwicklung eines philosophischen Möglichkeitssinns, der über eine Beschäftigung mit dem Faktischen in Form von Meinungen, Argumenten und Theorien hinausgeht, hat mehrere didaktische Funktionen, besonders für ihre Verwendung im Unterricht.7 Gedankenexperimente haben in erster Linie eine verifizierende Funktion, d. h., sie stellen die Frage nach der Berechtigung bzw. dem Geltungsbereich einer bestimmten Theorie oder Kategorisierung oder einer Argumentation, was besonders deutlich in einem Gedankenexperiment von John Wilson zum Ausdruck kommt. Wilson will eine Reflexion darüber anregen, ob außerirdische Wesen, die wie Menschen aussehen und denken können, jedoch keine Gefühle haben, der Kategorie Mensch zugeordnet werden können.8 Gedankenexperimente haben auch eine erklärende bzw. verdeutlichende Funktion, d. h., sie greifen wie im Falle John Wilsons auf Elemente der Science-Fiction zurück, um Sachverhalte, scheinbare Plausibilitäten oder Handlungsdispositionen zu erläutern: So verdeutlicht Glaukon in Platons Politeia seine These, dass der Gerechte nur unter Zwang und nicht aus eigenem Willen heraus gerecht handelt, damit, dass er sowohl den Gerechten als auch den Ungerechten die Möglichkeit gibt, unsichtbar zu werden und unbeobachtet zu handeln. Glaukon will durch dieses Gedankenexperiment erläutern, dass es keinen Unterschied zwischen dem Gerechten und dem Ungerechten gibt, wenn ihnen eine günstige Gelegenheit geboten wird, unbeobachtet zu ihrem eigenen Vorteil

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Vgl. hierzu Engels, Helmut: »Das Gedankenexperiment«, in: Rehfus, Wulff D; Becker, Horst (Hrsg.): Handbuch des Philosophie-Unterrichts, a.a.O., S. 397– 398. Wilson, John: Thinking with Concepts, Cambridge: University Press 1983, S. 32f.

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zu handeln.9 Auch das eingangs skizzierte Gedankenexperiment von MacIntyre hat eine verdeutlichende Funktion. Es weist darauf hin, dass der Autor alle bisherigen philosophischen Erkenntnisse über die Rolle der Tugenden in der Antike als bruchstückhaft einschätzt und zuverlässige Aussagen über deren Wirkungsweise in Frage stellt. MacIntyre benutzt seine imaginäre Welt, um zu zeigen, dass wir Schlüsselbegriffe vergangener moralischer Theorien nicht ohne eine genaue Kenntnis ihres historischen Kontextes verwenden sollten. Die Verwahrlosung der Naturwissenschaften in einer imaginären Welt dient ihm als Gedankenexperiment, um die »Verwahrlosung des moralischen Denkens und Handelns« in gegenwärtigen ethischen Diskussionen zu problematisieren.10 Die wichtigste Funktion von Gedankenexperimenten ist allerdings ihre heuristische Orientierung. So ermöglichen Gedankenexperimente, Gedanken durchzuspielen und fiktive, alternative Lösungen zu finden, d. h. neue Sichtweisen, Fragerichtungen und Modelle zu entwickeln und zu erproben. So könnte man anhand des Beispiels der gefühllosen außerirdischen Wesen von John Wilson möglicherweise zur Einführung einer neuen Kategorie gelangen: Die Kategorie »Lebewesen« hätte dann anstelle von drei Unterkategorien vier: Pflanzen, Tiere, Menschen und Außerirdische. Helmut Engels weist noch auf eine vierte Funktion hin, indem er die mäeutischen11 Aspekte von Gedankenexperimenten hervorhebt: Sie schärfen die Fähigkeit, Unterschiede und Zusammenhänge zwischen Begriffen, Ideen oder Sichtweisen herauszufinden, wie dies Sokrates in den platonischen Dialogen praktizierte. John Wilsons Außerirdische haben physische und psychische Ähnlichkeiten mit den Menschen, ihre Differenz bezieht sich auf die nicht existente Fähigkeit, Gefühle zu haben. Durch Wilsons Beispiel werden selbstverständliche Annahmen, Kategorisierungen und Urteile aufgehoben: Wir sollten eigentlich wissen, wer ein Mensch ist, aber wissen wir das wirklich? Gedankenexperimente eröffnen wie kein anderes methodisches Verfahren die Möglichkeit, Bekanntes und Selbstverständliches zu hinterfragen – wie dies Sokrates und Glaukon in ihrem Gespräch über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit tun. Dadurch werden starre und routinierte Handlungs- und Denkgewohnheiten in Frage gestellt und die Möglichkeit einer anderen Betrachtungsweise in den Reflexionsprozess integriert. Gedankenexperimente betreffen nicht nur kognitive Aspekte philosophischer Reflexion, sondern auch emotionale Prozesse. Der spanische Sozialwissenschaftler Roberto Roche Olivar und der Religionspädagoge Heinz Schmidt12 sehen in ihnen auch ein Medium, um

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Vgl. Platon: Der Staat (Politeia), übers. und hrsg. von Vretska, Karl, RUB 8205, Philipp Reclam jun., Stuttgart 2012, 359b–360a (S. 126 – 127). Vgl. MacIntyre, Alasdair: Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, a.a.O., S. 13 – 18. Mäeutik bedeutet Geburtshilfe, in der sokratischen Theorie ist damit die Geburtshilfe für eigene Gedanken gemeint. Vgl. Roche Olivar, Roberto: Psicología y educación para la prosocialidad, Ciència i Tècnica, Tomo 5, Servei de Publicacions de la Universitat Autònoma de Barcelona, Barcelona 1993, S. 127– 139; und vgl. Schmidt, Heinz: Didaktik des Ethikunterrichts, 2 Bde., Bd.2: Der Unterricht in Klasse 1– 13, Ethik – Lehrund Studienbücher, Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1984, S. 28 – 29.

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sich mit Gefühlen zu beschäftigen, wie z. B. Empathie, oder sich affektive Dispositionen vorzustellen, deren Realisierbarkeit unmöglich erscheint. So ließe sich beispielsweise das Gedankenexperiment von John Wilson dahingehend abwandeln, dass sich jemand eine Welt vorstellt, auf der Menschen ohne Gefühle agieren bzw. sich mit der Frage beschäftigen, ob Wesen ohne Gefühle überhaupt lebensfähig sind. Gedankenexperimente regen nach Auffassung von Heinz Schmidt dazu an, »Erlebnisse im Grenzbereich von Denken und Träumen« zu fördern, die kreative Kontrasterfahrungen ermöglichen: Wo beginnt beispielsweise der Übergang von einer vorgestellten in eine reale Welt? Wo beginnt der Übergang von Verstand zum Gefühl?

 Didaktische Anregungen zu den Gedankenexperimenten Gedankenexperimente regen dazu an, eigene Lösungsvorschläge zu unterbreiten (Sind John Wilsons Wesen nun Menschen oder nicht?), moralische Urteile zu fällen (Führt Glaukon gute Gründe für seine Identitätsbehauptung über gerecht und ungerecht an?) oder Modelle menschlichen Zusammenlebens zu entwerfen (Wie würde eine Gesellschaft aussehen, in der es keine Technik gibt?).

Die Entwicklung von Phantasie und Möglichkeitssinn kann durch folgende Formulierungen entwickelt werden:  Nehmen wir an, es gebe (keine)… Naturwissenschaften, wie würde dann… eine Gesellschaft aussehen?  Könnte es sein, dass… Außerirdische Menschen sind?  Stellen wir uns vor, die… Naturwissenschaften würden plötzlich abgeschafft, wie würde dann… eine Gesellschaft funktionieren?

Arten und Funktionen von Gedankenexperimenten

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 Was wäre, wenn (nicht)… alle Menschen statt Augen grüne Gläser hätten?  Wie würdet ihr reagieren, wenn plötzlich… Außerirdische in euer Zimmer kämen? Quelle: Brüning, Barbara: »Gedankenexperimente«, in: Brüning, Barbara: Philosophieren in der Sekundarstufe. Methoden und Medien, Philosophie und Ethik unterrichten, Bd. 1, Beltz Praxis, Beltz Verlag, Weinheim/Basel/Berlin 2003, S. 76 – 82.

Was ist ein philosophisches Gedankenexperiment? Georg W. Bertram  Zur Struktur philosophischer Gedankenexperimente Wer in Gedanken experimentiert, stellt sich etwas vor, das nicht der Fall ist. Das ist in der Philosophie nicht anders als in anderen Wissenschaften. Auch philosophische Gedankenexperimente bringen Vorstellungen von etwas ins Spiel, das nicht ist. In philosophischen Texten schlagen sich solche Vorstellungen unter anderem darin nieder, dass diese Texte ihre Leserinnen und Leser auffordern, bestimmte Annahmen zu machen. »Nehmen wir an, es gibt einen Planeten, der unserer Erde bis auf einen einzigen Aspekt gleicht.« Oder: »Stell dir vor, dass Menschen in einer Höhle angekettet sind.« Mit Formulierungen dieser Art erzeugen philosophische Texte Situationen, die eigentlich nicht bestehen. Dies ist charakteristisch für Gedankenexperimente insgesamt, da diese immer etwas ins Spiel bringen, das so nicht besteht. Dieses Element von Gedankenexperimenten lässt sich dadurch begrifflich fassen, dass man von einem kontrafaktischen Szenario spricht. Ein Szenario ist eine erzählerisch entwickelte Situation. Kontrafaktisch ist ein Szenario genau dann, wenn erzählerisch eine Situation entwickelt wird, die faktisch nicht besteht. Man könnte nun einwenden, dass es Gedankenexperimente gibt, deren Szenarien sich vergleichsweise leicht als wirklich vorstellen lassen (Es ist zum Beispiel unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen, dass ein Straßenbahnfahrer einmal vor die Entscheidung gestellt wird, vor sich zwischen zwei Gleisen wählen zu müssen, auf denen sich jeweils unterschiedlich viele Menschen befinden, deren Tod er durch seine unvermeidliche Weiterfahrt herbeiführt). Sollte man aus diesem Grund nicht besser von »hypothetischen Szenarien« sprechen? Eine hypothetische Überlegung stellen wir an, um Zusammenhänge der Wirklichkeit aufzuklären. Genau darum geht es bei philosophischen Gedankenexperimenten aber nicht. Szenarien sind hier nicht darauf angelegt, in der Wirklichkeit umgesetzt werden zu können. Wir erproben mit ihnen vielmehr unser Verständnis von Begriffen, die für unser Verständnis von uns selbst grundlegend sind. Für die Formulierung guter Szenarien ist es wichtig, im Spannungsfeld von Nähe und Abstand zur Wirklichkeit das richtige Maß zu finden. Daher bezeichne ich die Szenarien in philosophischen Gedankenexperimenten als kontrafaktisch. Kontrafaktische Szenarien teilen philosophische Gedankenexperimente mit anderen Gedankenexperimenten (zum Beispiel in den Naturwissenschaften), aber auch mit vielen literarischen Texten und mit Filmen. So stellt sich die Frage, wodurch entsprechende Szenarien zu Elementen philosophischer Gedankenexperimente werden. Eine

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erste Antwort auf diese Frage könnte folgendermaßen lauten: Kontrafaktische Szenarien in philosophischen Gedankenexperimenten sind in eine gedankliche Entwicklung eingebettet. Dies schlägt sich symptomatisch darin nieder, dass sie im Text mit Formulierungen wie »Nehmen wir an, …«, »Angenommen, …« oder »Stellen wir uns vor, …« eingeleitet werden. Solche Formulierungen finden sich normalerweise nicht in literarischen Texten. Sie finden sich aber in Gedankenexperimenten anderer Wissenschaften wie der Mathematik oder Physik. Aus diesem Grund sieht man sich schnell mit der Frage konfrontiert, inwiefern sich das, was einem kontrafaktischen Szenario in einem philosophischen Gedankenexperiment vorangeht, von Gedankenexperimenten in anderen Wissenschaften unterscheidet. Die Antwort auf diese Frage ist denkbar einfach: In einem philosophischen Gedankenexperiment gehen dem kontrafaktischen Szenario Überlegungen zu philosophischen Fragen voran. Aber so klar diese Antwort auch ist, hat sie doch einen entscheidenden Nachteil: Sie lädt die Erklärungslast dem Begriff der »philosophischen Frage« auf. Denn nun wird man gleich wissen wollen, was das ist, eine philosophische Frage. Eine genaue Erläuterung dieses Begriffs will und muss hier ausbleiben. Sie betrifft Überlegungen zur Philosophie als Wissenschaft insgesamt und zu ihren charakteristischen Gegenständen. Dennoch können wir einige Hinweise auf eine Erläuterung dadurch gewinnen, dass wir uns Beispiele für philosophische Fragen vergegenwärtigen: Was ist Wissen, und was können wir wissen? Was ist wirklich? Was sollen wir tun? Was ist ein gutes Leben? Was heißt es, dass etwas Sinn und Bedeutung hat? Fragen wie diese richten sich auf bestimmte Begriffe; es handelt sich in diesem Sinn um begriffliche Fragen. Wiederum geht es in der Philosophie nicht um irgendwelche Begriffe wie etwa den Begriff des Tischs. Es geht um Grundbegriffe, mittels derer wir unser Weltverhältnis für uns verständlich machen. Nun kann man natürlich genauer wissen wollen, was solche Grundbegriffe ausmacht. Hier muss an die Intuitionen der Leserinnen und Leser appelliert werden und jede weitere Klärung dieser Frage ausbleiben. Doch festzuhalten bleibt: Überlegungen zu solchen Grundbegriffen gehen den Formulierungen kontrafaktischer Szenarien in einem philosophischen Gedankenexperiment voran. Sie werden bis zu einem bestimmten Punkt getrieben, an dem man sich durch die Auseinandersetzung mit dem kontrafaktischen Szenario Klärung verspricht. Mit dem Szenario ist allerdings ein philosophisches Gedankenexperiment noch nicht zu Ende (anders als ein literarischer Text oder ein Film). Vielmehr folgt nach seinem vorläufigen Abschluss eine Rückkehr zu dem Punkt, an dem die philosophischen Fragen zurückgelassen wurden. Aus dem Szenario werden gewisse Schlüsse in Bezug auf die Fragen gezogen, die der Text zuvor behandelt hat. Damit ergibt sich für ein philosophisches Gedankenexperiment erst einmal eine Unterteilung in die folgenden drei Elemente: (1) (2) (3)

Einleitung durch philosophische Fragestellung(en), Kontrafaktisches Szenario, Auswertung des Szenarios in Bezug auf die Fragestellung(en).

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In einem philosophischen Gedankenexperiment werden diese drei Elemente verknüpft. Für eine Bestimmung seiner Funktionsweise müssen diese Elemente und ihr Zusammenspiel genauer betrachtet werden, auch wenn die in vielen philosophischen Texten nicht einfach voneinander zu unterscheiden sind. Vielfach wird mit der Erzählung des Szenarios auch der Rahmen von Fragen entwickelt, mit denen das Szenario verbunden ist. Auch die Auswertung des Szenarios ist oftmals in die Erzählung eingebettet bzw. beginnt im Zusammenhang mit ihr. Aus diesem Grund ist die Unterscheidung der Elemente als ein analytisches Instrumentarium zu verstehen, mittels dessen sich Gedankenexperimente in ihrem Funktionieren aufklären lassen. Um dieses Instrumentarium weiter zu schärfen, sollen die Elemente im Folgenden ausführlicher charakterisiert werden.

 Einleitung durch philosophische Fragestellung(en) Die Einleitung eines philosophischen Gedankenexperiments kann sehr unterschiedlich ausfallen. Sie ordnet das Gedankenexperiment einer oder mehreren philosophischen Disziplinen zu und motiviert es aus diesen Disziplinen und ihren Fragestellungen heraus. Bei vielen Gedankenexperimenten werden solche Fragestellungen, die zu dem kontrafaktischen Szenario führen, in einem langen Vorlauf entwickelt. Insofern lässt sich gerade die Einleitung eines Gedankenexperiments in einem philosophischen Text oftmals nicht klar abgrenzen und kann in der Präsentation von Gedankenexperimenten zumeist nur summarisch umrissen werden.

 Das kontrafaktische Szenario Das kontrafaktische Szenario eines philosophischen Gedankenexperiments wird durch Sätze geformt, die einen erzählerischen Charakter haben. Oftmals werden diese Sätze durch Formulierungen wie »Nehmen wir an, …«, »Angenommen, …« oder »Stellen wir uns vor, …« eingeleitet. Man kann solche Formulierungen als Indikatoren kontrafaktischer Szenarien begreifen. Solche Indikatoren zeigen an, dass nun ein Szenario entwickelt wird, das zur Aufklärung der in der Einleitung herausgestellten Fragestellungen beitragen soll. Ein kontrafaktisches Szenario eines philosophischen Gedankenexperiments wird nur in mehr oder weniger knappen Strichen entworfen. Erzählerische Details spielen in ihm oftmals keine größere Rolle – oder anders gewendet: Es spielt in ihm nur das eine Rolle, was mit Blick auf die behandelte philosophische Frage relevant ist. Dennoch haben die Sätze, die das Szenario formen, vielfach einen erzählerischen Charakter. Bis hierhin sind die kontrafaktischen Szenarien philosophischer Gedankenexperimente aber noch nicht von entsprechenden Szenarien in Gedankenexperimenten der Naturwissenschaften zu unterscheiden. Wie lässt sich eine solche Unterscheidung treffen? Hierfür ist der besondere Charakter von Philosophie als Wissenschaft aufschlussreich: Philosophie wird gemeinhin als eine nichtempirische Wissenschaft verstanden (sofern man sie überhaupt als eine Wissenschaft versteht),

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und in nichtempirischen Wissenschaften gibt es keine empirischen Experimente. Dies ist in empirischen Wissenschaften wie der Physik natürlich anders, weshalb kontrafaktische Szenarien in den Gedankenexperimenten dieser Wissenschaften oftmals so beschaffen sind, dass sie reale Experimente ersetzen. Physikalische, methodische, ethische oder finanzielle Gründe mögen in diesen Fällen dafür sprechen, bestimmte Experimente nicht real durchzuführen. Szenarien sind demnach hier vielfach so beschaffen, dass eine spätere empirische Umsetzung des Experiments zumindest denkbar ist: Das Gedankenexperiment ersetzt in gewisser Weise ein reales Experiment. Da es in der Philosophie keine empirischen Experimente gibt, ist ein solcher Ersatz in ihr aber von vornherein ausgeschlossen. Die kontrafaktischen Szenarien in philosophischen Gedankenexperimenten sind nicht so angelegt, dass eine mögliche empirische Umsetzbarkeit dieser Szenarien für die Experimente relevant ist. Dies mag ein Grund dafür sein, dass kontrafaktische Szenarien philosophischer Gedankenexperimente vielfach weiter von der Wirklichkeit entfernt sind als Szenarien in anderen Wissenschaften. Eine weitere Unterscheidung ist für die Bestimmung der kontrafaktischen Szenarien in der Philosophie wichtig, nämlich die Unterscheidung von entsprechenden Szenarien in Literatur und Film. Sofern literarische Texte oder Filme als kontrafaktische Szenarien zu verstehen sind, sind diese erstens nicht so knapp entfaltet wie die Szenarien philosophischer Gedankenexperimente und zweitens nicht gleichermaßen philosophisch eingebettet wie Letztere. Literarische Texte und Filme führen ihre Szenarien weitläufiger aus (auch dann, wenn sie viele Details wie z. B. die Eigenschaften ihrer Figuren nicht bis ins Letzte bestimmen), und sie arbeiten ohne gesonderte Einleitung und Auswertung. Aus diesem Grund sind literarische Texte und Filme als solche keine philosophischen Gedankenexperimente. Sie lassen sich höchstens als Teile solcher Gedankenexperimente verwenden. Zu diesem Zweck allerdings müssen sie in philosophische Überlegungen eingebunden werden. Geschieht dies, dann werden sie mit einer Einleitung und begrifflichen Auswertung verbunden und dahingehend verändert, dass die Details ihrer Szenarien reduziert werden. In einem kontrafaktischen Szenario eines philosophischen Gedankenexperiments zählen wie erwähnt nur gewisse Konturen. Aus diesem Grund lassen sich literarische Texte und Filme, sofern sie als Szenarien in philosophischen Gedankenexperimenten fungieren, immer in knapper Weise zusammenfassen – unabhängig davon, ob es sich bei den Szenarien um einen ganzen Plot oder um einen Ausschnitt aus dem Werk handelt. Solch eine Unterscheidung beleuchtet eine wichtige Eigenart von kontrafaktischen Szenarien in philosophischen Gedankenexperimenten. Die Szenarien sind prägnant ausgearbeitet: knapp gehalten und mit klaren Konturen. Erklären lässt sich dies zum einen damit, dass das kontrafaktische Szenario in einem philosophischen Gedankenexperiment nicht für sich allein steht. Es fordert seine Leserinnen und Leser vielmehr auf, sich eine bestimmte Situation vorzustellen, die auf die in der Einleitung exponierte Fragestellung hin durchgespielt wird. Wer ein philosophisches Gedankenexperiment anstellt, der verfolgt nicht nur das Szenario (wie üblicherweise in der Lektüre eines literarischen Texts oder im Sehen eines Films) – er spielt das Szenario auch durch. Das kontrafaktische Szenario ist so angelegt, dass ein solches Durchspielen möglich ist,

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weshalb ein kontrafaktisches Szenario eines philosophischen Gedankenexperiments prägnant ausgearbeitet sein muss. Zum anderen ist das kontrafaktische Szenario eines philosophischen Gedankenexperiments selbst schon als ein Resultat gedankenexperimentellen Vorgehens zu begreifen. Wer ein solches Szenario entwickelt, spielt in Gedanken unterschiedliche Konturen durch. Das Ziel dieses gedankenexperimentellen Vorspiels in der Entwicklung eines philosophischen Gedankenexperiments ist es, prägnante Konturen auszuformen. Dies erklärt auch, dass ein kontrafaktisches Szenario trotz all seines möglichen literarischen Charakters stets anders formuliert und dabei möglicherweise auch verbessert oder erweitert werden kann. Bei allem sprachlichen Charakter der Philosophie sind philosophische Gedankenexperimente nicht an bestimmte sprachliche Fassungen gebunden.

