Lautsphären des Mittelalters: Akustische Perspektiven zwischen Lärm und Stille [1 ed.] 9783412513436, 9783412513412

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Lautsphären des Mittelalters: Akustische Perspektiven zwischen Lärm und Stille [1 ed.]
 9783412513436, 9783412513412

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MARTIN CLAUSS GESINE MIERKE ANTONIA KRÜGER (HG.)

Lautsphären des Mittelalters Akustische Perspektiven zwischen Lärm und Stille

BEIHEFTE ZUM ARCHIV FÜR KULTURGESCHICHTE IN VERBINDUNG MIT KARL ACHAM, BERNHARD JAHN, EVA-BETTINA KREMS, FRANK-LOTHAR KROLL, TOBIAS LEUKER, HELMUT NEUHAUS, NORBERT NUSSBAUM, STEFAN REBENICH

HERAUSGEGEBEN VON

KLAUS HERBERS

BAND 89

LAUTSPHÄREN DES MITTELALTERS Akustische Perspektiven zwischen Lärm und Stille

Herausgegeben von Martin Clauss, Gesine Mierke und Antonia Krüger

Böhlau Verlag Wien Köln Weimar

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Kyeser, Conradus: Bellifortis, Böhmen (?), um 1430. © Bayerische Staatsbibliothek München, Clm 30150, fol. 28r. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-51343-6

Inhalt

Lautsphären des Mittelalters. Einleitende Bemerkungen zu einem explorativen Sammelband . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1. Funktion von Lautsphären

Klangräume des Agonalen bei italienischen und oberdeutschen Pferderennen des 15. und frühen 16. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Christian Jaser

Muhende Kühe und plappernde Priester. Die Wahrnehmung akustischer Störungen im Umfeld humanistischer Gelehrsamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Julia Samp

Auditive Strukturen der Reformationszeit. Potentiale einer historischen Akustikanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Antonia Krüger

Akustische Phänomene in den Chronica maiora des Matthaeus Parisiensis. Eine Spurensuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Miriam Weiss

Von brüllenden Löwen und murmelnden Bächen. Tierlaute und andere Geräusche in antiken und frühmittelalterlichen Listen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Achim Thomas Hack

Ludwig der Fromme und der Nachhalleffekt. Akustisch-visuelle Rekonstruktionen öffentlicher Redesituationen am Beispiel der Aula regia in Ingelheim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Boris Gübele

2. Wahrnehmung von Lautsphären

Klang – Raum – Bewegung. Wahrnehmungsweisen lautlicher Sphären in Konrads von Würzburg Partonopier und Meliur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Almut Schneider

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Inhalt

Den Herrscher hören. Zu akustischen Phänomenen im Reinfried von Braunschweig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Gesine Mierke

Minneklang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  199 Christoph Schanze

3. Lautsphäre der spätmittelalterlichen Stadt

Campanile und Minarett. Konflikte in städtischen Lautsphären seit dem Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Gerhard Dohrn-van Rossum

Untrügliche Zeichen von Veränderung. Glocken, Gemeinschaftsformierung und spätmittelalterliche ­Stadtaufstände am Beispiel von Chemnitz und Braunsberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Gerald Schwedler

Städtische Pfarrkirchen als „Soundzentren“ des Mittelalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Arnd Reitemeier

Religiöse Umgänge in der mittelalterlichen Stadt und ihre Klangwelt . . . . . . . . . . 301 Sabine Reichert

Miszelle: Vom Anschlagen und Ansagen. Baustellenlärm im späten Mittelalter? 321 Stefan Bürger

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335

Lautsphären des Mittelalters Einleitende Bemerkungen zu einem explorativen Sammelband

Die Federzeichnung auf dem Cover stammt aus Konrad Kyesers Bellifortis (um 1430)1 und zeigt Hunde und Gänse als Wächter einer Burg. Letztere hatten mit ihrem lauten Geschrei, so heißt es bereits bei Livius, nachdem alle anderen Wachposten versagt hatten, die Römer vor dem Angriff der Gallier gewarnt.2 Das Federvieh schnatterte laut, schlug mit den Flügeln und machte so die Bewohner rechtzeitig auf die Feinde aufmerksam. Die Geräuschkulisse, die die livianische Erzählung evoziert und die im Bellifortis mit den Hunden und Gänsen ins Bild gesetzt wird, muss beim Betrachten imaginiert werden. Die Zeichnung führt somit ein methodisches Grundproblem der Lautsphären-­ Forschung direkt vor Augen. Soundscape/Lautsphäre

Den historischen Sound Studies liegt oftmals – wie auch diesem Sammelband – der Begriff Soundscape zu Grunde, der von dem kanadischen Komponisten und Akustikforscher Murray Schaffer geprägt wurde3. Der Terminus umfasst zunächst alle akustischen Erscheinungen, die an einem bestimmten Ort auftreten. Schaffer rückt akustische Phänomene in das Zentrum der Aufmerksamkeit und betont dabei auch diachrone Veränderungen: „In einer Soundscape können sich sowohl geographische und physikalische Gegebenheiten auditiv manifestieren als auch Flora und Fauna, Sprache, gesellschaft­ liche Wertvorstellungen, Kommunikationsverhalten, alltägliche Verrichtungen sowie die vielfältigen lebenspraktischen Aspekte des Zusammenwirkens von Mensch, Natur und Technik.“4 Der Vorteil dieses Ansatzes liegt darin, eine große Bandbreite akustischer Phänomene zu erfassen und in das Zentrum der Analyse zu stellen. Der Terminus Laut1 Konrad Kyeser, Bellifortis, Bayerische Staatsbibliothek München, Clm 30150, fol. 28r. 2 Vgl. Livius, Ab urbe condita V, 47, 2–4: Namque Galli, seu vestigio notato humano qua nuntius a Veiis pervenerat seu sua sponte animadverso ad Carmentis saxi adscensu aequo, nocte sublustri cum primo inermem qui temptaret viam praemisissent, tradentes inde arma ubi quid iniqui esset, alterni innixi sublevantesque in vicem et rahentes alii alios, prout postularet locus, tanto silentio in summum evasere ut non custodies solum fallerent, sed ne canes quidem, sollicitum animal ad nocturnus strepitus, excitarent. Anseres non fefellere quibus sacris Iunonis in summa inopia cibi tamen abstinebatur. Quae res saluti fuit; namque clangore eorum alarumque crepitus excitus M. Manlius qui triennio ante consul fuerat […]. Zitiert nach Giebel. 3 Der Begriff geht auf R. Murray Schafer zurück, der ihn in den 1960er Jahren prägte, vgl. das World Soundscape Project, Schafer, Noise; Schafer, Music; Schafer, Soundscape; dazu auch Missfelder, Klang der Geschichte, S. 637–638. 4 Breitsameter, Soundscape, S. 89.

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sphäre ist auf unterschiedlich konzipierte Räume anwendbar und umfasst Gebäude (Kirche, Pfalz) ebenso wie Siedlungsformen (Stadt, Dorf ), mediale (Epos, Chronik), soziale (Baustelle, Pferderennen) und performative Räume (Prozession, Adventus), ebenso wie fiktive (Artushof ) und imaginierte (Locus amoenus, Paradies). Verschiedene Lautsphären sind dabei nicht trennscharf voneinander abgrenzbar, weder im akustischen noch im konzeptionellen Sinne. Sie überlagern sich und bedingen sich mitunter gegenseitig (z. B. christlich versus jüdisch). Lautsphären können von einem Lautgeber (Glocke) oder einer gesellschaftlichen Konstellation (Stadt) ausgehen oder erst durch den analytischen Zugriff der Forschung etabliert werden (Mittelalter). Innerhalb der Lautsphäre werden alle akustischen Phänomene zunächst als gleichwertig gedacht, ohne durch eine präfigurierte Wertung differenziert zu werden. Dies schließt auch das ein, was nicht da ist: abwesende Laute, fehlende Laute, Stille und Schweigen. Der Vorzug des Begriffes Lautsphäre liegt in der Fokussierung auf das Akustische zu einem jeweils spezifischen Zeitpunkt und Ort. In diesem deutungsoffenen und anschlussfähigen Sinne wird der Ausdruck in diesem Sammelband verwendet. Der Plural verweist dabei auf verschiedene Untersuchungsgegenstände und unterschiedliche Zugriffe. Damit stehen nicht die akustische Dimension der Epoche als Ganzes im Fokus, sondern deren Vielfältigkeit und die Pluralität der Forschungszugänge. Ein grundsätzliches Problem der Lautsphärenforschung – und besonders derjenigen zum Mittelalter – liegt im Wesenskern aller akustischer Phänomene begründet: Sie verklingen und sind nur reproduzierbar, wenn sie gespeichert wurden.5 Historischen Lautsphären können wir uns nur mit Hilfe von Texten, Bildern, archäologischen Überresten und Notationen annähern, also medialen Transformationen, welche die akustischen Phänomene entweder bewusst überführen oder beiläufig Informationen über ihre Beschaffenheit liefern. Diese Prozesse der Transformation sind mit Wertungen verbunden und werden von Konventionen geleitet; sie sind nicht nur selektiv, sondern stiften auch einen von den gesellschaftlichen Normen abhängigen Kontext. Auf der Umschlagsillustration geht es nicht um die alltäglichen Geräusche irgendwelcher Gänse. Deren Schnattern erlangt erst in einer bestimmten Situation Bedeutung, und diese erschließt sich auch nur, wenn ein Mindestmaß an Wissen um die Situation vorhanden ist. Über den eigentlichen Laut, seine klangliche Ausgestaltung, seine Lautstärke oder Reichweite, wird dabei nichts ausgesagt.

