Leben im Glauben: Marbacher Predigten [Reprint 2020 ed.]
 9783112326961, 9783112326954

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Carl Heinz Ratschow • Leben im Glauben

CARL H E I N Z R A T S C H O W

LEBEN IM GLAUBEN Marbacher Predigten

EVANGELISCHES VERLAGSWERK

STUTTGART

und

V E R L A G OTTO L E M B E C K

FRANKFURT/MAIN

Erschienen 1978 ISBN 3 7715 0193 8 (Evangelisches Verlagswerk) ISBN 3 87476 122 3 (Otto Lembeck Verlag) © Alle Rechte, einschließlich dem der Obersetzung, vorbehalten. Druck: J.F.Steinkopf KG, Stuttgart - Bindearbeiten: Riethmüller, Stuttgart Umschlag: Klaus Dempel, Stuttgart

Meinen Kindern Heidi-Christiane, Rainer und Stephan und ihren Familien zugeeignet

Inhalt

Einführung

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A: Das Wirken des Heiligen Geistes

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Der Heilige Geist gründet Glauben Der Heilige Geist gründet Freiheit Gottes Geist - die Gestalt der Kirche Vollmacht der Verkündigung Ein Christ sein

18 24 31 37 46

B: Jesus von Nazareth, Gottes Gegenwart für die W e l t . . . .

53

Gnade? Gott wird Mensch Versucht in allen Dingen wie wir Jesu Passion und unsere Nachfolge Jesu Passion — Gottes Weg mit den Seinen Jesu Abschied von den Jüngern Jesu Erweckung von den Toten Jesus, der Hirte unserer Seelen Der wiederkommende Herr

54 59 65 73 81 89 96 103

C : Gott, der Herr dieser Welt, ist nahebei

109

Der eine Gott Gottes Wirken in der Welt Gott - die Welt und die Völker Gott schläft — wir müssen ihn wecken Der nahe Gott

110 118 125 134 140

D: Unser Glaube an diesen Gott Israels, den Vatergott Jesu .

.

147

Christlicher Glaube Gottes Gerechtigkeit und des Menschen Weltgewißheit Buße

.

148 154 163

.

.

7

E: Unser Leben vor diesem Gott Israels, dem Vatergott Jesu .

.

171

Gottes Willen tun Gott sorgt für euch Nachahmer Gottes Die Bewahrung von Menschlichkeit Glaubensanfechtungen

172 177 183 192 199

Verzeichnis der Bibelstellen Verzeichnis der Sonntage im Kirchenjahr Verzeichnis der „Sachen"

207 208 209

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Einführung

Predigten zu drucken, das ist eine fragliche Sache. Ich habe den Anregungen, dies zu tun, lange widerstanden. Ich denke, eine Predigt sei für die Menschen dieses Momentes des Gehaltenseins da. Eine Predigt teilt das Wort aus. Diese Austeilung des Wortes erfolgt ad personam und nicht im allgemeinen. Darum ist eine Predigt an die Menschen gebunden, an die diese Austeilung erfolgte. Die Menschen, die an diesem bestimmten Sonntage unter der Kanzel saßen, die haben an der Predigt ja auch mit geformt. Jeder, der seine Predigten gut vorbereitet, weiß, daß die gehaltene Predigt dann doch anders aussieht als die vorbereitete. Die Hörer formen aus ihren Fragen jede Predigt mit. Sie gehen mit den Fragen dieser Stunde in die Predigt ein, und der Prediger spricht daher nur zu einer bestimmten Stunde dies so. Dabei sind freilich zwei Dinge vorausgesetzt. Erstens, daß es sich bei den Predigten um wirkliche Textpredigten handelt. Es gibt ja auch Themapredigten, in denen wie in einem Vortrag ein Thema abgehandelt wird. Diese Themapredigten haben andere Gesetze als Textpredigten. Ich bin in diesen Predigten stets dem Text nachgegangen und lege ihn homilieartig aus. Mir scheint, daß so die Gemeinde am ehesten in einer Predigt „zu Worte" kommt. Zweitens ist vorausgesetzt, daß es sich um Predigten in dem Sinne handelt, daß der Prediger nicht vorliest, daß er also keine Vorlesung hält, sondern daß er predigt, das heißt, frei spricht. Es ist eine fatale Tatsache, daß die meisten Predigten heutzutage vorgelesene Ausarbeitungen sind. So gut das Vorlesen auch gemacht wird, es bleibt unlebendig und wird nie Predigt. Das Frei-Sprechen aber ist einfach Übungssache. Im praktisch-theologischen Seminar waren wir früher zu freier Rede gezwungen, und wir konnten das auch sehr bald. Wenn Predigten aber wirklich als Predigten gehalten werden, wie es in den folgenden Predigten versucht ist, dann formen die Hörer mit ihrem Anfragen und Mitdenken an der Predigt mit. Das Tonband gibt heute die Möglichkeit, diese Endform der Predigt festzuhalten. Die Predigten dieses Buches sind vom Tonband abgeschrieben. Die zum Teil unsyntaktische lebendige Rede ist beibehalten und nur dort etwas geändert, wo ein zu langer Redesatz unterteilt werden mußte oder wo eine Rede-Geste nun durch einen Satz verdeutlicht werden mußte. 9

Diese Predigten tragen also den zeitgebundenen Charakter ihres Gehaltenseins an sich. Das gilt von ihrer Stellung im Kirchenjahr wie auch von der Problemwahl, in der demonstriert wird. Das gilt von den Bemerkungen zu brennenden Fragen unseres Daseins. Wir werden diese Zeitgebundenheit wohl erst ganz ermessen können, wenn diese Zeitumstände vergingen. Predigten verlieren dann zugleich die Lesbarkeit. Sie werden erst wieder lesbar, wenn ihre Zeit ganz Geschichte wurde, so wie es uns heute mit reformatorischen Predigten z. B. geht. Ich bin mir aus allen diesen Gründen auch heute noch nicht ganz sicher, ob es gut getan ist, Predigten zu drucken.

Das Inhaltsverzeichnis zeigt, daß unsere Textpredigten nachträglich, und zwar für dieses Buch ein Thema bekamen und daß sie thematisch geordnet sind. Wenn man daraufhin die Predigten selbst ansieht, so bemerkt man sofort, daß diese Thematik sekundär ist. Die Predigten selbst geben jeweils den Gedankenumkreis der Texte wieder und nicht etwa nur die Thematik des Themas. Aber wozu dann diese Zuordnung zu Themen und Themenkreisen? Zur Beantwortung dieser Frage müssen wir uns über die Rolle der Predigt zu verständigen suchen. Die Predigt bedeutet für die reformatorischen Kirchen die sie kennzeichnende Kultform. Im römischen wie im griechischen Katholizismus hat die Predigt diese bedeutsame Stellung im Kult nicht. Die Predigt gewinnt gegenwärtig im römischen Katholizismus zwar an Bedeutung. Aber die Messe behält mit dem canon missae ihre zentrale Stelle. Für die reformatorische Einsicht hat die Predigt die zentrale Stelle im Gottesdienst — und zwar nur als reine Textauslegung, nicht etwa als religiöser Vortrag. Die Predigt teilt nach Luthers Meinung den Text aus, wie im Abendmahl Brot und Wein ausgeteilt werden. Predigen ist ein sakramentaler Vorgang. Die Predigt hat über diese unbestritten zentrale Stellung, die so ja aber nur formal bestimmt ist, hinaus eine in sich dreifache Aufgabe. Predigt ist einmal Mitteilung dessen, was Gott für uns und an uns getan hat und tun will. Predigt ist sodann Aktualisierung des so Mitgeteilten als Herausforderung des Hörers heute. Und Predigt ist drittens stets auch Belehrung, das heißt sie geschieht aus der Reflexion, die der Mitteilung wie der Herausforderung zu Grunde liegt. Die Predigt ist also selbst Reflexionsgestalt und darum stets auch Lehre. Predigt ist also erstens Mitteilung dessen, was Gott für uns und an uns getan hat und tun will. Der christliche Glaube ruht auf den Wirksamkeiten Gottes (effectus Dei), die in Raum und Zeit verlaufen sind

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und noch verlaufen. Diese Wirksamkeit Gottes — also das Geschick Abrahams und der vorzeitige Tod des Mose wie das Kreuz Christi und die Missionstätigkeit des Paulus — müssen mitgeteilt werden. Ein Christ muß diese Geschehnisse ganz einfach wissen. Wenn er sie nicht weiß, kann er kein Christ sein! Christsein hat es sehr grundsätzlich mit solchem Wissen zu tun. Der Gottesdienst aber und sein Zentrum, die Predigt, teilen solch Wissen mit. Sie tun das sonntäglich und wollen damit anregen zum alltäglichen Umgehen mit der Bibel als der Quelle dieses Wissens. Die Geschichten von Gottes Herumgehen in der Welt wollen erzählt sein, und an der Erzählkunst des Predigers lernen der Vater oder die Mutter, wie man das macht. Die Predigt als diese Mitteilung der Wirksamkeiten Gottes setzt das Erzählen der Verfasser der Geschichtsbücher des Alten Testamentes und der Evangelisten des Neuen Testamentes fort. Die Predigt setzt das Weitererzählen der Wirksamkeiten Gottes in den Familien, Schulen und Verbänden in Bewegung. Aber, die Predigt teilt nicht nur mit, was Gott für uns getan hat, sondern in diesem seinem Tun wird allenthalben sichtbar, was dieser Gott Israels, der Vatergott Jesu, für uns und an uns tun wird. Abraham soll ein Segen für alle Völker werden. Davids Herrschaft soll nicht zu Schanden werden. Petrus soll der Fels sein, auf dem Gott seine Kirche bauen will. Der Geist soll uns in alle Wahrheit leiten. Jesus aber soll eines Tages wiederkommen — auch zum Gericht. Auf dem Boden dessen, was geschah, erhebt sich allenthalben die Welt der Verheißungen. Diese Verheißungen betreffen unser Dasein heute. Sie wachsen aus dem, was Gott tat, und teilen uns mit, was Gott tun wird. Unser Vertrautsein mit den Wirksamkeiten Gottes schafft unser Vertrauen zu dem, was von Gott her auf uns zukommen wird. In dieser Mitteilung und mit dieser Mitteilung dessen, was dieser Gott Israels, der Vatergott Jesu getan hat und tun will, aktualisiert die Predigt die Wirksamkeiten Gottes in der Welt, wie sie in dem Alten und Neuen Testament bezeugt sind, für unsere Welt. Das Füruns-Wirken Gottes fordert uns heraus zur Stellungnahme, zur Zustimmung, zum Vertrauen wie zur Nachfolge. Die Predigt ist der Ort dieser Aktualisierung. Die Predigt ist als solche also Herausforderung der Gemeinde und will Hilfe zum Leben werden. Indem die Predigt die Nähe dieses Gottes Israels, des Vatergottes Jesu zusagt und repräsentiert, „ist" sie oder „wirkt" sie Schulderkenntnis und eröffnet so neue Lebensmöglichkeit. Die Herausforderung des Menschen durch den nahen Gott hat diese beiden Seiten. Wo die frohe Botschaft der Nähe Gottes erscheint, wird menschliche Schuld sichtbar, 11

nicht zunächst in ihrem moralischen Sinne sondern in ihrer Tiefe vor Gott. Wo diese Schuld erkannt und anerkannt ist, da tut sich der Weltgewinn des Glaubens und damit die neue Handlungsmöglichkeit oder die Hilfe zum menschlichen Leben auf. Die Herausforderung der Botschaft befiehlt daher nicht, sie besteht auch nicht in Werbung, sondern sie befähigt und setzt in Stand! Die schlichte Erzählung der Wirksamkeiten Gottes, was er einmal getan und was er darum tun wird, verlangt dem Prediger ein tiefes Verständnis des Glaubenszeugnisses Alten wie Neuen Testamentes ab. Dies ist ein sehr voraussetzungsvoller Denkprozeß von verstehendem Eingehen auf die Denk- und Lebensstrukturen ferner Welten, der die volle Aufmerksamkeit des Predigers verlangt. Dazu muß man des Hebräischen und Griechischen sehr mächtig sein, denn wie soll man z. B. Texte des achten vorchristlichen Jahrhunderts aus Palästina „verstehen", ohne ein Empfinden für die Worte mitzubringen, die diese Texte ausmachen? Darum gibt es ausgebildete Theologen in den Gemeinden, damit diese Quellen der Gemeinde erschlossen bleiben! Die Herausforderung der Gemeinde durch die Predigt aber setzt voraus, daß der Prediger den großen geistigen Schritt von der Welt jener biblischen Zeugnisse in unsere Gegenwart verantwortlich und verständnisvoll vollziehen kann. Dazu gehört ein Wissen um die „richtigen" und um die möglichen Umsetzungen der biblischen Botschaft in das 20. Jahrhundert. Es gehört eine tiefe, methodisch gepflegte Kenntnis des geistigen Abstandes zwischen biblischer und gegenwärtiger Lebensproblematik dazu, um diese Aufgabe bewältigen zu können. In diesen beiden Richtungen wird die Predigt zur Reflexionsgestalt biblischer Botschaft. An dieser Stelle geschieht Theologie. Hier ist ihr primärer Entstehungsort. Hier hat sie sich als Theologie auszuweisen. Die Predigt zeigt der Gemeinde diesen Umsetzungsprozeß als lebensvollen Vorgang ihres Auslegens. Damit ist alle Predigt in diesem Sinne „Lehr"-Predigt. Predigten, die nur Emotionen sind und die daher nur Emotionen wecken wollen und können, sind keine Predigten. Predigt ist Anweisung im denkenden Glauben, und christlicher Glaube ist denkender Glaube primär, weil er auf eine historisch festliegende Botschaft angewiesen ist. Jesus war ja nicht überhaupt und in abstracto Mensch, sondern Jesus war ein ganz bestimmter Mensch, der dann und dann und da und da gelebt hat. Der christliche Glaube also ist als denkender Glaube der Einübung dieses Denkvorganges bedürftig. Diese Einübung kann nur anhand bestimmter Bibeltexte geschehen, die auf thematische Inhalte des Glaubens beziehbar sind. So konnten wir unseren Predigten Themata 12

geben. Wir verstehen sie als Auslegungsbezüge, an denen christlicher Glaube sich im Selbstbezug der Texte üben kann.

Die Themen sind den Predigten also nachträglich eingefügt. Sie dienen der Aufgabe, die die Predigten haben, Christen in ihrem Glauben als Auslegung und das heißt als Nachdenken über seine Inhalte zu üben. Aber diese Themen geben nicht den ganzen Inhalt der einzelnen Predigt wieder. In vielen dieser Predigten ist z. B. eingehend von der Rolle des Gebetes die Rede. Aber als Thema erscheint das Beten nicht. Das heißt, daß sich in den Themen nur bestimmte Schwerpunkte spiegeln, die man aber nicht ausschließlich verstehen darf. Dies ist nun aber auch für diese Inhalte von Belang. Die Inhalte des Glaubens sind alle nicht für sich darstellbar, sondern sie sind alle komplex. Wenn wir vom Glauben sprechen wollen, so müssen wir das Handeln des Glaubens einbeziehen, denn sonst ist der Glaube unangemessen dargestellt. Wenn wir von Gott sprechen, so müssen wir von der Welt sprechen, denn wir wissen um Gott nur als um den Schöpfer oder als den, der Israel aus Aegypten führte oder als den, der als Jesus von Nazareth ans Kreuz ging oder als den, der der Kirche als Heiliger Geist gegenwärtig wird. Das heißt, daß die verschiedenen Themen und Inhalte des Glaubens in sich selbst als Lebensvorgänge komplex sind. Der Glaube selbst wie seine Inhalte sind durch die Fülle der biblischen Ereignisse bedingt, auf die sie sich beziehen. Der Glaube wie seine Inhalte sind aber zugleich im gegenwärtigen Christendasein vielfältig verflochten. An biblischen Texten lernen wir die angemessenen Zusammengehörigkeiten von Glaubensinhalten. Wir lernen, wo die Buße oder wo die Demut ihre lebensvolle Stelle im Ganzen des Glaubenslebens haben. Wir lernen, wieso man von Jesus sprechen muß, wenn man vom Heiligen Geist reden will, und wieso von Gott die Rede ist, wenn man auf Jesus hört. Diese Zusammengehörigkeiten werden in den biblischen Texten sichtbar. Menschliches Denken möchte die Inhalte des Glaubens lieber in klaren Unterscheidungen ergreifen können: hier der Glaube dort das Handeln, hier die Buße dort die Vergebung. In der Theologie wird diese Aufteilung ja auch zum Teil möglich. Aber, gerade an dieser Eigenart der Textpredigten, in denen die übergreifenden komplexen Sachverhalte — des Glaubens und Handelns, des Gerechter und Ungerechter zugleichseins, des Alltags- und Sonntags-Lebens in einem — in einem Textzusammenhang sichtbar werden, liegt der hohe theologische Wert der Predigt. In der Predigt 13

vollzieht sich die Einheit dessen, was Gott einst in der Welt für die Welt tat, was sich dann in das Zeugnis verfaßte und was sich in der langen Geschichte der Kirche in bestimmter Inhaltlichkeit wirksam erwies und was heute für uns einen bestimmten Charakter hat. Aber, und darauf kommt es an, in den Textzusammenhängen stehen lebendige Ereigniszusammenhänge vor uns. Das ist im Psalter so wie in den Geschichtsbüchern, Evangelien und Briefen. Lebendige Menschen stehen in den Texten in ganz bestimmten Lebenssituationen vor uns und werden mit ihrem Glauben fertig oder nicht. Wir predigen gelebtes Leben und keine abstrakten Wahrheiten! Darum sind die Predigtinhalte so komplex. Aber darum lernen wir Theologie im Predigen oder in Predigten. Es kommt dabei auf den Glauben im gelebten Leben an, so z. B. wenn uns ein Psalmist erzählt, wie es ihm erging, als er in N o t kam und was er da machte. Dieses lebendige Glaubensleben predigen wir in den Geschichten der Evangelien wie in den Ereigniszusammenhängen der neutestamentlichen Briefe.

Die Themata ordnen die Predigten so, daß an dieser Ordnung ein bestimmter Hergang deutlich wird. Der Teil A umfaßt Predigten vom Wirken des Heiligen Geistes. Das heißt, er umfaßt das gegenwärtige Wirken Gottes unter uns als Kirche und Verkündigung. Dieses Wirken Gottes als Heiliger Geist begründet und ermöglicht unser heutiges Christsein. In diesen Predigten vom Geist ist es besonders spürbar, wie sie ständig über diesen Themenkreis hinaus in das praktische Handeln von Christen heute hineindrängen und wie sie als Zeugnis vom Geiste Gottes Zeugnisse von Jesus Christus und von dem Gott Israels dem Vatergott Jesu sind. Wir stellen diese Predigten an den Beginn, weil Christsein vor allem eine gegenwärtige Lebensbewegung ist und weil das Wirken des Geistes den Beginn von Glaubensleben in jeder Zeit ausmacht. Die weitere Abfolge der Predigten versteht sich vom Heiligen Geist aus fast von selbst. Dieser Geist Gottes hat nur ein Thema, und das ist Jesus von Nazareth. Darum haben wir in Teil B die Predigten zusammengestellt, die eine Textgrundlage hatten, die von Jesu Wort, Werk und Person redete. Aber Jesus hat ja nicht sich selbst gepredigt, sondern er hat Gott verkündigt. So folgten denn in Teil C die Predigten, die das Wirken Gottes als Inhalt haben. Die beiden letzten Teile aber — Teil D über den Glauben und Teil E über das Handeln des Christen in der Welt — reihten sich den drei ersten Teilen wie selbstverständlich an. Anhand dieser Themata also kann man die Predigten 14

wie eine Einübung in den zentralen Belangen christlichen Glaubens lesen. Man kann sich in gehörigem Abstand in die verschiedenen Hinsichten christlichen Daseins einführen und so anregen lassen. Diese Themata — das ist nach allem Gesagten eindeutig — sind nicht für das Predigen bestimmend gewesen. Sie geben eine Richtung der einzelnen Predigten an, mehr nicht. Man kann diese Predigten daher auch ganz anders lesen. Die Predigten tragen fast alle den Ort des Kirchenjahres einleitend sehr deutlich in sich, an denen sie gehalten sind. Zwar sind nur die Hälfte der Sonntage des Kirchenjahres vertreten — das Verzeichnis der Sonntage am Schluß zeigt das an. Aber alle Teile des Kirchenjahres sind vertreten, und man kann danach die Predigten als Lese-Predigten ordnen. Endlich ist auch ein Verzeichnis der Sachbezüge angeschlossen, die in den Predigten auf Grund der Texte angesprochen wurden, die aber in den Themen nicht auftauchen. Dies betrifft sowohl dogmatische Fragen wie Fragen des täglichen Lebens. Wir erwähnten schon die häufige Besprechung des Gebets z. B., die in den Themen nicht auftaucht, die aber vielleicht besonders interessiert. Man kann mit diesem Verzeichnis also diese Predigten da zu Rate ziehen, wo man über bestimmte Fragen nähere Auskunft wünscht. Sie lassen sich also auch in dieser Weise der Vergewisserung denkenden Glaubens verwenden.

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A DAS W I R K E N DES H E I L I G E N GEISTES

Der Heilige Geist gründet Glauben Exaudi 22. Mai 1977 Johannes 16,5—15 Nun aber gehe idi hin zu dem, der mich gesandt hat. Und niemand unter eudi fragt mich: Wo gehst du hin? Sondern weil ich solches zu euch geredet habe, ist euer Herz voll Trauerns geworden. Aber ich sage euch die Wahrheit: es ist euch gut, daß ich hingehe. Denn so ich nicht hingehe, so kommt der Tröster nicht zu euch; so ich aber gehe, will ich ihn zu euch senden. Und wenn derselbe kommt, wird er die Welt überführen der Sünde, der Gerechtigkeit und des Gerichtes. Der Sünde, daß sie nicht glauben an mich; der Gerechtigkeit, daß ich zum Vater gehe und ihr midi hinfort nicht seht; des Gerichtes, daß der Fürst dieser Welt gerichtet ist. Ich habe euch noch viel zu sagen, aber ihr könnt es jetzt nicht tragen. Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit kommen wird, der wird euch in alle Wahrheit leiten. Denn er redet nicht von sich selbst, sondern was er hört, das wird er reden, und das Kommende wird er euch ansagen. Derselbe wird mich vergegenwärtigen, denn von dem Meinen nimmt er's und sagt euch's an. Alles, was der Vater hat, das ist mein. Darum sage ich, er wird's von dem Meinen nehmen und euch ansagen.

Der Sonntag Exaudi ist von der alten Kirche als Bitte um den Heiligen Geist und als Verkündigung der Verheißung des Geistes nach dem Johannes-Evangelium geprägt. Es geht um ein tiefes Geheimnis an diesem Sonntag vor Pfingsten, nämlich um das Geheimnis, daß es gut ist für die Jünger, wenn Jesus zum Vater geht. Zwar, sagt das Johannes-Evangelium, ist das Herz der Jünger voll Trauerns, wo sie nun merken, daß es mit Jesus bald ein Ende haben wird. Und das Johannes-Evangelium ist ja in seinem Mittelteil, den berühmten Abschiedsreden, um diese Tatsache herumgeschrieben. J a , der Haupt- und Mittelteil des JohannesEvangeliums ist dieser Block der Abschiedsreden. Johannes war in seiner Gemeinde immer wieder vor die Frage gestellt: Wie werden wir eigentlich damit fertig, daß Jesus nidit mehr da ist. Sind wir denn allein, sind wir auf uns selbst gestellt? Und der erste Teil der Antwort auf diese Frage ist: Es ist gut für euch, daß ich weggehe. Warum ist es eigentlich gut, daß Jesus weggeht? Warum können die Jünger in der Gegenwart Jesu immer wieder an der Wahrheit vorbei18

gehen? Denn ich sage euch die Wahrheit, daß es gut ist, daß idi hingehe. Doch wohl nur darum: Solange Jesus da ist und vor den Jüngern steht, da kann es dazu kommen, daß die Jünger sagen: Ach da, dieser Jesus, da ist ja Gott, da ist ja das Heil, da ist ja alles in Ordnung! Und das ist die Unwahrheit. Das ist ein Kurzschluß in des Wortes wahrster Bedeutung. Denn dieser da, dieser Jesus da, dieser Mann da aus Nazareth, der „ist" das nicht. Wenn man sich an den halten will, da erfährt man dies und das, auch sehr kluge Dinge, aber nicht das, worauf es ankommt, nämlich das Heil. Da ist wohl Gott präsent als dieser Jesus von Nazareth. Aber wenn man bei dem Vordergrund Jesus bleibt, dann vergißt man den Gott, der als dieser Jesus präsent ist, dann meint man wohl gar, es wäre mit diesen Wundern, die dieser Jesus getan hat, oder mit anderen Dingen an ihm das Heil da. Und das ist ja eben nicht so. Das ist das Geheimnis, um das es am Sonntag Exaudi geht. Ich sage euch die Wahrheit: Es ist gut, daß ich hingehe. Jesus von Nazareth in der ganzen Vordergründigkeit seines menschlichen Daseins ist nicht das, worum es geht. Das ist für uns evangelische Gemeinde am Ende des 20. Jahrhunderts eine tief betreffende Sache. Denn wir kommen von einer Zeit her —die letzten hundert Jahre—, in der man meinte, man könnte das Christentum damit bauen, retten und erhalten, daß man vor allem historische Studien am Neuen Testament betrieb, daß man sich also um diesen Jesus immer noch mal, und immer noch mal kümmerte. Und wenn wir auf diese letzten hundert Jahre christlichen Daseins in Westeuropa zurücksehen, können wir nur sagen: Damit ist die christliche Gemeinde fehlgegangen. Und sie war allein gelassen. Und das, was wir heute so an Resten von Gemeinde haben, ist der Erfolg dieser Tatsache. Es geht offenbar um andere Dinge. Es geht nicht etwa nur um die Nachfrage nach dem historischen Jesus. Das ist ja auch eine wichtige Sache. Aber das, worauf es über den Weggang Jesu hinaus ankommt, ist etwas anderes. Was das ist, das sagt unser Text auch: Es ist das Kommen des Trösters. So nennt das Johannes-Evangelium den Geist der Wahrheit. Das Kommen des Geistes liegt im Blick der Abschiedsreden. Über Jesu irdisches Wirken hinaus kommt Gott noch einmal als dieser Geist der Wahrheit. Dieser Geist der Wahrheit, den Jesus zu uns senden will, wird in diesen Abschiedsreden immer in dreifacher Weise gekennzeichnet. Das erste ist dies. Der Geist der Wahrheit, sagt unser Text, überführt die Welt der Sünde, der Gerechtigkeit und des Gerichts. Der Sünde, daß sie nicht glauben an mich; der Gerechtigkeit, daß ich zum Vater gehe, und des Gerichts, daß der Fürst dieser Welt überwunden oder besiegt ist.

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Sünde, das heißt hier: nicht an Jesus glauben. Was bedeutet das? Es bedeutet ja offenbar nicht, daß dieser Jesus da nun doch wieder in den Mittelpunkt unserer Beachtung tritt, sondern daß dieser Jesus der ist, der Gott gegenwärtig macht, der Gott auf den Plan bringt, der ihn, den Schöpfer und Erhalter der Welt in der Welt wieder heimisch macht. Sünde, nicht an Jesus Glauben, heißt, in der Trennung von Gott leben und meinen, in der Getrenntheit von Gott käme man mit diesem und jenem in der Welt wohl gut zurecht. Und das ist denn wohl auch so, daß man im allgemeinen in der Gottesferne weiterkommt in der Welt als in der Nähe zu Gott. Das ist jedenfalls die Meinung der Psalmen. Dieses an Jesus Glauben und damit der Sünde entgehen, dieses Wissen, daß er die Gegenwart Gottes sei und daß es bei ihm nicht um dies und das, sondern um Gott und seine Gegenwart gehe, heißt zugleich sagen: es ist richtig oder gerecht, daß er, Jesus, zum Vater geht und daß wir ihn nicht sehen. So überführt der Geist der Gerechtigkeit. Wir pflegen Gerechtigkeit ja im allgemeinen so auszulegen: Gerechtigkeit ist, daß wir für unsere Sünden bestraft und für unsere Guttaten belohnt werden. Damit hat dieser Begriff der Gerechtigkeit hier nichts zu tun. Hier heißt Gerechtigkeit das, was dem Willen Gottes entspricht. Und dem Willen Gottes entspricht es, daß wir diesen Jesus nicht mehr sehen, daß er vielmehr zum Vater geht und daß dieser Vater sei alles in allem. Sünde ist, durch ihn, Jesus, sich nicht zum Vater leiten lassen. Gerechtigkeit heißt, wissen, es ist gut, daß er wegging, daß wir es mit dem Vater zu tun haben. Und das Gericht heißt offenbar, davon überzeugt sein, daß der Fürst dieser Welt gerichtet ist. Der Fürst dieser Welt, das sind wir, wir, die wir meinen, diese Welt auch ohne diesen Gott bewältigen zu können. Und die wir meinen, mit unserem Leben allein fertig zu werden, und die wir denken, daß wir letztlich doch ganz famose Leute sind. Das ist der Fürst der Welt. Das merkwürdige, unheimliche, unerklärliche Geschehen, daß so hinfällige Wesen wie wir Menschen sich immer wieder mit sich selbst spiegeln und durch sich selbst ansehen und damit ihren Ruhm vor der Welt mehren und nähren. Aber dieser Fürst der Welt ist vernichtet. Wir können uns nicht durch uns selbst und mit uns selbst bespiegeln, um aus irgendwelchen großartigen Ideen und ganz neuen Einfällen die Welt nun endgültig in ein Paradies zu verändern und was anderes mehr ist. Dieser Fürst der Welt ist erledigt. Der Geist der Wahrheit geschieht dort also, wo Menschen sagen: dieser Jesus von Nazareth ist der Weg, auf dem ich zu Gott dem 20

Vater gelange. Dieser Weg ist nicht die Sache, um die es geht. Es ist also völlig „richtig", daß wir ihn nicht mehr sehen und daß er zum Vater gegangen ist. Und indem wir Gott entdecken, Gott, den Schöpfer, Bewahrer, Erhalter, Regierer dieser Welt, ohne den nichts passieren kann in dieser Welt, sowie wir diesen Vatergott entdecken, ist es aus mit dem Fürsten der Welt und mit uns selbst und unserer ganzen Herrlichkeit. Der Fürst dieser Welt ist gerichtet in diesem Gott. Dieser Vorgang, indem Menschen das sagen oder wo ein Mensch das fertigbekommt, überzeugt zu sein: Du Jesus führst mich zu Gott dem Vater, und darin ist all meine Eitelkeit vorbei; wo das passiert, da ist der Geist der Wahrheit. Diese Erkenntnis geschieht in der Gemeinde Christi immer wieder. Und wo immer dies passiert oder wo wir selbst heute, morgen oder übermorgen in diese Anerkenntnis kommen, du Jesus bist der Weg zum Vater; da ist der Fürst dieser Welt, unsere ganze Eitelkeit vernichtet, da können wir wissen: Ah ja, jetzt ist er da, der Geist der Wahrheit. Jetzt sind wir im Geist der Wahrheit. Das Zweite ist dies: Jesus beschreibt den Geist der Wahrheit und sagt, was es um ihn sei. Zunächst sagt er: Ich habe euch noch viel zu sagen, aber ihr könnt das jetzt noch nicht ertragen. Da ist also offenbar etwas, was noch über Jesus hinaus passieren muß. Nicht nur, daß durch Jesus hindurch der Vater gesucht werden muß und daß es ein Glück ist, daß Jesus nicht mehr zu sehen ist, sondern über ihn hinaus ins Kommende hinein muß noch etwas passieren. Und der Geist der Wahrheit ist der, der dies Kommende uns ansagt: Das Kommende. Das heißt, das, was der Glaube in der Welt zu tun hat und was er zu sagen hat und was er in dieser Welt zu wirken hat, das ließ sich nicht mit einmal da im Jahre 30 in Jesu Reden sagen, erledigen und so fertigmachen, daß bis zum Ende der Welt nun die Menschen damit zurechtkommen. Sondern da ist noch etwas Neues nötig. Und dieses Neue ist der Geist der Wahrheit. Und dieser Geist der Wahrheit sagt uns das Kommende an. Das heißt, er befähigt uns zu dem Glauben: du Jesus bist der Weg zum Vater. Und dieser Vater hat meine Selbstüberzeugung, den Fürsten der Welt getötet. Das ist Glaube. Und dieser Glaube ist der Welt und ihrer Not zugewendet. Das Kommende, die immer neuen und wieder neuen Nöte, Fragen, Sorgen, Notwendigkeiten dieser Welt. Und in diesen immer neuen Notwendigkeiten, Fragen und Nöten dieser Welt ist der Geist präsent. Was heißt das? Das heißt, wir Christen hängen nicht fest an dem historischen Einmal des Wortes Jesu für die damalige Welt. Jesu Zeit und ihre Fragen, Nöte und Sorgen sind vergangen. Im Geist aber 21

sind wir offen zu den Fragen, die uns heute betreffen. Und morgen wird wieder etwas anderes, und übermorgen wieder etwas anderes an Fragen, Nöten und Sorgen dringlich sein. Der Geist aber öffnet uns in dieses Kommende hinein, in die Notwendigkeit dieser immer neuen „Situationen". Was nun kommen muß und was nun kommt, fordert unseren Glauben heraus als die Nöte und die Sorgen und die Notwendigkeiten des Jahres 1977/78, des Jahres 2000 und so fort. Vor diesen Nöten und Notwendigkeiten stehen wir also nicht in der abständigen Eingeschlossenheit dieses historischen Jesus. Wir sind nicht gezwungen, immer die gleichen Lösungen aus dem Jahre 30 vorzutragen. Sondern der Glaube ist im Geist in dem Wagnis auf Gott hin. Denn was ist dieser Geist der Wahrheit anderes als Gott selbst. In dem Wagnis auf die Anwesenheit Gottes selbst, heute die Herausforderung der Welt anzunehmen aus der Liebe, die aus diesem Jesus wächst. So gewiß der Geist der Wahrheit um dieses Kommenden willen da ist — das, was Jesus seinen Jüngern noch gar nicht sagen konnte — fügt er hinzu, dieser Geist redet nicht von selbst, sondern was er hört, das wird er reden. Denn von dem Meinen nimmt er es und sagt es euch an. Wie hieß das Thema des Geistes? Jesus. Von dem Meinen nimmt er, was er hört, da, bei diesem Jesus, davon redet er. Merkwürdige Geschichte. Jesus verweist seine Jünger und uns voraus auf den Geist, der das Kommende redet. Wie redet der Geist, was redet er? — eben Jesus. Der Geist hat kein anderes eigenes Thema. Er hat nur ein Thema: Jesus. Und damit Gott. Und damit die Gegenwart Gottes. Und damit die Besiegung des Fürsten der Welt. Und damit die herrliche Freiheit der Kinder Gottes, für diese ihre Welt heute dazusein. Christen sind keine Antiquare, sondern sie sind gegenwärtige Leute, die in der gespannten Aufmerksamkeit auf das, was nun gerade kommt, in der Welt sind. Das können sie auch, denn sie haben den Rücken frei. Wir brauchen uns ja nicht darum zu „bekümmern", was wir vor Jahren oder gestern an Bösem getan haben; denn die Vergebung Gottes ist uns in Jesus von Nazareth, wie der Geist ihn vergegenwärtigt, gewiß. Wir brauchen uns also nicht in tief gebeugter Sorge um das Vergangene zu grämen. Damit steht der mächtige Gedankenbogen vor uns, in dem das Johannes-Evangelium hier denkt. Es ist deutlich: Von uns ist die Rede, das heißt, es ist von den Christen die Rede, die Jesus nicht mehr sehen können. Und wir müssen begreifen: Damit fehlt uns nichts, sondern damit ist uns ein großes Tor aufgetan, denn der Geist kommt nun. Dieser Geist der Wahrheit aber leitet uns in unserer Gegenwart. Er 22

redet und leitet heute, das heißt, im Kommenden, wie Jesus sagt, und immer wieder neu im Kommenden. Und der Inhalt dieser Rede des Geistes ist das, was er von dem Meinen nehmen wird. Das heißt, der Inhalt ist das Wort und Werk Jesu noch einmal anders — nämlich mitten im Kommenden, das heißt in unserer Gegenwart! Dieses, was hier von Jesus als das Meinige vorgestellt wird, ist aber dieses: Alles, was der Vater hat, das ist mein. Wenn der Geist also Jesu Wort und Werk als sein Thema hat, dann bringt er uns alles das, was der Vater hat, in unsere Gegenwart. Das ist eine ganz unerhörte Gabe — die Gabe der Gegenwart Gottes selbst in allem Kommenden. J a , das ist ein Tröster dieser Geist der Wahrheit! Ein Tröster für die Menschen, die nach Jesus Ausschau halten. Dieser Tröster überführt die Welt der Sünde, der Gerechtigkeit und des Gerichtes. Das liegt nun klar vor uns. Wo dieser Geist uns Gottes Gegenwart schenkt, da ist es um den Fürsten dieser Welt, das heißt um unsere Selbstbespiegelung geschehen. D a werden wir frei von der Sünde und zugleich frei für das immer neu uns herausfordernde Weltgeschehen. Christen können keine gestrigen Leute sein, denn ihre Sünde ist ihnen abgenommen, und ihre Gegenwart, das „Kommende" ist ihnen aufgetan. Welch herrliche Freiheit lebt doch im Walten dieses Geistes!

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Der Heilige Geist gründet Freiheit Pfingstsonntag 14. Mai 1978 2. Korinther 3,17

Der Herr ist Geist. Wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit.

Den Jüngern Jesu ist am Tage der pentekoste, an dem Tage der israelitischen Weizenernte etwas passiert. Es ist ihnen dieses passiert, daß sie, die ängstlich hinter verschlossenen Türen saßen, an diesem Tage den Mut bekamen, die Türen aufzutun, herauszutreten auf die Dädier Jerusalems und das Wort von dem Leben in Jesus, dem Gekreuzigten und Auferweckten, zu verkünden. Dieses ist den Jüngern Pfingsten geschehen. Wir wissen also, was wir Pfingsten feiern: Wir feiern den Schritt, den der Glaube aus seiner ängstlichen Verborgenheit in sich selbst zur Welt hin tat. Wir feiern das Ereignis, in dem der Jüngerglaube trotz Angst und Bedrückung die Türen zur Welt aufriß, vor die anderes denkende und hoffende Welt in Freudigkeit hintrat und sagte: Jesus ist das einzige Heil in der Welt für die Welt. Es ist kein anderer Name unter dem Himmel genannt, in dem wir alle selig werden. Das war für die Jünger eine ganz unerhörte Angelegenheit. Sie hatten sich Karfreitag zerstreut. Sie waren bis Galiläa gelaufen vor Furcht. Und das ist ja auch kein Wunder. Und Petrus hatte ihn verleugnet. Und nun sind sie alle wieder da im Zentrum des Gegners in Jerusalem. Und sie sind nicht nur da, sondern sie gehen auf die Dächer mitten unter die Festgemeinde der pentekoste. Da treten sie auf mit der Botschaft von Jesus, mit der Botschaft: In ihm ist alles Wesen, alles Geschehen der Welt erfüllt, jetzt sind die letzten Tage da. Es ist wohl so, daß damit das Christsein dieser Jünger erst in seine volle Entfaltung tritt. Denn darüber kann gar kein Zweifel sein, daß das Wort Jesu die Jünger heranholte, um sie zu Zeugen zu machen. Und das ist ja die Überzeugung aller vier Evangelien bis hin zu den großen Parakletenreden des Johannes-Evangeliums, daß man Jünger Jesu ist als sein Zeuge vor der Welt für die Welt. Und daran hat Jesus nie einen Zweifel gelassen, daß Christen nicht für sich selbst in der Welt sind, damit sie vielleicht einmal selig werden, sondern daß 24

Christen dazu da sind, daß sie für diese Welt in der Welt sind, und daß sie die Botschaft und daß sie das Wort vom Kreuz austeilen in der Welt und für die Welt. Es ist eindeutig: Christen können keine stummen Hunde sein. Christsein besteht auch nicht darin, womit die Jünger nach Himmelfahrt zunächst anfingen, vereint zu sein im Gebet und hinter verschlossenen Türen sich vor Gott zu versammeln. Das ist nicht nur seit Pfingsten, sondern das ist schon im Zeugnis Jesu und in der Beauftragung der Jünger durch Jesus nicht das volle Christsein. Sondern Christsein beginnt da, wo die Jünger vor die Welt treten mit der Botschaft, als Zeugen. Man kann das auch andersherum sagen: die junge Gemeinde wird an diesem Tag zur Kirche, und christliche Kirche ist eben das, auf den Dächern von Jerusalem stehen und sagen: er hat das Heil der Welt gebracht. Kirche heißt, für die Welt unablässig in der eschatologischen Eile, in der Paulus die Welt durcheilt hat, diese Welt durchwandern, um zu sagen: es ist jetzt soweit, und Gott ist nahe. Das ist Kirche. Wenn wir an diesem Pfingstsonntag die Geburtsstunde der christlichen Kirche wieder feiernd begehen als Leute, die auch gerne Kirche werden möchten, dann ist es eindeutig, wir begehen damit diesen Vorgang des Türenauftuns zur Welt. Und die Jünger reden von diesem Jesus. Sie reden, sie verkündigen dieses einerseits ganz direkt als Information: So und so ist das mit dem Jesus passiert; denn man kann kein Christ sein, ohne zu wissen, was es um diesen Jesus gewesen ist. Eine Gemeinde, die nicht in ständigem Umgang mit den Geschichten von Jesus lebt, wird in sich faul. Es kommt zunächst einmal auf das einfache Wissen an. Man muß wissen, was da passiert ist. Das ist entscheidend für die ganze Geschichte. Denn Jesus war kein Gespenst, sondern er war ein Mensch. Aber diese Information ist nicht alles. Die Jünger informieren, und die Kirche informiert bis zum heutigen Tage, wie es denn war mit diesem Jesus. Und auch darüber, wie es war mit den Jüngern, als die Kirche geschah. Und was da geschah, das muß man wissen. Aber darüber hinaus ist eine ganz andere Zuwendung in diesen Jüngern zur Welt. Es ist die Zuwendung der liebenden Hingabe an diese Welt für diese Welt vor Gott. Diese Zuwendung der liebenden Hingabe an diese Welt geschieht aber auch stets stellvertretend für diese Welt vor Gott. Wir können vor Gott nicht sein ohne diese Welt, ohne daß diese unsere Welt mit uns vor Gott steht. Wir können ja gar nicht beten, ohne daß all die Welt, die uns zugeordnet ist, wirklich mit dabei ist. Aber dieses vor Gott die Welt Tragen — und das ist ja immer unsere ganz bestimmte Welt, was soll sonst schon Welt 25

sein —, diese ganz bestimmte Welt vor Gott tragen, ist eben immer auch die liebende Zuwendung zur Welt. Wenn wir in die Geschichte der Kirche hineinschauen und uns ansehen, was die großen Männer des Geistes, Hieronymus und Athanasius, Augustin, Thomas und wie sie alle heißen, was diese Männer von sich selbst zur Welt gesagt haben, dann haben sie alle gemeint, das Christsein fängt so an wie das Christsein der Jünger, nämlich in der betenden Versammlung. Versammlung, das meint die Versammlung vor Gott, in der wir unsere ganze Umwelt vor Gott versammeln. Aus dieser „Sammlung" heraus kann dann die betende Hingabe an die Welt, die liebende Hingabe an die Welt allererst geschehen. Das Gebet, das ständige Gebet, vereint mit anderen Betern, löst diesen Vorgang der liebenden Hingabe an die Welt offenbar aus. So war das hier in Jerusalem, so meinte Luther das, der der Meinung war, drei Stunden am Tag gebetet sei nicht genug. Dabei ist unter Gebet eben diese Versammlung unserer Welt vor Gott gemeint, damit wir für die Welt in der Liebe, in der Gott als Jesus von Nazareth die Welt geliebt hat, dasein können. In dem Eintreten in diese Liebesbewegung Gottes zur Welt sind Christen da, tun Christen die Türen auf zur Welt, können Christen nicht mit sich selbst allein bleiben. Über die Information hinaus und auf dem Hintergrund der Information geschieht diese liebende Zuwendung zur Welt. Das feiern wir heute. Das heißt zunächst einmal, wir schauen das an. Was ist das doch für eine wunderliche Sache, daß diese Männer da in Jerusalem das fertiggebracht haben. Mitten im Zentrum der Gegner, die ihren Herrn gerade ans Kreuz geschlagen hatten, sitzen sie nicht nur da und beten, sondern da gehen sie in diese bunte, erregte Festgemeinde hinein und fangen an zu reden. Ein ganz wunderbarer Mut ist das. Und was sie sagen, ist auch erstaunlich, sich vorzustellen. Sie reden vom Anbruch der Heilszeit. Sie reden vom Heil für Israel mit dem Wort des Propheten Joel. Sie tun das inmitten der festgefügten römischen Herrschaft und vor der festlichen israelitischen Gemeinde, die vielleicht an Aufstand gegen Rom dachte, aber doch nicht an so weltfremde Ideen vom Weltende. Diese Zeugen Jesu sprechen in der Vollmacht Jesu davon, daß Gott nahe herbeigekommen ist. Und zumal preisen sie den vor fünfzig Tagen hingerichteten Mann als die große Heilstat Gottes. Das ist eine erstaunlich weltfremde und mutige Rede! Wir als Christen machen das heute anders, und unsere Kirchen machen das auch anders, und unsere Theologen machen das auch anders. Wir meinen doch, man diene dem Christentum am besten, indem man 26

sich möglichst weit der Welt anähnelt, indem man den Jargon der Welt redet, indem man die Musik der Welt macht, indem man auch Bluejeans anzieht und indem man immer davon redet, wovon die Welt gerade redet. Wir meinen, diese Anähnelung sei das Richtige. Die Jünger in Jerusalem haben das anders gemacht. Unser Pfingsttext heißt: Der Herr ist Geist, wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit. Ein herrlicher Text. Der Herr ist Geist. Der Herr, der Kyrios, das ist der Gottesname des Alten Testamentes, adonai, wie man den Gottesnamen des Alten Testamentes Jahve aussprach. Dieser Gott des Alten Testamentes ist er, Jesus. Natürlich, wer in Korinth hörte, was Paulus hier schrieb, der wußte, wenn von dem Herrn die Rede war, dann war von Jesus die Rede. Wie ist von Jesus die Rede? als von jahve, als von dem Gott des Alten Testamentes, als von dem adonai, als dem Herrn. Dies ist eine der kühnsten und großartigsten theologischen Leistungen des Paulus gewesen, daß er diesen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Jesus von Nazareth und dem Gott Israels wie selbstverständlich vollzogen hat, indem er ihn den Kyrios, den Herrn nannte. Also: Gott „ist" Jesus. Jesus „ist" der Gott Israels. Der Schöpfergott also als Jesus von Nazareth. Jesus von Nazareth als Herr der Welt schlechthin. Und dieser Herr „ist" Geist. Also diese Einheit von Jesus und Gott „ist" Geist. Und zwar nicht so ein Geist, der irgendwo herumgeistert. Und auch nicht der Geist des Menschen, so wie ein geistiges Ereignis. Dieser Jesus/Gott „ist" der Geist, da steht ein Artikel. Er „ist" der ganz bestimmte Geist, dieser Geist „ist" etwas ganz Bestimmtes. Was mag das sein — dieser Geist? Ach, wir wissen das ja! Der Geist ist jedenfalls da, wo Christen es fertigbekommen, die Tür aufzutun und herauszutreten auf die Dächer Jerusalems. Das ist die Meinung der Apostelgeschichte und die Meinung der alten Christenheit gewesen. Da, wo das passiert ist, wo die Jünger das fertiggebracht haben, da war der Geist auf sie herabgekommen. Das heißt, das ist nicht von ungefähr passiert, das kann auch wahrscheinlich gar nicht von ungefähr passieren, sondern das hat eine Voraussetzung, und zwar die Voraussetzung, daß Gott der Geist auf sie herabkam. Daß der Herr, Gott der Schöpfer, der Erwähler Israels, also Jesus von Nazareth Geist „ist", das „ist" jedenfalls der Vorgang, wo Christen nicht bei sich bleiben können, sondern die Türen aufmachen, vor die Welt treten und nun Zeugen werden oder Zeugnis ablegen. Man kann es auch so sagen: Da, wo Christen zu Zeugen Jesu werden, da ist der Gott akut, gegenwärtig und am Werk als Geist, der der Schöpfer der Welt und eben dieser Jesus von 27

Nazareth ist. Man kann es noch ein bißchen mehr zusammenfassen: Da, wo Christen es fertigbekommen, nicht bei sich selbst zu bleiben, sondern Zeugen vor der Welt zu werden, da „ist" der dreieinige Gott. Wir können auch vielleicht sagen: Die Dreieinigkeit Gottes ist dieser Vorgang, diese unerhörte, Menschen mit Erstaunen erfüllende Tatsache, daß da einfache Leute sind, und die reden von diesem Jesus als dem Heil der Welt und von dem Ende der Welt, das nun in Sicht kam. Der Herr „ist" der Geist. Er „ist" Gott noch einmal: Gott, dieser Gott, dieser ganz bestimmte Gott, der Gott Israels, der Israel aus Ägypten geführt hat, der da vor Israel hermarschiert ist als Feuerflamme in der Nacht und als Rauch am Tage, dieser, der das Manna gegeben hat, dieser Gott, er „ist" dieser Jesus von Nazareth. Und wer um Jesus von Nazareth Bescheid weiß, der weiß, was es mit diesem Gott Israels auf sich hat. Und wer das weiß, der steht in der Erwartung des Geistes, der kann in der Erwartung des Geistes stehen. Und da, wo er dann eines Tages zum Zeugen wird, und vielleicht seinen Kindern, vielleicht seiner Frau, vielleicht sie ihrem Mann, vielleicht ihrem Kollegen gegenüber das Wort über die Lippen kommt: Ja, für mich ist Jesus das Heil der Welt, da „ist" Geist. Da „ist" eben dieser Gott als Geist am Werk. Das ist Pfingsten. Und wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit. Was könnte man Schöneres Pfingsten im Jahre 1978 bedenken als diese Freiheit? Denn, nicht wahr, Freiheit ist die Allerweltssehnsucht dieses 20. Jahrhunderts. Und dieses 20. Jahrhundert lebt auf Freiheit hin, lebt von seinem Wissen um Freiheit, von seiner Sehnsucht nach Freiheit. Freiheit ist alles und alles in unserer Welt. Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit. Das heißt zunächst einmal, das ist ganz einsichtig, eben die Freiheit von der Angst vor der Welt, in der die Jünger ihre Tür auftaten. Denn nicht wahr, liebe Gemeinde, daß wir nicht alle jederzeit vor unserer Welt, die zu uns gehört, von diesem Jesus und der Freude über das, was er uns geschenkt hat, reden, das ist unsere Angst vor dieser Welt, die so anderes denkt und die so ganz anderes will. Das ist uns ja allen bekannt. Da denkt man, nun muß ich wohl davon reden. Aber was sagen die anderen dann? Das sieht alles so unmodern und altertümlich aus. Aber es ist da auch eine gewisse Verschlossenheit, eine in sich berechtigte Keuschheit dieser Glaubensgedanken, die einen abhält, nun ewig und immer wieder davon zu reden, wie schön es mit diesem Jesus sich leben läßt. Diese Bedenken und die Angst kennen wir alle. 28

Aber das Loswerden dieser Angst vor der Welt ist diese Freiheit fraglos. Diese Freiheit ist das Türenauftun, daß man die Freiheit gewinnt, allererst zu bemerken, wo denn eigentlich in der Welt dieses Wort für die Welt am Platze ist. Und diese Freiheit ist speziell für Paulus, aber sicher auch für uns, ein Freiwerden von der Knechtschaft des Gesetzes. Das heißt für Paulus, gerade hier im 3. Kapitel des 2. Korinther-Briefes, das Freiwerden von dem Buchstabenglauben der Israeliten seiner Zeit. Ein Freiwerden von dem Buchstabenglauben, das heißt, ein Freiwerden davon, daß wir meinen, man müßte zunächst einmal das und das und das getan haben, damit man es mit Gott zu tun bekommen kann. Und wir müssen wohl auch das noch sagen: diese Freiheit vom Gesetzesbuchstaben meint auch, es ist falsch, wenn man meint, man müsse zunächst einmal dies und dies und dies für wahrgehalten haben, ehe man es mit diesem Gott zu tun bekommt. Wir wissen ja alle, wie gefährlich das mit dieser Freiheit ist. Aber ebenso eindeutig ist, daß diese Freiheit für Christen ein Mittelpunkt ihrer selbst und ihrer Beurteilung ist. Diese Freiheit, von der Paulus an anderer Stelle im 1. Korinther-Brief sagt: Es ist alles erlaubt, aber es frommt nicht alles, oder es erbaut nicht alles. Das heißt, wir sind in die Liebe gebundene Leute. Und diese Bindung der Liebe ist diese Freiheit. Diese Bindung in die Liebe ist das, daß wir auch noch den, der uns gar nicht paßt, nicht nur in diesen Bereich der Verkündigung wie des Zeugnisses sondern auch der liebenden Hingabe einbeziehen. Das ist die Gesetzesfreiheit. Im Innersten aber meint diese Freiheit Freiheit von der Schuld und von der Sünde, denn Schuld und Sünde sind ja zunächst einmal die Getrenntheit von Gott. Aber diese Getrenntheit von Gott ist in Jesus von Nazareth und als Jesus von Nazareth aufgehoben. Und in dieser Aufgehobenheit, in dieser Gottesnähe bekommen wir die Kraft, mit den Kläglichkeiten und Versuchlichkeiten unseres Daseins fertigzuwerden. Insofern werden die Sünden, die Schulden, die wir da auf uns laden, überwindbar in dieser Zuwendung Gottes. Das heißt: die Freiheit ist jedenfalls eine dreifache: Es ist die Freiheit zur Welt, es ist die Freiheit vom Gesetz oder von der Buchstabenknechtschaft, und es ist die Freiheit von der Schuld, so daß wir als Menschen, die die vergangene Schuld nicht mehr drohend vor uns sehen, und die wir einander zu vergeben in der Lage sind als Christen, eine freie Zukunft vor uns haben, nicht mehr belastet von all dem Schutt, der sich in unserem Leben angesammelt hat. Wir leben eine Freiheit in das Morgen hinein, wo wir etwas tun sollen — vielleicht Zeugnis ablegen von ihm,

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dem Herrn, und wo wir etwas tun können, nämlich die Freude über all das mitteilen, was uns in diesem Herrn geschehen ist. Das ist die Freiheit, und diese Freiheit heißt: Wir Menschen, die wir als Menschen, die wir sind, die wir immer mit uns selbst und um uns selbst eingeschlossen sind, wir bekommen Welt geschenkt. Wir bekommen Welt geschenkt. Wir haben es nicht mehr nötig, in uns selbst verschlossen zu sein. Die Schuld ist uns abgenommen. Wir haben es nicht mehr nötig, mit unserem Glauben allein zu sein. Wir können die Türen auf tun, die Angst ist weg. Die ganze große, herrliche, wunderschöne, zum Tode eilende Welt ist uns geschenkt, damit wir ihr zur Hilfe kommen können und ihr von dem Leben reden können, das mehr ist als all ihr Sterben. Eine so unglaubliche Freiheit ist es, daß wir in all den Toden, die diese Welt um uns herum vernichten, vom Leben nicht nur wissen — das ist zu wenig — sondern reden können, und nicht nur zu der Welt reden können, sondern für die Welt reden können. Und wir können dieses in der Gewißheit tun, daß unser Reden fraglos und unzweifelhaft nicht umsonst ist; denn wir reden nicht von uns, sondern wir reden im Geist. Wir reden in der Gegenwärtigkeit dessen, der der Schöpfer und der Herr der Welt ist, eben dieser Jesus von Nazareth. In dieser Vollmacht können wir nicht nur, sondern sollen wir als Christen vor die Welt hintreten, in dieser Vollmacht können wir nicht nur, sondern sollen wir diese unendlichen Tode, die diese Welt stirbt, auf uns nehmen, vor das Leben Gottes bringen und damit heilen. Das ist doch eine unendliche Aufgabe, eine ganz frohe Sache. Wir können das wohl nicht. Aber das sollen wir, und so können wir es auch. Wenn man sich das überlegt, dann geht es einem so, daß man denkt: Was läßt du da eigentlich täglich an unglaublich schönen Möglichkeiten an dir vorbeigehen. Was könntest du täglich alles an wunderschönen Dingen für diese Welt bereit haben. Denn wir leben ja doch aus dieser Freude. Wir leben aus dieser Gewißheit, wir leben aus dieser todüberwindenden Herrlichkeit der Auferweckung.

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Gottes Geist - die Gestalt der Kirche Reformationsfest 31. Oktober 1976 1. Korinther 3,11-23 Einen anderen Grund kann niemand legen außer dem, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus. So aber jemand auf diesen Grund baut Gold, Silber, edle Steine, Holz, Heu, Stroh, so wird eines jeglichen Werk offenbar werden: der Tag wird's klarmachen. Denn es wird durch's Feuer offenbar werden, und welcherlei eines jeglichen Werk sei, wird das Feuer bewähren. Wird aber jemandes Werk bleiben, das er darauf gebaut hat, so wird er Lohn empfangen. Wird aber jemandes Werk verbrennen, so wird er Schaden leiden; er selbst aber wird selig werden, so doch wie durch's Feuer. Wisset ihr nicht, daß ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt? So jemand den Tempel Gottes verdirbt, den wird Gott verderben, denn der Tempel Gottes ist heilig, der seid ihr. Niemand betrüge sich selbst. Welcher sich unter euch dünkt, weise zu sein, der werde ein Narr in dieser Welt, daß er möge weise sein. Denn dieser Welt Weisheit ist Torheit bei Gott. Denn es steht geschrieben: Die Weisen hascht er in ihrer Klugheit. Und abermals: Der Herr weiß der Weisen Gedanken, daß sie eitel sind. Darum rühme sich niemand eines Menschen. Es ist alles euer, es sei Paulus oder Apollos, es sei Kephas oder die Welt, es sei das Leben oder der Tod, es sei das Gegenwärtige oder das Zukünftige — alles ist euer; ihr aber seid Christi, Christus aber ist Gottes.