 Auswertung des Szenarios in Bezug auf die Fragestellung(en) Die Auswertung eines durchgespielten kontrafaktischen Szenarios führt meist zu einer oder zu mehreren Thesen, bei denen es sich um Schlussfolgerungen aus dem Durchspielen des Szenarios in Bezug auf die aufgeworfenen Fragestellungen handelt. Im Anschluss an Sören Häggqvist kann man solche Schlussfolgerungen als Zielthesen (target thesis) von Gedankenexperimenten bezeichnen.1 Wie in anderen Wissenschaften werden auch in der Philosophie Gedankenexperimente entwickelt, um bestimmte Theorien zu widerlegen oder zu entwickeln. Somit ist es verständlich, dass sich viele Gedankenexperimente produktiv als Argumente rekonstruieren lassen. Die Zielthesen der Gedankenexperimente werden durch solche Rekonstruktionen als Ergebnisse bzw. als Konklusionen von Argumentationen verständlich gemacht. Allerdings lassen sich nicht alle Gedankenexperimente in aufschlussreicher Weise als Argumente rekonstruieren, was unter anderem darin begründet liegt, dass die kontrafaktischen Szenarien vieler philosophischer Gedankenexperimente darüber hinausgehen, einfach in bestimmter Weise als Prämissen oder Teile von Prämissen in Argumenten zu dienen. Viele der kontrafaktischen Szenarien sind eigenständiger, als dass sie sich auf einen solchen Status reduzieren ließen. So finden sich in der Geschichte der abendländischen Philosophie immer wieder Szenarien, die über die bestimmten Kontexte, in denen sie entwickelt wurden, hinaus wirksam geworden sind. Szenarien wie das Höhlengleichnis oder der Naturzustand sind immer wieder und in unterschiedlichen Kontexten aufgegriffen worden. Das Durchspielen dieser Szenarien führt oft zu komplexen neuen Verständnissen in Bezug auf bestimmte philosophische Fragen. Für diese Verständnisse wiederum sind zwar einzelne Thesen relevant, sie erschöpfen sich aber nicht in diesen Thesen.

1

Vgl. Häggqvist, Sören: Thought Experiments in Philosophy, Acta Universitatis Stockholmiensis: Stockholm Studies in Philosophy, Vol. 18, Almqvist & Wiksell International, Stockholm 1996, S. 98. Häggqvist stützt sich mit seiner Formulierung auf Überlegungen von Sorensen, Roy A.: Thought Experiments, Oxford University Press, Oxford/New York 1992, Chapter 6, S. 132 – 166.

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 Eine kleine Typologie philosophischer Gedankenexperimente Der Nutzen eines philosophischen Gedankenexperiments lässt sich im Lichte des bereits Entwickelten folgendermaßen angeben: Gedankenexperimente leisten einen Beitrag zur philosophischen Begriffsarbeit. Nun sind mit einer solchen Aussage der Nutzen und die Funktion eines Gedankenexperiments allerdings noch zu pauschal bestimmt. Was bedeutet es, dass man mittels ihrer einen Beitrag zur Begriffsarbeit leistet? Wie ist dieser Beitrag beschaffen? Um in diesen Fragen weiterzukommen, ist es hilfreich, zuerst eine Typologie philosophischer Gedankenexperimente zu entwerfen. Mein entsprechender Vorschlag orientiert sich an typologischen Unterscheidungen von Daniel Cohnitz2, die jedoch nicht direkt aufgegriffen werden, da in Bezug auf philosophische Gedankenexperimente eine leicht veränderte Typologie vorgeschlagen werden soll. Demnach gibt es die folgenden drei Typen von Gedankenexperimenten, die anhand ihrer Funktion charakterisiert werden können: (1) Gedankenexperimente können Thesen bzw. begriffliche Zusammenhänge erklären; (2) sie können auf die Änderung bestimmter Überzeugungen zielen; (3) sie können begriffliche Schärfungen bzw. begriffliche Innovationen provozieren. Werden diese drei Typen philosophischer Gedankenexperimente unterschieden, so geschieht dies nicht mit der These, dass sich einzelne Gedankenexperimente eindeutig dem einen oder anderen Typ zuordnen lassen. Vielfach lässt sich über eine genaue Zuordnung streiten. Dennoch kann die spezifische Orientierung eines Gedankenexperiments nur dann aufgeklärt werden, wenn man bestimmte Typen von Gedankenexperimenten möglichst klar voneinander unterschieden hat.

 Erklärende Gedankenexperimente Erklärend sind solche Gedankenexperimente, die einen begrifflichen Zusammenhang zu illustrieren suchen. Das kontrafaktische Szenario, das in ihnen entwickelt wird, hat die Aufgabe, einen bestimmten begrifflichen Zusammenhang, der bereits erschlossen ist, zu veranschaulichen. Ein Merkmal für ein erklärendes Gedankenexperiment ist, dass sich auch unabhängig von ihm für die von ihm beleuchteten begrifflichen Zusammenhänge argumentieren lässt. Wer von einem solchen Gedankenexperiment Gebrauch macht, ist bereits von dem Ergebnis des Experiments überzeugt. Ein Beispiel: John Searle (*1932) hat das Gedankenexperiment Das chinesische Zimmer entworfen, um gegen ein Verständnis des menschlichen Geistes zu argumentieren, das im Umkreis der Forschung zur künstlichen Intelligenz verbreitet ist. In dieser Argumentation geht es vor allem um einen zentralen Aspekt: Auf der Basis einer bloß syntaktischen (computationalen) Verarbeitung sprachlicher Zeichen, so argumentiert Searle, lässt sich die Bedeutung sprachlicher Zeichen nicht erklären. Genau diese These wird von dem

2

Vgl. Cohnitz, Daniel: Gedankenexperimente in der Philosophie, mentis Verlag GmbH, Paderborn 2006, S. 74 – 77.

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Szenario des chinesischen Zimmers illustriert. Es soll deutlich machen, dass man Zeichen syntaktisch verarbeiten kann, ohne etwas von ihrer Bedeutung zu erfassen. Die These kann allerdings auch unabhängig von dieser Illustration gewonnen werden. Es reicht aus, dafür zu argumentieren, dass syntaktische Verbindungen Bedeutungen nicht erklären. So ist das Szenario des chinesischen Zimmers nicht erforderlich, um für die These zu argumentieren. Es liefert vielmehr eine hilfreiche Illustration. Erklärende Gedankenexperimente können auch eine lehrende, didaktische Funktion erfüllen. So ist es im Fall von Searles Gedankenexperiment auch möglich, dass die Argumentation für die These als solche für einen Leser nicht unmittelbar einsichtig ist. Verfolgt er hingegen das kontrafaktische Szenario des chinesischen Zimmers, leuchtet ihm das Ergebnis vielleicht ein. So kann es sein, dass die begrifflichen Zusammenhänge, um die es dem Gedankenexperiment geht, erst durch die Auseinandersetzung mit dem kontrafaktischen Szenario plausibel werden. Gerade in dieser Funktion unterscheiden sich Gedankenexperimente vielfach nicht von anderen Beispielen, die man für bestimmte begriffliche Zusammenhänge gibt. Denken wir etwa an Kants Bestimmung des Geschmacksurteils in der Kritik der Urteilskraft: Kant gibt an unterschiedlichen Stellen Beispiele für Gegenstände, in Bezug auf die man ein Geschmacksurteil fällen kann. So verweist er auf eine Tulpe (B 61) als Beispiel für eine »freie Naturschönheit« (B 49). Er spricht davon, dass auch ein Botaniker in der Beurteilung solcher Schönheit von all seinem Wissen keinen Gebrauch mache, also nichts am Gegenstand bestimme. Dieses Beispiel soll die These plausibel machen, dass ein Geschmacksurteil sich nicht auf den Begriff von einem Gegenstand stützt, dass also bestimmte Eigenschaften des Gegenstands (wie bestimmte Farben, die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Art etc.) für ein reines Geschmacksurteil irrelevant sind. Dennoch würden wir hier nicht von einem Gedankenexperiment sprechen. Es handelt sich um ein illustrierendes Beispiel. Auch illustrierende Beispiele sind in philosophischen Texten oftmals mit erzählerischen Elementen verbunden. So haben sie durchaus Verwandtschaft mit erklärenden Gedankenexperimenten. Dennoch kann man hier eine Unterscheidung treffen, indem man sagt: Für Gedankenexperimente ist das kontrafaktische Szenario charakteristisch, das in Gedanken durchgespielt werden muss. Dies gilt jedoch für Beispiele nicht in gleicher Weise. Auch wenn es hier zugegebenermaßen vielfältige Grenzfälle gibt, lassen sich erklärende Gedankenexperimente doch auf diese Weise bestimmen.

 Gedankenexperimente zur Änderung bestimmter Überzeugungen Der begriffliche Ertrag erklärender Gedankenexperimente kann grundsätzlich auch durch bloße Argumentationen erzielt werden. Auch wenn die Illustrationen dieser Gedankenexperimente möglicherweise hilfreich sind, um bestimmte begriffliche Zusammenhänge zu verstehen, haben sie doch als solche keinen begrifflichen Ertrag. Es gilt ja im Falle erklärender Gedankenexperimente, dass die begrifflichen Zusammenhänge auch unabhängig von dem kontrafaktischen Szenario verfügbar sind. Insofern stellen sie nicht den interessantesten Fall philosophischer Gedankenexperimente dar.

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Das Gedankenexperimentieren soll ja als eines verständlich werden, das zu neuen Erkenntnissen führt. Gedankenexperimente, bei denen dies der Fall ist, kann man grob wie folgt charakterisieren: Sie führen dazu, dass man eine These als wahr oder falsch einsieht. Ein gutes Beispiel hierfür ist das Gedankenexperiment von der perfekten Neurophysiologin Mary. Mary hat ihr gesamtes Leben in einer Schwarzweißwelt verbracht und dabei perfektes Wissen über die neurophysiologischen Zusammenhänge bei der Wahrnehmung erworben. Das Gedankenexperiment schildert nun, dass Mary mit einem Mal mit einer Farbwelt konfrontiert ist. Dabei lernt sie, legt das Gedankenexperiment nahe, etwas Neues. Dieses Gedankenexperiment ist von Frank Jackson entwickelt worden, um für die These zu argumentieren, der Physikalismus (demzufolge sich alle Phänomene und damit auch der menschliche Geist in physikalischen Begriffen erklären lassen) sei falsch. Das kontrafaktische Szenario, das Jackson entwirft, soll genau diese These stützen. Es ist so angelegt, dass es zeigt: Jemand kann alles über physikalische Zusammenhänge wissen und trotzdem noch in der Lage sein, etwas Neues zu lernen (nämlich wie es ist, Farben zu sehen). Daraus, dass dies möglich ist, schließt Jackson auf die Falschheit des Physikalismus. Ein Gedankenexperiment, das in dieser Weise eine These als falsch oder wahr erweist, kann man als ein Gedankenexperiment zur Änderung bestimmter Überzeugungen charakterisieren. Es soll seine Leserinnen und Leser dazu bringen, eine bestimmte Überzeugung aufzugeben bzw. sich eine bestimmte neue Überzeugung zu eigen zu machen. Dies ist zwar bei allen philosophischen Argumentationen der Fall und trifft folglich auch auf erklärende Gedankenexperimente zu. Aber bei Gedankenexperimenten zur Änderung bestimmter Überzeugungen ist das Experiment selbst wesentlich, um zu der Überzeugungsänderung zu gelangen. Das kontrafaktische Szenario ist hier also als Basis eines Erkenntnisprozesses zu verstehen. Im Falle bestimmter Experimente stellt sich immer die Frage, ob ihre Szenarien in dieser Weise als wesentlich oder als verzichtbar einzuschätzen sind. Auch wenn also im Einzelfall die Zuordnung nicht einfach oder überhaupt nicht zu entscheiden sein mag: Grundsätzlich lassen sich erklärende Gedankenexperimente und Gedankenexperimente zur Änderung bestimmter Überzeugungen voneinander unterscheiden. Letztere unterscheiden sich in ihrer Zielsetzung zunächst nicht von Argumentationen. Argumentationen sind Aussagezusammenhänge, bei denen bestimmte Aussagen (als Prämissen) dazu nötigen, eine andere Aussage (als Konklusion) als wahr oder falsch zu akzeptieren. Wer argumentiert, will bei anderen Überzeugungsänderungen herbeiführen. Insofern steht man in Bezug auf Gedankenexperimente zur Änderung bestimmter Überzeugungen vor der Frage, wie diese Experimente sich von Argumentationen unterscheiden. Die Antwort hierauf fällt dem ersten Augenschein nach leicht: Gedankenexperimente unterscheiden sich dadurch von Argumentationen, dass sie kontrafaktische Szenarien aufweisen. Nun kann man allerdings fragen, ob sich Gedankenexperimente zur Änderung bestimmter Überzeugungen nicht einfach in Argumentationen überführen lassen. Lassen sich nicht auch in ihrem Fall die erzählerischen Elemente eliminieren? Eine Antwort auf diese Frage lässt sich an diesem Punkt der Darstellungen und Überlegungen noch nicht

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geben; allerdings kann man bereits festhalten: In einem Gedankenexperiment wie dem von der perfekten Neurowissenschaftlerin Mary geht das kontrafaktische Szenario in die Prämissen ein. Man kann die Prämissen also nicht unabhängig von diesem Szenario formulieren. Das Experimentieren in Gedanken erweist sich damit zumindest als eine besondere Form des Argumentierens – als ein, wenn man es so sagen will, Argumentieren mit erzählerischen Elementen.3 In Bezug auf Gedankenexperimente zur Änderung bestimmter Überzeugungen kann man noch einmal eine Binnenunterscheidung treffen, indem man von konstruktiven und destruktiven Gedankenexperimenten spricht. Destruktive Gedankenexperimente sind solche, die andere dazu bringen wollen, eine bestimmte These aufzugeben. Sie argumentieren also gegen eine bestimmte These. Konstruktive Gedankenexperimente hingegen argumentieren für eine bestimmte These: Sie wollen andere dazu bringen, eine bestimmte Überzeugung zu übernehmen. Wie an dem Beispiel der perfekten Neurophysiologin Mary indirekt deutlich wird, kommt den destruktiven Gedankenexperimenten dabei eine größere Bedeutung zu. Entsprechende Gedankenexperimente lassen sich argumentations-theoretisch als reductio ad absurdum verstehen4, eine Argumentation, die eine bestimmte Überzeugung zu unhaltbaren Konsequenzen führt und damit zeigt, dass diese Überzeugung nicht vertreten werden kann (gemäß dem umgangssprachlichen Ausspruch: »Wenn das wahr ist, bin ich der Schah von Persien.«). Die perfekte Neurowissenschaftlerin Mary lässt sich genau in dieser Weise als ein Gedankenexperiment zur Änderung einer bestimmten Überzeugung begreifen: Das Experiment ist so angelegt, dass sich gerade unter der Voraussetzung des Physikalismus zeigt, dass dieser unzureichend ist. Insofern kann man sagen, dass das Experiment die Absurdität des Physikalismus zeigt. Gedankenexperimente, die als eine reductio ad absurdum zu begreifen sind, erfüllen die Funktion, in Diskussionen bestimmte Alternativen auszuschalten. Dabei zeigen sie auf, wie eine bestimmte Position sich in unhaltbare Konsequenzen verwickelt (im Falle von Mary: dass dem Physikalismus entsprechend jemand, die oder der alles über physikalische Zusammenhänge weiß, nichts mehr lernen kann, die Protagonistin allerdings dennoch etwas lernt). Die Position (der Physikalismus) ist damit ad absurdum geführt.

 Gedankenexperimente zur Schärfung und Innovation von Begriffen Nun erschöpfen sich viele kontrafaktische Szenarien aber nicht darin, dass sie eine bestimmte These als wahr oder falsch erweisen. Betrachtet man die Geschichte des abendländischen philosophischen Denkens, dann zeigen viele Szenarien ein weiter-

3 4

Dies ist in der Theorie des Gedankenexperiments unbestritten; vgl. dazu ibid., S. 102 – 113. Sorensen spricht auch von Paradoxa, unter denen er Aussagemengen versteht, in denen die einzelnen Aussagen zwar plausibel, diese zusammengenommen aber unplausibel sind (vgl. Sorensen, Roy A.: Thought Experiments, Chapter 6, a.a.O., S. 132 – 166.).

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gehendes Potential. Dieses lässt sich dadurch charakterisieren, dass man den kontrafaktischen Szenarien dieser Gedankenexperimente eine besondere Eigendynamik zuschreibt. Von einer solchen Eigendynamik können wir in folgendem Sinn sprechen: Die Gedankenexperimente wirken über ihre Entstehung hinaus in sehr unterschiedlichen Kontexten weiter. In ihrer Eigendynamik sind Gedankenexperimente wie Platons Höhlengleichnis, Descartes’ Täuschergott (Genius malignus) oder Hobbes’ und Rousseaus Naturzustand bzw. natürlicher Mensch nicht an eine bestimmte Zielthese gebunden. Wie lässt sich das Funktionieren solcher Gedankenexperimente dann aber verstehen? Um diese Frage zu beantworten und damit einen weiteren Typ philosophischer Gedankenexperimente zu klären, soll es nun an einen Aspekt gehen, der bislang vernachlässigt wurde: Gedankenexperimente sind kreative Instrumente philosophischer Reflexionsarbeit. Sie bereichern die Möglichkeiten des Denkens. Dies kommt in den bislang betrachteten Typen von Gedankenexperimenten nicht ausreichend zur Geltung. Sowohl in erklärenden Gedankenexperimenten als auch in Gedankenexperimenten zur Änderung bestimmter Überzeugungen zeigen sich kontrafaktische Szenarien nicht als sonderlich kreative Elemente. Als kreativ im vollen Sinn werden solche Szenarien erst dann verständlich, wenn sie nicht auf ein bestimmtes Ergebnis hin abgezirkelt sind. Entsprechend hat Daniel C. Dennett (*1942) in kritischer Auseinandersetzung mit Searles Gedankenexperiment des Chinesischen Zimmers gesagt, Gedankenexperimente seien »Pumpen für Eingebungen« (intuition pumps). Dennett hat später die kritische Stoßrichtung dieses Begriffs zurückgenommen5 und Gedankenexperimente als genuin kreative Instrumente der philosophischen Reflexionsarbeit anerkannt. Inwiefern aber wirken Pumpen für Eingebungen kreativ? Denken wir an ein Gedankenexperiment, das in neuzeitlichen Philosophien immer wieder durchgespielt worden ist, nämlich an das Szenario des Naturzustands bzw. des natürlichen Menschen. Hier wird das menschliche Leben in einem vorgesellschaftlichen Zustand imaginiert. Mit diesem Szenario, das z. B. von Hobbes und Rousseau in unterschiedlicher Weise ausgearbeitet worden ist, soll das Potential des Menschen deutlich gemacht werden. Dies soll dazu führen, dass Begriffe wie die der Gerechtigkeit und des gesellschaftlichen Status von einem Individuum neu gefasst werden. So kann man das Ziel eines solchen Gedankenexperiments folgendermaßen bestimmen: Es soll dazu führen, dass Begriffe in neuer Weise bestimmt und geschärft werden. Dies schließt die Einführung neuer Begriffe ein. Aus diesem Grund können wir hier von Gedankenexperimenten zur Schärfung und Innovation von Begriffen sprechen. Ein kontrafaktisches Szenario eines solchen Gedankenexperiments kann in einer grundsätzlich unbegrenzten Weise als ein Mittel zur Weiterentwicklung und Bildung von Begriffen dienen. Dies macht den kreativen Aspekt entsprechender Gedankenexperimente deutlich.

5

Vgl. Dennett, Daniel C.: Intuition Pumps and other Tools for Thinking, W. W. Norton & Company, New York/ NY 2003.