5 Vgl. Missfelder, Geschichtswissenschaft, S. 109–110: „Das an sich ebenso fundamentale wie triviale Problem, dass der allergrößte Teil der historischen Sounds verklungen, technisch nicht gespeichert und also nicht reproduzierbar ist, legt die Konzentration auf Klangwahrnehmungen, Bedeutungszuschreibungen und akustische Praktiken nahe, die als solche in traditionellen, meist schriftlichen Zeugnissen überliefert sind. Schall, so das Argument, wird als gehörter und reflektierter Klang zu einem historischen Phänomen.“

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Der Begriff Soundscape ist in den verschiedenen Disziplinen, die sich mit akustischen Phänomenen auseinandersetzen, keineswegs unumstritten.6 Zum einen wird eine zu starke Fokussierung auf das Akustische kritisiert, wodurch die Fixierung auf eine sinnliche Wahrnehmung – das Sehen – durch eine andere – das Hören – ersetzt würde. Dieser Vorwurf greift bei den historischen Sound Studies nicht: Die Präsentation von Lauten in Bild oder Schrift verbindet das Visuelle mit dem Auralen und beugt so dem Vorwurf des Sonozentrismus ein Stück weit vor. Zum anderen wird auch das Sprachbild der ‚Landschaft‘ hinterfragt, welches hinter der Adaption scape (landscape) steht. Hier schwingt eine Distanz zwischen Betrachter und Szenerie mit, die dem Hören als immersivem Vorgang nicht angemessen ist. Aus diesem Grund haben wir uns für die deutsche Übertragung von soundscape als Lautsphäre – in Abgrenzung zu ‚Klanglandschaft‘ – entschieden; unter Lauten verstehen wir, analog zum englischen sound, wertungsoffen die ganze Bandbreite akustischer Phänomene. Lautsphären zielen auf die Vielfältigkeit und Komplexität von Lauten, deren Zusammenspiel und Mannigfaltigkeit eine Sphäre entstehen lässt. Der zweite Teil des Kompositums schließt die Ebene der Wahrnehmung ein, die ein wesentlicher Bestandteil der Laute ist und auf den Aspekt der Wirkung abzielt. Mediale Vermittlung

Die medial vermittelte Wahrnehmung von Klängen ist für die Literaturwissenschaften nicht neu, und man hat sich ihr auf verschiedene Weise genähert. Da mittelalterliche Literatur als Aufführungskunst angelegt ist, muss der Vortrag per se mitgedacht werden.7 Entsprechend wurde der Performanz mittelalterlicher Literatur in den vergangenen Jahren vielfach Rechnung getragen8 und auch Aspekte der Wahrnehmung fokussiert.

6 Einen Überblick zum inzwischen umfangreichen Forschungsfeld in verschiedenen Disziplinen bietet Morat, Ziemer, Handbuch Sound. Zur Kritik am Soundscape-Konzept vgl. etwa Helmreich, Listening, S. 10 oder Feld, Akustemologie, S. 4. 7 Vgl. Kuhn, Minnesang; Strohschneider, Aufführungssituation; Tervooren, Die ‚Aufführung‘ als Interpretament. 8 Zu nennen sind hier die Vielzahl der Publikationen, die im Rahmen des SFB 447 „Kulturen des Performativen“ entstanden, vgl. etwa Fischer-Lichte, Performativität; Dies., Ästhetik des Performativen; Lechtermann, Wagner, Wenzel, Möglichkeitsräume; Krämer, Performativität und Medialität; des Weiteren vgl. zum Überblick Barton, Nöcker, Performativität; Herberichs, Kiening, Literarische Performativität. Aus historischer Perspektive vgl. grundlegend Oschema, Performanz der Mächtigen, hier vor allem die Einleitung von O ­ schema, ‚Dass‘ und ‚wie‘.

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Mithin standen vor allem die Wahrnehmung von Räumlichkeit9 und Zeitlichkeit10, die medialen Techniken der Inszenierung11 sowie die Erzeugung von Präsenzeffekten zur Diskussion.12 Der Bereich des Sensorischen fand in diesem Zusammenhang Beachtung, umfassende Analysen zur akustischen Erfahrung im Hinblick auf die synästhetische Wahrnehmung blieben allerdings aus. Gerade für letzteren Prozess ist der Blick auf die mittelalterliche Vorstellung von Wahrnehmung,13 in die literarische und historiographische Texte Einblick geben, wesentlich.14 Die Fokussierung der auditiven Dimension führt aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive zwangsläufig in das Feld der Sensory Studies15, die auf sozialgeschichtliche Forschungen und Mentalitätskonzepte der französischen Annales-Schule zurückgehen.16 Mit dem 2003 erschienenen Band „Sinne und Erfahrung in der Geschichte“17 wurden verschiedene Wahrnehmungsformen fokussiert. Exemplarisch für die Behandlung intersensorieller Verbindungen in der mittelalterlichen Geschichte stehen die Arbeiten von Richard G. Newhauser.18 Vor diesem Hintergrund wird in jüngsten Untersuchungen zunehmend eine „Ganzkörpergeschichte“19 diskutiert, welche die Einbeziehung aller Sinne und ihr synästhetisches Zusammenspiel für die Erforschung der historischen Erfah  9 Zum Paradigma des Raumes gibt es unzählige Veröffentlichungen, vgl. grundlegend Hasebrink [u. a.], Innenräume; Vavra, Imaginäre Räume; Störmer-Caysa, Grundstrukturen; Vavra, Virtuelle Räume. 10 Vgl. u. a. Zeman, Dimensions; Kiening, Hybride Zeiten; Störmer-Caysa, Grundstrukturen. 11 An dieser Stelle ist vor allem auf den Bereich der Intermedialitätsforschung zu verweisen, welche die Beziehung von Literatur und Musik untersucht. Einen systematischen Einblick liefert insbesondere für die Moderne das Handbuch „Literatur & Musik“, vgl. Gess, Honold, Handbuch; vgl. zur Vormoderne die Beiträge von Manfred Koch „Der Dichter-Sänger. Antikes Modell und spätere Adaptionen“ sowie Max Haas und Matteo Nanni „Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Mittelalter“ in diesem Band; Zenck, Vom Hören und Sehen. Des Weiteren vgl. zu Funktion und Bedeutung der Musik in der mittelalterlichen Kultur Obermayer, Musik als soziales Handeln; Žak, Luter schal; Dies., Musik als ‚Ehr und Zier‘. 12 Vgl. Wenzel, Wenzel, Die Tafel des Gregorius. 13 Einen Einblick in die medizinischen Grundlagen der mittelalterlichen Wahrnehmungstheorie (corpus animatum) liefert Tanja Klemm, vgl. Dies., Bildphysiologie, hier vor allem die Kapitel II und III. 14 Vgl. dazu die Analysen von Hans Jürgen Scheuer, Ders., Die Wahrnehmung innerer Bilder; Ders., Reich, Die Realität der inneren Bilder. 15 Bull, Introducing Sensory Studies, S. 5–7; Howes, Sensory Studies. 16 Vgl. Febvre, Gewissen des Historikers; Huizinga, Herbst des Mittelalters; als Wegbereiter der Sinnesgeschichte Alain Corbin, vgl. Corbin, Pesthauch; Corbin, Wunde Sinne – vgl. seine Ausführungen und Literaturangaben in diesem Band, S. 197–211. 17 Aichinger, Eder, Leitner, Sinne und Erfahrung. 18 Newhauser, Cultural History; Ders, Senses; vgl. dazu Classen, Cultural history of the Senses – sechs Bände sind in dieser Reihe publiziert und epochal angelegt. 19 Missfelder, Ganzkörpergeschichte, S. 461.

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rung problematisiert.20 In der Literaturwissenschaft nimmt die ganzheitliche Untersuchung von Wahrnehmung – etwa in Bezug auf geistliche Texte und Spiele – bereits großen Raum ein.21 Hier sind intergenerische Untersuchungen anzuschließen, welche das visuelle Paradigma zugunsten der Erfahrbarkeit mit allen Sinnen ablösen. Die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes verorten akustische Phänomene in einem breiten Kontext und verstehen sie damit als Teil einer – auch sinnlich – vielschichtigen Vergangenheit. Der Band fokussiert zum einen die Darstellung akustischer Szenarien in Texten und Bildern. Zum anderen wird die Deutung akustischer Szenarien durch Texte und Bilder untersucht. Geschichte des Hörens

Die kapitolinischen Gänse im eingangs beschriebenen Bild evozieren ein weiteres Themenfeld, für das die konkreten Laute nur auf den ersten Blick wesentlich sind. Indes erhalten das Wissen um den Vorfall und die Kontextualisierung des Ereignisses stärkeres Gewicht. Beides gibt Auskunft über die Bedeutung des akustischen Reizes für das Geschehen, das fortan mit dem entsprechenden Laut verbunden wird. Es geht also um ein spezifisches Wissen, um ein Hör-Wissen im weitesten Sinne, das durch das Schnattern der Gänse aufgerufen wird und in eine bestimmte Situation bzw. ein Ereignis der Vergangenheit führt. Aus dieser wissensgeschichtlichen Perspektive wird die Frage nach dem „Wandel von Wissen über und durch das Hören“22 evoziert, eine Frage, der für die Moderne bereits nachgegangen wurde, wie der 2017 erschienene Band „Wissensgeschichte des Hörens in der Moderne“23 zeigt.24 Ein ebensolcher Überblick, eine Geschichte des Hör-Wissens und des Hörens steht für das Mittelalter noch immer aus. Die Geschichtswissenschaften erhielten Impulse zum auditiven Diskurs nicht ausschließlich aus dem Bereich der jüngsten Sound Studies, sondern auch aus den eigenen Reihen und Nachbardisziplinen. Als Vertreter der Annales-Schule legte Alain Corbin 1994 sein für die Akustikgeschichte einschlägiges Werk Les cloches de la terre. Paysage sonore et culture sensible dans les campagnes au XIXe siècle 25 vor. Durch seine Analyse zur 20 Vgl. Missfelder, Ganzkörpergeschichte und die hier benannte Literatur, S. 461, sowie S. 467– 470, Anm. 10; Jütte, Geschichte der Sinne; Newhauser, Schleif, Pleasure and danger. 21 Aus der Vielzahl der Veröffentlichungen nur eine Auswahl, vgl. etwa Kasten, Fischer-­Lichte, Transformationen des Religiösen; Moshövel, Zur Performativität; Töpfer, Implizite Performativität. 22 Morat, Tkaczyk, Ziemer, Einleitung, S. 2. 23 Netzwerk „Hör-Wissen im Wandel“, Wissensgeschichte des Hörens in der Moderne. Vgl. dazu auch: Morat, Ziemer, Handbuch Sound; Blank, Morat, Geschichte hören; Morat, Zur Historizität des Hörens; Ders., Zur Geschichte des Hörens. 24 Dazu vgl. auch Steiner, Literarische Wissensgeschichte. 25 Corbin, Sprache der Glocken.