Dieser Epistel-Text auf den Reformationstag setzt ein mit der Grundgewißheit allen Christseins, daß niemand einen anderen Grund legen kann außer Jesus Christus. Jesus Christus ist der schlechthinnige Grund aller derer, die sich Christen nennen wollen, und aller der Gemeinschaften, die sich unter der großen Überschrift Christentum oder christliche Kirche zusammenfassen. Wie es schon zu des Paulus Zeiten war und wie es Paulus jetzt in Korinth bitter erfahren muß, ist dieser Grund Jesus Christus in sich mehrdeutig. Man kann diesen Christus und seine Botschaft auslegen wie Petrus im judenchristlichen Verstand, daß die Beschneidung und das Gesetz dazugehören, damit man Christus richtig anerkennen und verehren kann. Und man kann 31

es tun wie Paulus, der die Beschneidung und das Gesetz abwehrt, und eben diesen Jesus Christus, ihn in der Gerechtigkeit Gottes verehrt wissen will. Jesus Christus ist eben dieser Jesus von Nazareth, dieser israelitische Mann, der dann und dann, da und da, das und das getan hat. Und dieses sein wirklich Gewesensein in der Welt macht es unausweichlich, daß sein Verständnis immer mehrere Deutungen zuläßt, wie alles Geschichtliche. Das Christentum hat es als Kirche nie anders gegeben als in bestimmten Verständnissen. Und es wird das Christentum nie geben ohne bestimmte untereinander verschiedene Bekenntnisse und Verständnisse. Das gehört zu der Sache, in der Gott in diese Welt eintrat, so tief eintrat, daß er als dieser Jesus von Nazareth von anderen Menschen nicht zu unterscheiden war. Die ganze Gnade und Barmherzigkeit unseres Gottes verleiblicht sich in diesem Jesus von Nazareth und damit in der Vieldeutigkeit dieser Welt. Dem setzt Gott sich aus. Paulus sagt, ja, man kann vieles auf diesen Jesus von Nazareth bauen, man kann mit Gold und mit Silber, mit Edelsteinen, man kann aber auch mit Heu und mit Stroh draufbauen. Was das eigentlich sei, mit diesen verschiedenen Bauten, das wird sich zeigen am Tage Gottes, wenn das Feuer des Gerichtes kommt. Es ist eine sehr wichtige Sache, daß wir uns darüber klarwerden: In welchem Verständnis und in welcher Konfession eigentlich die Wahrheit sei, das bleibt in der Unkenntlichkeit dieser Welt, bis er, Gott, zu seinem Gericht kommt. Das heißt, es ist schlechterdings unmöglich, daß die Evangelischen sagen: Wir haben die Wahrheit, und alles andere ist falsch. Ebenso wie es unmöglich ist, daß die katholische Kirche etwa den übrigen Kirchen den Namen Kirche aberkennt. Denn die Wahrheit dessen, was da auf diesen Jesus von Nazareth gebaut ist, steht in der Unkenntlichkeit des Historischen, des Irdischen, des Hiesigen. Das am Reformationsfest sich zu überlegen, ist sehr wichtig, damit wir nicht meinen, wir als reformatorische Christen seien vielleicht der Wahrheit etwas näher. Vielleicht hätten wir sogar die Wahrheit gepachtet. Wir müssen uns darüber klar sein und unser Christsein als evangelische Christen empfangen und leben in der Unbestimmtheit, in der Unkenntlichkeit dessen, was hier in der Welt als Kirche geschehen kann, ausschauend auf den Tag, wo es sich zeigen wird, was eigentlich im Feuer des Gerichtes besteht und was nicht. Wie das nun aber sei mit dem, was auf diesen Christus gebaut wird, das gibt Paulus uns in drei Bestimmungen an. Und wegen dieser drei Bestimmungen ist diese Epistel auf diesen Tag gesetzt, da das 17. Jahrhundert meinte, die drei Bestimmungen, die Paulus hier an32

gibt über das Christsein, seien die Kennzeichen der evangelischen Kirche: Die erste Bestimmung ist die: Ihr seid der Tempel des Heiligen Geistes. Die Kirche, die Gemeinde, ist der Tempel des Heiligen Geistes, und zwar, wie Paulus wenige Kapitel danach deutlich macht, insofern als jeder Christ in seiner Gestalthaftigkeit, also in seinem alltäglichen Dasein, in seiner Leibhaftigkeit Tempel des Heiligen Geistes ist. Wieso das? Der Heilige Geist, das ist Gott, eben dieser Gott, der als Jesus von Nazareth in die Welt kam, da wo das Wort und so gewiß das Wort der Bibel einen Menschen berührt. Diesen Vorgang, Gottes Gegenwart im Lesen, im Nachdenken, im Predigen über dieses biblische Wort, nennt Paulus heiliger Geist. Heiliger Geist ist da, wo aus dem Wort Jesu, aus dem Evangelium, ein Menschenherz sich Gott erschließt. Das heißt heiliger Geist. Heiliger Geist ist überall da am Werk, wo Menschen mit der Bibel umgehen. Und das ist ja das auszeichnende Merkmal evangelischer Christen, daß sie mit der Bibel umgehen. Unter dieser Devise ist Luther angetreten: jedem Christen die Bibel! Denn die Not war groß zu Luthers Zeit. Die Bibel besaß nur die Kirche, und die Gemeinde war angewiesen auf dies und das, was das kirchliche Lehramt verordnete. Und nun ging es um die Bibel, um das Wort der Wahrheit in den Häusern, in den Kammern, überall. Luther war überzeugt davon, wenn das gelingt, dann werden die Menschen ebenso freudig wie beglückt nach dieser Bibel greifen und mit ihr leben. Luther hat sich das nicht so vorgestellt, wie das heute ist, daß man einige Male zur Kirche geht und in dem Predigtgottesdienst mit dem Wort Gottes in Berührung kommt, im übrigen aber ohne Berührung mit der Bibel lebt und ein ganz „säkularer T y p " ist. So hat er sich das nicht gedacht. Und so ist es ja auch nicht denkbar. Wenn es denn so sein sollte, daß dieser Jesus von Nazareth das Heil der Welt und unser Heil ist, und wenn das biblische Wort die eine wahre Kunde und Botschaft von diesem unserem Heil ist, dann ist es unvorstellbar, daß Menschen nicht nach dem Umgang mit dieser Bibel streben. Das ist unvorstellbar. Denn es ist unvorstellbar, daß Menschen, die unter Krankheit, Tod und vielen Leiden gedrückt durchs Leben gehen, nach dem Angebot des Heils ihrer Seelen, der ewigen Bestimmtheit des Daseins nicht greifen. Das ist unvorstellbar. Überall da, wo Menschen mit dem biblischen Wort umgehen, wohnt Gott selbst als Heiliger Geist. Insofern Menschen mit dem Wort des Evangeliums umgehen, sind sie in ihrer leibhaften Gestalthaftigkeit Tempel des Heiligen Geistes. Insofern wir als evangelische Gemeinde mit der Bibel umgehen, sind wir Tempel des Heiligen Geistes. Das ist 33

eine gewaltige Sache. Das ist ein ungeheures Geschenk. Das ist eine herrliche Gewißheit. Wir brauchen nicht allein zu sein in dieser Welt. Wir brauchen nicht zweifelnd und schwankend zu sein über das, was uns in Ewigkeit erwartet. Denn wir haben den Zugang zu Gottes Wort, und wir haben die Gewißheit der Gegenwart dieses Gottes bei uns. So werden wir ein Tempel des Heiligen Geistes. Und das Zweite, was Paulus sagt: Niemand betrüge sich selbst. Welcher sich unter euch dünkt, weise zu sein, der werde ein Narr in der Welt. Denn Gott hat die Weisheit dieser Welt durchschaut, daß sie Torheit ist. Diese Überlegung von der Torheit und der Weisheit der Weisen beschäftigt Paulus in den ganzen ersten Kapiteln des 1. Korinther-Briefes. Es geht dabei darum, daß wir als Christen bemerken, daß die Torheit des Kreuzes, die Narretei der Vorstellung, daß ein gescheiterter Wanderprediger wie dieser Jesus von Nazareth der K ö nig der Welt und der Herr der Ewigkeit sei, diese Torheit steht der der Weisheit der Welt gegenüber, die sagt, das ist ja alles dummes Zeug, wir brauchen ja doch Geld, und wir brauchen ja doch Ansehen, und wir brauchen eine funktionierende Wirtschaft, und wir brauchen eine anständige Politik und was weiß ich alles. Natürlich brauchen wir das. Diese Weisheit der Welt und diese Torheit des Kreuzes stehen sich bis zum heutigen Tage unversöhnbar gegenüber. Und die Torheit des Kreuzes sagt, daß der wahre Weg, den Gott mit den Seinen geht zu ihrer ewigen Bestimmung, daß das der untere Weg ist. Der untere Weg, in dem Gott die, die sich an das Kreuz halten und an den Gekreuzigten, zu dieser Torheit bringt und dem Gelächter der Welt aussetzt. Was, diese Botschaft soll plausibel sein? Diese Botschaft war noch nie plausibel, und ihre Anhänger wurden stets verlacht. Aber die, die diesen Weg gehen, wissen, daß die ganze schöne große Weisheit der Welt zum Tode führt, daß aber die Torheit des Kreuzes über den Tod hinausführt. Und wohl noch mehr. Diese ganze Weisheit der Welt führt in die Weltzerstreutheit, die uns zu immer und ewig besorgten Menschen macht. Die Torheit des Kreuzes aber führt in eine Ruhe, in eine Gelassenheit, die uns einen festen Boden, eine sichere Grundlage, eine klare Zuordnung der verschiedenen Werte ermöglicht, in denen wir in allen Abgehetztheiten der Welt als frohe Menschen dasein können. Das beides ist wohl die Torheit des Kreuzes. Wenn die reformatorische Theologie und der reformatorische Glaube sich ausschließlich und zentral als Theologie und Glaube des Kreuzes verstand, dann war damit ja nicht etwa gemeint, daß der reformatorische Glaube sich nach dem Leiden sehnt, sondern dann ist damit gemeint, daß diese Torheit des Kreuzes der Grund der Möglichkeit 34

ist, daß Menschen in der Welt, mitten in der Welt als frohe, gewisse Menschen dasein können. Denn das ist der innerste Kern des angefochtenen Christus am Kreuz: Zwar setzt uns Leid und das Wirrsal der Welt in Bewegung, ihm aufzuhelfen. Aber es kann uns nicht in die düstere Verzweiflung, in die Haltung, es hat ja alles keinen Sinn, führen. Denn wir kommen von dem angefochtenen Christus (Christus tentatus), von dem Gekreuzigten her. Und wir wissen, daß Christi Wort, Werk und Person im Kreuz den Sieg errungen hat, den Sieg, der die Liebe Gottes aus aller Verborgenheit des schrecklichen Gottes herausglauben kann. Und das ist die Torheit des Kreuzes. Und das Dritte, was Paulus sagt: Darum rühme sich niemand eines Menschen. Es ist alles euer, es sei Paulus oder Apollos, Kephas oder die Welt, das Leben oder der Tod, das Gegenwärtige oder das Zukünftige, es ist alles euer. Ihr aber seid Christi, Christus aber ist Gottes. Nach dem Zuspruch des heiligen Geistes, als Gottes Dabeisein im Umgang mit Gott, und nach dem Zuspruch der Torheit des Kreuzes, als dem Grund der Möglichkeit frohen Daseins in der Welt, fügt Paulus drittens hinzu die unglaubliche Freiheit der Christen: Es ist alles euer. Das heißt, ihr seid nicht durch irgendwelche kultischen oder ritischen oder gesellschaftlichen, konventionellen oder was weiß ich für Bindungen gebundene Leute, so daß ihr dies nicht könnt und das nicht könnt, und da Vorurteile habt und da auch. Sondern, die Tore sind aufgetan, sowohl zu Apollos wie zu Kephas, wie zu Paulus, wie zum Tod, wie zum Leben und zur Welt, Zukünftiges und Vergangenes, alles ist euer. Diese Rede ist nahezu unglaublich. Sie nimmt uns Menschen aus den ganzen Gebundenheiten unserer Voreingenommenheiten, die wir durch die Erziehung, durch die Bildung, durdi unsere Partei wie durch unsere Konfession haben. Diese ganzen Voreingenommenheiten schließen uns ja wirklich ein und bereiten uns Kummer. Sie bereiten uns ständig Kummer. Wir stoßen uns ja dauernd daran, wenn wir merken, daß wir hier da und dort an Grenzen stoßen, die unsere Vorurteile aufrichten. Aber das alles muß nicht sein — für Christen. Das alles braucht für uns Christen nicht zu sein. Die Tore sind aufgetan in den weiten Bereich von Welt, von Vergangenem und Zukünftigem, wie von Tod und Leben. So frei sind Christen, die in der Torheit des Kreuzes leben und die im Umgang mit dem Wort in der Gegenwart Gottes des Heiligen Geistes da sind — so frei. So ist ja unser gottesdienstliches Tun hier zum Beispiel selbst keine abgeschirmte heilige Sonderung. Dieses unser gottesdienstliches Tun ist vielmehr ganz welthaft profan. Denn auch dieser kirchliche Raum 35

und auch das, was wir hier tun, nämlich das Wort Gottes hören, ist ja nicht ein heiliger abgegrenzter Bezirk, sondern ist ein Geschehen wie andere Weltgeschehen. Freilich, in diesem Tun geht es um Gott. Aber dieser Gott baut ja keinen Bezirk heiliger Unbetretbarkeit um sich auf. Die ganzen heiligen Vorbehalte bedeuten für Christen keine Bindung, sondern aufgetane Türen, durch die wir hindurchgehen können, zum Tode wie zum Leben und zur Welt und zum Vergangenen wie zum Zukünftigen. Alles ist euer. Aber ihr seid Christi. Paulus sagt: aber. Er versteht also dieses: Ihr seid Christi, zunächst als einen möglichen Einwand gegen diese große Freiheit. Ihr gehört Christus. Also da ist jedenfalls eine Schranke, eine absolute Schranke. Ihr seid Christi, Christus ist Gottes. Und wenn wir uns diese Schranke überlegen — wir haben den Zugang zu allem in der Welt, aber wir sind Christi — dann bemerken wir: Dieser Christus ist ja gerade der, der die Türen auftut. Er ist ja gerade der, der alle die israelitischen Vorurteile religiöser wie gesellschaftlicher Art vom Tisch gewischt hat. Das heißt, wir müssen es wohl so sagen: Alles ist euer, und dieses kann nur wahrsein unter der Voraussetzung, daß wir Christus gehören. Denn abgesehen von diesem Christus ist diese riesengroße Freiheit reine Libertinität und zerstört die staatliche und gesellschaftliche Ordnung. Das heißt: Ihr aber seid Christi, ist nicht eine Einschränkung, sondern die Benennung des Grundes der Möglichkeit dieser Freiheit. Christus aber ist Gottes Sohn. Christus hat sich ja nicht selbst verkündigt. Und dieser Gott, den er verkündigt hat, das ist der Gott, der diese Welt und uns so lieb hat, daß er seinen Sohn in die Welt geschickt hat, daß er uns sein Wort gibt und öffnet, daß wir's haben können. Das, was vor 400 Jahren ein unerhörtes Vorrecht war, daß jeder seine Bibel zu Hause haben konnte, das haben wir. Wir haben die Bibel jederzeit zur Hand. Wir können sie immer aufschlagen. Damit haben wir die Gewißheit und die Möglichkeit dieser ewigen Bestimmung. Wir haben den Grund unserer unendlichen Freiheit, nämlich die Bibel, immer zur Hand, und damit Gott in seiner Gegenwart. Und wir können den Weg zu dieser Bibel immer nehmen. Das ist eine große Sache. Das heißt, wir können den Weg in die Gegenwart Gottes immer gehen. Es ist eine große Sache, wenn wir die Bibel aufschlagen, und uns damit den Weg öffnen zu der Torheit des Kreuzes, die uns in allen Weisheiten der Welt stabilisiert, und uns damit den Weg öffnen können zu der Freiheit, in der alles uns offensteht, wir aber Christus gehören, so wie er, Christus, Gott gehört.

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Vollmacht der Verkündigung 3. S. n. Trinitatis 18. Juni 1978 Matthäus 7,1—5 Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet. Denn mit welcherlei Gericht ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden, und mit welcherlei Maß ihr messet, wird euch gemessen werden. Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge und wirst nicht gewahr des Balkens in deinem Auge? Oder wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt, ich will den Splitter aus deinem Auge ziehen, — und siehe, ein Balken ist in deinem Auge? Du Heuchler, zieh am ersten den Balken aus deinem Auge; danach siehe zu, wie du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehest!

Dieses Evangelium auf den heutigen Sonntag ist uns ja bekannt wie eine lange bewohnte Wohnung. Wir sind vertraut in dem, was hier steht. Aber wenn man sich dann mit diesem Text genau befaßt, dann merkt man, er ist von einer so großen Tiefe und von einer so merkwürdigen, immer wieder überraschenden Neuheit, daß man das in einer Predigt gar nicht ausreden kann; daß man nur versuchen kann, die verschiedenen Ebenen, in denen wir diesen Text deuten müssen, eben anzudeuten. Es sind drei Ebenen, in denen wir von diesem Text reden müssen. Die erste Ebene ist die — nennen wir sie den sprichwörtlichen Verstand. Damit ist gemeint, daß dieser Text wie eine Sentenz aus sich selbst heraus verstanden werden kann, daß er wie eine „Lebensweisheit" unsere Zustimmung aus der Lebenserfahrung heraus erwartet: Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet. Mit welchem Maß ihr messet, mit dem werdet ihr gemessen werden. Das sind Worte, die scheinbar in sich selbst ruhen. Wie Sprichwörter haben sie auch eine über Jesu Reden und über Palästina hinausliegende Verbreitung. Sie kommen ebenso bei den Stoikern dieser Zeit, bei Seneca oder Epiktet vor, wie bei Jesus. Und es ist durchaus möglich, daß Jesus dieses Wort aus seiner Umgebung aufnahm; denn die große orientalische stoische Philosophenschule war in Tiberias, zwanzig Kilometer von Kapernaum. Und das Gleichnis von dem Splitter im Auge des Nächsten und dem Balken im eigenen Auge findet sich in dieser Form bei den Rabbinen wieder, überliefert etwa 80 oder 90 Jahre, nach37

dem dies Wort von Jesus gesprochen wurde. Dies Vorkommen war vielleicht von Jesus beeinflußt, vielleicht ist es aber auch so, daß dies Bild sprichwörtlich schon in der Welt Jesu umging, und er nimmt es auf wie die Rabbinen. Deuten wir also unseren Text in diesem Verständnis wie ein Sprichwort oder eine Sentenz: Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet. Hierin ist die tiefliegende allgegenwärtige Wechselseitigkeit der Welt ins Auge gefaßt. Da, wo wir richten, werden wir wieder gerichtet. Da, wo wir messen, werden wir mit dem gleichen Maß gemessen. Da, wo wir einem sagen, das stimmt aber bei dir nicht, da sagt er, bei dir stimmt's schon lange nicht. In diesen eigentümlichen Wechselseitigkeiten der Welt stehen wir, ob wir nun in der Wirtschaft, in der Politik, in der Wissenschaft oder im persönlichen Verkehr miteinander umgehen. Diese Wechselseitigkeit wird von Jesus in diesen Worten offenbar verneint. Laßt euch nicht ein auf diese Wechselseitigkeit. Bei den Stoikern klingt die Begründung so: Denn ihr müßt aus dem Drang dieser Welt herausgehen und müßt die Ruhe gewinnen, die die Entfernung von der Welt verleiht. Bei Jesus klingt es so: Denn ihr müßt zunächst mal mit euch selbst fertig werden. Die Selbstkritik ist der eigentliche Bezugspunkt des Handelns. Und wenn ihr nicht aus der Selbstkritik heraus handelt, dann geratet ihr in dies Wechselspiel, in dem ihr zugrundegeht. Diese Überlegung und diese Deutung des Wortes ist für uns heute sicher von einer ganz besonderen Wichtigkeit und Nähe; denn wir leben ja in einem, wie es sich nennt, kritischen Zeitalter. Wir meinen wohl mehr oder weniger alle, es sei angemessen, wenn die Schüler ihre Lehrer und die Lehrlinge ihre Meister und die Kinder ihre Eltern kritisieren. Wir meinen wohl, das menschliche Leben bestehe darin, daß man die Demokratie und daß man die Wirtschaftsführung und daß man die Autobusfahrpreise und daß man alles und alles und alles kritisiere. Und wir meinen vielleicht auch, jedenfalls meinen viele Lehrer in der Schule das, sie müßten den Kindern eben dieses beibringen, und dann hätten sie Kinder zum Leben erzogen. Aber wir wissen ja auch ganz genau, noch nie war ein Zeitalter psychisch so krank wie dieses. Und das kann ja auch gar nicht anders sein. Denn diese ganze Kritikmacherei schlägt notwendigermaßen auf den Kritikübenden zurück und macht ihn krank. Natürlich macht es ihn krank. Wer kann denn schon sein Menschsein aus der Kritik beziehen? Wer kann denn schon aus einer kritischen Haltung heraus leben wollen? Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet. Wir sind in diesem Zeitalter, in dem wir leben, in bestimmter Weise alle gebrannte Kin38

der dieses Wortes. Wir sehen, wir erfahren das, wir merken das, wie das aussieht, wenn mit dem Maß zurückgemessen wird, mit dem wir messen. Diese Auslegung unseres Wortes ist von einigen Exegeten in ihrem Recht bestritten worden. Denn sie sagen: J a , das kann ja eigentlich nicht Jesu Meinung sein. Jesus hat ja selbst die Pharisäer, die Sadduzäer und viele andere kritisiert. Er hat ja selbst kritisiert, er hat ja selbst nach bestimmtem Maß gemessen. Er kann ja auch dies stoische Verständnis dieses Wortes eigentlich nicht gehabt haben. Sein Verständnis aber, daß wir aus der Wechselseitigkeit aussteigen sollen, ist doch wohl weltfremd. Wie soll man das denn machen? Aber man kann dagegen sagen, Jesus hat es auch an anderen Stellen gesagt, daß wir aus dem Wechselspiel des Lebens aussteigen sollen. Er sagt: Grüßt nicht, die euch wiedergrüßen, ladet nicht die ein, die euch wieder einladen. Er hat von der Liebe gesprochen, die ohne die Gegenliebe als Liebe souverän da ist. Also es wäre durchaus denkbar, daß er den Menschen veranlassen will, aus dem Wechselspiel des Lebens auszusteigen. Man hat gemeint, ja vielleicht hat Jesus in diesem Wort gemeint: Richtet nicht, das heißt, der Richter verfügt die Strafe, und er verfügt die Belohnung. Das heißt, ihr dürft nicht die Menschen soweit vergewaltigen, daß ihr Ihnen Strafe und Belohnung zuerkennt. Aber auch das ist wohl nicht so ganz einleuchtend. Die Erklärung, die Jesus mit dem Gleichnis zufügt, sagt ja von dieser Auflösung der Wechselseitigkeit, daß sie in Richtung auf die Selbstkritik erfolgen müsse. Wenn es schon als sehr schwer erscheinen muß, diese Mechanik der Wechselseitigkeit zu meiden, so ist es ja erst recht schwer, diese Selbstkritik zu üben. Wieweit kann der Mensch den Balken in seinem eigenen Auge denn erkennen? Aber, so schwierig das „Erkenne dich selbst" auch ist, es ist gewiß sehr einleuchtend, die Kritik an der Umwelt auf die Selbstkritik abgelenkt zu sehen. Einleuchtend ist das. Die beiden Teile des Textes passen so auch gut zusammen. Ob diese Deutung freilich den Sinn der Verse im Munde Jesu trifft, ist nicht so einleuchtend. In dieser Deutung klingt der Text immer noch mehr nach einem Weisheits-Lehrer als nach Jesus. Sehen wir die zweite Möglichkeit an, dies Wort auszulegen. Die zweite Möglichkeit setzt so an: In dem Worte, richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet, kann die Passivform: „gerichtet werdet" eine im damaligen Sprachgebrauch häufige und gewöhnliche Umschreibung der Erwähnung Gottes sein. Das heißt, wir müßten lesen: Richtet nicht, damit Gott euch nicht richtet; denn mit welchem Gericht ihr richtet, wird euch Gott richten, und mit welchem Maß ihr 39

messet, wird Gott euch messen. Da sieht das ganze Wort plötzlich anders aus. Jesus hat von dieser Sprachwendung, von der Aussparung des Gottesnamens und von dieser Übertragung ins Passiv häufig Gebrauch gemacht. Zum Beispiel die erste Bitte des Vaterunsers: Geheiligt werde dein Name, heißt so: Heilige deinen Namen, o Gott, an uns. Jesus hat von dieser Umschreibung häufig in seinen Worten Gebrauch gemacht. So könnte das auch hier sein. Was heißt das Wort dann? Das heißt, daß wir uns in unserem Weltverhalten darüber klar sein müssen, daß auf unsere Taten von Gott Tatfolgen zukommen, die in dem Maße und in der Art und Weise mit uns umgehen, wie wir mit der Welt. In diesem Falle heißen diese Worte nicht: Laßt die Wechselwirkung der Welt sein, sondern die Wechselwirkung der Welt ist auf Gott ausgedehnt. Gott selbst ist in dieser Wechselwirkung am Werk. Er behandelt den Tapferen tapfer und den Feigen feige und den Bösen böse und den Guten gut, wie das Psalm 18 (v. 25—28) sagt. Dies ist eine im alttestamentlich-israelitischen Bereich wohlbekannte selbstverständliche Beschreibung der Gerechtigkeit Gottes. Gerechtigkeit Gottes besteht unter anderem eben auch darin, daß dieser Gott uns das zufügt, wie wir in der Welt sind und was wir der Welt zufügen. In dieser Glaubensfassung ist also nicht nur gesagt, daß Gott jedem das vergilt, was er getan hat in seinem Leben. Paulus hat das ja in 2. Korinther 5, 10 und an anderen Stellen immer wieder in Hinsicht auf das Endgericht betont. Hier ist vielmehr gemeint, daß Gott in dem engen Zusammenhang von Tat und Tatfolge handelt. Gott ist es, der die große eherne Wechselseitigkeit der Welt in der Hand hat und regiert! Aber, wenn es so ist, daß wir im Glauben meinen, Gott sei es, der das Geschehen der Welt überhaupt und im Ganzen fügt, dann kann diese Einsicht wohl auch nicht vermieden werden, daß es nämlich letztlich Gott ist, der aus der Welt auf mich zurückkommt. Wenn im ersten sprichwörtlichen Verstand die Zumutung an uns unsagbar groß war, nämlich auszusteigen aus dieser Wechselbestimmung der Welt und alles auf die Selbstkritik zu stellen, so ist in diesem zweiten Fall die Mitte unseres Daseins vor Gott angesprochen. Die uns immer wieder selbstverständliche Meinung, Gott sei der, der vergibt, erscheint hier in einem anderen Lichte: Gott ist der, der aus dem Leben auf uns sieht und das auf uns zurücklenkt, was wir der Welt antaten. Richtet nicht, damit Gott euch nicht richte! Dies Wort ist uns in diesem Verständnis ja doch sehr fremd. Ja, wenn vom Vergeben die 40

Rede ist, dann sind wir rasch dabei. Zum Vergeben erkennen wir Gott gerne an. D a riskiert man nichts. D a kann man so beruhigt weitermachen, wie man es bisher machte. Und es scheint auch in der christlichen Gemeinde damit so zu sein, daß die Christen vor sich hin sündigen können — und es passiert scheinbar gar nichts. Von der Gemeinde aus passiert jedenfalls nichts. Aber nun mißt Gott uns mit dem Maß, mit dem wir messen? Das ist wohl ein hartes Wort. Das Gleichnis freilich paßt zu dieser Auslegung inhaltlich nicht so gut wie in der ersten sprichwörtlichen Auslegung. Das Gleichnis steht jetzt für sich da. Und wenn wir nun dies kleine Gleichnis so ganz für sich lesen und aus sich allein bedenken, dann hören wir einen neuartigen Klang an ihm. Nun heißt es so: Du siehst den Splitter im Auge deines Bruders, und du sprichst zu ihm: Komm her, ich will den Splitter aus deinem Auge nehmen. Du Heuchler, denke an den Balken in deinem Auge. Jetzt also klingt dies Gleichnis als die spontane Hilfeleistung, mit der wir auf unsere Welt zugehen und sagen: Den Splitter aus deinem Auge, den hol ich dir eben raus. Aber, so sagt das Gleichnis, diese Hilfeleistung kann nicht in der Naivität des sich selbst gegenüber Unkritischen geschehen. Sondern solche spontane Hilfeleistung ist nur wahr, wo sie sich durch tiefe Selbstkritik hindurch vollzieht. Es ist also nicht so einfach mit der Hilfe in der Welt und an der Welt. Und nicht jeder ist geschickt zu solcher Hilfe. Sondern nur der, der mit sich selbst ins Gericht gegangen ist, kann wirklich Hilfe leisten. Das ist eine sehr tiefe, auch sonst im Evangelium zu findende Bestreitung der Einfachheit von Hilfe am anderen. Zwar kann man dem anderen den Splitter aus seinem Auge holen, aber dieses spontane Tun wird vollmächtig nur da, wo es aus der Buße heraus geschieht. Dieses elende oberflächliche Almosenverteilen, dieses nur aus dem Überschuß schöpfen und dann von Hilfe reden. Wenn wir an die großen Hilfeleistungen unserer Gegenwart denken, an Brot für die Welt und diese ganzen Dinge, dann meinen wir ja wohl, das Handeln der Reichen, der sog. reichen Nationen, der Industrienationen an der dritten Welt fruchtet daher nicht, weil diese Industrienationen meinen, wirkliche Hilfe sei Geld verteilen. Zu wirklicher Hilfe gehört aber nach unserem Wort noch etwas ganz anderes: Den Balken im eigenen Auge nämlich sehen. Wirkliche Hilfe ist immer noch tiefer veranlagt als Splitter aus dem Auge ziehen. Auch rein somatische Hilfe, z. B. medizinische Hilfe, hat ihre Tiefe in der geistigen und seelischen Haltung dessen, der helfen will, zu sich selbst! Sonst ist das keine „ H i l f e " . Beide Seiten unseres Textes sehen unter dieser Voraussetzung sehr an41

ders aus, als da, wo wir sie sprichwörtlich erklärten. Bei der sprichwörtlichen Erklärung war es das Herausgehen des Menschen aus der Wechselseitigkeit der Welt. Und nun ist es die Konfrontation mit Gott. Und es ist die Konfrontation mit sich selbst als dem, der, zur Hilfe an der Welt bereit, sich selbst zunächst einmal finden muß. Freilich, bei dieser zweiten Deutung fallen die beiden Hälften unseres Textes gleichsam auseinander, und wir müßten hierzu schon sagen können, wieso denn Matthäus diese beiden Verse zusammengeschlossen hat. Und damit stehen wir vor der dritten Ebene der Erklärung. Matthäus und seine Gemeinde haben diese Worte zusammengestellt, und wir können auch sagen, warum sie diese Worte zusammengestellt haben. Es geht in diesen Worten nach der Meinung der Gemeinde des Matthäus um die „Verwaltung des Büß Wortes" in der Gemeinde: Die „Verwaltung des Bußwortes". Die Gemeinde verwaltet das Büß wort Gottes an der Welt. Wie geschieht das eigentlich? Das geschieht ja scheinbar so, daß die Gemeinde vor die Welt hintritt und sagt: du böse Welt, nun tu Buße. Ich spreche dir das Gericht zu. So klingt es vielleicht. Aber die Gemeinde kann den Bußruf ja nur so erheben: Das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen, darum ist Buße am Platz. Das Evangelium ist aufgeleuchtet, darum ist Buße die andere Seite der Sache. Denn das Johannes-Evangelium hat ja sehr deutlich gesagt: Jesus sagt, wenn ich nicht gekommen wäre, so hättet ihr nicht gewußt, was Sünde ist. Sünde, was das heißt, weiß man erst da, wo er kommt. Buße, was das heißt, weiß man erst da, wo das Reich nahe ist. Das heißt, „Verwaltung des Bußworte" ist Verwaltung der frohen Botschaft, ist Verwaltung der Reich-Gottes-Botschaft. Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet. Es geht um das Verkündigen der frohen Botschaft und nicht um die Verkündigung des Gerichtes. Aber wo die frohe Botschaft verkündigt wird, da kann, könnte Buße geschehen, wenn die Gemeinde selbst begreift, wie groß der Balken in ihrem eigenen Auge ist. Das heißt, das Gleichnis wird jetzt konstitutiv für die Auslegung der Worte: Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet. Das Gleichnis nämlich heißt: Und wenn du, Gemeinde Christi, der Welt das Evangelium verkündigst, dann liegt die Vollmacht dieser deiner Verkündigung darin, daß du selbst in der Buße stehst, daß du den Balken in deinem eigenen Auge siehst. Sonst kannst du auch den Splitter aus dem Auge der Welt nicht ziehen. Das ist ein hartes Wort für eine Kirche, die immerzu frohe Botschaft verkündigt und deren Verkündigung so leer bleibt. Warum bleibt sie leer? Nach diesem Text offenbar darum, weil diese die 42

frohe Botschaft verkündigende Kirche nicht in der Buße steht. So müßten wir sagen nach unserem Wort. Ja, das leuchtet auch wohl ein, wenn wir die großen Worte der Kirchen an die Welt hören und wenn wir diese machtvollen Kirchen, diese großen Weltbünde, die auf gleicher Ebene mit politischen, wirtschaftlichen Zusammenfassungen agieren, ansehen. Das ist wohl auch so, wenn wir in unsere Gemeinden hineinsehen und erwägen, was denn nun unter uns als Gemeinde an Selbsterkenntnis auf dem Wege ist. Es ist die Meinung der Gemeinde des Matthäus gewesen, daß diese beiden Worte: Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet, und das Gleichnis von dem Splitter und dem Balken zusammengehören als die Verwaltung des Bußwortes der Gemeinde an die Welt. Es ist die Meinung, diese Verwaltung des Bußwortes der Gemeinde geschieht aus der tiefen Buße der Gemeinde selbst. Da liegt die Vollmacht der frohen Botschaft, daß sie von Menschen gesagt wird, daß sie von Menschen verwaltet wird, denen man es anmerkt, sie wissen um das Gericht an ihnen selbst, sie wissen um die eigene Schuld, sie wissen um die Buße. Die drei Ebenen der Auslegung unseres Wortes sind unendlich verschieden. Und gleichwohl scheint mir, sie gehören alle drei eigentlich zusammen, und sie haben alle drei etwas miteinander zu tun, und man kann sie alle drei so durcheinander sich erklären lassen. Dazu gehört auch das sprichwörtliche Verständnis unserer Worte, das den Christen aus dem Munde Christi vor die Frage stellt, ob eigentlich das selbstverständliche Mitlaufen in der Wechselseitigkeit der Welt — wie du mir, so ich dir — angemessen sei, und ihn auf die Notwendigkeit von Selbstkritik, von Selbsterkenntnis wohl zunächst einmal und dann von Selbstkritik verweist. Dieser Sachverhalt ist für das Handeln Gottes an uns, die wir an der Welt handeln, richtungweisend oder bekommt durch das Handeln Gottes an uns in unserem Welthandeln den richtigen Aspekt. Wir sind in dem Ganzen immer als Christen da, die wir vor der Welt als Menschen leben, die in ihrem Dasein und mit Worten die frohe Botschaft verkündigen. Und indem wir so vor der Welt sind, sind wir in diese Verwaltung des Bußwortes aus dem Mit-sich-selbstins-Gericht-Gehen angewiesen. Das ist in diesen drei Auslegungen, wenn man sie in eins übersieht, der verborgene Kern, die verborgene Bitte nach der Vollmacht in unserem Dasein. In allen drei Auslegungen wird von der Frage der Vollmacht geredet, wie Christen nämlich in der Welt vor der Welt dasein können. Und es werden uns in diesem Text Wege aufgetan zu dieser Vollmacht. Erstens der Weg, daß wir 43

die Wechselseitigkeit dieser Welt nicht so ernstnehmen, weil sie nicht das Letzte ist; zweitens der Weg, daß wir uns die Hilfeleistung an der Welt durch ein mit uns selbst ins Gericht Gehen fruchtbar machen; und drittens der Weg, daß wir die frohe Botschaft aus der Gewißheit heraus, daß wir selbst Sünder sind, zu verkündigen haben. In allen drei Bereichen werden uns ganz praktisch Türen zur Lösung der Frage aufgetan: Wie kommt es eigentlich, daß der christlichen Verkündigung heute die Vollmacht fehlt? Sie fehlt deshalb, weil wir offenbar als Christen nicht in der Buße sind. Und das ist eine Sache, die an uns liegt. Weil wir unsere Hilfeleistungen nicht gleichsam zurückgebunden sein lassen an unser eigenes Versagen, und weil wir die Wechselseitigkeit dieser Welt nun doch als das Letzte nehmen. Drei Wege sind dies, die, wie ich meine, von uns beschritten werden könnten und die uns den Weg eröffnen könnten zur Vollmacht, damit die frohe Botschaft gehört werden kann. Und darauf kommt es denn in diesen wie in den Texten der Bergpredigt überhaupt an. Wir müssen diese Texte hören als ein Stück Evangelium, als ein Stück frohe Botschaft. Das heißt denn also: Liebe christliche Gemeinde am Ende des 20. Jahrhunderts, ihr seid in der tiefen Bedrückung, daß die christliche Botschaft eurer Welt nicht mehr plausibel ist. Ihr macht dafür gesellschaftliche Zwänge und wirtschaftliche Zwänge, das heißt Bildungszwänge und Aufklärungszwänge verantwortlich. Dies alles ist falsch, schlicht falsch. Diese fehlenden Plausibilitäten sind gar keine Zwänge. Ihr braucht daher gar nicht betrübt einherzugehen in dem „tragischen" Bewußtsein, ach, das Christentum ist ja wohl passé. Sondern es gibt einen Weg zu dieser Vollmacht und Plausibilität der Botschaft. Dieser Weg liegt ganz selbst an dir, liebe christliche Gemeinde. Und wie heißt dieser Weg? Dieser Weg heißt, daß du es wagst, die frohe Botschaft erst einmal auf dich zu beziehen. Dieses Selbstbeziehen der frohen Botschaft aber heißt: Ich armer sündiger Mensch. Hier geht es los. Hier wächst die Vollmacht. Genau an dieser Stelle, wo das Evangelium denn ausgeteilt wird, so wie wir es hier austeilen; wo wir es uns gesagt sein lassen können, daß die Freude der frohen Botschaft wirklich heute für uns da ist. Wo wir das wagen ernst zu nehmen, da heißt es: Das große herrliche freudige Ereignis sollte für mich dasein? Ach, dazu bin ich ja viel zu schuldverfallen! Genau hier fängt es an. Hier sitzt der Grund der Möglichkeit von Vollmacht. Dies aber ist eine Zukunft eröffnende Einsicht: Wir brauchen nicht böse Gegner des Christentums, die bösen Zeiten oder die Säkularisation oder die naturwissenschaftliche Lebenssicht anzuklagen. Wir 44

brauchen nur uns selbst anzuklagen. Diese Einsicht eröffnet der Botschaft des Evangeliums ihre Zukunft; denn wir können ja vielleicht einsehen, daß unsere falsche und, wie Jesus sagt, heuchlerische Stellung zur Welt es ist, die der Botschaft die Vollmacht nimmt. Wir könnten ja vielleicht mit uns ins Gericht gehen, denn das Reich Gottes ist uns ja wirklich nahe, und Gottes Liebe ist ja wirklich für uns da.

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Ein Christ sein Exaudi 11. Mai 1975 1. Petrus 4 , 7 - 1 1 Nahe aber ist das Ende aller Dinge. So seid nun vernünftig und nüchtern zum Gebet. Vor allen Dingen habt untereinander anhaltende Liebe; denn die Liebe deckt der Sünden Menge. Seid gastfrei untereinander ohne Murren und dienet einander ein jeglicher mit der Gabe, die er empfangen hat, als die guten Haushalter der mancherlei Gnade Gottes. So jemand redet, daß er's rede als Gottes Wort, so jemand Hilfe leistet, daß er es tue als aus dem Vermögen, das Gott darreicht, auf daß in allen Dingen Gott gepriesen werde durch Jesum Christum, welchem sei Ehre und Gewalt von Ewigkeit zu Ewigkeit.

Diese Epistel auf den heutigen Sonntag Exaudi steht schon im Bereich und im Klang des pfingstlichen Aufganges des Geistes. So wie das Evangelium, das wir vom Altar hörten aus Johannes (15, 26—16, 4), schon von dem „Parakleten" redet, den Jesus senden wird nach seinem Weggang. So steht der Sonntag Exaudi in diesem Aufgang des Geistes Gottes. Der 1. Petrus-Brief ist eine Sammlung von Taufpredigten aus der alten Christenheit. Die Predigt, aus der dieses Stück, das wir gehört haben, stammt, beginnt am Anfang des 4. Kapitels und redet davon, daß die Hörer ihr Leben nun lange Zeit genug dahingebracht hätten im Heidentum und in seinen die Zeit und das Leben verzehrenden Unsinnigkeiten. Sie seien nun zur Taufe gekommen, und es sei Zeit, daß sie sich des Christentums befleißigten. Was das Christentum eines Christen sei, das sagt dann diese Taufpredigt in unseren Versen. Sie antwortet also auf die Frage, was ist das, ein Christ? Auf diese Frage sagt unsere Predigt zunächst einmal: nahe aber ist das Ende aller Dinge. Dieser Ruf war zur Zeit Jesu, wie in diesem Text, die Verkündigung des Gottes Israels als des nahen Gottes. Das, was die alttestamentlichen Propheten verkündigt haben, Gott ist nahe, darum geht es der Verkündigung Jesu, und darum geht es der Predigt der Kirche. Nahe ist Gott als das Ende, als das Ziel, als der Sinn aller Dinge. Das Ende — dieses Wort, das im Text für Ende 46

steht — ist ebenso Ziel und Bestimmung wie Sinn. Gott, das Ende aller Dinge — das heißt: alle Dinge dieser Welt und wir selbst leben in der hohen Bestimmung auf ihn hin und sein Leben. Das ist ja die frohe, die christliche Botschaft. Weiter ist diese Botschaft nichts. Dieses, daß wir nicht dem Tod und der Zerstreutheit und der Weltverfallenheit gehören, sondern daß wir und unsere Welt in der Bestimmung zu diesem hohen Gut, Gott, leben; daß unser Leben den Sinn hat, daß es nicht um sich selbst kreist, daß es sich nicht in sich selbst verzehrt, daß es nicht in sich selbst zugrundegeht, sondern daß es für diesen Gott, den letzten Grund und die letzte Grenze alles Daseins leben kann. Darum faßt sich die christliche Botschaft hier in dieser Taufpredigt zusammen in dem: Nahe aber ist das Ende aller Dinge! Die Nähe dieses Gottes, die bedrängende Nähe seiner Gegenwart in aller Welt ist der Grund und die Grenze jedes Geschehens und jedes Gegenstandes, mit dem wir es zu tun haben, ist Grund und Grenze jedes Ereignisses dieser Welt. Das ist seine Nähe, der zu entgehen wir nicht in der Lage sind. Was heißt das? Wenn man es denn einmal wagt, diese Tatsache ins Auge zu fassen, daß wir und unsere Welt nicht in sich selbst stehen, daß wir und unsere Sorgen nicht letztgültig sind, daß wir und unsere Leiden nicht das letzte Wort dieser Welt sind, sondern Gott — wenn wir das einmal wagen ins Auge zu fassen, dann, sagt unser Text, treten wir ein in die Vernünftigkeit und in die Nüchternheit, die bezeichnet ist durch das Gebet. Gebet, das heißt: die Vernünftigkeit und die Nüchternheit, die einem Menschen zuwächst, wo er es denn einmal wagt, seine Leiden nicht für das Letzte, sondern Gottes Größe für das Letzte zu halten. Diese Vernünftigkeit und Nüchternheit heißt Gebet. Was heißt Gebet? Gebet heißt, das Dasein, unser Dasein in all den kleinen und großen Begebenheiten, in all den Herrlichkeiten menschlichen Daseins wie in all seinem Kummer und seiner Kümmerlichkeit auftun zu Gott, aufgetan sein lassen zu seiner hohen Gegenwart, zu seiner Nähe. Wir müssen das jetzt auch so herum sagen: wenn wir denn das Nahesein Gottes einmal wagen auf uns in allem und jedem, worin und wozu wir leben, zu beziehen, dann können wir alles und jedes unseres Daseins aufgetan sein lassen zu diesem Gott. Das heißt Vernünftigkeit, das heißt Nüchternheit. Christliches Gebet hat also nichts zu tun mit hohen enthusiastischen Emotionen. Aber es hat sehr viel zu tun mit der nüchternen Erkenntnis, was es denn eigentlich mit unserem Leben sei, mit seinen Schönheiten und mit seinen Schrecklichkeiten. Die Nüchternheit, die weiß, 47

diese Schönheiten und diese Schrecklichkeiten sind nichts Letztes. Das Letzte ist Gott. Diese Schönheiten können mich beseligen, und diese Schrecklichkeiten können mich erschrecken, aber sie können mich nicht umbringen; denn er, Gott, ist der Grund und die Grenze meines Daseins. Diese Nüchternheit bezieht sich nun nicht etwa nur auf die Riesenereignisse der Welt. Sie geschieht vielmehr gerade da, diese Nüchternheit, wo wir alle die erfreulichen wie ermüdenden Kleinigkeiten unseres Daseins durchzustehen haben. Das Leben geschieht ja immer wieder als dasselbe — jeden Tag, sei es im Hause mit den Kindern, sei es in unserem Beruf. Auf diese Kleinigkeiten kommt es an, die einerseits so innig erfreuen und andererseits so maßlos langweilig sind. Diese Kleinigkeiten aufgetan sein lassen zu der Hoheit und Größe des Gottes, der der nahe Grund unseres Daseins ist, das ist die Nüchternheit. Jetzt vermögen wir diesen Kleinigkeiten den rechten Platz einzuräumen, wo sie hingehören. Sie gewinnen nicht mehr die Letztwertigkeit, die uns um's Leben bringt. Sondern sie sind in der Vorläufigkeit, wohin sie gehören. Wenn das so ist, sagt unser Text, dann geschieht das Christsein in drei Momenten oder kann das Christsein an drei Momenten wahrgenommen werden: Das Erste ist die Liebe, das Zweite ist die Gastfreundschaft, das Dritte ist das gegenseitig einander Dienstbarsein. Das Erste, die Liebe, erwähnt unser Text in einer sehr besonderen Weise. E r erinnert darin, was er von dieser Liebe sagt, daß sie nämlich der Sünde Menge deckt, an jenes Jesus-Wort in Lukas 7, wo Jesus zu der merkwürdigen Frau, die da zu ihm kommt und ihm die Füße salbt, sagt, ihr sei viel vergeben, denn sie habe viel geliebt; wem aber wenig vergeben werde, der liebe wenig. Unser Text redet von dieser Liebe, die es mit der Vergebung zu tun hat. Das ist verständlich in einer Taufansprache. Denn den Menschen, die diese Predigt hörten, waren eben gerade ihre Sünden vergeben, und zwar die Sünden ihrer heidnischen Vergangenheit. Und mit dieser Vergebung wachte für sie die Möglichkeit zu lieben auf. Es ist nicht nur die Meinung des 1. Petrus-Briefes, sondern es ist wohl die Meinung des Neuen Testamentes schlechthin, daß die Fähigkeit zu Liebe in der Vergebung der Sünden gründet. Warum? Darum, weil der, der sich um sich und seine eigene Schuld immer wieder als der herumdreht, der diese Schuld aufheben will und in seiner ganzen Selbstgerechtigkeit die Welt von sich und aus sich selbst in der Welt verbessern will, weil so ein Mensch verstellt ist für den anderen, denn er ist nur mit sich selbst befaßt. D a aber, wo uns unsere Schuld im Glauben und Wort Gottes abgenommen ist, da geht die Tür auf und kann die Tür aller48

erst aufgehen für den anderen, der da neben uns lebt. Möglichkeit von Liebe ist Wissen, meine Schuld kann mich nicht mehr verdammen. Möglichkeit von Liebe ist Beseitigung der Selbstgerechtigkeit durch die Vergebung hindurch. Wir Christen haben es nicht nötig, in der Selbstgerechtigkeit uns immer neu als die vor der Welt darzustellen, die irgendwas besser können als andere Leute, oder die sogar in der Lage sind, etwas oder alles gut zu machen. Denn wir wissen um den Trost, um das helle Licht der Vergebung, nicht nur vorgestern, nicht nur gestern, auch morgen. Wir vermögen uns an das Leben zu wagen, ohne in der ständigen Angst dasein zu müssen, na also, vielleicht geht's schief. Vielleicht mach' ich was verkehrt. Übertrieben möchte man sagen: Laß es doch verkehrt gehen, denn die Vergebung Gottes ist die grundlegende Gewißheit unseres Daseins. Wenn das so ist, geht die Möglichkeit der Liebe, das heißt, die Möglichkeit, den anderen zu sehen, hier allererst auf. Ohne Vergebung geschieht das nicht. Dann bleiben wir notwendigermaßen in der Besorgtheit um das, was wir nun alles endlich schaffen. Vielleicht kann man dies auch auf die moderne Litanei vom Leistungsdruck anwenden. In der Vergebung aber, da wächst Liebe. Diese Sache hat eine Kehrseite. Wenn es denn in unserem Leben, wenn es denn in unserer Gemeinde, wenn es denn in unserer Welt so wenig Liebe gibt, wie es tatsächlich der Fall ist, dann gibt es unter uns ja wohl wenig Vergebung. Diese Rückfrage ist notwendig. Und das kann man ja wohl auch ohne Unrecht zu tun ganz allgemein sagen, daß das Bewußtsein von der Lebendigkeit der Vergebung wohl noch in keiner Zeit so gering war, wie in der unseren. Darum ist wohl auch die Angst das charakterisierende Symbol dieser unserer Zeit geworden. Darum gibt es wohl so wenig Liebe unter uns. Die Dinge hängen zusammen. Und wenn man nach der Liebe fragt, und wenn man die Liebe sucht, dann soll man nicht die Liebe gebieten wie ein Gesetz, sondern dann soll man nach der Vergebung fragen und die Vergebung austeilen. Dann wächst Liebe. Neben dieser Liebe steht im 1. Petrus-Brief die Gastfreundschaft als das Zweite, eine Sache, von der wir heute nicht mehr so sehr viel verstehen, weil sie nicht mehr so wichtig und dringlich ist wie in jener Zeit. In jener Zeit, also um 100 nach Christus, wurde nicht viel weniger gereist als in der heutigen Zeit. Aber man reiste damals nicht mit irgendwelchen Reisegesellschaften, sondern man reiste mit Hilfe von Gastfreunden. Wenn man an das Tor einer Stadt kam, um zu übernachten, dann mußte man der Torwache sagen, zu welchem Gastfreund in welcher Straße man gehe. Sonst kam man gar nicht erst 49

herein. Das heißt, man mußte schon ein Quartier per Gastfreundschaft haben. Und man hatte in den Städten, die man zu bereisen pflegte, sei es aus geschäftlichen oder anderen Gründen, den Gastfreund, von dem man wußte und der auf seinen Reisen dann bei einem selbst war. Dieses hatte zumal in der christlichen Gemeinde eine große Bedeutung, weil die wandernden Apostel, Prediger und Evangelisten nicht nur, sondern auch die zu dieser Zeit schon beginnenden flüchtigen Christen sich so durch die einzelnen Gemeinden hindurchwanderten. Damit kam eine hohe Anforderung von wandernden Christen und Aposteln auf die Gemeinden zu. In den ganzen frühchristlichen Briefen erscheint die Klage über die mangelnde Gastfreundschaft immer wieder und auch die Ermahnung, nun die vielen Leute, die da unterwegs waren als vertriebene Christen oder als Evangelisten, Propheten, Apostel oder was es alles gab, aufzunehmen. Das war eine für den damaligen Gemeindezusammenhalt konstitutive Sache. So wie wir heute sagen würden, neben Wort und Sakrament ist die dritte nota ecclesiae, das dritte Kennzeichen der Kirche, die Diakonie. Den Platz, den heute die Diakonie einnimmt, nahm damals die sogenannte Gastfreundschaft ein. Das heißt also, diese Liebe, von der geredet ist, faßt sich zusammen in den Diensten an dem Nächsten, dem ich als einer, den ich vielleicht kenne, vielleicht auch nicht kenne, verbindlich verpflichtet bin. Und das Dritte ist dies: Dienet einander mit den Gaben, den Charismata, d. h. den Gaben des Geistes, und zwar ihr, als die Hausverwalter der mannigfaltigen Gnade Gottes. Das Dritte ist also dies, daß die Christen in der Gemeinde und an der Welt handeln als Leute, die ein Charisma haben. Dies Wort pflegen wir ja heute auch zu gebrauchen. Paulus verwendet es noch für die hohen Gaben des Geistes als Prophetie, Zungenrede und anderes. Um diese Zeit sind die Charismen christliche Eigenschaften geworden und charakterisieren die Eigenschaften, die der Christ unter dem Vorantritt der Gnade hat. Was sind das für Eigenschaften? Das ist die Ruhe und Gelassenheit des Menschen, der weiß, es kann ihm nichts geschehen, als was Gott hat ersehen und was ihm dienlich ist. Diese Ruhe, diese Gelassenheit ist die Sache des Christen im Geist. Und solche Gabe ist sodann die Heiterkeit, in der der Christ in der Welt sein kann als der, der die großen Wundertaten Gottes nicht nur mal gehört hat, sondern der sie herzlich lieb hat und der mit der Heiterkeit dessen lebt, der um den Endzusammenhang seines eigenen Lebens und der Welt nicht besorgt zu sein braucht, sondern der im Fluchtpunkt seines eigenen und der Welt Dasein diesen Gott stehen sieht, diesen Gott, der

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das Verlorene sucht und auch noch das Letzte. Die Heiterkeit, die damit einen Menschen umfängt, ist die Gabe dieses Geistes. Und diese Gelassenheit und diese Heiterkeit fassen sich immer wieder zusammen zu der Festigkeit, die der Mensch hat, der um sein Sterben nicht besorgt zu sein braucht, sondern der sein Leben in der unendlichen Bestimmung des Lebens Gottes aufgehoben weiß. Diese Festigkeit, die da entsteht, die nicht von den allfälligen Strömungen — nun, man ist dann mal krank, und dann ist man in beruflicher Gefährdung, und jedes Mal ängstigt man sich, weil es schlimm enden könnte, so pendelt man denn dahin — lebt, sondern die dies alles nicht nötig hat, sondern die in den Gefährdungen des Daseins und in der Todesbedrohtheit des Lebens um die herrliche Größe des Lebens Gottes weiß, die auf dies menschliche Leben wartet. Und darin entsteht die Festigkeit, die zu jener gelassenen Ruhe und zu jener Heiterkeit dazu gehört. Das sind die Gaben, mit denen Christen einander lieben, und nicht nur einander, sondern mit denen sie ihrer Welt dienen. In dieser Welt der unendlichen Unruhe, und in dieser Welt der verzweifelten Ernsthaftigkeit, und in dieser Welt des unendlichen Umgetriebenseins dienen die Christen als die, die in dieser Ruhe, dieser Heiterkeit und dieser Festigkeit dazusein vermögen. Unser Brief faßt diese drei Dinge, die Liebe aus der Vergebung und die Gastfreundschaft als Grundlage der christlichen Gemeinde und die Gaben des Geistes, mit denen der Christ der Welt dient, zusammen in zwei Ausprägungen. Er sagt: Erstens, wenn jemand redet, daß er's rede als Gottes Wort. Und zweitens, so jemand Hilfe leistet, daß er's tue als aus dem Vermögen, das Gott darreicht. In diesen beiden Ausprägungen faßt der Prediger unseres Textes das, was er am Anfang über das Gebet gesagt hat, noch einmal zusammen. Das ist Gebet, daß all unser Reden verantwortet sei als vor Gott, daß all unser Handeln aus dem Vermögen als dem Vermögen Gottes komme. Was ist das dock für eine Geborgenheit und Freiheit, in der Christen dasein können in der Welt, wo alle Vorläufigkeiten und alles tastende Wagnis unseres Redens und unseres Handelns sich geborgen wissen kann in diesem Gott. Was ist das doch für eine unglaubliche Freiheit, in der Christen da sind, wo alle die Begrenztheiten unseres Aussagevermögens und alle die Begrenztheiten unseres Handelns aufgetan sind in der letzten Freiheit Gottes. Und der letzte Halbvers kehrt ganz an den Anfang zurück und sagt vom Ziel des Christendaseins: auf daß in allen Dingen Gott gepriesen werde durch Jesum Christum, welchem sei Ehre und Gewalt von 51

Ewigkeit zu Ewigkeit. Das heißt, über diese unendliche Freiheit des Daseins vor Gott kehren wir mit dem Ende des Textes an den Anfang zurück: Der nahe Gott ist das Ziel. Daß er gepriesen werde, daß er vergegenwärtigt werde, daß er dasein kann in der Welt, das ist das Ziel. Ein unendliches Ziel. Aber dazu sind wir Christen da. Dazu sind wir offenbar da, daß er — Gott — in der Welt gepriesen und vergegenwärtigt werde, daß er dasein kann in der Welt: Er durch Jesum Christum; Er durch Jesum Christum heute. Denn er, Gott der Heilige Geist, will Wohnung nehmen in uns. Und indem er Wohnung nimmt in uns, wissen wir: Nahe ist das Ziel wie der Sinn aller Dinge. Und die Nüchternheit des Gebetes kann Tat werden als Liebe wie als die Heiterkeit, in der der Glaube vor der Welt da ist, damit Gott in Jesus Christus gepriesen werde von Ewigkeit zu Ewigkeit.

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B JESUS V O N N A Z A R E T H , GOTTES GEGENWART FÜR D I E WELT

Gnade? Gott wird Mensch S. n. Weihnachten 28. Dezember 1975 Hebräer 13,9 Lasset euch nicht mit mancherlei und fremder Lehre umtreiben. Denn es ist ein köstlich Ding, daß des Menschen Herz fest werde, welches geschieht durch Gnade, nicht durch Speisen, davon keinen Nutzen haben die, die damit umgehen.

Der heutige Sonntag steht zwischen dem Weihnachtsfest auf der einen Seite — also dem Gott, der in väterlicher Liebe seinen Sohn in diese Welt sendet — und Neujahr, Sylvester — d. h. also dem Gott, der diese Zeit fügt und dessen Fügen wir nie begreifen und dessen Schreiten das Schreiten der Zeit und des Schicksals ist. Zwischen diesen beiden Festen, zwischen diesen beiden Sichten Gottes steht dieser Sonntag. Er stellt uns auf die Mitte zwischen der offenbaren Liebe Gottes und dem geheimen Walten des die Zeit fügenden großen unbegreiflichen Herrn. Unser Text für diesen Sonntag ist ein kleines in sich geschlossenes Stück im 13. Kapitel des Hebräer-Briefes. Unser Text enthält eigentlich alles in sich. Er braucht kein Davor und Danach, sondern er wird aus sich selbst heraus verstehbar. Zunächst die Feststellung: Fremde Lehre, diese und jene Parole treibt die Menschen um. Sodann: Es ist ein köstlich Ding, daß des Menschen Herz fest werde, welches geschieht allein aus Gnade. Und drittens: Aber nicht durch Speisen, nicht dadurch, daß man dies und das und jenes tut, daß der eine sagt, ich mach' es mit Askese, und der andere sagt, ich mach's mit Tai Ginseng, dadurch nicht, sondern allein durch Gnade. Das heißt, der Rahmen dieses Verses, der große Rahmen ist das: glaubt ja nicht, daß ihr die Früchte des Glaubens in eurem Leben haben könnt, indem ihr dies und das tut, irgendwelchen Parolen nachlaufen, Askese üben, kein Fleisch essen oder wer weiß, was man alles machen kann: sondern allein durch Gnade. Hier ist jenes große, im Herzstück der Reformation stehende Einsehen vorgeformt: sola gratia, allein durch Gnade. Diese große Botschaft der Reformation klingt dann ja immer wieder so im evangelischen Christendasein: Ich brauche nichts zu machen, 54

das kommt ja alles durch Gnade. Was soll ich jeden Tag die Beziehung zu Gott im Gebet suchen? Was soll ich immer wieder in der Bibel lesen? Unsinn, das machen vielleicht Katholiken. Wir nicht, wir haben das nicht nötig: alles durch Gnade. So klingt das ja immer wieder. Aber so ist es nicht gemeint. Es ist so gemeint, daß diese Gnade bereit ist, sich finden zu lassen. Und mit Weihnachten und dem, was Jesus von Nazareth getan hat, ist das zur endgültigen Gewißheit geworden, daß die Gnade Gottes bereit ist, sofern wir sie finden wollen. Und darum geht es denn ja wohl. Der Rahmen ist diese große Botschaft von der Gnade, die nicht durch dies und das Tun verdient werden kann, und der Kern heißt: Es ist ein köstlich Ding, daß des Menschen Herz fest werde. Ja, das muß wohl ein köstlich Ding sein, wenn eines Menschen Herz fest wird. Wir wissen, wie das ist mit des Menschen Herz. Gejagt vom Tod, der bestimmt kommt. Überall ist des Menschen Herz von ihm gejagt. Wieviel Menschen sind jetzt wieder in den Weihnachtstagen auf den deutschen Straßen gestorben. Und gehetzt ist dies Herz von all den Krankheiten rings um uns herum. Nach der letzten Studentenuntersuchung unserer Universität sind 52 Prozent unserer Studenten psychisch erkrankt. Und die Menschen sind umgetrieben von all den Heilslehren. Dann kommt ein Yogalehrer. Und dann kommt Lenin, und dann kommt Mao, und dann kommt dieser und jener und der auch noch. Wenn man so auf die Völker in der Geschichte schaut, dann sieht man sie schwanken wie die Wogen des Meeres und hin und herpendeln. Da ist kein Ziel, keine Richtung, und alles scheint leer von Sinn. Aber wir brauchen Sinn in unserem Leben. Da eilen wir hinterher zu diesem und jenem „Lehrer" und zu noch was anderem. Diese Unruhe des menschlichen Herzens ist ja wohl heute sehr viel schlimmer noch als in früheren Jahrhunderten. Wenn wir die Zeit vor 200 Jahren bedenken, wo die Menschen auch viel zu tun hatten und wo viel mehr Not und Elend in der Welt war. Aber das Leben vollzog sich in bestimmten Formen harmonischer Gestalten. Ob das nun die Kleidung oder die Musik oder die Dichtung jener Zeit ist, das alles war für jene Menschen damals wie für uns, die es heute betrachten, eine in sich geschlossene stilvolle Harmonia. Wir sind ja denn auch immer wieder aus unserer unruhvollen Zeit unterwegs, uns bei jenen Harmonien zu erfreuen. Sei es dahingestellt, ob das angemessen ist, aber wir tun es, weil wir dort jene Geschlossenheit und Ruhe finden, die in der modernen Musik und in dieser modernen Kleidung — soll man das überhaupt noch Kleidung nennen? — nicht mehr drin ist. Aber andererseits müssen wir sagen, jene Zeit damals, 55

also die Zeit Maria Theresias, Friedrich des Großen und Mozarts z. B. stand dem Leben doch sehr fern. Sie war abgeschirmt durch viele Traditionen und Konventionen. Das eigentlich Lebendige aber — sowohl die Qual wie die Freude des Lebens — kam in den Bereich jener Geselligkeit und jener Harmonia und jenes Lebensgefühls nur schwer hinein. Wir sind ja wohl als Menschen des 20. Jahrhunderts zu einem guten Teil auch stolz darauf, daß wir es mit Wahrhaftigkeit, mit dem Leben selbst aufzunehmen versuchen. Das ist in den Kunststilen und ihrem Realismus ja ebenso eindeutig wie in dem allgemeinen Lebensempfinden, in dem wir da sind. Das ist nicht nur eine Folge der Tatsache, daß wir täglich mit vielen unglaublich entsetzlichen Geschichten überschwemmt werden. Diese Nachrichten sind vielmehr eine Folge des Realismus. Sondern das ist eine Folge dessen, daß mit dem Gesamtzerbrechen jener in sich geschlossenen und selbstbefriedeten Traditionen und Stile der Mensch aufgebrochen ist, diese Welt als die zu nehmen, die sie ist, und sich dieser Welt auszusetzen und zu stellen. Es gibt, meine ich, mehr Wahrhaftigkeit in unserem Jahrhundert als in früheren. Aber, Wahrhaftigkeit ist gut. N u r mit diesem Realismus sind wir zugleich dieser unserer Welt und ihrer Allfälligkeit total verfallen und finden uns nicht heraus. Wir sind nicht mehr Marionetten an irgendwelchen Traditionen und Konventionen. Aber wir sind Marionetten an dem, was heute so ist und morgen so. Und all das Entsetzen, was die Welt enthält, all ihr unglaublich großes Glück, reißt uns hin und her, und wir finden keinen Ausgleich. Darum ist unser Herz unruhvoller als das Herz anderer Jahrhunderte. Und wir sagen, ja, wenn das sein könnte, das muß ein köstlich Ding sein, wenn eines Menschen Herz fest wird. Unser Vers sagt: welches geschieht allein aus Gnade. Was heißt das? Was ist das? Was ist das: die Gnade. Dieses große geheimnisvolle Wort taucht überall da auf, wo wir gar nichts mehr verstehen. Gnade ist ja wohl zunächst wie vor allem überall da und immer das, daß Gott sich einem Menschen zuwendet. Gott also, der letzte Sinngrund alles Lebens, wendet sich einem Menschen zu. Das ist wohl auf jeden Fall Gnade. Und das ist auch eindeutig, wenn wir von Weihnachten herkommen. Diese Zuwendung Gottes faßt sich zusammen in diesem Kind in der Krippe, oder denn in Wort, Werk und Person Jesu. In dem Wort, dem Werk und der Person Jesu können wir der Zuwendung Gottes gewiß sein. Das ist die Weihnachtsbotschaft. Wir können also, was immer unser Leben im Augenblick umfängt, wir können gewiß sein, er, Gott, ist uns in Jesus zugewandt. Aber, wie macht man es, daß man das sieht? Denn an diesem Kind 56

da in der Krippe ist ja gar nichts zu sehen. Und Maria hat auch nicht solch strahlendes blaues Gewand angehabt, wie man das malt. Ihr Kleid war vermutlich ziemlich schmierig und dreckig, denn es war eine wirkliche schreckliche Geburt unter grauenhaften Umständen. Da war gar nichts Großartiges und Andacht Weckendes zu sehen. An Jesus ist aber überhaupt und auf allen Wegen, die er gegangen ist, nichts davon zu sehen, daß der Sinngrund des Lebens, daß Gott sich uns in ihm zuwendet. Vor diesem Jesus gibt es nur jenes wagende Hindurchgreifen durch die Verhüllung und Verborgenheit zu dem „Herzen Gottes", wie Luther das nennt, zu dem Herzen Gottes, d. h. zu seiner liebenden Zuwendung. Darum geht es also offenbar, daß Menschen es fertigbekommen, durch die Verhüllung dieses Jesus, sei es das Kindlein in der Krippe, sei es der Gekreuzigte in Golgatha, hindurchzugreifen zu dem „gottseligen Geheimnis" der Zuwendung Gottes. Weihnachten bedeutet eine der großen Einübungen in diesem Hindurchgreifen, Karfreitag ist eine andere, Ostern wieder eine andere und Pfingsten wieder eine andere der großen Einübungen des Durchgreifens durch all diese Verhüllung und Verborgenheit zu dem „Herzen Gottes". Weihnachten ist es uns als Christen jedenfalls zugemutet, über die Zuwendung Gottes gewiß werden zu können. Er, Gott der Schöpfer und Erlöser alles Lebendigen und alles Seins, er geht die staubigen Straßen dieser Welt mit uns. Er ist nicht fern von einem jeglichen von uns, sondern in der Verborgenheit welthaften Daseins tut er sein Werk, wendet er sich uns zu. Auch hier will er von uns gefunden sein, auf dem Hintergrund der Gewißheit von Weihnachten. Er, dieser Gott, ist die Wahrhaftigkeit in jeder Liebe, er ist die Nährkraft im Brot, er ist die Wärme im Sonnenstrahl, er ist der Schock im Unfall, er ist der Schreck im Terror, er ist das Erstarren des Lebens in aller Tyrannei: Er! Gott steigt herab in diese Welt, nicht nur Weihnachten, sondern immer und alle Wege. Das ist sein Gottsein, und das ist sein Gottsein. Er zieht mit uns die schmutzigen Straßen dieser Welt. Er geht uns zur Seite. Ob Freud oder Leid, ob Geburt oder Tod, ob großes blühendes Glück oder tiefes zerreißendes Leid, er, Gott, bleibt und ist die Möglichkeit, der Grund, der Sinn all dieser herrlichen großen leidvoll entsetzlichen Wege dieser Welt. Er wartet in all dem Leiden, ob wir ihn wohl finden möchten, ob wir ihn, Gott wohl herausholen aus all dem Wirrsal. Er wartet, ob wir ihn ergreifen in all den schrecklich unruhigen, umtreibenden, plagenden Ereignissen, ob wir ihn herausholen und als Gott erhöhen über diese Welt und über uns selbst. 57

Unser Herz ist so unruhig und umgetrieben in all dem Wirrsal seines Daseins. D a gibt es so viel scheinbar Näherliegendes an Halt, Trost und Zerstreuung. Es gibt diese Heilslehre und jene klugen Mittelchen, und wir laufen hinterher und bleiben geplagt und gehetzt, so lange, bis wir den Schritt tun, ihn, Gott, in seiner Zuwendung in all dem als Grund und Sinn zu finden. Dann ist es vorbei mit der Unruhe. Denn da sind wir im höchsten Glück und im tiefsten Leid immer eben bei dem einen, daß wir ihn, Gott, der in seiner Zuwendung auf uns wartet, herausholen aus all der Zerstreutheit der Welt, daß wir ihn, Gott als Gott über all das Kleinliche, Kümmerliche, Klägliche der Welt erheben. Weihnachten hat mit seiner Botschaft von dieses Gottes Zuwendung in der unscheinbaren Geburt des Kindes eine erschließende K r a f t für unser Dasein in der Welt überhaupt. Wer einmal begriff, wie Gnade und Glaube zusammengehören, dem erschließt sich die Gottesnähe in allem Geschehen, und das köstliche Ding geschieht, daß des Menschen Herz fest werden kann. Am Sonntag zwischen Weihnachten und Neujahr vermittelt sich Gottes Liebe an das schicksalhafte Schreiten der Zeit. Das Schicksal der Zeit wird aufgetan zu Gottes Dabeisein, und so kann unser Herz fest werden in der Welt — aus Gnade.

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Versucht in allen Dingen wie wir Invocavit 27. Februar 1977 Hebräer 4,14—17 D a wir nun einen Hohenpriester haben, der die Himmel durchschritt, Jesus, den Sohn Gottes, so laßt uns festhalten am Bekenntnis. Denn wir haben nicht einen Hohenpriester, der etwa nicht mitleiden kann mit unserer Schwachheit, sondern der versucht ist in allen Dingen gleichwie wir, aber ohne Sünde. D a r u m wollen wir mit Zuversicht zum Thron der G n a d e hinzutreten, damit wir Barmherzigkeit empfangen und G n a d e finden zur rechtzeitigen H i l f e .