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Auch der Umgang mit den Szenarien kann als genuin kreativ verstanden werden, da sich diese immer aufs Neue durchspielen lassen. Das erlaubt eine stets neue Reflexion auf begriffliche Zusammenhänge: Begriffe werden neu bestimmt, und neue Begriffe werden eingeführt. Durch die Auseinandersetzung mit einem entsprechenden Gedankenexperiment wird, so verstanden, eine »theoretische Neuorientierung« 6 möglich. Die Auseinandersetzung mit ihm regt »Veränderungen im Begriffsapparat« 7 an. Gedankenexperimente zur Schärfung und Innovation von Begriffen erklären damit auch, dass Gedankenexperimente besonders in Perioden entscheidend sind, in denen es zu Umbrüchen in der Philosophie gekommen ist und kommt.8 Gedankenexperimente zur Schärfung und Innovation von Begriffen machen verständlich, was Gedankenexperimente allgemein so besonders macht. Es handelt sich um kreative Instrumente, die die Entwicklung des Denkens antreiben. Gerade in der Philosophie ist diese Kreativität von besonderer Bedeutung, da sie eine Wissenschaft ist, innerhalb derer Begriffe für die Artikulation des menschlichen Weltverhältnisses bestimmt werden. Dabei geht es auch darum, solche Begriffe immer weiterzuentwickeln.9 Genau in diesem Sinn tragen Gedankenexperimente zur Schärfung und Innovation von Begriffen bei. Quelle: Betram, Georg W. (Hrsg.): Philosophische Gedankenexperimente. Ein Lese- und Studienbuch, Reclam Taschenbuch 20414, Philipp Reclam jun., Stuttgart 2012, S. 15 – 23 und S. 35 – 45.

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9

Kuhn, Thomas S.: »Eine Funktion für das Gedankenexperiment«, in: Kuhn, Thomas S.: Die Entstehung des Neuen. Studien zur Struktur der Wissenschaftsgeschichte, übers. von Vetter, Hermann, hrsg. von Krüger, Lorenz, stw 236, Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1978, S. 327– 356: S.350. Ibid., S. 338. Nersessian, Nancy J.: »In the Theoretican’s Laboratory: Thought Experimenting as Mental Modeling«, in: Okruhlik, Kathleen; Hull, David L.; Forbes, Micky (Eds.): Proceedings of the 1992 Biennial Meeting of the Philosophy of Science Association 1992, Vol. 2: Symposia and Invited Paper, The University of Chicago Press on behalf of the Philosophy of Science Association East Lansing, MI 1993, S. 291– 301: S. 299. In einer etwas übertriebenen Weise heißt es bei Gilles Deleuze und Félix Guattari: »Im strengeren Sinne ist die Philosophie die Disziplin, die in der Erschaffung der Begriffe besteht.« (Deleuze, Gilles; Guattari, Félix: Was ist Philosophie?, übers. von Vogl, Joseph; Schwibs, Bernd, stw 1483, Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1996, S. 9).

Gedankenexperimente und Sokratisches Gespräch – ein Vergleich Gisela Raupach-Strey

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ehmen wir einmal an, …« Etwa: »Nehmen wir an, der Mensch könnte sich unsichtbar machen.« Schon setzt die Phantasie ein und kurbelt das Gedankenspiel an: Ja, was wäre dann? Begeisterung bei den Adressaten stellt sich ein, jedenfalls eine mit Lust gepaarte Bereitschaft, dem Anstoß weiter zu folgen. Bei den Lehrenden oder Didaktikern dementsprechend eine gewisse Freude, dass die Einstiegsmotivation zu gelingen scheint, und meist ist das ja auch der Fall. »Eingefleischte« Sokratiker würden eventuell anders reagieren: »Nun bleiben wir mal auf dem Boden der Tatsachen!«, »Philosophieren heißt nicht herumspinnen!«. Sie würden die strenge Disziplin des Denkens und Analysierens einklagen. Ist ihnen die Vagheit der Phantasie unheimlich? Schauen wir genauer hin, ob diese strikte Gegenüberstellung sich halten lässt. Im Folgenden sollen beide Methoden verglichen, also gründlicher auf Unterschiede und Gemeinsamkeiten befragt werden. Dabei wird als Bezug auf der einen Seite die Konzeption des Gedankenexperiments von Helmut Engels zugrunde gelegt1 und auf der anderen Seite das Paradigma der Sokratischen Gesprächsmethode im Sinne der Nelson/Heckmann-Tradition2. Nach Helmut Engels wird zu Beginn eines Gedankenexperiments ein Szenario imaginiert, das irreal ist. Das bedeutet zum einen, dass es nicht in der Realität vorkommt, aber darüber hinaus meistens auch, dass es nicht in der Realität vorkommen kann. »Fiktiv« würde weniger bedeuten, denn beispielsweise ist die Handlung eines Romans fiktiv, aber möglich. Eine Fiktion ist in dieser Verwendung wohl ausgedacht, aber kein isomorphes Abbild der Wirklichkeit. Sie setzt potentielle Wirklichkeitselemente so zusammen, dass ein (Handlungs-) Zusammenhang entsteht, der auch in der Realität vorkommen könnte. Das Szenario des Gedankenexperiments entfernt sich etwas weiter von der Realität, bleibt aber beim »Denkbaren«. Es benutzt zwar ebenfalls

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Vgl. Engels, Helmut: »Überlegungen zum Gedankenexperiment im Unterricht«, in: Ethik & Unterricht 12, 2001, Heft 3: Praktische Philosophie, S. 11– 17; vgl. Engels, Helmut: »Nehmen wir an …«. Das Gedankenexperiment in didaktischer Absicht, Philosophie und Ethik unterrichten, Bd. 2, Beltz Praxis, Beltz Verlag, Weinheim/Basel 2004; vgl. Engels, Helmut: Das Gedankenexperiment im Philosophie- und Ethikunterricht, Typoskript für den Ethiklehrertag an der Martin-Luther-Universität Halle (Saale) 2006. Vgl. Heckmann, Gustav: Das sokratische Gespräch, mit einem aktualisierten Vorwort von Krohn, Dieter, Sokratisches Philosophieren, Bd. 16, LIT Verlag, Münster 32018; vgl. Raupach-Strey, Gisela: Sokratische Didaktik. Die didaktische Bedeutung der Sokratischen Methode in der Tradition von Leonard Nelson und Gustav Heckmann, LIT Verlag, Münster/Hamburg/London 2002, 22012. In diesem Beitrag wird »Sokratisch« zur Kennzeichnung der Nelson/Heckmann-Tradition mit großem Anfangsbuchstaben geschrieben.

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potentielle Wirklichkeitselemente, setzt sie aber so zusammen, dass das Ganze uns nicht mehr als ein potentielles Ganzes plausibel erscheint, vielmehr nur noch als eine vorgestellte andere Welt, und dies wird überdies zugleich gewusst. Es ist nicht beabsichtigt, andere oder gar sich selbst zu täuschen (wie dies etwa bei den »fake news« der Fall ist); vielmehr sollen im Spiel der Gedanken und Vorstellungen die Grenzen der Wirklichkeit und unserer Auffassung der Wirklichkeit gesprengt werden, um sich von allzu eingefahrenen Denkmustern zu lösen. Eine ähnliche Erweiterung unseres Wirklichkeitsverständnisses nehmen auch Märchen vor, in denen beispielsweise Tiere sprechen können oder sich Lebewesen oder Gegenstände verwandeln. Es scheint bei dieser Literaturgattung niemanden zu stören, weil wir mitverstehen, dass die Botschaft des Textes auf einer anderen, metaphorischen Ebene liegt. Freilich bleibt im Hintergrund unser gewohntes Wirklichkeitsverständnis, das insbesondere von einer durchgehenden Gültigkeit des Kausalitätsgesetzes Gebrauch macht und vom Gesetz der Erhaltung der Substanz, aber auch von einem Vorverständnis menschlicher Fähigkeiten und psychologischer Muster und vielem anderen. Gerade durch die Grenzüberschreitungen eines allzu positivistischen Weltbildes wird aber eine andere Welt, eine SinnWelt freigelegt. Eine ähnliche didaktische Absicht liegt den Gedankenexperimenten zugrunde. Das Kontrafaktische des Ausgangsszenarios ist also sogar kontrapotenziell, aber gerade darin steht es – oft ex negativo – im Dienst möglicher Sinn- und ErkenntnisEntdeckung über sich selbst und die Realität, in der wir leben. Es hat also insbesondere am Beginn des Denkprozesses heuristischen Wert. Gehen wir der Konzeption, die Helmut Engels entwickelt, genauer nach, um sie mit dem Paradigma der Sokratischen Methode nach Nelson/Heckmann zu vergleichen.

 Der Kontext Der Kontext der Gedankenexperimente wird vom Lehrenden vorgegeben. Die Sokratischen Gespräche in der freien Erwachsenenbildung geben nur ein Thema vor, in der Regel in Form einer Frage; dasselbe gilt für die Blockseminare als Sokratische Gespräche, wie sie seit Jahren an der Universität Halle und andernorts praktiziert werden. Insofern sind die Sokratischen Gespräche unmittelbar kontextlos, aber gewissermaßen nur an der Oberfläche. Wenn zu Beginn des Sokratischen Gesprächs selbst erfahrene Beispiele aus der Lebenswelt gesucht und der Gesprächsgruppe mitgeteilt werden, stellt sich de facto ein lebensweltlicher Kontext her, in dem sich die Themafrage oder jedenfalls das Problemfeld zeigt. Auch ein gedanklicher Kontext stellt sich, wenn auch vielleicht vage, in den Köpfen der einzelnen Teilnehmerinnen und Teilnehmer her. Dies sind zunächst diverse Kontexte, weil jede Teilnehmerin ihren bzw. jeder Teilnehmer seinen eigenen Kontext herstellt, wodurch die diversen Kontexte isoliert scheinen. In der Verständigung über die einzelnen Beispiele zeigt sich aber fast immer, dass die übrigen Teilnehmenden zumindest ähnliche Erfahrungen selbst kennen, d. h., unsere Lebenswelt ist eine weitgehend geteilte. Und diese wird durch die Themavorgabe unter einem bestimmten Aspekt »angezapft«.

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Sokratische Gespräche verlangen also im Vergleich zu den Gedankenexperimenten eine größere Selbständigkeit dahingehend, dass die Teilnehmenden den Kontext selbst herstellen, zunächst in der Beispielwahl, die eine – wie auch immer geartete – Verbindung zwischen dem Thema und der Erfahrung herstellt, und dann im wechselseitigen Verstehen der Beispiele der anderen. Im Schulunterricht wird der Kontext bzw. der Rahmen durch Richtlinien, Lehrpläne, thematisch bestimmte Unterrichts-Einheiten stärker vorbestimmt und ist insofern in aller Regel de facto die Vorgabe des Lehrers, wenn auch mit gewissen Spielräumen. In Sokratischen Gesprächen gibt es in diesem Sinn keine »Hinführung«. Natürlich hängt es davon ab, in welchem institutionellen Rahmen die Sokratischen Gespräche durchgeführt werden, ob als isolierte Einzelveranstaltung oder eingebunden in eine Unterrichts- oder Modul-Reihe. Freilich sind für den Schulunterricht gewisse Rahmenbedingungen unabdingbar. Aber beide Zugangsweisen sind auch vermittelbar, indem im Rahmen eines Unterrichtsthemas für eine Sokratische Phase eine passende Frage gestellt und bearbeitet werden kann. Sieht man noch genauer hin, was in Gedankenexperimenten und Sokratischen Gesprächen aktiviert wird, so nutzen in beiden Fällen die Teilnehmenden im angestoßenen Denkprozess in praxi die gemeinsam geteilte Lebenswelt. Im weiteren Prozess verzweigt sich dieser Gesichtspunkt wieder: Wegen des angestrebten Ziels einer gemeinsamen Erkenntnis betrachten Sokratische Gespräche dann mehr die gemeinsamen Züge der Lebenswelt (evtl. auch an mehr als einem Beispiel abgelesen), während Gedankenexperimente sich an dieser Stelle stärker öffnen und zunächst den individuellen Assoziationen mehr Spielraum geben, dabei aber ebenfalls angewiesen sind auf Verständlichkeit durch die übrigen Gesprächsteilnehmenden, also ebenfalls die geteilte Lebenswelt im Hintergrund haben.

 Die Versuchsanordnung oder die Experimentalbedingungen Die Versuchsanordnung ist im Gedankenexperiment eine Annahme, also nicht Wirklichkeit, sondern eine Möglichkeit, sei es eine reale Möglichkeit (d. h. die in der realen Lebenswelt einmal zutreffen könnte), sei es eine nur gedanklich ausgedachte, für die das nicht gilt. Hier liegt der Hauptunterschied zum Sokratischen Gespräch, das als Basis nicht das Kontrafaktische, sondern die Realität nimmt, nämlich: tatsächliche eigene Erfahrungen der Teilnehmenden, die als »Beispiel« zum Thema bezeichnet werden. Hierin liegt eine gewisse Verwandtschaft mit dem Prinzip der Exemplarität; in Sokratischen Gesprächen stellt sich aber erst im Nachhinein heraus, für welches Allgemeine das Beispiel als Exempel stehen kann. Der Grund für diese Verankerung in der Realität liegt darin, dass ein Abgleiten ins Spekulieren oder Phantasieren vermieden werden soll, um die genaue Betrachtung und Analyse dessen, was »hinter« dem Beispiel steckt, zu ermöglichen und sie nicht zu umgehen. Gemäß Nelson sollen in der »regressiven Abstraktion« die Prinzipien unseres Denkens aufgedeckt werden, indem hinter die Urteile, die sich im oder zum Beispiel einstellen, zurückgegangen wird. Wir deuten dieses Zurückgehen heute (insbesondere

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für die allgemeinbildenden Sokratischen Gespräche) weiter: Wir fragen zunächst kleinschrittig nach hinter dem Beispiel und den zugehörigen Urteilen stehenden Überzeugungen, Werten, aber auch Vorerfahrungen oder Gefühlen, nach persönlichen Grundsätzen und allgemeinen Präsuppositionen. Hierdurch schälen sich in der Regel, wenn auch langsam, die allgemeinen Grundlagen unseres Denkens, Handelns und unser »Weltansicht« heraus. Bezieht man sich nicht auf konkrete, selbst erfahrene Begebenheiten, ist die Versuchung unter Umständen groß, dem genauen Nachfragen auszuweichen, indem man sich losgelöst von der Realität etwas »ausdenkt« – und das zudem im Gesprächsverlauf noch unbemerkt variiert. Bei der weiteren Argumentation kommt es dann fast zwangsläufig zu Komplikationen. Konstruierte Beispiele – selbst wenn sie im obigen Sinne in der Realität möglich sind – lassen immer Lücken, die von den Gesprächsteilnehmenden nicht unbedingt in gleicher Weise gefüllt werden. Wird eine Diskussion unbemerkt auf diesen unbenannten Zusatzannahmen aufgebaut, ist das Missverstehen vorgezeichnet, und der Grund wird oft nicht erkannt. Das Ausgangsbeispiel wird im Sokratischen Gespräch auch nicht verändert, sondern in der dargebotenen Form als die Erfahrung der Beispielgeberin bzw. des Beispielgebers (die natürlich seine Interpretationen enthält) ernst genommen, sie darf ihr/ihm nicht von der Gruppe uminterpretiert oder gar ausgeredet werden. Engels lässt dagegen für die anfängliche Annahme eine Veränderung zu, wenn sie nicht weiterführt – weist das nicht darauf hin, dass sie auf bestimmte Antworten hin konstruiert wurde? Im Gedankenexperiment hat die Ausgangs-Annahme einen anderen Status als das Sokratische Beispiel; sie ist nicht Untersuchungsobjekt, sondern hat Katalysator-Funktion. Sokratische Gespräche gehen davon aus, dass sich an jedem real erfahrenen Beispiel Grundlegendes herausarbeiten lässt. Und diese Arbeit mit der Gesprächsgruppe zeigt erfahrungsgemäß, dass die Nachfrage der anderen Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner oft implizit Vorausgesetztes zutage fördert, was den Sprechenden anfangs nicht bewusst war, aber doch vorgelegen hat. Diese impliziten Voraussetzungen können dann gemeinsam einer kritischen Prüfung unterzogen werden. Es ist also der strikte Bezug auf gemeinsame rationale Erkenntnis von etwas Grundlegendem, der dieses methodische Vorgehen begründet. Spielt denn umgekehrt die Vorstellungskraft in der Sokratischen Methode keine Rolle? Man kann natürlich fragen, inwieweit etwa hypothetisches Denken (das ja auch schon über die Realität hinausgeht) nicht doch auch in das Sokratische Vorgehen einfließt und vielleicht nicht so strikt diskreditiert werden sollte. Das ist bislang wenig beachtet worden, aber bei genauerem Hinsehen lassen sich einige Punkte benennen: Richtig ist, dass im Anfangsstadium des Verstehens eines Beispiels durch die anderen der Gruppe diese anderen zwar ihre eigenen Erfahrungen wach rufen, die dem berichteten Beispiel ähnlich sind, aber immer auch für die Stellen der Unähnlichkeit ihr eigenes Vorstellungsvermögen zusätzlich aktivieren. In diesem Punkt besteht dann ein etwas größerer Abstand zur Realität (mal mehr, mal weniger), in der Regel auch ohne weiteren Reflexionsbedarf. Im Grenzfall kann allerdings ein Teilnehmer auch zu dem Schluss kommen: »Was du da erzählst, kann ich mir nicht vorstellen.« Dann gelingt die

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Verständigung in dem Punkt nicht, weil die geteilte Lebenswelt selbstverständlich kein lückenloses System ist, sondern eher eine Art Netzwerk, in dem wir uns ausbalancieren. Bei den Gedankenexperimenten »experimentiert« ja zunächst jede bzw. jeder für sich, so dass die Lücken unproblematisch sind, vielleicht sogar interessant – allerdings nur so lange keine gemeinsame Erkenntnis beabsichtigt ist, vielmehr der Erkenntnisprozess des Einzelnen im Mittelpunkt steht. Auch im weiteren Verlauf des Sokratischen Gesprächs kann es durchaus Stellen geben, an denen gewissermaßen verborgenes hypothetisches Denken eine Rolle spielt, und zwar bei der Prüfung von Argumenten. Fragt man sich selbst, ob man einem Argument zustimmt oder nicht, so wird dies oft innerlich dadurch getestet, dass man sich das Gegenteil der Behauptung, oder eine Variante in einem Punkt der Behauptung, gedanklich vorstellt (nicht immer ausgesprochen) und versucht, die jeweiligen Konsequenzen zu erfassen, bevor man zu einem abgewogenen Schluss kommt. Auch ausdrücklich geschieht in Sokratischen Gesprächen gelegentlich solch eine Prüfung der Behauptung, indem jemand eine Variation der Behauptung (z. B. die Veränderung nur einer Bedingung) heranzieht, die dann zwar nicht konkret erlebt wurden, was aber nicht bedeutet, dass dadurch eine genaue rationale Prüfung in der Gruppe behindert wird. Manchmal kann ein solches Verfahren sogar förderlich sein. In Sokratischen Gesprächen kommt es auch vor, dass die Tragfähigkeit einer Behauptung dadurch zur Diskussion gestellt wird, dass auf ein anderes der anfangs vorgetragenen Beispiele verwiesen wird, das sich in einem bestimmten Punkt von dem vorher betrachteten unterscheidet. Das erweist sich gelegentlich als ein fruchtbringender methodischer Schritt, und dieser hat wieder den Vorteil, dass nicht von differierenden Vorstellungswelten aus argumentiert wird, sondern von einer konkreten Erfahrung, die zuvor alle rezipiert hatten. Zu den aufgezeigten punktuell hypothetischen Gedanken im Sokratischen Gespräch ließen sich wohl Parallelen herstellen zu den Konstruktionsvorschlägen von Engels (»Kunstgriffen«) für Gedankenexperimente, die bei ihm aber als Basis jeweils für das ganze Experiment gemeint sind. Aus der Außen-Perspektive sind all diese genannten Situationen, in denen im Sokratischen Gespräch ein Schritt über die Konkretion hinaus getan wird und somit auch Vorstellungskraft erfordert, dennoch relativ streng in den rationalen Gesprächsprozess eingebunden, der mit Hilfe der Suche nach Begründungen und deren Untersuchung unter der regulativen Idee der Erkenntnis, möglichst einer konsensuellen Erkenntnis, steht. In dieser Hinsicht erlaubt das Gedankenexperiment eine ungleich größere Freiheit für das Spiel der Vorstellungskraft und der Phantasie, jedenfalls in der ersten Phase des individuellen »Experimentierens«, das sich weder Schranken der Realität auferlegt noch Schranken der Verständlichkeit für Mitdenkende oder Mitschülerinnen und Mitschüler. In dieser Phase ist jegliche Gültigkeitsfrage ausgesetzt. Je nach der konkreten Unterrichtssituation und für diese gesetzten Unterrichtsziele kann es lohnend sein, diese größere Freiheit zeitweilig zuzulassen.

