Leben gegen die Zeit : Erinnerungen Zweiter Band : Eros
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Kurl Hiller

Leben gegen die Zeit [Eros] Mit Nachwort herausgegeben von Horst H. W. Müller

Rowohlt

Das Nachwort von Horst H. W. Müller folgt weitgehend der Einleitung zur Bibliographie Kurt Hiller (Hamburger Bibliographien, Band 6) Hans Christians Verlag, Hamburg, 1969

Schutzumschlag- und Einbandgestaltung von Werner Rebhuhn

1.-2. Tausend März 1973 © Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, 1973 Alle Rechte Vorbehalten Gesamtherstellung Clausen & Bosse, Ledc/Schleswig Werkdruckpapier von der Papierfabrik Peter Temming AG, Glückstadt/Elbe Printed in Germany ISBN 3 498 02822 7

«Nicht den Nächsten lehre ich euch, sondern den Freund. Der Freund sei euch das Fest der Erde und ein Vorgefühl des Übermenschen.» Friedrich Nietzsche («Also sprach Zarathustra»)

«Nichts was mir je war raubt die Vergänglichkeit.»

Stefan George («Die Lieder von Traum und Tod»)

I

Allgemeinbemerkung Im 87sten Lebensjahr stehend, beginne ich mit diesen Auf­ zeichnungen Mitte Dezember 1971. Ob mir beschieden sein wird, sie zu beenden, wird sich zeigen. Sollten sie in toto oder im Torso erscheinen, dann wird nach bürgerlichem Recht jedermann, doch unter geistigem Betracht nur der befugt sein, sie zu lesen, der den Band LOGOS, den ersten meiner Erinne­ rungen, gelesen hat. Denn ohne Kenntnis und Verständnis des in ihm Gesagten bliebe Band II höchstens halbverstanden, sein Gehalt geriete in eine ihn entstellende Beleuchtung. Er soll und wird jene Sphäre des menschlichen Seins betreffen, die sich zur Logos-Sphäre nicht etwa in Feindschaft befindet, aber von ihr, so man Betrachtung übt, getrennt sein will. Die Getrenntheit beider Sphären in der Kontemplation bedeutet keineswegs den psychologischen Unsinn, sie seien im Erle­ ben, im seelischen Prozeß, in der anthropologischen Wirk­ lichkeit des Einzelnen und der Gruppen ohne wechselseitige Kausalitäten; im Gegenteil: tatsächlich durchstrahlen, durch­ wabern, durchwogen, durchdringen sie sich, leider zu oft auf eine das Gerechte gefährdende oder gar zerstörende Art, manchmal freilich auf eine schöpferische und großartige. Man wird die schädliche Vermischung beider (philosophisch in der Romantik und im Irrationalismus, politisch im Nationalismus und Bellizismus) unerbittlich zu bekämpfen haben; man wird ihre schöpferische, ihre humanistisch-geniale Synthese (in 7

großer Dichtung, überhaupt in aller bedeutenden Kunst) aufs ergriffenste und dankbarste begrüßen. Unter den zahlreichen Zeitungszwergen, die meinen LOGOSband angeräuspert ha­ ben, war einer, der mir im Tone studienrädicher Überlegen­ heit beiehrsam vorwarf, ich hätte den Zusammenhang beider Kräfte und ihr Zusammenwirken nicht begriffen, ihre rezi­ proke Abhängigkeit aufs altmodischste verkannt. Das ist, wie wenn einem Theaterkritiker, der eine Monographie über die großen Bühnen seiner Zeit veröffendicht hat, eine über deren große Schauspieler, eine über die großen Dramatiker, vorge­ worfen wird, sein Grips habe nicht ausgereicht, zu erfassen, daß Dichter, Mime und Theaterchef in wechselseitiger Bezie­ hung stehen. Oder ein Wasserfachmann schreibt ein Werk über Flüsse, ein anderes über Meere, und ihm wird höhnisch die Frage vorgelegt, ob ihm unbekannt sei, daß die große Mehrzahl der Ströme im Meer endet. Daß ein Darstellender die Phänomene trennen muß, wenn er Wirrnis vermeiden will, gerade auch die kausal verknüpften und miteinander vergesellschafteten Phänomene, kapiert natürlich ein Affe nicht, dem der Sinn für Ordnung fehlt und der nur auf feuilletonistisch-muntere Buntheit aus ist. Den Plauschfritzen ärgert, daß ein zum Denken Berufener denkt, und er rächt sich, indem er ihn spießiger Flachheit zeiht. Traurigerweise fallen Verleumdungen dieserart nicht unter das Strafgesetz. Nun, die Dummdreistigkeit eines kleinen Thersites wird mich nicht hindern, auch weiterhin beide Bereiche: Logos und Eros, so sehr sie eine einzige Welt bilden, mittels jener Chemie der Begriffe voneinander zu trennen, ohne die der Betrachtende nicht auskommt. Ich beginne also. Und will um keinen Preis unterlassen, den Lesern zu verraten, daß zu ihnen ein Toter spricht. Man würde sich aber verhören, wähnte man, dieser Bekanntgabe ein Schluchzen entnehmen zu sollen oder gar ein schadenfrohes Lachen. Weil der Tod unumgänglich ist, würde Larmoyanz würdelos sein (davon zu schweigen, daß sie meinem Wesen stets fremd war); und andrerseits wird ein mit beethovenal8