Mit dem Sonntag Invocavit treten wir in die Passionszeit ein. Der eigentümliche Wechsel hebt wieder an, w o der H e r r der Knecht wird, w o es d a r u m geht, den T o d auszutreiben, wo das Lebensheil sich in das Unheil verkehrt, damit es Heil werde. D i e Passionszeit k n ü p f t j a unmittelbar an die Karnevalszeit an. U n d der K a r n e v a l hat ja keinen anderen Sinn als eben diesen, daß das Unheil, das Chaos, heraufgeführt wird, damit das Heil, die Ordnung, kommen kann. D a r u m wird der Stadtschlüssel an den N a r r e n übergeben, und der N a r r , der Inbegriff des Chaotischen regiert die Tage. D i e Frauen ziehen Männerkleidung an, und die Männer Frauenkleider, die K i n der ziehen Erwachsenenkleider, und die Erwachsenen Kinderkleider an. U n d die Menschen schlüpfen hinein in die Maske des Entsetzlichen. S o wird T o d ausgetrieben — v o m Menschen aus. Dieses T o d austreiben v o m Menschen her verzerrt sich in die chaotische Narretei. Bis dann G o t t eines Tages eben dies Todaustreiben übernahm und sich selbst in die Maske des Menschen verkleidete und seine Ewigkeit in den T o d hineingab. Der H e r r w a r d der Knecht. V o n hier aus ist es schon sinnvoll, daß die römischen Soldaten Jesus als den Saturnalienkönig verkleiden mit der K r o n e und dem Mantel. H i e r finden Saturnalien, K a r n e v a l , statt, aber von G o t t her in Vollmacht, so daß das Unheil, das im Sterben Jesu sich vollzieht, der Born des Heils und des Lebens werden kann. D i e alte Kirche hat den Beginn dieser Passionszeit mit der Geschichte von der Versuchung Jesu eingeleitet. Wir haben diese Geschichte nach Matthäus 4 v o m A l t a r gehört. D i e alte Kirche wollte damit sagen: 59

Diese Passionszeit ist nicht so kurze vierzig Tage vor Karfreitag, sondern diese Passionszeit hat mit dem Wirken Jesu überhaupt begonnen. Sein Wirken war von Anfang an seit der Taufe ständige Passion, ständiges Ausgesetztsein an das Mißverständnis der Welt. Denn diese Versuchungen, denen Jesus ausgesetzt wird, daß der Teufel ihn versucht mit dem Hunger, und er will ihm Brot geben, oder mit der Macht der Welt oder mit dem Schauwunder. Diese Versuchungen sind ja nichts anderes als das, was die Menschen von dem Messias haben wollten. Sie wollen von dem Messias Brot haben, und sie wollen von ihm Schauwunder haben, und sie wollen von ihm Macht haben. Das sind ja wohl nicht nur die Israeliten, die das wollten, sondern das ist heute wohl auch noch so. Wenn die Kirche von der Erlösung predigt und vom Heil, dann hören die Leute: Ah, jetzt gibt's was zu essen: Keiner soll hungern. Oder sie denken: Jetzt gibt es eine gute Unterhaltung und Ausweg aus unserer Langeweile. Oder zumal denken sie: Jetzt gibt es politische Macht, keiner soll unterdrückt sein. Jeder soll Macht haben. Aber das ist offenbar nicht gemeint. Es geht nicht darum, daß keiner hungert, es geht nicht darum, daß viel zu sehen ist, schöne Spiele, es geht auch nicht darum, daß Macht gehäuft wird. Es geht um sehr andere Dinge. Worum es eigentlich geht, das sagt unser Text aus dem Hebräer-Brief. Es geht darum, daß wir einen Hohenpriester haben, der dadurch ausgezeichnet ist, daß er unsere Schwachheit mitleiden kann. Denn er ist versucht wie wir in allen Dingen. Wir haben es bei dem Heil, das heißt bei dem, den wir Gott nennen, zu tun mit dem, der unsere Versuchungen kennt, der unsere Schwachheit nicht nur von außen weiß, sondern der sie selbst erfahren hat, und der in dieser Erfahrung uns gleich wurde — gleich wie wir. Und der darum, weil er gleich wie wir in der Erfahrung ist, dem nicht fernsteht, was uns bedrückt. Das ist die Meinung des Hebräer-Briefes über die Tatsache, daß dieser Jesus versucht ist wie wir in allen Dingen. Eine unerhörte Vorstellung. Im allgemeinen denkt man j a : Nun ja, dieser Jesus, der hat da viel erlitten und erduldet in der Welt, und dann ist er gestorben, und dann ist er auferweckt, und nun ist er in der Glorie, und nun ist er am überhimmlischen Ort und weiß nichts mehr von all dem Kummer. Der Hebräer-Brief meint, so sei das nicht. Und das kann wohl auch nicht so sein. Denn zu Ostern verkünden wir den Erweckten als diesen, den Gekreuzigten. Und der, der zu Ostern auferweckt wurde vom Vater, ist ja eben der, der unter uns hier als der stets Verkennbare und Verborgene herumgegangen ist und der all das er-

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duldet hat, was er erdulden mußte, versucht wie wir in allen Dingen. Die Kühnheit des Hebräer-Briefes, dieses „versucht in allen Dingen wie wir" in das Dasein Jesu vor Gott und bei Gott zu übertragen, diese Kühnheit ist zugleich der Grund der Möglichkeit der Vergewisserung von Trost. Wir haben es eben nicht mit einem Gott zu tun, der in unendlicher Ferne sitzt und der nichts weiß von all den Dingen, wie es hier auf der Welt aussieht. Sondern wir haben es mit einem zu tun, der sehr genau aus der Erfahrung weiß, wie es Menschen auf der Welt zumute ist. Das ist nun allerdings eine sehr viel tiefere Wahrheit als die, wenn man meint, Erlöser sein heißt, Brot bringen, Macht bringen und Wunder bringen. Eine sehr viel tiefere Wahrheit. Diese Wahrheit geht das innerste nicht mit dem Leben Fertigwerden des Menschen an. Wir werden eben immer wieder nicht mit den Dingen fertig, mit dem Großen und dem Kleinen, mit dem Schönen und dem Schlimmen, dem Großartigen und dem Elenden in unserem Leben. Wir werden nicht damit fertig, daß die Zweideutigkeiten der Welt uns aus der Schönheit heraus ebenso versuchen wie aus dem Elend, aus der Freude heraus wie aus dem Leid. Wir bemerken bei dieser Wahrheit des Hebräer-Briefes, daß im Christentum offenbar mehr steckt als eine bloße Hinneigung zum Elend, zum Kummer und zum Leid. Es ist vielmehr der Gesamtumfang des Lebendigen, der — als Versuchung gekennzeichnet — von der Erlösung und dem Heil umgriffen ist, um das es bei diesem Jesus geht. Denn das ist ja wohl das Eigentümliche des Christentums, daß es nicht etwa nur in den Hütten der Elenden, sondern eben auch in den Palästen der Großen nicht nur zu Hause ist, sondern auch sein Werk hat. Und daß es nicht nur da ist, wo geweint wird; sondern dann auch da, wo gelacht wird und wo die Freude wohnt, mit seiner Hilfe nahe ist und die Erkenntnis ermöglicht, daß Heil bei Gott nicht identisch ist mit Glücklichsein in der Welt. Das Glück und das Elend, die Freude und das Leid sind gleichermaßen unter den Versuchungen, unter denen wir Menschen unser Leben zu leben haben. Aber wir haben einen Hohenpriester, der mit unserer Schwachheit mitzuleiden in der Lage ist, weil er versucht ist wie wir in allen Dingen. Und das heißt nach unserem Text: Darum wollen wir nun mit Zuversicht zum Thron der Gnade gehen. Das heißt, Christsein beruht auf Zuversicht, auf Vertrauen. Und dieses Vertrauen können wir diesem Gott entgegenbringen, im Großen und im Kleinen, im Freudigen und im Leidensvollen. Wir können's ihm entgegenbringen, dieses Zutrauen. Mit diesem Zutrauen gehen wir zum Thron der Gnade. Das heißt, Christsein besteht in diesem Zutrauen und im Zu61

gehen zu Gott, das heißt, als Gebet. Das ist ja der Zugang zu Gott. Vielleicht gar nicht mal als das einzelne Gebet, als das einzelne geformte Gebet, sondern als der Gesamtzusammenhang unseres D a seins: betend, zutrauend, geöffnet, vor dem Thron der Barmherzigkeit, das heißt vor Gott. Das ganze Leben ist gleichsam aufgetan vor diesem Thron der Barmherzigkeit, und damit herausgeholt aus all den Einsamkeiten, in denen menschliches Dasein verläuft, aus all den Unverstandenheiten, aus all dem, was uns durch eigene und fremde Schuld von den Menschen um uns herum trennt. Und es ist j a doch wohl so, daß Menschsein immer wieder darin besteht, auf sich selbst zurückgeworfen zu sein. Und dieses immer wieder auf sich selbst Zurückgeworfensein ist ja wohl die eigentlich versuchliche Schwierigkeit, mit der wir fertigwerden müssen im Leben. Dieses auf uns selbst Zurückgeworfensein ist ja auch noch in der ehelichen Liebe wie in der Liebe von Eltern zu Kindern der Fall. Das kann ja auch nicht anders sein. Dieses auf uns selbst Zurückgeworfensein, dieses dann irgendwo doch mit uns Allein-Bleibenmüssen wird wirklich nur an einer Stelle überwunden: an dieser Stelle, wo wir mit diesem Zutrauen uns auftun vor dem Thron der Barmherzigkeit. An dieser Stelle ist menschliches Leben nicht nur bedingungslos sondern schlechthin vertrauend aufgetan. Das kann so sein, weil wir einen Hohenpriester haben, der ganz genau weiß, wie es bei uns aussieht, und der das alles aus eigener Erfahrung sehr genau kennt, das heißt, der versucht ist wie wir in allen Dingen, und der deswegen mit unserer Schwachheit wirklich mitleiden kann. Diese Aufgetanheit vor dem Thron der Barmherzigkeit hat eine Folge. Und diese Folge heißt: Wir nehmen Barmherzigkeit und finden Gnade in bezug auf eine im richtigen Augenblick eintretende Hilfe. Es ist eine Merkwürdigkeit dieses Textes, daß er nicht nur von Hilfe spricht, die da kommt — das wäre ja schon viel — sondern von Hilfe, die im rechten Augenblick eintritt. Das macht uns darauf aufmerksam, daß es mit dem Helfen in der Welt ja eine enge Bewandtnis hat zu dem bestimmten Augenblick, in dem diese Hilfe nur stattfinden kann. Es gibt offenbar für Hilfe unter Menschen ganz bestimmte Augenblicke, wo diese Hilfe sein kann, und es gibt auch Augenblicke, wo sie nicht sein kann. Es gibt einen wohlgelungenen, einen jetzt nur möglichen Augenblick, wo Hilfe eintreten kann. Und unser Text meint, da wo wir in dieser Aufgetanheit vor dem Thron der Barmherzigkeit da sind, da empfangen wir nicht nur Barmherzigkeit und finden nicht nur Gnade, sondern es tritt dies ein, daß immer gerade in dem Zeitpunkt, der genau der richtige ist, Hilfe

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einsetzt. Damit werden wir von unserer eigenen Meinung, jetzt aber ist Hilfe dringend notwendig, entfernt. Die Hilfe liegt vielmehr im Objektiven des Sachverhaltes und hat da einen Zeitpunkt, wo sie richtig ist. Es gibt auch Zeitpunkte, wo sie falsch wäre. Ich meine, wir wissen alle etwas davon, und jeder, der einmal versucht hat, Menschen hilfreich zu sein, hat das erfahren, daß dieses Hilfreichsein eine bestimmte Zeit gebraucht, und daß man mit seiner Hilfe manchmal total verquer kommt, weil in den Situationen des menschlichen Daseins selbst die Möglichkeit von Hilfe als rechte Zeit oder als unrechte Zeit mit angelegt ist. Das heißt also, wenn wir dann in der Aufgetanheit vor dem Thron der Barmherzigkeit da sind, dann heißt das nicht, daß wir nun mit unserem Gebet vielleicht darüber verfügen könnten, wann denn endlich die Hilfe kommt, und daß wir sagen könnten, nun wird's aber Zeit. Sondern es geht um die Hilfe, die im rechten Augenblick in bezug auf den Gesamtzusammenhang, in dem wir da sind, eintritt. Unser Text meint offenbar, daß das tiefe Verständnis, das dieser Hohepriester für uns hat, weil er versucht ist in allen Dingen wie wir, daß dieses tiefe Verständnis des Hohenpriesters dazu hilft, daß uns Hilfe widerfährt zu der Zeit, die recht ist dafür, und nicht zu der Zeit, die wir meinen; so müssen wir wohl ergänzen. Das ist eine große Sache, eine große Sache aus dem Grunde: Unser Vertrauen, das wir zu diesem Hohenpriester und zu Gott haben, ist ja meistens ein ziemlich schwaches Pflänzlein. Und wenn wir denn meinen, nun wird's aber Zeit, daß er uns hilft, und er tut das nicht sofort, dann läßt das Pflänzlein das Köpfchen hängen und verdorrt. Und aus ist es mit dem Vertrauen. Das heißt, unser Text entfernt unser Vertrauen auf ihn, der versucht ist wie wir und der mit uns leiden kann mit unserer Schwachheit, von den Erwartungen, die wir an den Thron der Barmherzigkeit binden als die Hilfe, die uns von dort kommen soll. Er entfernt diese beiden Motive so voneinander, daß uns die Hilfe, wenn sie denn nicht zu der Zeit kommt, wo wir meinen, nicht mehr in unserem Vertrauen erschüttern kann. Und das ist wichtig. Denn wir brauchen in unserem Vertrauen wohl der Hilfestellung, weil es so schwach ist. Und zu dieser Hilfestellung gehört wohl nichts so sehr wie die Einsicht, daß unser Aufgetansein vor dem Thron der Barmherzigkeit nicht alle Hilfe sofort ins Werk setzt, sondern daß das sein, Gottes, Vorbehalt ist in bezug auf den rechten Zeitpunkt, auf den es ankommt. So legt unser Text die „Versuchungsgeschichte" aus. Und wenn wir die Versuchungsgeschichte so mit den Augen des Hebräer-Briefes se63

hen, dann merken wir, wie tief und wie uns angehend die lebenslange Passion Jesu als sein Versuchtsein wie wir ist. Diese Passion Jesu ist nicht so etwas, was da wie ein Schaubild steht, damit wir es betrachten, und uns der „arme Kerl" am Kreuz dann leid tut. So nicht. Sondern diese Passion ist ein unser tiefstes Dasein zur Welt und vor Gott betreffendes Verändern und Verwandeln. Der Hebräer-Brief sieht es hier so: Gott hat sich verwandelt in einen Gott, der um unsere Versuchungen weiß und der darum mit unserer Schwachheit mitleiden kann und der darin Vertrauen begründet. Diese Wandlung ist der eigentliche Inhalt seines Versuchtseins. Diese große Barmherzigkeit Gottes möchte mit uns gehen in diese Passionszeit, daß sie uns zum Segen wird im Leben und im Sterben.

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Jesu Passion und unsere Nachfolge Invocavit 12. Februar 1978 Matthäus 16,21—26 Von der Zeit an fing Jesus an und zeigte seinen Jüngern, wie er müßte hin gen Jerusalem gehen und viel leiden von den Ältesten und Hohenpriestern und Schriftgelehrten und getötet werden und am dritten Tage auferstehen. Und Petrus nahm ihn zu sich, fuhr ihn an und sprach: Herr, Gott behüte dich, das widerfahre dir nur nicht! Aber er wandte sich um und sprach zu Petrus: Hebe dich, Satan, von mir! du bist mir ärgerlich; denn du meinst nicht, was göttlich, sondern was menschlich ist. Das sprach Jesus zu seinen Jüngern: Will mir jemand nachfolgen, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir. Denn wer sein Leben erhalten will, der wird's verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird's finden.

Mit dem heutigen Sonntag treten wir in die Passionszeit ein. Von heute bis Karfreitag besinnen wir uns mit der christlichen Gemeinde auf die Passion Jesu, und man kann wohl, ja man muß wohl sagen, daß die Passion Jesu, daß das Kreuz Jesu, daß der Tod Jesu in der Neuzeit in seiner Bedeutung für die Gemeinde immer geheimnisvoller wird. Unsere Urgroßeltern, die lebten noch in einer Passionsfrömmigkeit, in der man noch wußte um die Bedeutsamkeit der Passion. Sie wußten noch ganz klar, was die Passionszeit für sie bedeutet. Sie konnten in der Frömmigkeit vor dem gekreuzigten Herrn ihr Leben leben. Aber dann, wenn wir die Geschichte der letzten hundert Jahre in Westeuropa ansehen, bemerken wir, wie aus dem Selbstbewußtsein der Menschen diese Passionsfrömmigkeit mehr und mehr zerrinnt und undeutlich wird. Anderes tritt an die Stelle, z. B. der Glaube an die Auferweckung. Aber das, was das evangelische Christentum Jahrhunderte hindurch ausgemacht hat, nämlich dieses Dasein von Christen im Zusammenhang der Passion Jesu, das wird undeutlich im Selbstbewußtsein der Christen in der Gemeinde. Aber dies wird auch in der Theologie undeutlich. Das kann wohl auch nicht anders sein, denn die Theologie ist ein Reflex des Bewußtseins der lebendigen Gemeinde. Sonst ist sie ja nichts. Daher folgt die Theologie der Ge65

meindefrömmigkeit. Wenn wir heute in die Aussagen evangelischer Christen, etwa in ihren Selbstbiographien, hineinsehen, bemerken wir: Die Passion Jesu bedeutet wohl noch im Hintergrund etwas. Aber dies wird nicht mehr ausdrücklich. Was heißt Passion? Was heißt die Stellvertretung im Leiden Christi? Was heißt dies Leiden Christi für uns? Wir wissen das weithin nicht mehr. Dabei müssen wir uns ja folgendes klarmachen. Die Auferweckung Jesu gehört ja gewiß in die Mitte christlichen Glaubens. Aber der Zugang zur Auferweckung Jesu und ihr Verständnis geht durch das Verständnis der Kreuzigung hindurch und ist nicht anders zu gewinnen. Wer nichts weiß und in seinem Glauben nichts zu ergreifen vermag von dem Tode Jesu, für den bleibt die Auferweckung wohl nur ein Mirakel. Unser Text, den wir nach der Bedeutung der Passion Jesu fragen, gehört in einen größeren Zusammenhang. Dieser beginnt mit dem Petrus-Bekenntnis in Cäsarea Philippi, und er endet bei der Verkündigung des bald kommenden Menschensohns. In der Mitte stehen die Verse unseres Textes. Dieser große Redezusammenhang im 16. Kapitel des Matthäus — analog bei Markus und bei Lukas — steht an einem sehr entscheidungsvollen Platz im Leben Jesu, nämlich da, wo Jesus diesen ersten und einzigen Weg über das jüdische Land hinaus nach Cäsarea Philippi macht. Danach beginnt der Weg nach Jerusalem. Auf diesem Weg ist er mit dem Petrus-Bekenntnis seinen Jüngern als der Christus deutlich geworden. Mit diesem Bekenntnis und mit dieser Deutlichkeit erfolgt die sogenannte erste Leidensweissagung. Jesus beginnt, von dieser Zeit an seinen Jüngern zu zeigen, wieviel er leiden muß von den Ältesten, daß er getötet werden muß und daß er am dritten Tage auf erweckt werden wird. Man hat häufig gesagt, Jesus war natürlich kein Wahrsager, er konnte das alles gar nicht wissen, und deswegen ist das alles viel später geschrieben. Jedoch, wenn eins gewiß ist im Evangelium, dann ist es das, daß Jesus von einem bestimmten Zeitpunkt an, und zu dieser Zeit gewiß, die Konfrontation mit seinen Gegnern gesucht hat in dem vollen Bewußtsein, daß er damit in seine Passion eintrat. Hierzu kam das ihm selbstverständliche Bewußtsein, daß Jerusalem seine Propheten umbringt oder daß der Gerechte Gottes in Israel viel leiden muß. Dieses Bewußtsein von dem Propheten, der umgebracht wird, und von dem Gerechten Gottes, der viel leiden muß, zusammen mit der Situation, in der er sich befindet, daß er nämlich Unglauben und Widerstand erweckt statt Glauben, macht den Konflikt mit den israelitischen Behörden — das heißt sein Leiden — ebenso selbstverständlich wie unausweichlich. 66

Das heißt also, wenn er mit seinen Jüngern in dieser Situation über seine Person und sein Ergehen redet, dann muß er anfangen, davon zu reden, daß er viel leiden muß und daß er hingerichtet wird. Dies konnte ihm durchaus wahrscheinlich sein. Und es war Jesus auch wohl gewiß, daß sein Gott ihn nicht verlassen werde. Damit ist die sogenannte Leidensankündigung aber schon fertig. Freilich kann es sein, daß man an diesen hinweisenden Worten Jesu von der „Leidensverkündigung" in der späteren Gemeinde herumgebastelt hat, das zeigen die verschiedenen Überlieferungen. Aber darauf kommt es so sehr nicht an. Jesus redet seinen Jüngern also davon, was die Mitte des Gottesbewußtseins des Alten Testamentes, der israelitischen Frömmigkeit war und was damit die Mitte der christlichen Frömmigkeit immer bleiben wird und muß, so lange es christliche Frömmigkeit gibt, daß nämlich dieser merkwürdige Gott mit den Seinen den unteren Weg geht. Dieser Gott geht mit den Seinen den Weg, den er mit Hiob gegangen ist. Und er geht mit den Seinen den Weg, den er nun mit Jesus gehen wird. Das ist das Gesamtbewußtsein des Alten Testamentes. Und in diesem Bewußtsein hat Jesus gelebt. Wenn wir meinen, daß wir als Christen auf das biblische Zeugnis angewiesen sind, dann ist auch das unsere Meinung. Eine andere kann es nicht geben. Aber das hat Petrus zu dieser Zeit nicht begriffen. Er nimmt Jesus für sich und sagt: Gott behüte dich, das widerfahre dir nur nicht. Das heißt, wenn du, den wir jetzt als den Messias wissen, zu Gott gehörst — und das ist uns keine Frage — dann passiert dir so was nicht. Petrus also ist der Meinung, der wir Christen ja wohl immer wieder sind, wenn wir sagen: Ach, in der Nähe dieses Herrn, da kann uns ja gar nichts Böses passieren, ihm nicht und uns nicht. Sondern in der Nähe dieses Herrn, da gibt es nur Uberwindung und nur schöne Dinge. Dieses gilt weder für ihn noch für uns. Diese Meinung des Petrus versagt wie hier gegenüber der Leidensankündigung Jesu so gegenüber dem eigenen Leben immer wieder. Die ungeheure Schärfe, mit der Jesus Petrus abweist: „Hebe dich Satan von mir!" ist im Munde Jesu eigentlich ungeheuerlich. Jesus ist der festen Uberzeugung: die Wahrheit Gottes ist das Leiden der Frommen. Die Gerechtigkeit Gottes ist das Sterben des Gerechten. Die Liebe Gottes ist der Tod seines Sohnes. Das ist die Wahrheit Gottes. Wer diese Wahrheit nicht haben will, von dem sagt Jesus: Geh weg, Satan! Von dem ist er grundsätzlich geschieden, so weit geschieden, wie Gott vom Satan geschieden ist. Das ist ungeheuerlich, ungeheuerlich deswegen, weil wir uns klarmachen müssen, daß ein 67

Christ, der nicht in der klaren Ergreifung der Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit der Passion Jesu lebt, auf die satanische Seite gehört. Nebenbei muß man wohl auch bemerken, daß dies „Versagen" des Petrus und die Härte der Abweisung des Petrus eines der stärksten Indizien dafür ist, daß die Leidensankündigung Jesu, wie immer sie im einzelnen gelautet haben mag, stattgefunden haben muß. Solche fatale Geschichte über Petrus erfand keine Urgemeinde. Daß die Urgemeinde diese Geschichte über Petrus, wo er als widergöttlich gebrandmarkt wird, aufbewahrt hat, ist ein Stück ihrer Ehrlichkeit und Unnachgiebigkeit in der Wiedergabe dessen, was gewesen war. Jesus schließt an diese Auseinandersetzung mit Petrus Worte an seine Jünger. Diese Worte an seine Jünger sind Erläuterungen zu seiner Leidensverkündigung. Das erste heißt: Will jemand mir nachfolgen, der verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir. Das ist ein schweres Wort. Jesus beschreibt den Menschen, der sein Jünger werden will. Er beschreibt also uns Christen, die wir meinen, wir sollten Jünger Jesu sein oder werden. Und diese Beschreibung sagt erstens: der verleugne sich selbst. Dieses Wort für Verleugnen, das im Text steht, heißt eigentlich: verneinen, und zwar in einer Intensivform, also grundsätzlich verneinen. Das heißt: Wer Jünger Jesu sein will, der verneine grundsätzlich sich selbst. Eigentlich ein schreckliches Wort. Wir sind doch immer so glücklich, wenn wir sagen können: Glaube besteht in der Gewinnung seiner selbst, und in der Konstituierung seiner selbst. Das meinen wir auch. Aber diese Konstituierung, diese Gewinnung seiner selbst, geschieht offenbar und geht offenbar durch diese Selbstverneinung, durch die grundsätzliche Selbstverneinung hindurch. Ist das aber überhaupt möglich? Wie sollte ein Wesen, das der Eigenart des lebendigen Organismus gemäß um sich selbst und mit sich selbst befaßt ist und auch befaßt sein muß, sich selbst verneinen? Nun, diese Selbstverneinung geschieht ja nicht ins Blaue hinein. Sie geschieht ja nicht so: Also, mein eigenes Selbst muß beseitigt werden. Das ist ja nur die eine Seite, und zwar die zweite Seite. Die erste Seite ist die: Mit diesem Jesus da, will ich es jedenfalls zu tun haben. Und das heißt dann zweitens, mich selbst verneinen. Es hebt an mit dem Positiven: Er ist da. Dieser Jesus steht vor uns und ruft uns in seinem Wort und sagt: nun komm. Und wenn wir da auf den Weg treten und zu ihm gehen wollen, dann heißt das, sich selbst verneinen, indem wir nämlich meinen: Mit dem, was wir vermögen und tun und was uns so alles Kluges einfällt, wird das Leben nicht begründet. Das Leben wird begründet durch ihn oder ist begründet durch ihn. 68

Wenn es aber durch ihn begründet ist, dann müssen wir uns aus dem Spiel bringen mit all unseren Schlauheiten und all unserer Betriebsamkeit und all dem ganzen Tun, durch das wir Gott in praesentia zum Zuge kommen lassen wollen. Gott will alle Wesen dieser Welt zu ihrem, das heißt zu seinem Leben führen. Diesem Willen Gottes stehen wir im Wege, wohl auch gerade als Kirche, indem wir Frömmigkeiten und lauter Selbstbezogenheiten vor Gott aufbauen und damit seinen Weg in die Welt hemmen. Das ist offenbar das Bild, das hier vor Jesus steht, wenn er von der Selbstverneinung oder Selbstverleugnung redet. Daneben stellt Jesus ein anderes Bild: der nehme sein Kreuz auf sich. Dieses Aufsichnehmen des Kreuzes ist damals eine Redensart gewesen, die im Rabbinischen kaum belegt, aber im Hellenistischen häufig gebraucht wird. Dies Sein-Kreuz-auf-sich-Nehmen, das hat nichts damit zu tun, daß die Jünger das Kreuz Jesu etwa zum Vorbild nehmen sollten. Sondern wir müssen das Bild in seinem eigentlichen Verstände, wie Cicero und andere das Bild gebrauchen, verstehen. D a heißt Sein-Kreuz-auf-sich-Nehmen sich so verhalten wie ein Verbrecher, der nun den Querbalken des Kreuzes auf der Schulter zur Richtstätte geht. Das ist das Bild. Es kommt also darauf an: wer ein Nachfolger Jesu sein will, wer ein Jünger Jesu sein will, der verhalte sich so oder der muß sich so verhalten, wie ein verurteilter Verbrecher, der nun auf dem Wege zur Richtstätte ist und der mit seinem Leben abgeschlossen hat. E r hat auf diesem Wege jedenfalls begriffen: „es ist nichts mit uns allen", wie Luther das genannt hat. Das heißt SeinKreuz-auf-sich-Nehmen. Es ist die grundsätzliche Verneinung seiner selbst von einem anderen Gesichtspunkt aus gesehen, und zwar von dem Gesichtspunkt aus gesehen, daß Gott mit seinem Todes-Urteil über uns recht hat. Das heißt, nun nehme ich mein Kreuz auf mich. Er, Gott, hat recht. Ich nehme das Marterwerkzeug meines Todes auf die Schultern und sage: jawohl, du hast recht. Das ist gemeint. Die grundsätzliche Selbstverneinung, das Sich-aus-dem-Spiel-Bringen ist die Zusage: J a Gott, dein Todesurteil über mich ist wahr. Und wenn wir das recht ansehen, müssen wir sagen: Es ist recht, wenn du mich zum Tode bringst. Wiederum, dieser Vorgang steht nicht in sich selbst oder für sich selbst, sondern dieser Vorgang geschieht als Nachfolge, das heißt im Hinblick auf diesen Jesus von Nazareth und nicht anders. Nur im Hinblick auf ihn, auf diesen Jesus von Nazareth, der sich selbst für die Wesen aller Welt und für ihr Heil aufs Spiel brachte, ist diese Haltung „wahr". Unter dieser Voraussetzung, daß er, dieser Jesus, die Liebe Gottes, den Willen Gottes, zu dem Leben,

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zu unserem eigenen Leben wie zu dem Leben aller Wesen der Welt war, unter dieser Voraussetzung ist das „wahr". Das heißt, daß es nur in dieser Verbindung zu Jesus — dem Lebenswillen Gottes — klar bleiben kann, daß es in dieser Selbstverneinung nicht darum geht, das Leben wegzuwerfen, sondern Leben, wahres Leben aus Gott, zu gewinnen. Das aber können wir nicht aus uns selbst. Was tun wir? Richten wir Leben an? Nein! Überall und alle Wege richten wir Menschen Verderben und Tod an. Auch wo wir's so gut meinen wie in all den technischen Hilfen, die wir uns erdenken, um Leben zu erleichtern — und das meinen wir ja wirklich gut —, richten wir letztlich Tod an. Wir können's nicht anders. Er aber richtet Leben an. Wenn wir ihm nachfolgen, dann begreifen wir: das Urteil Gottes über uns ist wahr. Diese Anerkenntnis ist der erste Schritt auf dem Wege, der von uns weg auf Gott zu führt. Jesus fügt ein Wort hinzu, das an mehreren Stellen der Evangelien überliefert ist: denn wer sein Leben erhalten will, der wird's verlieren, wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird's finden. Dieses Wort, hat man gemeint, habe sehr viel zu tun mit der Märtyrer-Sehnsucht der alten Christen, oder es habe viel zu tun mit dem Lohn- und Gewinnstreben der alten Christen. Aber diese Deutungen treffen wohl den Sinn nicht. Dieses Wort spielt mit dem Begriff Leben. Wenn wir dies Wort richtig lesen, dann lesen wir: denn wer dieses, sein vitales Leben, erhalten will, der wird es im Tode verlieren; wer aber sein vitales Leben in meiner Nachfolge drangibt, der wird ewiges Leben finden. Einmal ist die Rede von diesem Leben, das zum Tode geht und das wir leben. Und dann ist die Rede von dem Leben, zu dem wir bestimmt sind, von dem Leben Gottes. Diese beiden Leben sind nebeneinandergestellt. Von hier aus wird es auch eindeutig, wieso dies Wort zu jenem Wort von der Nachfolge gehören kann. Wo wir dieses unser eigenes vitales Leben bedenken und uns immer wieder darum herumdrehen — und das machen wir ja täglich — ob wir nun an unserer Ernährung herumbasteln: nicht so viel Butter oder noch ein paar Pillen, wir drehen uns ja immer um dieses vitale Leben — wo uns dieser Gedanke an dieses vitale Leben fasziniert, da verschwindet jenes Leben. Da gehen wir auf unser Sterben zu. Aber stellen wir dieses Leben an den rechten Ort, wo es hingehört: ein brauchbares Mittel, um für Gott dazusein. So interessant ist das mit unserem vitalen Leben nun auch wieder nicht. Da räumen wir den Platz frei, wo Gott mit seinem Leben eintreten kann, und so kann das andere Leben auf uns herabkommen. So kann Gott uns Leben schenken, das Leben genannt zu werden ver70

dient. Das sind alles keine dialektischen Spielereien — Jesus war ebenso wenig ein Dialektiker wie der Heilige Geist — sondern das sind alles einfältig tiefe Bilder für den Sachverhalt, daß wir von uns aus im Gegensatz stehen zu Gott, und daß Gott uns unerhörtermaßen den Weg zu seinem Leben öffnen will. Damit wird unser Leben richtig eingeordnet, das was es ist, ein Mittel zum Zweck, und das andere Leben tritt hervor und leuchtet für uns auf. Das sieht zunächst widersprüchlich aus, ist in sich aber einfältig: nun versuch doch mal, auf dein vitales Leben nicht dauernd hinzustarren und dauernd dich darum zu drehen, sondern versuche doch mal, dieses Leben nur als einen Weg zu dem ganz anderen Leben zu sehen. Kümmere dich mal darum, dein vitales Leben nicht als Wert zu sehen, der ja doch im Sterben verschwindet. Versuche es doch mal, in dir den Raum freizumachen für Gottes Leben; denn das ist wahres Leben. Wenn wir so unseren Text ansehen, so erfahren wir freilich genau, was das heißt: Passion und Passionsfrömmigkeit. Es ist wie überall in den Evangelien, daß Jesus uns darauf anredet: Wenn du es mit dem Glauben zu tun bekommst, dann mußt du nicht fragen: was muß ich denn nun für wahr halten, was soll ich denn nun auswendig lernen. Sondern dann mußt du fragen: was muß ich denn jetzt tun hinter diesem Jesus her? Wie kann ich mich denn jetzt einordnen in die Schritte, die er getan hat? Wie kann ich denn jetzt auf den Weg treten, den er gegangen ist? So ist es richtig gefragt. Und wenn wir dann von ihm hören, nach der göttlichen Notwendigkeit muß es so gehen, daß ich von denen da in Jerusalem viel leiden muß und sterben muß, dann heißt die Glaubensfrage: wie können wir es denn schaffen, uns selbst zu verneinen in bezug auf diesen Herrn, um unser Kreuz auf uns zu nehmen im Hinblick auf sein Kreuz.

Die Passionszeit, liebe Gemeinde, ist die Einübung in diesem Tun. Eine wichtige Zeit, eine Zeit, die schon die alte Kirche dafür bestellt hat, daß wir eine Gelegenheit haben, jedes Jahr vierzig Tage lang dies zu üben. Von hier aus gewinnt das Fasten dieser Zeit eine tiefe Bedeutung, meine ich. Das Fasten ist ja nichts anderes als eine sinnbildliche Darstellung dieser Selbstverneinung. Fasten selbst ist gar nichts, aber als sinnbildliche Darstellung dieser Grundhaltung des Lebens — die heißt: Mein vitales Leben ist ein brauchbares Mittel vielleicht, aber sonst nichts — kann das Fasten Ausdruck wahrer Lebenshaltung sein. Das wahre Leben aber ist das Leben Gottes, bzw. das Leben, das Gott verleiht. 71

Unser Text stellt uns also die Passionszeit als Einübung in der Nachfolge vor. So ohne weiteres kann der Mensch das nicht. Diese Verneinung seiner selbst und dieses Einsehen des Todes als „berechtigter" Strafe und damit das Sich-selbst-aus-dem-Mittel-Nehmen sind H a l tungen auf Grund von Einsichten, die geübt sein müssen. Es gilt die Einübung dieses Sein-Kreuz-auf-sich-Nehmens. Es gelingt nicht sofort, und es gelingt nicht bald, die Einsicht und diese Haltung einzunehmen. Ja, es ist auch wohl nicht so, daß diese Übung uns langsam aber sicher immer mehr in angemessene Haltung und zu angemessenen Handlungen bringt. Diese Übung gelingt vielmehr eine Zeitlang ganz gut — dann aber wieder gar nicht. Wir drehen uns dann plötzlich doch wieder um uns selbst. Die Geschichte unseres Glaubens sieht uns immer neu vor den gleichen Problemen, denn der Eigenwille des Menschen ist nahezu unausrottbar. Darum gilt es immer neu, diese Einübung auf sich zu nehmen. Wenn wir mit diesem Sonntag in die Passionszeit eintreten, so zeigt uns dieser Text den Sinn dieser Wochen sehr klar. Wir sollen in diesen Wochen in besonderer Weise die Selbstverneinung als Nachfolge einüben. Es geht dabei um das Einsehen der Passion Jesu und ihrer Notwendigkeit für uns, damit wir frei werden für das wahre Leben Gottes. Dies schenke uns Gott, der Heilige Geist.

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Jesu Passion - Gottes Weg mit den Seinen Estomihi 29. Februar 1976 Lukas 18,31-43 Er nahm aber zu sich die Zwölf und sprach zu ihnen: Sehet, wir gehen hinauf gen Jerusalem und es wird alles vollendet werden, was geschrieben ist durch die Propheten von des Menschen Sohn. Denn er wird überantwortet werden den Heiden; und er wird verspottet und geschmäht und verspeiet werden, und sie werden ihn geißeln und töten, und am dritten Tage wird er wieder auferstehen. Sie aber verstanden der keines, und die Rede war ihnen verborgen und wußten nicht, was das Gesagte war. Es geschah aber, da er nahe an Jericho herankam, saß ein Blinder am Wege und bettelte. Da er aber hörte das Volk, das hindurchging, fragte er, was das wäre. Da sagten sie ihm, Jesus von Nazareth ginge vorüber. Er rief und sprach: Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner! Die aber vornean gingen, bedrohten ihn, er solle schweigen. Er aber schrie viel mehr: Du Sohn Davids, erbarme dich mein! Jesus aber stand still und hieß ihn zu sich führen. Und da sie ihn aber nahe zu ihm brachten, fragte er und sprach: Was willst du, daß ich dir tue? Er sprach: Herr, daß ich sehen möge. Und Jesus sprach zu ihm: Sei sehend! Dein Glaube hat dir geholfen. Und alsobald ward er sehend und folgte ihm nach und pries Gott. Und alles Volk, das solches sah, lobte Gott.

Mit dem heutigen Sonntag Estomihi schließt die Vorfastenzeit ab. Mit dem nächsten Sonntag treten wir dann in die Passionszeit ein. Die alte Kirche hat hat die Vorfastenzeit abgeschlossen mit der Epistel von 1. Korinther 13, dem sogenannten Hohen Lied der Liebe, und mit diesen beiden Geschichten aus dem Lukas-Evangelium. Es ist wohl die Meinung der alten Kirche gewesen, daß da, wo eine christliche Gemeinde in die Passionszeit eintritt, das Ganze ihres Glaubens, ihres Denkens, ihrer Lebenshaltung auf diese Liebe von 1. Korinther 13 gestimmt sein müßte. Diese Liebe, die weiß, daß alles Stückwerk ist, was wir tun, denken, planen und organisieren. Und daß all dies Stückwerk aufhören wird. Aber wir können dies Stückwerk tun, weil wir um noch etwas ganz anderes wissen, nämlich eben 73

um die Liebe. Und die hört nimmer auf, wenn auch all unsere Erkenntnis und Weisheit und Planung aufhört. Diese Liebe, so meint die Epistel an diesem Sonntag offenbar, sei der Grund der Möglichkeit, daß wir die Passion Jesu erfahren, verstehen und nachleben können. Und das Evangelium, das dazu gehört, sind diese beiden kleinen Geschichten, die Lukas und Markus und Matthäus alle drei erzählen. Sie stellen ein merkwürdiges Nebeneinander dar. Die erste Geschichte, Jesus ist auf dem Weg nach Jerusalem und hat Jericho noch nicht erreicht, ist also noch im samarischen Land, und da sagt er zu seinen Jüngern, daß er — wie es in der Schrift geschrieben steht — viel leiden muß und dahingegeben werden muß und sterben muß. Das ist eine Erkenntnis, die sich, wie die Evangelien berichten, bei Jesus aufgrund seiner Erkenntnis des Gottes Israels mehr und mehr durchgesetzt hat. Denn dieser Gott Israels ist ja so ein eigentümlicher Gott, der seine Propheten töten läßt und der seinen Gerechten leiden läßt und der seinen Knecht für die Schuld der anderen dahingibt. Das ist das Handeln dieses Gottes. Und je länger wir den Weg Jesu begleiten, desto deutlicher und klarer sehen wir, wie Jesus diese Wahrheit der Offenbarung über den Gerechten, den Propheten wie den Knecht Gottes auf sich zu beziehen wagt, wie er nach Jerusalem hinaufgeht und gleichsam dieses ganze Leiden herausfordert. Denn in dem Leiden bestätigt Gott seinen Gerechten. Das Unheimliche dabei und das eigentlich für uns merkwürdig Unbegreifliche ist die Tatsache, daß die Jünger überhaupt nichts davon verstanden haben. Sie haben überhaupt nichts verstanden. Das ist auch bei Lukas noch so, obwohl Lukas das Verhalten der Jünger immer mal wieder etwas freundlicher darstellt. Markus macht das noch viel grober und viel härter. Aber auch Lukas hat hier die Feststellung: die Jünger stehen dabei und verstehen nichts, ahnen nichts von der Notwendigkeit, unter der Jesus seinen Weg nach Jerusalem antritt, und gehen damit ja wohl gerade an dem vorbei, worauf es Jesus und worauf es — nach dem Alten Testament als dem Worte Gottes — Gott ankommt. Eben genau, daran gehen sie vorbei und verstehen überhaupt nichts. Was haben diese Leute eigentlich überhaupt verstanden? Sie waren wohl der Meinung, daß dieser Jesus ein großer Mann oder ein Prophet und wer weiß was alles ist. Und sie waren ja auch nun vielleicht ein oder zweieinhalb Jahre ständig mit ihm zusammen. Aber das, was eigentlich den Weg dieses Mannes ausmachte und worauf er zielstrebig zuging, das blieb ihnen verschlossen. Das ist doch eine ganz merkwürdige Sache, wenn wir uns vorstellen: Da sind nun Leute, besten Willens, in der Nähe Jesu Tag um Tag, Monat um

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Monat. Sie reden mit ihm, und sie hören seine Gleichnisse, und sie haben die Gleichnisse gut gehört, sie haben seine Reden sich genau eingeprägt und sie dann später weitererzählt — und diese Leute können überhaupt nichts begreifen von dem innersten Kern, worum es geht und worauf denn ja wohl alles ankommt. So etwas gibt es, und so war das bei den Jüngern. Auf der anderen Seite die andere Geschichte von diesem blinden Bettler in Jericho. Markus weiß sogar noch seinen Namen. Er hieß Bartimäus. Man kannte diesen Bettler. Er war eine stadtbekannte Persönlichkeit, ein blinder Mann, der in Jericho an der großen Straße, die von Samarien nach Jerusalem führt, Tag um Tag saß, und jeder kannte ihn. Viele gaben ihm sicher auch etwas. So ein Mann wie dieser Bartimäus in Jericho hatte ja ein besonders schweres Geschick, nicht so sehr deswegen, weil er blind war — das ist ja schon schlimm — sondern so ein Mann, mit leibhafter Krankheit geschlagen, war im damaligen Israel ausgetan, nicht zuerst aus der bürgerlichen als vielmehr aus der geistlichen Gemeinde. Denn wer mit Blindheit geschlagen ist, der hat, das wußte man, mindestens einen Ehebruch begangen, und wer mit Aussatz geschlagen ist, der ist ein ganz schlimmer Mann, und man wußte auch, was der alles getan haben mußte. Das heißt, so ein körperliches Leiden war nichts anderes als Ausdruck einer Strafe Gottes für eine verborgene Schuld — vielleicht auch für eine Schuld seiner Eltern. Und man meinte auch, wenn diese Leute sich endlich bekehren würden und ihre Schuld endlich eingestehen würden, dann könnten sie vielleicht noch gesund werden. Das heißt, so ein Mann lebte in dem Elend seiner Blindheit. Aber das Eigentliche war wohl, daß er in einer tiefen Gottes-Not leben mußte, denn er wußte sich von Gott getrennt. Wir wissen ja, wie das bei so einem Mann aussah. Wir erfahren es bei Hiob. Hiob waren seine Frau und Kinder und Herden und Besitz und alles in kurzer Zeit genommen, Hiob reagierte auf diese Verluste fromm und gefaßt. Aber dann kommt die Gottesnot, und er muß sich fragen, ja, warum hat Gott mich eigentlich verstoßen? Denn wer leiblich oder an wirtschaftlichen oder anderen Dingen geschlagen war, der war von Gott getrennt. Wie es denn im damaligen Israel für das Trauerhaus, in dem ein lieber Mensch gestorben war, keinen Trost gab. Dieses Trauerhaus wurde von den Priestern, Leviten und anderen frommen Leuten gemieden. So müssen wir uns diesen Bartimäus in Jericho verstellen: ein Mann, geschlagen am Leibe, aber viel tiefer getroffen in seiner Seele, fern von Gott, ohne Zugang zum tröstenden Wort der Propheten oder des Gesetzes, ausgetan vom Licht 75

des Lebens und ohne jede Aussicht auf eine dies elende Dasein übersteigende Bestimmung. Bartimäus hört, daß da ein großes Gewese auf der Straße ist und fragt, was ist denn da los. Da wird ihm gesagt, ja, der Jesus von Nazareth kommt. Und da wendet er sich und schreit nach Jesus: Du Sohn Davids, erbarme dich mein! Das heißt, dieser Mann wirft sich mit seiner ganzen Not auf diesen Propheten aus Nazareth. Er preist ihn als Sohn Davids, und es geht um das Erbarmen. Dieses Wort „Erbarme dich mein" hat im Alten und Neuen Testament eine lange Geschichte. Und es taucht überall da auf, wo es nicht um irgendwelche vordergründigen Dinge zwischen Menschen und Gott geht, sondern um das Letzte, das heißt darum, daß es einem Menschen möglich wird, einem Menschen möglich wird, sich zu Gott zu öffnen. Und dieses geht nur durch die Zuwendung Gottes. Dadurch, daß dieser Gott sich uns zuwendet, wird es möglich, daß wir uns ihm öffnen. An vielen Stellen im Alten wie im Neuen Testament taucht dieser Begriff „erbarme dich mein" auf als Ruf, als Gebetsruf, ebenso wie dieses Erbarmen, mit dem Jesus sich dem Volk Israel zuwendet. Das heißt, dieser blinde Bettler, der schreit nach Jesus um die Zuwendung Gottes. Wir können das auch so sagen: Er, dieser Mann da am Straßenrand, der begreift aus seiner tiefen Gottesnot heraus, was es um diesen Jesus ist. Und er vermag es, er kriegt es fertig, sich aus dem ganzen Elend der Verlassenheit, der Einsamkeit, auf diesen Jesus hin zu öffnen, und nach ihm zu schreien. Nun, und die Leute wollen ihn abwenden und sagen: Ach, nun laß doch, deine Stimme wird nicht gehört. Aber Jesus hört es, läßt ihn kommen und fragt ihn, was willst du denn eigentlich? Daß ich sehend sei, sagt dieser Mann sehr zweideutig. Und Jesus sagt: Du sollst sehen, dein Glaube hat dir geholfen. Nun, und dann schließt sich dieser Mann Jesus an. Wahrscheinlich hat er zu der Gemeinde des Markus gehört, der noch weiß, daß er Bartimäus hieß. Diese beiden Geschichten sind ja eigentümlich in ihrem Nebeneinander. Die Jüngerschaft, begabt mit der ganzen Gnade dieses Jesus, die überhaupt nichts kapiert. Und daneben steht der Bartimäus, dieser Bettler, blind, am Straßenrand, der zu dem verlorenen Haufen gehört. Vielleicht hatte er mal etwas von Jesus gehört. Viel konnte das wohl nicht sein. Er aber wirft sich mit seiner ganzen Existenz auf diesen Jesus viel mehr, als es die Jünger können. Das ist das Nebeneinander dieser Geschichten. Am Ende der Vorfastenzeit, am Beginn der Passion stehen diese Geschichten wie ein Tor: das müßt ihr euch überlegen, wenn ihr die Passion betreten 76

wollt. Überlegen, das heißt, uns fragen lassen, wie halten wir's eigentlich? Geht es uns so wie den Jüngern, daß sie Jesus nachlaufen und gleichwohl überhaupt nichts von ihm verstehen? Vielleicht suchen wir bei ihm nun doch einen weisen Mann oder einen Helden der Mitmenschlichkeit oder so etwas, finden und begreifen aber nicht das, worauf es ankommt. Begreifen wir, daß wir in Jesus diesen leidenden Mann antreffen, der dann ans Kreuz ging und der uns als dieser in die Nachfolge ruft? Nicht als der, der schöne Gleichnisse erzählt und der denn auch Wunder tut und der vielleicht ein wunderschöner Mann war und rein und was weiß ich alles. Vielleicht haben die Jünger nur einen weisen Mann begriffen und gesehen? Auf den kommt's nicht an in der Welt. Das heißt, wir müssen uns fragen lassen, wieweit wir eigentlich mehr oder anderes begreifen als die Jünger. D a hilft es offenbar nodi nicht viel, wie Petrus und Jacobus und Johannes und die anderen alle berufen zu sein, so wie wir getauft sind, und mit ihm umgegangen zu sein, mit ihm gegessen und getrunken zu haben, so wie wir zum Abendmahl gehen. Das nützt offenbar nicht so sehr viel. Man kann immer noch wie diese ganzen Jünger an dem Entscheidenden vorübergehen. Oder halten wir es wie Bartimäus? Er begreift aus seiner Gottes- und Daseins-Not heraus, worauf es ankommt, nämlich auf dieses ganze Vertrauen, das nach seinem Gott zu rufen wagt. Die Lage des Bartimäus war gewiß besonders schrecklich. Aber, was ihm als Israeliten eigen war, das war eine große Sache: Er begriff aus der Eigenart seines israelitischen Glaubens heraus seine Daseinsnot als Gottesnot! Bei Luther z. B. war das ja wohl auch so. Und bei Augustin fiel an dieser Stelle die Entscheidung für sein Christsein. Es ist wohl so, daß diese enge Verbindung von Daseinsnot als Gottesnot — wie zumal der Psalter zeigt — zu den Eigenarten des Glaubens an diesen Gott gehört. Aus der engen Verbindung ihres Weltdaseins zu diesem Gott greifen die Beter hindurch zu dem großen Vertrauen vor Gott. D a stehen also nebeneinander die Jünger und Bartimäus. Die Jünger rief Jesus. Sie kennen ihn sehr genau und hören und bewahren alle seine Worte. Sie aber verstehen im entscheidenden Augenblick nichts. Bartimäus aber merkt, worauf es ankommt — aus seiner Daseinsnot heraus, die er zu Gott notvoll auftut. Wenn wir diese beiden Geschichten nebeneinander sehen, so denken wir ja sogleich an ein anderes Nebeneinander, das sich in der Geschichte der Kirchen abgespielt hat. Die Geschichte der christlichen Kirchen zeigt ja doch von Generation zu Generation viel von dem schmerzlichen Unverständnis der Jünger für das Leiden ihres Herrn. 77

Wenn wir den Weg der christlichen Kirchen bedenken, so legt es sich nahe zu sagen, daß jene, die dieser Jesus rief, die ihn kennen und die seine Worte bewahren, wenig Verständnis für den Kreuzweg und für die Notwendigkeit des Weges zum Kreuz aufbringen. Freilich hat man eine saubere theologia crucis. Aber daß dieser Gott mit seinem Gerechten den unteren Weg geht und daß die zu ihm Gehörigen darum ebenfalls diesen unteren Weg auf sich nehmen müssen, davon weiß diese Geschichte kirchlicher Selbstdurchsetzung wenig. Die Kirchen haben den armseligen Mann auf seinem Weg zum Kreuz zu einem mächtigen Mann gemacht. Ohne Placet der Kirchen wurde seit 325 bis in unsere Tage nicht viel Entscheidendes in Kultur und Politik in den christlichen Ländern beschlossen. Neben den Kirchen und in ihnen vollzieht sich nun — auch von Generation zu Generation — noch eine ganz andere Geschichte. Da leben kleinere oder größere Kreise mit der Kirche und neben der Kirche her, die verstehen sich anders als die Kirche. Sie verstehen sich von dem unteren Weg her. Das sind die „Stillen im Lande", die Quäker und Pietisten, die Erweckten und Gemeinschaftsleute. Sie verstehen sich als die „Armen und Elenden" aus der israelitischen Gottesgeschichte. Sie sind die großen Vertrauenden, die Gott in allen Nöten anrufen und preisen und die von ihm alles meinen erbitten zu sollen und zu können. Diese Kreise der „Armen und Elenden" haben der Kirche immer wieder starke Lebensimpulse verliehen. Was wären die evangelischen Kirchen ohne den Segen, der aus diesen Kreisen über sie kommt? Das Nebeneinander dieser beiden Geschichten von den Jüngern, die verständnislos dem Wege Jesu gegenüberstehen, und dem Bartimäus, der in seiner Gottes- und Daseinsnot nach Jesus ruft, läßt uns an das Nebeneinander der Kirchen und dieser erweckten Kreise denken, die nebeneinander herleben. Aber wir müssen dazu auch daran denken, daß die Kirchen als diese großen Rechtsgestalten mit ihrer Finanzhoheit und was sie alles brauchen, den Weg Jesu gar nicht verstehen oder gehen können. Die Kirchen können ja nicht auf all die Durchsetzung in der Welt, was ihnen den Anschein von Gottvergessenheit einträgt, verzichten. Sie bedürfen all der Macht, nur z. B. um Gebäude und Menschen für die Ausrichtung der Botschaft bereitstellen zu können. Darum geht es ja doch in dem ganzen Kirchen-„Gewese". Von hier aus ist alles Weitere bedingt. Aber die eigentliche Frage in diesen beiden Geschichten müssen wir uns ja noch direkter stellen lassen. Die eigentliche Frage fängt da an, ob Menschen es begreifen, daß dieser merkwürdige Gott Israels, der 78

Vatergott Jesu, mit den Seinen den unteren Weg geht, daß er mit ihnen im Widerspiel handelt, wie Luther das nannte. Dieser Gott erhebt die Seinen nicht so und stellt sie vor der Welt nicht so hin: guckt mal, was sind das für großartige Leute, und meine Gnade leuchtet über ihnen. Sondern es geht andersherum. Dieser Gott mutet den Seinen sehr viel zu. Diese Zumutung kann vielleicht auch Armut sein, vielleicht auch Krankheit. Aber dies alles ist ja wohl nicht das Zentrale. Das Leiden an Gott, das im Alten und Neuen Testament immer wieder beschrieben wird und das Jesus bis zum Kreuz getragen hat, dieses Leiden ist ja noch etwas ganz anderes, etwas viel tiefer Liegendes, nämlich, wer es mit diesem Gott, dem Vatergott, dem Gott der Liebe im Leben mal versucht, der ist ja gleich unmittelbar an der nächsten Wegbiegung schon im Leiden. Das sieht so aus: Wenn wir an diesen Gott glauben, so glauben wir an seine Liebe. Und wenn wir an diesen Gott glauben, so glauben wir, daß er dieses Weltgeschehen regiert und lenkt. Und wenn wir dieses Weltgeschehen nun darauf anzusehen wagen, dann drängt sich die Ratlosigkeit auf: Das soll Gott sein, der diese Welt beherrscht, der diesen Mummenschanz von Verbrechen und Unfall, von Krankheit und Mißglücken und Kläglichkeit fügt? Das soll Gott sein? Vielleicht sagt man: Naja, das ist eben die Welt, und Gott ist was anderes. Dann scheidet sich die Geschichte auf, und alltags heult man mit den Wölfen und sonntags geht man zur Kirche und dann stimmt die Rechnung. Aber so geht's ja eben grade nicht. Sondern es geht wirklich um die Frage, ob wir Christen eigentlich bereit und in der Lage sind, in unserem Alltag diesen Gott nicht nur zu ertragen sondern zu lieben und ein Stück, vielleicht ein kleines Stück weit zu verwirklichen. Darum geht's ja. Es geht eben nicht um den Sonntagmorgen, sondern es geht um den Montag, Dienstag, Mittwoch. Es geht um die Wirklichkeit dieser Welt, wie Gott sie aus seinen Händen neu und neu hervorgehen läßt und wie er diese Welt regiert und leitet. In dieser Welt, so wie sie ist, geht es um Gottes Welt und die Bewährung unseres Glaubens. Das aber heißt, in das Leiden an Gott geraten, der uns dabei unsichtbar wird: Das kann doch Gott nicht sein, der den Greuel in Angola machte? Das ist doch nicht möglich! Diese Frage ist „auszuhalten". Dieses Aushalten ist das Leiden. Man kann nicht zum nächsten Knüppel greifen, um alles zu zerschlagen, so wie das zum Beispiel Schwärmer in der Reformation oder im 12. Jahrhundert die Predigerorden versucht haben: Schlagt alles kaputt, dann kommt das Reich Gottes. So eben gerade nicht. Es geht vielmehr um das Aufsichnehmen die79

ser Welt in ihrer Gottgehaltenheit. Es geht darum, ihn, den Vatergott, aus dieser Welt herauszuglauben für die Welt. Dazu sind wir da. Es geht darum, ihn, den Vatergott, aus den Verborgenheiten seines Weltwaltens als den herauszuglauben, der der Vatergott ist und der uns mit der Liebe begaben möchte und will, die nicht enttäuscht werden kann. Das heißt ja Golgatha — die Liebe, die nicht enttäuscht werden kann und die darum all das Stückwerk überwindet, alle Erkenntnis und alles das Wunderschöne, was wir so machen in der Welt, was Stückwerk bleibt. Diese Liebe und die Passion Jesu, die gehören zusammen. Und sie gehören darum zusammen, weil wir mit unserem Glauben in die Welt gehören und weil diese Welt der Mummenschanz Gottes ist. Der Sonntag Estomihi, dessen Name von dem Psalm wort: Sei mein Fels und meine Burg, kommt, dieser Sonntag Estomihi, der uns in die Passionszeit hinein entläßt, fragt uns nach dieser Liebe und sagt uns: ihr könnt sie haben. Sie liegt für euch bereit, wenn ihr es mit diesem Jesus wirklich so meint, wie er es selbst gemeint hat, und wenn ihr bemerkt, daß dieser Jesus eben der Mann des unteren Weges ist, und wenn ihr das auch versucht, dann könnt ihr mitten in dieser Welt, so wie sie ist, die Liebe Gottes glauben und leben.

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Jesu Abschied von den Jüngern 2. S. n. Epiphanias 18. Januar 1976 Johannes 14,5—15 Spricht Thomas zu ihm: Herr, wir wissen nicht, wo du hingehst. Wie können wir den Weg wissen? Jesus spricht: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum Vater denn durch mich. Wenn ihr mich kenntet, so kenntet ihr auch meinen Vater. Und von nun an kennet ihr ihn und habt ihn gesehen. Spricht Philippus: Herr, zeige uns den Vater, so genügt es uns. Jesus spricht: Solange bin ich bei euch gewesen, und du kennst mich nicht, Philippus? Wer mich sieht, der sieht den Vater. Wie kannst du sagen, zeige uns den Vater? Glaubst du nicht, daß ich im Vater bin und der Vater in mir? Die Worte, die ich zu euch rede, die rede ich nicht von mir selbst. Der Vater, der in mir wohnt, der tut die Werke. Glaubet mir, daß ich im Vater und der Vater in mir ist. Wo nicht, so glaubet mir doch um der Werke willen. Wahrlich, wahrlich ich sage euch, wer an mich glaubt, der wird die Werke auch tun, die ich tue, und wird größere als diese tun, weil ich zum Vater gehe. Was ihr bitten werdet in meinem Namen, das will ich tun, auf daß der Vater geehrt werde in dem Sohn. Ja, was ihr bitten werdet in meinem Namen, das will ich tun.