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 Versuchsanleitung Die explizite Formulierung einer »Versuchsanleitung« ist wohl der Übertragung von Anleitung zu empirischen Experimenten zu verdanken. Von diesen unterscheiden sich aber auch schon die Gedankenexperimente, insofern sie nicht mit Materie, sondern mit Vorstellungsmaterial operieren, und vor allem durch die viel offenere Fragestellung, die nicht auf ein eindeutiges Ergebnis als Bestätigung oder Widerlegung der Hypothese abzielt. Der Ausdruck »Versuchsanleitung« lässt sich vielleicht auch als Hinweis darauf verstehen, dass diese eher als eine Methode im engeren Sinn für den Schulunterricht konzipiert sind, während die Sokratischen Gespräche darüber hinaus gehen, indem sie einen dialogischen Weg zu gemeinsamer Erkenntnis aufzeigen, unabhängig davon, unter welchen institutionellen Rahmenbedingungen in dieser Weise philosophiert wird. Die »Versuchsanleitung« der Gedankenexperimente formuliert auf der Basis der kontrafaktischen Annahme eine Frage oder Aufgabe zum Nachdenken. Ähnlich steht über Sokratischen Gesprächen in der Regel eine Themafrage. Aber sie leitet nicht an, wie weiterhin vorzugehen ist – der Sokratische Weg kann sich ganz unterschiedlich gestalten. Im Verlauf Sokratischer Gespräche gibt es zwar auch Aufforderungen, worüber die Gruppe gemeinsam nachdenken möge, sei es von der Leitung, sei es von einem Teilnehmer formuliert. Grob lassen sich diese Aufforderungen einteilen in Verständigung suchende, Gründe suchende und Zustimmung prüfende. Im Einzelnen können solche Aufforderungen dann umgekehrt sogar kleinschrittiger sein als die »Versuchsanleitung« zum Gedankenexperiment, die nur einmal zu Beginn erfolgt und vergleichsweise offen und recht allgemein ist, so dass die Durchführung dann ja auch in dieser Phase eine individuelle ist, in der die Bearbeitung der einzelnen Gruppenmitglieder voneinander abweichen kann. Denn die Antworten malen sich eine vorgestellte Welt aus, es sind phantasierte Phänome, die nicht den Status von Gründen oder Argumenten haben (solche können sich allenfalls dahinter verstecken). Im Vordergrund steht das Sich-Hineinleben in die phantasierte Situation, das Engels auch als »lustvoll« bezeichnet.

 Die Durchführung Ein Teil der Durchführung ist die soeben angesprochene Imagination anschaulicher Vorstellungen, und wer sich nicht weiter mit Gedankenexperimenten beschäftigt, wird unter Umständen dabei stehen bleiben. In der Konzeption der Gedankenexperimente bei Engels ist die Methode der Imagination jedoch verknüpft mit Rationalität, mit Überlegungen, die sich auf die reale Lebenswelt und die betroffene Person selbst beziehen (Man denke nur an die Frage: Möchtest Du durch ein technisches Arrangement pausenlos glücklich sein?). Für Engels Auffassung der Gedankenexperimente als Unterrichtsmethode schließt sich hier interessanterweise ein Schritt an, der unter dem Stichwort »Gedankenexperiment« sicher oft nicht mitgedacht wird: Die Diskussion der Einzelergebnisse in der Gruppe mit dem Ziel, die gestellte Frage zu beantworten. In-

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wieweit in der Diskussion der Schülerinnen- und Schülerantworten die einzelnen Beiträge gewürdigt werden, wird wohl vom Geschick des Unterrichtenden abhängen. Ob schließlich nur individuelle Antworten oder eine verallgemeinerbare (über das Wesen Mensch beispielsweise) erreicht werden, ist eine offene Frage; Letzteres kann aber von der Lehrperson in dem auf die Experimentierphase folgenden Gespräch mit der gesamten Lerngruppe beabsichtigt werden. Es ergibt sich hier, und das ist bemerkenswert, wieder eine größere Nähe zur Sokratischen Methode. Engels strebt zwar nicht ausdrücklich einen Konsens der Lerngruppe an, wohl aber Erkenntnisse, die dann offenbar doch nicht nur singulären Charakter haben, sondern eher von grundsätzlicher Art sind (z. B. Der Mensch strebt nicht nach Glück allein.). Es wird zwar nicht unbedingt erwartet, dass alle Schülerinnen und Schüler diese Ansicht teilen, aber alle werden mit dieser These, die sich zumindest für einen Teil der von ihnen aus dem Überdenken des Imaginierten ergab, konfrontiert und zu einer eigenen Stellungnahme provoziert. Bei der Methode des Gedankenexperiments werden die allgemeineren Einsichten dadurch vorbereitet, dass zuvor der Phantasie größerer Spielraum eingeräumt wird. Die Überlegungen aber, die sich daran anschließen, gehen gedanklich über die vorgestellte Welt oder Situation hinaus, sie streben »Grundsätzliches und Übergreifendes« an und sind insofern rationaler Art. Das Ziel dieser Art Einsichts-Gewinnung ist somit beiden Methoden gemeinsam. Engels nennt als Funktion von Gedankenexperimenten, dass sie folgenden Zielen dienen: sich bewusst machen, was sonst verborgen bliebe, die eigenen Vorstellungen klären, Probleme erfassen und auf den Punkt bringen, Normen und Werte entdecken, Prinzipien ausfindig machen, Denkbarrieren überwinden, Toleranz fördern (u. a.). Auf der imaginierten Folie einer Situation oder Welt, die sich von der Realität unterscheidet, werden also gerade Einsichten über diese Realität, ihre Struktur und das Selbst in ihr gewonnen, der Diskurs kehrt gleichsam problembewusster zur Realität zurück. Die von Engels unter dieser Perspektive genannten Ziele von Gedankenexperimenten gelten für die Sokratischen Gespräche ganz genauso; insofern unterscheiden sich beide Methoden fast gar nicht in den Zielen, vielmehr im Weg (Heuristik).

 Abschließender Vergleich Beide Methoden haben ihre Vor- und Nachteile: Die Gedankenexperimente aktivieren im Beginn des Nachdenkens stärker die Phantasie und Kreativität der Partizipienten. Dies kann im Rahmen der Schule, die von den Schülerinnen und Schülern oft als Zwangsveranstaltung erlebt wird, befreiend wirken. Einengende Denk- und Verhaltensgewohnheiten oder moralische und existenzielle Grenzen zu reflektieren, ist eine wichtige Aufgabe des Philosophierens. Gedankenexperimente fördern die Einbildungskraft und den Möglichkeitssinn, aber auch den Perspektivenwechsel und hypothetisches Denken im engeren Sinn. Dies sind wichtige Kompetenzen im Ethik- und Philosophie-Unterricht, die in der Sokratischen Methode nur eine untergeordnete Rolle spielen. Außerdem sprechen Gedankenexperimente nicht-rationale Ebenen des Menschseins an, die in der Sokratischen Methode zwar nicht geleugnet werden, aber

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eher unterschwellig mitlaufen. Gedankenexperimente haben den Nachteil, die Bereitschaft von Schülerinnen und Schülern zu analytischem Denken und stringentem Argumentieren hintanzustellen. Vom Ansatz her werden Geltungsfragen zunächst einmal ausgeklammert. Daher dürfte es schwieriger sein, mit den unterschiedlichen Schülerinnen- und Schülerantworten nicht nur zu einem gemeinsamen Ergebnis zu kommen, sondern auch zu einem solchen, das grundsätzliche, tendenziell universale Erkenntnisse enthält – es sei denn, man geht im dritten Teil der gemeinsamen Diskussion zur Sokratischen Methode über und lässt sich hierfür mehr Zeit. Sokratische Gespräche legen größeren Wert auf sorgfältiges Sprechen und wechselseitiges Verstehen sowie auf genaues Analysieren und Argumentieren, und sie untersuchen die Geltung von Urteilen. Sie haben den Nachteil, dass (vordergründig) die Verpflichtung zur Rationalität zuweilen mit einer gewissen Strenge erlebt wird. Meist liegt dem allerdings eine missverstandene Anthropologie zugrunde: Auch hier wird der Mensch nicht nur als rationales Wesen gesehen. Innere Vorgänge und Gefühle gehören bei den Sokratikern ebenso zu dem zugrundeliegenden Menschenbild wie Sozialität. Dies manifestiert sich in der konkreten Praxis; darüber hinaus können solche Problemfelder auch Gesprächsgegenstand sein. Sokratische Gespräche haben auch bei derartigen Themen gerade den Vorteil, in der Lebenswelt anzusetzen, die diese Ebenen enthält und die eine weitgehend geteilte ist (auch wenn man sich das gelegentlich erst klar machen muss). Dieser Ausgangspunkt sichert in Sokratischen Gesprächen Konkretion und Anschaulichkeit als Grundlage von Abstraktionen, und zwar nicht nur für den Gesprächsbeginn, sondern auch für den weiteren Verlauf, in dem dieser »Anker in der Erfahrung« wiederholt zum gemeinsamen Bezugspunkt für Klärungen herangezogen werden kann3. Die Abstraktionen sind dann nicht beliebig und vor allem nicht leer. Schließlich ist der Gewinn Sokratischer Gespräche nicht zu verkennen, der darin liegt, dass durch dieses Vorgehen Erkenntnisse allgemeiner Art angestrebt und durchaus auch erreicht werden (ohne dass sie erzwungen würden). Diese haben zum einen philosophischen Wert, sind zum anderen aber auch für das menschliche Zusammenleben in einer Zivilgesellschaft von Bedeutung, weil sie das Verständnis für die Grundlagen unserer Lebenswelt vertiefen. Natürlich wird dies nicht explizit bei jedem Sokratischen Gespräch thematisiert, zeigt sich jedoch durchaus in der Praxis des Gesprächs. Beiden Methoden gemeinsam ist das übergeordnete Ziel, das selbständige Denken zu fördern. Für den Schulunterricht haben beide Methoden ihren Sinn, je nach Motivationslage und Erkenntnisinteresse der Lerngruppe. Es ist von den Lehrenden abzuwägen, welcher Zielsetzung und welcher Mittelwahl sie in einer gegebenen Unterrichts-Situation Priorität beimessen. Auf mittlere Sicht sollten die Schülerinnen und Schüler die Fruchtbarkeit beider Methoden durch eigene Beteiligung erfahren.

3

Vgl. Nida-Rümelin, Julian: Unaufgeregter Realismus. Eine philosophische Streitschrift, mentis Verlag, Paderborn 2018, S. 138: »Eine umfassende Realität-Skepsis ist allenfalls als ein philosophisches Gedankenexperiment möglich, nicht als Lebensform. Außerhalb des philosophischen Seminarraums werden alle wieder zu Realisten.«

2

BEISPIELE AUS DER PRAXIS

Der Ring des Gyges auf dem Prüfstand Beate Marschall-Bradl

 Didaktische Zielsetzung Die Parabel »Der Ring des Gyges«, die Glaukon im zweiten Buch von Platons Politeia vorträgt, ist, wenn man sie zum Gedankenexperiment ausbaut, besonders geeignet, Schülerinnen und Schüler der Unterstufe zu eigener moralischer Einsicht jenseits einer zwangausübenden Gerechtigkeit zu führen. Dies nicht nur, weil die Schülerinnen und Schüler den ihnen in der Regel bekannten Roman und Blockbuster Der Herr der Ringe assoziieren, sondern vor allem, weil sie selbst die Güte einer Handlung häufig danach beurteilen, ob Autoritäten diese sanktionieren, was aber der Versuchsanordnung der kontrafaktischen Gyges-Situation zufolge gerade ausgeschlossen ist. Denn mit dem Ring, der unsichtbar macht, sind Bedingungen gegeben, grundsätzlich ohne Risiko und soziale Kontrolle alles tun und sich aneignen zu können, was man will, sodass man also in der Lage ist, sich »wie ein Gott unter den Menschen« 1 alles zu erlauben. Weil dies unter normalen Umständen nicht möglich ist, könnte Gerechtigkeit generell nur eine Anpassung an gesellschaftliche Normen sein, deren Zwangsmechanismen wie Strafen und gesellschaftliche Ächtung die Menschen an ungerechtem Verhalten hindern. Dann aber wäre Gerechtigkeit nur ein von außen oktroyiertes Gut, das dem persönlichen Lebensglück entgegensteht, nicht aber ein Gut, das um seiner selbst willen erstrebenswert ist und zum guten Leben gehört. Das will Glaukon sagen, wenn er behauptet, dass zwischen dem Gerechten und Ungerechten unter Gyges-Bedingungen kein Unterschied besteht, da beide nur ihren Vorteil suchen. Da somit nichts weniger in Frage steht als die Möglichkeit von Moral und Moralphilosophie, wenn sich die Strategie der Lebensführung im Sinne von Gyges rechtfertigen lassen könnte, möchte Glaukon von Sokrates Argumente hören, die die Plausibilität seiner Geschichte widerlegen. Genau dies sollen auch die Schüler versuchen; sie sollen sich argumentativ um eine eigene Einsicht in die Sinnhaftigkeit von Normen der Gerechtigkeit bemühen und so zu einem eigenen moralischen Urteil hingeführt werden.

1

Platon: »Politeia«, in: Platon: Sämtliche Werke, 6 Bde., Bd. 3: Phaidon – Politeia, übers. von Schleiermacher, Friedrich, hrsg. von Otto, Walter F.; Grassi, Ernesto; Plamböck, Gert, rk 27, Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg 1981, 360 d (S. 99).

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 Zum Unterrichtsverlauf Die Schülerinnen und Schüler ¬ ¬ ¬

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nehmen einen Fall als moralisch relevant wahr, analysieren und interpretieren die Gyges-Parabel auch im Vergleich zum Einstiegsfall, differenzieren zwischen verschiedenen Gerechtigkeitsvorstellungen, z. B. Gerechtigkeit als ein um seiner selbst willen erstrebenswertes Gut und Gerechtigkeit als Folge von Normen, die mit Zwang durchgesetzt werden, finden, bewerten und gewichten Argumente, treffen begründete Entscheidungen, beurteilen Glaukons These.

Der Einstieg erfolgt anhand einer Bildergeschichte, die eine Situation zeigt, in der Wünsche einer Person mit Sollenserwägungen kollidieren können und die eine Entscheidung abverlangt (M1). Schon zu Beginn des Unterrichts steht damit in Vorbereitung auf die Gyges-Parabel eine moralische Entscheidungssituation im Fokus. Carlo findet zufällig im Wald eine Brieftasche mit viel Bargeld. Soll er das Geld an sich nehmen und die Brieftasche wieder zurücklegen oder soll er die Brieftasche bei der Polizei abgeben? Die Schülerinnen und Schüler begründen ihre Entscheidungen und notieren sie. Wesentlich ist, dass sie in diesem Stadium den Unterschied zwischen einer zwangausübenden Gerechtigkeit, der Gesetzesbefolgung und einer Gerechtigkeit als eigenständiges Gut herausarbeiten. Würde man die Brieftasche auch dann abgeben, wenn niemand den Fund beobachtet hat? Wenn ja, aus welchen Gründen? Im Kontrast dazu werden die Schüler mit der Gyges-Parabel konfrontiert, mit der Glaukon vor dem Hintergrund einer sanktionierenden Gerechtigkeitsvorstellung der These Evidenz verleiht, dass jeder zur Maximierung seines eigenen Vorteils ungerecht sein wird, wenn dies risikolos möglich ist. Die Schüler analysieren die Parabel, vergleichen sie in Partnerarbeit mit M1 und formulieren Glaukons These, zu der sie dann mit Hilfe der Argumentationsmaschine Stellung nehmen (M2, M3, M4).

Der Ring des Gyges auf dem Prüfstand

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M1 Carlos Fund

 Arbeitsanregungen  Gib die Bildergeschichte (M1) in eigenen Worten wieder.  Nimm Stellung: Soll Carlo die Brieftasche zur Polizei bringen oder soll er das Geld behalten und die Brieftasche wieder hinlegen?  Begründe deine Meinung.  Stell dir vor, keiner habe Carlo gesehen. Nimm nochmals Stellung. Hat sich deine Meinung geändert? Wenn ja, formuliere eine neue Begründung.

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M2 Der Ring des Gyges2

Glaukon, ein älterer Bruder des berühmten Philosophen Platon, hat über Gyges, der als junger Mann Hirte bei Kandaules, dem Herrscher von Lydien, war, die folgende Geschichte erzählt: Einst gab es ein großes Unwetter und ein Erdbeben, das die Erde gespalten hat. Dadurch war in der Gegend, in der Gyges Schafe hütete, eine Kluft entstanden. Als er dies mit Verwunderung bemerkt hatte und in die Spalte hineingestiegen war, fand er dort ein hohles, eisernes, mit Fenstern versehenes Pferd. Durch diese Fenster erblickte er eine Leiche, dem Anschein nach größer als ein menschliches Wesen. Diese hat nichts anderes an sich gehabt als einen goldenen Ring an der Hand, welchen Gyges an sich nahm, bevor er wieder hinausstieg. Als nun die Hirten wie jeden Monat zusammenkamen und dem König berichteten, was bei den Herden vorgegangen war, ist auch Gyges erschienen, den Ring am Finger. Wie er nun unter den andern gesessen ist, hat er zufällig die Fassung des Ringes nach der inneren Seite der Hand hin umgedreht und ist dadurch für die Dabeisitzenden unsichtbar geworden, so dass sie von ihm wie von einem Abwesenden redeten; darüber hat er sich gewundert, den Ring wieder angefasst und die Fassung nach außen gedreht, und sobald er ihn umgekehrt hatte, war er wieder sichtbar. Gyges probierte mehrmals aus, ob der Ring wirklich diese Kraft habe, und es war in der Tat immer so, dass er unsichtbar wurde, sobald er die Fassung nach innen gedreht hatte, und sichtbar, wenn sie nach außen zeigte. Als ihm dies klar war, ließ er sich zu den Boten des Königs versetzen, verführte dessen Frau, ermordete mit ihrer Hilfe den König und riss die Herrschaft an sich. Wenn es nun zwei solcher Ringe gäbe und den einen der Gerechte anlegte, den anderen aber der Ungerechte, so würde doch wohl keiner so stahlhart sein, dass er bei der Gerechtigkeit bliebe und fremdes Gut nicht anrührte, da es ihm freistände, ohne alle Besorgnis zu nehmen, was er nur wolle. Und dies, müsse doch jedermann eingestehen, sei ein starker Beweis dafür, dass niemand mit gutem Willen gerecht ist, sondern nur aus Not. Denn jedermann glaubt, dass ihm für sich die Ungerechtigkeit weit mehr nützt als die Gerechtigkeit.

2

Marschall-Bradl, Beate: Der Ring des Gyges, basierend auf dem Gleichnis aus Platon: »Politeia«, in: Platon: Sämtliche Werke, 6 Bde., Bd. 3: Phaidon – Politeia, a.a.O., 359 b – 360 d (S. 97– 99).

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M3 Der Ring des Gyges

 Arbeitsanregungen  Stelle die wesentlichen Unterschiede zwischen der »Carlo«- und der »Gyges«-Geschichte dar.  Erkläre, was Glaukon mit der Geschichte sagen will.

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M4 Die Argumentationsmaschine

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 Arbeitsanregungen  Ordne die Argumente danach, ob sie für oder gegen das Behalten des Rings sprechen.  Suche dir Argumente heraus, die du für gut hältst, und begründe, warum sie geeignet sind, eine Position zu stärken.  Untermaure und veranschauliche diese Argumente durch Beispiele.

Marschall-Bradl, Beate: »Der Ring des Gyges auf dem Prüfstand. Sind wir in unserem Leben aus eigener Einsicht auf das Gute bezogen?«, in: Praxis Philosophie & Ethik 1, 2015, Heft 5: Gedankenexperimente, S. 15 – 20.