nietzscheischer Leidenschaft das Leben bejahender, ja beju­ belnder Mensch den Pessimismus nicht mitmachen, der sich stellt, als sei es schick, in Vorwegnahme des Nichtseins ge­ genüber denen, die sind, den Erhabenen zu spielen. Solche Miene und Geste wäre schlichter Schwindel. Der Lebende hat recht (steht bei Schiller), und der Tote hat nichtmal unrecht, sondern noch weniger, denn er ist vollends ex und keine Per­ son mehr; er (und nicht der fade Mann beim überschätzten Musil) ist «ohne Eigenschaften». Die Doktrin von der «un­ sterblichen Seele» mag schön sein; trostreich sein kann sie bloß für Trottel, denn sie ist das hergeholteste, unbewiesenste Dogma der Menschheit - trotz Pfaffenschwatz und dem im Alter feige gewordenen Kant. Man begreife endlich: der Tod ist total. Schon 1967 habe ich mit dem Verlag vertraglich ausge­ macht, daß der Band EROS erst nach meinem Ableben erschei­ nen darf. Man akzeptierte den Wunsch sofort. Ich hegte ihn, obwohl gewisse böse Erfahrungen über die Spucklust öffentli­ cher Niemande zwei Jahre vor Erscheinen des LOGOS noch nicht vorlagen. Dafür lagen andere vor. Ich dachte an die Aufnahme älterer Schriften aus meiner Werkstatt, durch Klerikalismus und Materialismus, Mystizismus und Scheinlibera­ lismus, offenen oder verklemmten Nazismus - an die Aufnah­ me nicht etwa durch die Gesamtheit der Rezensenten, doch durch eine inferiore Vielheit unter ihnen, und ich mochte mei­ ne immerhin betagten Nerven keinesfalls der Strapaze ausset­ zen, vom Gift der Crapule berührt zu werden, das sie gerade diesmal fraglos ausspritzen würde. Mögen die Herrschaften ruhig spritzen! Aber erst, wenn ich unbin. Mich stört wenig, daß manch einer in jenem Entschluß «Empfindlichkeit» erblicken dürfte; in Wahrheit ist der Stoff empfindlich, den der Band hier formen will. Je empfindlicher er ist und je entschlossener ich bin, gerade in diesem Bereich nichts zu verschleiern, das Gewöhnliche nicht und schon gar nicht das Ungewöhnliche, das gemeinhin halbwegs Tolerierte nicht und schon gar nicht das trotz paragraphiertenFortschrit9

ten nachwievor von bescheuklappter Gemeinheit Perhorreszierte, desto entschiedener begehre ich, hier nicht als Lebendi­ ger zu reden, sondern als Toter. Hier; in andern Fällen lag Furcht mir fern. Just, als das Re­ den, staatsbürgerlich-trivial besehen, weit riskanter war, re­ dete ich, öffentlich. Ich habe über die Hauptmaterie des vor­ liegenden Buches fast 64 Jahre lang, ab März 1908 bis heute, mich wieder und wieder in Schriften und Vorträgen geäußert, nie zur Person zwar, sondern allemal zur Sache, doch auf eine Weise zur Sache, daß dem klugen Leser oder Hörer bezüglich der Person kein Zweifel blieb. Und eben, weil ich das, worauf es mir ankam, konzessionslos-radikal, aber ohne Bekennerauf­ dringlichkeit vorbrachte, wirkte ich in der Sache auf man­ chen und habe so, für mein Teil, zu jenem späten gesetzlichen Vemunftschritt in den Ländern der deutschen Sprache und den der deutschen Kultur verbundenen europäischen Staaten beigetragen, den für Frankreich und bald darauf für fast die gesamte romanische Welt schon Napoléons Erzkanzler Cam­ bacérès (1753-1824) durchgesetzt hatte. Der erste Deutsche, der über das Thema kämpferisch schrieb, mit Argumenten, die heute zum Teil nicht mehr annehmbar, zum Teil unverwüst­ lich sind und bestimmt von hervorragendem Mut zeugen, war der hannöversche Assessor Carl Heinrich Ulrichs (1826-95); «Vindex», seine Initial-Kampfschrift, erschien 1864; es hat 105 Jahre gedauert, bis, was sie forderte, wenigstens im Kem bei uns erfüllt wurde. In Finnland und Österreich dauerte es noch länger; um Jahre, meist Jahrzehnte uns voraus waren Dänemark, Großbritannien, die Niederlande, Polen, Schweden, die Schweiz, die Tschechoslowakei. An der Spitze der auf die­ sem Gebiet rückständig-rückschrittlichen Mächte marschiert die Sowjetunion, im Bunde mit drei Balkanstaaten und mit Israel. Worin Lenin ein Befreier war, wurde Stalin zum ah­ nungsarmen Restaurator der Unterdrückung, und seine Nach­ folger haben daran bis heute nichts geändert. Doch ich plane keineswegs, nach dem