„Mache dich auf, werde Licht". Das ist die Botschaft des EpiphaniasFestes. Finsternis bedeckt das Erdreich und Dunkel die Völker. Aber das Licht geht auf, das Licht: Gott. Gott geht auf als das Licht über der Finsternis der Welt. Das ist die Botschaft dieser Sonntage, die man nach dem Epiphanias-Fest benennt. Dieses Epiphanias-Fest, das altkirchliche „Erscheinungsfest Jesu" redet von dem Licht, das in die Welt kam. Es kam tatsächlich in die Welt. Das Licht leuchtet wirklich, realiter, in Wirklichkeit, so daß man darauf hinzeigen kann: da ist es in der Finsternis der Welt. Aber, und das ist das Erstaunliche, die Welt sieht es nicht, die Welt nimmt es nicht an. Was heißt schon die Welt? Wir sehen es immer wieder nicht. Wir vermögend nicht zu fassen. Wir drehen uns um und wenden uns hin und her und sind befangen in all den Undurchsichtigkeiten unseres menschlichen Daseins und können nicht hindurchgreifen zum Licht. Die Botschaft der Kir81

che, das Licht ist aufgegangen über der Welt, und unsere Einsicht — wir können's nicht fassen — stehen widereinander. Um dieses Thema herum hat der Evangelist Johannes den Hauptteil seines Evangeliums, die sogenannten Abschiedsreden vom 13. bis zum 17. Kapitel, geschrieben. Jesus verläßt die Welt und redet nun zu den Jüngern, was dann sein wird. Im 13. Kapitel beginnen diese Überlegungen, im 14. Kapitel hat Jesus den Jüngern erklärt, daß er hingeht zum Vater, um ihnen die Stätte dort zu bereiten. Und in unserem Text sagt Thomas: Ja, wo du nun hingehst, das wissen wir nicht, und den Weg können wir eigentlich auch nicht kennen. Es geht Thomas und Philippus und es geht den Jüngern offenbar nicht anders als uns. Wenn Jesus ihnen sagt, er geht zum Vater, dann sagen sie, ja, das mag ja wohl sein, aber was ist das schon, der Vater, und wo ist das, und wie kommt man dahin? Auf diese Frage des Thomas antwortet Jesus mit dem strahlenden Wort: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben, niemand kommt zum Vater denn durch mich." Das heißt, bei der Nachfrage nach dem Licht, nach Gott, antwortet er: Ich bin der Weg. Das heißt, diese Frage nach Gott, das Drängen nach dem Licht aus all unserer Finsternis heraus, die Angewiesenheit auf die Weisung Gottes, weil wir nicht wissen, wie wir gehen sollen, beantwortet er mit einem Verweis auf sich selbst: Ich, ich Jesus, bin der Weg und die Wahrheit und das Leben. Die Wahrheit und das Leben, das ist ja Gott. Jesus ist also der Weg, und er ist das Ziel. Er ist also der Weg, den man nicht verlassen kann, der niemals zu Ende ist, den man nie zu Ende gehen kann, so daß man sagen kann: nun habe ich das hinter mir, jetzt weiß ich Bescheid. Er ist der Weg, auf dem zu bleiben wir in der Nachfrage nach dem Licht angewiesen sind. Aber er ist auch die Wahrheit und das Leben. Er ist nicht nur der wahrhaftige und der lebendige Weg, sondern er ist als dieser Weg, auf den wir treten, auf dem wir gehen, die Wahrheit und das Leben selbst. Und wenn wir auf den Weg treten, so sind wir also schon da. Das ist ja wohl gemeint: Wir müssen auf diesen Weg treten. Und wo wir's beginnen, da sind wir schon am Ziel. Denn er ist der Weg und die Wahrheit und das Leben. Wenn das so ist, dann führt kein anderer Weg zum Vater als durch ihn. Sagt Philippus: Herr, zeige uns den Vater, das genügt uns dann. Das heißt, Philippus fragt noch mal zurück und sagt, ja das mag ja alles ganz schön sein mit dem Weg und der Wahrheit und dem Leben. Das ist ja auch wahrscheinlich sehr erbaulich zur Kenntnis zu nehmen, aber nun zeige uns doch endlich den Vater. Wir wollen den Vater 82

endlich mal ganz unmittelbar sehen. Was sind das für Geschichten mit Weg und Wahrheit und Leben. Das versteht letztlich kein Mensch. Zeige uns den Vater, dann genügt uns das. Eine höchst einleuchtende Angelegenheit ist diese Rede des Philippus. Wir möchten wohl eben diese Rede auch immer wieder halten. Wir möchten das nicht nur, wir tun's ja. Was ist unser Leben schon anderes zumal im kirchlichen Raum, als daß wir immer wieder versuchen, Gott auf den Tisch zu legen und sagen, da hast du ihn. Wir versuchen als Kirche wie als Theologie den Vater plausibel zu machen — vielleicht als die große Weltidee oder als das Sinnganze des Lebens oder als der uns letztlich Angehende. Es ist wohl so, daß man über diesen Philippus gar nicht so sehr spotten soll. Obwohl Johannes dieses Unverständnis der Jünger immer wieder als Stilmittel verwendet — es steckt wohl mehr als ein Stilmittel dahinter. Es steckt das dahinter, was uns allen im Blut liegt: wir wollen nun endlich ganz genau wissen, wie das mit diesem Gott ist. Wenn wir das nicht ganz genau gesagt bekommen, dann sagen wir: Es ist nichts mit der Kirche, gehen wir woanders hin. Das ist ja doch so, daß wir die Unruhe, das Licht über unserem Leben zu verfehlen, nie loswerden und nie loswerden können. Dies ist die Finsternis, die das Erdreich deckt und das Dunkel, das über den Völkern liegt. Dies ist das Dunkel und die Finsternis, die über jedem Lebensweg mächtig sind. Denn wenn es eine Lebenserfahrung gibt, dann ist es ja doch wohl die: wir wissen das auch nicht, wie man das macht mit dem Leben. Wir können das auch nicht sagen, wie man das Leben richtig zu Ende bringt. Wir können noch nicht einmal sagen, ob wir uns eigentlich unseren Eltern gegenüber richtig verhalten haben oder ob wir das mit unseren Kindern in der Erziehung richtig gemacht haben. Nicht einmal das können wir sagen. Wir können auch nicht sagen, ob wir im politischen oder wirtschaftlichen Bereich oder im Bereich von Bildung und Reform eigentlich das Richtige tun. Wir sind so am Tasten, wie Leute in der Finsternis und im Dunkel. Und nun fragen wir nach dem Licht! Wir sind darauf angewiesen, wir müssen danach fragen. Denn man soll ja nicht meinen, daß die Menschen so oberflächliche Kreaturen sind. Die Menschen meinen es schon sehr ernst. Und wir meinen das auch sehr ernst. Aber wir wissend halt nicht. Und darum möchten wir gerne Gott auf dem Tisch haben wie Philippus. Zumal müssen wir Christen der nachgeborenen Generationen, von denen die Abschiedsreden reden, uns ja deutlich machen: wenn er, Jesus, der Weg, die Wahrheit und das Leben ist, was und wo und wie ist er denn nun eigentlich das Licht? Philippus 83

und Thomas, die konnten nichts sagen. Denn da stand ja vor ihnen der abgerissene Wanderprediger. Wir meinen oft und wir gewöhnen uns wohl daran, so zu tun, als verstünde sich das ja wohl von selbst, daß dieser Jesus ein Gott und Gottes Sohn und der Herr der Welt und sonst noch was Schönes ist, weil wir schon immer wissen, wie's ausgegangen ist mit der Auferweckung, oder weil wir einfach eben in den Traditionen leben, die uns so überkommen sind, und man hat's uns gesagt, er ist Gottes Sohn, na schön, also ist er Gottes Sohn. Aber' wieso eigentlich? O b wir das eigentlich bewahrheiten können in unserem Leben, das ist ja die Frage. Und wenn Jesus den Thomas auf sich selbst verweist, daß er der Weg, die Wahrheit und das Leben sei und uns damit bei unserer Nachfrage, bei dem dringenden Bedürfnis nach Gott, auf sich, auf ihn, auf Jesus verweist, dann ist ja die Frage, wieso ist denn eigentlich dieser Jesus da als Weg, als Wahrheit und als Leben? Wie kann man denn das bewahrheiten? Wie können wir das denn in all den Unklarheiten unseres Daseins realisieren, in Wirklichkeit umsetzen, vielleicht auch in Handlungen umsetzen? Was gewinnen wir denn eigentlich an dieser Stelle, wo wir auf diesen eigentümlichen Mann stoßen? „Zeige uns Gott, das genügt uns." Darauf antwortet Jesus nun dreifach. Zunächst sagt er: Wenn ihr mich kenntet, so kenntet ihr auch meinen Vater. Ich und der Vater sind eins. Wer mich sieht, der sieht den Vater. In diesen Worten faßt sich die Erfahrung der Menschen zusammen, die Jesus begegnet sind. Die Menschen, die Jesus begegnet sind, waren in dem tiefen Erschrecken darüber befangen, daß da, wo Jesus spricht und handelt, Gott gegenwärtig wird. Das war der zentrale und der beglückende Eindruck dieses Mannes seiner Worte und seiner Taten. Dieses Erschrecken, d. h. dieses Bewußtsein, da ist einer, der hat Vollmacht, da ist einer, der redet nicht so im Vorläufigen, der handelt nicht so aus relativen Möglichkeiten, Einsichten, Größen, da ist einer, der handelt nicht so wie wir in Finsternis und Dunkelheit, sondern der hat Vollmacht, geht ja so weit, daß die Leute schon meinten, wenn sie seine Kleider nur berührten, dann werden sie gesund, dann geschieht ihnen das Heil. Diese Grunderfahrung faßt das Johannes-Evangelium in den Worten von der schlechthinnigen Einheit des Vaters und des Sohnes, von dem Innesein des Sohnes im Vater und des Vaters im Sohn immer wieder zusammen. Das ist offenbar die Quintessenz und der zentrale Inhalt dessen, was das Zeugnis der ersten Gemeinde uns sagt. Das heißt, zunächst und an erster Stelle wird Philippus genauso wie Thomas in seiner Nachfrage nach Gott gleichsam zurückgeholt: Nun laß mal die hohen Dinge mit 84

Gott sein. Hier gilt es, ich und der Vater sind eins. Hier in dieser Wirklichkeit Jesu von Nazareth, in dieser Wirklichkeit dieses Predigers, der nicht hat, wohin er sein Haupt lege, geht es um Gott. In dieser Wirklichkeit mußt du anfangen, wenn du nach Gott fragst. Das ist einerseits einfältig, wie es nicht einfältiger sein kann. D a haben wir alle die uns wohlvertrauten, von Kindheit an uns liebgewordenen Geschichten von diesem Jesus. Und wir haben seine Gleichnisse und seine Worte. Und wenn wir unter der Finsternis der Welt und unter dem Dunkel der Geschichte leiden, dann heißt es also: Da, in diesen wohl vertrauten Geschichten, diesen wohlvertrauten Gleichnissen und Reden, da ist das Licht. Das ist so einfach, daß wir den Kopf schütteln und sagen: N a ja also, wir haben doch höhere Probleme, z. B. mit der Bildungsreform und mit der Mitbestimmung und alle diese Dinge. Was kommt mir denn mit diesen lächerlichen Geschichten da aus dem Evangelium, z. B. der vom barmherzigen Samariter, an großen Einsichten? Das ist ja alles ganz nett, aber wir sind doch mit Höherem befaßt. Eben gerade das ist es, was unser Text uns sagt. Hier, bei diesem Jesus ist das Licht und sonst nirgendwo. Ich bin der Weg, und ich bin die Wahrheit und das Leben. Das ist das Erste. Das Zweite, was Jesus sagt: Wenn ich nun fortgehe, wahrlich, wahrlich ich sage euch: wer an mich glaubt, der tut die Werke auch, die ich tue. Wer also in diesen Zusammenhang eintritt, den die Geschichten von dem Jesus und seine Worte darstellen, der tut die Werke auch, die ich tue. Wenn wir also nach Gott fragen und ihn immer wieder nicht finden, und wenn wir dann auf diesen Jesus gewiesen sind und aus dem Zweifel nicht herauskommen, na sollte da etwa irgendwas sein, diese Einfältigkeit sollte unsere hochkomplizierte Welt als Licht begaben? Dann sagt Jesus: J a , ob ihr eigentlich in dem Zusammenhang seid, auf den es ankommt, nämlich, ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben, das könnt ihr daran sehr deutlich erkennen, daß ihr die Werke tut, die ich auch tue: J a , die Werke, die Jesus getan hat, daß er den Sündern nachging, und daß er die Zöllner besuchte, und daß er mit den Pharisäern zu Tische lag, und daß er das Reich, das Reich Gottes in seiner Gegenwart darstellen konnte, und daß die Liebe Gottes, die er den Menschen erwies, Gerechte und Ungerechte, Gute und Böse umfaßte! Wer an mich glaubt, wer diesen Weg betritt und dabei wie Philippus stolpert und sagt: Nun zeige uns doch endlich Gott, der soll sich fragen: tue ich eigentlich die Werke, die Jesus getan hat? Und wenn nicht, dann ist das alles Larifari, was ich von Jesus alles schwatze. 85

Wenn ich die Werke nicht tue, dann bin ich offenbar nicht in dem, was unser Text hier Glauben nennt, d. h. also nicht in der Erschlossenheit zu diesem Licht, zu diesem Jesus. Es geht bei diesem Jesus nicht ab mit rationalen Erkenntnissen, sondern die ganze Einfältigkeit seines Daseins will und soll und kann die Einfalt unseres Daseins werden: Der tut die Werke, die ich auch getan habe. Wenn wir uns das so überlegen und unser eigenes Leben überdenken, wie das im allgemeinen aussieht, dann müssen wir ja wohl sagen, das ist ein hartes Wort. Natürlich, ja, ja, wir sind ja für karitative Angelegenheiten, wir geben ja auch was in den Klingelbeutel, machen wir. Wir gehen vielleicht auch noch zur Bibelwoche, einen Abend, aber mehr nicht. Aber das ist ja alles das nicht, worauf es ankommt. Die Werke, die Jesus getan hat, das Reich Gottes, im Reden, im Leben, im Dasein, im Handeln, diese Liebe Gottes darzustellen, zu leben, Wirklichkeit werden zu lassen, und das ja in den lächerlichen nicht zu beobachtenden Kleinigkeiten des Lebens — nicht also mit riesigen Angelegenheiten, ja das wäre ja vielleicht wunderschön — sondern tagtäglich, wo es eigentlich ums Leben geht, wo unsere Kinder etwas von uns wollen, und wir sind gerade bei der Arbeit und sind durch sie gestört; oder wo unsere Frau dies und das will oder was immer es sei, da kommt's darauf an. Das Reich, das Reich Gottes — ach was haben wir alles für Ziele und Pläne, die sind ja auch wunderschön — aber das Reich, das ist der Inhalt und das Ziel unseres Daseins. J a , das ist gemeint. Die Erfüllung unseres Daseins, die wir in unseren beruflichen Pflichten, in unserer Familie, in unserem Dasein als politische Bürger dieser Bundesrepublik und so weiter alle mit Recht sehen, dieser ganze hochkomplizierte Bereich soll sich in unserem Glauben, in unserem Bewußtsein, in unserem Willen zusammenfassen auf die Einfältigkeit des Reiches Gottes, und das heißt auf die Wirksamkeit der Liebe Gottes. Das aber heißt dieses Dasein unter den Zöllnern und Sündern nicht wie eine freundliche Wohltat, nicht wie ein Almosen sondern wie Grund, Ziel, Inhalt und Sinn unseres modernen Daseins leben. Das ist eine erhebliche Zumutung. Wir sind ja doch so modern. Und in all dieser Modernität soll es um dieses schlichte, einfältige, maßlos schwere Reich Gottes gehen. Dies „bißchen" Liebe macht es offenbar. Es kommt ja eben nicht auf die großen Aufschwünge an, sondern es kommt auf das kleine stündliche Offensein zur Liebe an. Ein Drittes sagt Jesus noch: Wenn ihr denn nach Gott fragt, und das tut ihr ständig und müßt ihr auch in all der Finsternis und Dunkelheit, in der ihr wohnt, wenn ihr euch denn nach dem Licht ausreckt 86

und es euch habt sagen lassen, ich und der Vater sind eins, und es zu Herzen nehmt und tatsächlich die Werke tun könnt, die ich, Jesus, getan habe, dann könnt ihr drittens auch das wissen: Was ihr bitten werdet in meinem Namen, das will ich tun. Das ist eine große Sache. Was ihr bitten werdet in meinem Namen! N u n , dieses im Namen Jesu Bitten ist ja nicht einfach, daß wir jedem Gebet das „im N a m e n deines Sohnes Jesus Christus" voranstellen. Das pflegt man zwar zu tun, das ist auch eine gute Sache, aber dieses „Im N a m e n Jesu" ist mehr als diese einfache Berufung des Namens. Der N a m e ist sowohl im semitischen wie im griechischen Bereich jener Zeit viel tiefer. Dieser N a m e ist die K r a f t und die Macht. U n d das, was da eigentlich in diesem Jesus an Dynamis, an Macht und an Richtung, und zwar an Richtung auf das Reich drinsteckt. Im N a m e n Jesu reden, das heißt, in der Ausrichtung auf das Geschenk des Reiches, im Licht dieser Liebe, in der Umfangenheit von diesem Weg reden. Das heißt, im N a m e n Jesu beten, ist wohl eine ganz große Sache. Wenn man das kann, wenn man es fertigbekommt in all den alltäglichen Problemen mit Eltern und mit all den Eheschwierigkeiten, die es heute gibt, und mit den emanzipierten Kindern und mit all den Dunkelheiten des Wirtschaftlichen und Politischen und mit den nicht endenden grauenhaften Metzeleien auf der Welt, dann ist das eine ganz große Sache. Wenn wir in all diesem es fertigbekommen, dieses alles auf das Reich Gottes zu versammeln, dieses alles in ein liebendes H e r z aufzunehmen. Eben gerade diese ganzen Verfehlungen, die uns kränken, diese ganzen Häßlichkeiten mit einem liebenden H e r z zu empfangen, zu nehmen und sich ihnen zu stellen, dann sind wir auf dem Weg, im N a m e n Jesu zu beten. Das ist nun allerdings eine ganz eigene Geschichte, die auch als Geschichte der christlichen Kirche einherläuft, eine Geschichte von großen Wundern. Wir sehen, daß Menschen, die dieses fertiggebracht haben, umgeben sind von lauter Gebetserhörungen, von lauter Wundern auf dem Hintergrund des Gebets. Es gibt kein Leben der großen Männer der Kirche, es sei nun Bodelschwingh, der Bethel bauen will, oder es sei Blumhardt, der sein Bad Boll baut, oder es sei Augustin oder es sei Luther oder Bengel — es gibt kein Leben dieser großen Leute und wohl auch kein Leben der ganz stillen einfachen Gotteskinder z. B. im schwäbischen Pietismus oder wo immer, deren Leben nicht voll ist von Erfahrung, daß es so ist: Wo wir im N a m e n Jesu bitten, da tut er das. D a geschehen „Wunder". Unter Wundern verstehen wir dabei, daß es rational nicht mehr abzuleiten ist, wenn da Dinge geschehen, die durch das Gebet hervorgerufen und ohne das 87

Gebet nicht wären. Das ist das Dritte, was Jesus sagt. Wenn ihr nun also aus all eurer Finsternis heraus nach Gott fragt, und das tut ihr ja, und wenn ihr dann erfahrt, ich — Jesus — bin der Weg und die Wahrheit und das Leben, und wenn ihr dann in die Bibel schaut und die Erfahrung der ersten Christen wahrnehmt, dieser Jesus ist die Macht Gottes und das Licht über der Welt, dann könnt ihr versuchen, das zu tun, was ich getan habe, das heißt: ins Lieben geraten. Und wenn ihr das tut und wenn das Ziel eures Lebens dann immer einfältiger sich zusammenfaßt auf das Reich Gottes, dann könnt ihr beten, und alles wird euch erfüllt. Nicht deswegen, damit es euch erfüllt wird, sondern auf daß der Vater geehrt werde in dem Sohn. Das heißt, da sind wir beim Vater und bei dieser Herrlichkeit des Vaters, d. h. bei seiner Gegenwärtigkeit. Und wenn wir von all dem reden, von diesem Jesus und von der Nachfrage nach dieser Liebe in unserem Leben und bei dem Hinschauen auf das helle Licht, daß sein Gebet gibt, was er erhört, dann reden wir immer und alle Wege von dem Vater, von der Gegenwart des Vaters, d. h. von der Herrlichkeit Gottes. „Ich bin der Weg", und wir können den Weg nicht hinter uns lassen, denn dieser Weg „ist" die Wahrheit und das Leben.

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Jesu Erweckung von den Toten Quasimodogeniti 25. März 1976 1. Korinther 15,1-19

Ich erinnere euch, meine Brüder, an das Evangelium, das ich euch verkündigt habe, das ihr ja auch angenommen habt, in dem ihr ja auch gestanden habt, das euch ja auch retten wird eben mit dem Wort, mit dem ich es euch verkündigt habe, ob ihr es wohl annehmt, es sei denn, ihr habt umsonst geglaubt. Denn ich habe euch von Anfang an überliefert, was ich auch empfangen habe, nämlich: Christus ist gestorben für unsere Sünde nach der Schrift, und er ist begraben, und er ist erweckt am dritten Tage nach der Schrift, und er ist erschienen dem Kephas und danach den Zwölf. Danach ist er erschienen mehr als 500 Brüdern auf einmal, von denen die meisten bis heute leben, einige aber sind entschlafen. Danach ist er erschienen dem Jacobus, danach allen Aposteln, zuletzt von allen wie einer unzeitigen Geburt auch mir. Denn ich bin der Geringste der Apostel, der ich nicht würdig bin, Apostel zu heißen, weil ich die Kirche Gottes verfolgt habe. Durch Gottes Gnade aber bin ich, was ich bin. Und seine Gnade ist bei mir nicht leer geblieben, denn ich habe mehr als alle anderen gearbeitet, nicht ich, sondern die Gottesgnade mit mir. Ob nun ich oder die anderen, ebenso haben wir euch verkündet und so habt ihr geglaubt. Wenn aber Christus verkündigt ist, daß er von den Toten erweckt wurde, wie können dann unter euch einige Leute sagen, es gibt keine Auferstehung der Toten. Wenn es keine Auferstehung der Toten gibt, dann ist Christus auch nicht erweckt. Wenn aber Christus nicht erweckt ist, dann ist unser Zeugnis leer, und leer ist euer Glaube. Auch werden wir erfunden als falsche Zeugen Gottes, die wir gegen Gott dann bezeugt haben, er habe Jesus erweckt, wo denn Jesus gar nicht von den Toten erweckt ist. Wenn die Toten nicht erweckt werden, so ist auch Christus nicht erweckt worden. Wenn aber Christus nicht erweckt worden ist, so ist euer Glaube leer, ihr seid noch in euren Sünden und die in Christus Entschlafenen sind verloren. Wenn wir nur in bezug auf dieses Leben Hoffnung in Christo haben können, dann sind wir die Elendesten aller Menschen. 89

Dieser Text redet von dem Grund christlichen Glaubens. Er redet vom Grund christlichen Glaubens an diesem Sonntag Quasimodogeniti, an dem in der alten Kirche die Neugetauften in den Gottesdienst einzogen und von nun an am Abendmahl der Gemeinde teilnehmen konnten. An diesem Sonntag, einen Sonntag nach Ostern, spricht die Kirche von dem Grund der Möglichkeit christlichen Glaubens: Evangelium; davon ist heute die Rede. Was ist das — Evangelium? Evangelium ist offenbar nicht, es soll kein Leid mehr geben in der Welt, es soll kein Elend mehr geben in der Welt, freut euch alle, denn die Welt wird verändert. Das ist das Evangelium nicht. Dieses Evangelium wäre die Einsicht, von der der Buddhismus lebt. Der Buddhismus entzündet sich an dem Leiden der Welt. Das Christentum nicht. Christen sind offenbar nicht dadurch in Bewegung gebracht, daß es so schrecklich ist in der Welt, wie es ist. Sondern das Evangelium, das, wie Paulus deutlich macht, auf Überlieferung beruht, das man sich gesagt sein lassen muß, das man sich also nicht ausdenken kann, das nicht aus Aufschwüngen der Seele und irgendwelchem Gefühlsüberschwang oder irgend anderen merkwürdigen Dingen hervorgeht, dieses Evangelium besteht aus einer ganz bestimmten Überlieferung. Der Glaube von Christen also hat mit dieser Überlieferung einen ganz bestimmten Inhalt. Und dieser Inhalt heißt: Christus ist gestorben für unsere Sünden nach der Schrift, und er ist begraben worden, und er ist erweckt am dritten Tage nach der Schrift. Er ist dem Kephas erschienen und den Zwölf und und und und und. Dies ist das Evangelium: Er ist gestorben für unsere Sünden. Das ist nicht ein Ereignis, das so von ungefähr passiert ist, sondern es hat einen tiefen, tiefreichenden, in die Geschichte Israels hineingehenden Grund nach der Schrift. Und er ist begraben, und er ist erweckt am dritten Tage nach der Schrift. Das Evangelium ist die Botschaft: So ist es gewesen. Dies ist der Inhalt, wenn man nach christlichem Glauben fragt. Dies ist der Grund, wenn man fragt, worauf stehen Christen eigentlich. Sie stehen darauf, daß er gestorben, begraben und auferweckt ist. Und das sind Ereignisse, die zu einer ganz bestimmten Zeit sich vollzogen haben. Dann und dann, am soundsovielten Tage eines bestimmten Monats und Jahres, da ist er gestorben, und nach drei Tagen, da ist er auferweckt. Das kann man, das muß man und soll man datieren. Das gehört in die Reihe der geschichtlichen Ereignisse. Aber dieses geschichtliche Ereignis hat auch noch einen tiefen Boden in der Schrift, denn nach der Schrift ist dies alles passiert. Es ist nicht von ungefähr, sondern es ist tief mit dem Gotteswort schlechthin, wie es im Alten Testament verkündigt ist, verbunden. 90

Beinah kann man nach der Meinung des Paulus wohl sagen, das geht wie eine Blüte hervor aus dem tiefen Grund dieser Pflanze des Gotteswortes im Alten Testament. Paulus fügt diesem Inhalt der Botschaft, dem Evangelium schlechthin eine Reihe von Zeugen bei, von denen er auch bemerkt: Die meisten leben noch, einige sind schon entschlafen. Dies alles ist wohl die Charakterisierung des Evangeliums, die Paulus nicht selbst formulierte, sondern die er aus den Gemeinden aufnahm und die dort bald nach den Ereignissen des Todes und der Auferweckung Jesu formuliert wurde. D a waren die Leute, denen Jesus, der Gekreuzigte, dann lebendig erschienen ist, eben noch da. Paulus selbst reiht sich in die Reihe dieser Apostel ein, wenn er auch der Geringste ist, der die Kirche verfolgt hat. Aber auch ihm ist der Auferweckte erschienen — als einer unzeitigen Geburt; das war nach der Himmelfahrt, das konnte eigentlich gar nicht mehr sein. Gleichwohl ihm ist der Auferweckte noch erschienen. Dann war nach der Meinung des Neuen Testamentes offenbar Schluß mit den Erscheinungen des Auferweckten. Sie gehören in die Zeit, sie haben eine ganz bestimmte Zeit gehabt, und dann haben sie aufgehört, so wie sie vor einer ganz bestimmten Zeit nicht da waren. Wir müssen also zunächst einmal sagen: Der Inhalt des christlichen Glaubens sind überlieferungsbedürftige und überlieferungsnotwendige Tatsächlichkeiten, die sich in der Geschichte vollzogen haben, die viele Menschen gesehen haben. Man kann die Leute aufzählen, die das gesehen haben, zumal die Erweckung: Die, die und die haben das gesehen, auf die kann man sich berufen als Zeugen dieser Ereignisse. Der Glaube ruht darauf, daß ihm diese Überlieferung gesagt wird, so wie ich euch heute eben dieses sage. Er ist gestorben um unserer Sünde willen, er ist begraben und am dritten Tage ist er vom Tode erweckt. Und nun fährt Paulus fort: Wenn wir das alles verkündigen und wenn wir euch in Korinth diese Überlieferung mitgeteilt haben, wie können denn Leute unter euch in Korinth sein, die sagen, es gibt keine Auferstehung der Toten? Diese Leute in Korinth sagen nicht, Christus ist nicht vom Tode auferweckt, das sagen sie nicht; sondern sie sagen, es gibt keine Auferweckung der Toten. Wir wissen nicht genau, was dahintersteht. Sind es griechische Skeptiker, die sagen: So etwas kann es doch nicht geben, was tot ist, ist tot. Oder sind es Leute, die sagen: Auferstehung der Toten kann es nicht mehr geben, denn es ist schon alles passiert. Wenn wir im Glauben an Christus leben, dann haben wir die Auferstehung schon hinter uns. Vor uns ist gar nichts mehr. 91

Wir wissen es nicht genau, was sie gesagt haben. Aber was wir wissen, ist das, was Paulus dazu sagt, und das ist wichtig. Paulus sagt nämlich, wenn die Toten, wenn ihr, Korinther — das heißt auch, wenn wir hier als Marbacher Gemeinde — meint, ihr stündet nicht vom Tode auf, dann ist Christus nicht erweckt. Das ist also sein Schluß. Wenn die Auferstehung der Toten heute nicht gläubige Wirklichkeit ist, so ist Christus nicht erweckt. Was Paulus hier sagt ist eine Ungeheuerlichkeit. Und diese Ungeheuerlichkeit müssen wir versuchen, uns auch nur annähernd vorzustellen. Was heißt denn das? Das heißt: Da ist der Inhalt des Glaubens, eben jenes Evangelium, Christus ist dann und dann gestorben für unsere Sünden, er ist begraben, er ist auferweckt von den Toten. Dies können bestimmte Leute auch bezeugen. Dieses Evangelium, dieser Inhalt des Glaubens, ist im selben Moment gar nicht mehr da, wo wir an unsere Auferweckung von den Toten nicht glauben. Das Ungeheuerliche ist unser Glaube an unsere Erweckung von den Toten, ist der Grund der Tatsache, daß Christus erweckt ist. Wir können es auch so sagen: Die Ereignisse, die sich da Ostern vollzogen haben, und die Erscheinungen des Erweckten an Petrus, an die Zwölf, an die 500, an Paulus, das alles ist nur so lange und erst dann Inhalt von Evangelium und von Glauben, wo es von den Menschen in Korinth im Jahre 58 nach Christus, wo es von Menschen in Marbach im Jahre 1976 als ihre eigene Auferweckung geglaubt, gewußt, empfangen, gelebt und geliebt wird. Luther hat einmal gesagt: So ist denn der Glaube der Schöpfer der Gottheit. Er meint das nicht etwa so, wie Feuerbach und Karl Marx und andere in der modernen Welt das gemeint haben, daß Gott eine Projektion des Menschen über sich selbst hinaus sei oder daß Gott eine bloße Idee sei. So meint Luther das nicht. Aber Luther meint das allerdings so: Die Gegenwart Gottes in aller Welt in ihrer Schönheit, in ihrem Leiden, in ihrem Glück, in ihrem Elend, diese Gegenwart Gottes in aller Welt ist erst da „wirklich", wo wir glauben, er sei unser Gott, wo wir es erfahren und empfangen, das alles sei uns zu gute, das alles sei unser Leben. Da, wo das bei uns geschieht, wo wir eben dies vermögen, da ist Gott gegenwärtig. So wie Paulus das hier im 1. Korinther-Brief macht. Die Tatsächlichkeit der Auferweckung Jesu besagt als solche nichts — sie ist gar nicht geschehen — es sei denn, wir erfahren an der Botschaft, er ist auferweckt, unsere eigene Lebensgewißheit gegen den Tod und über den Tod hinaus. Darauf kommt es also offenbar an. Denn wenn wir das nicht erfah92

ren, dann ist Christus nicht erweckt. Das Unerhörte an dieser Formulierung des Paulus ist ja dieses: Unser Glaube hat nicht nur etwas mit uns zu tun. Unser Glaube hat auch etwas mit den großen Taten Gottes zu tun. Und je eindeutiger und je lebendiger wir glauben, um so klarer und um so tatsächlicher leuchtet das, was Gott für uns getan hat, hervor. Und wo wir nicht glauben, da sind diese Heilstatsachen nichts. Wo wir denn nicht unsere eigene Lebendigkeit — bestimmt zur Ewigkeit — aus der Verkündigung des Evangeliums heraus erfahren und empfangen, da ist dies Evangelium selbst nicht wahr, da ist Christus nicht auferweckt. Wenn es keine Auferweckung der Toten gibt, dann ist Christus nicht erweckt, und unser Glaube ist leer, und unser Zeugnis ist falsch. Das kirchliche Zeugnis von der Erweckung Jesu, das Osterzeugnis, ist so lange wahr, so lange es Menschen gibt, die darin ihre eigene Erwekkung erfahren und empfangen. Der christliche Glaube ruht auf dem Evangelium, das Evangelium ist die Mitteilung von Tatsachen. Aber das sind Tatsachen von einer ganz besonderen Art: Tatsachen, die nicht als solche so sind, wie sie sind; sondern die dadurch, daß wir sie in unser Herz hineinnehmen, zu dem werden, was sie sind. Denn sonst ist unser Zeugnis lügnerisch; lügnerisch, weil wir bezeugen, Gott hat Christus erweckt von den Toten. Aber wenn es denn keine Menschen unter uns gibt, die die eigene Auferweckung daran und dadurch glauben, dann ist Christus nicht erweckt. Wenn aber Christus nicht erweckt ist, so ist euer Glaube leer. Ihr seid noch in euren Sünden. Und die in Christus Entschlafenen sind alle verloren. Das ist erschreckend, was Paulus hier sagt. Das ist erschreckend, weil es uns deutlich macht, wieweit die Verantwortung reicht, die unser Glaube hat. Sie reicht auch dahin, daß die in Christus Entschlafenen nicht verloren sind. Was ist das für eine Verantwortung, die der Glaube — unser Glaube, daß wir leben werden — für die Tatsache des Heils selbst, für die Schuld der Welt und für das Schicksal der Entschlafenen trägt. Wenn wir denn, sagt Paulus, Leute sind, die nur in bezug auf dieses Leben eine Hoffnung in Christo haben, dann sind wir die elendesten der Menschen. Die elendesten der Menschen sind also die, die sich in ihrer Hoffnung nur mit dieser Welt und diesem Leben befassen. Das sind die elendesten der Menschen. Denn diese Welt und dieses Leben ist dem Tode und der Verwandlung verfallen. Wenn man sich mit seiner Hoffnung nur in dieser Welt bewegt, dann bewegt man sich nur im Kreise des Todes und ist der elendeste Mensch. Aus diesem tiefen Elend kommen wir erst heraus, meint Paulus, wenn wir uns über diese Welt und ihre Todverfallenheit erheben, wenn wir 93

die Botschaft, daß Jesus den Tod hinter sich gelassen habe, kühn auf uns zu beziehen wagen. Es geht um unser Leben über allen Tod hinaus. Wir stellen uns auf die Botschaft des besiegten Todes, unsere ewige Bestimmung ergreifend mit jeder Zelle unserer Leibhaftigkeit und mit allen Fasern unseres somatischen Daseins. In all unserer Verfallenheit, in all unserer von Krankheit mitten in einem vom herannahenden Tod gequälten Leben betreten wir diesen Boden: Das Leben ist uns in Christus gewiß. Das ist angesichts aller unserer Tode, die wir täglich sterben, eine ganz große Einsicht. Und damit passiert ja nicht nur bei uns etwas, sondern damit passiert etwas in bezug auf die in Christus Entschlafenen, damit passiert etwas in bezug auf die Schuld aller Welt, damit passiert letztlich etwas in bezug auf Christus selbst. Sein Auferweckungsieben wird strahlend hell, wirklich, tatsächlich, wo unser Glaube an unsere ewige Bestimmung unsere eigene Lebenswirklichkeit wird. Unsere eigene Lebenswirklichkeit, das heißt, wo wir in unserer Welt, in der wir stehen, das heißt, in unserer Berufswelt, in unserer Arbeitswelt, wie man das heute nennt, als Leute da sind, die den Tod nicht mehr wahrhaben wollen und auch nicht mehr wahrzuhaben brauchen! Wo wir als solche Leute in unserer Arbeitswelt sind, die den Tod überwunden wissen und die ewige Bestimmung ihres Lebens angenommen haben, die es also der Welt nicht mehr abnehmen, daß sie nur dem Sterben gehört und daß sie sich immer um ihr eigenes Sterben dreht, da wird unser eigenes Leben immer unwichtiger und zugleich immer heller. Zeugen der Auferweckung, der Auferstehung der Toten, der Auferweckung Christi, des Lebens der Entschlafenen bei Gott und der Bewältigung der Schuld der Welt. Was ist das für eine hohe Sache, daß wir als solche Leute in der Welt dasein können. Was ist das für eine machtvolle Freude, daß es in der Welt Leute gibt, die von dieser Gewißheit her leben, denen man das wahrscheinlich auch ansehen und anmerken kann, daß sie nicht mehr so daherschleichen unter der Last des Sterbens, dieses ewigen Sterbenmüssens. Mit der nüchternen Sachlichkeit der Kinder Gottes, die die Tatsächlichkeit des Todes als das Überwundene ins Auge fassen können, als das, was ein Übergang ist und die all das Leiden der Welt zwar als eine schlimme Sache, aber als im Leben Gottes überwunden ansehen können, gehen wir durch unsere Welt. Damit bekommen wir Christen den Blick frei, unverstellt das Leiden dieser Welt und den Kummer dieser Welt ins Auge fassen zu können. Nicht wie die Buddhisten durch das Leiden der Welt in Bewegung gebracht, sondern wie Christen durch das Leben Gottes in Bewegung gebracht als die Sieger, als die Überwinder, 94

als die Freien von all den Gebundenheiten des Todes, die sich dieser Welt aus dieser Freiheit heraus zuwenden, um in dieser Welt die Gewißheit dieses Lebens darzustellen. Nicht nur durch Reden, es geht um die ganze Körperlichkeit, durch alles also, so wie wir da sind in der Welt. Dazu gehört auch die Pflege unseres Leibes, dazu gehört auch die Keuschheit unserer Gedanken. Wo wir als solche Zeugen von unserer eigenen Auferweckung, von unserer eigenen Bestimmtheit zum ewigen Leben in unserer Welt sind, da leuchtet die Ostertatsache und damit das Evangelium vor der Welt auf. Gott sei Dank, in Jesu Christo.

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Jesus, der Hirte unserer Seelen Misericord. Domini 9. April 1978 1. Petrus 2,18-25 Ihr Knechte seid Untertan mit aller Furcht den Herren, nicht allein den gütigen und gelinden, sondern auch den wunderlichen. Denn das ist Gnade: so jemand durch das Gewissen Gottes das Übel verträgt und leidet das Unrecht. Denn was ist das für ein Ruhm, so ihr um Missetat willen Streiche leidet? Aber wenn ihr um Wohltat willen leidet und erduldet, das ist Gnade bei Gott. Dazu seid ihr berufen; sintemal auch Christus gelitten hat für uns und uns ein Vorbild gelassen, daß ihr sollt nachfolgen seinen Fußtapfen; welcher keine Sünde getan hat, ist auch kein Betrug in seinem Munde erfunden; welcher nicht wiederschalt, da er gescholten ward, nicht drohte, da er litt, er stellte es vielmehr dem heim, der da recht richtet; welcher unsere Sünde selbst hinaufgetragen hat an seinem Leibe auf das Holz, auf daß wir, der Sünde abgestorben, der Gerechtigkeit leben, durch welches Wunden ihr seid heil geworden. Denn ihr wäret wie die irrenden Schafe. Nun aber seid ihr bekehrt zu dem Hirten und Bischof eurer Seelen.

Der zweite Sonntag nach Ostern ist nach den Perikopen dieses Sonntages der Lobpreis des Auferweckten unter dem Bilde des Hirten. Die Texte dieses Sonntages — Introitus-Vsalm, Evangelium wie Epistel — sind an diesem Bilde ausgerichtet. Man verkündet den auferweckten Gekreuzigten als den, der der Hirte von Psalm 23 ist, der gute Hirte aus der Bildrede von Johannes 10, und hier in der Epistel der Hirte und Bischof unserer Seelen. Man kann, wie diese drei Texte zeigen, sehr verschieden von Gott als dem Hirten oder von Christus oder vom Auferweckten als Hirten sprechen. Im Psalm 23, da ist es die Gewißheit: Er führt mich auf rechter Bahn. Und wie immer das Dunkel aussehen mag, durch das ich hindurchgehen muß, er ist bei mir, mein Stecken und Stab, mir kann gar nichts passieren. Im Evangelium Johannes 10 wird von Jesus als dem Hirten geredet — aber anders: Ich bin der gute Hirte. Der Mietling, der läuft davon, wenn die Gefahr kommt. Aber ich bleibe da; denn ihr seid die Meinen. Ich kenne euch, wie mich der Vater kennt. Ihr kennt mich. Diese 96

Zusammengehörigkeit, dieses Zueigensein von Christus und Christen, diese Einheit von Gemeinde und ihrem Hirten gegenüber den falschen Hirten ist das Ziel dieser Rede. Und man kann auch wohl, und man muß wohl auch so von dem Hirten reden, wie es unser 1. PetrusBrief tut. Das wollen wir fragen und uns sagen lassen, wie unsere Epistel das tut, und was hier das Bild des Hirten und des Bischofs unserer Seelen sagt. Zunächst, die Rede von dem Hirten und Bischof unserer Seelen meint ja wohl dies: Seele, das heißt im Griechischen psyche, ist Leben, sofern es vereinzelt, besonders, für sich individuiert ist. Jedes individuierte Leben ist nach Anlage und Schicksal etwas ganz Eigenes. Jede „Seele" ist anders als jede andere „Seele". Jedes Leben ist etwas ganz Bestimmtes. Und dieses bestimmte Leben hat seinen eigenen Hirten bekommen. Das heißt, bei diesem Hirten geht es nicht um allgemeine Lebenswahrheiten, sondern bei ihm geht es um einzelne Schicksale. Jeder einzelne mit seinem Schicksal, wir mit unserem Geschick haben in dem Auferweckten unseren Hirten empfangen. Wie kann das sein? Der Vers sagt: ihr wart wie die Schafe, die in die Irre gegangen sind, nun aber habt ihr den Hirten euerer Seele. Das heißt, gegenüber all dem Irrsal und Wirrsal menschlichen Daseins — und das sieht für jeden Menschen anders aus — gegenüber all diesem Irrsal und Wirrsal tritt jetzt der in unser Leben, der unsere Irrungen zurechtbringen kann und will. Das ist das Thema des Hirtenbildes dieser Epistel. Die Ausfüllung dieses Themas geschieht in unserem Text in doppelter Weise. Erstens in einem Verweis auf Jesus Christus selbst (v. 21 b—24), und zweitens in dem die Sache selbst konkret gemacht wird (v. 18—21 a). Als erstes sagt unser Text: Er, Christus, hat uns ein Vorbild gelassen, daß ihr sollt nachfolgen seinen Fußtapfen. Das Wort, das hier im griechischen Text für Vorbild steht, heißt eigentlich nicht Vorbild, sondern bezeichnet eine „Fibel". Es gab zu dieser Zeit im Hellenismus Zusammenstellungen für ABC-Schüler. Und in diesen Zusammenstellungen waren die ganzen Buchstaben des Alphabets in drei, vier, fünf Worten zusammengefaßt und wurden auswendig gelernt. So eine „Fibel" ist Jesus für uns. Oder Jesus hat uns so eine Fibel hinterlassen wie die, an der ABC-Schüler lernen können, so daß wir ihm, wie die kleinen i-Männchen alles nachsprechen oder nachschreiben können. Der Inhalt dieser „Fibel" wird dreifach gegeben, in drei Relativsätzen, die einander folgen. 1. Welcher keine Sünde getan hat. Ist auch kein Betrug in seinem Munde erfunden. 2. Welcher nicht wiederschalt, da er gescholten ward, nicht drohte, da er litt. Er stellte es dem heim, 97

der recht richtet. U n d 3. Welcher unsere Sünde selbst hinaufgetragen hat an seinem Leibe auf das Holz. Das sind die drei Teile dieser „Fibel", nach der Christen in der Welt da sind und ihr Christsein leben. Das heißt also, wo man anfängt seinen Glauben zu buchstabieren, da geht es nicht so los: Ich glaube, daß das und das wahr ist, sondern da fängt es an: Er hat keine Sünde getan, und er hat keinen Betrug verübt. Das heißt, wo es losgeht mit dem christlichen Glauben, da fängt es nicht an, das und das mußt du fürwahrhalten, sondern da fängt es an: Wie ist das eigentlich mit den Betrügereien in deinem Leben. Wie ist das eigentlich mit dem, was man so Sünde nennt, mit der Untreue und der Häßlichkeit und mit der Ungeduld, in der wir miteinander umgehen. Wie ist es eigentlich damit? So fängt es an. Das ist das ABC. Eine höchst praktische Angelegenheit. U n d wenn man sich auf dem Hintergrund der Geschichten von diesem Jesus, wie er in Palästina herumgegangen ist, wie er gelebt hat, wie er mit seinen Jüngern, wie er mit den Pharisäern umgegangen ist, sein eigenes Leben betrachtet, dann liegt der Schluß ja nicht fern: Ja, mit uns ist das eine ziemlich kümmerliche Sache. U n d das, was von Jesus gesagt werden kann, daß an ihm kein Betrug war, das können wir von uns wohl sowieso nicht sagen. Schon das Bemühen darum, sich aus diesen ganzen triebhaften Bindungen mehr und mehr zu lösen, schon der Versuch ist von ungemeiner Schwierigkeit. Das Zweite, was unser Text sagt, vertieft dies noch: Welcher nicht wiederschalt, da er gescholten wurde, nicht drohte, da er litt, er stellte es aber dem heim, der recht richtet. U m dies Wort ganz zu verstehen, müssen wir uns klarmachen, daß unser ganzes Leben ja in Wechselseitigkeiten besteht. Das ist in unserer Liebe so. Das ist so bei Sympathie und Antipathie. Ja, unser ganzes wirtschaftliches, politisches, unser ganzes öffentliches Dasein besteht in Gegenseitigkeiten oder Wechselseitigkeiten. Aus diesen Wechselseitigkeiten meint Jesus uns herausführen zu sollen. Das durchzieht ja die ganzen Evangelien: Ihr sollt nicht die grüßen, die euch wiedergrüßen, ihr sollt nicht die einladen, die euch wieder einladen. Sondern es geht um eine Liebe, die den Gegenstand selbst setzt. Eine Liebe ist dies, die den Nächsten nicht liebt, weil er so liebenswürdig ist. Gott liebt mich ja nicht, weil an mir was dran ist, sondern obwohl ich verloren bin. Das ist diese Liebe. Das ist die Liebe, die, wenn sie gescholten ist, nicht wiederschilt, die, wenn sie leidet, nicht droht, die nicht sagt: wie du mir, so ich dir. Das ist f ü r unser Selbstbewußtsein fast unmöglich. Aber das wird uns zugemutet: als ABC unseres Glaubens. D a ß wir in unserem Umgang, in unserem täglichen Umgang mit den Menschen um 98

uns herum nicht auf einen groben Klotz einen groben Keil stellen, daß wir nicht Böses mit Bösem und Gutes mit Gutem vergelten, sondern daß wir aus diesem Mechanismus des Lebens herausspringen und für die Liebe, für diese Liebe — die Liebe Gottes — eintreten, darauf kommt es an. Damit ist jener erste Bereich — er hat keine Sünde getan, und Betrug ist in seinem Munde nicht erfunden — vertieft auf seinen Grund, die Wechselseitigkeit des Lebens. Diese Wechselseitigkeit ist unser Leben. Aber sie soll überstiegen werden, zurückgelassen werden als das, worin diese Welt sich selbst genug ist, aber worin sie sich Gott verschließt. Denn Gott handelt anders. Er handelt in der souveränen Setzung des Gegenstandes seiner Liebe. Und das Dritte: Welcher unsere Sünden selbst hinaufgetragen hat an seinem Leibe an das Holz, auf daß wir der Sünde abgestorben, der Gerechtigkeit leben, durch welches Wunden ihr seid heil geworden. Diese Worte stammen aus Jesaja 53, aus einem der GottesknechtLieder. Das heißt, das was Jesus getan hat, wird gedeutet nach diesen Gottesknecht-Liedern. Und da in Jesaja 53, wo diese Worte herstammen, da geht es weiter: Denn wir gingen alle in die Irre wie Schafe, ein jeglicher sah auf seinen Weg. Aber der Herr warf alle Sünde auf ihn. Wir wissen jetzt, was mit dem Irrtum: ihr aber wart verirrte Schafe, was damit eigentlich gemeint war. Damit war dieses von Jesaja 53 gemeint: jeder sieht auf seinen Weg. Er aber hat nicht auf seinen Weg gesehen, sondern Gott hat ihn auf unseren Weg gestellt, so daß wir der Sünde abgestorben, der Gerechtigkeit leben können. Der Sünde abgestorben, das wäre schön. Das soll aber so sein! Das ist nicht nur die Meinung hier des 1. Petrus-Briefes, sondern die Meinung des ganzen paulinischen Briefkorpus. Eigentlich „können" die Christen überhaupt nicht mehr sündigen, sie „können" das gar nicht mehr, da sie in der Taufe der Sünde abgestorben sind (Rom. 6). D a , wo wir aus der Wechselseitigkeit dieses Daseins herausspringen, da ahnen wir etwas von dem Tod, in den unsere Sünde hineingegeben wird. Das ist dasselbe, als wenn wir sagen: nicht mehr auf seinen eigenen Weg sehen, sondern auf den Weg des anderen. Können wir das? Sicher nicht. Erstens schaffen wir's nicht, und zweitens: Was wird dann aus der Welt? Wir müssen auf unseren Weg sehen. Wir sind gebannt in die Wechselseitigkeiten des wirtschaftlichen Daseins, wir sind verurteilt zu all den Triebhaftigkeiten, in denen wir uns bewegen. Aber, in und mit den Fraglichkeiten unseres Daseins in der Welt, auf die wir angewiesen sind, geht es um das A B C des Glaubens. Dieses A B C des Glaubens kommt auf uns zu als 99

die Nachfrage: Wie hältst du's eigentlich mit deinem Dasein, wo du einem anderen Menschen begegnest und er dich vielleicht braucht. Wie hältst du's damit eigentlich? Siehst du da auf deinen Weg? Und es ist wohl auch so: Die Entscheidungen, die wir in den Wechselseitigkeiten dieser Welt, also zum Beispiel im wirtschaftlichen Bereich treffen müssen und die sich an die Wechselseitigkeit halten müssen, an das „Wie du mir, so ich dir!", die sehen immer noch anders aus, wenn einer sie übt, der um die große Fraglichkeit dieses Sachverhaltes weiß, als einer, der diesen Sachverhalt für großartig hält. Das ist also die erste Antwort auf die Frage nach dem Hirten und Bischof unserer Seelen, der uns die „Fibel" hinterlassen hat, woran man den Glauben täglich buchstabieren kann. Da lernt man ja gar nicht aus, wenn man das in seinem Leben wirklich werden lassen will, was uns gesagt ist: Ihr seid der Sünde abgestorben. Dieser ungeheure Osterjubel, was haben wir daran Tag für Tag zu buchstabieren. Wir begreifen es nie! Aber daß wir diesen Weg betreten, darauf kommt es an. Die zweite Antwort ist der erste Teil unseres Textes, wo diese an Christus ausgerichtete Überlegung ganz konkret auf einen praktischen Fall der Gemeinde übertragen wird. Und zwar geht es hier um Haussklaven, die ihrem Herrn untergeben sind. Da hat es Ärger gegeben. Denn es gibt zwar gelinde und gütige Herren. Da haben es diese Haussklaven auch gar nicht schlecht. Aber es gibt auch die wunderlichen Herren, die ungerechten Herren. Und da sagen die Haussklaven, ebenso wie Onesimus das gesagt hat, bei denen bleiben wir nicht (Philemon-Brief). Unser Text sagt dazu: Ihr müßt aber auch bei den wunderlichen Herren bleiben, denn es geht darum, das Übel zu ertragen und das Unrecht zu leiden. Denn was ist das für ein Ruhm, so ihr um der Missetat willen Streiche leidet. Wenn ihr um der Wohltat willen leidet und erduldet, das ist Gnade bei Gott. Hier ist also die Rede von der Gnade Gottes. Die Gnade Gottes aber wird nur da richtig verständlich, wo man sie auf einen ganz spezifischen Fall des täglichen Lebens hin erwähnt. Gnade ist überhaupt nichts Allgemeines, sondern Gnade ist der Sachverhalt, wo ein Haussklave es fertigbekommt, obwohl sein Herr mit ihm ungerecht war, nicht zurückzuschlagen, sondern es hinzunehmen. Das ist Gnade. Oder wo wir im Zusammenhang unseres Daseins es fertigbekommen, ein Unrecht hinzunehmen, ohne zurückzuschlagen. Das ist Gnade. Im allgemeinen versteht man ja unter Gnade so etwas Allgemeines, eine allgemeine Welle von Freundlichkeit oder Verstehen. Aber Gnade gehört in das ABC hinein, von dem wir geredet haben. Es geht hier, 100

wie der zweite Vers sagt, um das Gewissen Gottes, das heißt, das Gewissen, das Gott gehört und das Gott uns verleiht. Darum geht es. Und dieses Gewissen, das uns Gott verleiht, ist die Möglichkeit, mit einem Unrecht fertigzuwerden. Das heißt also einmal, nicht zurückzuschlagen, zweitens aber, was wahrscheinlich viel wichtiger ist: mit diesem Unrecht so fertigzuwerden, daß es nicht wie ein ständiger Stachel in uns sitzt und uns dauernd beunruhigt und krank macht, sondern das Unrecht Gott geben zu können als dem, der gerecht richtet. Wovon hier die Rede ist, ist ja klar. Es ist davon die Rede, daß er, Jesus nicht wiederschalt, da er gescholten wart, nicht drohte, da er litt. Das heißt, es ist wieder die Rede von der Sprengung der Wechselseitigkeit oder denn von dem Eintreten in die Liebe Gottes, von dem Eintreten in die Liebe, die souverän und majestätisch ihren Gegenstand setzt, die in der unerhörten Sicherheit der Liebe Gottes hier in dieser Welt dasein kann, auch als Feindesliebe. Das Gewissen Gottes, das uns zuerkannt wird in und durch Jesus Christus, ist Gnade. Und Gnade ist, es fertigbekommen, nicht wiederzuschlagen, wo wir geschlagen sind. Das ist Gnade. Wir ahnen jetzt, was mit dem ABC gemeint ist. Dieses ABC meint nicht: Ihr müßt das aber erfüllen, was Christus getan hat, sonst wehe euch! Sondern es meint: Das, was an diesem Jesus von Nazareth zu sehen ist, das sollt ihr tun. Und tatsächlich, ihr könnt das tun, denn die Gnade Gottes ist auf dem Weg. So müssen wir den Text auch hören. Die Gnade Gottes ist erschienen in Jesus Christus. Die Gnade Gottes will für uns dasein und hat unsere Leiden hinaufgetragen an das Holz: Gnade — das heißt, wenn wir mit Recht sagen: Wer soll das schon schaffen mit der Sünde, das ist ja gar nicht zu schaffen; wer kann das schon tun, aus der Wechselseitigkeit aussteigen; dann müssen wir sagen: Ja, das Buchstabieren an diesem ABC ist eine das ganze Leben bestimmende Sache der Christen. Aber nicht so, daß euch da irgendein Druck im Nacken sitzt, sondern so: Die Gnade, dieses tun zu können, ist für uns bereit. Wir können uns getrost auf den Weg machen, denn die Gnade ist für uns in Jesus Christus da. Das wissen wir ganz genau. Damit schließt sich der Kreis, und wir begreifen, was der 1. PetrusBrief meint, wenn er von dem Hirten und Bischof unserer Seelen spricht. Dieser Hirte, der sorgt für seine Herde durch die Gnade. Das heißt, er sorgt dafür, daß seine Herde dahin kommt, wo sie hin soll, daß sie aus allem Irrtum hinweg in die richtige Richtung laufen kann. Dafür sorgt er. Und zugleich ist er der Bischof, er, der darauf 101

achtet, daß der Bau unseres Glaubens lotrecht aufgeführt wird. Denn der Episkopos ist ja letztlich der Bauaufseher, der dafür sorgt, daß die Wände eines Baus auch wirklich lotrecht sind. Damit steht die Frohe Botschaft dieses Textes vor uns: Gott sorgt durch seine Gnade dafür, daß wir den Glauben zu leben vermögen. Aber das muß er wohl auch tun, denn wir vermögen aus eigenen Kräften aus den Wechselseitigkeiten unseres Daseins nicht auszubrechen. Darum aber geht es in der Liebe Gottes in Christo! Und gemeint sind damit so ganz praktische Fragen, wie man nämlich mit den Ungerechtigkeiten seines Lebens fertig wird? Jedes Leben hat mit diesen Fragen zu tun. Jedes Leben ist nach der Liebe in den Ungerechtigkeiten gefragt. Jedes Leben lebt darum in der Angewiesenheit auf die Gnade. Die aber ist uns gewiß; denn wir sind bekehrt zu dem Hirten und Bischof unserer Seelen!

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Der wiederkommende Herr Totensonntag 25. November 1975 Lukas 12,35-40 Lasset eure Lenden umgürtet sein und eure Lichter brennen und seid gleich den Menschen, die auf ihren Herrn warten, wann er aufbrechen wird von der Hochzeit, auf daß, wenn er kommt und anklopft, sie ihm alsbald auftun. Selig sind die Knechte, die der Herr, so er kommt, wachend findet. Wahrlich, ich sage euch: Er wird sich auf schürzen und wird sie zu Tische setzen und vor ihnen gehen und ihnen dienen. Und so er kommt in der andern Wache und in der dritten Wache und wird's also finden, selig sind diese Knechte. Das sollt ihr aber wissen, wenn ein Hausherr wüßte, zu welcher Stunde der Dieb käme, so wachte er und ließe nicht in sein Haus brechen. Darum seid auch ihr bereit, denn des Menschen Sohn wird kommen zu der Stunde, da ihr's nicht meinet.

Der heutige letzte Sonntag des Kirchenjahres hat eine bewegte Geschichte und darum einen in sich doppelten Charakter. Die Lesungen der alten Kirche, die Epistel (2. Petr. 3,3—14), die wir vom Altar gehört haben, und das Evangelium von den klugen und törichten Jungfrauen (Matth. 25,1—13) prägt diesen letzten Sonntag des Kirchenjahres als den Sonntag der Ewigkeit, des Kommens Gottes, des großen Gerichtes, des neuen Himmels und der neuen Erde. Es ist der Ewigkeits-Sonntag. Seit der Reformation aber haben die evangelischen Landeskirchen auf diesen letzten Sonntag des Kirchenjahres das Gedenken an die Entschlafenen gelegt. Und so wurde dieser Sonntag zum Totensonntag, und das hat den Charakter dieses Sonntags für die evangelische Gemeinde tief geprägt: Man gedenkt derer, die entschlafen sind, und des eigenen Sterbens. So finden sich an diesem Sonntag das Letzte, was es für unser Menschenverstehen gibt, nämlich unser Sterben, und das Letzte, was es vom Evangelium her gibt, nämlich der neue Himmel und die neue Erde zusammen. Dieses Zusammentreffen der Zeitlichkeit und Ewigkeit prägt auch unseren Introitus-Psalm, den 90. Psalm, den wir lasen. Der Gott, vor dem tausend Jahre sind wie ein Tag, wie ein Tag, der gestern vergangen ist, und wie eine Nachtwache. Das heißt, unsere Zeitmaße 103

und unser Zeitverstehen sind vor der Ewigkeit Gottes fassungslos. Denn das, was wir Zeit nennen und Zeitlichkeit und was zu uns als Menschen und zu dieser Welt gehört, das vermag den Begriff und die Vorstellung von Ewigkeit nicht zu ergreifen: unendlich lange Dauer, das kann man so sagen. Aber was das eigentlich bedeutet? Und der Psalm 90 vertieft das ja noch. Es ist ja nicht nur, daß unser Leben kurz ist, sondern das Unheimliche der Zeitlichkeit ist ja dieses Daherfahren. Diese unendliche Eile, Hast und Getriebenheit — wie ein Strom, wie ein Schlaf, wie ein Gras, das doch bald welk wird. Diese Bilder zeigen, was wir in unserer Zeitlichkeit nur für wirklich halten können, das unendliche Immer-Hinterhersein. Dieses unablässige Getriebensein und was den Grund ausmacht: Unsere Tage und Jahre, sie gehen dahin wie ein Geschwätz. Wir wissen das alle. Wir füllen immer wieder etwas in diese Zeit hinein, und es vergeht. Dies Faß hat keinen Boden. Und wir werden noch eifriger, und wir möchten noch mehr. Und wir wissen ganz genau, es läßt sich nichts tun. Denn die unendliche Verwandlung der Welt in der Zeitlichkeit unseres und unser Welt Dasein, läuft uns immer wieder davon. Sie ist schon lange weg, wenn wir meinen, wir könnten sie endlich fassen. Sie ist schon lange nicht mehr da. Wie im Schlaf ist es. In all unserer Bewußtheit, in all unserem Aufmerken ist es wie Schlaf. Denn die Sekunden und die Stunden und die Tage, die Wochen, die Monate, die Jahre verrinnen, es ist wie ein Traum. Wir wissen's nicht. Sie sind nicht mehr da. Und wir sind eines Tages auch nicht mehr da. Der Psalmist vertieft dieses Wissen um Zeitlichkeit und sagt: Das ist nicht etwa nur eine biologische oder physikalische Notwendigkeit. Das ist es zwar auch. Aber in diesem Zwang der Zeitlichkeit wird etwas ganz anderes sichtbar. Das ist dein Zorn, das ist dein Grimm, daß wir so schnell dahinmüssen. Du stellst unsere Missetat vor dein Angesicht, und unsere unerkannte Sünde hältst du ins Licht. Die Zwänge der Zeithaftigkeit dieser Welt und unserer selbst werden durchstoßen auf etwas ganz anderes hin, nämlich daß diese unsere Zeitlichkeit und damit unsere Sterblichkeit eine Folge von dem ist, was uns mit Gott verbindet oder was uns von Gott trennt. Er, Gott, kommt als der ins Spiel, der der Grund und die Möglichkeit allen Daseins ist. Und in unserem Sterben kommt er auf uns zu mit der Anfrage, wie ist das eigentlich mit dir bestellt? Und wir, die Schlafenden, wissen es nicht. Wir können es uns nur gesagt sein lassen: Hier, in der Stellung zu Gott, da entscheidet sich auch unsere Zeitlichkeit. Wie soll das sein? Wir sehen es an unserem Psalm. Wo man es wagt, die Zwänge des Biologischen als des Zeithaften zu durch104

stoßen auf den hin, der der Gründer und die Möglichkeit allen Seins ist. D a kann man sich unter der Gewißheit dieser Zeitlichkeit und des Sterbens zu ihm wenden und sagen: Nun wende dich wieder zu uns. Laß deine Gnade frühe aufgehen über uns. Das heißt, aus dem Bereich dieser Zwänge der Zeitlichkeit treten wir heraus in die Freiheit derer, die zu Gott sagen können: J a , das ist dein Grimm, aber wende dich wieder zu uns! Aus der entsetzlichen Gebundenheit in die vitalen Notwendigkeiten, denen wir unterstehen, tut sich ein neuer, ein andersartiger Raum auf, der Raum, in dem das Gebet wohnt vor dem Gott, zu dem man sagen kann: Wende dich doch wieder zu uns. Damit bekommen Menschen, die sich dies gesagt sein lassen, den Rücken frei, frei, um in der Nüchternheit, um die es geht, sich selbst und ihre Welt ansehen zu können, nicht ständig befangen von dem Zwang der unendlich dahinströmenden Zeitlichkeit ihres vergehenden Lebens, sondern endlich befreit in dem Aufblick zu dem, der über dies Leben auch als Zeitlichkeit und über unser Sterben entscheidet. Wende dich doch wieder zu uns. Das Neue Testament hat diese Sicht des 90. Psalms voll übernommen. Paulus redet im Römerbrief davon, daß der Tod der Sünde Sold ist. Das ist eben dieser Schritt aus den biologischen Zwängen in die Freiheit hinein. Aber Paulus wie das Neue Testament und wie wir kommen von diesem Jesus von Nazareth her. Wenn der Psalmist noch unsicher in seinen Gott hineinfragt: Kannst du dich nicht zu uns wenden, so kommen wir von diesem Jesus her und wissen, er hat sich uns zugewandt, und zwar endgültig. Der Grimm und der Zorn Gottes ist ein für allemal besänftigt und gewandelt in diesem Jesus Christus. Davon kommen wir her als Christen. Das heißt, wir können als Christen Menschen sein, die in all dieser Zeitlichkeit und in dem Schlaf unserer Existenz und in dem Dahinfahren unserer Jahre wie ein Geschwätz hindurchgreifen zu der liebenden väterlichen Gegenwart dieses Gottes. Weil das so ist, darum stellt sich im Neuen Testament und unter Christen unausweichlich die Gewißheit, die Freude, die Erwartung dieser Gegenwart Gottes ein. Dies ist die Gegenwart dessen, des Gottes, der auf uns zukommt und der uns nahe ist. E r ist uns so nahe, daß es uns zeitlichen Menschen eigentlich nur möglich ist zu sagen: Es ist wahrscheinlicher, daß er heute noch kommt als morgen. Lasset eure Lenden umgürtet sein und eure Lichter leuchten. Aus Christen werden wartende Menschen, aber das ist nicht die öde Langeweile eines Wartesaals, denn wir wissen ja, daß er, daß sein Reich, daß seine Gnade, daß seine Liebe auf dem Wege ist, wir wissen das 105

ja. Und in diesem Wissen sind wir wachsame und bereite Leute. Gewiß, alle unsere Jahre bringen wir zu wie ein Geschwätz, wie Schlafende erfahren wir unser Leben und wissen nicht, was es ist. Wie alle Menschen sind wir bemüht um diese Welt, um ihre Wohlfahrt, und wir wissen, das ist die Unerschöpflichkeit des Fasses ohne Boden. Aber in dieser Umschlossenheit von diesem Schlaf vermögen wir aufzustehen. Wir vermögen wachsam wartende und damit für diese Welt neu befreite Menschen zu werden. Für diese Welt neu befreite Menschen — in der nüchternen Erkenntnis, wo dieser Schlaf, diese Versunkenheit, diese Umschlossenheit begründet liegt: In unserem Gottesverhältnis. Wir wissen, daß wir dieses Gottesverhältnis nach wie vor und immer erneut zerstören und vertun, aber daß er, Gott, an uns festhält. So werden wir wachsame Leute, so werden wir freie Menschen. Freilich bleiben wir sterbliche Menschen unter den Zwängen des Todes. Aber es ist wie Paulus sagt: Tod, wo ist dein Stachel, Hölle, wo ist dein Sieg? Tod und Hölle, ja schön, aber der Stachel ist weg, und der Sieg ist genommen. Dem Tode ist jene zernichtende, alles zerstörende, nur noch das Nichts zulassende Kraft genommen: Das Todesschicksal (ker), wie die Griechen es nannten. Sie unterschieden das Todesschicksal, diese zernichtende Macht, die nur noch den Abbruch und das Ende und diese ganze Grauenhaftigkeit sehen läßt, die uns allen in irgendeiner Form bevorsteht, vom Tode selbst. Die Griechen haben diese Grauenhaftigkeit unterschieden von dem Tod. Der Tod aber ist ein lächelnder stiller Genius, der die Lebensfackel auslöscht. Diese Unterscheidung ist im Neuen Testament auch da. Dieser Tod selbst, der kann uns nicht schrecken, denn er ist der Durchgang in die Verwandlung zu dem liebenden Vater und dem einen Herrn. Und das andere, das Nichtende, das Schreckliche, das Grauenhafte, des Todes Schicksal ist gar nicht mehr da. Es kann uns nicht anrühren, denn wir stehen nicht vor dem Vergehen, sondern wir stehen vor Gott. Wir stehen nicht vor dem Nichts, sondern wir stehen vor dem Alles. Darum ist diese unsere Freiheit, in der wir durchstoßen durch die Gebundenheit unseres vitalen Daseins eine Freiheit für diese Welt und für den anderen. Wir sehen ihn jetzt anders an mit der Nüchternheit dessen, der weiß, was es eigentlich um den Menschen sei. Wartende Menschen sind wir Christen. Und unser Evangelium sagt: Er aber kommt, der Herr kommt zu seinen Knechten, er kommt von der Hochzeit. Selig die Knechte, die der Herr, der da kommt, wachend 106

findet. Wahrlich, ich sage euch, er wird sich aufschürzen und wird sie zu Tische setzen und vor ihnen aus- und eingehen und ihnen dienen. Dieses Wort ist ja wohl eine der kühnsten Verheißungen, die in der Bibel stehen. Was uns hier gesagt wird, das überrascht uns. Das Bild besagt, daß der Herr der Knechte von seiner Hochzeit kommt. Die Zeit seiner Ankunft ist unbestimmt. Die Knechte erwarten ihn in Freude auf sein Kommen. Und nun ist er da. Und was tut er? Er zieht sich Dienstkleidung an, setzt die Knechte als Herren an den Tisch und bedient sie. Welch wunderlicher Wechsel, welch wundersame Umkehrung, daß aus Knechten Herren werden, aus denen, die nichts haben, Leute, die bedient werden. Und er, der Herr, dient ihnen. Diese Bildrede ist sehr überraschend. Wir sind es aus den kirchlichen Reden und den Malereien gewöhnt, diesen Herrn in der Glorie seiner thronenden Majestät zu sehen: Zur Rechten Gottes thront er — der Christus triumphans. Aber so ist das hier bei Lukas nicht vorgestellt. Der wiederkehrende Christus kommt wie der irdische Jesus und dient den Seinen, die er wachend findet. Lukas hängt nicht apokalyptischen Träumen nach, wenn er den wiederkommenden Kyrios malt. Er leiht seine Farben von dem irdischen Jesus. Das große himmlische Mahl sieht die Knechte am Tisch und den Herrn beim Bedienen! Dieses Bild gibt die innerste Gewißheit des Glaubens plastisch wieder. Dieses Bild ist weit von allen Spekulationen entfernt. Der dienende Jesus ist und bleibt der Inbegriff dessen, der da kommt. Der christliche Glaube aber kann in diesem Herrn gewiß sein in alle Ewigkeit. Zeitlichkeit und Ewigkeit treffen an diesem Sonntag zusammen, und Zeitlichkeit und Ewigkeit treffen in dem Bilde dieses wiederkehrenden Jesus zusammen. Unsere Entschlafenen stehen uns an diesem Tag besonders vor Augen und nahe. Wir denken an sie in dem Schmerz der Zeitlichkeit. Und wir können es wissen und wir sollen es wissen: Diesem Schmerz will die Ewigkeit dieses Herrn und Gottes dienend aufhelfen. Er will diesen Schmerz befreien in den Bereich hinein, wo wir zu sagen in der Lage sind, laß deine Gnade frühe aufgehen, wo wir hindurchsehen durch unsere eigene Zeitlichkeit und Sterblichkeit und durch den Tod der Menschen, die wir vermissen, in die ewig schenkende Hand dieses Gottes, der für uns dasein will in alle Ewigkeit.