Stell’ dir vor, es wäre Krieg … Katja Andersson

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anne Tellers Essay Krieg. Stell dir vor, er wäre hier lädt dazu ein, die eigene Vorstellungskraft zu bemühen, um sich in das Leben und die Situation eines Flüchtlings hineinzudenken und sich den Fragen nach gerechter Teilhabe und einer gerechten Verteilung der Ressourcen zu stellen. Weltweit sind etwa 51 Millionen Menschen auf der Flucht, so viele wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Und die Staaten, die besonders viele Flüchtlinge aufnehmen, sind oft selbst sehr arm. Zum Beispiel Jordanien: Das kleine Land mit 6,4 Millionen Einwohnern hat bis heute mehr als 615.000 syrische Flüchtlinge aufgenommen. Hierzulande hingegen löst die Aufnahme von Flüchtlingen aktuell Proteste, Diskussionen und Probleme aus, die kaum noch zu bündeln sind. Janne Teller geht von dem Gedankenexperiment aus, die Europäische Union sei wirtschaftlich-sozial und nationalistisch zusammengebrochen, was dazu führt, dass Europäer fliehen müssen. Teller selbst verweist in ihrem Nachwort auf die Geschichte ihres Textes, der 2001 im Rahmen der Flüchtlingsdebatte in Dänemark erschienen ist, die »zwei unserer in Europa höchstgepriesenen Grundsätze der philosophischen und sogar christlichen Ethik zunächst zu vergessen schien: Alle Menschen wurden gleich geschaffen und Behandle die Menschen so, wie du selbst von ihnen behandelt werden willst.« 1

 Janne Teller: Krieg. Stell dir vor, er wäre hier Ein vierzehnjähriger deutscher Jugendlicher, den man als Leser auf der Flucht mit seiner Familie begleitet, versucht in einem ägyptischen Flüchtlingscamp ein neues Leben anzufangen. Da die Familie keine Aufenthaltsgenehmigung hat, bleibt ihnen ein Neuanfang jedoch verwehrt. Für den Jungen bedeutet das, dass er keine Schule besuchen, die Sprache nicht erlernen und auch kein Geld verdienen kann. Das Vorhaben, einen solchen Text im Unterricht zu behandeln, beruht auf der Prämisse, dass es hier nicht um reine Wissensvermittlung und fachliches Lernen gehen kann, sondern vor allem um Interesse, Empathie und Engagement: Interesse für die besondere Situation von Kriegsflüchtlingen, die aus einem anderen Kulturkreis kommen, Empathie für Menschen und ihre biografischen Brüche sowie Engagement, das als Möglichkeit verstanden werden sollte, die Situation anderer und ihre Besonder-

1

Vgl. Teller, Janne: Krieg. Stell dir vor, er wäre hier, übers. von Engeler, Sigrid C., Illustrationen von Jensen, Helle Vibeke, Carl Hanser Verlag, München 2011, S. 55.

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heiten überhaupt wahrzunehmen. Dabei stellt die Behandlung des Textes einen Baustein dar, der im Rahmen des Themas Gerechtigkeit, aber auch im Kontext der Beschäftigung mit Heimat und Fremde gewinnbringend thematisiert werden kann. Da der Text verhältnismäßig kurz ist, können die Schülerinnen und Schüler ihn gut als Ganzschrift zu Hause lesen. Ein besonderes Augenmerk sollte den Illustrationen gelten, die den Text eindrucksvoll unterstützen.

 Unterrichtsvorschläge Für eine Sensibilisierung und als Einstieg bietet es sich zunächst an, von den Voreinstellungen der Schülerinnen und Schüler zum Thema Krieg auszugehen und dabei das Cover, den Buchtitel, die Form des Reisepasses einzubeziehen, also die Wirkung, die Gefühle, gegebenenfalls Erinnerungen oder Erfahrungen wie Flucht oder Asyl abzurufen. Beim Stichwort »Pass« kann sicher auch über mögliche Hindernisse gesprochen werden, wenn man keinen Pass hat oder keinen bekommen kann. Alternativ kann man mit Fallbeispielen in Form von Zeitungsberichten einsteigen (M1, M2), um zu vermeiden, dass die Schülerinnen und Schüler davor zurückschrecken, sich sofort persönlich einzubringen, von eigenen Erfahrungen oder denen von Bekannten zu berichten. Möchte man die Arbeit mit dem Text durch einen produktorientierten Lektüreauftrag unterstützen und vorstrukturieren, mithilfe dessen sich die Schülerinnen und Schüler auch individuell vertieft mit bestimmten Inhalten oder Schwerpunktthemen des Textes auseinandersetzen, bietet sich die Form des Quadramas an (M3). Sie erlaubt zudem auch, die besonderen Illustrationen des Buches noch einmal aufzugreifen.

 Anbindung an das Thema Gerechtigkeit bzw. Heimat vs. Fremde Können die Schülerinnen und Schüler auf Vorwissen zum Thema Gerechtigkeit zurückgreifen, bietet es sich an, dass sie vertiefend zur Behandlung des Textes Gerechtigkeits-Leitlinien für einen ethisch angemessenen Umgang mit Flüchtlingen in den aufnehmenden Ländern formulieren. Dabei können sie gleich überprüfen, ob zum Beispiel Deutschland diesen Überlegungen gerecht werden könnte. Da gerade der von Janne Teller im Essay selbst angesprochene Aspekt der Menschenwürde in diesem Kontext als Argumentationshorizont von Bedeutung ist und sich auch im Fall des jugendlichen Protagonisten als lebensnotwendig erweist, wird deutlich werden, dass nur das eigene Menschsein einen Flüchtling ausmacht, wenn er auch sonst kaum etwas besitzt. Die Auseinandersetzung mit den Aspekten Heimat und Fremde bietet sich ebenfalls an, nicht zuletzt weil die Voreinstellung der in Deutschland lebenden Gesellschaft sich häufig auf Stereotypisierungen beschränkt wie der Tatsache, dass hier lebende Migranten ihre Heimat bereitwillig verlassen hätten und glücklich über ein Leben in Deutschland wären. Dazu kommt die Annahme, dass Migranten dem Schicksal von Flüchtlingen häufig interesselos gegenüberstünden.

Stell’ dir vor, es wäre Krieg …

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Formulieren die Schülerinnen und Schüler dann mögliche Erwartungen von Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten, an uns, werden Aspekte wie Akzeptanz, keine Stigmatisierung als »Ausländer«, Deutschland zum Heimatland werden lassen/Integration sowie Kommunikation/Ins-Gespräch-Kommen-Können ins Blickfeld gerückt. Vor diesem Hintergrund können sie dann die Fachbegriffe Integration und Inklusion von der häufig mitgedachten Assimilation unterscheiden.

M1 Zeitungsmeldung – Ohne Skrupel: Senat setzt OranienplatzFlüchtlinge auf die Straße2 Die Chronologie der Vertrauens- und Wortbrüche des Senats gegenüber den sogenannten Oranienplatz-Flüchtlingen erreicht einen neuen Höhepunkt: Anfang der Woche ließ Sozialsenator Czaja über 90 ehemaligen BewohnerInnen des Oranienplatzes und der Gerhard-Hauptmann-Schule mitteilen, dass sie ihre Unterkünfte binnen weniger Stunden verlassen müssen. Darunter sind viele Flüchtlinge mit noch anhängigen Verfahren, die also noch keinen Ablehnungsbescheid von der Berliner Ausländerbehörde erhalten haben, und sogar solche, die noch nicht einmal einen Vorsprachetermin bei der Ausländerbehörde hatten. Die Menschen stehen nun kurz vor dem angekündigten Wintereinbruch völlig mittellos auf der Straße.

M2 Zeitungsmeldung – Kälte könnte Flüchtlingscamp beenden3 Hannover. Alle bislang getroffenen Vorbereitungen mussten wieder rückgängig gemacht werden. Gleichzeitig ist davon auszugehen, dass die Behörden die Demonstranten nicht lange bei Eiseskälte auf dem Platz übernachten lassen werden. Damit könnte die friedliche Besetzung des Platzes mit Einsetzen des Winterwetters zu Ende gehen. Sollten die Flüchtlinge dennoch damit fortfahren, ihr Camp auf den Winter vorzubereiten, hätte die Polizei eine Handhabe, das Camp umgehend zu räumen. »Es hat ein Gespräch gegeben, in dem wir die Flüchtlinge erneut auf die von Anfang an geltenden Bestimmungen für das Camp hingewiesen haben«, sagt Behördensprecherin Martina Stern. Die Sudanesen sind verärgert: »Die Behörden geben uns damit zu verstehen, dass wir in dieser Stadt nicht willkommen sind«, heißt es in einer Erklärung, die der HAZ [Hannoversche Allgemeine Zeitung] vorliegt.

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Ohne Skrupel: Senat setzt Oranienplatz-Flüchtlinge auf die Straße, Pressemitteilung vom 23. Oktober 2014, auf: https://fluechtlingsrat-berlin.de/?s=Die+Chronologie+der+Vertrauens-+und+Wortbr%C3% BCche+des+Senats+gegen%C3%BCber+den+sogenannten+Oranienplatz-Fl%C3%BCchtlingen+ (Stand: 15.07.2019). Morchner, Tobias: »Kälte könnte Flüchtlingscamp beenden«, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, Ausgabe vom 11. Dezember 2014, auf: https://www.haz.de/Hannover/Aus-der-Stadt/Uebersicht/Kaelte-koennte-Fluechtlingscamp-der-Sudanesen-am-Weissekreuzplatz-beenden (Stand: 15.07.2019).

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Katja Andersson

 Arbeitsanregungen Entwickelt in Kleingruppen eine kurze Spielszene unter der Überschrift »Welche Stellung beziehst du?« Recherchiert dazu auf Grundlage der Artikel ein ausgewähltes aktuelles Ereignis. Beachtet folgende Aspekte für die Recherche und eure Auseinandersetzung:  Wie kannst du dir als Politiker einen Überblick von der Situation bzw. dem Sachverhalt verschaffen, um eine objektive Meinung zu vertreten und eine gerechte Entscheidung zu treffen?  Aus welchen Gründen verlassen Flüchtlinge ihr Land?  Mit welchen Erlebnissen sowie sozialen und finanziellen Veränderungen ist das verbunden?  Gibt es für Flüchtlinge ein Zurück in die Heimat?  Welche kulturellen und gesellschaftlichen Unterschiede müssen überbrückt werden?  Ein Leben zwischen zwei Welten: Zugehörigkeit – wie erreicht man diese?  Welche Vorurteile sind in der Gesellschaft vorhanden?  Welche Vor- bzw. Nachteile hat eine Vielfalt an Kulturen in einem Land?

M3 Das Quadrama Ein Quadrama ist eine nach vier Seiten offene Pyramide aus Papier, mit der man Inhalte dreidimensional darstellen kann. Vier Aspekte eines Themas können in den vier »Schauflächen« des Quadramas präsentiert werden. Dazu wird das Thema gegliedert und wichtige Inhalte werden herausgearbeitet. Die Inhalte werden bildlich oder plastisch gestaltet und mit einem Text versehen, der über Urteile, Bewertungen, Erkenntnisse oder mögliche Begründungen Auskunft geben kann. Hier sind die Schülerinnen und Schüler gehalten, eigene Voreinstellungen mit dem zu verbinden, was sie in der Begleitung des Protagonisten auf seiner Flucht als ungerecht empfunden haben. Um ein Quadrama zu erstellen, werden aus vier quadratischen Blättern, am besten aus festerem Papier, die benötigten Quadratviertel gebastelt und die Quadranten zunächst gestaltet. Anschließend klebt man das Quadrama zusammen.4

Quelle: Andersson, Katja: »Stell dir vor, es wäre Krieg …«, in: Ethik & Unterricht 26, 2015, Heft 2: Gerechtigkeit, S. 32 – 33.

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Eine bebilderte Schritt-für-Schritt-Bastelanleitung für ein Quadrama findet man beispielsweise unter https://bildungsserver.berlin-brandenburg.de/fileadmin/bbb/themen/sprachbildung/Lesecurriculum/ lesen_in_allen_faechern/Das_Quadrama_-_Bastelanleitung_Fachseminar_Deutsch.pdf (Stand: 18.05.2019).

Wenn ich ein Tier wäre – Gedankenexperimente zu tierethischen Fragen Alexander Chucholowski

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tellen Sie sich vor…. Das ist die Eingangsformel zu den Gedankenexperimenten, die die Schülerinnen und Schüler in (Dilemma-)Situationen versetzt, in denen ihnen tierethisch relevante Entscheidungen und Urteile abverlangt werden. Im Zuge dieser Auseinandersetzung üben sie ihre Argumentations- und Urteilskompetenz.

 Die Bedeutung von Gedankenexperimenten für tierethische Fragen Die Frage nach den Rechten von Tieren führt meistens auf die Frage nach der anthropologischen Differenz zurück, auf die Frage, inwieweit der Mensch sich von den Tieren bzw. sich die Tiere vom Menschen unterscheiden und ob dieser Unterschied eine unterschiedliche moralische und rechtliche Behandlung rechtfertigt. Dabei geht es meistens um Empfindungsfähigkeit, Intelligenz, Denken, mind, Vernunft, Sprache, logische Propositionen etc. Um die Frage zu klären, inwieweit solche Unterschiede eine moralische Ungleichbehandlung rechtfertigen, werden häufig Gedankenexperimente ins Feld geführt, insbesondere von Vertretern einer Berücksichtigung tierischer Interessen. Bei diesen Gedankenexperimenten handelt es sich laut Engels um sogenannte »bunte«, realitätsbezogene Gedankenexperimente1, deren Prämissen immerhin als möglich gelten können und sich von Fallbeispielen dadurch unterscheiden, dass sie nicht nur die Urteilskompetenz schulen, sondern dazu beitragen sollen, die grundsätzliche Frage nach den Rechten der Tiere zu beantworten. Dabei dienen die meisten dieser Experimente einer kritischen Hinterfragung der oben genannten Kriterien zur Etablierung der anthropologischen Differenz. Das heißt, sie versetzen uns in eine semifiktive Situation mit kontrafaktischen Annahmen, in der wir begründen, argumentieren müssen, für welche Option wir uns entscheiden, und uns so entweder bewusst werden, welche Vorannahmen wir unhinterfragt im Hinblick auf die anthropologische Differenz haben oder wie weit unsere Argumente tatsächlich tragen. Diese Entscheidung wiederum lässt Rückschlüsse auf die eigentliche Frage nach den Tierrechten zu. Engels nennt dies den Epilog, denn klar ist, dass die Gedankenexperi-

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Engels, Helmut: »Nehmen wir an …«. Das Gedankenexperiment in didaktischer Absicht, Philosophie und Ethik unterrichten, Bd. 2, Beltz Praxis, Beltz Verlag, Weinheim/Basel 2004, S. 40 – 41.

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Alexander Chucholowski

mente eine heuristische Funktion haben, also kein Selbstzweck sind. Die hier vorgestellten Gedankenexperimente sind teils tierethischen Positionen entnommen, teils selbst von mir entwickelt worden. Die vorgestellte Lernaufgabe soll es den Schülerinnen und Schülern ermöglichen, weitgehend selbstbestimmt mittels einer Reihe von Gedankenexperimenten die Frage nach der anthropologischen Differenz – und damit nach der Rechtfertigung von Tierrechten – für sich zu beantworten und sich gegenüber Rechenschaft über die verschiedenen Kriterien zur Etablierung einer solchen Differenz abzulegen. Neben der Sachkompetenz soll die Lernaufgabe so auch die Argumentationskompetenz der Schülerinnen und Schüler schulen und es ihnen darüber hinaus eventuell sogar ermöglichen, nach den verschiedenen Typen von Gedankenexperimenten selbst ein solches Gedankenexperiment zu entwickeln, das sie ihren Mitschülern vorlegen können.

 Der Aufbau der Einheit Als Hinführung zu der eigentlichen Fragestellung beschreiben die Schülerinnen und Schüler zunächst den Cartoon (M1) und spekulieren anschließend darüber, was der Vortragende und die Zuhörer äußern (Wortblasen). Der Cartoon arbeitet mit einer Umkehrung, die die Schüler relativ schnell erkennen sollten. Danach werden die Ergebnisse mit dem Original-Cartoon verglichen, in dem die Tiere die Frage aufwerfen, ob bestimmte Merkmale es rechtfertigen, den Menschen als niedere Spezies zu behandeln und ihn auszubeuten etc. Im Anschluss werden die Fragen notiert, die der Cartoon aufwirft. Darunter dürften Fragen fallen wie: Dürfen wir mit Tieren weiterhin so umgehen, wie wir das im Moment tun? Oder: Haben wir das Recht, Tiere zu quälen/zu töten/auszunutzen, nur weil sie anders sind/nicht sprechen/denken können? In jedem Fall kann davon ausgegangen werden, dass eine Frage formuliert wird zur anthropologischen Differenz, die als Leitfaden für die Versuchsreihe dient. Nach dieser gelenkten Hinführung arbeiten die Schüler eigenständig in Kleingruppen. In der Tabelle (M9) sind die Gedankenexperimente übersichtlich zusammengestellt. Beginnen sollten die Schülerinnen und Schüler mit dem Gedankenexperiment M2, einer fiktiven Situation2. Von dort aus geht es, je nach Entscheidung der Gruppe, zu anderen Gedankenexperimenten weiter. Die Anordnung der »Versuchsreihe« richtet sich einerseits nach den Entscheidungen der Schülerinnen und Schüler, andererseits soll die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Gedankenexperimenten dazu führen, dass die getroffenen Entscheidungen noch einmal einer Überprüfung, einem Test unterzogen und gewonnene Erkenntnisse erneut hinterfragt werden. Eine Übersicht darüber, wie es von einzelnen Gedankenexperimenten weitergeht, finden Sie in der Übersicht (M10). Alle Gruppen durchlaufen jedoch gegen Ende die

2

Die Einordnung der Gedankenexperimente versucht derjenigen bei Helmut Engels zu folgen, jedoch handelt es sich teilweise um Mischformen oder »unreine« Typen.

Wenn ich ein Tier wäre – Gedankenexperimente zu tierethischen Fragen

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Gedankenexperimente M5 und M6, da diese einen moralisch grundlegenden Charakter haben. In M5 wird das Recht des Stärkeren infrage gestellt, das uns scheinbar dazu legitimiert, Tiere moralisch nicht zu berücksichtigen. M6 wirft die Frage auf, in welcher Welt wir leben wollen würden, wenn wir nicht wüssten, welcher Spezies wir angehören. Dies ist eine Modifikation der Rawls’schen original position, d. h. jener fiktiven Ursituation, in der wir einen Schleier des Nichtwissens über alle unverdienten natürlichen (und bei Rawls auch sozialen) Unterschiede legen, und zu diesen gehört eben auch die Spezieszugehörigkeit. Mit diesem Experiment endet die »Versuchsreihe«. Die Schülerinnen und Schülern diskutieren ihre Ergebnisse und bereiten für das Plenum eine kurze Präsentation vor, in der sie die Ausgangsfrage abschließend beantworten. Gruppen, die deutlich schneller fertig sind als andere, können sich an der Entwicklung eines geeigneten Gedankenexperiments versuchen, das sie ihren Mitschülern vorlegen. Je nach Lerngruppe und Klassenstufe können einzelne Gedankenexperimente weggelassen werden, die sich eher für die Sekundarstufe II eignen, etwas M6.

M1 Primitive Wesen

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Alexander Chucholowski

M2 Menschen essen? Stellen Sie sich vor, Sie kommen in ihr Lieblingsrestaurant, um zu Mittag zu essen. Der Kellner bringt Ihnen eine Karte und empfiehlt Ihnen das Tagesmenu: Hüftsteak in Pfeffersauce mit Pommes und Bohnen. Zufällig ist dies Ihr Lieblingsgericht. Sie fragen den Kellner, wo das Fleisch herkommt. Der Kellner antwortet, dass es sich um Menschenfleisch handelt, das von Menschen stammt, die auf ihren Wunsch hin getötet wurden, die damit einverstanden waren, dass sie danach verzehrt werden und die schmerzlos umgebracht wurden.

 Arbeitsanregungen  Nehmen Sie die Rolle des Kellners ein und versuchen Sie, den Gast davon zu überzeugen, das Tagesmenu zu bestellen.  Nehmen Sie die Rolle des Gastes ein und erklären Sie dem Kellner, warum Sie das Tagesmenu nicht bestellen möchten.  Führen Sie einen Dialog zwischen Kellner und Gast darüber, ob der Gast das Tagesmenu bestellen soll.  Welche Ergebnisse können Sie im Hinblick auf die übergeordnete Fragestellung ableiten?  Haben Sie sich für den Verzehr entschieden, machen Sie mit M3 weiter. Haben Sie sich dafür entschieden, den Verzehr abzulehnen, machen Sie mit M7 weiter.

M3 Wer darf überleben? Stellen Sie sich vor, Sie kommen als Außerirdischer auf einen unbekannten Planeten, auf dem eine Naturkatastrophe passiert ist. Diese Katastrophe gefährdet die Existenz zweier auf dem Planeten lebender Gattungen. a) Von der Gattung A existieren 1 Million Lebewesen, von der Gattung B 1000 Lebewesen. Allerdings verfügen Sie über kein Wissen bezüglich beider Gattungen. b) Über die Gattung A wissen Sie, dass die Lebewesen empfindungsfähig sind, über die Gattung B, dass sie über Intelligenz verfügen. Ansonsten ist ihr Wissen bezüglich beider Gattungen begrenzt. c) Über die Gattung A wissen Sie, dass die Lebewesen selbstbewusst sind, über die Gattung B, dass sie vernunftbegabt sind. Ansonsten ist ihr Wissen bezüglich beider Gattungen begrenzt. Per Knopfdruck wäre es Ihnen nun möglich, eine der beiden Gattungen zu retten und ihr das Weiterleben auf dem Planeten zu ermöglichen, wie es vor der Katastrophe war. Ohne Knopfdruck würden beide mit absoluter Gewissheit vernichtet.