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Bedeutungsperspektive auditiv geprägter Klangkulturen im Frankreich des 19. Jahrhunderts und die stringente Beschäftigung mit auraler Sinneswahrnehmung avancierte er zu einem Vorreiter akustischer Geschichtsforschung für die Moderne.26 Alfred Haverkamp vermisste in Corbins Publikation die Bezugsachsen auf die mittelalterliche Epoche und damit die auditive Anbindung an die mittelalterliche Entwicklung der Glockenkultur in Europa.27 Haverkamp verwies in seinen nachfolgenden Forschungen auf die engen akustischen Funktionszusammenhänge zwischen Glockenklang, Kommune und Öffentlichkeit und stellte erste Weichen für eine Akustikgeschichte des Mittelalters.28 Mehrere Einzelstudien beschäftigten sich darüber hinaus mit den Kommunikationsstrukturen vormoderner Gesellschaften, dabei bestimmte der Aspekt symbolischer, ritualisierter, körperlicher und rechtlicher Ordnungsformen – weniger die akustische Dimension – die Ausrichtung.29 Die auditive Welt wurde in einzelnen historischen Untersuchungen lanciert und unter konkreten Fragestellungen und Prämissen, wie beispielsweise der Glockenforschung, betrachtet.30 Eine systematische Aufarbeitung mittelalterlicher Lautsphären durch die Geschichtswissenschaft steht noch aus. Einem solchen Unterfangen wurde durch etliche Studien in den vergangenen Jahren Vorschub geleistet. Darauf verweist die ansteigende Zahl der Publikationen, welche die mittelalterliche Epoche um die akustische Dimension bereichern, so beispielsweise die Studien von Andrew Albin31, Laurent Hablot und Laurent Vissière,32 Daniela Hacke,33 Jan-Friedrich Missfelder34 oder Niall Atkinson35. In dem übergreifenden „Handbuch 26 Vgl. Hacke, Krampl, Missfelder, Can you hear the light?, S. 387. 27 „Aber wer denkt […] bei dem Glockengeläut […] an das Mittelalter und damit an die Ursprünge von Öffentlichkeit in unserem Gemeinwesen?“ – Dazu Anm. 133: „Enttäuschend auch in dieser Hinsicht das Buch von Alain Corbin,“ in: Haverkamp, „… an die große Glocke hängen“, S. 112 u. Anm. 133. 28 Vgl. Haverkamp, „… an die große Glocke hängen“; Haverkamp, Information, Kommunikation. 29 Richtungsweisend hier Althoff, Formen und Funktionen öffentlicher Kommunikation, der insbesondere die Bedeutung von non-verbalen bzw. körperlich-visuellen Kommunikationsformen analysierte. Weiterhin: Keller, Mediale Aspekte der Öffentlichkeit; Schreiner, Schnitzler, Gepeinigt, begehrt, vergessen; Schreiner, [u. a.], Rituale, Zeichen, Bilder; Kasper, Viva vox und ratio scripta. 30 Vgl. Hense, Glockenläuten; Kramer, Glocken in Geschichte; Lange, Grauel-Korn, Europäische Tischglocken. Zu den Zeitkonzepten und die Bedeutung der Glocken, vgl. Dohrn-van Rossum, Die Geschichte der Stunde. 31 Albin, Auralities. 32 Hablot, Vissière, Les paysages sonores. 33 Hacke, Hearing Cultures. 34 Missfelder, Klang der Geschichte; Ders., Wissen was zu hören ist; Ders., Akustische Reformation. 35 Atkinson, Noisy Renaissance. Weiterhin u. a.: Fritz, Konzeption und Repräsentation; Hahn, The Reformation of the Soundscape; Müller, „The Sound of Silence“ sowie die darin aufgeführte Literatur.

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Sound“36 – haben Daniel Morat und Hansjakob Ziemer die neuesten wissenschaftlichen Forschungsdispositionen sowie Begriffe und Methoden zusammengeführt, die einer historischen Akustikanalyse gewinnbringende Ansätze bieten. Hier wird an die Sound Studies und ihre differenzierten Kategorisierungen von Hörerfahrungen angeknüpft. Es werden etwa Hören, Zu-Hören, Über-Hören, Mit-Hören unterschieden, um so die Komplexität der sinnlichen Wahrnehmung je nach sozialer Konstellation zu erfassen. Hörerfahrungen konstituieren in diesem Sinne jede Lautsphäre und prägen unseren Zugang zu ihr. Für die Germanistische Mediävistik sind die Arbeiten von Michael Curschmann,37 Dennis Howard Green38 und Horst Wenzel39 für eine multisensorische Perspektive grundlegend. Wenzel legte in seiner umfassenden Studie zum „Hören und Sehen“ 1995 die Basis für die Frage nach der „Klangregie“40 von Texten, für eine „Poetik des Klanges“ gewissermaßen mit an.41 In jüngster Zeit wurde verstärkt die Bedeutung der akustischen Dimension literarischer Texte insbesondere der Höfischen Epik untersucht.42 Einen ersten umfassenden Einblick gewährt der 2013 erschienene Bamberger Tagungsband „der âventiuren dôn“, der die sinnstiftende Funktion akustischer Phänomene in den Blick nimmt und somit dem Paradigma der Visualität ein weiteres an die Seite stellt. Daneben steht die Kategorie des Stils, sprich die Formkunst mittelalterlicher Literatur erneut zur Diskussion.43 Für die Perspektivierung literarischen Stils gilt es insbesondere auch, Aspekte der Sprachästhetik, der Rezeptionssteuerung, schließlich des Sprachklanges zu berücksichtigen.44 Letzteres hat Markus Stock kürzlich für die Analyse des Minnesangs gefordert und am Beispiel der Lieder Wernhers von Teufen und Gottfrieds von Neifen exemplarisch gezeigt. Was bislang noch aussteht, sind Studien, die das Gebiet aus interdisziplinärer Perspektive bzw. in interdisziplinärer Zusammenarbeit erschließen. Jan-Friedrich Missfelder hat aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive deutlich gemacht, dass ein interdisziplinärer Austausch (vor allem zwischen musik-, geschichtswissenschaftlicher Forschung und den Sound Studies – die Literatur- und Liturgiewissenschaft sollten hier unbedingt eingebunden werden) unabdingbar sei, wenn man das Feld überblicken will. 36 Morat, Ziemer, Handbuch Sound. 37 Curschmann, Hören – Lesen – Sehen. 38 Green, Medieval Listening and Reading. 39 Wenzel, Hören und Sehen. 40 Meyer, Vom Lachen der Esel, S. 88. 41 Vgl. Wenzel, Hören und Sehen, S. 51–65, S. 89–94, S. 105 f., S. 142–158. 42 Vgl. zur höfischen Epik vor allem den Bamberger Tagungsband Bennewitz, Layher, der âventiuren dôn, (hier die Beiträge von Andreas Kraß, Susanne Knaeble, Viola Wittmann, Silvan Wagner und John Greenfield); Görlitz, Erzählte Klänge; Schneider, er liez ze himel tougen; Dies., Sprachästhetik; Greenfield, waz hân ich vernomn?; Ders., Schall im Willehalm. 43 Neueste Forschungsergebnisse sind in dem Band „Literarischer Stil“ zusammengefasst. Vgl. ausführlich Reuvekamp, Perspektiven mediävistischer Stilforschung, S. 2 f. 44 Vgl. etwa Hausmann, Stil als Kommentar, S. 208; vor allem Stock, Triôs, triên, trisô.

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Zum Konzept des Bandes

Anspruch der Tagung, die vom 14. bis 16. September 2016 im Schloßbergmuseum Chemnitz stattfand, war es, zunächst Vertreterinnen und Vertreter unterschiedlicher Fächer (Geschichts- Literatur- und Kunstwissenschaft sowie Sound- bzw. Akustikforschung) zusammenzubringen, um sich über Methoden und Gegenstände auszutauschen. Obwohl gegenwärtig eine disziplinäre Auseinandersetzung um akustische Phänomene stattfindet, blieben fachübergreifende Analysen oftmals aus. Der Sammelband unternimmt einen ersten Versuch in diese Richtung. Die Zusammenstellung der Beiträge und damit die Konzeption des Sammelbandes sind explorativ, nicht programmatisch. Eine vollständige Erfassung aller für das Mittelalter bedeutenden Lautsphären ist damit ebenso wenig verbunden, wie eine Abbildung aller relevanten Disziplinen und methodischen Ansätze. Vielmehr präsentiert der Band eine Bestandsaufnahme und einen ersten Schritt auf ein für die deutsche Mediävistik noch junges Forschungsfeld. Der Band weist vor allem im Hinblick auf die notwendige interdisziplinäre Zusammenarbeit mit der Musikwissenschaft Lücken auf. Die Bedeutung der Musik in den Lautsphären des Mittelalters ist ebenso unbestritten wie die der Musikwissenschaften für deren Erforschung. Dies bezieht sich auf die diversen Formen der Notationen, Überlegungen zur Funktionalität von Musik und zum Hören, auf die Musikikonographie, die Bedeutung der Musik im Kontext von Zeremoniell und Liturgie und vieles mehr.45 Ohne Zweifel stellen die Musikwissenschaften zusammen mit den Sound Studies die Disziplinen dar, welche ein methodisches Gerüst von Kategorien und Bezeichnungen für eine mediävistische Lautsphärenforschung anbieten. Für die nächsten Schritte auf diesem Forschungsfeld sind intensive interdisziplinäre Kooperationen, über die in diesem Band angelegten hinaus, unverzichtbar. Die Beiträge sind zeitlich breit gestreut und reichen vom Frühen Mittelalter bis zur Reformation. Einen Schwerpunkt stellt die Stadtkultur des Späten Mittelalters dar, deren reiche Quellenlage detaillierte Einblicke ermöglicht. Der räumliche Fokus liegt auf Lateineuropa – mit gelegentlichen vergleichenden Ausblicken in benachbarte Regionen. Im Umgang mit akustischen Phänomenen des Mittelalters stellt sich zunächst die Frage nach den Quellen und damit eng verknüpft nach dem Erkenntnisinteresse. Keiner der hier vertretenen Aufsätze versucht im rankeanischen Sinne zu rekonstruieren, wie das Mittelalter oder ein definierter Anteil daran geklungen hat. Auch die Aufsätze, die einer historischen Klangkonstellation nachspüren und etwa nach der Hörbarkeit mündlicher Vorträge fragen (vgl. den Beitrag von B. Gübele), betten diese Überlegun45 Behrendt, Musica mediævalis; Blaukopf, Musik im Wandel; Harnoncourt, Liturgie; Hammerstein, Musik der Engel; Žak, Musik als „Ehr und Zier“; Marsh, Music and society; Diehr, Literatur und Musik; Schwab, Anfänge des weltlichen Berufsmusikertums; vgl. dazu auch die Literaturangaben in: Müller, Osterhammel, Geschichtswissenschaft und Musik – und die darin skizzierte Position beider Fachdisziplinen.