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c GOTT, DER H E R R D I E S E R WELT, IST N A H E B E I

Der eine Gott 1. S. n. Trinitatis 1. Juni 1975 1. Korinther 8,1—6 Über das Götzenopferfleisch: Wir wissen, daß wir alle Erkenntnis haben. Die Erkenntnis bläht auf. Aber die Liebe erbaut. Wenn jemand meint, etwas Rechtes erkannt zu haben, so hat er noch nicht erkannt, wie man erkennen muß. Wenn aber jemand Gott liebt, so ist er von ihm erkannt. Uber die Speise des Götzenopferfleisches wissen wir also, daß kein wirkungskräftiges Götterbild in der Welt ist und daß kein Gott ist außer dem einen. Denn wenn auch Götter genannt werden im Himmel und auf Erden, wie ja viele Götter und viele Herren existieren, so ist dennoch für uns nur ein Gott wirklich, nämlich der Vater, aus dem das All hervorging, und wir sind zu ihm bestimmt, und ein Herr, nämlich Jesus Christus, durch den das All vermittelt ist, und wir durch ihn.

Mit dem ersten Sonntag nach Trinitatis betreten wir die große Hälfte des Kirchenjahres, in dem nicht mehr die Rede ist von dem, was von Gott her zum Heil der Welt geschehen ist mit dem WeichnachtsEreignis, mit der Passion, mit Ostern, Himmelfahrt, Pfingsten. Vielmehr wird die Lehre der Kirche als Ausdruck des Glaubens der Christen, der gewachsen ist aus den Taten Gottes, an diesen Sonntagen beschrieben. Es geht in dieser Hälfte des Kirchenjahres um die Aneignung dessen, was Gott getan hat. Und an erster Stelle, am ersten Sonntag nach Trinitatis, geht es nach unserem Text um den Glauben an den einen Gott: Für uns aber ist nur ein Gott wirklich, der Vater. Es hat mit diesem Glauben an den einen Gott seine besondere Bewandtnis. Früher meinte man, es gebe Religionen, die von unendlich vielen Göttern reden, und daß die Leute in ihnen auch an unendlich viele Götter glauben. Auf der anderen Seite gebe es Religionen, die nur an einen Gott glauben. Diese Vorstellung ist gewiß falsch. Sowohl in Griechenland wie in Ägypten, wo es allerdings viele Götter „gab", haben die Menschen nicht an so unendlich viele Götter geglaubt, sondern sie glaubten an den Gott, der für den Lebensumkreis, in dem sie sich gerade befanden, der Gott war. Die Gottheit hat nach der Meinung der Griechen ebenso wie nach der Meinung der Ägypter 110

ein anderes Bild und ein anderes Gesicht da, wo ich in den Krieg ziehe oder wo ich heirate, da wo ich ein Fest feiere, oder wo ich trauere. Diese Verschiedenheit der Ansichten der Gottheit hat sich in die vielen Göttergestalten — Aspekte der Gottheit — verselbständigt. Wir wissen von den vielen Göttern, die zum Beispiel im alten Ägypten in den verschiedenen Gauen verehrt wurden. Ebenso wissen wir aber, daß diese Ägypter Monotheisten waren. Sie haben in ihrem Leben nur ihren Gaugott verehrt und die übrigen Götter nur unter ganz besonderen Umständen. Das heißt, so einfach ist das nicht mit der Scheidung der Vielgötterei und der Eingötterei. Wie es damit sei, davon redet unser Text. Unser Text redet, oder Paulus redet hier von dem Glauben an den einen Gott. Uberschrieben ist diese Überlegung: Über das Götzenoperfleisch. Das muß uns zunächst zu denken geben: Hier wie an anderen Stellen wird in der Bibel nicht theoretisch von Gott an sich geredet. Von Gottes Gottheit kann man nur reden anhand von ganz konkreten Wirklichkeiten, in der es um die Bewährung des Glaubens an diesen Gott geht. Das ist bei Paulus nicht anders als bei Luther. Wir reden also vom Götzenopferfleisch. Über diese Frage entstand in der korinthischen Gemeinde ein sehr tiefreichender Streit. Einige Glieder der Gemeinde meinten, sie hätten im christlichen Glauben die Freiheit, Fleisch aus den Tempeln — und anderes Fleisch gab es nicht zu kaufen — Fleisch aus dem Tempel irgendeiner Gottheit zu kaufen und zu essen. Andere in der Gemeinde fühlten sich in ihrem Gewissen gebunden und sagten, das kann man nicht tun; denn dieses Fleisch ist mit den Götterbildern in Berührung gekommen, es ist ihnen geweiht und insofern gehört es zum außerchristlichen Kult. Wenn ich dies Fleisch esse, bekomme ich mit den außerchristlichen Kulten gefährliche Beziehung. Uber dieses Götzenopferfleisch fängt Paulus an zu reden, wenn er von der Einheit Gottes reden will. Und zwar sagt er nach dieser Einleitung: Wir wissen, daß wir alle die Erkenntnis haben. Was für eine Erkenntnis? Der Vers über das Götzenopferfleisch erläutert: Wir wissen — und jetzt kommt der Inhalt der Erkenntnis — daß es kein wirkungskräftiges Götterbild in der Welt gibt und daß auch kein Gott wirksam ist außer dem einen. Das ist also die Erkenntnis, um die es hier geht. Um diese Erkenntnis geht es beim Götzenopferfleisch insofern, als die Leute, die da sagen, natürlich kann man das Fleisch essen, dies begründen, indem sie sagen, es gibt ja keine anderen Götter. Ergo ist das Fleisch, das da im Tempel geschlachtet worden ist, auch nichts anderes als irgendwelches Fleisch. Das heißt also, die 111

Götzenopferfrage hat sehr wohl mit dem Nachfragen nach dem einen oder den mehreren Göttern zu tun. Denn diese Leute in Korinth, die da meinen, sie könnten in ihrer Stärke Götzenopferfleisch essen, waren hochemanzipierte Leute, die meinten, in ihrem Glauben sei alles möglich. Paulus nimmt von ihnen ja das Wort auf: Es ist alles erlaubt. Er fügt hinzu: Aber es erbaut nicht alles. Hier nun über das Götzenopferfleisch sagen sie: Wir wissen, daß wir alle die Erkenntnis haben, nämlich diese Erkenntnis, daß die Götterbilder nicht viel fruchten und daß nur ein Gott ist. Aber, fährt er fort, die Erkenntnis bläht auf, nur die Liebe erbaut. Das heißt, ihr lieben Korinther, mit eurer ganzen Gotteserkenntnis habt ihr es fertigbekommen, die Gemeinde zu zerstören. Diese eine Gemeinde in Korinth ist tief zerstört durch diesen Widerspruch, durch diesen euren Freiheitswahn, mit dem ihr meint, ihr wäret nicht gebunden an die in der Gemeinde, die diese Freiheit nicht zu leben vermögen. Die Liebe baut auf. Das heißt, ich verlange euch als Christen die Liebe ab, euch mit den anderen dahingehend zu versöhnen, daß ihr ihre Schwachheit achtet. Ihr seid im Gewissen an diese Leute gebunden. Insofern bläht Erkenntnis auf. Insofern baut Liebe eine Gemeinde auf. Und nun fährt Paulus fort: Wenn jemand meint, er hätte etwas Rechtes erkannt, so erkennt er noch nicht, wie man — wir können sagen — sachgemäß erkennen muß. Denn es geht ja um die Gottesfrage. Wenn aber jemand Gott liebt, der ist von ihm, nämlich von Gott erkannt. In diesem Vers steht etwas unendlich Weitreichendes vor uns. Paulus breitet einen Gegensatz vor uns aus, der uns bis zum heutigen Tage aufs tiefste als Gemeinde immer wieder beschäftigen muß. Nämlich: Es geht auf der einen Seite um die Erkenntnis als Erkenntnis, als rationales Verstehen in bezug auf Gott. Und es geht auf der anderen Seite darum, daß jemand Gott liebt, und daß er, wo er Gott liebt, von ihm erkannt ist. Es geht auf der einen Seite also um den den griechischen Menschen selbstverständlichen rationalen Vollzug, auch im Zusammenhang des Glaubens. Und es geht auf der anderen Seite — das macht Paulus durch seine Worte ganz eindeutig — um den alttestamentlichen Überlegungszusammenhang, der ganze Mensch steht im Verhältnis zu seinem Gott. Das heißt, es geht in diesem Vers darum, daß Paulus die Frage nach dem Götzenopferfleisch, die eine Frage nach der Einheit und Einzigartigkeit Gottes ist, auf den Gegensatz hinausspielt: griechisches und alttestamentlich-semitisches Denken. Die christliche Gemeinde steht immer wieder vor dieser Frage. Will sie eigentlich im Zusammenhang einer rationalen Funktionalität, eines 112

rationalen Verstehens ihres Glaubens, ihres Gottes, ihrer Erlösung leben? Will sie im Zusammenhang eines solchen rationalen Verstehens letztlich die Dinge des Glaubens zerstören? Oder will sie im Zusammenhang des Gefordertseins des ganzen Menschen vor Gott sich diesem Gott geben als dem, der euch „erkannt" hat. Paulus meint mit diesem Erkennen Gottes jenen alttestamentlichen Ausdruck der Erwählung Gottes. Er meint es so, wie Arnos von Gott sagt: „Nur euch habe ich erkannt von allen Stämmen der Erde" (Am. 3,2). Die alttestamentliche oder semitische Erkenntnisweise ist nicht eine rationale Funktion, sondern ein den ganzen Menschen vor seinem Gott und vor der Welt in Anspruch nehmendes, ihn in dieser Ganzheit vor die Erlösung bringendes Ereignis. Und darauf kommt es an. Da, wo wir nur mit dem Kopf reagieren, wenn es um Gott geht, da reagieren wir zu kurz. Es geht um Liebe, das heißt, es geht um eine den ganzen Menschen betreffende letztlich in Gott begründete Lebensbewegung. Dies ist eine Sache, die uns als Menschen im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts aufs äußerste betrifft. Es ist uns allen selbstverständlich geworden, daß wir in unserem Leben, und natürlich auch in Fragen des Glaubens an das menschliche Verstehen die rationale Durchdringung, an das Verständlichmachen des Evangeliums und der frohen Botschaft appellieren. Das ist uns als Menschen dieser Zeit selbstverständlich. Wir können uns auch aus dem Gesamtverständnis dieser unserer Gegenwart, das man die zweite oder dritte Aufklärung nennt, wir können uns aus dem Gesamtverständnis dieser unserer Gegenwart auch nicht herausdividieren wollen. Aber wir müssen wissen, was wir tun, wenn wir den Glauben und auch die Frage nach Gott in diesen Bereich der Verständlichkeit bringen wollen. Wir müssen wissen, was wir tun, wenn wir um diese Verständlichkeit des Glaubens und der Botschaft bemüht sind. Es kann keine Frage sein, daß wir nicht nur als Theologie, sondern ebenso als Gemeinde gerufen sind, dieses Wort der frohen Botschaft heute in diese unsere Welt zu übersetzen. Und das ist immer auch ein rationales Geschehen. Aber Paulus macht deutlich, wenn es dabei bleibt, dann hat man noch nicht erkannt, wie man erkennen muß. Es kommt auf die Liebe zu Gott an. Das heißt, es kommt darauf an, ob dieses rationale Geschehen im Glauben auf dem Boden des Gefordertseins und des Aufgehobenseins des ganzen Menschen vor Gott also des Glaubens und der Liebe ruht. Wo die rationale Funktion, die Erklärung der frohen Botschaft, nicht auf dem Boden eines als Liebe gelebten Glaubens vor Gott beruht, da ist jene falsche, zersetzende, aufblähende Erkenntnis am Werk. Wo es aber sein kann, 113

daß Verständnisfunktionen auf dem Hintergrund der Liebe zu Gott geschehen, da geschieht dies in dem Wissen, von Gott erkannt zu sein, von Gott ergriffen zu sein, von Gott in seine Hand genommen zu sein. Es ist also deutlich, wenn man von dem einen Gott redet, und wenn man dies, wie es sein muß, konkret in bezug auf ein Problem der Gemeindeführung anwendet, dann treten gegeneinander die dem Hellenismus eigene Erkenntnis für sich und die dem alttestamentlichen Denken selbstverständliche Aufgehobenheit der Erkenntnis in die großen Taten Gottes und in das Bewahrtsein der ganzen Person vor Gott. Und Paulus fährt fort: Wenn denn nun sogenannte Götter, sei es im Himmel, sei es auf Erden, sind, wie denn ja tatsächlich viele Götter und viele Herren existieren, so ist dennoch für uns nur ein Gott wirklich. Hier schreitet Paulus von der Erwägung der doppelten Erkenntnismöglichkeit weiter zu dem Problem des einen Gottes und der vielen Götter. Er sagt zunächst, es gibt Götter, die man Götter nennt im Himmel und auf Erden. Das könnte so aussehen, als wollte er sagen: Na ja, das sind bloß sogenannte Götter, was Richtiges steckt nicht dahinter. Deswegen gleich der Nachsatz: Wie denn ja wirklich viele Götter und viele Herren existieren. Das heißt, dieser Nachsatz macht deutlich: Paulus ist nicht der Meinung, daß das Glauben an den einen Gott etwa die Leugnung von Göttern überhaupt nach sich zieht. Das wäre griechisches Denken: Der eine Gott, das ist die numerische Eins. Und wenn nur ein Gott ist, dann kann es nicht zwei drei vier fünf geben. So ist es logisch, griechisch, in ratione, klar. So denkt aber Paulus nicht. Paulus sagt: Es gibt, es existieren, viele Götter und viele Herren. Und die existieren nicht nur, sondern die werden neu und neu und wieder und wieder sichtbar. Diese Götter werden nicht nur so sichtbar, als seien das Einbildungen, als wäre Allah oder Krishna oder andere eine Einbildung. Sie sind vielmehr tiefliegende Mächtigkeiten, deren Uberzeugungskraft aus dem Leben heraus „offenbarend" dem Menschen deutlich wird. Wir können nach der Geschichte der letzten 200 Jahre ja sehr viel davon erzählen, wie das aussieht. Wie am Ende der Aufklärung, die uns heute noch bestimmt, Robespierre auf dem Marsfeld in Paris den Tempel der Göttin Vernunft aufrichtet und seine Leute da defilieren läßt. Das war eine neue Religion, ein neuer Gott. Und dieser Gott hatte nicht nur für Robespierre Überzeugungskraft. Seine Überzeugungskraft wirkt auch heute noch unter uns. Was wollten wir in der Welt denn anfangen ohne die Vernunft. Wie wollten wir denn unser Dasein begründen ohne diese Ver114

nunft. Kein Wunder, daß Leute sagen, darauf — auf der Vernunft — ruht unser Leben. Sie ist die wahre Göttin. Oder sechzig Jahre später begründet Karl Marx mit seinem Wort „Der Mensch ist dem Menschen das höchste Wesen" eine neue Religion. Er meint dabei den ökonomischen Menschen, und zwar speziell diesen ökonomischen Menschen. Wer wollte sich denn im 19. oder 20. Jahrhundert davon freisprechen, daß ihm nicht die Menschheit einer der obersten Werte sei, oder daß ihm nicht etwa das ökonomische Dasein des Menschen sehr wichtig, ja eigentlich mehr als sehr wichtig, entscheidend für das Dasein des Menschen vorkomme? K a r l Marx hat sich bemüht, aus dem Satz, daß der Mensch dem Menschen das höchste Wesen sei, einen zentralen religiösen Satz zu machen. Das ist ihm zum Teil ja auch, wie wir wissen, gelungen. Das heißt, es gibt viele Götter und viele Herren. Und das können wir nicht einfach bestreiten. Sie sind Mächtigkeiten, mit denen wir nicht nur außerhalb der Kirche oder außerhalb unseres eigenen Dafürhaltens zu rechnen haben. Sondern sie sind Mächtigkeiten und Herrschaften, die uns selbst betreffen. Darum lohnt es sich, darüber nachzudenken. Wir sind Kinder unserer Zeit, und es gelingt uns nicht, und es darf uns und es soll uns auch gar nicht gelingen, aus dieser Zeit auszusteigen. Denn für diese Zeit müssen wir das Evangelium sagen, für diese Zeit. Und diese Zeit ist charakterisiert z. B. durch die Göttin der Vernunft und durch den Gott Mensch, der dem Menschen das höchste Wesen sein soll. Wenn wir in dieser Zeit etwas sagen wollen von Christus und nicht gespürt haben, welche Macht hinter dieser Vernunft und welche Macht hinter diesem Menschen als höchstem Wesen steckt, dann werden wir nie gehört und können wir auch nie gehört werden. Das heißt, wo wir das Wort von diesem einen Gott sagen wollen, da können wir es nur aus einem tiefen Verständnis, aus einer tiefen inneren Beteiligung an dieser unserer Welt sagen. Diese Beteiligung leben wir alle — mehr oder weniger bewußt. Aber wir müssen uns auch klar machen, daß wir von der Stelle aus redeten, von der Paulus spricht, wo es um die Liebe vor Gott und zu Gott geht, das heißt, wo es um das Erwählt-, um das Ergriffen-, um das Umhegtsein von Gott her geht. An dieser Stelle spricht Paulus. Das heißt er spricht von der Ganzheit der Person. Das ist ihr ebenso leibhaftes, wie geistiges, wie seelisches oder psychisches Ganzsein vor Gott. In dieser Ganzheit nimmt man die vielen Mächte und die vielen Götter, die um uns herum wirksam sind, wahr. Das ist nach der Meinung des Paulus 115

dem unerläßlich, der sagen will: und dennoch ist für uns nur ein Gott wirklich. Wie dieser eine wahre Gott dann beschrieben werden muß und kann, das sagt Paulus zweifach, nämlich der Vater, von dem das All entstanden ist und zu dem wir bestimmt sind, und ein Herr, nämlich Jesus Christus, durch den das All vermittelt ist und wir durch ihn. Das heißt, der Gott, um den es für uns geht, der Gott, an den zu glauben wir nicht umhin können, weil er uns erkannt hat, der Gott, der unser Gott ist — in der Welt und auch in uns sind noch viele andere Götter und viele andere Herren — dieser Gott, der unser Gott ist und der allein Gott genannt werden kann, wird darum allein Gott genannt, weil er der Vater ist. Das heißt, weil wir seiner als dessen gewiß geworden sind, der unser Leben mit väterlicher Güte umfängt. Diese väterliche Güte, die das Verlorene sucht, ist der Bestimmungsursprung des Alls, alles Seins, aller Wirklichkeit, alles Geschehens in Natur und Geschichte. Diese väterliche Güte, die uns und allem Verlorenen nachgeht, diese väterliche Güte ist der letzte Kern und Grund alles Seins und alles Geschehens. Aber zugleich sind wir zu ihm hin bestimmt. Im Zielpunkt unseres Lebens ist diese väterliche Güte. Wir sind umstanden von ihr im Grunde und im Ziel. Diese Gottheit Gottes aber ist uns vermittelt durch Jesus Christus. Durch ihn ist das All an Gott vermittelt, und wir durch ihn, und zwar vermittelt auf Gott hin. Diese väterliche Güte steckt also in uns Menschen, die so sind, wie wir sind. Und wir wissen ja, wie wir sind. Diese väterliche Güte steckt also in diesen Menschen und in dieser grauenhaften Welt und ihrem Geschehen — im letzten Grunde und im letzten Ziel. Um eine väterliche Güte geht es, die das Fallende hält, die das Kranke gesund haben will, die das Sterbende lebendig macht. Dies ist durch Jesus Christus uns und der Welt vermittelt. Ohne diese Vermittlung können wir an Gott und seine Güte nicht glauben. Aber durch diese Vermittlung wird diese Güte Gottes vor uns und für uns Wirklichkeit. Die christliche Grundüberzeugung ist die Überzeugtheit davon, daß kein anderer Grund und kein anderes Ziel in der Welt und für die Welt genannt werden kann außer dieser väterlichen Güte. Aber wir brauchen ja nur einen Blick in die politische oder die wirtschaftliche Welt um uns herum zu werfen; wir brauchen ja nur irgendwann auch nur einen Tag uns einmal zu überlegen, wie das in unserer Nachbarschaft, in unserer Verwandtschaft, unter Kollegen an unserer Arbeitsstelle, wie das da so vor sich geht und was da passiert, dann wissen wir, es ist tief erstaunlich, daß es Menschen gibt, die glauben können, 116

daß hinter dem Geschehen, hinter allem Geschehen in Natur und Geschichte nichts anderes wirklich ist als väterliche Güte, und daß dies ganze Geschehen, das immer wieder so böse und so herzlos und gefährlich aussieht, kein anderes Ziel hat, als diese väterliche Güte. Es ist fast wie ein Wunder, daß Menschen diesen Glauben angesichts dieses Lebens, so wie es ist, glauben können. An die väterliche Güte als an Gott, das heißt als an den Grund und das Ziel unserer Existenz zu glauben, das ist angesichts dieser Welt und all ihrer Bosheit und Torheit fast unmöglich. Ja, das ist von dieser Welt her gesehen auch tatsächlich unmöglich. Keine aus der Welt gewonnene Erkenntnis macht das möglich. Aber unser christlicher Glaube ist auch keine aus der Welt gewonnene Erkenntnis. Der Glaube ist eine Erkenntnis, die aus der Liebe vor Gott erwuchs. Und diese Erkenntnis schaut die väterliche Güte Gottes für diese Welt in ihrer Vermittlung durch Jesus Christus. Dies ist der eine Gott. Er aber schenkt uns damit eine neue Haltung vor der Welt. Diese Haltung aber sehen wir: In der konkreten Alltäglichkeit christlichen Daseins kommt es heraus, wie bei dem Streit um das Götzenopferfleisch, ob Christen an diesen ihren Gott glauben oder ob sie doch anderen Herren nachlaufen.

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Gottes Wirken in der Welt 3. S. n. Trinitatis 17. Juni 1975 Psalm 113 Lobet ihr Knechte Gottes, lobet den Namen des Herrn! Gesegnet sei der Name des Herrn von nun an bis in Ewigkeit! Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Untergang sei gelobt der Name des Herrn! Erhaben über alle Nationen ist der Herr, über den Himmel weit reicht seine Ehre. Wer ist wie der Herr unser Gott im Himmel und auf Erden? Erhaben hoch thront er. Tief herab fährt er, zu sehen: Er erhebt aus dem Staube den Geringen. Er holt aus dem K o t den Elenden, Um ihn sitzen zu lassen bei den Edlen, bei den Edlen seines Volkes. Er schafft Platz der Unfruchtbaren im Hause. Die Mutter der Kinder erfreut er. Lobet den Herrn!

Dieser Psalm ist ein Loblied auf den Namen Gottes! Zum Lobe dieses Namens Gottes fordert der Psalm heraus. Vom Namen Gottes reden, das ist im Alten Testament dasselbe wie von der machtvollen Wirksamkeit Gottes reden. Der Name, das ist nicht wie im Griechischen das Wesen, sondern Name heißt Wirkungsmacht wie auch Eigentumsmacht. R u f t man den Namen eines Feldherrn über einer Stadt, so ist sie sein. Ruft man den Namen eines Mannes über einer Frau, so ist sie seine Frau. Vom Namen Gottes ein Loblied singen, das heißt, von seiner Wirkungsmächtigkeit in der Welt singen. Dazu fordert der Psalm heraus. Es hängt etwas daran, daß der Name Gottes — vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Untergang — gelobt wird. Gottes Wirken in aller Welt vollzieht sich ja in aller Verborgenheit. Sein „Mummenschanz" in der Welt bleibt den Menschen im allgemeinen verborgen. Gott versteckt seine Macht in der Nährkraft des Brotes wie in der Feuchtigkeit des Taues. Er treibt seine Wirksamkeit im herabfahrenden Wetter und in der leuchtenden Wärme der Sonne. Er zeigt seine verborgene Macht im zufahrenden Unheil wie in einem großen Glück. 118

Das Lob des Namens Gottes aber holt Gott aus dieser seiner Verborgenheit in dem Weltlauf heraus. Es segnet den Namen, daß er überall gelobt werden kann. Offenbar hängt es an uns und unserem Lobpreis, ob vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Untergang diese Macht Gottes gepriesen wird, ob er, Gott, damit erhoben und damit hingestellt wird vor der Welt und damit offenkundig gemacht wird und damit aus seiner Verborgenheit herausgeholt wird. An uns liegt das offenbar. J a , und wenn es denn in unserer Welt heute von der Macht und Herrlichkeit dieses Gottes still geworden ist und man in den Zeitungen alles liest, nur nicht dies, dann liegt das offenbar an uns? Wir haben in unserem Glauben eine Aufgabe an Gott. Er, der seinen Mummenschanz in der Welt vor uns und um uns herum führt, er will von uns herausgeglaubt und herausgelobt werden aus dieser Verborgenheit und diesem Mummenschanz, daß er vor der Welt dasein kann in seiner Größe, daß sein Name vom Aufgang der Sonne bis zum Untergang reicht. Dies hängt von uns ab. Unser Lob des Namens Gottes beginnt aber da, wo wir in unseren Familien sitzen und miteinander erzählen. Wo wir unseren Kindern erzählen, wie herrlich der Name Gottes in aller Welt ist. Und wo wir Eheleute miteinander den Namen Gottes über unserm Dasein loben. Nicht nur da, wo es heiter und fidel ist, sondern auch da, wo das Leben selbst — und das ist letztlich stets das Sterben des Lebens — um uns herum ist. Auch und gerade da heißt eheliches Dasein dieses miteinander Reden von der Größe des Namens Gottes. D a fängt es wohl an. Und es setzt sich fort, wo an unserem Arbeitsplatz dies und das geschieht, Großes und Schönes und Schlimmes, und wo wir über diesem Großen und über dem Kleinen und Schlimmen den Namen Gottes, das heißt seine Macht loben. Das ist ja wirklich gemeint, daß dieses Lob im Büro und in der Fabrik geschieht. Denn darum geht es ja. Es geht ja nicht darum, daß dieser arme Gott immer wieder in Kirchen eingesperrt wird. Wir können ihn nicht immer gefangen halten in diesen Kirchen. Er will hinaus, denn er ist ja draußen in der Welt. Aber die Christen erheben ihn dort nicht. Wir glauben ihn nicht aus der Welt heraus, und wir loben ihn nicht aus seiner Verborgenheit in der Welt heraus. Dieses Lob Gottes in seiner Wirksamkeit geschieht sodann auch im Großen: auf den Kirchentagen und den Synoden wie in der Mission in der ganzen Welt. Diese Welt da draußen und ihre Menschen warten darauf, daß wir unter ihnen den Namen Gottes preisen und ihnen sagen: Seht mal da in dem Ereignis, da ist doch die Größe dieses Gottes. Wir müssen ihnen erzählen, wie 119

das in unserem Leben ist mit diesem Gott, welchen Trost er uns gegeben hat, welche Not er uns bereitet hat, welche Schönheit er uns geschenkt hat, mit welcher Freude er uns Tag für Tag überhäuft hat, erzählen! erzählen! Preiset den Namen Gottes in aller Welt. Jedenfalls, das scheint eindeutig zu sein: Wenn wir bemerken müssen, daß das Wort von diesem Gott in der Welt weniger wird und daß es vielleicht um diesen Gott in vielen Bereichen unserer Welt sehr still wird, da müssen wir nicht sagen, ach, diese bösen Menschen, sondern da müssen wir sagen, wir haben wahrscheinlich versagt, wir haben Gott nicht gepriesen, wir haben sein Preislied nicht gesungen. Und er will nun mal gepriesen sein in der Welt von uns, damit sein Name groß wird vom Aufgang der Sonne bis zum Untergang. Und was sollen wir mit dem Psalm singen? Zunächst dies. Hoch fährt er heraus und thront dort, tief fährt er herab, um zu sehen. Dieser Gott ist nicht einer, der da irgendwo stillsitzt. Sondern er wirkt in der Eminenz dieser Bewegung, hoch fährt er herauf, um zu thronen, durch das Weltall hindurch bis zu den fernsten Sternennebeln, tief fährt er herab, eben in diese kleine Erde, um zu sehen. Nicht weil er neugierig ist, sondern dieses Sehen heißt — denken wir nur an die Geschichte von Isaaks Opferung — Gott ersieht sich ein Opfer. Dieses Sehen hat eine sehr wichtige Bedeutung. Es meint dieses auf etwas Zugehen, es Finden und Erwählen und Auswählen zum Heil und zu all dem Leid in der Welt. Dieses Sehen ist mehr als eine bloß optische Funktion. Es ist ein bewußtes, helles, hellwaches Drumherumsein, Umfangensein von dem Blick Gottes. Das verstehen wir, denn wir wissen ja, was im rein menschlichen Bereich Augen und Sehen bedeuten können. Wie wir das im Straßengewühl merken, wenn uns ein Blick umfängt. Wir wissen das plötzlich auch, da hat uns jemand angesehen. Im Auge steckt etwas ganz Eminentes, und dieses ist der Bildwert hinter der Anwendung des Begriffes „Sehen" auf Gott. Es meint dieses In-den-Blick-Nehmen, vom Blick Umfangenseinlassen, das beschützende Drumherumsein aber auch das Aussuchen: Ausgesucht für besonders große und tiefe Freude, ausgesucht für ganz erwähltes Leid. Beides gehört zusammen. Hoch fährt er herauf, um zu thronen, tief fährt er herab, um zu sehen. Das ist die Bewegung Gottes. Und wenn wir von Gott reden, dann reden wir von dieser Bewegung. Diese Bewegung ist es, die wir zu preisen haben, die Höhe der Welt und seine Thronherrlichkeit fährt tief herab zu uns und blickt uns an, aus der Schönheit der Welt und aus ihrem Untergang. Das will gepriesen und gelobt sein. 120

Und das Zweite: Er erhebt aus dem Staub den Geringen, er holt aus dem Kot den Elenden, um ihn sitzen zu lassen bei den Edlen, bei den Edlen seines Volkes. Er schafft Platz der Unfruchtbaren im Hause, und die Mutter der Kinder erfreut er. Der Psalmist redet also von dem „Mummenschanz Gottes", wie er da in der Welt herumsteht bei den Menschen, wie er die Geringen, die Elenden und die Armen erhebt und sie sitzen läßt bei den Edlen, so übersetzt Luther. Wörtlich heißen sie: Leute, die zum Schenken bereit und in der Lage sind. Das Schenken ist eine ganz eigene Tugend. Aber es ist nicht nur Tugend, sondern das ist eine ganz eigene Lebensform — ein Schenkenkönnen und Schenkendürfen, es gehört zum germanischen Fürsten ebenso wie zum semitischen Stammesscheich. Es gehört zu jedem Hohen, auch zum Familienvater, daß er schenken darf, wie es zum Lehrer gehört und zum Meister. Sie alle schenken und schenken. Alle die sind bei diesen Leuten, die schenken können, gemeint. Zu ihnen kommen die Elenden und die Armen. Der Unfruchtbaren aber im Hause, dem elendsten Wesen auf der ganzen Welt — eine unfruchtbare Frau in einem orientalischen Hause, verstoßen und wegen ihrer Unfruchtbarkeit ständig angeklagt — der schafft Gott einen Platz im Hause, wo sie sitzen kann. Die Mutter der Kinder erfreut er. Das sind so einige Erzählungen davon, was Gott in der Welt tut. Diese Erzählungen sind zunächst einmal zugespitzt auf die eine und ganz unerhörte und die ganze Bibel durchziehende und immer wieder erschreckende Wahrheit: Wir haben es hier mit dem Gott zu tun, der das Niedrige ansieht. Und das meint auch, daß die Sklaven ihm empfohlen sind, und die Kleinen und die Waisenkinder. So wie er seinen König David aus dem kleinsten Stamme Israels und der kleinsten Familie des Stammes nahm. Und David war der Kleinste in dieser Familie. So eigentümlich im Widersinn zur Welt handelt dieser Gott. Was die Welt da so groß aufbaut und so schön hinstellt, das kann ihm gar nicht imponieren. Das Kleine ist ihm viel wichtiger. Dieses Kleine, diese „Armen und Elenden", wie das Alte Testament sie kurz nennt, die mag er, um die kümmert er sich, denen geht er nach, die holt er aus ihrer Verborgenheit. Aus ihrer Verworfenheit holt er sie heraus und läßt sie sitzen bei denen, die schenken können und schenken müssen. Dieses ist die eminente innerste Wahrheit des Evangeliums und der frohen Botschaft des Evangeliums, die wir Menschen eben, weil wir so sind, wie wir sind, nie ganz verstehen werden. Denn bei uns verläuft es nun mal anders. Wir finden das Hohe eben hoch und freuen uns an seiner Höhe. Und das Tiefe und Niedrige, das ist uns denn 121

doch irgendwo nicht so ganz geheuer. Aber diesem Gott geht es umgekehrt. Er handelt anders. Aber es ist nun nicht so, daß Gott nur das Niedrige etwas anginge. Und Evangelium heißt nicht allein, das Niedrige kommt nach oben. Denn so gewiß Gott der unfruchtbaren Frau Platz im Hause schafft, so steht daneben, daß er die Mutter der Kinder erfreut. Das heißt, die Mutter der Kinder, die Glückliche im Hause, ist ihm nicht etwa gleichgültig, so daß man sagen könnte: Ach, dieser Gott hat ja nur für die Unfruchtbaren etwas übrig, damit er ihnen helfen kann. Und wo er nichts zu helfen hat, bei der glücklichen Mutter der Kinder zum Beispiel, da geht er vorüber. Nein, so ist das nicht. Die Mutter der Kinder erfreut er, und die Unfruchtbare bekommt einen Platz im Hause. Es ist wohl wichtig, daß wir uns dies überlegen. Soweit ich weiß, hat keiner der Theologen der letzten Generation auf diesen Sachverhalt so eindeutig hingewiesen wie der große Neutestamentier Adolf Schlatter, der immer wieder gesagt hat: J a , das ist wahr, es geht Gott um das Verlorene. Aber man darf nicht meinen, daß damit das Evangelium eine Sache geworden wäre, die sich nur um Verlorene kümmern darf und die die Glücklichen im Leben übersehen dürfte. Damit verkennt man das Zeugnis der Bibel, und das ist wahr. Zwar gehört der Unfruchtbaren ein Platz im Hause, aber die Mutter der Kinder wird von diesem Gott erfreut. Und eine zweite Sicht gehört dazu. Das Evangelium ist nicht nur eine Sache, die es mit den unteren Schichten zu tun hat, um das mal so grob zu sagen. Sondern es ist überhaupt im Ganzen nicht ein Evangelium für sozial Minderbemittelte. Denn diese Elenden und Armen, das sind zwar auch Elende und Arme, das sind also bestimmt auch, die a) kein Geld und b) keine Wohnung haben, und die c) unterprivilegiert sind, wie man das heute nennt. Aber das sind nicht die Hauptgründe, daß Gott sich um die sogenannten Elenden und Armen kümmert. Vielmehr sind die Elenden und Armen die, die vor diesem Gott und vor des Lebens Gang nichts aufzuweisen haben, womit sie sich selbst meinten retten und helfen zu können. Die Menschen also, die in dieser tiefen Überzeugung leben: Ich habe nichts, was ich vor der Welt und vor Gott zu meinen Gunsten in die Waagschale werfen könnte. Sie sind die Elenden und Armen. Diese aber gibt es genauso unter den Industriekapitänen wie unter der Arbeiterschaft. Es kommt bei den Elenden und Armen auf den Sachverhalt an, den zumal die lutherische Reformation immer wieder herausgeholt hat, nämlich, es gibt Menschen in der Welt, die sagen vor Gott und vor der Welt: Es 122

ist nichts mit uns allen. Sie sind die „Armen im Geiste" aus den Seligpreisungen der Bergpredigt (Matth. 5, 3). Es ist eine große Sache, wenn Menschen das schaffen zu sagen, es ist nichts mit uns. Und wir müssen uns wohl fragen lassen, ob wir zu diesen Armen und Elenden gehören oder ob wir nun doch in der stolzen Uberzeugung, wieweit wir's gebracht haben und wie fromm wir sind und wieviel wir getan haben für die Armen vor Gott wie vor der Welt leben. Wir müssen uns fragen lassen, ob uns vielleicht unsere Bildung oder unsere bürgerliche Stellung oder unser frommes Tun nicht doch ein hohes Selbstbewußtsein verleiht, in dem wir mehr, häufiger und glücklicher zu Hause sind als da, wo es heißt, es ist nichts mit uns allen. Anfang der 20er Jahre im Religiösen Sozialismus hat man gesagt, die Situation der Armen und Elenden sei die proletarische Situation jener Jahre. Das war damals sicher auch richtig. Paul Tillich meinte damit diesen, zumal im Alten Testament bezeugten Sachverhalt der Armen und Elenden. Aber diese proletarische Situation gibt es nicht nur bei Proletariern, sondern die gibt es ebenso auf den Thronen und in den großen Häusern. Diese proletarische Situation heißt, daß wir mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln vor der Welt und vor Gott uns nicht zu rechtfertigen vermögen. Wenn wir bedenken, was unser Psalm uns hier über Gottes Wirken in der Welt erzählt, und wenn wir hören, daß in diesen alltäglichen Sachverhalten der Ansatz für den Lobpreis des Namens Gottes liegt, dann geht es uns auf, was wir als Christen alles versäumt haben. Wieviel haben wir eigentlich Gottes Größe und Macht vor der Welt gepriesen? Wo haben wir das eigentlich gemacht? J a , hier in der Kirche haben wir das getan. Das ist ja auch gut so. Aber da draußen in der Welt? Wie ist das eigentlich? Und darauf kommt es doch an, denn da wächst Armut und Elend, auf die es hier ankommt und um die sich Gott bemüht. Wenn man diesen Sachverhalt mit sozialen Fragen verbindet und wenn man sagt, die sozial niedrig Gestellten sind doch wohl die, um die sich Gott kümmert, dann hat man insofern daran recht, weil wohl in der proletarischen Situation auch sozialerweise diese Empfindung der Gottverlorenheit eher und häufiger wachsen kann als in den Kreisen der sog. Reichen oder der Gebildeten. Die können sich vielleicht noch eher mit ihrer Bildung und ihrem Reichtum über ihren tatsächlichen Sachverhalt hinwegtäuschen. Insofern ist etwas dran an der sozialen Auslegung dieser Armen und Elenden. Im Grundsachverhalt hat es aber damit nichts zu tun. Und darüber müssen wir uns klar sein. Wir müssen uns deswegen darüber 123

klar sein, weil wir sonst aus dem Evangelium eine Rede nur für die machen, die sich bescheiden kleiden und die Schönheit, Größe und die Herrlichkeit der Welt vergessen. Das ergibt dann das falsche Bild von der christlichen Demut und Niedrigkeit. Das ergibt dann die fatale Folge, daß die Menschen, denen es gut geht und die in ihrem Wohlstand und in aller musischen oder denkerischen Größe vielleicht sehr gefährdet sind, merken, daß sie ja gar nicht gemeint sind von der Kirche, die doch nur den Niedrigen nachgeht. Unser Psalm zeigt uns, wie schwer es doch ist, der frohen Botschaft von Gottes Wirken in der Welt wirklich gerecht zu werden. Gott gibt der Unfruchtbaren einen Platz im Hause. Aber er erfreut zugleich die Mutter der Kinder. Gott erhebt die Geringen und erfreut die Hohen. Das aber, worauf es offenbar ankommt, ist dieses: V o r Gott sind wir alle, ob wir reich oder arm, glücklich oder unglücklich sind, Arme und Elende. Das heißt, wir haben nichts, was uns vor Gott angenehm oder gerecht machen könnte. Aber an Gottes Zuwendung zu uns hängt unser ganzes Dasein. Wir stehen vor ihm in dem Bewußtsein, daß es vor ihm nichts ist mit uns allen. Darüber, meint unser Psalm, wird das Lob des Namens Gottes laut. Aus dieser Tiefe schallt das Lob Gottes und seines Namens angemessen: Lobt ihr Knechte Gottes, lobet den Namen des Herrn! Dieses Lob soll erschallen vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang — das heißt auch in der ganzen großen Welt in der Weite ihrer geographischen Erstreckung. Aber das heißt auch, daß wir zu diesem Lobe Gottes in unserem Alltag da sind — da, wo Gott uns wirkungsmächtig umgibt.

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Gott - die Welt und die Völker 2. S. n. Epiphanias 15. Januar 1978 Psalm 66 Jauchzet Gott alle Lande, lobsinget zu Ehren seinem Namen, rühmet ihn herrlich. Sprechet zu Gott: Wie furchtbar sind deine Werke. Es wird deinen Feinden fehlen vor deiner großen Macht. Alles Land bete dich an und lobsinge dir, lobsinge deinem Namen. Kommet her und sehet an die Werke Gottes, der so furchtbar ist mit seinem Tun vor den Menschenkindern. Er verwandelt das Meer ins Trockene, daß man zu Fuß über das Wasser gehen kann; dort freuten wir uns sein. Er herrscht aber mit seiner Gewalt ewiglich. Seine Augen schauen auf seine Völker. Die Abtrünnigen werden sich nicht erhöhen können. Lobet ihr Völker unseren Gott, lasset seinen Ruhm weit erschallen, der unsere Seelen im Leben erhält und läßt unsere Füße nicht gleiten. Ja, Gott, du hast uns geprüft und geläutert, wie Silber geläutert wird. Du hast uns lassen in den Turm werfen, du hast auf unsere Lenden Lasten gelegt. Du hast Menschen lassen über unser Haupt fahren. Wir sind in Feuer und Wasser gekommen: aber du hast uns herausgeführt in die Freiheit. Darum will ich Brandopfer geben in deinem Haus und dir meine Gelübde bezahlen, wie ich meine Lippen habe aufgetan und mein Mund geredet hat in meiner Not. Ich will dir Brandopfer bringen von feisten Schafen samt dem Rauch von Widdern, ich will opfern Rinder und Böcke. Kommet her, höret zu alle, die ihr Gott fürchtet. Ich will erzählen, was er an meiner Seele getan hat. Zu ihm rief ich mit meinem Munde, da ward ich erhöht über die, so mich hassen. Ich dachte in meinem Herzen, der Herr wird nicht hören. Aber er hat gehört, er hat gemerkt auf mein Flehen. Gelobt sei Gott, der mein Gebet nicht verwirft noch seine Güte von mir wendet.

Dieser Psalm redet von dem Aufgehen des Lichtes Gottes. Er redet davon, worum es an Epiphanias geht: von dem Aufgehen Gottes. Er redet davon nicht so, wie die alte Kirche meinte, daß sie Epiphanias 125

feiern sollte: mit der Hochzeit zu Kana, oder mit der Taufe Johannes des Täufers, oder mit den heiligen drei Königen. Sondern er redet von dem Aufgehen des Lichtes Gottes für uns, für die Welt, für die Völker. Dieser Psalm ist offenbar einer von den Psalmen — und davon gibt es eine ganze Reihe —, die das Textbuch waren für ein „Drama", für eine Liturgie, die im Tempel von Jerusalem oder im Tempel von Bethlehem, oder im Tempel von Gad aufgeführt wurde. Dieses Drama oder diese Liturgie, für die unser Psalm das Textbuch ist, vollzog sich in drei Akten. Man muß sich den Tempel in Jerusalem z. B. vorstellen. Vor dem Tempel der große Brandopferaltar und das Riesengefäß, das große gläserne Meer für das Wasser der Reinigung, und von da gehen die breiten Treppen herunter zu dem ersten Vorhof, wo die Gemeinde steht. Und aus dem Tempel kommen jetzt Priester und Leviten gezogen und stellen sich oben vor den großen Brandopferaltar: Es ist ein Chor von Priestern und zwei levitische Chöre. Die Leviten stehen auf der Mitte der Treppe. Der große Priesterchor beginnt zu singen: „Jauchzet Gott alle Lande, lobsinget zu Ehren seinem Namen, rühmet ihn herrlich." Wie sie das gesungen haben, das wissen wir nicht. Daß sie es mit Orchester gesungen haben, das können wir annehmen. Man kann es sich vielleicht so vorstellen wie den Beginn des Weihnachtsoratoriums von Bach. Dieser Priesterchor mit dieser Aufforderung redet die Länder an. Die Länder, die Erde, die Erdteile, die verschiedenen Teile der Erde werden angeredet. Und der erste levitische Chor, zum Tempel hin gewendet, singt davon: „Wie furchtbar sind deine Werke, Gott." Dieser Chor redet singend also Gott selbst an. „Es wird deinen Feinden fehlen vor deiner großen Macht, alles Land bete dich an und lobsinge dir, lobsinge deinem Namen." Das heißt, in diesem Chor oder von diesem Chor wird Gott angesprochen in der Größe seiner Macht, und das Land wiederum aufgefordert, in den großen Lobpreis der Taten Gottes einzustimmen. Und dann kommt der dritte Chor, und der wendet sich dann wohl zu dem Tal Kidron hin, wo die Weite den Blick freigibt zum ölberg, und singt: „Kommt her, ihr Länder, und sehet die Werke Gottes an . . . Er verwandelt das Meer ins Trockene, daß man zu Fuß über Wasser gehen konnte. Dort freuen wir uns. Er herrscht mit seiner Gewalt ewiglich." Diese drei Chöre bilden den ersten Akt. Dieser erste Akt dieses Dramas lädt die Länder ein, Gott zu lobsingen. Wieweit sind wir eng beschränkten Leute des 20. Jahrhunderts doch 126

von dieser Frömmigkeit entfernt. Jene Leute konnten vor Gott mit der Erde, mit dem Land, mit den Ländern, mit der Welt eine Einheit im Gebet bilden. Was wissen wir noch davon, daß wir dazu da sind, dem Lande und der Erde das Lob Gottes zu verkündigen. Was wissen wir armen Leute noch davon, daß die Erde, daß das Land mit uns einstimmen will und soll in den Lobpreis Gottes. Bei uns „menschelt" es immer bloß. Die ganze „menschliche allzu menschliche" Kümmerlichkeit tragen wir auch in unserer Frömmigkeit noch mit uns herum. Aber das können und das sollen wir in der Bibel lernen: es geht vor Gott um diese Welt, eben auch um das Land, eben auch um das Anorganische. Diese Lande, das ist das Erste, sollen hören, von uns hören, was es denn sei um die Größe Gottes. Und diese Lande wollen und sollen einstimmen in unsern Lobpreis: Ihr Länder, lobsinget, ja lobsinget seinem Namen, d. h. seiner Macht, seiner Größe. Und der dritte Chor sagt denn auch, worum es dabei geht: Er hat damals das Wasser plötzlich stehen lassen, daß Israel hindurchgehen konnte durch das Wasser. Und dann — entsetzlichermaßen — hat er das Wasser wieder zusammenfallen lassen über die glänzende Streitmacht Ägypten. Das sind seine Taten. Und der zweite Chor sagt: Furchtbar, furchtbar ist dieser Gott. Das heißt bei diesen großen Taten Gottes, da ist es nicht nur, daß man vor Glückseligkeit verschwimmt, sondern das ist eine tiefernste und eben auch immer furchtbare Sache, weil die Größe und die Gewalt und die Undurchschaubarkeit dessen, was Gott mit uns und für uns, was er mit der Welt und für die Welt, was er mit den Ländern und für die Länder tut, für uns ganz unbegreiflich ist. Denn wenn wir uns das ansehen, was das Zeugnis der Bibel uns zu berichten hat über das, was Gott an den Landen alles getan hat, da denken wir immer wieder: wie furchtbar, wie unbegreiflich, wie erschütternd, für unseren Verstand ganz entsetzlich ist die Größe und die Macht und die Herrlichkeit dieses Gottes. Das kann auch nicht anders sein. Denn da, wo wir Gott sagen, da stoßen wir an die Grenzen unseres Fassungsvermögens, weil wir an das Letzte stoßen, an das Letzte. Das Letzte, sowohl nach vorn, wo unsere Auffassungsfähigkeit beginnt, nämlich Schöpfung oder Geburt; wie das Letzte, wo unsere Auffassungsfähigkeit endet, unser eigenes Ende und das Ende der Welt: alles Dinge, die unser Verstand zu ermessen nicht in der Lage ist. Aber da stoßen wir auf „ihn". Und wo wir denn die Lande auffordern, in den Lobpreis seines Namens, seiner Macht einzustimmen, da fordern wir sie auf, vor den zu treten, der die Grenze da vorne und die Grenze da hinten ist. Und da wird es „furchtbar" für uns und unser Verstehen. Man kann sich 127

das klarmachen an unserem Verhältnis zu unserem eigenen Sterben. Dieses unser eigenes Sterben ist zunächst und unmittelbar für uns furchtbar, weil wir das Ende unserer Existenz zu bedenken nicht vermögen. Der zweite Akt dieser Liturgie hat wiederum drei Chöre. Wiederum beginnt wohl ein Priesterchor, der die große Aufforderung singt: „Lobet, ihr Völker, unseren Gott. Lasset seinen Ruhm weit erschallen, der unsere Seelen im Leben erhält und unsere Füße nicht gleiten läßt." Jetzt sind nicht mehr die Lande sondern die Völker angeredet. Jetzt geht es um das menschliche Leben: „der unsere Seele im Leben erhält". Ein ganz neues Thema. Und der zweite Chor wendet sich wiederum zum Tempel direkt zu Gott: „Ja, Gott, du hast uns geprüft und geläutert, wie Silber geläutert wird. Du hast uns lassen in den Turm werfen, du hast unsere Lenden mit Lasten belegt, du hast Menschen lassen über unser Haupt fahren, wir sind in Feuer und Wasser gekommen. Und du hast uns herausgeführt in die Freiheit." Und dann kommt der dritte Chor: „Darum laßt uns mit Brandopfern in sein Haus gehen, laßt uns Gelübde bezahlen, wie ich meine Lippen aufgetan habe und mein Mund geredet hat: Ich will dir Brandopfer bringen von feisten Schafen samt dem Rauch der Widder. Ich will opfern Rinder und Böcke." Mit diesem dritten Chor ziehen dann die drei Chöre in den Tempel ein. Hier geht es also um die Völker. Hier geht es um das Leben menschlicher Seelen, das Leben menschlicher Seelen angesichts dieses Gottes. Was muß man da eigentlich sagen? Nach der Meinung dieses Psalms muß man da von den tiefen Angefochtenheiten in der Geschichte der Völker, der Religionen und der Kirchen reden. Eine Meinung, die das Alte Testament und das Neue Testament ganz durchzieht und die dann von Luther in der Reformation wiederentdeckt wurde, nämlich: Dieser Gott geht mit den Seinen den unteren Weg. Es mit diesem Gott zu tun bekommen, heißt, mit dem zu tun bekommen, der unserer Seelen Leben dadurch erhält, daß er unsere Seele auf die Probe stellt, daß er uns in Feuer bringt und in Wasser, daß er uns in Türme eingesperrt sein läßt — abgeschlossen, so wie wir heute von der Welt abgeschlossen sind — daß er diese Gemeinde Israel vereinsamt in der Welt, so wie seine christliche Kirche vereinsamt ist in der Welt und daß er uns Lasten auf unsere Lenden legt. Das ist die Meinung dieses Psalms: Gott sagen, das heißt von seiner Macht reden. Gott sagen, das heißt, davon reden, wie wir im Kontext 128

von Gemeinde und Kirche auf die Probe gestellt werden. Eine merkwürdige Sicht der Sache. Aber nach der die ganze Bibel durchziehenden Meinung und nach der Meinung der Reformation, die Sicht der Sache, d. h. Gottes, die allein in der Lage ist, unserer Seelen Leben zu erhalten und zu bewahren. Mit diesem Gott und seiner Macht konfrontiert sein, heißt unser Leben und die ganze Geschichte neu sehen, nicht so sehen, wie Menschen das sehen. Wir Menschen sehen es so: Das ist gut, wenn die Leute viel zu essen haben, wenn sie ein hohes Gehalt haben, wenn sie eine gute Lebensversicherung haben; und das ist schlecht, wenn sie krank werden und wenn sie kein Geld haben und wenn sie in N o t kommen. Diese Wertungen sind vor diesem Gott offenbar überstiegen. Diese Wertungen gelten im Zusammenhang dieses Gottes jedenfalls nicht. Es geht vor diesem Gott um etwas anderes offenbar. Es geht darum, Augen zu bekommen dafür, daß die Kostbarkeit unseres Daseins da liegt, wo die N o t uns betritt. Nun, das ist wohl nicht so, wie man das in gewissen Zeiten des Mittelalters und in gewissen Zeiten des 17. Jahrhunderts gemeint hat, daß Christen Leute sind, die sagen: Ach, wo ist denn das Unheil, in das ich mal hineinschlüpfen kann. Sondern es ist wohl so, daß wir die Welt so anschauen, wie sie ist. D a aber brauchen wir wohl keine großen Aufschwünge und Anstrengungen zu machen, die N o t zu entdecken. Wenn wir die Welt so ansehen, wie sie ist, dann entdecken wir sehr schnell auch in unserer großartigen Zeit, wo wir's so weit gebracht haben, dann entdecken wir sehr schnell die ganzen Risse, diese ganzen Abgründe, diese ganzen Tiefen des Grauens, die überall da direkt zur Stelle sind, wo Menschen handeln. D a brauchen wir gar nicht diese ganzen schrecklichen Dinge des Terrorismus' zu studieren. Wir brauchen nur mal uns selbst anzusehen, wie wir uns eigentlich gegenüber dem Menschenleben empfinden. Wir merken's dann sehr schnell, mit welchen Abgründen wir es zu tun haben. Das sind die Nöte, die wir sehen müssen, die wir so sehen müssen, wie sie sind, die wir nicht verkleistern dürfen, die wir nicht verstecken dürfen, die wir im Glauben den Mut bekommen anzusehen. U n d indem wir sie ansehen — so sagt unser Psalm — in ihnen und durch sie will dieser merkwürdige Gott meine Seele am Leben erhalten. Gott geht mit den Seinen den unteren Weg. Das heißt, in seinem Schutz können wir es wagen, in die dämonischen Hintergründe des menschlichen Daseins in der Geschichte einzutauchen, ohne daß wir Pessimisten werden, ohne daß wir Gotteszweifler werden, ohne daß wir alles beiseitewerfen. Sondern wir gewinnen das große Verwundern über die Langmut dieses Herrn, über die tiefe unergründliche 129

Weisheit dieses Herrn, der mit uns, so wie wir sind, seine Wege geht. Das Unerhörte in den Chören dieses Psalms speziell dieses zweiten Aktes, ist es, daß die Bibel dem Menschen die Augen auftun möchte für sich selbst und für die Geschichte, so wie sie ist. Man hat mit Recht gesagt, zum Christen gehört Sachlichkeit. Paulus nennt das Nüchternheit. Und diese Sachlichkeit, diese Nüchternheit führt uns an die Tiefen des Daseins als der Werke dieses Gottes an uns und für uns, das heißt für das Leben unserer Seele. Das ist die Freiheit, von der der zweite Chor singt. Das ist die Freiheit! Wir haben die ganzen Zwänge der Wohlerzogenheit und der sozialen Stellung und des Berufes und der Bildung und was es alles Schönes gibt, gar nicht nötig. Weit über sie hinaus geht die Nüchternheit unserer Sachlichkeit. Wir können das Leben so betrachten, wie es ist. In der Gehaltenheit dieses Gottes stehen wir damit und können in der Freiheit umgehen, die den Kindern dieses Gottes zukommt. D a ist also der erste Akt: Die Länder werden versammelt, und ihnen wird das Zeugnis gegeben von den großen Taten Gottes. Und da ist der zweite Akt, da werden die Völker herangeholt, und die Geschichte wird in ihrem innersten Zusammenhang gesehen, und die Wertungen des Lebens, gut und böse, recht und unrecht, werden neu gesetzt. Allerdings, das Böse bleibt böse, und das Ungerechte bleibt ungerecht. Aber das Ungerechte und das Böse ist umfaßt von der Freiheit, in der die Kinder Gottes in der Welt sein können. Die Chöre der Priester und Leviten sind abgezogen zum Opfer in den Tempel. Und nun tritt offenbar aus der versammelten Gemeinde heraus ein ganz zivil und normal gekleideter „Bürger", ein Glied der Gemeinde betritt die Stufen, wendet sich zur Gemeinde und beginnt zu singen: „Kommet her, höret alle zu, die ihr Gott fürchtet. Ich will erzählen, was er an meiner Seele getan hat. Zu ihm rief ich mit meinem Munde, da ward ich erhöht über die, so mich hassen. Ich dachte in meinem Herzen, der Herr wird nicht hören. Aber er hat gehört, er hat gemerkt auf mein Flehen. Gelobt sei Gott, der mein Gebet nicht verwirft, noch seine Güte von mir wendet." Das ist der dritte Akt. In diesem dritten Akt ist da also ein Mann wie jeder andere, und dieser Mann wendet sich an die, die Gott fürchten. Er wendet sich an die Menschen, die etwas davon wissen, wie furchtbar Gottes Macht ist. Er wendet sich also an die Menschen, die die üblichen, normalen, gängigen Vokabeln von dem lieben Gott über der Lebendigkeit ihres Glaubens vergessen mußten und vergessen konnten, und die von Gott so reden, wie man von ihm reden muß: Wie furchtbar sind deine Werke, und was ist das für eine Frei130

heit, zu der du mich befreit hast! An diese Leute wendet er sich. Und diesen Leuten will er erzählen, wie es ihm in seinem Leben gegangen ist. Er erzählt davon, wie er eines Tages in einer großen Not war, und wie er in dieser Not etwas ganz Merkwürdiges getan hat: Er hat nach Gott gerufen. Ein vernünftiger Mensch, der mitten im Leben steht, und der nun Schwierigkeiten kriegt, seien es berufliche, wirtschaftliche oder Nöte anderer Art, der macht dieses Merkwürdige: Er ruft nach Gott. Dieser Mensch da, der meint tatsächlich, dieser Gott hätte was zu tun mit Geld und mit beruflicher Ehre und mit Durchsetzungskraft und mit Vernunft und Verstand und mit Sachwissen und mit allem Möglichen. Das meint dieser Mensch. Und auch dieser Mann steht, wie er sagt, noch in der Fraglichkeit: Ich meinte, ach, das kann Gott ja gar nicht hören. Der ist ja wohl so weit weg, und der ist ja wohl so entsetzlich heilig, daß er sich um diesen Kram, den ich hier vorhabe, gar nicht kümmern kann. Aber siehe da, er hat tatsächlich gehört, unglaublicherweise. Er, Gott, er, dieser Gott, von dem wir gehört haben bei den beiden Chören, der die Länder versammelt, der die Völker versammelt, dieser mächtige, große, gewaltige, herrliche Gott, der ist in diese kleine Sache eingetreten, in diesen Berufsärger dieses Mannes. Er hat etwas getan. Gott hat etwas getan! Weil das so ist, sagt dieser Mann, darum „gelobt sei Gott, der mein Gebet nicht verwirft noch seine Güte von mir wendet". Was macht dieser Mann als dritten Akt des Ganzen? Er beschreibt, wie und wo das Licht und die Herrlichkeit und die Mächtigkeit dieses Gottes über uns eigentlich aufgeht, wenn wir nicht mehr im Zusammenhang der Länder uns selbst verstehen, und wenn wir nicht mehr im Zusammenhang der Religion oder der Kirche uns selbst verstehen, sondern wenn wir in der Not unseres Daseins auf uns selbst zurückgeworfen mit uns selbst allein da sind. Vor lauter Not, vielleicht auch vor lauter Krankheit und Schmerz vermögen wir gar nicht mehr, über uns selbst hinauszusehen, sondern sind nur mit uns allein da. Luther hat einmal gesagt: Rufe mich an in der Not, und ich will dich erretten, so will Gott erkannt werden. Das heißt, Luther meinte, Gotteserkenntnis ist ja eine gute Sache, und beim Glauben kommt's auch auf Gotteserkenntnis an, das ist wahr. Aber diese Gotteserkenntnis von Christen, die besteht nicht darin, daß wir mächtige Sachen machen, daß wir uns Riesensachen philosophischer oder theologischer oder mystischer Art ausdenken, sondern diese Gotteserkenntnis von Christen besteht darin: „Rufe mich an in der Not". Mehr nicht, mehr ist das nicht. Aber dieses ist ungeheuerlich. Denn, wer 131

mal in Not war, der weiß, wieweit dann Gott weg ist, und was das für ein Sprung ist, der dazu gehört, um das Vertrauen aufzubringen, ihn, Gott, in diese Not hineinzuholen. Aber darauf kommt es gerade an, bei diesem Gott. Er will mit der Herrlichkeit seiner Weltgröße von uns hineingeholt werden in die kleinen für uns so großen Nöte unseres Daseins. Das ist der innerste Kern. Dieses nennt Jesus bei dem ihm begegnenden Hauptmann von Kapernaum oder anderen Glauben, daß sie sich nämlich zu ihm wenden mit ihrer Not, mit ihrer Krankheit, mit ihrem Kummer und sagen, nun komm mal und hilf mir. Dies nennt er Glauben. Das ist Glaube. Aber, nicht wahr, das ist gar nicht so ganz einfach, wie es klingt; denn wirkliche Not vereinsamt, vereinsamt gegenüber den Menschen, gegenüber der Welt, gegenüber den Tieren unserer Umgebung und den Blumen in unserem Garten. Und wir denken, wir seien auch von Gott vereinsamt. Und das gerade kann oder soll nicht passieren, wo es um Glauben geht, wo es um Gotteserkenntnis geht. Das ist eine tolle Sache, eine ganz tolle Sache. Rufe mich an in der Not, so will Gott erkannt sein. Das ist das Drama, das am Fest der Erscheinung dieses Gottes in Jerusalem oder Bethlehem oder Gad oder einem anderen Heiligtum Jahr für Jahr aufgeführt wurde und in dem von der großen mächtigen Welt und den unendlichen Tiefen der Völkergeschichte und der Geschichte der Kirchen der Weg angetreten wird zu dem Menschen, der in seiner ganzen Not mitten im Leben vor diesem Gott steht. Ein unerhörtes Drama. Aber dies Letzte, wo unsere Not sich zu Gott öffnet, kann nach der Meinung dieses Psalms nicht sein ohne den Hintergrund der Gemeinde, ohne das Wissen, daß Gott mit den Seinen den unteren Weg geht, nicht wahr, das gehört unmittelbar zusammen. Und dies kann nicht sein ohne das Wissen darum, daß er die Grenze und die letzte Schönheit in der Welt und in den Landen ist und daß wir mit unserer scheinbar so kleinen nebensächlichen Not mitten in dem großen Welt- und Geschichtsgeschehen drinstehen, und daß diese unsere Wendung zu Gott im Gebet nicht ohne Belang ist für die große Geschichte der Kirche und für die große Geschichte Gottes mit der Welt. Dies heißt eben auch, daß wir mit unserer winzigen Not „eine Rolle spielen"; denn wir sollen eines Tages sagen: Kommt her, ihr Länder, lobsinget seinem Namen. Ich weiß das, ich kann euch einladen, nun kommt mal her. Und wir können sagen, ja wir sollen sagen: Du große Geschichte von Kirche und Religionen, du komme mal her, ich habe dir was zu erzählen. Und was wir zu erzählen haben? Da war ich mal in großer Not, und da habe ich es fertigge132

bracht, mich zu ihm zu wenden, und — das ist fast unglaubhaft — er hat mich gehört. Das ist alles. Das ist tatsächlich alles — das ist das „Ganze". Und dies heißt Glaube: D a geht die Herrlichkeit Gottes auf — Epiphanie vor Welt, Religionen und vor uns.

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Gott schläft — wir müssen ihn wecken 4. S. n. Epiphanias 30. Januar 1977 Matthäus 8,23-27 Und er trat in das Schiff und seine Jünger folgten ihm. Und siehe, da erhob sich ein großes Ungestüm im Meer, also daß auch das Schiff lein mit Wellen bedecket ward; und er schlief. Und die Jünger traten zu ihm und weckten ihn auf und sprachen: Herr, hilf uns, wir verderben! Da sagt er zu ihnen: Ihr Kleingläubigen, warum seid ihr so furchtsam? Und stand auf und bedrohte den Wind und das Meer, da ward es ganz stille. Die Menschen aber verwunderten sich und sprachen: Was ist das für ein Mann, daß ihm Wind und Meer gehorsam sind?