Wenn ich ein Tier wäre – Gedankenexperimente zu tierethischen Fragen

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 Arbeitsanregungen  Begründen Sie auf jeder Stufe ohne Kenntnis der folgenden, jedoch der vorangehenden Stufen, welche der beiden Gattungen Sie durch Ihren Knopfdruck retten würden.  Vergleichen Sie anschließend die Ergebnisse auf den unterschiedlichen Stufen und erklären Sie mögliche Unterschiede.  Welche Rückschlüsse auf die übergeordnete Frage leiten Sie aus Ihren Ergebnissen ab?  Haben Sie sich für Spezies A entschieden, machen Sie mit M8 weiter. Haben Sie sich für Spezies B entschieden, wählen Sie M4.

M4 Dartscheiben-Ersatz3 Sie haben mit einer Weltraumrakete die Erde verlassen, und zwar auf einer unumkehrbaren Flugbahn, die Sie aus dem Sonnensystem herausführen und den Kontakt zu Ihren Mitmenschen für immer abbrechen wird. In der Rakete haben Sie eine Katze bei sich und ein berühmtes Gemälde, dessen rechtmäßiger Eigentümer Sie sind. Im Laufe der Jahre langweilen Ihre Bücher und Kassetten Sie immer mehr, Sie suchen also nach einer anderen Unterhaltung. Nun fallen Ihnen zwei Unterhaltungsmöglichkeiten ein: Im ersten Fall entfernen Sie die Glasabdeckung des Gemäldes und benutzen es als Dartscheibe; im zweiten Fall befestigen Sie die Katze an der Wand und benutzen sie als Dartscheibe.

 Arbeitsanregungen  Wen bzw. was soll der Weltraumreisende als Dartscheibe benutzen? Führen Sie eine Kontroverse oder Diskussion darüber, indem Sie sich in 2 Lager aufteilen. Jedes Lager bereitet seine Argumente vor, die dann diskutiert werden.  Lösen Sie die Lager anschließend auf und entscheiden Sie sich für eine der beiden Möglichkeiten. Halten Sie die Gründe für Ihre Entscheidung fest.  Welche Rückschlüsse auf die Ausgangsfrage lassen sich aus den Ergebnissen des Experiments ziehen?  Wenn Sie sich für das Gemälde entschieden haben, machen Sie weiter mit M8. Haben Sie sich für die Katze entschieden, machen Sie mit M5 weiter.

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Chucholowski, Alexander: »Dartscheiben-Ersatz«, basierend auf: Carruthers, Peter: »Kontraktualismus und Tiere«, in: Wolf, Ursula (Hrsg.): Texte zur Tierethik, Texte zur Tierethik, übers. von Bischoff, Oscar; Gielow, Veronika; Klose, Dietrich; Prüß, Tarja; Wolf, Jean-Claude; Zehmisch, Alexander, RUB18535, Phillip Reclam jun., Stuttgart 2008, S. 78 – 91: S. 88 – 91.

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Alexander Chucholowski

M5 Von Außerirdischen wie Tiere gehalten4 Stellen wir uns vor, dass uns überlegene Außerirdische auf die Welt kommen und uns genau so behandeln, wie wir heute Tiere behandeln. Diese Idee ist im Übrigen gar nicht so weit hergeholt, wie es auf den ersten Blick vielleicht den Anschein hat. Bekanntlich werden von Seiten der Wissenschaft und Technik ernsthafte Bemühungen unternommen, um intelligentes außerirdisches Leben aufzuspüren. Und dass solche möglicherweise irgendwo im Universum existierenden Lebewesen intelligenter als wir sein könnten, ist auch keine besonders absurde Annahme. Man muss durch das ewige Geschwafel vom Menschen als der »Krone der Schöpfung« schon ziemlich benebelt sein, um allen Ernstes davon überzeugt zu sein, dass wir auf alle Fälle die großartigsten Wesen im ganzen Weltall sind! Was also wäre, wenn solche intelligenten Außerirdischen zu uns kämen und uns so behandelten, wie wir Tiere behandeln? Das hieße also zum Beispiel: ¬ Sie sperren uns in Zoos, damit sie am Wochenende ihren Kindern diese drolligen Ureinwohner zeigen können. Außerdem, sagen sie, sollen auch künftige Generationen diese merkwürdige Art, die sich einst so größenwahnsinnig auf Erden gebärdete, bestaunen können. ¬ Die neuen planetarischen Machthaber führen grausame und schmerzhafte Experimente mit uns durch. Dies bedauern sie zwar inständig und wortreich, aber, so sagen sie, die Versuche seien für den Fortschritt der Wissenschaft nun einmal leider unverzichtbar. ¬ Schließlich betreiben die neuen Herrscher auf Erden riesige Farmen, in denen sie uns Menschen für ihre Ernährung züchten. Auf ihren Volksfesten und in ihren Restaurants verspeisen sie uns dann – phantasievoll zubereitet und liebevoll serviert. Dabei gelten ihnen unsere Kinder übrigens als besonders leckere Spezialität. Als Rechtfertigung für ihre barbarischen Essgewohnheiten haben unsere Peiniger eine atemberaubend einfache Antwort parat: »Ihr schmeckt uns so gut!« Außerdem entspräche es einer uralten Tradition, Eroberte und Untergebene zu verspeisen. ¬ Was würden wir empfinden, wie würden wir reagieren, wenn dieser Alptraum aller Alpträume Wirklichkeit würde? Vor allem aber: Wie würden wir gegenüber diesen zynischen, brutalen und rücksichtslosen Tyrannen argumentieren, um sie von der Verwerflichkeit ihres Tuns zu überzeugen und zu einem anderen Umgang mit uns zu bewegen?«

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Kaplan, Helmut F.: Menschenrechte und Tierrechte, auf: https://tierrechte-kaplan.de/menschenrechteund-tierrechte/ (Stand: 19.07.2019).

Wenn ich ein Tier wäre – Gedankenexperimente zu tierethischen Fragen

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 Arbeitsanregungen  Entwickeln Sie eine Argumentation, um die Außerirdischen davon zu überzeugen, dass ihr Handeln gegenüber den Menschen falsch ist.  Welche Rückschlüsse lassen sich aus den Ergebnissen des Experiments für die Ausgangsfrage ziehen?  Machen Sie weiter mit M6.

M6 Der Schleier des Nichtwissens5 Stellen Sie sich vor, oder versuchen Sie, sich vorzustellen, Sie wüssten nichts über sich selbst. Sie wissen nicht, welchen Geschlechts Sie sind. Sie wissen nicht, welcher Rasse Sie angehören. Sie haben keine Ahnung, was Ihr Platz in der Gesellschaft ist, ob Sie reich oder arm, Angestellte(r) oder Arbeiter(in) sind. Sie wissen auch nicht, wie viel Glück Sie bei der Verteilung natürlicher Gaben hatten. […] Sie wissen nicht einmal, welche Dinge Sie wertschätzen, welche Dinge Sie für gut oder schlecht halten, und Sie haben keine Ahnung, was Sie wünschen und was Sie anstreben. Kurzum: Sie wissen nichts über sich selbst. Sie haben keine spezifischen Informationen darüber, welche Art von Person Sie sind. […] Der Zustand der Unparteilichkeit ist also diejenige Variante des Urzustandes, nach der die hinter dem Schleier des Nichtwissens ausgeblendeten Eigenschaften genau diejenigen Eigenschaften sind, deren Besitz wir nicht zu verantworten haben. Es sind diejenigen Eigenschaften, bei denen die Entscheidung, ob wir sie besitzen oder nicht, nicht in unserer Hand liegt, sondern in der der Natur. Auf diese Weise können wir die Ideen der Unparteilichkeit und des Verdienstes in unserem moralischen Urteilen miteinander verbinden. Betrachten Sie nun die Spezies, der Sie angehören. Ist diese etwas, über das Sie irgendeine Kontrolle haben? Ist sie etwas, das Sie in irgendeiner Weise erworben oder verdient haben? Natürlich nicht. Es handelt sich um eine unverdiente Eigenschaft in dem Sinne, dass wir einfach so geboren wurden. Nach dem Verdienstprinzip ist daher die Eigenschaft, einer bestimmten Spezies anzugehören, moralisch ebenso irrelevant wie Rasse, Geschlecht oder Augenfarbe. Im Zustand der Unparteilichkeit sollte also auch die Kenntnis Ihrer Spezieszugehörigkeit hinter dem Schleier des Nichtwissens ausgeblendet werden. […] Wenn wir uns dann vorstellen, wir wüssten nicht, wer wir sind, oder gar, was wir sind, stellen wir uns folgende Frage: Was für eine Welt würde ich mir wünschen? Da Sie ja nicht wissen, wer oder was Sie sind, wählen Sie, indem Sie für sich selbst wählen,

5

Rowlands, Mark: »Gerechtigkeit für alle.«, in: Wolf, Ursula (Hrsg.), Texte zur Tierethik, übers. von Bischoff, Oscar; Gielow, Veronika; Klose, Dietrich; Prüß, Tarja; Wolf, Jean-Claude; Zehmisch, Alexander, RUB18535, Phillip Reclam jun., Stuttgart 2008, S. 92 – 104: S. 93; S. 96 – 97 und S. 99.

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Alexander Chucholowski

zugleich für jede/n und jedes. Jegliche Voraussetzung für Parteilichkeit oder Voreingenommenheit ist durch die Bedingungen des Zustands der Unparteilichkeit beseitigt. Jede von Ihnen getroffene Wahl, die im Zustand der Unparteilichkeit aus Ihrer Sicht unvernünftig ist, ist dann in der realen Welt für Sie unmoralisch. Genau dies bedeutet, kurz gesagt, Gerechtigkeit.

 Arbeitsanregungen  Führen Sie das Experiment durch und halten Sie das Ergebnis fest.  Welche Rückschlüsse erlaubt das Ergebnis im Hinblick auf die Ausgangsfrage?  Diskutieren Sie abschließend Ihre Ergebnisse der durchgeführten Experimente im Hinblick auf die Ausgangsfrage und bereiten Sie eine kurze Präsentation derselben im Plenum vor.

M7 Leben retten – wer zählt mehr?6 In einem biotechnischen Labor bricht ein Feuer aus. In dem Labor befinden sich zehn am Vortag in vitro gezeugte, lebende [menschliche] Embryonen und außerdem ein durch den Rauch bereits tief bewusstloser Schimpanse. Ein Feuerwehrmann, der als erster in das Labor vordringt, erkennt, dass er nur eine der Möglichkeiten umsetzen kann: 1) Er nimmt die Box mit den tiefgefrorenen Embryonen an sich und bringt sie in Sicherheit. 2) Er trägt den ohnmächtigen Schimpansen hinaus.

 Arbeitsanregungen  Führen Sie das Experiment durch und begründen Sie jeweils, für wen Sie sich entscheiden.  Welche Rückschlüsse erlauben die Ergebnisse dieses Experiments im Hinblick auf die Ausgangsfrage?  Haben Sie sich für die menschlichen Embryonen entschieden, machen Sie mit M3 weiter. Haben Sie sich für den Schimpansen entschieden, machen Sie mit M8 weiter.

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Chucholowski, Alexander: Leben retten – wer zählt mehr?, basierend auf: Merkel, Reinhard: »Rechte für Embryonen?« in: Die ZEIT, Ausgabe vom 25.01.2001, auf: https://www.zeit.de/2001/05/200105_ embryonenschutz.xml (Stand: 19.07.2019).

Wenn ich ein Tier wäre – Gedankenexperimente zu tierethischen Fragen

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M8 Welcher Tierversuch ist legitim? Ein Patient leidet an einer bislang unheilbaren Krankheit. Er klagt über Schmerzen und hat Angst vor einem frühen Tod. Nun jedoch kann in einem a) schmerzfreien b) schmerzhaften c) tödlichen Tierversuch ein Medikament entwickelt werden, das mit einiger Wahrscheinlichkeit sein Leben rettet.

 Arbeitsanregungen  Führen Sie das Experiment für die drei unterschiedlichen Optionen durch und begründen Sie jeweils, wie Sie sich entscheiden.  Wie erklären Sie mögliche Unterschiede bei Ihrer Entscheidung?  Welche Rückschlüsse erlauben die Ergebnisse dieses Experiments im Hinblick auf die Ausgangsfrage?  Machen Sie weiter mit M5.

M9 Übersicht

Art des Experiments M2 fiktive Situation

Thema

Fragestellung

Kannibalismus im Restaurant

Mensch essen/ Ist das Kannibalismustabu speziesistisch? Warum sollten nicht essen wir unter bestimmten Umständen nicht auch Menschenfleisch essen?

M3 fokussierende Spezies eines Abstraktion Planeten retten

M4 defizitäre Situation

Carruthers: Katze oder Mona Lisa als Dartscheibe

Mögliche Entscheidungen

Welche Bedeutung messen wir vers. Kriterien wie Anzahl, Empfindungsfähigkeit, Vernunft etc. bei der Unterscheidung zw. Mensch-Tier bei?

Spezies a, d. h. viele empfindungsfähige, selbstbewusste Wesen (z. B. Primaten)

Sind empfindungsfähige Wesen wie Sachen zu behandeln oder verdienen sie moralische Berücksichtigung?

Ich muss Interessen empfindungsfähiger Wesen berücksichtigen/ nicht berücksichtigen.

Spezies b, d. h. wenige intelligente, vernunftbegabte Wesen (z. B. Menschen)

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Alexander Chucholowski

Art des Experiments M5 fiktive Analogie

M6 Simulation von Nichtwissen

Thema

Fragestellung

Mögliche Entscheidungen

Kaplan: Invasion der Außerirdischen

Wie würden wir unsere Rechte gegenüber überlegenen Außerirdischen rechtfertigen und welche Konsequenzen hätte dies für unseren Umgang mit Tieren?

Da die Außerirdischen uns in allem überlegen sind, dürfen sie mit uns machen, was sie wollen (Recht des Stärkeren) – so wie wir mit den Tieren.

In welcher Welt würden wir leben wollen, wenn wir nicht wüssten, welcher Spezies wir angehören? Welche Rechte etc. würden wir zugestehen?

Zu den unverdienten natürlichen Eigenschaften gehört auch die Spezieszugehörigkeit. Wenn wir nicht wüssten, welcher Spezies wir angehören, würden wir vermutlich den anderen Spezies weitgehende Rechte einräumen.

Haben potentielle Interessen der Spezies Mensch Vorrang gegenüber aktuellen Interessen insbesondere empfindungsfähiger Wesen?

Empfindungsunfähige Wesen werden nicht gerettet (Regenwurm), aber empfindungsfähige Wesen (Schimpanse) sehr wohl.

Bis zu welchem Grad sollen wir Interessen der Tiere berücksichtigen, wenn sie Interessen der Menschen entgegenstehen?

Interesse des Menschen geht immer vor;

Rowlands (nach Rawls): Schleier des Nichtwissens erstreckt sich auf die Spezieszugehörigkeit

M7 fokussierende Merkel: Feuer im LaAbstraktion bor: Regenwurm, Schimpanse oder Embryonen retten

M8 defizitäre Situation

Tierexperiment zur Rettung eines Menschen

Wir verdienen moralische Berücksichtigung aufgrund bestimmter Eigenschaften (selbstbewusst, empfindungsfähig, vorausschauend), ähnlich wie viele Tiere

Die menschlichen Embryonen werden gerettet, da ihr Potential größer ist.

Mensch muss bestimmte Interessen (Schmerzfreiheit oder sogar Weiterleben) beachten

Wenn ich ein Tier wäre – Gedankenexperimente zu tierethischen Fragen

M10

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Übersicht über die verschiedenen möglichen Lernwege

Quelle: Chucholowski, Alexander: »Wenn ich ein Tier wäre. Gedankenexperimente zu tierethischen Fragen«, in: Ethik und Unterricht 27, 2016, Heft 4: Tierethik, S. 37 – 42.

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AUSWAHL ETHISCHER UND PHILOSOPHISCHER GEDANKENEXPERIMENTE

Klaus Draken und Jörg Peters

 Der Mensch und sein Handeln Die Sonderstellung des Menschen Stell’dir vor, eines Tages landen Wesen aus dem All auf unserem Planeten. Wesen wie in dem Hollywood-Spielfilm Independence Day. Sie sind unglaublich intelligent und dem Menschen weit überlegen. Doch dieses Mal steht kein todesmutiger Präsident im Kampfflugzeug zur Verfügung. Und auch kein verkanntes Genie legt die außerirdischen Computer mit irdischen Viren lahm. Stattdessen haben die Aliens die Menschheit in kürzester Zeit besiegt und eingesperrt. Eine beispiellose Terrorherrschaft beginnt. Die Außerirdischen benutzen die Menschen zu medizinischen Versuchen, fertigen Schuhe, Autositze und Lampenschirme aus ihrer Haut, verwerten ihre Haare, Knochen und Zähne. Außerdem essen sie die Menschen auf, besonders die Kinder und Babys. Sie schmecken ihnen am besten, denn sie sind so weich, und ihr Fleisch ist so zart. Ein Mensch, den sie gerade aus dem Kerker holen, um ihn zu schlachten und Wurst aus ihm zu machen, schreit die fremden Wesen an: »Wie könnt ihr so etwas tun? Seht ihr nicht, dass wir Gefühle haben, dass ihr uns weh tut? Wie könnt ihr uns unsere Kinder wegnehmen, um sie zu töten und zu essen? Seht ihr nicht, wie wir leiden? Merkt ihr denn gar nicht, wie unvorstellbar grausam und barbarisch ihr seid? Habt ihr denn überhaupt kein Mitleid?« Die Außerirdischen nicken. »Ja, ja«, sagt einer von ihnen. »Es mag schon sein, dass wir ein bisschen grausam sind. Aber seht ihr«, fährt er fort, »wir sind euch eben überlegen. Wir sind intelligenter als ihr und vernünftiger. Wir können lauter Dinge, die ihr nicht könnt. Wir sind eine viel höhere Tierart, viel weiterentwickelt als ihr. Na ja, und deshalb dürfen wir halt alles mit euch machen, was wir wollen. Seht euch mal unsere phantastische Kultur an! Unsere Raumschiffe, mit denen wir in Lichtgeschwindigkeit fliegen können. Und dann guckt auf euer jämmerliches Dasein! Verglichen mit uns ist euer Leben kaum etwas wert. Außerdem, selbst wenn unser Verhalten irgendwie nicht ganz in Ordnung sein sollte, wegen eurer Schmerzen und eurer Ängste – eines ist doch viel wichtiger für uns: Ihr schmeckt uns halt so qut!« Quelle: Precht, Richard David: Warum gibt es alles und nicht nichts? Ein Ausflug in die Philosophie, Goldmann Verlag, München 2011, S. 144 – 146.

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Klaus Draken und Jörg Peters

Formen des Handelns im interkulturellen Kontext Ein Kulturrelativist, der der festen Überzeugung ist, dass jede Kultur ihre eigenen moralischen Regeln hat und diese ihre jeweilige Berechtigung haben, besucht ein fernes Volk im Dschungel. Er beobachtet viele sonderbare Verhaltensweisen und ist sich der Tatsache bewusst, dass diese ihm nur sonderbar erscheinen, weil er aus einer anderen Kultur stammt, die den Einheimischen hier genauso sonderbar erscheinen würde. Als Zeichen großen Vertrauens wird er am Abend des fünften Tages seines Besuches vom Stammeshäuptling zum Essen eingeladen. Man hat vor kurzem einen Krieger des verfeindeten Stammes gefangen und will ihn als besondere Krönung des Mahles fein gegart servieren. Muss der Kulturrelativist die Einladung zum Essen annehmen und den letzten Gang mit seinen Gastgebern genießen? Die Höflichkeit, die bei dem Stamm sehr ernst genommen wird, gebietet es auf jeden Fall.

Quelle: Draken, Klaus: Eine Einladung zum Essen, Originalbeitrag.

Umfang und Grenzen staatlichen Handelns Nehmen wir an, durch ein noch unbekanntes Virus wären alle, die die Staatsgewalt innehaben, unfähig, da, wo es notwendig wäre, mit Gewalt einzugreifen. Welche Folgen hätte der Schwund staatlicher Gewalt? Schildere die ersten acht Tage nach der Infektion in Form von Zeitungsberichten! Quelle: Engels, Helmut: Ohne staatliche Gewalt, Handout, Unterregionalisierte Fortbildung der BR Düsseldorf, Düsseldorf 2001.

 Menschliche Erkenntnis und ihre Grenzen Eigenart philosophischen Fragens und Denkens Wenn z. B. einer einen Korb mit Äpfeln hat und fürchtet, es könnten einige von den Äpfeln faul sein, und er sie aussondern will, damit nicht die übrigen schlecht werden, wie würde er das anstellen? Würde er nicht alle samt und sonders aus dem Korbe werfen, dann die einzelnen der Reihe nach durchsehen und nur die, die er als nicht verdorben erkennt, nehmen und sie wieder in den Korb legen und die anderen zurücklassen? In eben dieser Weise also haben die, die niemals recht philosophiert haben, verschiedenartige Ansichten in ihrem Geiste, und da sie von Jugend auf angefangen haben, sie zu sammeln, fürchten sie mit Recht, dass die meisten davon nicht wahr sind, und versuchen, sie von den andern zu trennen, damit sie nicht durch die Mischung alle ungewiss werden. Und das können sie auf keinem anderen Wege besser erreichen, als

Auswahl ethischer und philosophischer Gedankenexperimente

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wenn sie alle zugleich und auf einmal als falsch und ungewiss verwerfen, dann die einzelnen der Reihe nach durchmustern und nur die wiedernehmen, die sie als wahr und unzweifelhaft erkennen werden. Quelle: Descartes, René: Meditationen über die Grundlagen der Philosophie mit sämtlichen Einwänden und Erwiderungen, übers. und hrsg. von Buchenau, Artur, PhB 27, Felix Meiner Verlag, Hamburg (unveränderter Nachdruck der Ausgabe von 1915) 1972, S. 416 – 417.