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gen in einen weiteren – hier recht- und verfassungshistorischen – Kontext ein. Damit wird deutlich, dass sich die mediävistische Lautsphärenforschung zwar von den Sound Studies inspirieren lässt, deren Annahmen und Vorgaben aber nicht in allen methodischen und thematischen Aspekten folgt. Die lückenlose Erfassung einer historischen Lautsphäre kann und soll nicht geleistet werden. Damit verhallt die – auch im Kontext unserer Tagung in der Öffentlichkeit oftmals gestellte – Frage, wie denn das Mittelalter nun geklungen habe, letztlich methodisch. Anders stellt sich die Sachlage dar, wenn – so in den literaturwissenschaftlichen (vgl. die Beiträge von A. Schneider, G. Mierke, C. Schanze) und in dem von diesen Ansätzen befruchteten historiographiegeschichtlichen Beitrag (vgl. M. Weiss) – das Konzept der Lautsphäre auf einen konkreten Bedeutungsträger bezogen wird. Dann können die Ausgestaltung und die Bedeutung von allen Bezugnahmen auf Akustik vollumfänglich erfasst und zu einer Lautsphäre kombiniert werden. In diesem Sinne erschließen sich dann Texte als Träger von Lauten in doppelter Hinsicht, wenn sie nicht nur über solche sprechen oder erzählen, sondern die Texte selbst sich der akustischen Dimension von Sprache bedienen. Gerade im Umgang mit erzählenden Quellen zeigt sich hier, wie entscheidend der interdisziplinäre Austausch zwischen der Literatur- und der Geschichtswissenschaft ist, der Tagung und Sammelband als Fundament zu Grunde liegt. Da die Laute des Mittelalters nur sekundär und medial vermittelt zu erschließen sind, geht es bei der Beschäftigung mit Lautsphären vornehmlich darum, die Funktion und die Bedeutung des Akustischen in seiner unterschiedlichen Ausprägung zu untersuchen. Jan-Friedrich Missfelder wies darauf hin, dass „Klänge nur in ihrer vielfältigen Kontextualisierung, Wahrnehmung und Deutung sinnfällig“46 werden. Damit benennt er drei sich überschneidende Arbeitsfelder, die die Phänomene des Akustischen umspannen und für dessen Erschließung fruchtbar gemacht werden können. Diese Felder finden sich in den drei Sektionen des Bandes wieder, sind aber nicht immer separiert zu betrachten, da sie sich überlagern. In Sektion 1 des vorliegenden Sammelbandes sind die Beiträge zusammengefasst, die sich vornehmlich mit der Funktion von Lautsphären in jeweils unterschiedlichen Textgattungen beschäftigen (vgl. die Beiträge von C. Jaser, J. Samp, A. Krüger, M. Weiss, A. Hack, B. Gübele). Christian Jaser verschränkt in seinem Beitrag die Analyse von sporting sounds mit dem Ansatz der Konkurrenz-Kulturen. Pferderennen sind von akustischen Phänomenen geprägt, so Jaser, die vom Startsignal über die Anfeuerungen des Publikums bis zum Habituationstraining der Pferde, das diese an die Geräusche der Rennkulisse gewöhnen sollte, reichen. Insbesondere bei Pferderennen trafen städtisches Selbstbewusstsein und fürstliche Patronage auch akustisch aufeinander. So wurde in Florenz etwa das Start­signal durch eine städtische Glocke erzeugt und so der stadtumfassende und kommunale Charakter des Rennens gegen fürstliche Inszenierung klanglich propagiert. 46 Missfelder, Klang der Geschichte, S. 648.

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Julia Samp widmet sich dem Phänomen Lärm und seiner Bedeutung. Sie untersucht anhand des Briefwechsels Willibald Pirckheimers die Wahrnehmung akustischer Störungen im Umfeld humanistischer Gelehrsamkeit. Mithin stellt sie fest, dass gelehrte Lärmempfindlichkeit nicht die potenzierte Wahrnehmung der Anwesenheit lauter und intensiver Schallereignisse sei, sondern metaphorischer Ausdruck einer verstärkten Empfindung der Abwesenheit von Ruhe. Samp deutet dies als Teil einer habituell angelegten Strategie mit dem Ziel der Distinktion. Der Hinweis auf akustische Störungen ist somit Teil einer sozial-literarischen Konstruktion. Antonia Krüger setzt sich in ihrem Beitrag grundlegend mit den aus dem interdisziplinären Forschungsfeld der Sound Studies erwachsenen Begriffsdefinitionen auseinander und problematisiert an einzelnen Fallbeispielen deren Anwendbarkeit in der Geschichtswissenschaft. Dabei verweist sie auf die rezeptive Aufgabe historiografischer Analyse im Rahmen einer Hörgeschichte und betont die soziale, religiöse und politische Kontextualisierung von Klängen, die innerhalb der historischen Disziplin Beachtung finden sollten. Miriam Weiss untersucht die Chronica maiora des Matthaeus Parisiensis hinsichtlich akustischer Phänomene. Dabei etabliert sie zunächst systematisch verschiedene Kategorien der mittelalterlichen Klangwelt, die sich an den narrativen Funktionen der Verweise auf lautliche Phänomene orientieren. Sie zeigt in ihrer Analyse verschiedene Zugänge zu akustischen Beschreibungen innerhalb des Textes auf, die jeweils unterschiedlich funktionalisiert wurden. Mit einer spezifischen Quellengruppe setzt sich der Beitrag von Achim Hack auseinander. Hack untersucht frühmittelalterliche Tierstimmenkataloge als eigene Lautsphäre. Diese Kataloge bieten in Listenform Tierbezeichnungen als Nomen und jeweils zugeordnete Geräusche als Verben. Anhand von drei Beispielen aus dem 2., 5. und 8. Jahrhundert analysiert Hack Aufbau und Inhalt der Texte, die über die Tierstimmen hinaus etwa auf das Lärmen des Volkes oder das Klingen des Erzes verweisen. Hack deutet die Kataloge als Teil der ‚Listenwissenschaft‘ (Wolfram von Soden) und als Bestandaufnahme akustischer Räume. Auch Boris Gübele untersucht in seinem Beitrag einen konkreten akustischen Raum, geht aber methodisch einen anderen Weg, denn seine Analyse basiert auf akustischen Simulationen eines historischen Redegeschehens. Am Beispiel der Aula regia der karolingischen Kaiserpfalz in Ingelheim. Er unternimmt den Versuch öffentliche Redesituationen in ihren historischen räumlichen Kontexten zu rekonstruieren. Gübele geht dabei von dem Verlesen mittelalterlicher Urkundentexte aus und thematisiert sowohl deren inhaltliche als auch akustische Verständlichkeit. Er präsentiert akustische Ergebnisse, die in Zusammenarbeit mit dem Frauenhofer-Institut Stuttgart erstellt wurden. Die Beiträge der zweiten Sektion widmen sich vornehmlich der Wahrnehmung und Funktion von Lautsphären in literarischen Texten (vgl. die Beiträge von A. Schneider, G. Mierke, C. Schanze). So untersucht Almut Schneider Funktion und Semantik akustischer Beschreibungen im Partonopier und Meliur Konrads von Würzburg. Vor dem