Epiphanias-Zeit, Zeit der Erscheinung Gottes, die Zeit des KirchenJahres, die das Gegenwärtigwerden Gottes nicht nur preist, sondern die von der Gemeinde erlebt, erfahren und gefeiert wird als das Hervortreten des Gottes, den wir als den Schöpfer und Vollender der Welt glauben. An diesem Sonntag hat die alte Kirche zusammen als Lesungen empfohlen: zunächst den Psalm 93: Gott, der über dem Urwasser, der Urbedrohung der Welt als Sieger erscheint, dem das unendliche Getöse der Wasserflut, des Chaotischen, der Mächtigkeit, des Verwirrenden, des Zerfließenden, des Gestaltlosen nichts anhaben kann, der sein Gesetz und seine Tempel über dem Wasser aufbaut, und herrlich strahlt seine Gottheit. Sodann wird als Epistel ein Text aus dem Römer-Brief (Rom. 13, 8—10) gelesen: Im Zusammenhang des Endes aller Tage, da wo die Welt an ihr Ende gerät — und das ist heute so wie gestern — gilt nur eines, nämlich die Liebe. Die Liebe ist des Gesetzes Erfüllung. Wo geliebt wird, ist der ganze moralische Bereich auf einmal erfüllt. Die Liebe übersteigt den gesamten moralischen Bereich. Und drittens wird dieses Evangelium von der Sturmstillung gelesen. Dies ist ja eine merkwürdige Geschichte. Bei Markus im vierten Kapitel, hier bei Matthäus und bei Lukas im achten Kapital ist uns diese Geschichte überliefert. Sie steht immer am gleichen Platz, nämlich da, wo Jesus aus der Gegend von Kapernaum hinüberfährt nach Tibe134

rias in die Gegend v o n G a d a r a . U n d auf dieser F a h r t , das ist bei M a r k u s noch sehr deutlich zu sehen, da t r i t t einer der f ü r den See G e n e z a r e t h b e k a n n t e n u n d g e f ü r c h t e t e n Fallwinde, die aus den Bergen des O s t j o r d a n l a n d e s h e r ü b e r k o m m e n , a u f , die ebenso plötzlich wie u n v o r h e r s e h b a r erscheinen. D a passiert n u n etwas ganz M e r k würdiges. Die a l t e r f a h r e n e n Seeleute, der Petrus u n d sein B r u d e r wie J a k o b u s u n d Johannes, die m a c h e n gar nichts, die zittern bloß. U n d Jesus m a c h t auch nichts, denn der schläft. Eine höchst eigentümliche Situation. Bei M a r k u s w e r d e n die J ü n g e r d a n n f r e c h . D a sagen sie zu Jesus: dich k ü m m e r t das w o h l gar nicht, w e n n w i r ertrinken. U n d d a r a u f h i n steht er auf u n d m a c h t was. Bei M a r k u s ist die ganze Geschichte noch sehr h a r t e r z ä h l t u n d geht w o h l n a c h der Allgemeinüberlieferung auf ein Ereignis z u r ü c k , w o Jesus einen dieser W i r b e l stürme d u r c h sein W o r t beendet hat. Bei M a t t h ä u s ist nicht m e h r die R e d e d a v o n , d a ß d a so ein W i r b e l s t u r m k a m u n d d a ß die Wellen ins Boot schlugen, wie M a r k u s sagt, s o n d e r n bei M a t t h ä u s , d a ist es schon ein seismos, ein ungeheures, die G r ü n d e d e r E r d e erschütterndes Ereignis. D e r H i m m e l d r o h t auf die E r d e h e r a b z u s t ü r z e n . U n d das Wasser schlägt nicht n u r ins Boot, sond e r n das kleine Boot ist ganz u n d gar v o n Wasser bedeckt. D a s Schiff liegt schon ganz u n t e r Wasser. U n d die J ü n g e r m a c h e n gar nichts, u n d Jesus schläft wie auch bei M a r k u s . U n d d a n n k o m m e n die J ü n g e r u n d n a h e n sich i h m in d e r einem G o t t gehörigen E h r f u r c h t u n d sagen: also d u k ö n n t e s t doch mal, es ist doch so schrecklich u n d aussichtslos. U n d d a n n m a c h t Jesus auch was, u n d d a n n geht die Sache in O r d nung. D a s heißt also, hier bei M a t t h ä u s ist nicht m e h r die R e d e v o n dem Seesturm, d e r die See-erfahrenen Leute tatenlos sieht. S o n d e r n hier ist die R e d e v o n dem die W e l t in den letzten Festen erschütternden, in ihren G r ü n d e n aufs Spiel setzenden endgültigen Ereignis der letzten N ö t e dieser W e l t . U n d in diesen N ö t e n , d a sinkt dieses Schiff unters Wasser. Dieses Schiff ist zu dieser Zeit — u m 70 o d e r 75 nach Christus — schon g e m ä ß dem aus dem J u d e n t u m s t a m m e n d e n Bilde die G e m e i n d e Gottes. U n d diese G e m e i n d e Gottes ist v o m Wasser g a n z bedeckt. D a ist nicht m e h r Gestalt, da ist nicht m e h r F o r m , d a ist nicht m e h r Institution, d a ist n u r noch A u f l ö s u n g . U m dieses U n g e s t ü m geht es in dieser Geschichte bei M a t t h ä u s . M a t t h ä u s m e i n t mit seiner Gemeinde, d a ß die Geschichte, n a c h der Jesus einen Seesturm besänftigt h a t , ein S y m b o l w a r , ein H i n w e i s d a r a u f , w a s eigentlich b e d a c h t w e r d e n m u ß , d a ß n ä m l i c h die W e l t u n d w i r u n d die christliche G e m e i n d e in der W e l t immer u n d immer wieder in der letzten Bedrohtheit stehen, 135

in der Bedrohtheit, in der es sich entscheiden muß, ob Gott oder Chaos, ob Gott oder Gestaltlosigkeit der Urwasser, des Urmeeres herrscht, ob eigentlich in unserem Leben, in unserem Bemühen um Erziehung, in unserem Bemühen um Staat, in unserem Bemühen um Wirtschaft gestaltende Vollmacht oder gestaltzersetzendes Urmeer und Chaos herrscht. Und die Meinung des Matthäus ist: Kirche ist der Bereich in der Welt, der immer wieder und grundsätzlich eigentlich jeden Tag in dieser letzten Bedrohtheit für die Welt da ist. Sie ist nicht für sich selbst da. Für die Welt muß sie dasein, weil die Welt aus sich selbst heraus nicht fähig und in der Lage ist, den gestaltenden, formenden, Schönheit und Lebensmöglichkeit verleihenden Impuls zu geben, den sie braucht. Denn dieser letzte Impuls heißt Gott, und nichts anderes. Er, von dem der 93. Psalm singt, der sein Haus aufbaut über den Fluten, über dem Tosen, über dem Brausen des Meeres, das alles zersetzt und alles hinwegschwemmt. Dieser Gott ist Grund und Möglichkeit von Gestalt. Und Gestalt ist Schönheit und Freude und Ordnung und Leben. Darum geht's in der Geschichte. Das kleine Schifflein ist von Wogen ganz bedeckt. Und wenn man sich das mit der Kirche ansieht, dann sagt man, da hat Matthäus auch völlig recht. Wenn man sich das ansieht, was wir Christen eigentlich heute noch an Fähigkeit und Möglichkeit haben, der Welt zur Gestaltwerdung zu verhelfen, dann ist das ja gleich Null. Wir rennen immer hinter irgendwelchen Tagesparolen her — natürlich. Aber was wir in bezug auf Wirtschaft und in bezug auf Politik und in bezug auf Wissenschaft und in bezug auf Erziehung eigens von der Kirche aus noch an gestaltendem, Leben gebenden Impulsen in die Welt hineingeben? Das Schifflein ist von Wasser ganz bedeckt. Darum geht es in dieser Geschichte, uns als Christen darauf aufmerksam zu machen, wo wir eigentlich mit unserem Christsein und mit unserer Kirche de facto stehen und wo wir eigentlich mit unserem Christsein und mit unserer Kirche sein sollten. In dieser Situation, wo das Schifflein von Wellen ganz bedeckt ist, da geht es um den schlafenden Gott. Gott schläft, er merkt gar nichts. Er will auch gar nichts merken. Er merkt erst da was, wo wir hingehen und sagen: „Wach auf . . . stehe auf, los, nun tu was!" Ein unglaubliches Bild, unglaublich schon bei der Markus-Geschichte, wo das Schiff erheblich schaukelt und die Wellen, wie Markus sagt, ins Boot schlagen. Alles wird pitschnaß. Das stört ihn gar nicht. Er schläft. Das ist schon eine erstaunliche Angelegenheit. Noch erstaunlicher bei Matthäus, wo es um alles geht, und das Schifflein von Wogen gar 136

bedeckt ist. Aber der Gott schläft herrlich. Aber das ist eben, meint Matthäus, die Sache, daß Gott darauf wartet, daß wir hingehen und sagen: nun madi mal was. Sonst macht er nichts! Eine allen Religionen geheimnisvolle Sache: der schlafende Gott. Der schlafende Gott, das ist der Gott, der mit seiner Gottheit darauf wartet, daß die Menschen ihn rufen, und der nun einmal nichts tun will, es sei denn, er sei gerufen. Für uns Menschen ist dies ja immer wieder sehr schwer zu begreifen, daß das so sein soll, daß wir mit unserem Rufen etwas bewirken sollten. Aber es ist eine der zentralen Erfahrungen nicht nur all der vielen Männer der Kirche seither sondern eine der zentralen Überzeugungen des Alten und Neuen Testamentes, daß Christen betende Leute sind, sonst ist an ihnen sowieso nichts dran. Aber sie sind betende Leute. Nicht deswegen, weil sie das schön finden vielleicht oder weil sie die Meditation hoch preisen, sondern deswegen, weil das so sein muß, denn sonst schläft Gott weiter bis zum Ende der Tage. Und wir sind als Christen wie die Jünger hier in dem Schifflein offenbar dazu da, daß wir ihn wecken. Und wenn wir bemerken — und das ist ja keine Frage — wenn wir bemerken, daß zu unseren Zeiten von unserer Kirche keine Impulse mehr ausgehen auf die Welt, die hilfreich sind, um die Gestaltlosigkeit dieses ganzen Geschehens zur Schönheit, Freude, Ordnung und Gestalt zu erheben, dann müssen wir nicht fragen, was könnten wir nun organisatorisch an der Kirche ändern, oder wo könnten wir noch einen neuen Kreis in der Gemeinde bilden, sondern dann geht es um die Frage, ob wir eigentlich das Geschrei erheben können: Nun Gott stehe endlich auf, jetzt wird's Zeit! Dessen bedarf dieser merkwürdige Gott offenbar. Das will er haben von uns. Aber wenn wir das tun, dann ist er auch da! Und wenn wir also feststellen, von der Kirche gehen nun wirklich keine Impulse mehr aus, höchstens negative, dann liegt das offenbar daran, daß die Christen diesen Ruf nicht mehr erheben, denn sonst wäre Gott auf dem Plan. Entweder meinen die Christen, sie können das selbst machen, weil es nun einen Kirchentag, und weil es eine Ökumene und weil es andere schöne Organisationen gibt, deswegen können wir das alles selbst, oder weil die Christen dies Rufen vergessen haben. Vielleicht wissen sie auch gar nicht und merken gar nicht, daß das Schifflein von Wasser gar ganz bedeckt ist? Das ist auch denkbar. Jedenfalls ist es offenbar so, wenn man sich dieses Weltgeschehen heute ansieht, daß Gott offenbar tatsächlich mal wieder schläft. Und das ist gleichbedeutend damit, daß wir mal wieder als Christen gar nicht auf die Idee kommen, daß an unserem Gebet um das Eintreten Gottes alles hängt. Und daß wir darin als Christen 137

offenbar eine Exousia, eine Vollmacht haben, die Himmel und Erde bewegen kann. Die Epiphanias-Zeit ist dazu da, um eben dieses Aufscheinen der Herrlichkeit Gottes über dem Chaos des Urmeers nicht nur zu feiern — das auch — sondern ins Auge zu fassen und dessen inne zu werden: Ach ja, es kommt ja auf mich an, daß er wieder hervorkommt. Er will ja gerufen sein, so wie er da in dem Kahn von den Jüngern gerufen wurde. Die alte Kirche war der Meinung, wenn man diesen Psalm 93 als Introitus dieses Sonntags von dem Gott, der sein Gesetz und sein Haus über dem Urmeer aufbaut und dieses Evangelium von dem Jesus, der in dem untergehenden Kahn schläft und von den Jüngern geweckt wird, wenn man diesen Psalm und diese Geschichte von Jesus in dem Seesturm richtig interpretieren will auf die letzten Zeiten, in denen wir uns befinden, dann muß man reden von dem unglaublichen Ereignis, daß es möglich wird, daß Menschen, die so sind wie wir, ins Lieben geraten, wie das die Epistel Römer 13 dazu stellt. Unter den das Ende charakterisierenden großen Ereignissen ist dieses das größte und die Zusammenfassung aller Gestalthaftigkeit, aller Geordnetheit, aller Schönheit in der Welt, daß es möglich wird, daß die Menschen lieben. Es ist Zeit, aufzustehen vom Schlaf. Wir wissen, daß jetzt der Tag näher ist als zuvor. Es kommt jetzt darauf an in dieser Epiphanias-Zeit, in dem Ruf nach Gott zu bemerken: Wunder hin, Wunder her, es geht um das Aufscheinen der Liebe. Das ist die Liebe Gottes, ja, aber das ist eine Liebe, die für uns da ist. Wir können in diese Liebe Gottes eintreten. Da wird all das sittliche Versagen und all das moralische Elend eine ganz inferiore, eine ganz nebensächliche Angelegenheit. Da merkt man plötzlich, worauf es eigentlich ankommt in der Welt, eben auf die Liebe. Und was das für ein Wunder ist, daß Menschen wie wir — wir wissen ja, wie wir sind — daß solche Menschen ins Lieben geraten können. Die alte Kirche meinte, dieses Aufstrahlen der Herrlichkeit Gottes über dem Urmeer, und dieses Besänftigen des Seesturms da auf dem See Genezareth mit dem Schifflein der Kirche, das wird richtig und angemessen interpretiert dadurch, daß wir bemerken: Wir sind ins Lieben gerufen. Eine Sache, mit der wir's ja alle immer wieder versuchen, eine Sache, von der wir alle wissen, daß sie sich gar nicht von selbst versteht. Im Gegenteil, daß sie ist ein großes endzeitliches Wunder, ein Wunder, das auf uns alle wartet, ob wir's denn wohl in die Hand nehmen wollten, dieses Lieben. Es gehört zusammen mit dem Ruf nach Gott und nach seinem Aufstehen, nach seiner Herrlichkeit im Chaos des Urwassers. 138

Dieses Gebet und diese Liebe, beide gehören zusammen. Sie beide gehören ja auch da zusammen, wo Kirche gebaut sein will, nicht f ü r sich selbst, sondern f ü r die Welt. Das heißt Epiphanias, das Wissen um Gottes Glanz in seiner Schöpf u n g über dem Urmeer. Das Wissen um das Versagen der Kirche, aber das Bereitsein Gottes, auf unseren Ruf herbeizukommen, und das Wissen um die große Liebe als Gestaltwerdung dieser unserer Welt.

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Der nahe Gott 4. Advent 19. Dezember 1976 Philipper 4,4—7 Freut euch in dem Herrn allewege, und abermals sage ich, freuet euch! Eure Güte laßt allen Menschen kund werden. Der Herr ist nahe. Sorget nichts, sondern in jedem Gebet und in jeder Bitte lasset mit Danksagung eure Wünsche Gott bekannt werden. Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Das altkirchliche Evangelium dieses 4. Advent (Matth. 11,2—10), das wir vom Altar gehört haben, redet von der tragischen Figur Johannes des Täufers und macht uns in dem, was Johannes sagt, deutlich, daß die Adventszeit, die Zeit Johannes des Täufers, Bußzeit ist, und daß es nur eine Bereitung für das Kommen des Herrn gibt, nämlich die Buße, d. h. die Einsicht, daß wir das Leben nicht bewältigen und unsere ewige Bestimmung von uns aus nicht erreichen können. Diese Einsicht, diese Buße, ist die Bereitung des Weges dieses Herrn. Die Epistel, die wir eben aus dem Philipper-Brief gehört haben, lebt auch in der Erwartung. Aber in dieser Epistel, die der viel gequälte und gefangene Apostel Paulus schreibt, ist die Rede von der unglaublichen Freude des Christseins. Christsein heißt, in dieser Freude leben, und zwar nicht als eine Zumutung, sondern als eine Folge, und zwar eine Folge der Tatsache, die der Apostel so nennt: Der Herr ist nahe. Diese Nähe des Herrn ist auch die Nähe dieser Zeitstelle des Kirchenjahres am 4. Advent. Nun, bald feiern wir ihn wieder als den, der auf diese Erde herabkommt. Aber es ist noch eine ganz andere Nähe. Es ist die Nähe, die dieser Gott zu seiner Welt einnimmt. Davon ist ja überall in der Bibel die Rede, daß dieser Gott nicht fern und nicht fremd und nicht unerreichbar, sondern daß er seiner Kreatur unmittelbar nahe ist. Diese Nähe heißt, daß uns in unserem Tun und in unserem Leben, in unserem Leiden wie in unserem Uns-Freuen nur eine hauchdünne Wand trennt von ihm, der alles Leid und alle Freude, alles Tun und alles Lassen in seinen Händen hält und aus seinen Händen entläßt. Das ist die Nähe Gottes. Das ist wohl das Besondere in der biblischen Botschaft, daß wir wissen können, daß wir uns darauf verlassen können, daß das so ist. 140

Wir haben es eben nicht mit einem fernen Gott zu tun, sondern mit einem nahen Gott. Und nun kommt das Entscheidende: Dieser nahe Gott, der will uns all unsere Kümmerlichkeit und all den Unsinn, den wir von Morgen bis Abend machen, nicht nachrechnen. Er will uns unsere Sünde nicht vorrechnen. Sondern er will uns in unserer ewigen Bestimmung bestätigen. Man kann auch sagen, er will uns unsere Sünde vergeben. Er will uns das geben, was wir alle nicht vermögen, nämlich die Rückenfreiheit, die wir brauchen im Leben, daß unsere Vergangenheit nicht über uns zusammenschlägt mit einem schrecklichen Grauen, und daß uns all das Schlimme, was in der Welt passiert, nicht zu erdrücken braucht, weil wir wissen, da ist auch er, der uns unsere Schuld vergeben will und uns damit freimachen will von all der Gedrücktheit und Kümmerlichkeit unseres Daseins. Daraus wächst diese Freude. Das ist ja auch eine unglaubliche Sache, wenn man sich das klarmacht, daß der letzte Grund und Sinn und Inhalt alles Daseins für uns kleine Würmer dasein will, sich um uns kümmern will, unsere Sorgen auf sich nehmen will und unsere Sünde uns vergeben will. Das ist ganz unglaublich. Diese Freude, um die es beim Christsein geht, ist nicht das naive Lächeln von Leuten, die nichts vom Leben verstehen, sondern ist die Freude der Leute, die mit Nüchternheit die Welt als das ansehen, was sie ist, und die Bescheid wissen um den Menschen und was in diesen grauenvollen Menschen alles an Unmöglichkeiten drin ist. Diese Leute sind es, die sich freuen. Sie können damit den Kopf oben behalten in all der Nüchternheit, die den Christen eigen ist. Freut euch in dem Herrn alle Wege, überall. Nicht etwa nur in frommen Stunden, sondern überall, also im Leben, wo es um Handeln geht, und wo es um Politik geht, und wo es um Wirtschaft geht, und wo es um die Dritte Welt geht. Also in all diesem ganzen großen uns beschäftigenden Bereich geht's um diese Freude. Und, sagt Paulus, diese Freude hat eine Folge, eure Güte laßt allen Menschen kundwerden. Da, wo diese Freude ist, da wächst Menschlichkeit. Menschlichkeit ist diese Güte. Wie kann es so, wie soll es denn anders sein. Wenn wir Christen Menschen sind, die dieser ungeheuren Freude leben können, dann kann es ja nicht anders sein, als daß wir die, die uns begegnen, nicht nur tief verstehen und ihnen nachgehen, sondern daß das, was Paulus Güte nennt, von uns ausgeht. Dieses Umfangen mit einer Liebe, die nicht aus der Liebenswürdigkeit des andern stammt, sondern die ihn umgreift, auch wenn er nicht liebenswürdig ist und wenn er ungerecht ist. Das haben wir ja gelernt an 141

diesem Gott, das ist unsere Freude. Und wenn das unsere Freude ist, dann kann diese Freude nicht in uns bleiben, sondern sie muß herausschlagen als diese Güte auf alle Menschen, alle Menschen. Der Realgrund dieser Güte und Freude aber ist und bleibt: Der Herr ist nahe! Der Realgrund unserer Güte ruht nicht in der Welt, sondern in der Nähe Gottes. Paulus fährt fort: „Sorget nichts, sondern in allem Gebet und jeder Bitte laßt mit Danksagung eure Wünsche vor Gott kund werden." Sorget nichts! Das ist die eigentliche Zumutung an uns moderne Menschen. Denn wir modernen Menschen sind ja so eigentümlich geschlagene Leute, daß wir anscheinend nur noch mit Sorgen glücklich sein können. Wenn wir nicht ganz versorgt um Ereignisse von Morgen und Übermorgen ständig umherwandern und diese Sorgen herumwälzen, und wenn wir nicht dauernd in der Besorgnis schon über-, über-, übermorgen sind, so ist das nichts mit uns. J a , moderne philosophische Weltdeutungen haben sogar ihr Zentrum in der Sorge des Menschen. Seine Sorge um das Kommende — so meint man — zeichne ihn als Menschen aus. Der neuzeitliche Begriff der Verantwortung gehört auch zu dieser Sorge. Menschsein soll geradezu diese verantwortliche Besorgtheit auf Zukunft sein. Offenbar sind wir Menschen des 20. Jahrhunderts in progressiver Weise an die Sorge gekettete Leute. Vielleicht kann das auch nicht anders sein. Denn die Rede von der Sorge ist wohl keine Einbildung oder Idiotie, sondern ist wohl eine Folge dieser technischen Welt, in der wir leben und die nicht sein kann ohne ständige Planung. Und wir müssen mitplanen, und wir müssen unser Leben mit verplanen lassen. Damit ist die Sorge zum eigentlichen Kennzeichen dieser modernen Welt geworden. Und nun sagt Paulus: Sorget nichts! Das ist ja eine Rede, die in der Bergpredigt zuerst aufgeklungen ist und die dann durch das ganze Neue Testament hindurchgeht. Sie findet „notwendigermaßen" immer wieder Unverständnis. J a , es ist wohl auch so, wir vergessen das immer wieder, wir können es wohl auch gar nicht im Kopf behalten, mit all den Sorgen, die uns täglich „notwendigermaßen" angehen. Aber wir müssen's uns darum immer wieder sagen lassen, daß es nichts ist mit der Sorge, und daß das nichts austrägt. Paulus sagt uns auch, was anstelle von Sorge uns erfüllen soll, daß wir nämlich beten können. Was das mit dem Gebet ist, sagt Paulus, daß wir nämlich in Gebet und Bitte unter Danksagung für die empfangene Freude unsere Wünsche vor Gott kundtun. Das also ist das Gebet, daß wir unsere Wünsche auftun, bekanntmachen: Nun sieh mal an, du naher Gott, ich 142

will jetzt von dem, was du mir schenkst, essen. Oder ich will jetzt von dem, was du mir geschenkt hast, ein H a u s bauen. Oder ich will die Kinder, die du mir gegeben hast, nunmehr erziehen, und was derlei mehr ist. Es geht um dies Kundtun. Damit geht es darum, einen in sich verschlossenen Lebenszusammenhang aufzutun, daß Gott eintreten kann. Dieser Gott, der allem nahe ist, der möchte, daß wir ihm unsere in uns selbst verschlossenen Lebenszusammenhänge auftun, damit er eintreten kann. Gibt es wohl Selbstverständlicheres als dies? Sollte es etwas Selbstverständlicheres in der Welt geben als dies, daß wir dem, der uns diese unglaubliche Freude, daß wir die Last unserer Vergangenheit loswerden können in der Vergebung, unser Leben auftun? Dabei ist er offenbar so ein Gott, den interessieren gar nicht so sehr die riesengroßen Geschichten, sondern die Kleinigkeiten des Daseins interessieren ihn brennend. Was wir da machen mit unserem Mittag und unserem Abend. U n d was wir machen am Abend, wenn wir einschlafen wollen. U n d wie wir mit unseren Kindern umgehen und unserer Frau. All diese Kleinigkeiten unseres täglichen Daseins gehören ins Gebet. All dies möchte er gerne wissen. Es geht um das A u f tun und ihn Hereinlassen. Man kann viel vom Gebet reden, und man kann sich über alle Maßen wundern, daß in unserer Gegenwart das Gebet scheinbar abstirbt, daß in den Familien mittags z. B. oder beim Essen überhaupt nicht mehr gebetet wird. Das ist eigentlich erstaunlich. Meint die moderne Welt wirklich, all dies nur sich selbst zu verdanken? Meint sie wirklich, all dies selbst zu verantworten? N u r kurzsichtige Gedankenlosigkeit kann das denken. Aber es ist mit dem Gebet so: Kein Wasser löscht den Durst, das man nicht trinkt, sondern nur anschaut. So ist es auch mit dem Gebet. Das muß man tun, darüber kann man nicht belehrt werden. Aber man kann allerdings hören und vielleicht sich gesagt sein lassen, d a ß Paulus meint, wenn man es denn mit dem Gebet versucht, dann fällt das Schlimme der Sorge ab. Auch Paulus hat sich gesorgt, nicht nur um seine Gemeinde, sondern auch um sein eigenes Leben. Aber das waren alles „echte" Sorgen. Ja, er war ein in der Sorge erfahrener Mann, vielmals gefangen, vielmals geschlagen, vielmals den wilden Tieren vorgeworfen, und nun gefangen in Rom. U n d dieser mit der Sorge wohlvertraute Mann sagt uns: Das Schlimme an der Sorge, daß man meint, man könne sein Leben selbst meistern, das den Menschen Zersetzende, daß man meint, man solle oder könne mit seinem 143

Versagen alleine fertigwerden, das werdet ihr los, wenn ihr es mit dem Gebet versucht. Wenn ihr eure kleinen und auch eure großen Dinge diesem Gott auftut. Nahe ist dieser Gott sowieso, er wohnt gleich nebenan, er ist sofort da, ihr braucht nur die Tür aufzumachen. Diese beiden großen Komplexe, den von der Freude, die die Güte hervorbringt, und den von dem Nicht-Sorgen, das in dem Gebet ruht, schließt Paulus ab durch ein Drittes: „Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewache eure Herzen und Sinne in Christus Jesus." Das Wort, das im Text für „bewachen" steht, ist ein Fachausdruck und bezeichnet die innere Torwache am Stadttor. Diese innere Torwache am Stadttor hat die Aufgabe, die die Stadt Verlassenden zu kontrollieren, zu beobachten und zu registrieren. Von dieser inneren Torwache ist die Rede. Und Paulus sagt nun: Der Friede Gottes, der möge in uns drin diese Torwache übernehmen, im Herzen und im Verstand. Das heißt also, es geht darum, daß der Friede Gottes uns in dem bewahrt und bewacht, was aus uns heraus in die Welt gehen will. Diese ganzen Handlungen und Reden und Aussagen, die da aus uns herauskommen, die, sagt Paulus, sollten bewacht werden durch den Frieden Gottes in Christus Jesus. Das ist ein ungemein großartiges Bild. Der Friede Gottes, dieser Friede Gottes, der gar nicht aufgehoben werden kann und der auch mit der äußersten Feindseligkeit und mit all den Quengeleien fertig wird, dieser Friede Gottes paßt auf. Er beobachtet, was unser Herz verläßt, und er registriert, was da an die Öffentlichkeit will. Das heißt, aus unserem Herzen und aus unserem Verstand kann nun oder möge nun nichts mehr in die Welt hineinkommen, was nicht durch diese Torwache gegangen ist, durch den Frieden Gottes. Dieser Friede ist „höher als alle Vernunft". Was wir nicht verständig zu regeln vermögen, das behält er in seiner Fürsorge. Er bewahrt und bewacht unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Wenn das Wirklichkeit sein könnte, wie schön würde dann unser Leben aussehen. Wenn von uns diese Friedlichkeit ausstrahlen würde. Dieser Friede wohnt in der großen Freude über die Nähe Gottes, und er geht hervor aus der Befreiung von dem Quälenden der Sorge. Wir können aus dieser Freude und aus der Gewißheit des Gebetes heraus den Menschen um uns herum und den Tieren, mit denen wir umgehen, und den Pflanzen, die umher sind, wie dieser ganzen Welt „friedlich" begegnen. Und darauf kommt es ja offenbar an: Diese Friedlichkeit lebt im christlichen Leben und beglückt die Welt ringsum. Das ist die Epistel, liebe Gemeinde, die in drei großen Blöcken davon 144

redet, was das Christsein für eine wunderbare Sache ist, was das für eine volle und großartig lebendige, das Leben bewahrende, das Leben der Welt mehrende Festigkeit, K r a f t und Freude ist. Der Herr ist nahe, durch dies Tor wollen wir hindurchgehen, wenn es nun Weihnachten wird.

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D UNSER GLAUBE AN D I E S E N GOTT ISRAELS, DEN VATERGOTT JESU

Christlicher Glaube 4. Advent 18. Dezember 1977 Hebräer 11,1 Der Glaube aber ist eine gewisse Grundlage des, das man hofft, und ein überführender Beweis des, das man nicht sieht.

Nun ist bald Weihnachten. Der 4. Advent entläßt uns auf Weihnachten. Die Vorbereitungszeit nimmt ihr Ende, und die Freude kann anfangen. Wir verstehen nur schwer dieses etwas Komische: „Ach, wie ist das schrecklich mit Weihnachten, diese ganzen Geschenke, ist ja entsetzlich, all diese Äußerlichkeiten". Wie zum Menschen der Leib, so gehören zur Liebe diese Äußerlichkeiten, Gott sei Dank. Diese ganzen Äußerlichkeiten haben was Wunderbares. Sie erwärmen das Herz. Die ganze leibhafte Freude dieses Festes ist wunderschön. All die liebevolle Heimlichkeit vorher, und dann all die Freude an schönen Dingen! In diesen ganzen Leibhaftigkeiten und für sie geht das Licht der Welt auf. Dieser Herr wird geboren, wird Mensch, wird ein Kind, wird ein Säugling, da in der Krippe. Darauf gehen wir nun zu. Und dieser Sonntag entläßt uns auf dies herrliche Geschehen. E r entläßt uns, indem wir heute versuchen, uns vor diesem großen Ereignis noch einmal klar zu werden, was das eigentlich ist mit unserem Glauben. Um eine Sache des Glaubens geht es ja wohl Weihnachten. Aber was ist das Glauben eigentlich? Wir sind wohl der Meinung, wir wüßten das genau, denn wir verwenden dieses Wort j a sehr viel. Glauben, das steht, wie zu Kants Zeiten, zwischen Meinen und Wissen. Glauben ist zwar keine unbestimmte Meinung, aber es ist auch kein vernünftiges Wissen, sondern es steht so in der Mitte, so etwas hell-dunkel. Was wir glauben, wollen wir nicht eigentlich wahrhaben, aber etwas wird da schon dransein. So in der Richtung liegt es, wenn wir sagen: Ich glaube, der Nebel wird sich heute nicht mehr verteilen, oder ich glaube, daß die Bildungsreform falsch angesetzt wurde. Wenn es allerdings um kirchliche Dinge geht, da ist wohl die Meinung, daß da Glaube heißt: Man muß an Lehrsätze glauben. Wer nicht glaubt, daß der und der Satz wahr ist, der kann kein Christ sein. Aber — beides hat wohl mit dem Glauben, um den es im christlichen Glauben geht, gar nichts zu tun. Zumal das christ148

liehe Glauben nicht an irgendwelche Lehrsätze gebunden ist. Irgendwelche Lehrsätze oder irgendwelche Tatsachen, die unwahrscheinlich sind, für Wahrheiten zu halten, ist nicht Glaube sondern wohl etwas ganz anderes. Unser Vers redet davon, was der christliche Glaube sei. Und zwar sagt er erstens, daß der Glaube eine Grundlage ist, und zwar eine gewisse Grundlage der Dinge, die man hofft oder die gehofft werden. Glauben hat also irgendwas mit der Hoffnung zu tun, und zwar hat er mit der Grundlage der Hoffnung zu tun. Sodann ist der Glaube auch ein Überführer, man kann auch sagen, ein Beweis, ein überführender Beweis von Dingen, die man nicht sieht. Wenn wir auf diesen Vers und seine Erklärung des Glaubens zugehen, tun wir gut, uns zu überlegen, wie das eigentlich mit dem Glauben da war, als Jesus über die Erde ging und von Glauben redete. Der Sachverhalt mit dem Glaubensbegriff ist in den drei ersten Evangelien nach drei Richtungen zu bedenken. Erstens spricht nur Jesus selbst vom Glauben. Nur in seinem Munde kommt dieser Begriff vor, und er urteilt damit über seine Umgebung. Zweitens spricht Jesus vom Glauben mit Beziehung auf seine Jünger, und zwar vorwiegend negativ: so, wenn die Jünger bei dem Seesturm ganz fürchterliche Angst kriegen, da sagt er: Ach, ihr Kleingläubigen, mit eurem Glauben ist nichts los. Und auf der anderen Seite, wenn die Jünger den epileptischen Knaben nicht heilen können, dann sagt er: Wenn ihr doch wenigstens Glauben hättet, der so groß ist wie ein Senfkorn, dann könntet ihr das und das und das tun. Das heißt, bei den Jüngern vermißt Jesus schmerzlich immer wieder dieses, daß sie es auf ihn hin und damit auf Gott hin mit dem Leben in einer unerhörten Weise wagen; daß sie es wagen, in einem großen Seesturm zu sagen, uns kann das alles gar nichts, und daß sie es wagen, angesichts des Unheils mit dem epileptischen Knaben zu sagen, das wird Gott gewiß heilen. Solche unerhörten Wagnisse, meint Jesus, kann man eingehen, wo man in den Bereich des Glaubens kommt. Wenigstens auf ihn, Jesus, hin kann man das wagen. Drittens redet Jesus von Glauben besonders da, wo er mit Nichtisraeliten in Berührung kommt, wie mit dem Hauptmann von Kapernaum und mit dem kanaanäischen Weib. Er sieht, daß diese Menschen mit ihrer ganzen N o t sich auf ihn werfen und der Meinung sind, bei ihm wird das alles in Ordnung kommen. Jesus ist ja sonst gegenüber Leuten, die Nichtisraeliten sind, ungemein abweisend und sehr vorsichtig. Auch beim kanaanäischen Weib ist das so. Er will zunächst gar nicht. Aber da diese Frau nicht nachläßt und mit 149

solcher Selbstverständlichkeit sich ihm in ihrer Not — wir müssen das anders betonen — sich ihm in ihrer Not öffnet, dieses nennt er Glauben. Und sagt: „Solchen Glauben fand ich nicht in Israel." Der Glaube im Munde Jesu bedeutet also — vorwiegend negativ bei den Jüngern und positiv gerade bei Nichtisraeliten — das Wagnis, das ein Mensch auf den Gott in Jesus eingeht, das Vertrauen, das ein Mensch zu dem Gott in Jesus faßt. Glaube geschieht offenbar da, wo ein Mensch es fertigbekommt, sich mit der ganzen notvollen Bedrohtheit — gerade auch mit seiner leibhaften Bedrohtheit — auf Jesus und damit auf Gott zu werfen. Glaube geschieht als diese vertrauensvolle Öffnung einer menschlichen Situation vor Gott und zu Gott. Darin gewinnt dieser Mensch sich selbst im Verhältnis zu seiner Umwelt neu. Dann hätten die Jünger nämlich nicht so große Angst vor dem Sturm, dann könnten sie den kranken Jungen heilen. Aus dem glaubenden Zutrauen zu Gott gewinnt sich der Mensch neu für das Leben. Dieses Glauben hat dann dadurch eine gewisse Veränderung erfahren, daß Jesus gekreuzigt und auferweckt wurde und daß nun ein „Glaube an Jesus" die junge Gemeinde prägt. Die Christen nennen sich selbst, wie die Apostelgeschichte zeigt, Glaubende. Sie glauben an Jesus. Dieser Ausdruck ist offenbar eine Abkürzung des längeren Satzes, glauben, daß Jesus gestorben ist am Kreuz und auferweckt von den Toten. Dieses Glauben heißt bei diesen ersten Christen natürlich nicht, für wahr halten, daß Jesus gestorben ist. Sie haben das ja selbst gesehen. Es heißt nicht, für wahr halten, daß er auferweckt wurde. Das haben die Zeugen, die unter ihnen sind, auch gesehen. Sondern es heißt: Diese Kreuzigung und diese Auferweckung ist die Immanenz der Bestätigung des Zutrauens zu Gott, ist die Immanenz der Bestätigung des Daseins für Gott, dieses Gottes für uns. Daß wir mit unserem ganzen Dasein und aller seiner Not von Gott begleitet, daß er der nahe Gott ist, darauf kommt's an. An Jesus glauben, daß er am Kreuz gestorben ist und vom Tode auferweckt wurde, das bedeutet, die Immanenz der Mächtigkeit Gottes, eben auch über den Tod oder mitten im Tod. Glauben heißt nicht Fürwahrhalten. Es heißt, Jesu Werk aufnehmen, in Wirklichkeit umsetzen, in die Wirklichkeit unseres Daseins und als Zeuge vertreten vor der Welt. Nicht dadurch, daß wir fromme Sprüche machen, sondern dadurch, daß uns die Bedrohtheit unseres Daseins als gewisse Leute vorfindet, so daß uns unser herannahender Tod als die vorfindet, die gewiß sind, daß Gott lebt und daß dieser Tod zwar geschieht, aber daß die ewige Bestimmtheit des Menschen diesen Tod überwunden hat, jedenfalls da, wo Jesus auf150

erweckt ist von den Toten. Das ist das Glauben, von dem Jesus geredet hat, wie es in der zweiten Generation von Christen gewendet wurde und aufgenommen wurde. Diese Wendung ist für den Inhalt des Glaubens ohne Belang. Glauben von Christen, das ist das sich selbst Gewinnen für das Leben aus der wagenden Übergabe unserer Schuld und Not an ihn, unseren Gott. Das Gewinnen unserer Lebendigkeit, unseres Lebensmutes, unserer Lebensgewißheit und der ganzen großen Freude am Leben aus der Ubergabe unserer Not und unserer Schuld an Ihn, den großen Gott. Von diesem Glauben sagt unser Vers, er ist die gewisse Grundlage dessen, was man hofft. Das heißt, dieser Glaube ist gerichtet auf diesen Jesus. Er ist nicht einfach hoffend in die Zukunft gewendet. Unser Gesicht ist gewendet auf ihn, Jesus. Aber wo wir mit dieser Wendung auf diesen Ereigniszusammenhang — da in Palästina im Jahre 30 etwa — gerichtet sind, da wird die Zukunft hell; denn Gott kommt aus ihr auf uns zu. Dieser Gott, dieser bestimmte Gott in Jesus kommt aus der Zukunft auf uns zu. Darum können wir hoffen. So ist der Glaube nicht Hoffnung, aber der Glaube ist die Grundlage von Hoffnung. Man kann den Glauben nicht einfach für Hoffnung erklären. Das entspricht nicht dem, was das Neue Testament von der Hoffnung sagt. Eine Hoffnung, die sich unmittelbar zur Zukunft wendet, ist die Hoffnung, die den Menschen zum Narren macht. Aber die Hoffnung, die eine feste Grundlage im Vergangenen hat als Glaube — diese feste Grundlage in dem, was Jesus getan hat und was uns als Gewißheit über diesen Jesus zukommt und wie wir uns in Gewißheit vor diesem Jesus heute öffnen — diese Hoffnung läßt nicht zuschanden werden. Sie ist vermittelt durch Geschehenes! Unser Vers fährt fort: Der Glaube ist ein Beweis der Dinge, die man nicht sehen kann. Das heißt: Dieser Jesus, der als Wanderprediger durch Palästina zog, der keinen bleibenden Wohnsitz hatte und vermutlich entsprechend aussah, an dem war gar nichts zu sehen von dem, was da nun eigentlich mit ihm geschah in der Welt für die Welt. Dieser Jesus, der da am Kreuz hing und den bitteren Verbrechertod erduldete, an dem war nicht zu sehen, daß er „der Gerechte" war, der vor Gott nun leben sollte. Aber das ist der Glaube, der diese Verborgenheiten beiseite tut, der hindurchgreifen kann durch diese Verborgenheiten zu dem, was von Gott dahinterliegt, und was das wahre Angesicht dieses Jesus von Nazareth ist. So handelt der Glaube auch an dieser Welt und ihrem Geschehen. Denn diese Welt, ihr Geschehen wie wir selbst sind ja eben nicht 151

ohne Gott. Sondern er, dieser Gott, ist der, der das Größte und Kleinste dieser Welt in seiner Hand hat und tut. Er tut das Große und das Kleine. Er tut das Gute und das, was uns böse scheint. Durch dieses vielfältige Geschehen greift der Glaube hindurch auf ihn, der der treue Gott ist, der auch da, wo Unheil oder Verbrechen uns anrühren, der treue Gott bleibt. Das ist nur Glaube, der das vermag. Der Glaube, der mitten im Tod noch auf ihn, diesen treuen Gott, hindurchzugreifen vermag. Dieser Gott bereitet durch alles Geschehen hindurch sein Ziel, und das ist Friede, Freude und Ewigkeit. Was wir sehen, ist ganz was anderes. Auf die Unsichtbarkeit Gottes kommt es an. Derer werden wir überführt im Glauben. D a vermögen wir durch all die zweifelhaften Sichtbarkeiten hindurchzugreifen, mit denen wir es zu tun haben. Das gilt es an diesem Jesus von Nazareth zu lernen. Er ist das „Exemplar" dessen, daß wir glauben lernen in all den Kläglichkeiten des „Schmerzensmannes". Luther hat ja z. B. mehrfach gesagt: Um so tiefer ihr diesen Jesus in die Windeln von Bethlehem hineinbringen könnt, desto mehr seid ihr bei der Gottheit dieses Gottes. Damit meint er, je mehr wir die ganze Hinfälligkeit, Kümmerlichkeit, Wehrlosigkeit dieses Jesus, je mehr wir also sein ganzes Weltsein begreifen, desto klarer können wir die Gottheit Gottes begreifen. Indem wir die Welt lassen, begreifen wir Gott nie. Wenn wir Gott aus der Welt hinausbringen, um ihn vielleicht besonders rein zu verehren, da ist er nicht. Aber wenn wir in die Welt hineinfassen, wenn wir uns ihm in der Welt stellen, wenn wir diesen Säugling da in den Windeln ins Auge zu fassen wagen, dann geht die Gottheit Gottes vor uns auf: eine Überführung der unsichtbaren Dinge. In dem christlichen Glauben geht es nicht um ein bestimmtes Meinen oder um ein bißchen bestimmtes Meinen, es geht auch nicht um das Auswendiglernen von Lehrsätzen oder das Fürwahrhalten von Unwahrscheinlichkeiten. Es geht darum, ob wir es denn vermögen, uns mit unserem ganzen Dasein seinen Nöten, seiner Vergänglichkeit und seiner höchst zweifelhaften Unoffenheit, ob wir es vermögen, uns durch alle Sichtbarkeiten und in ihnen auf ihn, den treuen Gott, zu werfen. Es geht darum, ob wir es vermögen, das Wagnis zu unternehmen und anzunehmen, daß er unsere Schuld und Tod auf sich genommen hat, ob wir es vermögen, als so befreite Menschen in der Welt zu sein. Das ist die Frage, ob wir das fertigbringen. Wie man das macht, das lernt man bei diesem Jesus da in der Krippe. Das lernt man bei der ganzen Hilflosigkeit dieses Gottes da im Stall von Bethlehem. Nach der mittelalterlichen Ikonographie haben Ochs und 152

Esel an der Krippe sich auch darüber unterhalten. Hier an der ganz und gar ungöttlich profanen Situation des armen Kindes in der Krippe können wir unseren Glauben als dieses Hindurchgreifen zu Gott lernen. Und wenn man es hier gelernt hat, dann kann man es vielleicht auch da, wo Krankheit und Elend und Leid — und die Welt ist so voll davon — uns überfallen. Aber nun kommt Weihnachten. Der Glaube, den wir Weihnachten lernen und brauchen, der ist die Grundlage aller Lebenshoffnung, und er ist der überführende Beweis — die hindurchgreifende Gewißheit — der göttlichen Gegenwärtigkeiten, die man nicht sieht. Mit diesem Glauben tut sich das Tor auf, daß wir als Gott gewisse und vertrauende Menschen in der Welt sein können. Gott-gewiß, das heißt Welt-gewiß, nicht vergehend vor Angst wie die Jünger im Sturm! Welt-gewiß, das heißt selbstgewiß, nicht verzagend vor Aufgaben wie die Jünger. So tut sich Weihnachten und im Weihnachtsglauben das Tor zu neuen Möglichkeiten des Lebens in der Welt auf; denn „der Glaube ist eine gewisse Grundlage des, das man hofft, und ein überführender Beweis des, das man nicht sieht". Dazu helfe uns Gott.

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Gottes Gerechtigkeit und des Menschen Weltgewißheit

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Reformationsfest 30. Oktober 1977 Römer 3,21—26

Nun aber ist erschienen ohne Zutun des Gesetzes die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, bezeugt durch das Gesetz und die Propheten. Gerechtigkeit, die da kommt durch den Glauben an Jesum Christum zu allen, die da glauben. Denn es ist hier kein Unterschied, sie sind allzumal Sünder und mangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten, und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, so durch Christum Jesum geschehen ist.

Die Texte zum Reformationstag, die nun seit 400 Jahren in den evangelischen Kirchen gelesen und gepredigt werden, die Austreibung der Wechsler aus dem Tempel (Joh. 2,13—22) und dieser Text aus Römer 3 sind einerseits — das Evangelium nämlich — in der Reformationszeit als Auseinandersetzung mit der katholischen Kirche, andererseits — diese Epistel nämlich — als das Zentrum des evangelischen Christseins gemeint gewesen. Wir können den Text von der Austreibung der Wechsler aus dem Tempel heute nicht mehr antikatholisch auslegen. Der Katholizismus hat sich verändert. Der Ablaß und sein Geschäft ist vorüber. Dieser Text von der Austreibung aus dem Tempel ist heute viel mehr eine Anfrage an uns selbst. Wie ist das eigentlich in unserer Kirche? Die evangelischen Kirchen waren noch nie so mächtig wie heute, wirtschaftlich, politisch besaßen sie nie so viel Macht wie heute. Zu welchen Machterweisen sind die evangelischen Kirchen heute in der Lage, wenn man an „Brot für die Welt" oder an die große Genfer Politik denkt. Diese evangelischen Kirchen vermögen viel vor der Welt. Aber es ist natürlich die Frage, was steht hinter dieser kirchlichen Macht eigentlich an lebendigem Glauben in der Gemeinde? Diese ganze Macht muß ausgetrieben sein, es sei denn, daß sie in klarer Lebendigkeit auf den Glauben der Gemeinden gestützt ist — also hier auf uns. Wir sind die Kirche. Und wo unser Glaube jene Mächtigkeit der Kirche in der Welt nicht verantwortet, da ist es schlecht bestellt um Kirche. So müssen wir wohl heute diesen Text von der Austreibung der Wechsler aus dem Tempel ansehen und uns überlegen, wie ist 154

das eigentlich, können wir diese politische und wirtschaftliche Mächtigkeit der evangelischen Kirchen mit dem, was wir an Glauben und an Lebendigkeit des Glaubens haben, verantworten? Wie ist das mit der Lebendigkeit des Glaubens überhaupt bei uns bestellt? Trösten wir uns vielleicht sogar statt des Glaubens dieser großartigen Mächtigkeit der evangelischen Kirchen? Wissen wir noch etwas davon, daß es unser Glaube und nicht unser Geld ist, der die Welt hellmachen soll? Dieses „Brot für die Welt" mit seinen ganzen Millionen ist ja sehr schön, aber wenn wir unseren Glauben nicht an die Welt austeilen, dann ist das alles sehr fragliches Tun. Deswegen laßt uns mit Römer 3 nach dem Zentrum des Christseins — auch unseres evangelischen Christseins — fragen. Drei Dinge sagt Paulus in unserem Text. Er redet von der Gerechtigkeit Gottes, und er redet von der Bezeugung dieser Gerechtigkeit durch Gesetz und Propheten, und er redet von dem Glauben als der Quelle dieser Gerechtigkeit. Und von diesen drei Dingen müssen wir reden. Zunächst von der Gerechtigkeit. Nun aber ist erschienen die Gerechtigkeit Gottes, so setzt Paulus ein. Gerechtigkeit Gottes, was ist das? Nun aber ist erschienen, das heißt da in und als Jesus von Nazareth ist die Gerechtigkeit erschienen. Die Gerechtigkeit Gottes ist also zunächst einmal diese Person, und zwar diese Person Jesus von Nazareth. Und dieser Jesus von Nazareth ist erschienen und mit ihm und durch ihn die Gerechtigkeit Gottes. Das heißt, die Gerechtigkeit Gottes ist zunächst nicht eine allgemeine Sache, sondern sie ist zusammengefaßt an einem Ort da in Palästina zur Zeit des Kaisers Augustus. Zu dieser Zeit und an diesen Ort kam dieser Jesus. Damit aber kam die Gerechtigkeit Gottes. Das ist die Antwort des Paulus zunächst einmal. Die Gerechtigkeit Gottes also ist eine höchst konkrete Sache: ein Mann. Dieser Mann hat Gleichnisse gesagt, Werke getan, und er ist am Kreuz gestorben. Und mit diesen Worten und Werken ist die Gerechtigkeit Gottes aufgerichtet. Was ist denn da eigentlich aufgerichtet? D a ist dies aufgerichtet, daß einem durch diesen Jesus und an diesem Jesus klar wird, daß nicht wir Gott erreichen, verdienen oder besänftigen können, sondern daß er, Gott, sich auf den Weg gemacht hat, uns zu erreichen und seine väterliche Güte an uns zu geben. Denken wir an den verlorenen Sohn. Und zwar, dieser Gott, der sich da aufmacht in Jesus von Nazareth, uns, das Verlorene, zu suchen, der bewahrt uns damit über unser Sterben hinaus zu unserer ewigen Bestimmung. Es geht ihm, Gott, um diese ewige Bestimmung der Menschen in der Welt, daß sie nicht zugrundegehen, daß sie nicht 155

des Todes sterben, sondern daß sie leben können vor ihm. Das heißt Gerechtigkeit. Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, erschienen als Jesus Christus, bewährt in dem Leben in Gott. Dieses Evangelium, diese unglaublich frohe Botschaft, daß Gott sich auf den Weg macht, um uns zu suchen; daß er uns — beinah kann man sagen — nachläuft, um uns nicht verlorengehen zu lassen. Diese frohe Botschaft heißt die Gerechtigkeit Gottes. Und diese Gerechtigkeit Gottes ist erschienen ohne des Gesetzes Werke. Das heißt, wir können gar nichts dazu tun, und wir sollen auch gar nichts dazu tun. Wir empfangen die Liebe Gottes. Und dieser Empfang der Liebe Gottes ist das, was uns Christen auszeichnet. Wir sind Menschen, die Christen sind Menschen, die im Vertrauen auf diese Liebe Gottes es mit ihrem Leben und mit ihrem Sterben auf sich nehmen und die das auch getrost können. Denn dieses unser Sterben, das uns alle eines Tages erreicht, ist ja eben nicht das Letzte und heißt nicht Zerstörung und Vernichtung, sondern heißt hindurchgehen zu ihm, zu der väterlichen Güte und Liebe. Die ewige Bestimmung unseres Daseins kommt zu uns als diese Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, wie sie erschienen ist als Jesus von Nazareth. Diese Gerechtigkeit Gottes ist bezeugt durch das Gesetz und die Propheten, sagt Paulus. Das ist das Zweite. Die Gerechtigkeit Gottes kann man nicht irgendwo in der Tiefe des Menschseins ahnen oder irgendwoher aus dem Menschen nehmen. Man gewinnt sie auch nicht aus der Betrachtung der Welt. Die Menschen werden auch nicht dadurch gerecht, daß sie in die Geschichte hineinsehen, oder daß sie voll Sorge dies oder das utopisch verfolgen. Sondern man muß sich die Gerechtigkeit gesagt sein lassen von Gesetz und Propheten, und wir fügen hinzu von Evangelisten und Aposteln. Das heißt, die Bibel ist es, die uns die Botschaft von der Gerechtigkeit sagt. Man muß sich diese Botschaft also gesagt sein lassen, denn sie wohnt nicht in unseren Herzen. So etwas Unglaubliches wie ein Gott, der den Menschen nachläuft, das kann sich kein Mensch ausdenken, das muß man sich gesagt sein lassen. Und die Bibel sagt uns von der ersten bis zur letzten Seite nichts anderes als dies: Gott sucht den Verlorenen. Und die Bibel war der Stolz der Reformation. Evangelische Christen sind solange evangelisch, solange sie das nicht nur wissen sondern tun. Solange sie diese Bibel wahrnehmen, begreifen, achten, ehren als das Wort, in dem die Botschaft von der Gerechtigkeit Gottes, die Botschaft von der Liebe Gottes, die Botschaft davon, daß Gott den Verlorenen sucht in verschiedenster Gestalt, steht. In verschiedensten „Geschichten" kommt dies zu uns und ermöglicht uns, als freie ob156

zwar sündige Menschen uns selbst anhand der Bibel im Verhältnis zu unserem Leben, das wir jetzt gerade leben, darüber zu vergewissern, wie es denn mit der Liebe Gottes eigentlich stehe. Wir sind als evangelische Christen weder auf Priester noch Pastoren noch andere Leute angewiesen. Wir haben die Bibel. Darauf kam es der Reformation an: die Lösung der Gemeinde aus der Macht der Priester oder der Macht der Pastoren. Dies geschieht allein durch die Bibel. Wir alle haben lesen und schreiben gelernt, und deswegen können wir die Bibel lesen. Und die ist zum Lesen da, die Bibel. Die ist nicht dazu da, daß sie auf dem Altar liegt, sondern daß wir sie lesen. Das ist das Bewußtsein der Reformation. Und damit hat die Reformation den freien selbstbewußten Menschen geschaffen. Eine höchst gefährliche Angelegenheit, wie wir inzwischen wissen, dieser freie selbstbewußte Mensch. Luther hat ihn damit hervorgebracht, daß er sagte: Was, ihr wollt abhängig sein von Priestern? Nein, ihr habt die Bibel! Und die lest, und dann seid ihr von niemandem abhängig, außer von Gott! Und der Mensch darf und kann von niemandem abhängig sein, außer von Gott. Das ist aber nur möglich mit der Bibel. So ist die Reformation mit der Bibel angetreten. Die Gerechtigkeit Gottes wird bezeugt durch Gesetz und Propheten, Evangelisten und Apostel. Schön, das kann man alles schön sagen. Aber, das Wichtige dabei ist ja, was tun wir eigentlich? Was machen wir eigentlich mit der Bibel? Wer geht heute noch mit der Bibel um? Wer geht noch täglich mit der Bibel um? Wie ist das bei uns, in unseren Häusern? Sicher, jeder hat eine Bibel. Die steht vielleicht auch auf einem besonders wichtigen und schönen Platz in irgendeinem besonders schönen Schrank. Es ist nur die Frage, ob sie da stehen bleibt. Denn evangelisch sind wir solange, solange wir uns im Umgang mit der Bibel die Liebe Gottes, die Gerechtigkeit Gottes, die ganze frohe Botschaft wieder und wieder in unser Leben hineinsagen lassen, ohne daß wir abhängig werden und abhängig sind von irgendwelchen theologischen Schulen oder von irgendwelchen Pastorenmeinungen oder von irgendwelchen Landessynoden. Wir sind allein angewiesen auf dieses Buch, im vertrauten Umgang mit diesem Buch. Wie ist das? Wir sind ja heute sehr für Aufklärung, und zumal sind wir ganz ungemein begeistert von der Aufklärung der Kinder. Worüber klären wir unsere Kinder nicht auf? Klären wir sie eigentlich auch über die Bibel auf? Und dabei sind diese Geschichten in der Bibel meistens viel spannender und interessanter als die meisten Krimis, die Bildgeschichten und all dieser oberflächlich leere Unterhaltungsmarkt. Wie ist das eigentlich mit dem Erzählen der Bibel und 157

ihrer Geschichten in unseren Häusern. Man braucht ja nur die Frage zu stellen, um zu wissen: also so sehr weit ist es damit nicht her. Natürlich, natürlich, wir haben alle furchtbar viel zu tun, und wir sind alle ständig unterhalten und abgehalten vom Fernsehen und weiß der Kuckuck von was allem. Aber das ist alles noch eigentlich kein Grund, daß die Bibel so weit aus unserem Gesichtskreis herausgestellt ist. Denn die paar Texte, die wir dadurch, daß wir hier in der Kirche einmal das und einmal das ausgelegt hören, zur Kenntnis nehmen, reichen ja keinesfalls sehr weit. Es geht um mehr. Es geht bei der Bibel um unser evangelisches Christsein. Wenn wir unser Christsein, unseren Glauben, das, was wir von Gott meinen und nicht meinen, das, wie wir Gott in unser Leben hineinnehmen, wenn wir diesen ernsten und täglich neu sich zeigenden Zusammenhang nur auf die Kappe des Pastoren hin glauben und für wahrscheinlich und für richtig halten, das ist für evangelische Christen zu wenig. Wir müssen uns selbstverantwortlich, wir müssen uns als eigenständige Leute, wie man heute sagt, als mündige Christen mit dem Wort der Bibel auf den Weg der Vertrautheit mit diesem Gott begeben. Sonst ist es mit dem Evangelischsein Schluß. Dann werden wir besser gleich Moslems, das heißt, dann gehen wir lieber gleich in Abhängigkeit von irgendwelchen priesterlichen oder zwischenregimentlichen Größen. Die Gerechtigkeit Gottes, die erschienen ist als Jesus Christus ohne Zutun der Gesetzeswerke, wird erfahren im Umgang mit der Bibel, und zwar — darauf kommt es wohl an — im ständigen Umgang mit der Bibel. Wer das versucht hat, hat bemerkt: Je mehr man mit der Bibel umgeht, desto tiefer wird sie, desto mehr liest man heraus, desto lebendiger wird sie, desto farbiger, desto plastischer, spannender wird dieses Buch. Und das Dritte, was Paulus sagt, ist dieses: Diese Gerechtigkeit Gottes kommt zu den Menschen durch den Glauben. Was ist das, dieser Glauben, unser christlicher, evangelischer Glaube? Glaube ist zunächst einmal ganz schlicht und einfach ein Wissen, ein Wissen um die Gerechtigkeit Gottes, ein Wissen um diesen Jesus von Nazareth, ein Wissen um den Abraham und den Moses und den Jeremia und den Paulus und den Paulus in Rom oder seine Reise nach Rom aus der Apostelgeschichte, das muß man eben einfach wissen. Das ist das Erste. Man muß wissen, wie das mit diesem Jesus und dem kanaanäischen Weib war. Man muß einfach wissen, wie das mit Jesus in Jerusalem, als er zum Kreuz ging, zuging, und wie das mit den Jüngern dann drei Tage später war. Da gibt es einfach viel zu wissen, was man zur Kenntnis nehmen muß. Das muß man lesen in der Bibel, und einmal 158

und zweimal und dreimal müssen wir überlegen, wie war das denn nun eigentlich. Man vergißt das sehr schnell, zumal wir modernen Menschen. Weil wir so viel Ablenkung und Weltzerstreutheit haben, vergessen wir das heute sehr schnell. Und das gilt nicht nur für Jesus am Kreuz und für Jesus den Auferweckten, das gilt genauso für Salomo und die Königin von Saba. Das gilt für David und Bathseba und was es alles gibt. Denn diese Gestalten von Salomo, David, Abraham, Jakob und Moses, sie sind alle Vorabbildungen dieses Jesus von Nazareth. Jesus verstehen wir um so tiefer und um so eher und um so besser, je tiefer wir diese menschlichen Vorabbildungen, den Jakob und den Joseph und den Abraham und den Moses und den David wissen oder einfach kennen. Das ist das erste des Glaubens, ein ganz schlichtes einfaches Wissen. Aus diesem einfachen Wissen wächst etwas unglaublich Schönes, nämlich ein mächtiges Vertrauen auf den Gott, der dieses alles, was da in der Bibel bezeugt wird, „gemacht" hat. Wie er mit jenen Menschen umging, wie er ihnen nachging und wie er sie zu sich zog! D a wächst so ein unglaubliches Vertrauen. Das ist ein Vertrauen darauf, daß er, dieser Gott, der die Herrlichkeit der Welt in seiner Macht geschaffen hat und zu unserer Freude noch erhält, daß dieser Gott in allem Großen und Kleinen, in allem Schönen und allem Bösen unseres Daseins gleich neben uns steht, wie er neben den Psalmisten z. B. stand, und daß wir ihm bis aufs Letzte Vertrauen entgegenbringen können, weil er es so gut mit uns meint. „Es kann uns nidits geschehen, als was Gott hat ersehen." Es kann uns nichts geschehen! Das muß man sich mal überlegen, was das für ein Vertrauen ist. Und dann muß man an den Terrorismus z. B. denken oder an die Arbeitslosigkeit unter uns. Diesen fast aussichtslosen Blockaden können wir nur begegnen in diesem Vertrauen: „Es kann uns nichts geschehen." Nur das, was Gott ersehen hat, kann uns geschehen. Das ist das Vertrauen. Das Vertrauen in die Väterlichkeit Gottes, das Vertrauen in die Liebe Gottes, in seine Gerechtigkeit, das Vertrauen in den Gott, der den Verlorenen sucht. Und wie verloren wir zu Zeiten sind, das wissen wir ja alle. In diese Verlorenheit geht er uns nach und ist immer gleich neben uns. Der Glaube ist also zunächst ein Wissen, ein ganz einfaches Wissen. Und dieses Wissen gewinnt man aus der Bibel, indem man mit der Bibel umgeht. Und da erfährt man unendlich viele Lebenssituationen, wie Gott sich hier und da und da in seiner Suche nach den Verlorenen verhalten hat. Und das erkennt man wieder in seinem eigenen Leben. Aber dazu muß man die Dinge kennen und einfach wissen. Aber wenn man sie weiß, dann wecken sie Vertrauen: Wie es da war, mit 159

dem verlorenen Sohn. Und der war ja wirklich ein ganz verkommenes Subjekt. Und dann macht er sich auf den Weg zum Vater, und dann nahm der Vater ihn auf. Dieses Vertrauen in Gott schafft etwas, auf das wir wie sonst nichts angewiesen sind in dieser Welt. Es schafft uns nämlich eine Weltgewißheit im Leben und im Sterben von unglaublicher Tragfähigkeit — eine Weltgewißheit. Das ist ein Rätselwort für uns modernen Menschen. Denn wir modernen Menschen sind ja allbekannt durch nichts so ausgezeichnet wie durch lauter Angst. Wir bestehen ja nur aus Angst. Das sagen die Psychiater und die Pädagogen uns immer wieder. Und es ist auch wahr. Und es ist ja auch nicht zu verwundern, daß wir so viel Angst haben. Diese eigentümliche Welt der physikalisch- wie chemisch-technisch begründeten Vollzüge um uns herum! Was verstehen wir Normalverbraucher schon von alledem? Was „verstehen" wir von all den Motoren, Staubsaugern und Apparaten um uns herum? Wir „verstehen" das doch alles gar nicht. Wir können vielleicht an unseren Treckern so'n bißchen herummachen, aber die großen Zusammenhänge z. B. der Kernenergie, wer versteht denn das? Von tausend Menschen „versteht" das noch nicht einer. Das verstehen die Spezialisten. Und diese Spezialisten verstehen auch immer nur einen kleinen Teil von der Sache. Das heißt, um uns herum ist eine uns fremde Welt, eine Welt, die wir auch gar nicht mehr wirklich verantworten können. Und da überkommt uns aus allen Ecken und Enden die Angst. Das ist nicht nur die Angst vor wirtschaftlichen Schwierigkeiten oder die Angst vor politischem Zupacken, vor wirtschafts-politischen Katastrophen oder die Angst vor dem Terror, das nicht. Sondern es ist diese eigentümlich schwebende Angst vor der Tiefe des Daseins, die sich auch ausdrückt als die Todesangst. Noch nie sind so viel Bücher über den Tod geschrieben wie heutzutage. Es kommt gar nichts dabei heraus. Aber es ist ein Kennzeichen dieser Angst. Man will davon reden, man muß davon reden, man kann gar nicht aufhören, davon zu reden, weil man so Angst hat. Bei den Schüler- und Studentenuntersuchungen der letzten Jahre stellt sich immer wieder heraus, wie viele junge Menschen unter uns psychisch krank sind. Wir wissen, wie hoch gerade unter Jugendlichen die Selbstmordziffer ist. Das alles hat mit dieser schwebenden eigentümlichen Angst zu tun. Man kommt nicht mehr zurecht mit seinem Leben. Da, wo der Glaube als dieses Vertrauen gewachsen ist, in dem man mit der Bibel um diesen Gott weiß, da wächst Weltgewißheit. Es kann uns nichts geschehen, als was dieser Gott, dieser väterliche Gott ersehen hat. Das ist eine große Sache, wenn man darauf stehen kann. 160

Da kann noch sonstwas passieren in der Welt, das wirft uns nicht um. Wir stehen ja auf diesem Gott. Wir stehen ja auf der Zusage dieses Gottes, der uns mit seiner Treue versorgen, lieben und umgeben will. Aber, wir haben es in der Bibel auch gelernt — z. B. bei Hiob — wie das ausschaut, wo dieser Gott mit den Seinen den unteren Weg geht. Wir haben es in der Bibel gezeigt bekommen, wie der „Knecht Gottes" aus dem Jesaja-Buch und zumal wie Jesus den Weg der Passion gehen mußte. Das heißt, wir wissen aus der Bibel sehr genau, daß die Nähe dieses Gottes nicht nur, ja vielleicht nicht einmal zuerst, eitel Freude und Friede heißt! Und wenn dann Unheil über uns kommt, sei es als Krankheit oder sei es als plötzlicher Tod oder als was immer, dann kommt es plötzlich drauf an. Was machen wir dann ohne die Weltgewißheit der Bibel? Dann, wenn es soweit ist, ist es meistens zu spät, daß man dann noch in der Bibel zu lesen und zu suchen anfängt. Das muß man vorher getan haben, damit man die Dinge zur Hand hat, damit man dieses Vertrauen als Weltgewißheit schon besitzt, damit man mit diesem Vertrauen dieses Leben, das ja gar nicht so einfach ist, wirklich bewältigen kann. Weltgewißheit wächst im Glauben. Und der Glaube, der christliche Glaube, ist Weltgewißheit, eine Weltgewißheit, die, ob es nun um das Wetter oder die Schönheit der Welt oder ob es um politische oder wirtschaftliche Schwierigkeiten geht, in allem und jedem weiß, daß dieser Gott, dieser Gott der väterlichen Güte, daß er alles im letzten und eigentlichen für uns tut, daß er damit uns nachgeht, um uns als Verlorene zu suchen. Das ist das Vertrauen. Und in diesem Vertrauen sehen wir die Welt an. Und da kann uns die Welt mit all ihrem Grauen und unsere eigene Welt mit ihrer Krankheit und mit ihrem Sterben nichts mehr anhaben. Da sind wir ihr entnommen. Da sind wir im Bereich einer Gewißheit, die durch diese Weltdinge nicht mehr in Frage gestellt werden kann, nicht mehr in Frage gestellt werden kann. Denn im Rücken als unseren Schutz haben wir das Wort Gottes, das heißt, die Bibel. Die evangelische Kirche, entstanden in der Reformation, ist als eine Kirche dieser Weltgewißheit entstanden, als eine Kirche des Glaubens, der es um die Gerechtigkeit Gottes, die in dieser Bibel bezeugt ist, geht. Das heißt, es sieht zunächst so schwer aus, wenn man Luther immer von der Gerechtigkeit Gottes und von der Rechtfertigung reden hört. Das sieht zunächst so abstrakt und so fern aus. Aber er redet dabei von nichts anderem als von unserem alltäglichen Dasein. Ob wir eigentlich in unserem alltäglichen Dasein gewisse und frohe Menschen sein können, oder ob wir geängstete und mit uns selbst uneinige 161

Menschen sind, darum geht es, um nichts anderes. Und wenn wir diese frohen und gewissen Menschen sind, dann sind wir die Menschen, die um ihre ewige Bestimmung über das Sterben hinaus wissen, die gewiß gemacht sind, daß dieser Gott über unseren Tod hinaus immer noch der lebendige ist und daß er mit seiner Macht die Dinge dieser Welt fügt — im letzten, um uns zu suchen. Das ist die evangelische Botschaft. Diese evangelische Botschaft ist von einer Freude und von einer so glückhaften Bewegtheit erfüllt, daß man das ja gar nicht ausreden kann. Unser ganzes Leben, was oft so triste dahinschleicht, das soll diese Freude erfahren. Unser menschliches Leben mit all seinen Unsicherheiten ist für diese Weltgewißheit da, damit wir das Leben so schön finden, wie es wirklich ist. Darum geht es! Der Weg zu dieser Schönheit und zu dieser Freude, der soll uns aufgetan werden. Das ist die Gerechtigkeit Gottes, die bezeugt ist in Propheten und Gesetz, und die im Glauben geschieht.