Wie aber, wenn sogar Wesen gefunden würden, deren Denkgesetze den unsern geradezu widersprächen und also auch in der Anwendung vielfach zu entgegengesetzten Ergebnissen führten? Der psychologische Logiker könnte das nur einfach anerkennen und sagen: Bei jenen gelten jene Gesetze, bei uns diese. Ich würde sagen: Da haben wir eine bisher unbekannte Art der Verrücktheit. […] Und ferner: Diese Unmöglichkeit, die für uns besteht, das Gesetz zu verwerfen, hindert uns zwar nicht, Wesen anzunehmen, die es verwerfen; aber sie hindert uns anzunehmen, dass jene Wesen darin Recht haben; sie hindert uns auch, daran zu zweifeln, ob wir oder jene Recht haben. Wenigstens gilt das von mir. Wenn Andere es wagen, in einem Atem ein Gesetz anzuerkennen und es zu bezweifeln, so erscheint mir das als ein Versuch, aus der eigenen Haut zu fahren, vor dem ich nur dringend warnen kann.

Quelle: Frege, Gottlob: Grundgesetze der Arithmetik, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1962 (Reprographischer Nachdruck der zweiten Auflage Jena 1893), S. 16 – 17.

Metaphysische Probleme als Herausforderung für die Vernunfterkenntnis Stellen Sie sich vor, Ihr Nachbar glaubt, irgendwo zwischen Mars und Erde kreise eine Teekanne um die Sonne. Zwar hat noch niemand diese Teekanne gesehen, widerlegen kann man den Glauben des Nachbarn jedoch auch nicht. Der Nachbar meint: Was nicht widerlegt ist, daran darf geglaubt werden. Doch stimmt das? Quelle: https://www.srf.ch/kultur/gesellschaft-religion/filosofix/sollen-wir-an-gott-glauben-gedankenex periment-teekanne-im-all, Video abrufbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=TwnWnl3kf1I, basierend auf: Russell, Bertrand: Russell’s Teapot, unveröffentlicht. Das Gedankenexperiment findet sich aber im Nachlass sowohl als handschriftliches Diktat (geschrieben von Edith Russell am 05. März 1952) als auch als Schreibmaschinenmanuskript.

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Prinzipien und Reichweite menschlicher Erkenntnis Nehmen wir einmal an, alle Augen verschwänden. Würde es dann dunkel im Kosmos? Quelle: Ditfurth, Hoimar von: Wir sind nicht von dieser Welt. Naturwissenschaft, Religion und die Zukunft des Menschen, Hoffmann und Campe, Hamburg 1981, S. 157.

 Das Selbstverständnis des Menschen Der Mensch als Natur- und Kulturwesen Der Tag, an dem es in unserer Straße keinen Strom mehr gab und auch keine Batterie mehr funktionierte. Schildere den Tag. Fange deinen Bericht ungefähr so an: »Beinahe hätten wir verschlafen. Kein Wecker piepte, die Wand- und Funkuhren waren stehen geblieben und das Radio lief auch nicht. Nur weil mein Vater eine Armbanduhr hat, die sich durch die Bewegung der Hand selbst aufzieht, sind wir noch rechtzeitig aufgestanden. Er ist der typische Frühaufsteher und hat gemerkt, was los war, und da hat er uns geweckt. Meine Mutter wollte Kaffee kochen und ihr Müsli in die Mikrowelle stellen, aber …«

Quelle: Engels, Helmut: Als es keinen Strom mehr gab, Handout, Unterregionalisierte Fortbildung der BR Düsseldorf, Düsseldorf 2001.

Das Verhältnis von Leib und Seele In der Folge »Bart verkauft seine Seele« der Serie Die Simpsons wird folgendes Gedankenexperiment durchgeführt: Stellen Sie sich vor, Sie hätten ab sofort keine Seele mehr. Was würde sich in Ihrem Leben verändern? PFARRER [nachdem im Gottesdienst das Blatt mit Kirchenliedern durch die Noten eines Rocksongs vertauscht wurde]: Einer von Euch muss dafür verantwortlich sein! Also sprecht mir nach: Wenn ich die Wahrheit verschweige, möge ich direkt zur Hölle fahren, wo ich nichts als glühend heiße Kohlen essen und nichts als glühend heiße Cola trinken werde. KINDER : … und höllische Dämonen mich von hinten schubsen und meine Seele zu Konfetti zerschnipselt verstreut wird über Mörder und alleinstehende Mütter und wo mir die Zunge von gefräßigen Raubvögeln herausgerissen wird. [Vor dem Fenster krächzt eine Krähe.] MILLHOUSE [erschrocken aus dem Fenster blickend]: Bart war’s ! Das ist er! Bart war’s ! BART [entsetzt]: Millhouse!

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PFARRER : Millhouse, du hast dich völlig korrekt verhalten. Bart, komm, ich will dich bestrafen. (zu Millhouse:) Dich auch, du Verräter! (auf die Orgel weisend:) Ihr werdet jetzt jede einzelne dieser Orgelpfeifen reinigen, die ihr entweiht habt mit eurer Pop- und Rockmusik! BART [beim Orgelpfeifenreinigen]: Du Schlange! Was fällt dir ein, mich zu verraten? MILLHOUSE : Auf gefräßige Vögel, die mir die Seele aus dem Leib picken, kann ich verzichten. BART : Du Trottel! Jetzt mach ’nen Punkt, Millhouse! So was wie ’ne Seele gibt’s doch gar nicht, die hat man nur erfunden, um Kindern Angst einzujagen, wie den großen Buhmann oder Michael Jackson. MILLHOUSE : Aber jede Religion sagt: Es gibt eine Seele. Warum sollten alle lügen? Was haben die denn davon? PFARRER [beim Geldzählen der Kollekte aus dem Nebenraum]: Was ist denn, ich hör’ Euch nicht schrubben, Jungs! BART : Wenn du wirklich ’ne Seele hast, wo ist die denn? MILLHOUSE : Die sitzt irgendwo hier drin. Und wenn man niest, dann ist das ’ne Seele, die zu entkommen versucht. Und mit dem Spruch »Gott segne dich« zwängt man sie wieder rein. Und wenn man stirbt, dann schwirrt sie raus und fliegt davon. BART : Aha, und wenn man in ’nem U-Boot stirbt, auf dem Grund des Meeres? MILLHOUSE : Ach, eine Seele kann schwimmen. Sie kann auch Räder haben für den Fall, dass man irgendwo in der Einöde stirbt und zum Friedhof fahren muss. BART : Oh, wie kann jemand mit so dicken Brillengläsern so dämlich sein? Hör’zu: Du hast keine Seele, und ich hab’ keine Seele. Es gibt überhaupt nicht so was wie ’ne Seele! MILLHOUSE : Bitte, wenn du dir deiner Sache so absolut sicher bist, dann kannst du mir doch deine Seele verkaufen. BART : Wie viel zahlst du? MILLHOUSE : Fünf Dollar! BART : Gebongt! [Er schreibt auf einen Zettel:] Bart Simpsons Seele! [Er reicht Millhouse den Zettel:] So, hier bitte, eine Seele! MILLHOUSE : Es ist ein Vergnügen, mit dir Geschäfte zu machen. BART : Wann immer du willst, du Dummkopf! Im weiteren Verlauf der Folge passieren Bart irritierende Dinge, die ihm Angst machen. LISA [als Reaktion auf die Information von Bart, er habe Millhouse seine Seele verkauft]: Was? Wie konntest du das bloß tun? Deine Seele ist doch das einzig Wertvolle an dir. BART : Glaubst du an diesen Müll? LISA : Ach, ob Glaube oder nicht, die Seele ist physisch vorhanden, Bart. Sie ist das Symbol für die guten Empfindungen in uns. BART : […] Arme dumme Lisa. […] LISA : Bart, deine Seele ist das einzige von dir, das ewig überlebt. Jetzt kann Millhouse für immer über dich verfügen, über Trillionen von Jahre. [Die Katze faucht Bart an. Der Hund knurrt ihn an. Die automatische Tür öffnet sich nicht mehr für Bart. Bart kann keine Glasscheibe mehr mit seinem Hauch benebeln.]

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Nach dem Sehen einer Comicfolge lacht Lisa laut. BART : Ich weiß, es ist komisch, aber ich kann einfach nicht drüber lachen. LISA : Pablo Neruda hat gesagt, das Lachen sei die Sprache der Seele. BART : Das weiß ich auch. Ich kenne die Bücher von Pablo Neruda. LISA : Ich schlage vor, wir machen einen Test. [Lisa lässt ihren Vater über ein Skateboard stolpern, so dass er mit dem Kopf zwischen den Geländerstangen der Treppe gefangen auf allen Vieren landet. Lisa lacht schadenfroh.] BART : Nein, ich empfinde überhaupt nichts. LISA : Es ist wirklich zum Fürchten. Bart, du hast tatsächlich deine Seele verloren. [Als der Hund den wehrlosen Homer auch noch in den Hintern beißt, muss Lisa wieder schadenfroh grinsen.] BART : Nein, überhaupt nichts! [Abends nimmt March ihren traurig wirkenden Sohn in den Arm.] MARCH : Bart, was hast du? Wenn ich dich umarme, bist du plötzlich so anders. BART : Mum, ich muss dir was erzählen, ich bin irgendwie … MARCH [ihren Sohn unterbrechend]: Mmh, mmh, mmh, lass mich raten! Eine Mutter weiß immer alles. [Sie nimmt ihn nochmals in den Arm.] Mmh. Du hast keine Angst vor einem Atomkrieg, du hast auch keine Scheu vor der Schwimmprüfung. Ich hab’ vielmehr das Gefühl, dass dir etwas fehlt, und zwar etwas Wichtiges… BART : … als ob ich keine Seele hätte? MARCH [lacht]: Ach, Schatz, du bist doch kein Monster! [In der Nacht träumt Bart, dass er seine Altersgenossen trifft, die alle (als eine Art blasses Abbild ihrer selbst dargestellt) mit ihren Seelen spielen und viel Spaß haben. Bart bleibt außen vor.] SPIELENDE KINDER [rufen]: Meine Seele ist mein bester Freund. Meine Seele ist wie ein Spielzeug, das nie kaputt geht. ZWEI MÄDCHEN [singen]: Bart hat seine Seele verkauft, er kommt in die Hölle. Wenn er jetzt stirbt: Hallo, Vermittlung, verbinden Sie mich bitte … NELSON [zu dem verloren in der Landschaft stehenden Bart]: Keine Seele, was? Keine Sorge, ich halte weiter zu dir! [Dann schubst er ihn über seine hinter Bart hockende Seele, so dass Bart hinfällt, und lacht ihn aus.] KIND [ruft alle anderen zu einem See, auf dem Ruderboote schwimmen]: Ahoi, liebe Freunde. Jeder soll sich sofort einen Obermaat schnappen. [Zusammen mit ihren Seelen setzen sie sich jedes in ein Boot und rudern, selbst ein Ruder bedienend, ihre Seele das andere Ruder bedienen lassend, über den See auf ein wunderschönes Schloss zu. Bart versucht auch, ein Boot zu bedienen. Weil er aber nur das Ruder einer Seite erreichen kann, bewegt er sich im Kreis. Millhouse dagegen lässt sich lässig von seiner und Barts Seele fahren, ohne auch nur einen Finger rühren zu müssen.] BART : Wartet! Wartet auf mich! DIE ZWILLINGSMÄDCHEN : Bart ist daran, den Traum zu beenden. Aber denk an den Schrei, den du musst verwenden!

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BART : Aaah! [Bart wacht schreiend in seinem Bett auf.] Beim Familienessen in Moes Lokal: LISA : Darf ich das Tischgebet sprechen? Oh Herr, hab’ Mitleid mit meiner Seele und Mum’s Seele und Dad’s Seele und Maggie’s Seele, und lass’ jede Seele in der gesamten Christenheit … (von einem frittierten Essensteil getroffen:) Au! MARCH : Bart! BART : Das halt ich nicht mehr aus! Ich will meine Seele wiederhaben, und zwar sofort. [Er rennt ohne zu essen davon.] Nachdem Bart vergeblich versucht hat, seine Seele von Millhouse zurückzubekommen (der hatte sie mittlerweile weiterverkauft und auch dort war sie nicht mehr auffindbar), kniet Bart vor seinem Bett und betet: BART : Hörst du mich, Gott? Ich bin’s, Bart Simpson. Ich weiß, ich hab’ in der Kirche nie richtig aufgepasst, dabei könnte mir so manches helfen, was da so gepredigt wird. Ich hab’ Angst. Ich hab’ Angst, dass irgend so ein Wirrkopf meine Seele hat, und ich weiß nicht, was er damit anfangen wird. Ich will sie nur wiederhaben. (schluchzend:) Bitte! Ich kann nur hoffen, dass du mich hörst. [Von hinten flattert Barts Seelenzettel auf das Bett vor ihm. Lisa hat es von hinten dorthin fliegen lassen.] BART : Oh, [Er drückt den Zettel an sich.] Lisa! Du hast sie zurückgekauft? LISA : Mit dem Geld aus meinem Sparschwein. BART : Du hast doch gar kein Geld in deinem Sparschwein! LISA : Nicht in all denen, die du kennst. BART : Ach Lisa, danke! [Er küsst Lisa auf die Wange.] LISA : War mir ein Vergnügen. Aber weißt du, Bart, manche Philosophien behaupten, dass niemand mit einer Seele geboren wird, dass man sie sich verdienen muss durch Leiden und Nachdenken und Beten, … Wie du das heute Abend gemacht hast. [Bart verspeist währenddessen seinen Seelenzettel.] ABSCHLUSSSZENE : Bart mit seiner Seele steuert in dem Boot aus dem vorangegangenen Traum auf das Schloss zu. Dabei rammt er einen Mitschüler so, dass dessen Seele über Bord geht. Bart lacht in seiner gewohnt gehässigen Art und steuert mit seiner Seele auf das Schloss zu. Quelle: The Simpsons: Bart sells his Soul, aus: The Simpsons: Die komplette siebte Staffel, Folge 4, Transkription: Draken, Klaus, Twentieth Century Fox 2006.

Der Mensch als freies selbstbestimmtes Wesen Arthur Schopenhauer denkt sich einen Menschen, der »etwan auf der Gasse stehend, zu sich sagte: ›Es ist 6 Uhr Abends, die Tagesarbeit ist beendigt. Ich kann jetzt einen Spaziergang machen; oder ich kann in den Klub gehn; ich kann auch auf den Thurm steigen, die Sonne untergehn zu sehen; ich kann auch ins Theater gehn; ich kann auch diesen, oder aber jenen Freund besuchen; ja, ich kann auch zum Thor hinauslaufen, in

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die weite Welt, und nie wiederkommen. Das Alles steht allein bei mir, ich habe völlige Freiheit dazu; thue jedoch davon jetzt nichts, sondern gehe ebenso freiwillig nach Hause, zu meiner Frau‹.« Als Gedankenexperiment stellt sich nun die Frage: Was wird er tun? Quelle: Schopenhauer, Arthur: »Preisschrift über die Freiheit des Willens«, in: Schopenhauer, Arthur: Züricher Ausgabe. Werke in zehn Bänden, Bd. 6: Kleinere Schriften II: Über die Freiheit des menschlichen Willens – Über die Grundlage der Moral (Der Text folgt der historisch-kritischen Ausgabe von Hübscher, Arthur), Diogenes Verlag, Zürich 1977, S. 81.

Das Menschenbild der Neurowissenschaften und der Forschungen zur Künstlichen Intelligenz Nehmen wir an, ich bin in einem Raum eingeschlossen, und man gibt mir einen Packen mit chinesischer Schrift. Nehmen wir weiter an, dass ich (was in der Tat der Fall ist) kein Chinesisch kann, es weder schreiben noch sprechen kann, und dass ich nicht einmal sicher bin, ob ich chinesische Schrift als chinesische Schrift erkennen und von, sagen wir, japanischer Schrift oder sinnlosem Gekritzel unterscheiden könnte. Chinesische Schrift besteht für mich einfach nur aus sinnlosem Gekritzel. Nehmen wir nun weiterhin an, daß man mir nach dem ersten Packen mit chinesischer Schrift einen zweiten Packen mit chinesischen Schriftzeichen gibt, zusammen mit einer Reihe von Anleitungen, wie ich den zweiten Stoß zum ersten in Beziehung setzen soll. Die Anleitungen sind in Englisch abgefasst, und ich verstehe diese Anleitungen ebenso gut wie jeder andere, dessen Muttersprache Englisch ist. Sie ermöglichen es mir, eine Reihe formaler Symbole in Beziehung zu einer anderen Reihe formaler Symbole zu setzen, und formal, bedeutet hier nichts weiter, als dass ich diese Symbole ausschließlich an Hand ihrer Form identifiziere. Nehmen wir nun auch noch an, man gibt mir einen dritten Packen chinesischer Symbole, zusammen mit einigen Anweisungen, ebenfalls in Englisch, die es mir ermöglichen, Teile dieses dritten Packens in Beziehung zu setzen zu den zwei ersten Packen; und diese Anleitungen weisen mich an, bestimmte Symbole mit bestimmten Formen in Antwort auf bestimmte Formen, die mir mit dem dritten Packen zugegangen sind, zurückzugeben. Was ich nicht weiß, ist, dass die Leute, die mir all diese Symbole geben, den ersten Packen eine »Schrift«, den zweiten Packen eine »Geschichte« und den dritten Packen »Fragen« nennen. Des Weiteren nennen sie die Symbole, die ich ihnen in Antwort auf den dritten Packen zurückgebe, »Antworten auf die Fragen«, und die Reihe von englischsprachigen Anleitungen, die sie mir geben, nennen sie »Programm«. Nun stellen wir uns, einfach um die Sache noch ein bisschen zu verkomplizieren, vor, dass diese Leute mir auch Geschichten in Englisch geben, die ich verstehe, und dass sie mir dann in Englisch Fragen zu diesen Geschichten stellen und ich ihnen in Englisch antworte. Nehmen wir auch an, dass ich nach einer gewissen Zeit den Anweisungen für das Hantieren mit den chinesischen Symbolen so gut zu folgen lerne und die Pro-

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grammierer so gut lernen, Programme zu schreiben, dass, von außen betrachtet – d. h. vom Standpunkt eines Menschen aus, der sich außerhalb des Raums befindet, in dem ich eingeschlossen bin –, meine Antworten auf die Fragen absolut ununterscheidbar sind von denen, die einer geben würde, dessen Muttersprache Chinesisch ist. Niemand, der nur meine Antworten sieht, kann erkennen, dass ich kein Wort Chinesisch spreche. Nehmen wir auch an, dass meine Antworten auf die englischen Fragen ununterscheidbar sind von denen, die andere geben würden, deren Muttersprache Englisch ist, was ohne Zweifel der Fall sein wird, einfach deshalb, weil Englisch auch meine Muttersprache ist. Von außen gesehen – vom Standpunkt dessen betrachtet, der meine »Antworten« liest – sind die Antworten auf die chinesischen Fragen und auf die englischen Fragen gleich gut. Aber im Fall des Chinesischen bringe ich, anders als im Englischen, die Antworten dadurch hervor, dass ich mit unverstandenen formalen Symbolen hantiere. Soweit es das Chinesische betrifft, verhalte ich mich einfach wie ein Computer; ich führe kalkulatorische Operationen an formal spezifizierten Elementen aus. In Bezug auf das Chinesische bin ich einfach ein verkörpertes Computerprogramm. Quelle: Searle, John R.: »Geist, Gehirn, Programm«, in: Zimmerli, Walter Ch.; Wolf, Stefan (Hrsg.): Künstliche Intelligenz. Philosophische Probleme, UB 8922, Philipp Reclam jun., Stuttgart 1994, S. 232 – 265: S 234 – 236.