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Hintergrund der antiken und mittelalterlichen Wahrnehmungstheorie, die Schneider einleitend skizziert, fragt sie nach synästhetischen Wahrnehmungsweisen lautlicher Sphären in Text und Bild. Anhand ausgewählter Textpassagen zeigt sie, dass akustische Beschreibungen auf der Handlungsebene auch auf innere Klangbilder und damit auf den Seelenzustand des Protagonisten zu applizieren sind. Auch Gesine Mierke nimmt die Bedeutung von Lauten in den Blick und macht die strukturierende, kommentierende und performative Funktion, wie sie Jörg Bölling für die Musik in Adventusszenen beschrieben hat,47 für den späthöfischen Roman Reinfried von Braunschweig fruchtbar. Vor diesem Hintergrund, so ihr Resümee, kann die Analyse akustischer Phänomene in der mittelalterlichen Literatur dazu beitragen, die Perspektive im Hinblick auf eine Synästhesie der Sinne zu erweitern. Eine andere literarische Gattung steht im Zentrum des Beitrags von Christoph Schanze. Er geht dem Sprachklang und den damit verbundenen Effekten im Minnesang am Beispiel einiger Lieder Heinrichs von Morungen nach. Schanze setzt sich hier vor allem mit dem ‚vollen Wort‘ auseinander und macht deutlich, dass gerade die Minnesänger des 13. Jahrhunderts dies durch eine Klangform im Sinne einer artifiziellen Reimkunst ersetzten. Im Zentrum der dritten Sektion steht mit der spätmittelalterlichen Stadt eine spezifische Lautsphäre, die aus unterschiedlichen Perspektiven auch im Hinblick auf die Kontextualisierung, Wahrnehmung und Funktion von Klängen untersucht wird (vgl. die Beiträge von G. Dohrn-van Rossum, G. Schwedler, A. Reitemeier, S. Reichert, S. Bürger). So entfaltet Gerhard Dohrn-van Rossum in seinem grundlegenden Überblick ein breites Panorama von den ersten christlichen Glocken des frühmittelalterlichen Lateineuropas, das zum ‚Glockeneuropa‘ (Friedrich Heer) wurde, bis zu den Uhrtürmen im Osmanischen Reich. Glockenklänge mit sehr unterschiedlichem Signalcharakter – von der Rats- über die Bier- bis hin zur Stundenglocke – prägten die Lautsphären christlicher Städte, so wie der Ruf des Muezzins diejenigen des Islam. Das heutige Festhalten an diesen Signallauten begründet Dohrn-van Rossum mit gesellschaftlichen Traditionen jenseits religiöser oder pragmatischer Notwendigkeiten. Gerald Schwedler setzt sich in seinem Beitrag kritisch mit der von Alfred Haverkamp vorgelegten Deutung vom einigenden Charakter des Glockenklangs auseinander. Mithin kann er zeigen, dass etwa die Rathausglocke als politischer Signalgeber im Kontext von kommunalen Aufständen – wie etwa in Chemnitz 1345/6 – nicht der Einigung der Kommune, sondern der Verständigung zwischen den Aufständischen dienen konnte. Im Sinne der Hörgeschichte verweist Schwedler darauf, dass akustische Signale immer auch von deren Empfängern her zu deuten sind: Das Signal von Sturm- und Ratsglocke hatte für differenzierte Hörergruppen unterschiedliche handlungsleitende Relevanz, wodurch die durch den Glockenklang erzeugte Informationsgemeinschaft in einzelne Reaktionsgemeinschaften zerfallen konnte.

47 Vgl. Bölling, Musicae Utilitas, S. 231.

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Arnd Reitemeier beschreibt in einem breiten Überblick spätmittelalterliche Pfarrkirchen als Soundzentren des Mittelalters. Dabei unterscheidet er zwischen nach außen und nach innen gerichteten akustischen Räumen und macht auf diese Weise deutlich, dass die Klänge der Pfarrkirche, deren Türme oftmals das höchste Bauwerk einer Stadt waren, in die städtische Umgebung hineinwirkten – und umgekehrt. Dass Klänge dabei nicht isoliert zu betrachten sind, sondern zu kontextualisieren seien, zeigt Reitemeier an den akustischen, sozialen und ökonomischen Aspekten des Totengeläuts. Die von Pfarrkirchen ausgehenden Lautsphären waren weder synchron (Veränderungen im Kirchenjahr) noch diachron (Homogenisierung der Lautsphäre durch die Reformation) statisch. Auch Sabine Reichert setzt sich in ihrem Beitrag mit den Lautsphären der spätmittelalterlichen Stadt auseinander und geht dem Klang der Kathedralstadt nach, indem sie am Beispiel einer Pestprozession im spätmittelalterlichen Osnabrück nach der Besetzung des Raumes durch akustische Phänomene fragt. Durch die klangliche Ausgestaltung der Prozession als Liturgie in Bewegung, so ihre These, wurde der Sakralraum in die Stadt ausgeweitet. Schließlich beschreibt Stefan Bürger den Baustellenlärm des Spätmittelalters und widmet sich der Geräuschkulisse auf mittelalterlichen Baustellen. Er interpretiert die akustische Signalsetzung und Kommunikation mittels Klopfzeichen, Zurufen oder dem Gebrauch von Zunftliedern. Bürger verortet die Werkgeräusche zentraler Kirchenbaustellen als positive Lautmarken im städtischen Kontext. Insgesamt zeigt der Sammelband erste Anregungen zur Erforschung eines mittelalterlichen ‚Hör-Wissens‘48 auf und weist gleichzeitig auf die Potentiale einer mediävistischen Akustikgeschichte hin. Akustische Phänomene begleiten die Quellen in differenzierter Akzentuierung und bereits erschlossene mittelalterliche Quellenbestände können durch ein fokussiertes ‚re-reading‘ – ausgerichtet auf akustische Inhalte – neue kulturgeschichtliche Erkenntnisse zutage befördern. Erste Ansätze begrifflicher Konsolidierungen für die ‚mittelalterliche Akustikgeschichte‘ gehen als Ergebnis aus dem entstandenen Sammelband hervor und geben mit Hilfe eines Sachregisters über die differenzierten Verwendungen Auskunft. Abkürzungen GWU – Geschichte in Wissenschaft und Unterricht HZ – Historische Zeitschrift PBB – Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur

48 Vgl. Missfelder, Wissen was zu hören ist, S. 297.

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Elisabeth Vavra (Hg.), Imaginäre Räume. Sektion B des Internationalen Kongresses „Virtuelle Räume, Raumwahrnehmung und Raumvorstellung im Mittelalter“. Krems an der Donau, 24. bis 26. März 2003 (= Sitzungsberichte. Akademie der Wissenschaften in Wien, Philosophisch-Historische Klasse 758; Veröffentlichungen des Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der Frühen Neuzeit 19), Wien 2007. Edith Wenzel, Horst Wenzel, Die Tafel des Gregorius. Memoria im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, in: Erzählungen in Erzählungen. Phänomene der Narration in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. von Harald Haferland, Michael Mecklenburg (= Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 19), München 1996, S. 99–114. Sabine Žak, Musik als ‚Ehr und Zier‘ im mittelalterlichen Reich. Studien zur Musik im höfischen Leben, Recht und Zeremoniell, Neuss 1979. Sabine Žak, Luter schal und süeze döne. Die Rolle der Musik in der Repräsentation, in: Höfische Repräsentation, hg. von Horst Wenzel, Hedda Ragotzky, Tübingen 1990, S. 133–148. Sonja Zeman, Dimensions of Tense and Temporality in Middle High German Narratives, in: Narratologie und mittelalterliches Erzählen. Autor, Erzähler, Perspektive und Raum, hg. von Eva von Contzen, Florian Kragl, in: Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung 7, (2018), S. 267–284. Martin Zenck, Vom Hören und Sehen. Zur Intermedialität von Bild und Musik – Versuch einer Grundlegung, in: Intermedialität von Bild und Musik, hg. von Elisabeth Oy-Marra [u. a.], Paderborn 2018.

1. Funktion von Lautsphären

Klangräume des Agonalen bei italienischen und oberdeutschen Pferderennen des 15. und frühen 16. Jahrhunderts Christian Jaser

Einen analytischen Brückenschlag zwischen dem Akustischen und dem Agonalen, zwischen dem sich etablierenden ‚acoustic turn‘1 und dem noch auszurufenden ‚competitive turn‘ zu versuchen, könnte auf den ersten Blick als pure Anbiederung an die manchmal schwindelerregenden Volten der postmodernen Geschichtswissenschaft missverstanden werden. Das ist selbstverständlich nicht der Fall: Denn ganz im Gegenteil bietet die Kopplung beider Forschungsagenden die Möglichkeit, der historischen Interaktion von Hör- und Konkurrenzkulturen unter dem Mikroskop eines eng abgegrenzten Untersuchungsfeldes auf die Spur zu kommen, zumal sich beide Forschungsfelder ohnehin gegenwärtig im Status der exemplarischen Konkretisierung und Operationalisierung befinden. Methodologisch und programmatisch ist dabei die Klanggeschichte weit gediehen, namentlich in den Arbeiten von Jan-Friedrich Missfelder zu ihrer vormodernen Ausprägung: Als „spezifische Form von Sinnesgeschichte“ untersucht sie die historische Wahrnehmung von Klängen, die Mediengeschichte ihrer Repräsentationen und „spezifische Hörbarkeitsregime“, die „die akustische Wahrnehmung einer Gesellschaft strukturieren“2. Jenseits der überkommenen Wertehierachie zwischen Musik und Geräusch verstehen die historischen sound studies akustische Produktionen und Rezeptionen als soziale Praktiken, die sich vor allem unter dem Dachbegriff der soundscapes3 – „Lautsphären“ – mikrohistorisch untersuchen lassen und dabei akustische Erfahrungsdimensionen von sozialen Räumen und Handlungen – Stadt, Land, Hof, politisches Ritual, Fest usw. – freilegen.4 Dagegen hat die soziologisch-ökonomische Leitkategorie der ‚Konkurrenz‘ oder des ‚Wettbewerbs‘ bislang eher als makrohistorisches Interpretament in die Geschichtswissenschaft Einzug gehalten. Gemäß dieser Vogelperspektive wurde ‚Konkurrenz‘ vorwiegend als epochales oder kontinentales Proprium verstanden: Angefangen mit Jacob Burckhardt, der mit dem Begriff ‚Agon‘ im Sinne des „Sich-Messen[s]“, der „Wette“, der 1 Zu diesem Begriff siehe Missfelder, Period Ear, S. 22; Morat, Sound Studies. Vgl. auch den Sammelband von Meyer, Acoustic Turn. 2 Missfelder, Period Ear, S. 24, 34, 39. 3 Schafer, The Soundscape. (dt. Die Ordnung der Klänge); Vgl. Missfelder, Period Ear, S. 37. 4 Vgl. Smith, The Acoustic World, S. 49–96; Missfelder, Akustische Reformation; ders., Reformatorische Soundscapes; Hahn, The Reformation of the Soundscape; ders., Sensing S­ acred Space; Garrioch, Sounds of the City; Atkinson, The Noisy Renaissance; ders., The Repub­ lic of Sound; Ders., Sonic Armatures.