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Buße 11. S. n. Trinitatis 21. August 1977 Lukas 18,9-14 a Er sagte aber zu einigen, die sich selbst vermaßen, daß sie fromm wären und die die anderen verachteten, folgendes Gleichnis: Es gingen zwei Menschen hinauf in den Tempel, zu beten, einer ein Pharisäer, der andere ein Zöllner. Der Pharisäer stand und betete bei sich selbst also: Ich danke dir, Gott, daß ich nicht bin wie die anderen Leute, Räuber, Ungerechte, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner. Ich faste zweimal in der Woche und gebe den Zehnten von allem, was ich habe. Und der Zöllner stand von ferne, wollte seine Augen nicht aufheben gen Himmel, schlug an seine Brust und sprach: Gott sei mir Sünder gnädig! Ich sage euch: Dieser ging hinab gerechtfertigt in sein Haus vor jenem.

In der Mitte der Trinitatis-Zeit stehen einige Bußsonntage. Der vorige Sonntag mit dem Gedenken an das zerstörte Jerusalem und dieser Sonntag mit der Verkündigung der Tatsache, daß vor der Größe der Gnade und der Taten Gottes, wie sie geschehen in der Auferweckung Jesu Christi, der Mensch mit allem, was er tut und ist und kann, wie man sagt, in die Buße gehört. Und das ist wohl die Frage, die uns dieser Sonntag vorlegt, was Buße wohl eigentlich sei. Dieser Sonntag ist in der alten Kirche durch die Epistel (1. Kor. 15, 1—10) mit der Verkündigung der Auferweckung Jesu verbunden. Das Verbindende dieser beiden Texte liegt darin, daß Paulus 1. Korinther 15 aus dem Kerygma, aus der Verheißung der Auferweckung und seinem eigenen Beteiligtsein an der Erscheinung des Auferweckten die Schlußfolgerung zieht: Ich aber bin nichts, und ich vermag nichts, sondern die Gnade allein vermag alles. Eben dieses Bekenntnis des Paulus steht hinter diesem Gleichnis oder kommt durch dies Gleichnis als Frage an uns heran. Dieses Gleichnis — farbig, lebendig, das Leben selbst einfangend wie alle Gleichnisse Jesu, uns wohbekannt von Jugend an — ist, wie alle diese Bildreden Jesu, von einer unendlichen immer wieder neu aufzusuchenden und sich merkwürdigerweise vor uns Menschen immer wieder verschließenden Tiefe. 163

Was heißt denn das hier? D a ist dieser Pharisäer, und der ging in den Tempel und sagte: Es ist doch gut, und ich muß es Gott danken, daß ich kein Ehebrecher und kein Räuber und kein Mörder bin so wie dieser Zöllner. Ich faste zweimal in der Woche, und ich gebe meinen Zehnten den Leuten. Und auf der anderen Seite steht der Zöllner und sagt: Gott sei mir Sünder gnädig. Dieses Gleichnis hat in der Reformationszeit eine sehr große Rolle gespielt, und die Reformation meinte, dieses sei eigentlich das entscheidende Wort, das für die Reformation in der Bibel stehe, nämlich es ist nichts mit den Werken, denn Werke tragen vor Gott nichts aus. Und da kann man auch so viel tun, wie der Pharisäer, diese Werke tragen vor Gott nichts aus. Das ist ja auch eine Auslegung dieses Gleichnisses. Aber mit dieser Auslegung des Gleichnisses hat es seine Schwierigkeit. Nämlich, wenn wir daraus nun die Schlußfolgerung ziehen: Aha, dann wissen wir ja, wie man das macht. Man geht in die Kirche und sagt: Gott sei mir Sünder gnädig, und in Ordnung ist die Geschichte. Dann wären wir genau beim Pharisäer. So geht es jedenfalls nicht. Das heißt, in diesem Gleichnis steckt noch dahinter offenbar das, worauf es ankommt. Dazu, oder zu dem Verständnis führt uns eine Überlegung, die die ganze Schwierigkeit des Gleichnisses noch einmal deutlich macht. Denn, dieser Pharisäer, das war ja wirklich ein großartiger Mann. Und wer von uns könnte das sagen, was er sagt, nämlich nicht nur, daß er bürgerlich anständig ist, das auch. Vielleicht gehört das ja auch für die christliche Gemeinde zum guten Ton, sondern daß er über alles Notwendige hinaus zweimal pro Woche nichts ißt. Das stammt aus der syrischen Notzeit. D a hat die Sekte der Frommen der Pharisäer gesagt: Zweimal in der Woche wird gefastet, damit solch Unglück nicht wieder über das Volk kommt. Das heißt, der Pharisäer fastet nicht etwa, damit es ihm gut geht, sondern er fastet stellvertretend für das Volk! Und dann gibt er noch den Zehnten. Und zwar, er gibt nicht, wie die Sadduzäer in Jerusalem sagen, den Zehnten von allem, was er kauft, nein, den Zehnten von allem, was er besitzt. Das alles gibt er für Gott. D a sind wir Waisenknaben mit dem, was wir tun. Wollte Jesus etwa mit diesem Gleichnis sagen, diese Pharisäer sind böse Leute oder sie sind töricht oder man soll ja nicht so handeln wie die Pharisäer? Sicher nicht. Und auf der anderen Seite steht der Zöllner. So ein Zöllner war ja nun das Unerfreulichste, was es gegeben hat. Diese Steuereinnehmer in den römischen Provinzen taten im allgemeinen nichts weiter als sich zu bereichern. Sie saugten das Volk in einem Maße aus, wovon 164

wir uns heute kaum noch eine Vorstellung machen können. Nach fünf, zehn oder fünfzehn Jahren gingen die Zöllner als reiche Leute davon, zogen in eine Großstadt und lebten ihr Leben wunderschön. Ausgerechnet dieser Zöllner ist der, der gerechtfertigt hinausgeht. Das heißt, dieses Gleichnis kann nicht so ausgelegt werden, daß wir sagen: Jedenfalls nicht so handeln wie der Pharisäer sondern so handeln wie der Zöllner. Beispiele sind diese beiden Leute nicht, denn dann gehen wir genau den falschen Weg. Man hat gesagt, in diesen Gleichnissen handele Jesus wie ein Tollkopf. Und das sieht ja auch so aus. Ein Tollkopf ist der, der uns die Stützen menschlichen Lebens, nämlich die Pharisäer, die Stützen menschlicher Ordnung, als negativ, und solche Kerle wie den Zöllner als großartig darstellt. Ein Tollkopf, der durch diese ungemein aufreizenden Bilder allein schon die Leute in Bewegung bringt. Und die damaligen Leute verstanden das ja noch viel unmittelbarer als wir. Das heißt also doch wohl, daß der Inhalt dieses Gleichnisses, der Pharisäer und der Zöllner, wie sie ihr Leben leben und was sie tun und lassen, nicht Gegenstand etwa des Nachmachens oder dessen, worauf es ankommt in diesem Gleichnis, sein kann. Die Welt gerät total durcheinander, wenn es darauf ankäme, daß wir wie die Zöllner handeln sollten. Es ist offenbar etwas ganz anderes, was durch diesen Pharisäer einerseits und diesen Zöllner andererseits deutlich gemacht werden soll. Das, was durch den Pharisäer und den Zöllner im Gleichnis dargestellt wird, ist der dem Menschen aus seinem Menschsein heraus sehr schwerfallende Verzicht auf die Überzeugung, daß es mit seinem Leben stimmt und daß er eigentlich doch ein ganz anständiger Kerl ist. Darauf kommt's an. Es kommt darauf an, daß ein Mensch, der sein Leben davon hat, daß er bestimmte Dinge von Ordnung, Anständigkeit, Fleiß, Sauberkeit, Ehrlichkeit tut — und auf diesem Tun steht sein und seiner Stadt Leben — daß dieser Mensch diese seine Rechtschaffenheit nicht als etwas mit sich herumträgt, was ihn auch vor Gott bestätigt, angenehm macht und in Ordnung sein läßt. Darauf kommt's offenbar an. Damit kommt es aber auf etwas an, was uns etwas zumutet, was total unmöglich ist, was wirklich unmöglich ist. Wir haben unser Selbstbewußtsein von diesen unseren bürgerlichen Tugenden, wie man das so schön nennt, und wir können ohne dieses Selbstbewußtsein nicht sein. Wir können auch ohne diese Tugenden nicht sein. Und die Menschen, die ohne diese Tugenden sind, also die Zöllner zum Beispiel, die verachten wir, mit Recht. Denn unser Menschsein, die Aufgabe unseres Menschseins besteht darin, daß wir durch unseren 165

Beruf hindurch und durch das, was wir täglich tun, menschliches Leben ermöglichen, und wenn irgend es geht, verbessern, daß wir menschliches Leben bessermachen, als es aus sich selbst ist. Unser Dasein hat seine Aufgabe darin, daß wir menschliches Leben, das in vielen Hinsichten gebrechlich, leidgeplagt, kümmerlich und kummervoll ist, unterstützen, helfen, daß wir ihm aufhelfen, so daß es etwas besser geht, als es sonst geht. Dazu sind wir da. Dieser unser Lebensinhalt, der macht unsere sogenannte bürgerliche Rechtschaffenheit aus. Das ist es, was unser Fleiß und unsere Anständigkeit, unsere Sauberkeit und Ehrlichkeit wie unsere Wahrhaftigkeit hervorbringen. Dies alles schafft um uns herum eine Atmosphäre, in der man atmen kann. Denn ohne diese Sauberkeit und Ehrlichkeit, Wahrhaftigkeit und Anständigkeit, wie man so sagt, läßt es sich nicht atmen. Ohne diese bürgerlichen Tugenden geht das menschliche Leben kaputt. Das Chaos rückt nahe heran. Die Ausschweifung wird möglich. Das nennt man auch emanzipiertes Dasein. Man nannte dies auch Boheme. Menschlisches Leben gerät in Verfall — psychisch wie somatisch. Die menschliche Gesellschaft zerfällt. Sie lebt nun einmal von den bürgerlichen pharisäischen Tugenden. Aber dieses wichtige Grundkonzept menschlichen Daseins gilt vor Gott nach diesem Gleichnis offenbar nichts. Dies ist doch sehr überraschend. Geht es Gott denn eigentlich nicht um die Förderung des Daseins in der Welt? Geht es ihm etwa nicht um die Beförderung von Leben? Er, der der „Liebhaber des Lebens" (Weish. Sal. 11,26) ist; er, der dies Leben hervorgebracht hat? Und wenn wir nun in bürgerlicher Rechenschaft in seinem Sinne doch wohl das Leben fördern, soll das etwa nichts sein? Offenbar nicht! In diesem Widerspruch sitzt der eigentliche Kern unseres Gleichnisses, und nicht nur unseres Gleichnisses, sondern sitzt wohl auch der eigentliche Kern unseres Glaubens, worauf es ankommt. Dies freilich ist schwer zu begreifen. Diese Einsicht läuft einem immer wieder weg, so daß wir sie in der Eile des Alltags gar nicht so einfach greifen können. Es läßt sich auch nicht greifen und in ein Regal stellen. Dies ist der unwägbare, leuchtende Kern in allem Geschehen. Und dieser Kern heißt: Wir haben im Verhältnis zu der Macht, die wir Gott nennen, nichts aufzuweisen, was ihn, Gott, uns angenehm machen könnte: Zumal nicht unsere bürgerlichen Tugenden und unser Selbstbewußtsein! Sondern vor ihm, der uns in der Hand hat, der uns und unsere Welt gemacht hat, der der letzte Grund unseres Seins ist, der der unbestimmbare und undefinierbare Hintergrund alles Geschehens überhaupt ist, vermögen wir nichts zu sagen, zu tun oder in 166

Anschlag zu bringen, das uns vor ihm bestätigen könnte. Und dennoch sind wir auf diese Bestätigung angewiesen. Wir sind darauf angewiesen, daß wir vor ihm uns bestätigen, denn er ist der Horizont, der Grund der letzten Möglichkeit alles unseres Seins, alles unseres Denkens, alles unseres Tuns. Jede Regung des Gefühls, jede Empfindung, jedes Erlebnis, er ist dessen Grund und Sinn. Und wenn wir vor ihm nicht dasein können, dann zerrinnt das ganze Leben in lauter sinnlose Einzelheiten. Er ist es, der die Vielheiten unseres Daseins zusammenfaßt und damit unser Leben als menschliches Leben ermöglicht; und damit unser Leben hinaushebt über all die Kümmernisse des Alltags in den Glanz seiner Gegenwart, in den das Viele zusammenbindenden, den Sinngrund unseres Daseins schaffenden großen Aufbruch zu ihm. Aber wie denn? Wenn es denn so ist, daß all unsere freundliche, bürgerliche Rechtschaffenheit, all unser Zur-Kirche-Gehen — der Pharisäer meint, auch Kirchensteuern hätten dabei etwas zu tun, die haben wohl auch etwas dabei zu tun — nichts hilft und vor Gott nicht gilt, ja, was dann? Dann müssen wir es so machen wie der Zöllner. Was macht der? Der sagt: Ich habe überhaupt nichts. Ich habe gar nichts. Aber im Vertrauen darauf, daß du, Gott, Gott bist, und daß du, Gott, für mich Gott sein willst, stehe ich vor dir und übergebe mich dir. Ja, was ist diese Haltung des Zöllners eigentlich? Das Verhalten des Zöllners heißt ja wohl: Es ist mit meinem Tun und Denken, mit allen meinen wunderschönen Vermögen, die ich besitze, und mit meinem Kapitalvermögen, das ich mir erwerbe, und mit meiner caritativen Tätigkeit und mit meiner Zugehörigkeit zur Kirche und zum Frauenkreis und zum Männerkreis und weiß der Kuckuck, was alles Schönes wir so machen, gar nichts. Und die Haltung des Zöllners sagt weiter: Abgesehen von allen diesen wunderschönen Dingen aber habe ich ein gar nicht mehr inhaltlich zu beschreibendes, grundloses Vertrauen zu dem Sinngrunde meines Daseins, zu dem Ganzen all dieser Einzelheiten, die sich verwirren in meinem Leben, zu dem Horizont all der Ausblicke, die ich in meinem Leben tun kann. Und zu diesem grundlosen Vertrauen in den Sinngrund meines Daseins kann ich nichts hinzufügen. Ich muß auch sagen, nie etwas hinzugefügt zu haben, denn bei meiner ganzen Rechtschaffenheit habe ich ja immer an mich gedacht, und diese ganzen Hilfsaktionen, die ich so im Leben veranstaltete, letzlich war ich ja doch der Empfänger derselben. Dieses Verhalten heißt aber, daß von einem Stück Materie, das wir sind, von einem Stück Leibhaftigkeit, das wir sind, von einem Stück Schwere, das wir sind, Schwerelosigkeit, Gewichtslosigkeit, Levita167

tion, Aufgehobenheit verlangt wird. Wir müssen die Zumutung dieses Gleichnisses wohl so charakterisieren. Das ist in den anderen Gleichnissen dasselbe. Denken wir an den verlorenen Sohn, dieses verkommene Subjekt, der nach Hause kommt, und zu Hause ist der fleißige rechtschaffene ältere Bruder, aber für den kleinen Verkommenen wird natürlich ein Kalb geschlachtet. Das ist ja dasselbe wie hier mit dem Pharisäer und Zöllner. Damit will Jesus nicht etwa sagen, nun macht das mal wie der Kleine, verjubelt all euer Geld, und dann kommt ihr in den Genuß Gottes. Sondern er will sagen: Es sind eigentlich nur solche Leute wie dieser elende verkommene Sohn und solche Leute wie der üble Zöllner, eigentlich nur solche Leute sind in der Lage, religiös und sittlich zu begreifen, worum es vor Gott geht, nämlich: Es ist nichts mit uns allen. Diese Überlegung hat nach dem Ersten Weltkrieg eine große Rolle gespielt, als die damalige Nachkriegsgeneration in der Begründung des religiösen Sozialismus sagte, die proletarische Situation sei die Situation der Rechtfertigung. Damit meinten Paul Tillich und seine Freunde, die das damals sagten, eben dieses, was Jesus in seinen Gleichnissen meint: N u r ein Zöllner, nur ein Proletarier, der nichts hat und der auch nichts aufzuweisen hat und um den herum nichts anderes ist als nichts, ist in der Lage, eine Haltung einzunehmen, die Gott gegenüber eingenommen werden muß, nämlich: Es ist nichts mit uns allen. Das pflegt ein bürgerlicher Mann wie dieser Sohn, der da zu Hause geblieben ist und fleißig ist, wie dieser Pharisäer hier, niemals fertigzubringen. Damit haben wir vor uns, worauf es in diesem Gleichnis ankommt. Alle diese Tugenden und Vermögen, die unsere bürgerliche Welt und unser gesellschaftliches Selbstbewußtsein ausmachen, tragen vor Gott nichts aus. Gott wendet sich uns nicht darum zu, weil wir gesellschaftlich so wichtige Leute sind. Vor Gott stehen wir da wie der Zöllner und haben nichts, gar nichts in der Hand. Nur das scheue Vertrauen dieser Leerheit: Ich habe nichts, aber ich vertraue Deiner Güte. Das ist alles. Damit aber verändert sich menschliches Leben in Hinsicht auf Gott ganz grundsätzlich. Die Bewertungen der Lebensvollzüge nämlich verändern sich in ihrem Grunde. Es findet eine „Umwertung aller Werte" statt, die wirklich so genannt werden kann. Wir merken jetzt plötzlich: alle diese wunderschönen, unaufgebbaren Ziele unseres Alltags, daß wir dem anderen helfen und daß wir fleißig sind und ehrlich, daß wir wahrhaftig sind und sauber, alle diese schönen Ziele — und dazu gehören auch die kirchlichen Ziele — die sind da über168

haupt nichts, wo es um Gottes Blick auf dies Leben geht. Alle diese Ziele wollen getan werden, als ob sie nicht getan seien, sagt Paulus. Natürlich wollen sie getan werden, aber nicht, als wären sie etwas vor Gott. Allerdings sollen wir in der Wahrhaftigkeit sein, aber nicht in der Meinung, als kämen wir dadurch in den Blick Gottes, das heißt, in des Lebens Sinn. In diesen Lebens-Sinn kommen wir dadurch überhaupt nicht. Wir werden nur etwas bürgerlicher und brauchbarer, weiter nichts. Das, worauf es ankommt und worauf menschliches Leben stehen kann im Leben und im Sterben, das ist Gott, der tiefe Hintergrund allen Seins, vor dem wir nichts sind. Seine Wahrnehmung tut uns eine neue Tür auf, durch die Licht hereinkommt, helles Licht. Und dies Licht ist nicht mehr davon abhängig, daß und was wir wirken und schaffen. In diesem Licht läßt es sich ruhen. Wir sagen, es ist ewig, das heißt, es unterliegt nicht dem stetigen Wandel unseres Daseins. Es ist unwandelbar. Menschliches Leben verwandelt sich von hier aus. Wir schaffen nach wie vor in bürgerlicher Anständigkeit für die anderen Menschen um uns herum. Aber das Gewicht dieses Wirkens ist neu. Wir begründen unser Dasein nicht in diesem Tun. Wir werten unser Wirken nun richtig, denn wir wissen, daß dies alles vor Gott nicht trägt. Damit werden wir in allen Anforderungen leichten Sinnes. Das alles ist zwar sehr wichtig. Aber das alles gründet nicht unser Dasein vor Gott. Vor diesem Gott brauchen wir keine großen Sachen aufzuweisen. Vertrauensvolle Liebe zu ihm und Abkehr von unserer pharisäischen Selbstgerechtigkeit tragen uns vor ihm. Diese vertrauensvolle Leichtigkeit unseres Daseins vor Gott in all dem vielen Weltwirken heißt also Buße. Dies ist die Buße, von der wir im Gleichnis gesprochen finden. Diese Buße sieht sehr anders aus als man das landläufig annimmt. Diese Buße kann nicht meinen, etwas vor Gott Angenehmes hervorbringen zu können. Sie lebt in vertrauender Aufgetanheit vor seiner väterlichen Liebe — inmitten all der Daseinssorgen.

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E U N S E R LEBEN VOR D I E S E M G O T T ISRAELS, DEM VATERGOTT J E S U

Gottes Willen tun 8. S. n. Trinitatis 20. Juli 1975 Matthäus 7,21 Es werden nicht alle, die zu mir sagen: Herr, Herr in das Reich der Himmel kommen, sondern die den Willen tun meines Vaters, der im Himmel ist.

Das Wort, das wir uns heute predigend auslegen wollen, steht in der Bergpredigt ganz für sich, ohne Verbindung nach vorne und hinten. Es ist seinem Wortlaut nach eins der meistzitierten Worte in der alten Kirche. In den Schriften der sogenannten Apostolischen Väter wie bei den Apologeten z. B. Justin dem Märtyrer wird dies Wort zitiert. Es ist offenbar ein Wort, das ganz unmittelbar die Fragen anspricht, die eine christliche Gemeinde in der Welt bewegen müssen. Den Hintergrund dieses Wortes bildet die Vorstellung, daß das Reich Gottes oder das Reich der Himmel jedem Menschen als seine Bestimmung zugehört. Das Reich Gottes oder Gott steht als Bestimmung in jedem menschlichen Geschehen. Jedes Beginnen hat an diesem Reich oder also an Gott seine Tiefe. Das menschliche Leben wird trotz seiner ganzen Oberflächlichkeit also in seiner Schönheit und Großartigkeit wie in seiner abgrundtiefen Bosheit erst da sichtbar, wo wir's daraufhin anschauen, daß es zu dieser Tiefe, zu Gott als zu seiner ewigen Bestimmung bestimmt ist. Dies gilt für den Menschen — zunächst — aber es gilt mit und durch ihn der ganzen Welt, auch Pflanze, Tier und Stein. Diese Welt und wir in ihr tragen die Bestimmung zum Reich Gottes, zu der Gegenwärtigkeit Gottes, zu der Güte Gottes als dem Inbegriff allen Geschehens an uns. Wir sind dazu in der Welt, dieses an unserer Welt zu entdecken. Von dieser hohen, frohen und großartigen Bestimmung unserer Welt und unserer selbst redet dieses Wort, und zwar so, daß in ihm gefragt wird, wie kommt man eigentlich dieser ewigen Bestimmtheit seiner Welt und seiner selbst nahe? Und da gibt es nach unserem Wort offenbar zwei Wege, den einen Weg, daß man ruft: Herr, Herr und sonst nichts. Und den anderen Weg, daß man den Willen dessen tut, der der Vater im Himmel ist. Und Jesus sagt: Nicht jeder, der Herr Herr ruft, der also im Gebet sich Gott zuwendet und das alles sein läßt, nicht jeder, der das tut, kommt ins Reich der Himmel, sondern der, der den Willen meines Vaters tut, der im Himmel ist. 172

Dieser Gegensatz zwischen dem Rufen nach Gott — und damit ist doch wohl der Gebetsruf gemeint — auf der einen Seite und dem Tun des Willens Gottes auf der andern Seite, dieser Gegensatz ist ja vielfach falsch verstanden worden. Man hat gemeint, man könne daraus das sog. praktische Christentum machen. Laßt Gott einen guten Mann sein und laßt uns anständige Kerle werden, so würde das aussehen. Das Christentum besteht danach darin: Tue Recht und scheue niemand. Diese Reden von dem sogenannten praktischen Christentum gehen gewiß an dem, was dieses Wort meint, vorbei. Was dies Wort meint, liegt tiefer. In dem Ringen um die Güte und die Richtigkeit unseres Lebens versuchen wir es ja immer wieder mit dem Gebet. Das ist ja gewiß auch richtig so. Wer wollte sich in der ganzen N o t seines moralischen, sittlichen wie religiösen Versagens nicht betend an Gott wenden? Aber wir bemerken ja dann immer wieder, daß unsere guten Vorsätze, die sich im Gebet herauskristallisierten, zu nichts führen. Wir bewältigen das bedrückende Versagen, das dann doch zu tun, obwohl wir das nicht wollen, oder jenes nun doch zu lassen, obwohl wir es dringend wollen, dann immer wieder nicht! Wir kennen diese tiefbedrükkenden Erfahrungen alle. Wir beten um das Gute und tun dann doch das Gegenteil. Offenbar ist es im moralischen, sittlichen und religiösen Bereich mit dem Gebet allein nicht getan. Es muß von uns etwas getan werden, den Willen unseres Vaters im Himmel zu erfüllen. Im Gebet um die Besserung unseres Lebens in all den konkreten Häßlichkeiten unseres Daseins bitten, ist eine gute Sache. Aber wenn dieses Gebet sich nicht zusammenfaßt in einen Entschluß, der zu einem Tun wird, dann ist das nichts. Auf der anderen Seite ist dieses Tun, dieser Entschluß sicher nicht ohne das Gebet denkbar. Das gilt es zu erwägen, wenn wir uns fragen, was ist denn nun eigentlich der Wille Gottes? Der, der den Willen meines Vaters im Himmel tut, der geht ins Reich ein, der entdeckt die Tiefe des Daseins, der ist in der Zielbestimmung des Lebens, der geht über alle Zeitlichkeit hinaus auf die Ewigkeit zu. Was ist das, der Wille Gottes? Der Wille Gottes ist wohl ein Zweifaches. Der Wille Gottes ist in dem Wort Jesu ausgesprochen und zusammengefaßt. Dieses Wort und dieses Tun Jesu soll in der Welt ausgebreitet werden, denn Gott will, daß allen Menschen geholfen werde. Dieses, Gott will, daß allen Menschen geholfen werde, meint ja nicht das, was die Entwicklungshilfe tut, daß keiner hungern oder unterdrückt werden soll. Vielmehr meint dieser Gotteswille in Jesu Wort und Tat, daß die Liebe Gottes, 173

der das Verlorene sucht, in der Welt ausgebreitet werde. Die verlorenen Söhne sollen heimgeholt werden in das Haus des Vaters. Das heißt, daß die Gottentlaufenen zu Gott wieder zurückfinden sollen. Darum geht es also zunächst in diesem Willen Gottes. Dieser ausgesprochene Wille Gottes, die verlorenen Söhne in das Haus des Vaters heimzuholen, soll in der Welt ausgebreitet werden. Dazu sind wir Christen in der Welt. Wir Christen können diese unsere Aufgabe nicht etwa an Pastoren, an die Innere Mission, an die Caritas oder an andere Institutionen delegieren, so als seien die Christen nur Konsumenten des Wortes und des Willens Gottes, so als hätten sie an der Ausbreitung dieses Wortes und Willens keinen Anteil. Nein, so ist es nicht. J a , die große freudige Entdeckung der Reformation von dem Priestertum aller Gläubigen ist nur solange am Leben, solange diese Gläubigen das Wort ausbreiten. Sonst haben wir die Reformation verloren. Christsein im lebendigen Sinne ist in der Vollmacht gegeben, das Wort und den Willen Gottes in der Welt auszubreiten. Das ist gewiß die Meinung des Neuen Testamentes. Das ist fraglos der tiefste Ansatz der Reformation. Aber es spricht manches dafür, daß uns evangelische Christen der Katholizismus mit seinem „Laien-Apostolat" an dieser zentralen Stelle überholte! Das Wort und den Willen Gottes fassen wir zunächst also dahin zusammen, daß allen Menschen geholfen werde, das heißt, daß die verlorenen Söhne in das Haus des Vaters heimkehren. Aber wir breiten dies Wort nicht etwa damit aus, daß wir uns jeden Tag an irgendeine Ecke stellen und nun erneut predigen, sondern wir breiten es nur damit aus, daß wir dies Wort der Liebe tun; daß wir dem, dem wir Nächster sind, helfen; daß wir den Gefangenen besuchen und den Nackten kleiden und den Hungrigen speisen; daß wir die Liebe tun, das ist die Ausbreitung des Wortes. Und wenn die Kirche und wenn das Wort der Kirche in unserer Welt nicht seine volle Überzeugungskraft entfaltet, dann wohl auch darum, weil zu viel in der Kirche verbal — nur Wort — bleibt. Man vermißt die Tat. Der Wille Gottes ist das Ausbreiten des Wortes, und wir Christen sind für das Ausbreiten dieses Wortes in der T a t der Liebe verantwortlich. Zweitens ist der Wille Gottes dies: Du sollst Vater und Mutter ehren, du sollst nicht töten, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht ehebrechen, du sollst nicht falsch Zeugnis geben. Der Wille Gottes ist dieses Gesetz, das wir aus der Bibel als die Zehn Gebote kennen. Aber die Reichweite dieser elementaren Gebote geht ja weit über die Bibel hinaus. Sie gelten — so kann man ohne Übertreibung sagen — in aller 174

Welt und durch alle Welt hindurch. Dieses, du sollst nicht töten, du sollst nicht ehebrechen, dieses, daß die Kinder ihre Eltern ehren und ihnen gehorsam sind, das sind — man könnte sagen — in dem Leben selbst angelegte Strukturen. Diesen Strukturen folgen wir damit, daß wir die Gebote erfüllen. Das ist der Wille Gottes. Von diesem Willen Gottes gibt es keinen Dispens. Wo eine Ehe gebrochen wird oder wo Kinder gegen ihre Eltern aufgewiegelt werden, wie das heute unter uns geschieht, da ist dieses Gebot, dieses Gesetz verletzt. Das Verletzen dieses Gesetzes aber ist ein Verletzen des Lebens. Hier wird „gefrevelt", und das Leben versehrt! Hier werden dem Leben selbst tiefe Wunden gerissen! Das gilt für uns in unserer Umwelt als Natur ebenso wie in unserer Umwelt als Geschichte. Im Christenleben geht es nun darum, daß dieses Gesetz, mit dem wir täglich zu tun haben, im Tun der Liebe erfüllt wird. Das ist das Dasein von Christen, daß sie den Willen Gottes in aller Welt und in ihrem täglichen Leben — und da geht es um die Frage des Gehorsams vor den Eltern, und da geht es um die Frage der Lehrer im Verhältnis zum Schüler und um die Frage des Ehebruches und der Verleumdung und all dies —, daß wir in diesem alltäglichen Tun der Liebe Tun zum treibenden Moment in der Erfüllung des Gebotes machen. Denn die Liebe ist des Gesetzes Erfüllung. Wir haben keinen knechtischen Geist empfangen, sondern einen kindlichen Geist. Wir erfüllen das Gebot des Ehebruches nicht deswegen, weil es geboten ist, sondern weil Gott uns so lieb hat und wir aus seiner Liebe heraus nicht anders vermögen. Und so ist das ja wohl mit allen Geboten. Wenn wir diese Gebote erfüllen, weil sie geboten sind, dann ist das für Christen zu wenig. Es geht um Tieferes. Es geht um den Gewinn dieses kindlichen Geistes, der aus dem Vertrauen, auf den, der hinter den Geboten steht, diese Gebote aus Freude und Liebe erfüllt, nicht anders kann, als sie zu erfüllen, der die Wahrheit und die Güte und die Freudigkeit nicht lassen kann, weil Gott ein so gütiger Mann ist. Wer es damit, daß die Liebe des Gesetzes Erfüllung ist, in seinem Leben versucht hat, der weiß zweierlei. Einmal, daß dies eine immer neu sich stellende Aufgabe ist, die wir immer wieder verfehlen, weil uns diese Liebe fern liegt. Und zweitens, wenn es uns aber irgendwo gelingt, die Erfüllung unserer täglichen Aufgaben und die Einhaltung unserer täglichen Ordnungen aus der Liebe heraus zu tun, dann blüht das Leben auf, dann gerät menschliches Leben ins Gelingen. Die vielen Zufälligkeiten und Unfälligkeiten des Daseins bleiben fern. Es beginnt jenes eigentümliche Wirken und Walten hoher Mächte um uns 175

und durch uns. Das geschieht da, wo es uns einmal gelingt, die Liebe des Gesetzes Erfüllung sein zu lassen. Das ist niedergelegt in dem mittelalterlichen Mysterienlied von Maria, die durch den Dornhag ging, und dieser Dornhag hatte in sieben Jahren keine Blätter getragen. Aber als Maria durch den Dornhag ging, da haben die Dornen Rosen getragen. Was dieses geheimnisvolle Mysterienlied von dem Dornhag der Welt singt, daß die Dornen Rosen getragen haben, das geschieht da, wo das Leben aufblüht, wo das Gesetz des Lebens aus der Liebe erfüllt wird, wo der knechtische Geist sich verwandelt in den kindlichen Geist. Unser Textwort steht vor uns: Hinter der Welt — als Natur und Geschichte — steht die hohe Bestimmung der Welt zu Gottes Reich, das heißt zu Gott. Gott ist der „Dinge tiefer Inbegriff". Und diejenigen, die den Willen Gottes tun, die werden zu dieser ihrer Bestimmung eingehen. Das ist ein einfältig großes Wort, und das ist ein einfältig großes Tun. Sein Kern aber ruht in der Austeilung des Wortes von der suchenden Vaterliebe dieses Gottes, und dies Wort realisiert sich in der liebeerfüllten Handhabung der Weltstrukturen, denen wir unterliegen, in denen wir leben und an denen wir unser Glück haben. Wenn wir es recht bedenken, so heißt es also für unser Dasein in der Welt, daß wir Liebe austeilen und daß wir auch unsere Pflicht noch mit Liebe erfüllen. Diese Liebe aber ist die hohe Liebe dessen, der den verlorenen Sohn heimholt, der Gute und Böse wie Gerechte und Ungerechte mit seiner Sonne bescheint (Matth. 5, 45 f.).

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Gott sorgt für euch 3. S. n. Trinitatis 26. Juni 1977 1. Petrus 5,5-11 Allesamt seid Untertan untereinander und haltet fest an der Demut. Denn Gott widersteht den Hoffärtigen, aber den Demütigen gibt er Gnade. So demütiget euch nun unter die gewaltige Hand Gottes, daß er euch erhöhe zur rechten Zeit. Alle eure Sorge werfet auf ihn; denn er sorgt für euch. Seid nüchtern und wachet; denn euer Widersacher, der Teufel, geht umher wie ein brüllender Löwe und sucht, wen er verschlinge. Dem widerstehet im Glauben und wisset, daß eben dieselben Leiden über eure Brüder in der Welt gehen. Der Gott aber aller Gnade, der uns berufen hat zu seiner großen Herrlichkeit in Christo Jesu, der wird euch, die ihr eine kleine Zeit leidet, voll bereiten, stärken, kräftigen und gründen. Ihm sei Ehre und Macht von Äon zu Äon.

Zu Beginn des 5. Kapitels des 1. Petrus-Briefes ist, bevor unsere Verse einsetzen, die Rede davon, wie man eigentlich eine christliche Gemeinde leitet. Wie die Presbyter eine Gemeinde nicht mit Zwang und mit Herrschaft sondern mit Willigkeit, indem sie den Willen der Gemeinde herausrufen, und in Freiheit lenken. Darin erweisen sie sich als solche, die als Presbyter oder als Leiter der Gemeinde dieser Gemeinde Untertan sind. Auf der anderen Seite sollen die jüngeren Gemeindeglieder den Presbytern Untertan sein. Danach setzt unser Text ein: Allesamt seid untereinander Untertan und haltet fest an der Demut. Unser ganzer Text ist von der Demut durchzogen, und wir müssen uns fragen, was das eigentlich ist: Demut, eine urchristliche Tugend! Aber was ist diese urchristliche Tugend eigentlich? Es ist wohl nicht das, daß man sich verkleinert vor dem anderen, daß man vor ihm auf dem Bauch kriecht. Dies ist nur ein Mißverständnis, als bestehe Demut darin, daß man sich selbst herabsetzt. Damit kommen wir jedenfalls bei dieser Demut des 1. Petrus-Briefes nicht zurecht. Wenn wir diesen Text hier genau lesen nach dem griechischen Text, so heißt es: Alle aber umkleidet euch im Umgang miteinander die Demut. Das heißt, die Vorstellung ist die: Ich begegne einem andern demütig, wenn ich ihm die Demut wie ein Kleid umlege. Ich umkleide ihm die Demut. Man umkleidet einen, den man 177

erhöht. Man schmückt ihn mit einem Kleide, man beschenkt ihn mit einem Kleide. Die Demut ist also ein Vorgang, in dem ein Mensch den anderen, der ihm begegnet, erhöht, indem er ihn beschenkt. Das ist f ü r uns heutige Menschen schwer zu verstehen. Wir sind ja in unserem Umgang miteinander vor allem und zunächst mal, wie man so schön sagt, kritisch. U n d Kritik entkleidet den andern, stellt ihn bloß. Diese Kritik also ist das genaue Gegenteil der Demut. Sie streift dem andern alle Verkleidung ab, um zu sehen, was dahinter ist. Sie ist offenbar das genaue Gegenteil der Demut, die den andern bekleidet, erhöht und beschenkt. Wenn ich den andern, wenn ich mein Gegenüber kritisiere, dann bleibe ich bei mir selbst, und ich sehe, was der da drüben ist. Ich bin im Gegenüber und verharre im Gegenüber. Die Demut ist aber offenbar der Vorgang, wo ich nicht im Gegenüber bleibe, sondern wo ich mich dem anderen öffne, wo ich mich auf ihn einlasse. Indem ich mich auf ihn einlasse, so wie er ist, erhebe ich ihn und schmücke ihn mit meiner Einlassung auf ihn, mit meinem mich auf ihn Einlassen, so daß er als der, der er ist, herauskommt. D a ß wir mit dieser Überlegung im Sinne des Textes sind, zeigt das zu diesem Text zitierte Bibelwort, daß Gott den Hoffärtigen widersteht, aber den Demütigen Gnade gibt. Dieses Wort aus den Sprüchen (Spr. 3, 34) zeigt, das Gegenteil von der Demut ist der Stolz, das bei sich selbst Bleiben, das sich selbst Erhöhenwollen. U n d alle Kritik hat ja dieses an sich. D a r u m befriedigt sie uns so tief, weil sie uns verhältnismäßig groß macht, alle um uns herum aber vom Tisch bringt. Diesem Stolz widersteht Gott. Es geht um das Gegenteil, wo ich den anderen als ihn selbst, indem ich mich auf ihn einlasse, groß mache, bekleide, und damit bin ich in der Demut. Diese Überlegung hat eine Folge, daß man nämlich sagen k a n n : So demütiget euch nun unter die gewaltige H a n d Gottes, der euch erhöhet zur rechten Zeit. Dieses Wort ist nicht so gemeint: N u n demütigt euch vor Gott, damit er euch erhöht. Dies wäre reines Zweckdenken: Diese Erhöhung liegt ja auch völlig jenseits des Bereiches des Menschen. Zur rechten Zeit, wenn es Gott meint, daß es richtig sei, dann fängt er mit seiner Erhöhung an, nicht wenn wir dies und das tun. Aber dies und das tun, das muß uns beschäftigen, daß wir uns demütigen unter die gewaltige H a n d Gottes. Auch dieses wird ja meistens so verstanden, daß wir vor Gott gar nichts sind und uns zunichtemachen vor Gott. Aber das ist grade nicht gemeint. Sondern es ist jenes andere gemeint, daß wir Gott groß werden lassen, indem wir uns auf ihn, Gott, einlassen und den Versuch machen, grade vor Gott uns selbst zu überschreiten, indem wir uns einlassen auf ihn, auf Gott. Wo die178

ses Einlassen auf Gott, auf die universale Mächtigkeit unseres Lebens und des Lebens aller Welt, wo das an dieser Stelle vor Gott nicht passiert, da — so ist die Meinung des Textes — passiert es nirgendwo in der Welt. Wer Demut nicht vor Gott lernt, lernt es nirgendwo, deswegen, weil der, den wir Gott nennen, das A und O, alles, jedes kleinen und großen Gegenübers in der Welt ist. Die Universalität unseres Herausgefordertseins durch Freundschaft, Kollegenschaft, Liebe, Politik, Wirtschaft, Staat, die Universalität dieser Herausgefordertheit nennen wir Gott. Und wer es da, an dieser Stelle, bei Gott lernt, sich auf den andern zu überschreiten, der lernt es in der Welt. Aber, nicht wahr, genau an dieser Stelle liegt ja wohl unser aller Schwierigkeit heute. Die Schwierigkeit, daß wir an dieser Stelle offenbar geschlagene Leute sind, die vielleicht Demut im falschen Sinne vor Gott noch fertigkriegen, aber dieses sich Einlassen nicht. Das kann man ja daran sehen, daß wir in unserer Welt nicht mehr zu begreifen, wahrzunehmen und zu leben vermögen, was echte Autorität heißt, daß wir eigentlich immer nur wieder uns selbst und wieder uns selbst und nur uns selbst im Auge haben, und zwar nicht nur so, daß wir selbstsüchtig sind. Selbstsüchtig sind die modernen Menschen eigentlich gar nicht, im Gegenteil, sie sind, wie mir scheint, viel bereiter zu Selbstaufgabe für dies und das in der Welt als frühere Generationen. Aber sie sind nicht in der Lage zu diesem sich Einlassen. Einmal, weil sie meinen — und weil wir alle wohl meinen — die Wohlfahrt der Welt hänge nun letztlich doch an ihnen selbst. Sodann weil wir das, was man Verantwortung zu nennen pflegt, meinen total setzen zu können als unsere Verantwortlichkeit für diese Welt. Dabei vermögen wir nicht mehr zu sehen, daß unsere ganze Verantwortlichkeit nichts ist gegenüber dem, was Gott und unser Einlassen auf Gott eigentlich bedeutet. Und darauf stellt es unser Text ab. Es war ja in der letzten Woche hier in Marbach einerseits mit Lustigkeit, andererseits aber auch mit Sorge zu vernehmen, daß bei unserem Ortsvorsteher einige acht- bis zehnjährige kleine Jungs erschienen und ihm eine wohlgefügte Bittschrift überreichten, sie wollten ihn nämlich um einen Platz zum Indianerspielen bitten. Und in dieser Bittschrift steht: Weil es hier keinen Indianerspielplatz gäbe, seien diese kleinen Dötze in ihrer Entfaltungsmöglichkeit behindert. Achtbis Zehnjährigen bringt man bei, in Petitionen zu schreiben, daß sie in ihrer Entfaltungsmöglichkeit behindert sind. Mit diesen Dingen passiert, glaube ich, ein großes Unglück, indem man nämlich schon die ganz Kleinen auf ihre eigene Entfaltungsmöglichkeit fixiert und 179

ihnen beibringt, das wäre nun was, die eigene Entfaltungsmöglichkeit. Das ist ja nicht nur an dieser Stelle so, sondern daran krankt ja auch die sogenannte Frauenemanzipation unter uns. Man meint, Frauenemanzipation bestehe darin, daß sich die Frauen unter allen Umständen ihre Entfaltungsmöglichkeiten nicht nehmen lassen, und sei es auch, daß ihre Ehen und Familien darüber in die Brüche gehen. Ihre Entfaltungsmöglichkeit ist jedenfalls die Hauptsache. Es ist gegen die Entfaltungsmöglichkeiten der Frauen in unserer Gesellschaft nicht das mindeste zu sagen. Aber es ist sehr viel dagegen zu sagen, wenn diese eigene Entfaltungsmöglichkeit das Zentrum und die Melodie ist, nach der alles gesungen wird. An dieser Stelle, an diesen vielen Stellen — es gibt ja unendlich viele solcher Stellen in unserer Gegenwart — liegt der Kern der Sache. Diesem Kern der Sache haben wir von der christlichen Botschaft aus nicht etwa entgegenzustellen die Demut als das: Nun erniedrigt euch vor allen anderen. Nun seid stille und bescheiden. Das ist nicht die Meinung von Demut. Sondern wir stellen dem die Demut entgegen als den Vorgang, in dem ein Mensch in der Welt den anderen sehen zu lernen beginnt und sich auf ihn einzulassen lernt, und damit den andern erhöht, nicht sich erniedrigt. Das ist ja offenbar der Gegensatz, um den es geht. Diese Demut hat nun, wo sie geschieht, eine eminente Folge. Diese eminente Folge nennt unser Text. Er sagt: Alle eure Sorge werfet auf ihn, denn er sorgt für euch. Das heißt, dieses Eingehen auf den anderen, indem man ihn erhöht und wichtig nimmt, was man bei dem sich Einlassen auf Gott am zentralsten und eigentlichsten lernt, hat das ganze Evangelium zur Folge. Das ganze Evangelium nämlich heißt, daß wir unsere Sorgen, Gott zu überlassen in der Lage sind. Alle eure Sorge werfet auf ihn, denn er sorgt für euch. Die Herausforderung zur Demut ist der Grund der Möglichkeit, diese frohe Botschaft, daß wir mit unseren Sorgen nicht allein sind, sondern daß wir diese Sorgen loszuwerden in der Lage sind, zu hören. Aber das ist nun für uns ja auch sehr schwer. Und es war wohl für die Menschen aller Generationen sehr schwer, dies zu begreifen. Aber es war nicht nur schwer zu begreifen, sondern zu tun und zu leben. Das ist deswegen so schwer, weil es da ja eine feine Unterscheidungsnotwendigkeit gibt. In bestimmter Weise können und dürfen wir ja die Sorgen, die wir haben, nicht loswerden. Wir müssen natürlich dafür sorgen, daß unsere Kinder etwas zu essen haben, daß unsere Jugend gut ausgebildet wird, daß es in unserem Staat rechtens zugeht und was derlei mehr ist. Darum müssen wir uns sorgen. Und das 180

können wir auch gar nicht delegieren oder abschieben. Das, was hier gemeint ist, ist ja auch wohl etwas anderes. Die Sorge, die hier gemeint ist, ist die Sorge, die in der Meinung, sie könne und müsse diese Welt retten, den Menschen vor der Welt total verschließt. Menschen leben in dem Wahn, sie könnten dies oder das in der Welt wenden oder sie könnten gar die Welt verändern. In dieser falschen Sorge reißen sie sich von ihrer Welt los und stellen sich ihr gegenüber. Diese Sorge schafft die Einsamkeiten, die in unserer Welt heute da sind, diese schrecklichen Einsamkeiten, in denen der Weg zum anderen verschlossen bleibt. Wer meint, er könne und solle aus seiner K r a f t heraus sein Leben wie das Leben seiner Familie oder das Leben seiner Umwelt meistern, der erhebt sich über diese Objekte seines Tuns. Er vereinsamt vor ihnen, weil er sich überfordert, und sein berechtigtes Sorgen wird zum unberechtigten „meistern wollen". Daher sind in unserer Welt so viele einsam versorgte Menschen. Aber, daß wir die Botschaft von dem Gott, dem wir unsere Sorge anvertrauen sollen und können, so schwer hören können, hat für uns in unserer heutigen Welt wohl noch einen besonderen Grund. Dieser Grund ist wohl der, daß wir es heute gar nicht mehr wirklich ernsthaft für möglich halten können, daß dieser Gott sich um unsere alltäglichen Sorgen kümmern kann. Mit der modernen rationalen Weltanschauung scheint Gott der nahen Welt entzogen zu sein, weil diese nahe Welt nach Grund und Folge durchschaubar ist. Wo aber etwas „verständlich" wird — zum Beispiel ein Gewitter oder das Wetter — da meint man, könne Gott nicht im Spiel sein. Diese Meinung ist zwar falsch und kindisch, aber mit ihr ist Gott aus den verständlich gemachten Lebensvollzügen verschwunden. Er ist nicht mehr nahe. D a wird es dem modernen Menschen schwer anzunehmen, Gott könne in seine alltäglichen Sorgen eintreten. Er ist dazu viel zu fern. Gott ist — wenn überhaupt — ein heilig ferner, recht unverständlicher, eigentlich beschäftigungsloser „Geist". Vielleicht ist er auch nur eine ferne Idee. Jedenfalls kein ganz naher Wirkungsfaktor, der unsere alltäglichen Sorgen übernehmen könnte. Die Schwierigkeit zu begreifen, wie das möglich sein soll, Gott unsere Sorgen anheimzustellen, sind groß. Aber wenn es nun möglich wird, daß ein Mensch Gott seinem Alltag nahe weiß, was passiert dann? Dieser Gott, an den wir mit dem Neuen Testament glauben, wirkt und ist ja nichts anderes als väterliche Güte und Liebe. Wenn es nun Wirklichkeit wird, daß wir diesen Gott unseren alltäglichen Nöten und Entscheidungen nahe wissen, dann wissen wir in all den Sorglichkeiten unseres Alltags die väterliche Güte und Liebe dieses Gottes 181

nahe. Das heißt, da sind wir inmitten unserer kleinen und großen Sorgen unseres Alltages von dieser unbedingten väterlichen Güte und Liebe umgeben. Seid nüditern und wachet, sagt unser Text. Das heißt, daß Nüchternheit und Wachsamkeit die Folge dessen ist, wo wir es fertigbekommen, Gott den Stachel unserer Sorge zu übertragen. Er nimmt uns den Wahn, mit unseren Sorgen etwas machen zu können — was er ja sowieso fügt. Diese Erwägung hatte für die Leser dieses Briefes eine besondere Seite. Der letzte Teil unseres Textes zeigt ja, daß im Hintergrund dieser Überlegungen die beginnende Christenverfolgung stand. Die Leser des Briefes stehen als Christen in der Bedrohtheit von Leib und Leben. Und in dieser Situation heißt Nüchternheit, daß man seine tiefe Sorge auf Gott „wirft" und auf seine Sorge vertraut. Der Mensch wird gewiß nicht eher nüchtern und wirklich wachsam, ehe er nicht richtig einschätzt, was er mit seinen Sorgen vermag und wo Gott allein das Gelingen in der Hand hat. Sehr viel Kraft ruht in dieser Botschaft. Sehr viel frohes Zutrauen in der Alltäglichkeit unseres Daseins bietet sich uns an. Die falschen Überschätzungen unserer Fähigkeiten verschwinden, und wir werden nüchtern in der Einschätzung unserer selbst. Das ist die Demut als Kern, die Gott mit der Ehre und Macht umkleidet, die ihm zukommt und die es nicht nötig hat, das eigene Vermögen in der Welt unnüchtern zu überschätzen. Frohe Botschaft ist dies für Menschen, die unter all den Überforderungen ihres Alltages heute tief leiden.

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Nachahmer Gottes Oculi 21. März 1976 Epheser 5 , 1 - 5 ; 8 - 1 4 Werdet nun Nachahmer Gottes, wie geliebte Kinder, und f ü h r t euer Leben in der Liebe, wie auch Christus euch geliebt hat und sich f ü r euch preisgegeben hat als Gabe und Opfer f ü r Gott als ein Wohlgeruch. Unzucht aber und alle Unreinheit oder Gewinnsucht soll unter euch nicht einmal genannt werden, wie das Heiligen ziemt. Ebenso sollen Zoten, Geschwätz und Witzelei nicht unter euch sein, was sich auch nicht ziemt, sondern vielmehr Danksagung. Denn dies müßt ihr erkennen, daß jeder Unzüchtige, Unreine oder Gewinnsüchtige, die ja Götzenanbeter sind, keinen Anteil am Reiche Gottes und Christi hat. Denn ihr wart einmal Finsternis, nun aber seid ihr Licht in dem Herrn. Wie Kinder des Lichtes lebet. Die Frucht nämlich des Lichtes besteht in aller Güte, Gerechtigkeit und Wahrheit, indem ihr p r ü f t , was dem H e r r n gefällt, und keinen Anteil an den fruchtlosen Werken der Finsternis habt, sie vielmehr aber auch aufdeckt. Ihre heimlichen Taten nämlich sind gar nicht wiederzugeben. Alles aber, was aufgedeckt ist, das wird vom Licht erhellt, denn alles Erhellte ist Licht. Deshalb sagt er: wache auf, der du schläfst, stehe auf von den Toten, erleuchten wird dich der Christus.