 Werte und Normen des Handelns Grundsätze eines gelingenden Lebens Stellen wir uns einen Menschen vor, der in einem Operationssaal auf einem Tisch festgeschnallt ist. Er steht unter Narkose. In seine Schädeldecke sind einige Drähte eingeführt. Durch diese Drähte werden genau dosierte Stromstöße in die Gehirnzentren geleitet, die dazu führen, dass dieser Mensch sich in einer Dauereuphorie befindet. Sein Gesicht spiegelt den Zustand äußersten Wohlbehagens. Der Arzt, der das Experiment leitet, erklärt uns, dass dieser Mensch mindestens weitere 10 Jahre in diesem Zustand bleiben wird. Wenn es nicht mehr möglich sein wird, den Zustand zu verlängern, werde man ihn mit dem Abschalten der Maschine unverzüglich schmerzlos sterben lassen. Der Arzt bietet uns an, uns sofort in die gleiche Lage zu versetzen. Und nun frage sich jeder, ob er freudig bereit wäre, sich in diese Art von Seligkeit versetzen zu lassen? Quelle: Spaemann, Robert: Moralische Grundbegriffe, C.H. Beck, München 51994, S. 30 – 31.

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Nützlichkeit und Pflicht als ethische Prinzipien Stellen Sie sich vor, Sie sind der Zugführer einer Bergbahn, die gerade talwärts fährt. Plötzlich sehen Sie, dass fünf Männer auf den Schienen stehen und mit Reparaturarbeiten an diesen beschäftigt sind. Sie versuchen zu bremsen, aber leider versagen die Bremsen, so dass Ihre Bahn mit großer Geschwindigkeit auf die Arbeiter zurast. In diesem Moment bemerken Sie, dass Sie die Möglichkeit haben, eine Weiche umzustellen, um die Bergbahn auf ein Nebengleis ausweichen zu lassen, auf dem nur ein Arbeiter tätig ist und Schienen überprüft. Was würden Sie als Zugführer tun? Ist es besser, der Bahn ihren Lauf zu lassen und fünf Menschen zu opfern oder den Kurs zu ändern und nur einen Menschen zu töten? Quelle: Peters, Jörg: »Die Bergbahn«, nach Foot, Philippa: »Das Abtreibungsproblem und die Doktrin der Doppelwirkung«, in: Leist, Anton (Hrsg.): Um Leben und Tod. Moralische Probleme bei Abtreibung, künstlicher Befruchtung, Euthanasie und Selbstmord, stw 846, Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt a.M. 1990, S. 196 – 211: S. 200.

Stellen Sie sich vor, Sie gehen über eine Brücke und müssen erschreckend zur Kenntnis nehmen, dass eine Bergbahn talwärts rast und sich nicht mehr stoppen lässt. Auf der Brücke, die Sie überqueren, steht ein dicker Mann (the fat man), der vom Brückengeländer aus den Bergbahnverkehr beobachtet. Die heranrasende Bergbahn wird fünf Personen überrollen, wenn ein großes und schweres Hindernis sie nicht aufhält. Durch Herabstoßen des dicken Mannes von der Brücke würde die Bergbahn zum Stehen kommen und die fünf Menschen ihr Leben behalten. Wie würden Sie in dieser Situation entscheiden? Darf – in diesem Fall durch das Stoßen des dicken Mannes von der Brücke – der Tod eines Menschen in Kauf genommen werden, um damit das Leben von fünf Menschen zu retten?

Quelle: Peters, Jörg: »Der dicke Mann«, nach Thomson, Juduth Jarvis: »Killing, Letting Die, and the Trolley Problem«, in: Monist. An International Quarterly Journal of General Philosophical Inquiry 59, 1976, S. 204 – 217: S. 207 – 208.

Verantwortung in ethischen Anwendungskontexten Stellen wir uns vor, die Naturwissenschaften würden das Opfer der Auswirkungen einer Katastrophe. Die Öffentlichkeit lastet den Wissenschaftlern mehrere verheerende Umweltpannen an. Es kommt verbreitet zu Unruhen, Labors werden niedergebrannt, Physiker gelyncht, Bücher und Geräte vernichtet. Schließlich übernimmt eine politische Bewegung des Nichtwissens die Macht und schafft mit Erfolg den naturwissenschaftlichen Unterricht an Schulen und Universitäten ab, indem sie die noch lebenden Wissenschaftler ins Gefängnis wirft und liquidiert. Später setzt eine Gegenströmung gegen diese zerstörerische Bewegung ein und einige aufgeklärte Menschen versuchen die

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Wissenschaftler wieder zu beleben, wenngleich sie weitgehend vergessen haben, was einmal war. Sie besitzen nur noch Bruchstücke: ein Wissen um Experimente ohne Kenntnis des theoretischen Zusammenhangs, der diesen Experimenten erst ihre Bedeutung verlieh; Teile von Theorien, die entweder zu den anderen Theoriefragmenten, die noch bekannt sind, oder zu den Experimenten keinen Bezug haben; Geräte, deren Verwendungszweck man vergessen hat; halbe Kapitel aus Büchern, einzelne Seiten von Artikeln, die nicht immer ganz lesbar sind, weil sie zerrissen wurden oder angekohlt sind. […] Wie würde ein Tag Ihres Lebens in einer solchen Gesellschaft aussehen? Quelle: Maclntyre, Alasdair: Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, übers. von Riehl, Wolfgang, stw 1193, Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1995, S. 13.

Unterschiedliche Grundlagen moralischer Orientierungen Der Eremit Bonhomius ist ein Roboter mit sehr menschlichen Eigenschaften. Er hat es sich – seinem Namen entsprechend – zur Aufgabe gemacht, das universelle Glück im Kosmos zu schaffen. Von einer fast allmächtigen Maschine bekommt Bonhomius das Rezept für ein Mittel, das dazu dienen soll, die Menschen glücklich zu machen. Das Präparat trägt den Namen ›Altruizin‹. »Altruizin ist ein Stoff, der Gefühle, Emotionen und Empfindungen eines Individuums auf alle Lebewesen im Umkreis von vierhundert Schritt überträgt, ausgeschlossen sind allerdings Pflanzen und Roboter. Dieser Stoff wirkt auf telepathischer Grundlage, überträgt aber keine Gedanken. Die Intensität der übertragenen Empfindungen ist umso größer, je mehr Empfänger beteiligt sind. Der Sinn von Altruizin liegt darin, dass Brüderlichkeit, Solidarität und tiefste Sympathie in der Gesellschaft sichergestellt werden. Die Nachbarn eines glücklichen Menschen teilen sein Glück. Es liegt also in ihrem Interesse, dieses Glück zu befördern. Hat ein Einzelwesen dagegen Schmerzen, werden sogleich alle, die von den Schmerzen mitbetroffen sind, zu Hilfe eilen, um sich selbst von den empfangenen Schmerzen zu befreien. Hindernisse wie Mauern, Hecken oder Zäune können die altruisierende Wirkung nicht aufhalten. Das wasserlösliche, geschmacks- und geruchslose Präparat kann über Wasserleitungen, Flüsse oder Brunnen verteilt werden. Ein Millimikrogramm genügt für einhunderttausend Individuen.« Lem, Stanislaw: »Altruzin oder Der wahre Bericht darüber, wie der Eremit Bonhomius das universelle Glück im Kosmos schaffen wollte, und was dabei herauskam«, zitiert nach Engels, Helmut: »Nehmen wir an…«. Das Gedankenexperiment in didaktischer Absicht, Beltz Verlag, Weinheim/Basel 2004, S. 75 – 76.

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 Zusammenleben in Staat und Gesellschaft Gemeinschaft als Prinzip staatsphilosophischer Legitimation Stell dir vor, von heute auf morgen würde es – abgesehen von dir – keine Menschen mehr auf der Erde geben. Die Dinge, die sie geschaffen haben, sind aber alle noch vorhanden und funktionieren. Was würdest du tun? Wie würde ein Tag in deinem Leben als einziger Mensch verlaufen? Nach einem Monat, in welchem du dachtest, du seist der einzige noch existierende Mensch, triffst du plötzlich auf zwölf weitere Menschen, die sich bis zu diesem Tag ebenfalls als einzige Überlebende empfunden hatten. Wie begegnet ihr euch? Wie geht ihr miteinander um? Wie plant ihr euer weiteres Leben auf dem Planeten? Quelle: Draken, Klaus: Das Aufeinandertreffen, Originalbeitrag.

Individualinteresse und Gesellschaftsvertrag als Prinzip staatsphilosophischer Legitimation Stellen Sie sich folgende Situation vor: Sie sind auf dem Weg in Ihren wohlverdienten Urlaub in die Südsee. Leider gibt es einen Zwischenfall an Bord des Flugzeuges, in dem auch Sie sich befinden, so dass es abstürzt. Sie sind der einzige Passagier, der den Absturz der Maschine ins Meer überlebt. Mit letzter Kraft schaffen Sie es, sich an ein Teil des Flugzeugs zu klammern, und stranden nach einiger Zeit auf einer einsamen Insel. Aber: So einsam ist die Insel gar nicht, denn vor Ihnen ist bereits ein anderer, gleichgeschlechtlicher Schiffbrüchiger angekommen.

Peters, Jörg: Die einsame Insel, Originalbeitrag, basierend auf: Peters, Jörg: »Die Vor- und Nachteile einer ungerechten Lebensführung«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 23, 2001, Heft 3: Individualität und Gemeinsinn, S. 205 – 211: S. 206 – 207.

Konzepte von Demokratie und sozialer Gerechtigkeit Der amerikanische Philosoph John Rawls fragt sich, wie sich die »Prinzipien, nach denen die Grundrechte- und Pflichten und die Verteilung der gesellschaftlichen Güter bestimmt werden«, finden lassen. Dazu bedient er sich eines Gedankenexperiments: Stell dir vor, du wärst Mitglied eines Hohen Rats, der alle Gesetze einer zukünftigen Gesellschaft beschließen soll. Die Ratsmitglieder müssen an absolut alles denken, denn sowie sie sich geeinigt und die Gesetze unterschrieben haben, fallen sie tot um. Und Sekunden später werden sie genau in der Gesellschaft wieder wach, deren Gesetze sie gemacht haben. Der Trick ist nur: Sie haben keine Ahnung, wo in der Gesellschaft sie

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erwachen, d. h. was ihre Position sein wird. Eine solche Gesellschaft wäre eine gerechte Gesellschaft, denn garantiert wäre jeder, wohin er schaut, nur unter seinesgleichen. Quelle: Freese, Hans-Ludwig: Abenteuer im Kopf. Philosophische Gedankenexperimente, Beltz QUADRIGA, Weinheim/Berlin 21996, S. 239, basierend auf: Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit, übers. von Vetter, Hermann, stw 271, Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1975, S.28 – 32.

Bedingungen einer dauerhaften Friedensordnung in einer globalisierten Welt Nehmen wir einmal an, der Friede wäre nicht nur ein Zustand zwischen Menschen, die sich gegenseitig in Frieden lassen, sondern es gäbe auch ein Wesen namens »Pax« (lat. »Frieden«). Was würde dieses Wesen sagen, wenn es auf unsere Welt mit ihren vielen Kriegshandlungen sähe?

Quelle: Draken, Klaus: Pax, Originalbeitrag.

 Geltungsansprüche der Wissenschaften Erkenntnistheoretische Grundlagen der Wissenschaften Wenn es Menschen gäbe, die stets unter der Erde gewohnt hätten, in gut eingerichteten, herrlichen Wohnungen, geschmückt mit Statuen und Gemälden, ausgestattet mit allem, was Menschen, die als glücklich gelten, in Fülle besitzen, die jedoch noch nie auf die Erde hinaufgekommen wären, aber durch Hörensagen etwas vom Walten einer Gottheit und von einer göttlichen Macht erfahren hätten, und dann, da sich irgendwann die Schlünde der Erde geöffnet hätten, jene verborgenen Wohnsitze verlassen hätten und zu den Orten, die wir bewohnen, hätten herauskommen können: wenn sie nun plötzlich die Erde, die Meere und den Himmel gesehen, den Umfang der Wolken und die Gewalt der Winde kennengelernt, die Sonne erblickt und deren Größe und Schönheit, besonders auch ihr Wirken erkannt hätten, weil sie durch die Verbreitung ihres Lichtes am ganzen Himmel den Tag bringt, und wenn sie andererseits, sobald die Nacht die Länder beschattet, dann den ganzen Himmel sähen, von Sternen besät und geschmückt, und den Lichtwechsel des Mondes, wie er bald zu-, bald abnimmt, und den Auf- und Untergang all dieser Gestirne und ihre in alle Ewigkeit festgesetzten und unveränderlichen Bahnen – wenn sie dies alles sähen, würden sie gewiss glauben, dass es Götter gibt und dass diese gewaltigen Werke göttlichen Ursprungs sind. Quelle: Cicero: De natura deorum – Über das Wesen der Götter, Lateinisch/Deutsch, übers. und hrsg. von Blank-Sangmeister, Ursula, Nachwort von Thraede, Klaus, RU6881, Philipp Reclam jun., Stuttgart 1995, S. 205 und S. 207.

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Der Anspruch der Naturwissenschaften auf Objektivität Angenommen, eine Urne ist mit 1.000 Kugeln unbekannter Farbe gefüllt. Bis zum Zeitpunkt t0 wurden aus ihr 999 rote Kugeln gezogen. Können Sie mit Sicherheit davon ausgehen, dass die tausendste Kugel auch rot ist? Wie hoch schätzen Sie die Wahrscheinlichkeit ein?

Quelle: Goodman, Nelson: Tatsache, Fiktion, Voraussage, übers. von Philippi, Bernd; Vetter, Hermann, stw 732, Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1975, S.??

Auswahlbibliographie Gedankenexperimente im Philosophie- und Ethikunterricht Andersson, Katja: »Stell dir vor, es wäre Krieg …«, in: Ethik & Unterricht 26, 2015, Heft 2: Gerechtigkeit, S. 32 – 33. Baggini, Julian: Das Schwein, das unbedingt gegessen werden möchte. 100 philosophische Gedankenspiele, übers. von Hauser, Sonja, Piper Verlag, München 2007. Bekes, Peter: »Gedankenexperimente im Philosophie- und Ethikunterricht«, in: Praxis Philosophie & Ethik 1,2015, Heft 5: Gedankenexperimente, S. 4 – 6. Bertram, Georg W. (Hrsg.): Philosophische Gedankenexperimente. Ein Lese- und Studienbuch, Reclam Taschenbuch 20414, Philipp Reclam jun., Stuttgart 2012. Brüning, Barbara: »Gedankenexperimente«, in: Brüning, Barbara: Philosophieren in der Sekundarstufe. Methoden und Medien, Philosophie und Ethik unterrichten, Bd. 1, Beltz Praxis, Beltz Verlag, Weinheim/ Basel/Berlin 2003, S. 76 – 82. Chucholowski, Alexander: »Wenn ich ein Tier wäre. Gedankenexperimente zu tierethischen Fragen«, in: Ethik & Unterricht 27, 2016, Heft 4: Tierethik, S. 37 – 42. Cohen, Martin: 99 philosophische Rätsel, übers. von Oetzmann, Dirk, SP 3956, Piper Verlag, München/Zürich 2004. Cohen, Martin: Little Black Book der berühmten Gedankenspiele. Philosophische Rätsel und Experimente für helle Köpfe, übers. von Reit, Birgit, illustr. von Barbas, Kerren, Wiley-VHC Verlag, Weinheim/New York/ Toronto 2010. Cohnitz, Daniel: Gedankenexperimente in der Philosophie, mentis Verlag, Paderborn 2006. Eberhardt, Joachim: Lexikon philosophischer Gedankenexperimente (2008), auf: https://www.jg-eberhardt. de/doku.php?id=gedankenexperimente:liste_zeitlich (Stand: 17. 05. 2019). Engels, Helmut: »Gedankenexperiment«, in: Rehfus, Wulff D.; Becker, Horst (Hrsg.): Handbuch des Philosophie-Unterrichts, Schwann Handbuch, Pädagogischer Verlag Schwann-Bagel, Düsseldorf 1986, S. 396 – 399. Engels, Helmut: »›Nehmen wir an,…‹. Über das Analysieren und Erfinden von Gedankenexperimenten«, in: Praxis Philosophie & Ethik 1,2015, Heft 5: Gedankenexperimente, S. 7 – 14. Engels, Helmut: »Das Gedankenexperiment im Unterricht«, in: Philosophie. Beiträge für die Unterrichtspraxis 1986, Heft 16: Didaktik, S. 34 – 49. Engels, Helmut: »Gedankenexperimente«, in: Nida-Rümelin, Julian; Spiegel, Irina; Tiedemann, Markus (Hrsg.): Handbuch Philosophie und Ethik, 2 Bde., Bd. 1: Didaktik und Methodik, UTB 8617, Ferdinand Schöningh, Paderborn 2015, S. 187 – 196. Engels, Helmut: »Nehmen wir an …«. Das Gedankenexperiment in didaktischer Absicht, Philosophie und Ethik unterrichten, Bd. 2, Beltz Praxis, Beltz Verlag, Weinheim/Basel/Berlin 2004. Engels, Helmut: »Überlegungen zum Gedankenexperiment im Unterricht«, in: Ethik & Unterricht 12, 2001, Heft 3: Praktische Philosophie, S. 11 – 17. Freese, Hans-Ludwig: »Phantasie und Reflexion«, in: Martens, Ekkehard; Schreier, Helmut (Hrsg.): Philosophieren mit Schulkindern. Philosophie und Ethik in Grundschule und Sekundarstufe I, Agentur Dieck, Hamburg 1994, S. 130 – 137. Freese, Hans-Ludwig: »Was wäre wenn…? Gedankenexperimente beim Philosophieren mit Kindern«, in: Rostocker Philosophische Manuskripte (Neue Folge) 1996, Heft 3: Philosophieren mit Kindern, S. 37 – 47. Freese, Hans-Ludwig: Abenteuer im Kopf. Philosophische Gedankenexperimente, illustr. von Pey, Alexander, Beltz Quadriga, Quadriga Verlag, Weinheim/Berlin 1995.

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Auswahlbibliographie

Geiß, Paul Georg: »Gedankenexperiment (hermeneutisch, analytisch, spekulativ)«, in: Geiß, Paul Georg: Fachdidaktik Philosophie. Kompetenzorientiertes Unterrichten und Prüfen in der gymnasialen Oberstufe, Verlag Barbara Budrich, Opladen/Berlin/Toronto 2017, S. 249 – 266. Genz, Henning: Gedankenexperimente, Wiley-VCH, Weinheim/New York/Toronto 1999. Goergen, Klaus: »Gerechtigkeit als ob. Gedankenexperimente zur Bestimmung des Gerechten«, in: Praxis Philosophie & Ethik 1, 2015, Heft 5: Gedankenexperimente, S. 41 – 48. Krommer, Axel: »John Searle: Das chinesische Zimmer. Eine dialogisch-spielerische Annäherung«, in: Praxis Philosophie & Ethik 1, 2015, Heft 5: Gedankenexperimente, S. 49 – 57. Kühne, Ulrich: Die Methode des Gedankenexperiments, stw1742, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005. Levy, Joel: Paradoxien und Gedankenexperimente aus Philosophie und Naturwissenschaft, übers. von Tengs, Senja, Anaconda, Köln 2017. Macho, Thomas; Wunschel, Annette (Hrsg.): Science & Fiction. Über Gedankenexperimente in Wissenschaft, Philosophie und Literatur, Fischer Taschenbuch 15838, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2004. Marschall-Bradl, Beate: »Der Ring des Gyges auf dem Prüfstand. Sind wir in unserem Leben aus eigener Einsicht auf das Gute bezogen?«, in: Praxis Philosophie & Ethik 1, 2015, Heft 5: Gedankenexperimente, S. 15 – 20. Plate, Michael: »Ist der Mensch mehr als seine materiellen Bausteine? Das Gedankenexperiment vom ›Sumpfwesen ‹«, in: Praxis Philosophie & Ethik 1, 2015, Heft 5: Gedankenexperimente, S. 33 – 40. Pörschke, Tim: »Gedankenexperimente als Methode der Texterschließung. Freundschaft bei Aristoteles, Nietzsche, Camus und Janne Teller«, in: Praxis Philosophie & Ethik 5, 2016, Heft 5: Methoden der Texterschließung, S. 36 – 42. Pörschke, Tim: »Nietzsche, Yolo und die Dauerschleife. Das Gedankenexperiment von der ewigen Wiederkehr«, in: Praxis Philosophie & Ethik 1, 2015, Heft 5: Gedankenexperimente, S. 58 – 65. Roitsch, Petra: »Perfekter Mensch = perfekte Gesellschaft? Vorschläge zum Einsatz eines Gedankenexperiments«, in: Ethik & Unterricht 14, 2003, Heft 1: Methoden II, S. 31 – 34. Sobeck, Swen: »Gedankenexperiment: Naturzustand in der Schule«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 39, 2017, Heft 3: John Locke, S. 24 – 28. Sorensen, Roy A.: Thought Experiments, Oxford University Press, Oxford/New York/NY 1992. Weidemann, Christian: »Natürliche Theologie anhand von Alltagsbeispielen und Gedankenexperimenten«, in: Philosophieunterricht in Nordrhein-Westfalen 2014, Heft 50: Philosophie und Religion, S. 94 – 111. Zürcher, Tobias: »Gedankenexperiment«, in: Pfister, Jonas; Zimmermann, Peter (Hrsg.): Neues Handbuch des Philosophie-Unterrichts, UTB 4514, Haupt Verlag, Bern 2016, S. 313 – 330.