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„Vergleichung mit Andern“5 eine angeblich spezifisch kompetitive Mentalität der griechischen Kultur apostrophierte, über Peter Burke, der die Hochrenaissance zwischen 1490 und 1530 zum „Zeitalter des Wettstreits“6 ausrief, bis hin zu Niall Ferguson, der den Aspekt der „competition“ zu den sechs „killer apps of Western power“ zählt, sozusagen zum Werkzeugkasten der globalen Führungsrolle Europas zwischen 1500 und 2000.7 Erst in jüngster Zeit zeichnet sich unter dem Dachbegriff der ‚Konkurrenz­ kulturen‘ eine soziologische und geschichtswissenschaftliche Forschungsrichtung ab – zu nennen wäre etwa der Kölner Forscherverbund um Ralph Jessen und Karl-Joachim Hölkeskamp –, welche die Institutionalisierung, soziale Praxis und Wahrnehmung agonaler Phänomene in kleineren Untersuchungsformaten in den Blick nimmt8, in der Vormoderne etwa Phänomene wie Patronage und Kunstwettbewerbe9, den humanistischen Dreiklang aus imitatio, aemulatio und superatio10, den historiographischen „Wettkampf der Nationen“11 und den paragone, den wertenden Vergleich, der Künstler, Künste und politischen Verfassungen.12 Der Beitrag wird sich im Folgenden mit der soundscape einer „konkreten kompetitiven Performanz“ zuwenden, nämlich der städtischen Pferderennen des 15. und frühen 16. Jahrhunderts, die in zahlreichen urbanen Zentren Italiens und Oberdeutschlands um den Siegespreis eines wertvollen Stück Tuchs – ital. palio, dt. scharlach – abgehalten wurden.13 Dieser aufwändig organisierte und normierte Leistungsvergleich von Rennpferden – im Wortsinn ein con-currere, in zeitgenössischer Diktion eine concorrentia14 – präsentiert sich als sportkulturelles Geschehen, das in ganz wesentlicher Weise  5 Burckhardt, Griechische Culturgeschichte, S. 83, 87. Siehe zu diesem Konzept aus der Sicht der jüngeren Althistorie Nippel, Jacob Burckhardt. Vgl. dazu aus forschungsgeschichtlicher Perspektive Hirschi, Wettkampf der Nationen, S. 258–260; Sittig, Kulturelle Konkurrenzen, S. 38–45.  6 Burke, Die europäische Renaissance, S. 92–133.  7 Ferguson, Civilization, S. 12, 19–49.   8 Siehe dazu Jessen, Konkurrenz in der Geschichte; Hölkeskamp, Konkurrenz als sozialer Handlungsmodus; Werron, Wettbewerb als historischer Begriff. Vgl. Tauschek, Kulturen des Wettbewerbs; Gebauer, Konkurrenzkulturen in Europa.  9 Prochno, Konkurrenz; Goffen, Renaissance Rivals, S. 31–66; Warnke, Hofkünstler, S. 122– 132. Vgl. dazu Sittig, Kulturelle Konkurrenzen. 10 Müller, Pfisterer, Der allgegenwärtige Wettstreit. Vgl. zur humanistischen Konkurrenz auch Helmrath, Streitkultur. 11 Hirschi, Wettkampf der Nationen. 12 Hessler, Zum Paragone; Brandolini, Republics and Kingdoms. Mit Spannung sind in diesem Zusammenhang auch die Ergebnisse des Dresdner Sonderforschungsbereichs 1285 „Invektivität. Konstellationen und Dynamiken der Herabsetzung“ zu erwarten. 13 Vgl. dazu Tobey, Palio, S. 146–181; Balestracci, Alle origini del Palio, S. 9–11; Kalb, Beiträge, S. 8. 14 Giovanni Borromeo an Francesco II. Gonzaga, Florenz, 3. Juli 1515, ASMn, AG, b. 1106, fol. 293. Siehe auch die Transkription des Briefes bei Malacarne, Il mito dei cavalli, S. 86 f. Vgl. zum Begriff der ‚Konkurrenz‘ Prochno, Konkurrenz, S. 5.

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von einem akustischen Signalregime, der Geräuschkulisse des Wettkampfs und musikalischer Rahmung geprägt war.15 Der sound dieser urbanen und suburbanen Tempokonkurrenzen bildete ein semiotisches System, das jeweils ereignisstrukturierende, soziale und kommemorative Funktionen erfüllte. Die Analyse solcher „sporting sounds“, der die Sportgeschichte und -wissenschaft nur eine kümmerliche Nische eingeräumt hat16, stößt in der Vormoderne mangels akustischer Aufzeichnungstechniken auf die unhintergehbare Schwierigkeit, das ephemer Verklungene vorwiegend aus der „Versprachlichung“17 von akustischen Regimen und Hörerfahrungen zu rekonstruieren, in unserem Fall: aus dem normativen und finanzadministrativen Organisationsschriftgut der Ausrichterstädte, aber auch aus Stadtchroniken, den Korrespondenzen von Zuschauern, Beo­ bachtern und diplomatischen Berichterstattern sowie visuellen Repräsentationen. Ausgehend von einer kurzen Vorstellung dieses transalpinen Ereigniskomplexes (I) werde ich mich im Folgenden auf drei Klangräume des Agonalen konzentrieren: Akustische Signal­regime (II), Wettkampfgeräusche und -musik (II), schließlich Akklamationen und musikalische Kommemoration (III). 1. Das Feld: Palio- und Scharlach-Pferderennen in italienischen und deutschen Städten des 15. und frühen 16. Jahrhunderts

Die italienischen Palio- und oberdeutschen Scharlachrennen, die bislang jenseits von lokalhistorischen Einzelstudien noch nicht Gegenstand einer systematischen und transalpin vergleichenden Betrachtung geworden sind,18 teilen eine gemeinsame Konjunkturphase, die sich in etwa von der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts bis ins erste Drittel des 16. Jahrhunderts erstreckt. Weitere Gemeinsamkeiten sind die Beschaffenheit der Siegespreise, die urbane Verortung und kommunale Symbolik, die jährliche Frequenz, bestimmte Praktiken der Wettkampfadministration sowie die kompetitive Figur der Rennpatrone19 aus stadtbürgerlichen, aber auch fürstlich-adeligen Kreisen, die ihre Pferde zu diesen Konkurrenzen anmeldeten: der ungarische Herrscher Matthias Corvinus, 15 Zum Konzept der ‚Sportkultur‘ vgl. Jaser, Agonale Ökonomien, S. 593–624. 16 Bale, Bateman, Introduction: Sporting Sounds, S. 1: „Sport engages many of the senses but the varied sensory aspects of sports that have been alluded to by students of sports studies (implicitly or explicitly) have been dominated by the sense of light.“ 17 Missfelder, Period Ear, S. 33. 18 Einzige Ausnahmen bilden die Arbeiten von Nosari, Canova, Palio nel Rinascimento; und Kalb, Beiträge, die allerdings eher deskriptiv orientiert sind und das allgemeinhistorische Potential dieses Gegenstandes keineswegs ausschöpfen. Wichtige Hinweise auf überlokale Zusammenhänge bei den italienischen Paliorennen enthalten auch Jaser, Agonale Ökonomien; Ders., Beyond Siena; Malacarne, Il mito; Mallett, Horse-Racing, S. 254; T ­ obey, Palio-Horse, S. 63–90; dies., Palio. 19 Vgl. Tobey, Palio-Horse, S. 67.

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Wittelsbacher, Württemberger, Gonzaga, Este, Medici, Bentivoglio, Malatesta, Borgia, Kardinäle, Erzbischöfe und Äbte. Während die italienischen Rennen eine zumeist bis ins 13. Jahrhundert reichende kommunale Traditionslinie aufweisen20 und ursprünglich als militärische Demütigungsgesten bei der Belagerung feindlicher Städte gedacht waren21, sind ihre oberdeutschen Pendants deutlich jünger: Das Wiener Scharlachrennen wird erstmals 1382 erwähnt, Nördlingen, München, Augsburg, Ulm, Wiener Neustadt, Straßburg folgen allesamt zwischen 1440 und 1480.22 Über die nord- und mittelitalienischen Stadtlandschaften wiederum zog sich ein dichtes Netz von unterschiedlich dotierten Rennereignissen – von kleinstädtischen Provinzrennen bis zum Florentiner Hauptrennen des Palio di San Giovanni –, die jeweils mit Patronatsfesten oder Jubiläen von militärischen Siegen verknüpft waren und einen eigenen Rennkalender konstituierten.23 Dabei wurden in größeren Städten wie etwa Rom, Florenz, Bologna, Ferrara, Siena und Mantua mehrmals im Jahr Paliorennen ausgerichtet.24 Zwar fanden auch die regelmäßig im Kontext von Messen, Jahrmärkten und Schützenfesten abgehaltenen Scharlachrennen durchaus überregionale Beachtung – der Nördlinger Gesandte Jakob Protzer berichtet etwa 1459 mit Blick auf das heimatliche Rennen von der groß red von des scharlachs wegen entlang der Donau zwischen Passau und Wien25, eine stabile translokale Vernetzung wie bei den italienischen Paliorennen ist aber nur rudimentär erkennbar. Beiderseits der Alpen galt der Raumorganisation der städtischen Rennkurse, die gleichermaßen kommunalen Repräsentationsbedürfnissen diente und einen fairen Wett­ bewerb gewährleisten sollte, in den Statuten und Rennordnungen besondere Aufmerksamkeit. In Italien wurde eine gerade durchquerende Streckenführung alla lunga von einem Stadttor zum Zentrum oder dem gegenüberliegenden Stadttor bevorzugt, die auf equine Hoch- und Ausdauergeschwindigkeit und die Demonstration kommunaler Raumsymbolik angelegt war.26 Das Florentiner Hauptrennen etwa, der Palio di San Giovanni, lief quer durch die ältesten Teile der Stadt entlang des antiken decumanus und war damit symbolisch hoch besetzt.27 Dagegen sind die oberdeutschen Scharlachrennen eher vorstädtische Ereignisse: In Nördlingen liefen die Pferde auf der sogenannten 20 Siehe dazu Mallett, Horse-Racing, S. 254; Tobey, Palio-Horse, S. 64; dies., Palio, S. 45–49. 21 Trexler, Correre la terra. Vgl. dazu auch Rizzi, Ludus/ludere, S. 171–204; Taddei, Les rituels; dies., Il linguaggio. 22 Vgl. Kalb, Beiträge, S. 8–11. 23 Vgl. dazu Trexler, Public Life, S. 262; Ventrone, La festa, S. 49, 55. 24 Vgl. dazu Mallett, Horse-Racing, S. 254, sowie die Angaben bei Nosari, Canova, Palio nel Rinascimento, S. 12–57. 25 Jakob Protzer an die Bürgermeister und den Rat von Nördlingen, Wien, 9. Mai 1459, ­StANö, Missiven 1459, fol. 138v. Zur Nördlinger Familie der Protzer vgl. Kiessling, Die Stadt, S. 151 f. 26 Vgl. Mallett, Horse-Racing, S. 254; Nosari, Canova, Palio nel Rinascimento, S. 19; Gattoni, Palio e contrade, S. 46 f.; Zampieri, Il palio, S. 25 f. 27 Rogers, Art, S. 212 f.; Artusi, Gabbrielli, Feste e giochi, S. 59; Chrétien, The Festival, S. 41; Tobey, Palio-Horse, S. 65 f.