Der Epheser-Brief, aus dem unser Text genommen ist, ist zwischen dem Jahre 80 und 100 in Vorderasien geschrieben. Wahrscheinlich wurde der Epheser-Brief von einem Palästinenser in großer N ä h e zu dem Gedankengut der essenischen Sekte vom Toten Meer geschrieben. Der Brief macht den Versuch, die ganze Fülle der urchristlichen Vorstellungen im Stil einer zu dieser Zeit vordringenden mystischen Gnosis zusammenzufassen. In unserem Kapitel wird das sittliche Dasein des Christen beschrieben und noch einmal der Versuch gemacht, dieses sittliche Dasein des Christen allein aus der Liebe, das heißt aus der Agape zu entfalten. Unser Text setzt ganz zentral ein: Christen sollen Nachahmer Gottes insofern sein, als sie ihr Leben in der Liebe — in der Agape — führen, in der Christus f ü r die Christen da war. Diese liebende Hingabe 183

Christi also soll unserem Handeln Ziel werden. Das entspricht dem Satz der Bergpredigt, daß die Jünger Jesu vollkommen sein sollen, so gewiß ihr himmlischer Vater vollkommen ist (Matth. 5, 48). Das ist ja eine der ungeheuerlichen Zumutungen der urchristlichen Botschaft, daß sie dem Christen nicht nur sagt: Christus hat für dich genug getan, und auf seinem Werk kannst du stehen und leben. Sondern diese Botschaft eröffnet zugleich die unglaubliche Möglichkeit, daß der Christ in diese Bewegung Gottes selbst eintreten könne und solle. Christen können und sollen in diese Bewegung Gottes eintreten — als die geliebten Kinder! Das ist die Grundlegung und das Ganze, wovon man reden muß, wenn man nach dem Dasein des Christen in der Welt fragt. Von nichts anderem redet der Text und können wir reden, wenn es um Sittlichkeit von Christen geht. Die Christen als „Nachahmer Gottes" — das ist das Ganze christlicher Sittlichkeit. Aber, was soll dies hohe Wort konkret heißen? Was dies heißt, erklärt unser Text in zwei großen Abschnitten. Einmal spricht er von einzelnen sittlichen Haltungen des Christen und zweitens gibt er diesen Sachverhalt in einer Bildrede von Licht und Finsternis wieder. Der erste Abschnitt konkretisiert das sittliche Dasein der Christen so: Es kann unter Christen, die Heilige Gottes genannt werden dürfen — die sich heilig nennen dürfen, weil sie von Gott her sind — es darf unter diesen Heiligen Unzucht, Unreinheit und Gewinnsucht nicht geben. Und dazu gehört: Es darf unter ihnen keine Zoten, Geschwätz oder Witzeleien geben. Also — es kann unter Christen das nicht geben, was man Unzucht nennen muß. Was heißt das? Das hieß damals ebenso wie heute, daß es unter Christen das nicht zu geben braucht, daß sich die Person des Christen dahingehend aufspaltet, daß ihre Sexualität eine eigene Mächtigkeit gewinnt, daß sie Eigenständigkeit hat, daß sie etwas ist, was aus eigener Macht dies oder das tun oder lassen könnte oder sollte. Diese fatale Personspaltung, wo hier die Person und dort die Sexualität oder andere Triebhaftigkeiten sind. Man meint, man müsse oder man könne um willen dieser ganzen Triebhaftigkeit dies oder das tun und das, was man als Person, als denkendes, als liebendes, als verantwortliches Wesen ist, könne man davon entfernt halten, brauche man da auch gar nicht zur Anwendung zu bringen. Diese entsetzliche Schizophrenie, unter der unsere Zeit in besonderer Weise leidet, die meint, daß die Körperlichkeit als solche ihr eigenständiges Recht, überhaupt ein Recht auf irgendwas hätte oder gäbe und die es nicht mehr fertigbekommt, die Ganzheit der Person und damit die Kost184

barkeit der Leibhaftigkeit und auch der Sexualität aus der Einheit der Person, aus der Ganzheit des liebenden Herzens zu gewinnen. Wir müssen ja wohl auch sagen, daß nicht nur die Welt da draußen es damit heute so schwer hat. Wir Christen gehören dazu. Wir wissen ja auch alle ein Lied davon zu singen. Denn natürlich gehen wir, selbstverständlich können wir gar nicht unberührt durch diese unsere Welt gehen, mit ihrer Personzersetzung. Triebhaftigkeit emanzipiert sich von dem Ganzen der Person — von ihrer Geistigkeit wie von ihrer erotischen oder psychischen Einheit. Es gibt heute ein Recht auf „körperliche" Erfüllung, wie man das nennt. Zerfall der menschlichen Ganzheit ist das — eben Unzucht. Und das zweite konkrete Stück ist die Unreinheit. Dieser Begriff ist ursprünglich kultisch gemeint. Der Mensch, der sich der Gottheit naht, verhält sich geistig und macht sich körperlich „rein". „Rein" — das heißt der Gottheit angemessen: Gott aber ist die Reinheit schlechthin! So bricht Jesaja im Tempel zusammen, als er Gottes Präsenz gewahrt, mit dem Ruf: Wehe mir Unreinem (Jes. 6, 5). Im Zusammenhang christlichen Glaubens sind die Vorstellungen von der kultischen Reinheit zerfallen. Aber es bleibt vertieft die Forderung von der Reinheit bestehen. Sie ist vertieft, denn sie umfaßt nun das Ganze des Menschen, das Gott dem Vater angemessen sein soll. Aber was kann das angesichts der durch Jesus neu hergestellten Situation des Menschen vor Gott heißen? In der Reinheit geht es darum, daß der Christ auf Grund von Wort, Werk und Person Jesu die Scheidung von Gott in der Vergebung seiner Sünden überwunden erfährt. Gott hat sich ihm in Jesu Wort und Tat zugewendet — ihm dem Unreinen, das heißt dem Gott Fernen. Gott wendet sich ihm zu, und der Mensch empfängt den Gott, der den Verlorenen sucht (Luk. 15). Wenn das so ist, so erhebt sich die Frage, wie kann der Mensch der Unreinheit wehren? Nicht anders als so, daß er Gott sein Werk tun läßt. Aber wie soll man denn das machen? Das kann man nicht anders machen als so, wie Luther nicht müde wurde es seiner Welt zu predigen, daß der Christ nämlich in der Anerkenntnis seiner Untauglichkeit vor Gott, seiner Gottvergessenheit — gerade in seiner Frömmigkeit — daß der Christ in dieser Anerkenntnis Gott den Weg für sein Handeln freimacht! „Ein wunderlicher Tausch"! Der Christ kann sich dem ihn suchenden Vatergott nur so öffnen, indem er anerkennt, daß Gott allein der Handelnde wird, und seine Reinheit trotz und in all der eigenen Unreinheit schafft. Vor vierhundert Jahren nannte man diesen Akt die tägliche und stündliche „Buße"; das heißt nichts anderes als daß der 185

Mensch sich aus dem Mittel nimmt. Er schrumpft vor diesem Gott und seiner Verlorenen-Suche zum Nichts zusammen und gewinnt — alles. Er gewinnt sein Einverständnis mit sich selbst von diesem Gott her. Er wird versöhnt mit dem Grunde seines Menschseins! Es darf keine Unreinheit unter Christen geben. Das heißt also, daß wir unsere Gottzerfallenheit und Gottesferne heilen lassen von diesem Gott. Das heißt also, daß wir uns selbst und all unser frommes und unfrommes Vermögen vor Gott verlassen und damit in die Gelassenheit vor Gott eintreten, auf die dieser Gott wartet, sich finden zu lassen! Das dritte konkrete Stück christlicher Sittlichkeit ist die Ausräumung der Gewinnsucht oder des Geizes. Gewinnsucht kann unter Christen nicht sein. Was ist das eigentlich — Gewinnsucht? Gewinnsucht ist die triebhafte oder suchtartige Bezogenheit des Menschen auf sich selbst. Es geht ihm nur um seinen Profit. Und diese Sucht kann man auch Geiz nennen. Diese Sucht trennt den Menschen von seiner Umwelt. Er dreht sich nur um sich selbst. Die Sorge für seine Umwelt ist zerfallen. Der Geizige bleibt mit sich allein. Diese Abspaltung des Menschen von seiner Umwelt ist ein unheimlicher Vorgang. Ein Mensch ist ein Wesen, das sich selbst ja seiner Umwelt verdankt und das ohne das ständige Geben und Nehmen zwischen seiner Umwelt und sich nicht gesund und lebensfähig sein kann. In der Gewinnsucht schneidet ein Mensch diese Beziehungen ab, versucht, nur sich zu leben. Unheimlich der Widersinn, selbst mehr gewinnen zu wollen und das einzige Tor zum Gewinn — das Tor zur Umwelt — abzuschließen. Nebeneinander also redet unser Text erstens von der Spaltung des Menschen in sich selbst, zweitens von der Spaltung des Menschen zu Gott und drittens von der Spaltung des Menschen zu seiner Umwelt. Diese drei Spaltungen gehören auch wohl zusammen und bedeuten letztlich einen großen einheitlichen Prozeß, in dem eins das andere bedingt. Diese drei unheimlichen Verstellungen des Menschen mit sich selbst, mit seinem Gott wie mit seiner Umwelt zerstören aber auch und zumal sein Sprechen. Er kann nun nur noch in Zoten, in dummem Geschwätz und in Witzeleien reden. Die Zoten gehören zur Schizophrenie der emanzipierten Sexualität. Von dieser Rückwirkung emanzipierter Sexualität auf die Literatur und die Umgangssprache wissen wir heute ja viel zu sagen. Der „moderne" Roman ist voll von Fäkalien und drückt sich vorwiegend in zotigem Slang aus. Realismus nennt man das, um aus der N o t eine Tugend zu machen. Das „dumme" Geschwätz meint das gehaltlose Daherreden der Menschen, die ihren Grund verloren. Die wesentlichen Inhalte, die die Literatur 186

vor 50 und 100 Jahren auswies, verblassen vor dem bloßen Unterhaltungs-Geschwätz in Romanen und Dramen, in „Western" und „Krimis". Und da, wo der Mensch seiner Umwelt nicht mehr verantwortlich zugewendet ist, da bleibt ihm die bloße kritische Witzelei an sich. Ein Mensch verlor seine Welt, und nun witzelt er — inhaltsfern und geschwätzig wie zotig — daher. Damit hat unser Text etwas sehr Entscheidendes gesehen, wie nämlich unser Verhalten und unser Sprechen eine Einheit bilden, der sich kein Mensch entziehen kann. Unheimlich — wenn wir bedenken, wie tief der Verfall des Sprechens in unserer Gegenwart reicht. Die konkreten Vorgänge im sittlichen Aufbau christlichen Daseins das Verhalten zu sich selbst, das Verhalten zu Gott und das Verhalten zu seiner Umwelt mit ihren sprachlichen Ergänzungen — hat unser Text bei Namen genannt. Nun aber charakterisiert er diese Verstellungen — Unzucht, Unreinheit und Gewinnsucht — nach ihrem tiefsten Charakter. Er sagt, daß jeder Unzüchtige, Unreine und Gewinnsüchtige ein „Götzenanbeter" oder ein „Dämonenverehrer" ist. Damit sagt unser Text, glaubt nur nicht, daß es sich bei diesen Verstellungen und Spaltungen menschlichen in der Weltseins um so oberflächliche Sachen wie schlechtes Benehmen oder schlechte Eigenschaften handelt. In diesen Handlungsantrieben wie Unzucht, Unreinheit und Gewinnsucht geht es vielmehr darum, daß ein Mensch dämonischen Mächten verfällt. Wir sind heute schon wieder ziemlich weit von der Zeit entfernt, die meinte, sie brauchte Dämonen nicht ernstzunehmen. Wir wissen heute glücklicherweise wieder verhältnismäßig viel davon, was die Mächtigkeiten dieser Welt eigentlich bedeuten. Wir lernen es wieder zu sehen, was ihre Kraft und ihre Macht nicht nur über das psychische sondern auch über das somatische Dasein des Menschen bedeutet und beinhaltet. Von daher bekommen wir auch wieder ein Verständnis dafür, wenn gesagt wird, daß diese ganze Unzucht unserer Welt letztlich dämonische Besessenheit ist. Da kommen größere Gewalten als irgendwelche Massenmedien oder irgendwelche wirtschaftlichen Zielvorstellungen zum Zuge. Da steckt etwas dahinter, das nur als dämonische Mächtigkeit angesprochen werden kann. Das gilt für die Unsauberkeit und für die Gewinnsucht ebenso wie für diese Unzucht. Darum gibt es für Christen kein Paktieren mit diesen Größen. Es geht um Gott oder um diese Dämonen. Es braucht Christen wohl nicht gesagt zu werden, daß das Handeln Gottes an der Welt eben diese Auseinandersetzung dieses Gottes mit den Dämonen ist von Schöpfung der Welt an bis zum heutigen Tage. Es gehört zu dieser Aus187

einandersetzung, daß wir als Christen an einem Kampfe teilnehmen, der viel hintergründiger, größer und mächtiger ist, als wir es uns im allgemeinen vorstellen. Glücklicherweise, würde ich sagen, sind wir am Ende des 20. Jahrhunderts wieder so weit, daß wir ein Gespür dafür bekommen, daß man diese mächtigen Auseinandersetzungen, an denen wir teilnehmen, nicht vordergründig verrationalisieren darf. In der zweiten Hälfte unseres Textes wählt der Verfasser des EpheserBriefes eine ganz andere Bildwelt, nämlich die von dem Gegensatz der Finsternis und des Lichtes, der Kinder der Finsternis und der Kinder des Lichtes. Diese Gegensätzlichkeit von Finsternis und Licht wird von ihm verbunden mit der anderen Gegensätzlichkeit, Frucht und Fruchtlosigkeit. Die Finsternis ist letztlich zur Fruchtlosigkeit verurteilt, ja sie ist damit charakterisiert. Und wenn wir von der Unzucht der Gegenwart schon geredet haben, dann ist ja diese Unzucht in ihrer ganzen Fruchtlosigkeit in unserer gegenwärtigen Welt offen enthüllt. Auf der anderen Seite des Lichtes stehen Güte, Gerechtigkeit, Wahrheit. Diese Güte und diese Gerechtigkeit und diese Wahrheit steht den anderen Dingen, den dämonischen Besessenheiten gegenüber. Gerade bei der Güte, aber auch bei der Gerechtigkeit und bei der Wahrheit wird jedem, der es einmal damit versucht hat, klar, daß mit ihnen sich etwas verbindet, was unser Text dann auch ausdrückt, nämlich eine fatale Wehrlosigkeit. Denn wer es mit dieser Güte in der Welt versucht, merkt sehr rasch, daß er immer wieder ausgenutzt wird. Und wer es mit der Gerechtigkeit in der Welt versucht, der merkt sehr schnell: jedem das Seine zukommen lassen, das ist wahrscheinlich gar nicht ganz durchführbar. Und wenn man es denn durchführen will, grenzt es immer wieder an die Ungerechtigkeit selbst. Und nicht anders ist es ja mit der Wahrheit. Das heißt, diese Güte und diese Gerechtigkeit und diese Wahrheit sind zugleich Ausgesetztheiten, Preisgegebenheiten, Wehrlosigkeiten dessen, der das versucht in der Welt, die viel klüger und immer viel erfolgreicher mit ihren Maximen ist als die Kinder des Lichtes. Wenn Luther immer wieder sagt, diese Wahrheit, Gerechtigkeit und Güte sei der untere Weg Gottes, sei der Weg, der die Kinder des Lichtes hineinführt in den H a ß der Welt nicht nur und die Verfolgung der Welt, sondern eben in das Leiden, so meint Luther dieses damit, daß die Güte, die Gerechtigkeit und die Wahrheit von der Welt nur ausgenutzt werden. Aber Christen können es nicht lassen, gütig zu sein. Das Ausgenutztwerden ist kein Grund, nicht gütig zu sein. Das ist der untere Weg Gottes. 188

Aber es ist noch eine andere Seite, die unser Text betont. Nämlich diese Güte und diese Gerechtigkeit und diese Wahrheit, die sind nicht einfach Tugenden, die wir haben sollten, und von denen man sagen könnte, ein Christ hat diese Tugenden. Sondern unser Text sagt: Das Licht, dessen Früchte Güte, Gerechtigkeit und Wahrheit sind, dieses Licht ist dazu da, daß es die Finsternis aufdeckt, daß es die Finsternis überführt, enthüllt, bloßstellt, und zwar nicht so, daß die Christen von ihrer Güte aus nun ungeheuer aggressiv werden auf die Welt. Sondern, einfach dadurch, daß die Christen als diese gütigen Menschen in der Welt sind, wird die Finsternis aufgedeckt und enthüllt. Das ist der Sinn der Güte, der Gerechtigkeit, der Wahrheit. Es ist nicht ihr Sinn, ein Reich der Güte zu stabilisieren, sondern es ist ihr Sinn, die Finsternis aufzudecken. So wie es der Sinn jedes Gottesdienstes wie auch dieses Gottesdienstes hier ist, daß etwas in bezug auf unsere Welt geschieht. So ist es also mit der Güte, der Gerechtigkeit und der Wahrheit. Das sind keine Tugenden, die man für sich haben könnte oder sollte. Sondern sie sind der Weg Gottes in die Welt. Dieser Weg hat seinen Sinn in dem Aufdecken der Finsternis. In dem Aufdecken der Finsternis liegt das Ziel, nicht darin also, daß die Christen gute Menschen werden, sondern daß die Finsternis entdeckt wird. Das heißt, wir treten in die Auseinandersetzung zwischen Gott und den Dämonen dadurch ein, daß wir so sind, wie wir sind, und daß wir unser Christsein als diese Güte oder als Kinder des Lichtes oder als die geliebten Kinder nicht verbergen sondern wie die Stadt auf dem Berge oder wie das Licht auf dem Leuchter leuchten lassen — dadurch, daß wir so sind wie wir sind. Wir brauchen uns also als Christen offenbar gar keine „Strategie des Weltkirchenrates" oder andere Strategien zu überlegen. Wir brauchen uns nur zu überlegen, daß wir so sind, wie wir sind, bzw. daß wir Christen zu sein wagen. Die Stadt auf dem Berge kann dann gar nicht verborgen bleiben. Aber da liegt nun der Hase im Pfeffer. Wo und wie in unserem Leben wagen wir denn oder versuchen wir denn, wirklich als die geliebten Kinder Gottes dazusein? Wo denn eigentlich? Das ist die Frage. Wenn wir das schaffen würden, und das ist ja nicht etwa leicht, wenn wir das schaffen würden, dann würde das Licht schon leuchten. Dabei geht es — das ist klar — um die Aufhebung jener drei Spaltungen, und das heißt positiv, es geht um Güte, Gerechtigkeit und Wahrheit. Ach, allein schon die Güte, wie schwer ist sie zu pflegen in unserem festgelegten von Eile erfüllten Alltag. Wieviel Vorurteile 189

beherrschen auch uns Christen! Wer ein Verbrechen beging, kann nach Verbüßung seiner Strafe nie mehr mit Güte rechnen, und wer ein Nazi war, bleibt von aller Güte ausgeschlossen. Wie viele gesellschaftliche Vorurteile hemmen die Gerechtigkeit auch unter Christen an der Durchsetzung, und wieviel politische Vorurteile verdunkeln auch unter Christen die Wahrheit. Mit diesen ganzen Vorurteilen herrschen die Dämonen über die Kinder des Lichtes. Die Finsternis — das heißt Unfruchtbarkeit oder Handlungsunfähigkeit — beherrscht auch unter Christen das Feld. Diese Bewegung des Lichtes auf die Finsternis ist deswegen so wichtig, sagt unser Text, weil das, was aufgedeckt ist, von Gott erhellt wird. Und was einmal erhellt ist, das ist Licht. Darum, heißt es im Text: „Wach auf, der du schläfst, stehe auf von den Toten, erleuchten wird dich der Christus." Wir wissen nicht, wer diesen kleinen zitierten Vers gesagt hat. Wir wissen nicht, ob er ein Wort der Apostel war oder ob es ein Gemeindelied war oder ob es ein Taufbekenntnis war. Alles das ist möglich. Dies kleine Lied, das unser Text hier zitiert, „wache auf, der du schläfst, stehe auf von den Toten, erleuchten wird dich der Christus", zeigt uns jedenfalls, wie das ganze Reden von der Sittlichkeit der Christen gemeint ist. Es ist nicht so gemeint, daß man sagen kann: Naja, es gibt ein bißchen mehr oder bißchen weniger, ein bißchen besseres oder bißchen schlechteres Verhalten. Die sittliche Anforderung kommt vielmehr mit der Absolutheit des Lebensangebotes gegenüber dem Tode! Im sittlichen Verhalten geht es um Leben und Sterben. Es geht bei dem sittlichen Dasein von Christen um das Leben gegenüber dem Tode. Es geht um das Lichtwerden aus dem Christus heraus. Das ist eigentlich ungeheuerlich, wenn man sich das klarmacht. Diese kleinen Dinge des Alltags, darum geht's ja, mit denen wir so zu tun haben, die Höflichkeit, mit der wir miteinander umgehen, und die Freundlichkeit, und die Wahrhaftigkeit, alle diese kleinen Dinge. In denen geht es um dieses Aufstehen vom Tode. Das sind nicht Lächerlichkeiten, das sind auch nicht etwa nur Erziehungsfragen oder Traditionsfragen oder Konventionsfragen. Sondern da geht es um die Eminenz dieses Vorganges, des Uberschrittes aus dem Tode in das Leben. Unsere Epistel also sagt uns folgendes: Christen sind Menschen, die in den großen Kampf Gottes gegen die dämonischen Mächtigkeiten der Welt mit eintreten. Daß Gott diesen Kampf am Ende gewinnt, das ist dem Glauben keine Frage, denn er ist Gott. Darum treten die Christen in diesen Kampf nicht mit der tiefen Besorgtheit ein, was 190

wohl am Ende passiert. Aber daß Gott diesen Kampf gewinnt, das ist der Anschauung und Erfahrung sehr die Frage. Wir nehmen als Christen also am Siege Gottes glaubend teil. Aber diese Teilnahme am Siege Gottes ist die Teilnahme an dem Untergang Jesu, an dem Opfer Christi für Gott, an der Passion. Das heißt nicht, daß die Christen etwa das Leiden zu suchen brauchen. Das kommt ganz alleine, denn das Leiden liegt in dem Leiden an der Welt. Das heißt, wir haben, wenn wir von dem sittlichen Dasein des Christen reden, von der Passion des Christen geredet. Und wenn wir von dem sittlichen Dasein des Christen als von seiner Passion reden, dann reden wir von der Nachahmung Gottes. Und das meint unser Text, sei das tägliche Dasein des Christen: Nachahmung dieses Gottes.

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Die Bewahrung von Menschlichkeit 2. Advent 7. Dezember 1975 Lukas 17,20-24 Da er aber gefragt ward von den Pharisäern: Wann kommt das Reich Gottes? antwortete er und sprach: Das Reich Gottes kommt nicht mit äußerlichen Gebärden; man wird auch nicht sagen: Siehe hier! und da ist es! Denn sehet, das Reich Gottes ist mitten unter euch. Zu seinen Jüngern aber sprach er: es wird die Zeit kommen, daß ihr werdet begehren zu sehen einen Tag des Menschensohnes, und werdet ihn nicht sehen. Und sie werden zu euch sagen: Siehe hier! Siehe da! Gehet nicht hin und folget auch nicht. Denn wie der Blitz oben vom Himmel blitzt und leuchtet über alles, was unter dem Himmel ist, also wird des Menschen Sohn an seinem Tage sein. Und wie es geschah zu den Zeiten Noahs, so wirds auch geschehen in den Tagen des Menschensohnes: Sie aßen, sie tranken, sie freiten, sie ließen sich freien bis auf den Tag, da Noah in die Arche ging. Da kam die Sintflut und brachte sie alle um. Desgleichen wie es geschah zu den Zeiten des Lot: sie aßen, sie tranken, sie kauften, sie verkauften, sie pflanzten und sie bauten. An dem Tage aber, da Lot aus Sodom herausging, da regnete es Feuer und Schwefel vom Himmel und brachte sie alle um.

Das Licht des Advent leuchtet wieder, und die Christenheit wartet auf die Geburt dessen, der das Heil aller Welt ist. Sie wartet auf die Geburt des Sohnes Gottes. Sie wartet zugleich auf sein erneutes Kommen, das der Welt und den Menschen und auch der Frömmigkeit immer unverfügbar bleibt. Er hält sein erneutes Kommen in der Hand, unverfügbar für uns, bereit, der Welt zugute zu sein. Uns modernen Menschen macht diese Unverfügbarkeit die größten Schwierigkeiten. Wenn die Kirche sagen könnte, nun kommt her, wir wollen das Reich Gottes bauen, und das macht man so und so, oder wir könnten Aktionen und Projekte entwerfen, wie man das Reich Gottes macht, so wäre es eine feine Sache. Da würden die Kirchen voll sein. Es gibt viele Menschen, die so etwas wollen. Wenn wir sagen könnten, so macht man das mit dem Heil der Welt, und dann wird das auch was: Das volle Engagement der Jugend wäre bei uns. Aber die Unverfügbarkeit! 192

Wir leben in einer Welt und gehören zu einer Generation, die voll ist von großen Projekten, die man angreifen kann. Wir haben alle in irgendeiner Weise an diesen scheinbar machbaren Erwartungen teil. Zum Beispiel: die Erwartungen auf die große Freiheit aller. Sie laufen um die ganze Welt wie ein Feuer. Oder die große Erwartung, daß nun endlich die Gerechtigkeit aufgerichtet werden soll, daß endlich das Leid dieser Welt und die Unterdrückung ein Ende hat, die ganzen Erwartungen, die uns genauso bewegen wie die sogenannte Dritte Welt, und die uns — das ist ja gar keine Frage — am Herzen liegen müssen. Wer will denn nicht das Ende aller Sklaverei? Wer will das denn nicht? Wer kann es denn nicht wollen? Zugleich ist unsere Generation eine solche, die über eine nun fast zweihundertjährige Erfahrung mit der Machbarkeit der großen Freiheit, der Brüderlichkeit und der Gleichheit verfügt. Es waren die besten jungen Leute, die 1789 in Paris zusammenkamen. Darunter waren auch deutsche junge Menschen, um die Bastille zu stürmen. Ihr Herz brannte in der Begeisterung für das Gute. Und dann floß das Blut auf dem Place de la Concorde von der Guillotine Tag für Tag. Und diese jungen Leute waren bei denen, die enthauptet wurden. Die Revolution fraß ihre Kinder. Diese Erfahrung haben wir dann auch mit der Revolution in Rußland gemacht, und am schlimmsten mit der Revolution in China. Und immer war es so, daß eine wache und bereite Jugend den Ruf der Freiheit trug: Aber eine neue Sklaverei wurde geboren. Immer war es so, daß der Ruf nach Gerechtigkeit — ehrlich gemeint und teuer erkauft — dann neue Ungerechtigkeiten hervorbrachte. Unsere lange Erfahrung mit den großen Bewegungen der Freiheit in den letzten zweihundert Jahren hat uns gelehrt, daß das Wollen und die Ehrlichkeit und die Hingabe an diese Freiheit und diese Gerechtigkeit offenbar nicht alles das schafft, was man will. Das ist so im Großen wie im Kleinen, denn wenn wir z. B. die im ganzen wohl auch ehrlich gemeinten Bemühungen um die Schulreform jetzt in der Bundesrepublik ansehen — was ist denn dabei herausgekommen? Ein nahezu unertäglicher Leistungsdruck für die Kinder, und die Vereinsamung der Kinder selbst noch aus der hegenden Wärme der Klasse. Und das ist ja wohl bei der ganzen Bildungsreform nicht anders. Was bisher dabei herauskam, ist Ineffektivität, unendlicher Bürokratismus und Sitzungsdruck. Das heißt, im Kleinen wie im Großen machen wir die Erfahrung, die die Marxisten des tschechischen Frühlings ja am bittersten erfahren haben. Der bedingungslose Ruf nach 193

Freiheit schafft offenbar immer wieder Unfreiheit. Aber das darf doch nicht sein, das kann doch gar nicht sein. Wenn wir so fragen und dieses überlegen, dann rühren wir an das wohl tiefste Geheimnis menschlicher Existenz. Dieses tiefe Geheimnis des menschlichen In-der-Welt-Seins besteht darin, daß der Mensch seine Menschlichkeit offenbar nicht allein aus dem Menschlichen, aus seinem menschlichen Vermögen heraus bewähren und leben kann. Wenn er selbst und aus sich selbst dieses sein zwischenmenschliches Verhalten und Existieren regeln will, so schafft er nidits als neue Gesetze. Und wenn er auch alles freilassen will, so schafft er Libertinität. Er kann offenbar seine Menschlichkeit, in der er sich vom anderen her empfängt und in der er den anderen umfängt, er kann diese Menschlichkeit nicht aus sich selbst bauen wollen. Der Mensch ist vielmehr darin Mensch, daß er das Übermenschliche, das er das Göttliche nennt, in sich aufnimmt, daß er Gott die Zwischenbestimmung zwischen sich und dem Nächsten sein läßt, bzw. daß er in seinem und seiner Welt todgeweihtem Dasein die Bestimmung entdeckt für Ewigkeit, für Leben über den Tod hinaus. In dieser Entdeckung geht es um Menschlichkeit! Es geht um die Bewahrung der Menschlichkeit. Es geht um die Bewahrung der menschlichen Freiheit. Aber das ist es, daß der Mensch offenbar nur da in seiner Menschlichkeit bewahrt werden kann, wo er das Übermenschliche, das, was über ihn hinausgeht, als bestimmenden Grund seiner Existenz annimmt. Das ist das Geheimnis, warum Menschen, so lange wir sie kennen und wo immer wir ihnen begegnen, nicht sein können ohne das, was man Religion nennt. Sie können um ihrer Menschlichkeit willen ohne Religion nicht sein. Wenn wir in das Buch der Geschichte hineinsehen und die Geschichte der Freiheiten uns ansehen, dann sind die größten Freiheiten und das größte Maß an Gerechtigkeit in den Zeitaltern und Kulturen dagewesen, die die religiösesten waren, wie in der Hochblüte des griechischen oder der Hochblüte des tibetischen, in der Hochblüte des indischen religiösen Daseins. Und wenn wir unsere Erfahrungen mit dem großen Advent der Freiheit in unserer Generation ansehen, dann müssen wir sagen: ja, diese ganze Geschichte der Revolution seit der Aufklärung, die wir hinter uns haben, das war auch eine Geschichte der Gottlosigkeit. Und wenn es so sein sollte, daß das Geheimnis des Menschen darin liegt, daß er seine Menschlichkeit nur zu bewahren in der Lage ist, wenn er die Tiefe seiner Existenz in dem Grunde Gottes entdeckt, dann allerdings ist es kein Wunder, daß dieser große Ruf nach Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in den letzten 200 Jah194

ren immer wieder zu Unfreiheiten und Ungerechtigkeiten, und kriegerischen Verwicklungen geführt hat. Das Geheimnis des Menschen in der Bewahrung seiner Menschlichkeit heißt im Neuen Testament das Reich Gottes. Das Reich Gottes, auf das sich die ganze Verkündigung Jesu wie sein Werk und seine Person zusammenfassen lassen, ist diese Tiefe menschlicher Existenz, bereitet für ihn von Gott als das Eintreten Gottes in den menschlichen, in den geschichtlichen Bereich. Dieses Reich Gottes, von dem Jesus ja vorwiegend in Gleichnissen geredet hat, ist — wie das Gleichnis vom Senfkorn und vom Fischnetz zeigen — der Vorgang, in dem aus den kleinen Anfängen der Verkündigung in Palästina das weltweite große, Mengen von Menschen umspannende Handeln Gottes wird. Damit ist, wie das Gleichnis vom viererlei Acker und vom Unkraut unter dem Weizen zeigt, allerdings ein wirklicher geschichtlicher, d. h. angefochtener Vorgang gemeint. Das vollzieht sich nicht so einfach und so glatt. D a ist viel Unkraut unter dem Weizen. Aber diese Geschichte ist zugleich eine, von der man sagen muß wie von dem Schatz im Acker und von der köstlichen Perle: Man muß sie finden. Und dann, wenn man sie gefunden hat, dann tut man alles dafür. Dann verkauft man alles, was man hat, um die Perle zu besitzen. Dieses Reich läßt sich finden. Man kann es nicht erarbeiten, man kann es auch nicht erzwingen, aber man kann es finden. Dies Reich ist nach dem Vaterunser eben ein Gebetswunsch: dein Reich komme. Es geht um das Reich Gottes, wenn es um die Menschlichkeit des Menschen geht. Es geht um die Freiheit der Welt, wenn es um die befreiende Macht der Herrschaft Gottes geht. Das heißt, das Reich Gottes ist nicht eine Sache, von der man so mal reden kann: ganz interessant, wie Jesus sich das vorgestellt hat. Sondern bei dem Reich Gottes reden wir von dem, was uns am meisten und am dringendsten auf den Nägeln brennt, daß diese grauenhafte Geschichte der europäischen Revolution ein Ende findet, ein Ende findet in der Freiheit, die Freiheit bleiben kann, in der Gerechtigkeit, die nicht umkippt in die äußerste Ungerechtigkeit. Von diesem Reich sagt Jesus auf die Frage des Pharisäers: Wann kommt es denn endlich? — so fragen wir ja wohl auch, wenn wir begriffen haben, worum es geht im Reich: Wann kommt denn das Reich nun endlich? — auf diese Frage sagt Jesus: Es ist mitten unter euch, was fragt ihr eigentlich viel? Es ist mitten unter euch! Das ist nicht nur hier, sondern im ganzen Neuen Testament die Meinung: Da, wo Jesu Wort, wo seine Gegenwart einer Generation geschieht, 195

da ist das Reich, da lebt das Reidi, da kann das Reich Gestalt gewinnen. Das ist das Erste. Das Zweite ist das: Jesus sagt: Dieses Reich kommt nicht dadurch, daß man dies oder das sehr genau beobachtet, und es kommt auch nicht so, daß man sagt: Hier ist es, da ist es. Das heißt, dieses Reich kommt in einer tiefen Verborgenheit. Wenn Jesus sagt, das Reich ist mitten unter euch — hier, wo ich stehe, da ist das Reich — dann war das ja für die meisten Umstehenden völlig unbegreiflich. Denn wenn man diesen Jesus ansah, was war das schon für ein Mann? Er war nicht gepflegt und wohl halb verkommen. An ihm war nichts Besonderes zu sehen. Verborgen unter der eigentümlichen Gestalt dieses Wanderpredigers war das Reich da. Seitdem aber ist es da: verborgen unter der eigentümlichen Gestalt der Kirche. Was ist schon diese Kirche? Aber diese Kirche ist wie dieser Jesus, Ort des Reiches. So lange und sofern und wo in dieser Kirche und durch diese Kirche dieser Jesus laut wird, da ist dieses Reich. Aber was heißt schon Kirche? Wir müssen doch wohl sagen: Wir Christen sind als Christen Gegenwart des Reiches. Das ist ungeheuerlich, aber es ist wohl so. Damit wissen wir auch, wie verborgen das Reich ist, wie verborgen wir es halten, wie unbeteiligt wir tun können. Gleichwohl als Christen sind wir im Aufgang der Möglichkeit des Reiches für die Welt. Wenn das wahr sein sollte, dann ist diese Geschichte der europäischen Revolutionen in den letzten zweihundert Jahren etwas Fürchterliches für uns Christen. Dann ist das eine flagrante Anklage gegen uns. Warum habt ihr denn eigentlich die Erwartung der Gerechtigkeit immer wieder in Ungerechtigkeit umschlagen lassen? So muß man das wohl sagen. Denn wenn es so ist, daß das Reich da ist, wo das Wort dieses Herrn ist, wenn das Reich also da ist, wo das Wort dieses Herrn zur Sprache kommt, und das heißt Kirche, wenn das Reich da ist, in denen, über denen das Wort gesprochen ist als Wort der Taufe, über den Christen, wenn das ist — und das kann gar nicht anders sein — dann kommt die große Erwartung der Welt und ihr Ruf nach der Freiheit und dem Frieden und der Gerechtigkeit als eine unendliche Anforderung auf uns zu. Sie kommt nicht so, daß wir nun Programme machen sollen für die Welt, daß wir Christen riesengroße Proklamationen machen müßten, nein, so nicht. Mit den Proklamationen passiert überhaupt nichts. Sondern so, daß wir da, wo unsere Ehe lebt, und da, wo wir mit unseren Kindern leben, und da, wo wir an unserer Berufsstelle leben, ein Stück Freiheit und Gerechtigkeit und Friede inkorporieren. Nicht in den großen Dingen also, sondern in den kleinen, alltäglichen 196

Dingen, wo es um die eheliche Treue, wo es um die Liebe zu den Kindern, oder wo es um die Güte in der Erziehung, oder wo es um die tiefe Menschlichkeit im Miteinander der Kollegenschaft geht, da kommt's drauf an. D a wird das Reich geboren. D a wird die große Erwartung der Freiheit grundgelegt und basiert. Dies Reich steht nicht in Resolutionen oder Programmen. Dies Reich lebt in Jesu Wort, Werk und Person und in dem Geschehen, in dem dieses Wort und dieses Werk und diese Person lebendig wird. Vor der Welt und f ü r die Welt. W o also Christen ihr Christsein leben oder wo Christen als Christen in der Welt arbeiten, lieben und sterben. Dieses Kommen des Reiches aber ist zugleich seine Verborgenheit. Aus dieser Verborgenheit heraus aber fragen wir weiter, wann es denn zur Verwirklichung kommt. Auch darauf sagt unser Text vom Tage des Menschensohnes. Aber wie kommt dieser große Tag des Menschensohnes? U n d dieser Tag des Menschensohnes kommt wie das Reich eben nicht so, daß man sagt, siehe hier, siehe da. Sondern er kommt wie der Blitz. Was heißt das? Das erklärt Jesus durch den Hinweis auf N o a h und auf Lot. Es war so, daß die Menschen so ihrem Leben nachgingen, wie wir das auch tun. Sie kauften, sie verkauften, sie freiten, sie ließen sich freien, sie pflanzten, sie bauten, sie taten dies und taten jenes und waren mit ihrer Welt befaßt als gute Beamte, als gute Arbeiter und gute Parteigenossen und als was alles. U n d da ging N o a h in die Arche — keiner hat das bemerkt. Wer soll das schon bemerken, wenn irgendwo — im Weltwinkel da in Palästina — N o a h in die Arche geht — und schon war die Sintflut da. So war es bei Lot auch. Was heißt das eigentlich? Das ist doch eine komische Sache? D a leben die Menschen in Sodom und sind tüchtig und bemühen sich um dies und das und auch um Reformen, und dann ging Lot eines Tages heraus, und da war's schon passiert. U n d sie kamen alle um. Diese Bilder von N o a h und Lot in bezug auf das Kommen des Reiches meinen dies: die Menschen, die ihr Menschsein dadurch bewähren wollen, daß sie in der äußersten Erfüllung ihrer Pflicht, in der unablässigen Hingabe an ihre Arbeit, in der klaren Verantwortlichkeit f ü r jeden Tag ihr Leben führen, die sind in dieser Hingegebenheit an die Welt in dieser ihrer Weltverlorenheit blind f ü r das, worauf alles ankommt. Sollen wir denn etwa unsere Pflicht nicht tun? Nein, so wohl nicht. Sondern es geht darum, daß wir diese unsere Pflicht, dieses unser Tag f ü r Tag Dasein f ü r unsere Arbeit, dieses mit unseren Frauen, mit unseren Kindern Umgehen, daß wir dieses ganze alltägliche Dasein in seiner Größe und in seiner Mühsal unterfangen, durchleuchtet, ver197

tieft sein lassen auf das Innehalten in der Erwartung des Reiches. Daß wir in, mit und unter unserer Arbeit und unserer großen Liebe und unserer großen Mühsal den Kopf und das Auge und das Ohr freibehalten für den, der da kommt. Darum geht's. Eben jenes Geheimnis, von dem wir geredet haben, daß der Mensch seine Menschlichkeit nur bewahren kann, wenn er über sich selbst hinausschreitet auf den hin, der nicht Mensch ist, nämlich auf Gott. So ist es hier. Die Leute da in Sodom, die völlig befaßt waren mit ihrer Umwelt, sie kamen alle um. Was wir mit diesem Text für diesen 2. Advent sehen lernen, das ist die tiefe Bedeutung der wartenden Zuwendung zu Gottes Kommen. In dieser Wendung über uns selbst und unsere Belange hinaus wird die Menschlichkeit unseres Menschseins abgesichert oder lebt das Reich mitten unter uns. Ohne das Reich gelingt unsere Menschlichkeit nicht. Ohne unsere Wendung zu Gottes Kommen gelingt unser In-der-Welt-Sein nicht. Der Advent stellt das tiefe Geheimnis und die frohe Gewißheit des verborgenen Reiches vor uns. Christen leben im Weltadvent Gottes.

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Glaubensanfechtungen Quasimodogeniti 17. April 1977 1. Petrus 1,3-9 Gelobet sei Gott und der Vater unseres Herrn Jesu Christi, der uns nach seiner großen Barmherzigkeit wiedergeboren hat zu einer lebendigen Hoffnung durch die Auferstehung Jesu Christi von den Toten zu einem unvergänglichen und unbefleckten und unverwelklichen Erbe, das euch bewahrt wird im Himmel, die ihr aus Gottes Macht durch den Glauben bewahrt werdet zur Seligkeit, die bereit ist, daß sie verwirklicht werde zur letzten Zeit. In derselben werdet ihr euch freuen, die ihr jetzt eine kleine Zeit, wenn es sein soll, traurig seid in mancherlei Anfechtungen, damit euer Glaube rechtschaffen und viel köstlicher erfunden werde denn das vergängliche Gold, das durchs Feuer bewährt wird, zu Lob, Preis und Ehre, wenn nun wirklich wird Jesus Christus, welchen ihr nicht gesehen und doch lieb habt und nun an ihn glaubet, wiewohl ihr ihn nicht sehet und werdet euch freuen mit unaussprechlicher und herrlicher Freude und als Ziel eures Glaubens davonbringen aller Seelen Seligkeit.

Die Osteroktav geht zu Ende. Die in der Osternacht Getauften hielten an dem heutigen Sonntag ihren Einzug in die Kirche und nahmen zum ersten Mal am Gottesdienst der Christen Teil. Da sind sie — quasi modo geniti — wie eben Geborene. Und sie werden begrüßt in dieser Epistel: Gelobt sei Gott und der Vater unsers Herrn Jesus Christus, der uns nach seiner großen Barmherzigkeit wiedergeboren hat zu einer lebendigen Hoffnung durch die Auferstehung Christi. Das ist der Gruß der Kirche an die Christen, an die eben Wiedergeborenen, der Gruß der Gemeinde, die von Ostern herkommt. Ostern ist ja doch immer irgendwie wie eine Wiedergeburt. Das ganze Jahr hindurch und zumal im Winter, da ist all das Sterben und alle die Todesgedanken und all das Nicht-mehr-Aus-und-Ein-Wissen. Alles ist so grau und häßlich und riecht nach Verwesung und nach nichts weiter. Aber dann kommt Ostern. Und Ostern heißt, daß all dieser Todesgeruch nicht wahr ist. Wahr ist die Auferweckung Jesu. Wir wissen nicht genau, was das ist. Aber wir wissen, Jesus ist wieder da gewesen, und über sein Sterben hinaus ist er nicht nichts. Zu199

mal: er, er der Gekreuzigte, ist nicht nur in der Erinnerung, nicht nur in der Gemeinde, sondern er ist lebendig da. Mag das heißen, was das wolle. Er ist lebendig da als einer, der uns, die wir an ihn glauben, umsteht und der uns dort jenseits der Pforte des Todes erwartet, und der uns gewiß macht, daß nicht alles aus ist, wenn wir sterben, sondern daß es mehr gibt als dies kümmerliche und lächerliche Leben — daß es mehr gibt. Wir wissen ja nicht genau, was das ist. Das ist Gott, das ist er, Jesus Christus, das ist er, der Heilige Geist. Das ist das Ganze vor allem einzelnen und hinter ihm, das ist das Leben vor allem Sterben und vor aller Krankheit und hinter allem. Und — das sind wir über unser irdisches Dasein hinaus. Die Gemeinde grüßt die jungen Christen mit diesem Lobpreis: Gelobet sei er, Gott, der uns wiedergeboren hat zu dieser lebendigen Hoffnung, zu dieser Hoffnung, die da nicht nur in die Zukunft hineingeht, sondern die vor allem in der Vergangenheit ruht, wo Jesus auferstanden ist. Da ruht die Hoffnung. Von da aus erhebt sie sich und weist uns voraus in Gottes Bereich — über unser eigenes Sterben hinaus ins Leben. Das ist eine ganz unerhörte Sache, daß es so sein kann, daß in dieser Welt, so wie sie ist — und darüber brauchen wir ja nicht lange zu reden, wie sie ist, das wissen wir ja alle — daß in dieser Welt, so wie sie ist, Menschen sein können, die mit klarer Überzeugung davon leben und es sagen können: Tod ist nicht das Letzte! Vergänglichkeit ist das Vorletzte und eigentlich Uninteressante. Wichtig ist etwas anderes, nämlich dieses Leben. Das heißt, daß, wie unser Text fortfährt, das unverwelkliche und unvergängliche Erbe, das uns bewahrt ist, verborgen ist im Himmel. Aus dieser Verborgenheit heraus ist es bereit; bereit, daß es verwirklicht werde zur letzten Zeit. Die Vorstellung ist die, daß dieses Heil oder diese Seligkeit, wie Luther übersetzt, daß diese Seligkeit bei Gott fertig für uns daliegt wie ein Gewand. Und dann in der letzten Zeit über unser Sterben hinaus wird es verwirklicht. Da kommt es auf uns zu. Das ist das Erbe. Und dieses Erbe wartet also auf uns. Es wird für uns bewahrt. Es ist vor unseren Blicken noch verborgen in dieser Bewahrung. Vielleicht ist es gut, daß es bewahrt ist, sonst würden wir auch das noch vernichten. Es wird bewahrt vor unserem Zugriff dort bei Gott, damit es dann Wirklichkeit werde in der letzten Zeit — diese bereite Seligkeit oder dieses bereite Heil. Das sind ja alles so Vokabeln und Begriffe, die wir nur ahnend hinweisend mit Inhalt füllen können. Was ist das: Seligkeit? Ja, das ist eine riesige Freude. Worüber denn? Wohl über Gott und über uns bei Gott — vielleicht Heil? Ja, was ist Heil? Zunächst ist Heil ganz 200

direkt: Alles das, was wir zerstört haben in unserem Leben, ist wieder heil da, und wir selbst wohl auch, aus allen den Zerfetzungen, die wir uns selbst angetan haben. Dann sind wir wieder heil da. Das ist wohl der Grundverstand. Aber es ist ja mehr, es ist mehr gemeint, es steckt noch mehr dahinter. Alle diese Begriffe wie Seligkeit, Heil und Erlösung sind wie ausgesandte Pfeile auf etwas, was wir nicht in die Hand nehmen können. Es ist bewahrt vor uns bei Gott, daß wir es nicht in die Hand nehmen können. Aber wir können hinweisend sagen, was damit gemeint ist. Es ist nicht dies Sterben, es ist nicht diese Kümmerlichkeit, es ist nicht diese Verlogenheit, nicht dieses merkwürdige welthafte heuchlerische Wesen. Was es alles nicht ist, das wissen wir. Aber wir sind so befangen in unserem welthaften Dasein, daß wir das, was es nun positiv ist, eigentlich nicht sagen können. Oder wir sagen Gott und Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Barmherzigkeit Gottes. Dann wissen wir wieder, wovon die Rede ist. Das heißt, von uns, ja von uns ist die Rede, insofern wir hier ein ganz normales menschliches kümmerliches Dasein führen und dann in die bereite Seligkeit, in das bereite Heil einsteigen können, das Gott für uns bereitet hat. Ja, sagt unser Text, in dieser Zeit, in dieser letzten Zeit, da werdet, ihr euch freuen, so übersetzt Luther. Im griechischen Text steht da ein Wort agalliasis = Freude oder Jubel. Dieses Wort wird im Neuen Testament da verwendet, wo über den Tod hinaus die Welt von Gott und in Gott in Ordnung kommt. Da wird dieser Jubel verwendet. Also in diesem Jubel werdet ihr dasein, die ihr jetzt eine kleine Zeit, wenn es sein soll, traurig seid in mancherlei Anfechtungen. Das ist ja so. Diese ganze Geschichte mit dem Heil und der Seligkeit und der Auferweckung und Auferstehung, der Erlösung — das sind alles Größen, die auf uns warten, oder wir auf sie. Und jetzt in diesem Leben ist das alles noch nicht in der Wirklichkeit oder in der Verwirklichung begriffen, sondern wir sind jetzt noch in vielerlei Anfechtungen. Das ist ja wahr. All dieses Kranke um uns herum und all das Schlechte in uns und um uns herum, und all das tiefe Mißverstehen, mit dem wir einander begegnen und einander wehtun —, all das. Eine kurze Zeit, sagt unser Text, nehmt das nicht so furchtbar ernst. Das ist nicht das Letzte. Das ist wirklich nicht das Letzte. Aber das ist leicht gesagt und schwer getan. Denn wenn einem jemand wehtut durch ein Wort, durch eine Handlung, durch eine Nichtachtung, dann soll man sich das mal sagen, das ist ja nur eine kleine Zeit, nimm das nicht so ernst. Das ist leicht gesagt, aber schwer getan. Leicht gesagt deswegen, weil es gesagt wird im Horizont die201

ses unglaublichen Jubels, dieses nichtendenden Lebens, dieser unendlichen Barmherzigkeit. In diesem Horizont, wenn man von hier aus denkt, von dem ewigen Leben Gottes, von der ewigen Seligkeit, wenn man von hier aus denkt, dann sind diese Anfechtungen wohl nur eine kurze Zeit. Es ist zwar schwer, aber geht vorüber. Der Horizont, das was uns erwartet dahinten, das ist Leben, Seligkeit, Freude, Wahrheit, Liebe. Und zu diesen Anfechtungen und Versuchungen gehört für die Christen, die zu dieser Zeit in der Gemeinde des 1. Petrus-Briefes in die Gemeinde eingeführt wurden, ja auch schon die Verfolgung des christlichen Glaubens. Der 1. Petrus-Brief mit seinen Tauf predigten gehört wohl etwa in die Zeit um 110 nach Christus. Und in dieser Zeit hatten die Verfolgungen der Christen schon begonnen. Im 1. PetrusBrief wird überall sichtbar, daß diese Gemeinde schon unter der unmittelbaren Bedrohung durch den römischen Staat lebt. Und daß diese Gemeinden, die hier reden, schon etwas davon wissen, was es heißt, um seines Glaubens willen gepeinigt, geschlagen, ins Gefängnis geworfen und erschlagen zu werden. Das gehört auch dazu. So ist das ja hier bei uns in der Bundesrepublik nicht. Bei uns in der Bundesrepublik sieht das anders aus. Hier sieht es so aus, daß wir eigentlich immer wieder nicht ganz begreifen können, warum so viele Menschen unseren christlichen Glauben für töricht, für ein Märchen oder vielleicht auch für völlig veraltet halten. Das können wir schwer begreifen. Wir können schwer begreifen, wieso man diesen Jesus von Nazareth und das, was er getan hat, nicht wahrnehmen kann. Und das ist nun ja nicht nur eine Krankheit der Neuzeit, das war schon immer so. Das war im Mittelalter oder zur Zeit Luthers auch nicht anders, wie es im Barock oder in der Aufklärungszeit ebenso geschah. Wir können gar nicht erwarten, daß die ganze Welt christlich wird. Das ist auch wahrscheinlich gar nicht der Sinn der Sache. Aber das ist auch so eine Anfechtung, daß wir uns fragen, wie ist das bloß möglich, daß diese Welt mit ihren Nöten an dieser Botschaft vorbeigeht, von der wir meinen, diese Botschaft hätte genau die Dinge zu sagen, die wir heute zum Beispiel im Bildungsbereich oder im politischen Bereich brauchen, die wir dringend brauchen. Aber das wird nicht gesehen, kann vielleicht auch nicht überall und soll vielleicht gar nicht überall gesehen werden. Aber eine Anfechtung ist das schon. Aber eine kurze Zeit — laßt euch durch diese Anfechtungen nicht niederdrücken, so daß ihr wie geprügelte Hunde dahingeht. Das haben wir als Christen nicht nötig. Ebenso wie wir im persönlichen Be202

reich, im Bereich der vielen Lügereien, persönlichen Kränkungen, die so wehtun, und der Krankheiten, der leiblichen Krankheiten und des Sterbens um uns herum nicht so tief bedrückt sein dürfen und sollen, daß uns das helle Licht dieser Hoffnung verstellt wird, so dürfen und sollen wir's auch dort nicht sein, wo uns als Christen offene Ablehnung höhnt oder Mißverständnis, Unverständnis begegnet. Denn, nicht wahr, wir als Christen, sind so unglaublich begnadete Leute, daß wir nämlich im Horizont dieser ewigen Lebendigkeit dasein können, daß wir die Dinge, die uns so alltäglich begegnen, auf die Waage legen und auf der anderen Seite liegt dieses, was unser Text Heil oder Seligkeit nennt. Und da wollen wir mal sehen, was schwerer ist und was mehr wiegt. Freilich, sagt unser Text, dieses ist eine harte Probe, damit unser Glaube rechtschaffen und köstlicher erfunden wird als das vergängliche Gold, das im Feuer bewährt wird. Wir haben's hier schon mit einer sehr ernsthaften Feuerprobe zu tun, mit einer Probe, die nur verglichen werden kann mit dem im Feuer Herausholen des Edelmetalls. E r meint wohl gar, diese ganzen Anfechtungen seien dazu da, damit wir uns mehr und mehr mit diesem Leben vertraut machen gegenüber den ganzen Toden, in denen wir da sind. E r meint wohl, man könnte das so sehen, daß diese Anfeindungen öffentlicher Art in bezug auf das Christentum, aber auch diese, womit wir den anderen Menschen immer wieder wehtun, alle diese Kümmerlichkeiten und Häßlichkeiten, daß das Ereignisse sind, die unsern Glauben auf die Probe stellen sollen, damit er dann bewährt wird. Was heißt das, auf die Probe stellen? Das heißt, daß wir in diesem ganzen alltäglichen Unsinn, in dem wir da sind, immer wieder hindurchgreifen zu dem großen Horizont dieser Lebendigkeit, dieser Freude und dieses Jubels. Es kann so sein, daß wir durch diese ganze Welthaftigkeit, die wir sind, und für die wir ja auch dankbar sind und dankbar sein sollen — das ist ja auch was Wunderbares — und die Versuchung der Herrlichkeit dieser Welt ist vielleicht noch viel tiefer als die Versuchung durch die Bosheit — daß wir durch diese ganze Welthaftigkeit, in der wir da sind, immer wieder hindurchgreifen zu ihm, Gott, der uns befreit hat zu der lebendigen Hoffnung durch die Auferweckung Jesu Christi, der von uns nicht gesehen wird und den wir doch lieb haben, wie unser Text sagt. Die Gemeinde des Petrus ist eben schon eine Gemeinde der dritten, vierten Generation, die Jesus nicht mehr gesehen haben, wie wir auch, und ihn doch liebhaben. In dieser Gemeinde wird das noch lebendig als ein Mangel empfunden: Wir haben ihn nicht mehr gesehen. Die 203

erste Generation konnte noch sagen: Was wir gesehen haben, das bezeugen wir. Diese müssen sagen: Wir haben's nicht mehr gesehen, und müssen doch glauben. Und wo das der Fall ist und ihr an ihn glaubet, wiewohl ihr ihn nicht sehet, da werdet ihr euch freuen mit herrlicher Freude. Ihr werdet als Ziel eures Glaubens davonbringen eurer Seelen Seligkeit, übersetzt Luther. Das Ziel des Glaubens, das durch die viele viele Freude des Glaubens in all den vielen vielen Kümmernissen dieser Welt sich mehr und mehr als das Ziel heraushebt, ist eurer Seelen Seligkeit oder das Heil der Seelen. Ja, was Seele ist, weiß ich nicht. Seele heißt Leben, aber Leben nun nicht überhaupt, sondern dieser Begriff psyche, im Griechischen auch Leben, ist jedenfalls die individuierte Lebendigkeit, die einzelne Lebendigkeit, die unverwechselbare Lebendigkeit des einzelnen. Darauf kommt es offenbar an bei dem Ziel des Glaubens. Es geht bei dem Ziel des Glaubens nicht um Leben überhaupt oder Seligkeit überhaupt oder Heil überhaupt oder irgend etwas Allgemeines. Sondern es geht um etwas, was ganz speziell diesem mir oder dir als dem einzelnen zukommt. Das ist ja von der Taufe an das Spezifikum des christlichen Glaubens, daß der einzelne als dieser einzelne unverwechselbar als er selbst in den Blick Gottes gerät und von ihm, Gott, umfangen, gemeint, begleitet, geliebt wird: Er, dieser ganz bestimmte Mensch, wir diese ganz bestimmten Menschen, ich nicht als Mensch überhaupt, sondern ich als dieser ganz bestimmte Mensch. Deswegen steht bei der Taufe das Wort: Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein. Der Name, der unverwechselbare Name, eben diese Unverwechselbarkeit ist es, auf die es Gott ankommt, und die dieser Gott meint und umgreift. Das heißt also, bei dem Horizont, von dem wir geredet haben, auf den unsere lebendige Hoffnung sich ausrichtet, da geht es nicht um Lebendigkeit überhaupt oder Leben überhaupt, sondern da geht es um mich und dich und jeden einzelnen, und da geht es um die Besonderheiten unseres Wesens. Damit geht es auch um unsere Gestalt. Damit geht es um das, was wir speziell sind, haben oder nicht haben. Wir sind gemeint. Das Ziel des Glaubens ist, daß wir als die wir sind, als diese Eigenart, die wir darstellen, in diesen Bereich dieser Lebendigkeit geraten, und in dieser Lebendigkeit und mit dieser Lebendigkeit da sind. Jeder einzelne also ist mit der Eigenart, mit der kostbaren Eigenart seines Daseins wie mit den ganzen Schwierigkeiten seines Wesens von diesem Gott geliebt, von diesem Gott wahrgenommen, umfangen, und er kann und wird über seinen Tod hinaus in dem Auferweckungsieben Jesu selbst lebendig dasein. 204

Der Glaube also hat ein Ziel. Dieses Ziel des Glaubens ist Gott. Aber damit sind wir selbst im Ziel, denn Gott besagt diese große Freude auf dem Grunde der Erweckung Jesu. Wir selbst stehen im Ziel in der Eigenart, in der wir da sind als die, die Gott liebhat. Gott liebt nicht im allgemeinen, Gott liebt speziell, er liebt ganz Bestimmte — uns als ganz Bestimmte. Das ist eine große Sache. Denn wir wissen ja, was an uns dran ist. Unsere ratio, unsere Vernunft, die verallgemeinert immer und sucht das Heil im Allgemeinen. Der Glaube aber sucht das Heil im Detail, im Speziellen, im einzelnen. Darum ist es denn ja auch mit dem Glauben so, daß er sich nicht bei allgemeinen Dingen zufriedengeben kann, sondern das einzelne im Alltag, die Kleinigkeit, das einzelne kleine Wort, die einzelne Geste als das Wichtigste nimmt. Der Glaube braucht keine großen allgemeinen Aufschwünge, sondern diese Kleinigkeiten. Da liegt's, da ist die Lebendigkeit im Glauben, die den Menschen zum Ziel des Glaubens führt und die in ihrem Dasein ihn selbst immer spezifischer macht, ihn selbst immer mehr herauskommen läßt und ihn damit in die Arme dieses Gottes hineinführt als den, der in all den Kümmerlichkeiten dieser Welt dennoch etwas weiß von dem Jubel dieses Lebens und der, das ist ja nun die eigentliche Schwierigkeit, der da, wo er in tiefe Dunkelheiten gerät — seien es Dunkelheiten des körperlichen Versagens, seien es Dunkelheiten, wo uns jemand sehr wehtut —, der es in diesen Dunkelheiten wieder und wieder fertigbekommt, hindurchzugreifen zu dieser Freude. Das ist ja wohl das eigentliche Geheimnis. Ein Mensch, der es in den Bedrücktheiten dieses Daseins fertigbekommt, den Gedanken zu fassen: Ach ja, das sind ja die Anfechtungen dieser kurzen Zeit, nimm das nicht so wahnsinnig ernst, denn dahinter steht ja noch etwas ganz anderes. Dahinter steht das Ziel des Glaubens: unserer Seelen Seligkeit.

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Verzeichnis der Bibelstellen Seite Psalm 18,25-28 23 66 90 93 113

40 96 125 ff 103 f 134;138 118 ff

Sprüche Salomonis 3,34

178

Jesaja 6,5 53

185 99

Arnos 3,2

113

Weisheit Salomonis 11,26

166

Matthäus 4,1-11 5,3 5,48 7,1-5 7,21 8,23-27 11,2-10 16,21-26 25,1-13

59 f 123 184 37 ff 172 ff 134 ff 140 65 ff 103

Lukas 7,47 12,35-40 15 17,20-24 18,9-14 a 18,31—43

48 103 ff 185 192 ff 163 ff 73 ff

Seite Johannes 2,13-22 10 14,5-15 15,26-16,4 16,5-15 Römer 3,21-26 6 13,8-10

154 96 81 ff 46 18 ff 154 ff 99 134

1. Korinther 3,11-23 8,1-6 13 15,1-19

31 ff 110 ff 73 89 ff; 164

2. Korinther 3,17 5,10

24 ff 40

Epheser 5,1-5; 8-14

183 ff

Philipper 4,4-7

140 ff

Philemon

100

1. Petrus 1,3-9 2,18-25 4,7-11 5,5-11

199 96 46 177

ff ff ff ff

2. Petrus 3,3-14

103

Hebräer 4,14-17 11,1 13,9

59 ff 148 ff 54 ff

207

Verzeichnis der Sonntage im Kirchenjahr Seite 2. Advent (Lk. 17, 20-24) 4. Advent (Phil. 4,4-7) 4. Advent (Hebr. 11,1) 5. n. Weihnachten (Hebr. 13,9) 2. S. n. Epiphanias (Joh. 14,5-15) 2. S. n. Epiphanias (Ps. 66) 4. S. n. Epiphanias (Mt. 8,23-27) Estomihi (Lk. 18,31-43) Invocavit (Hebr. 4,14-17) Invocavit (Mt. 16,21-26) Oculi(Eph. 5,1-5; 8 - 1 4 ) Quasimodogeniti (1. Kor. 15,1-19) Quasimodogeniti (1. Petr. 1,3-9) Misericordias Domini (1. Petr. 2,18-25) Exaudi (Joh. 16,5-15) Exaudi (1. Petr. 4,7-11) Pfingstsonntag (2. Kor. 3,17) I. S. n. Trinitatis (1. Kor. 8,1-6) 3. S. n. Trinitatis (Mt. 7,1-5) 3. S . n . Trinitatis (Ps. 113) 3. S. n. Trinitatis (1. Petr. 5,5-11) 8. S. n. Trinitatis (Mt. 7,21) II. S. n. Trinitatis (Lk. 18,9-14 a) Totensonntag (Lk. 12,35-40) Reformationsfest (1. Kor. 3,11-23) Reformationsfest (Rö. 3,21-26)

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192 140 148 54 81 125 134 73 59 65 183 89 199 96 18 46 24 110 37 118 177 172 164 103 31 154

Verzeichnis der „Sachen" A r m e und Elende 121 f, 166 f Autorität 179 Bekenntnis 32 Bibel - dramatische Texte 126 - p r o nobis 92 - U m g a n g mit 3 6 , 1 5 7 - Verkündigung 33 Botschaft - Plausibilität 34, 44, 92, 115 - Preislied Gottes 120 - soziale 122, 123, 169 Buße 140, 164-169, 185 Christen - auf dem unteren Wege 34, 67, 68, 7 8 , 1 2 8 , 1 6 2 , 1 8 8 , 1 9 1 - Bibel 33 - Charismata 50 - Fibel des Christseins 97 f, 101,115 - ganzer Mensch 94 f, 182 - Gelassenheit 50, 6 1 , 1 5 7 , 1 8 6 - G r u n d des 90, 98 - Heiterkeit 50, 140,169 - Jesu Werke tun 8 5 , 1 0 1 , 1 9 1 - Kreuzträgerschaft 69 - Leiden 79 - Liebesbewegung Gottes 26, 48,184 - loben Gott 123 - mündige 159 - rufen Gott in der N o t 131, 137 - Sachlichkeit 130, 141 - Sittlichkeit aus der Liebe 183-194 - Tempel des Geistes 33 - vorurteilsfrei 3 5 , 1 6 6 f - w a r t e n d e Menschen 105,198 - Weltgewinn 30, 35, 80,106, 142,151,162 - Zeugen 24, 52, 90, 142,174 Demut 177-182

Dreieinigkeit 2 8 , 5 2 Einzelne, der 204 Einübung 71, 100 Endzeit - Anbruch der Heilszeit 26, 45, 201 - Auferstehung der Toten 91 - das himmlische Mahl 107 - Ewigkeit 103 - jetzt 24, 134 - N ä h e des Endes 46, 105,138, 140 f Erkenntnis - gläubig 113 - rational 112 Evangelium 90, 93, 121 Fasten 71 f Freiheit - f ü r die Welt 22, 2 8 , 1 9 3 - Gesetzesfreiheit 2 9 , 1 1 1 - G r u n d der Möglichkeit 36, 130 - Vorurteilslosigkeit 35 - Z w a n g der Zeitlichkeit 105 Gebet - Erhörungen 87,131 - Erwecken Gottes 136 f - im N a m e n Jesu 87,172 f - Lebenserschließung 62,105, 142 f - liebende Hingabe 26 - Vernünftigkeit 47 - Welt-Sammlung vor G o t t 26, 131, 142 Gebote, zehn 174 f Geist - Bibel im Gebrauch 33 - der Wahrheit 21 - Jesus 22, 27, 33 Geist, heiliger 18 ff - Charismata 50 - Paraklet, Tröster 2 3 , 4 6 - Zeugnis 27

209

Gereditigkeit 20, 40, 69, 156 f, 193 Gericht 20, 3 2 , 4 2 - Tat/Tatfolge 40 Gewissen 101 Glaube 2 1 , 1 1 0 , 1 3 2 , 1 4 9 f, 159 f - einfaches Wissen 25, 90, 93, 159 - Freude 30 - Geschichte des 72 - Jesu Werke tun 86,183 f - lebendiger 156 - lobt Gott vor der Welt 119 - Selbstverneinung 68 - und die Taten Gottes 93 - und Verborgenheit Gottes 35, 57, 77, 80, 119 - Verantwortung im Glauben 93,98 - Vergewisserung 61 - Vertrauen 61, 77, 132,150, 157,160, 168 - Weltgewißheit 161 - Ziel 204 f Gnade 54 ff, 100 Gott - an sich 11 - D ä m o n e n 187 f, 189 - Daseinsnot/Gottesnot 77 - das Herz Gottes 5 7 , 1 7 6 - Ein-Gott-Glaube 110 f, 116 - Erkenntnis 112, 131 - Friede 144 - führt den unteren Weg 34, 67, 74, 78 f, 121, 128,162,188 - Furcht 130 - Gegenwart 20, 22, 23, 88, 92,134 - Gereditigkeit 156 - Gestalt 136 - Götter 114 - im Alltag 79, 143, 153, 169,181 - I s r a e l s 27, 74, 126 ff - kommt aus der Welt auf midi zu 40, 171,194

210

- Liebe Gottes 98 f, 101,157, 176, 181 - Nähe 25, 26,46, 52,61, 105, 140,151, 160,181 - N a m e 118 ff, 127 - Richter 40 f - Schöpfer und Regierer der Welt 2 0 , 2 1 , 1 1 6 , 121, 127,160 - s c h l ä f t 136 f - Sehen Gottes 120 - Unmittelbarkeit 83 - Vatergott 116 - Verborgenheit 57, 75, 80, 116,118,121,127,152 - Wille 173 f - Ziel und Sinn aller Dinge 46,116 - Zorn 104 - Zuwendung 76, 156,185 Gottesdienst - profanes Geschehen 35 f Hoffnung 93,150, 152,200 Jesus - Auferweckung 30, 90, 92, 164,199 - der Herr 24 f, 27 - der historische 19, 25, 57, 90, 98,152,153,159,196 - der kommende 1 0 7 , 1 4 0 , 1 5 2 - der Weg zum Vater 2 1 , 8 0 - ein Tollkopf 166 - Gegenwart Gottes 20, 82, 84 - Gerechtigkeit Gottes 156 - Glaube an 151 - Hirte und Bischof 96 - Hoherpriester 60 - Jünger Unverstand 74 f, 82 f - Kreuzigung 34, 35, 80, 99 - Leidensherausforderung 74 - Leidensweissagungen 66, 74 - Mehrdeutigkeit des historischen 31 f, 77 - Menschwerdung 56, 59, 149 - Passion 60, 65 f, 77 - Reich Gottes 195

- verkündigt sich nicht selbst 36 - vermittelt Gott 116, 184 - Vorbild 6 9 , 9 7 - Wille Gottes 173 Judenchristentum 31 Kirche - Gestalt 196 - hemmt Gott 69, 77 f - in letzter Bedrohtheit 135 - Konfession 32 - Macht der 155 - Schiffsbild 135 - Tempel des Geistes 33 - und Pietismus 78 - Worte an die Welt 4 3 , 1 3 6 , 1 7 4 - Zeugnis 25 Kreuz 34,74 Kritik 178 Lebens - angebot 190 - a n g s t 3 8 , 4 9 , 5 5 , 161 - erfahrung 83 - gelingen 175 - s i n n 47,55, 56, 161 f, 200 - struktur 175 Leben und Leben 70 f, 94,200 Liebe 26, 48 f, 73 f, 80, 86, 98, 112,134,138, 1 4 1 , 1 7 4 , 1 7 5 , 1 8 3 Passions - frömmigkeit 65, 71, 74 - zeit 59,65

Pfingsten 24 Planung 142 Reith Gottes 86,172 f, 192-198 Schenken 121 Seele 97,204 Selbstkritik 38 Sorge 142,180 Sünde 2 0 , 2 9 , 4 2 , 7 1 , 9 8 , 1 4 1 Taufe 204 Theologie 65 Tod - Sterben 103, 106,157, 190,200 - Todaustreiben 59 - Todesschicksal und Sterben 106 Tradition 56 - Grund des Evangeliums 90 - urchristliche 42, 68, 91,134 f Verantwortung 142, 179 Vergebung 22, 48 f, 141,143 Vollmacht - der Verkündigung 42, 43 - Jesu 84 Wechselseitigkeit der Welt 38, 39, 98,100 Weihnachten 149,154 Welthilfe aus Buße 41 Zeit - im Evangelium 90 - rechte Zeit 62 f, 178 - Zeitlichkeit 54, 58, 103 f - Zukunft 142,152

211

DAS

WERK

PAUL

TILLICHS

Das „Erbe Paul Tillichs" ist im deutschen Sprachraum in einmaliger Weise vorhanden. R u n d 7500 Seiten u m f a ß t bis jetzt das Werk Paul Tillichs in deutscher Sprache, wie es durch das Evangelische Verlagswerk Stuttgart im Laufe von zwei Jahrzehnten vorgelegt wurde. Es besteht aus 14 Bänden der Gesammelten Werke, aus der dreibändigen Systematischen Theologie, aus drei Folgen der sogenannten Religiösen Reden und aus bislang (1978) vier Nachlaßbänden. Zwei weitere Ergänzungsbände sind vorgesehen. Während in den fünf Teilen der Systematischen Theologie die Summe und die Krönung von Tillichs theologischem Schaffen vorliegt (1. Vern u n f t und Offenbarung, 2. Sein und Gott, 3. Die Existenz und der Christus, 4. Das Leben und der Geist, 5. Die Geschichte und das Reich Gottes), ist in den Gesammelten Werken (G.W.) einerseits die Vorarbeit f ü r das Tillichsche theologische System, andererseits jedoch der übergroße Reichtum der philosophischen und kulturellen Arbeiten dieses universalen Denkers vorhanden. „Die 14 Bände der G. W.", stellt Prof. Trillhaas fest, „sind fortan der Fundort f ü r alle jene Schriften, mit denen Tillich klärend und herausfordernd in das Gespräch der Zeit eingegriffen hat." Die G . W . sind vornehmlich nach sachlichen Gesichtspunkten gegliedert, entsprechend den Wirkungsbereichen des Theologen, Philosophen, Soziologen und Kulturkritikers. Tillichs Predigten bzw. „Religiöse Reden" liegen in drei Folgen vor. Ihr Inhalt und die Titel stehen in einer gewissen Analogie zu seiner Systematik: Folge 1: „In der Tiefe ist Wahrheit"; Folge 2: „Das Neue Sein"; Folge 3: „Das Ewige im Jetzt". „Die Predigt", schreibt Trillhaas, „kann überhaupt aus dem Werk Tillichs nicht hinweggedacht werden. Sie war f ü r ihn unmittelbarste Form der Aussage, persönlichstes Zeugnis, dergestalt, daß viele Vorträge Tillichs zur Predigt hin konvergieren, wie umgekehrt eben diese seine Predigt ganz und gar aus der K r a f t des Gedankens lebt." Die Bände I und I I der Ergänzungs- und Nachlaßbände enthalten Vorlesungen über die Geschichte des christlichen Denkens (eine Geistesgeschichte des Christentums). Im Band I I I sind „Die politischen Reden P. Tillichs während des 2. Weltkriegs" dokumentiert und in Band IV („Korrelationen") sind vor allem Arbeiten aus Tillichs letzten Lebensjahren gesammelt. Ein oder zwei Bände sind noch vorgesehen. Mit dieser gesamten Edition hat das geistige Erbe Paul Tillichs eine Gestalt gewonnen, die einen hervorragenden Platz im geistigen Schrifttum unserer Zeit beanspruchen darf. Einzelheiten über Titel, U m f a n g und Preis sind zu ersehen aus dem 40seitigen Tillich-Sonderprospekt. Bitte anfordern bei Evangelisches Verlagswerk, 7000 Stuttgart 1, Postfach 927.