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„Reichs“- oder „Kaiserwiese“, dem pratum imperiale vor dem nordwestlichen Baldinger Tor28, in München vor dem westlichen Neuhauser Tor29 und in Wien entlang eines ‚Rennwegs‘, der wie auch die Via del Corso in Rom und Florenz noch heute nach den damaligen Pferderennen benannt ist.30 Das urbane oder suburbane Setting sicherte ein hohes Zuschaueraufkommen, das sich entlang der Straßenkurse, aber auch an den Fenstern wie auf den Dächern, Strebebalken und Balkonen städtischer palazzi sowie auf ephemeren Aufbauten wie etwa Tribünen in Florenz und Ferrara31 oder Bänken und Geländern in Nördlingen platzierte.32 Aus nah und fern strömten etwa zum Florentiner Palio di San Giovanni Besucher ad vedere correre il palio zusammen – eine cosa mirabile, wie der Florentiner Geschichtsschreiber Gregorio Dati im Jahr 1410 schwärmt.33 [E]in grosse meng und ein hubsch gedreng zogen nach einem anonymen Nördlinger Spruchgedicht von 1442 auch die oberdeutschen Rennen auf sich.34 Die generelle Zuschauerorientierung35 und Raumlogik der Rennstrecken, aber auch die Präsenz von Stadtobrigkeiten und gesamtstädtischen Symbolen wie Wappen und Banner machte aus den Palio- und Scharlachrennen – wie von Giovanni Toscani auf einer Florentiner Hochzeitstruhe um 1430 ins Bild gebracht (Abb. 1)36 – Hochämter der kommunalen Selbstdarstellung. Das gilt gleichermaßen für deren soundscape, die im Wesentlichen von kommunalen Klangsignalen strukturiert wurde. Nicht von ungefähr sind die Austragungsorte der Palio- und Scharlachrennen im 15. Jahrhundert zugleich transalpine Kernzonen städtischer Instrumentalmusik, die professionelle Trompeterund Pfeiferensembles zu Vermittlungs- und Repräsentationszwecken nutzten, etwa im 28 Zum pratum imperiale als Austragungsort der Scharlachrennen siehe Kalb, Beiträge, S. 16, 19; Fischer, Der Überfall, S. 68. 29 Vgl. zum erstmals 1364 belegten Rennweg Stahleder, Chronik München, Bd. 1, S. 144; Solleder, München im Mittelalter, S. 418; Kalb, Beiträge, S. 11. Generell lässt sich ‚Rennweg‘ als Straßenname in zahlreichen Städten Bayerns, Österreichs und der Schweiz belegen, z. B. in Innsbruck, Nürnberg und Meran. Siehe dazu ebd., S. 15 f. 30 Berg, Das „Scharlachrennen“, S. 112. Zur Benennung der Via del Corso in Florenz siehe del Lungo, Volpi, La Cronica, S. 164. Zur Via del Corso in Rom vgl. ­Esposito, Der römische Karneval, S. 23. 31 Parenti, Lettere, S. 80. Vgl. zu Ferrara Tuohy, Herculean Ferrara, S. 244. 32 Nördlingen, undatierte Rennordnung, StANö, Messe, R 38 F 9, Nr. 11. 33 Giovanni Sabadino degli Arienti an Isabella d’Este, Bologna, 29. Juni 1505, ASMn, AG, b. 1146, ed. in: James, Letters, Nr. 153, S. 220–221, hier S. 221; Dati, L’istoria, S. 94 f. Vgl. dazu Rogers, Art, S. 211 f. 34 Anonymus, Spruchdichtung, Cod. 18.12. Aug. 4 ° (1494), fol. 258r, ed. in: Fischer, Überfall, S. 63. Vgl. Mülich, Chronik, S. 80 (zum Jahr 1442). 35 Zaccaria Zambotto an Francesco II. Gonzaga, Ferrara, 5. März 1485, ASMn, AG, b. 1231, fol. 467r. 36 Giovanni Toscani, Cassone, ca. 1430, Cleveland, Museum of Art, Holden Collection. Vgl. zur Florentiner cassone-Malerei Musacchio, Art; Campbell, Love; Schubring, Cassoni. Zu Florentiner soundscapes anlässlich des Palio di San Giovanni und anderer lokaler Pferderennen siehe McGee, Ceremonial Musicians, S. 9 f.

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Bereich des innerstädtischen Informationsverkehrs und der musikalischen Festbegleitung. Damit schrieben sich diese Klangakteure in eine laufende akustische Konkurrenz zwischen Höfen und Städten ein, die am Ende des Mittelalters eine besondere klanggeschichtliche Dynamik entfaltete.37 2. Akustische Signalregime: Ausrufung und Start des Rennens

Bereits im Vorfeld der Rennereignisse griff ein akustisches Signalregime, und zwar in Form einer öffentlichen Ausrufung (Scharlach-Ruffen38), die für das Wiener spectaculum scarlaci39 besonders gut dokumentiert ist: Vom Söller der Schranne am Hohen Markt aus verkündeten meist drei trumetter und ausruffer40 ein von Landesherr und Stadt gemeinsam organisiertes Pferderennen für den Folgetag. Dem „Copey-Buch der gemainen Stat Wienn“ ist der Wortlaut des Jahres 1454 zu entnehmen: Nu hört vnd sweigt. Es gepeut der durchleuchtigist fürst, vnser gnedigister Herr kunig Lasslaw zu Vngarn […], sein gewaltiger Lantmarschalh, auch der Burgermaister, Richter vnd Rat von der Stat, das alle die, dy zu dem Scharlach wellent rennen lassen, ir lauffunde pherdt morgen nach essens in das Rathaws pringen usw. […].41

Ausrufer, Trompeter, pawgker und Pfeifer kamen in Wien auch am Renntag selbst zum Einsatz, etwa beim feierlichen Auszug des Teilnehmerfeldes in Begleitung von Fahnen und Büchsenschützen oder bei der Verkündung der Rennordnung unmittelbar vor dem Wettkampf.42 Der oratorische Basisakt der Ausrufung unter dem Signalklang der Trompeten, die als „Machtzeichen“ und „offizielle[s] städtische[s] Instrument“ schlechthin

37 Vgl. dazu Polk, Instrumental Music, S. 176 f.; Green, Musiker. Siehe dazu auch insgesamt Žak, Musik. 38 Ausrufung des Wiener Scharlachrennens, 1. Juni 1454, ed. in: Copey-Buch, S. 13. Vgl. dazu auch Opll, Nachrichten, S. 151; Schlager, Wiener Skizzen, S. 4. Zum Wiener Scharlachrennen siehe allgemein Bialecka, Spectaculum; Berg, „Scharlachrennen“; Perger, Art. ‚Scharlachrennen‘; Urwalek, Der Rennweg; Hering, Die privilegierten Wiener, S. 27–31. 39 Schulverordnung der Wiener Universität, 1451, zit. nach Aschbach, Geschichte, S. 208, Anm. 1. Vgl. dazu Bialecka, Spectaculum, S. 55. 40 WStLA, OKAR, 1/30, 1471, fol. 40v. Vgl. auch Historisches Museum der Stadt Wien, Musik im mittelalterlichen Wien, S. 146. 41 Ausrufung des Wiener Scharlachrennens, 1. Juni 1454, ed. in: Copey-Buch, S. 13. Vgl. dazu auch Berg, „Scharlachrennen“, S. 112; Opll, Nachrichten, S. 151; Brunner, Die Finanzen, S. 265. 42 WStLA, OKAR, 1/4, 1436, fol. 32v. Vgl. Bialecka, Spectaculum, S. 66–67; Schlager, Wiener Skizzen, S. 5; Berg, „Scharlachrennen“, S. 112. Auch für das Festessen nach dem Rennen wurden Lautenschläger engagiert, vgl. dazu Historisches Museum der Stadt Wien, Musik im mittelalterlichen Wien, S. 146; Brunner, Finanzen, S. 265.

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gelten können43, war auch in anderen Ausrichterstädten bekannt. So schreibt etwa eine Augsburger Rennordnung von 1559 vor, dass am Sonntag vor dem Rennen vom Erker des Rathauses aus ain beruff nach altem geprauch stattfinden soll, der am Vortag des Ereignisses selbst durch den Stadtvogt sampt ainem trumetter nochmals verlesen werden sollte.44 In den Münchener Stadtrechnungen finden sich seit der Mitte des 15. Jahrhunderts beinahe jedes Jahr Hinweise auf diese Praxis, ohne allerdings explizit eine Beteiligung von Blechblasinstrumenten zu erwähnen: Item VI denarii haben wir geben dem Symon Ambptman von dem Ruf der Ross ze Sigel zum Rennen, lautet ein Eintrag zum Jahr 1454, und 1460 heißt es: Item VI denarii haben wir zalt dem Symon Franpoten von den lauffenden pfärden zu beruffen.45 Auch südlich der Alpen war – wie etwa in Bologna nach den Statuten von 1288 – eine proclamatio oder – lautmalerischer – cridatio an drei Tagen im Vorfeld eines Paliorennens vorgesehen.46 Genaueres erfahren wir aus einer späteren Bologneser Rennordnung von 1579: Nähert sich der Renntag, sind die Ausrufer – banditori – verpflichtet, das Rennen acht Tage zuvor in den Stadtvierteln anzukündigen, in denen es ausgetragen wird, damit dort alles aufgeräumt und gereinigt werden kann und die Pferdebesitzer genug Zeit haben, um sich da­rauf einzustellen.47

Die musici und trombetti der Kommune hingegen waren aufgefordert, das Paliobanner feierlich der Stadtobrigkeit zu übergeben und dabei alle ihre Instrumente erklingen zu lassen, um den festlichen Charakter des Ereignisses zu akzentuieren.48 Hier wie in anderen Fällen ging es bei der Ausrufung um eine oratorisch und musikalisch hergestellte Publizität, um ein möglichst großes Teilnehmerfeld sowie darum, ein entsprechendes Zuschaueraufkommen zu gewährleisten. Der Start als besonders störungs- und manipulationsanfälliger Moment des Wettkampfs, der häufig zu umstrittenen Rennausgängen führte, war beiderseits der Alpen akustisch codiert. In Nördlingen etwa warteten die Rennpferde vor einem auf der Erde 43 Korsch, The „Loud Joy“, S. 11; Žak, Musik, S. 130. Vgl. dazu auch Heyde, Trompete. 44 Augsburger Rennordnung von 1559, StAA, Verschiedene Provenienzen – Polizeiwesen, Sign. 3: Diverse Ordnungen und Statuten (1454–1776), fol. 6r. Zu den Augsburger Trompetern und Stadtpfeifern allgemein siehe Mančal, Stadtpfeifer; Hoyer, Musik in Schwaben; Layer, Augsburger Musikkultur; Green, Defining, dies., Musiker. 45 StAM, Kammerrechnungen, Nr. 63, 1454, fol. 80r; ebd., Nr. 69, 1460, fol. 76r. Zu den Münchener Stadtpfeifern siehe Stahleder, Chronik, Bd. 1, S. 109 (zum Jahr 1334). 46 Statuti di Bologna dell’anno 1288, Bd. 2, lib. XII, rubr. XXV; ebd., S. 221. Vgl. dazu G ­ ambassi, Concerto Palatino, Dok. Nr. 12, S. 82. 47 Ordinazioni et capitoli sopra il correr li palii, 20. Juni 1579, ed. in: Gambassi, Concerto Palatino, Dok. Nr. 322, S. 173. Siehe dazu auch ebd., S. 59. Zur Rolle der banditori im spätmittelalterlichen Florenz siehe Milner, „Fanno bandire“. Vgl. allgemein auch Dutour, L’élaboration. 48 Ordinazioni et capitoli sopra il correr li palii, 20. Juni 1579, ed. in: Gambassi, Concerto Palatino, Dok. Nr. 322, S. 173.

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liegenden Seil, bis ein Mitglied der aus den beiden Bürgermeistern und fünf Ratsherren gebildeten Rennkommission mit einem lauten Schrei das akustische Startsignal gab oder – in zeitgenössischer Diktion – den „Anlass“ vollzog.49 Beim Florentiner Palio di San Giovanni hingegen kam ein in der ganzen Stadt hörbarer Sound zum Einsatz, nämlich das lauteste künstlich erzeugte akustische Phänomen einer vormodernen Stadt50: „Beim Klang von drei Schlägen der großen Glocke des Palazzo della Signoria beginnen die zum Start aufgestellten Pferde zu rennen“, schrieb Gregorio Dati 1410.51 Diese akustische Durchdringung der Rennstrecke war nicht nur pragmatisch geboten, sondern hatte auch eine eminent symbolische Dimension: Diese Leone oder grossa genannte und rund elf Tonnen schwere Glocke war nicht nur die größte und lauteste der Stadt52, sondern brachte Tag für Tag akustisch die politische Macht der Florentiner Signoria über die gesamte Stadt zum Ausdruck53 – eine Demonstration räumlicher Reichweiten, wie sie auch der Streckenführung der Paliorennen im Gewand kommunaler Hoheit über den Zirkulationsraum der städtischen Straßen innewohnt.54 Allein die Wahl des Startsignals markierte das Paliorennen als gesamtstädtisches Ereignis unter der Schirmherrschaft einer Stadtregierung, die ohnehin – worauf Ulrich Meier hingewiesen hat – im Alltag zum Schweigen verdonnert war und nur über oratorisches Dienstpersonal, Stadtschreier mit Blechblasinstrumenten und eben Glocken mit der Bürgerschaft kommunizierte.55 Allerdings wurden die anderen Paliokonkurrenzen der Arnostadt, wie in den nordund mittelitalienischen Städten allgemein üblich, mit einem Trompetensignal gestartet. Über diese Praxis wird zumeist dann berichtet, wenn beim Start nicht alles mit rechten Dingen zugegangen war und der Ausgang des Rennens dementsprechend angefochten wurde: aliqui ex dictis equis ceperunt cursum sine sono tube ordinato et confecto, „einige von den besagten Pferden begannen das Rennen, ohne dass der Trompetenstoß ordentlich ausgeführt war“, stellte 1470 eine Untersuchung der Sieneser Biccherna über das dortige Paliorennen von Sant’Ambrogio fest.56 Zenza il son de la tromba sei der Fehlstart einiger Rennpferde des Bologneser Signore Giovanni Bentivoglio erfolgt, notierte Bernardo

49 Mussgnug, Nördlinger Scharlachrennen, S. 118–119, 123; Wulz, Turniere, S. 5. 50 Atkinson, Republic of Sound, S. 69 f.: „From morning to evening, the Florentine day was punctuated by the sounds of both civic and sacred bells, the loudest man-made sound anyone would have heard in the preindustrial city.“ 51 Dati, L’istoria, S. 95, c. 130, 131. Vgl. dazu Carew-Reid, Les fêtes florentines, S. 77; McGee, Ceremonial Musicians, S. 10. 52 Dati, Istoria di Firenze, S. 263. 53 Atkinson, Sonic Armatures, S. 43, 47; ders., Republic of Sound, S. 83. 54 Siehe dazu Najemy, Florentine Politics. Vgl. dazu allgemein Nevola, Surveillance; Bell, Street Life. 55 Meier, Die Sicht- und Hörbarkeit, S. 255. 56 Protokoll der Sieneser Biccherna, 6./8. April 1470, ASS, Biccherna, 786, fol. 14v–15, ed. in: Ceppari Ridolfi, Turrini, Compilation of Documents, S. 527.

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Zambotti zum Ferrareser Palio di San Giorgio in sein Tagebuch.57 Im Juni und Juli 1500 sorgte ein gewisser Grasso banditore, d. h. einer jener Florentiner Stadtschreier, die nach einer salutatio mit ihrer silbernen Trompete regelmäßig wichtige Informationen verkündeten58, bei einigen Paliorennen als Rennpatron für Aufsehen: Nachdem Grassos Pferd beim Palio di San Barnabà am 11. Juni einen Fehlstart senza son di tromba begangen hatte und beim Palio di San Vittorio am 14. Juni abgeschlagen auf dem letzten Platz ins Ziel gekommen war59, gelang ihm am 26. Juli beim Palio di Sant’Anna endlich ein Sieg – allerdings nicht ohne Gerede und einen bösen Verdacht: Grassos Pferd sei eigentlich zu früh gestartet, der für den Start verantwortliche Trompeter habe aber keinen Regelverstoß erkennen wollen, da er ebenfalls als banditore tätig sei und ihm deshalb gefällig sein wollte.60 In diesem Fall der compagni banditori spiegelt sich einmal mehr, dass der akustischen Signalgebung eine entscheidende, wenn auch nicht gänzlich manipulationssichere Rolle bei den equinen Leistungskonkurrenzen zukam. In Bologna schließlich nutzte man nach einer Rennordnung von 1739 die Warnfunktion der Trompete für eine veritable Signalstafette: Dort sollten zwei Anlasser und acht weitere Blechbläser in regelmäßigen Abständen entlang der Rennstrecke postiert werden, so dass sie die Trompetenstöße wechselseitig hören und darauf jeweils mit einem eigenen Signal antworten konnten. Vor dem Rennen war jeder der zehn Trompeter angehalten, die Zuschauer con più replicati segni über den unmittelbar bevorstehenden Rennbeginn zu unterrichten. Während des Rennens sollten sie mit Klängen das ganze Rennen von Anfang bis Ende begleiten, und zwar jeweils beginnend in dem Moment, wenn das Signal des Vordermanns zu hören ist, und kontinuierlich fortschreitend, bis dass das letztplatzierte Rennpferd aus dem Sichtfeld der Umstehenden verschwunden ist.61

Hier entfaltet sich eine akustische Verdopplung der Renndynamik, die angesichts häufiger Unfälle mit Passanten und Tieren, welche die städtischen Rennstrecken während des Wettkampfs zu kreuzen versuchten, wohl dringend geboten war.62 57 Zambotti, Diario Ferrarese, S. 251 (24. April 1495); ebd., S. 175 (10. September 1486). Vgl. Nosari, Canova, Palio nel Rinascimento, S. 161; Vgl. auch Galeotto Pico della Mirandola an Francesco II. Gonzaga, Cervia, 9. Juni 1514, zit. nach ebd., S. 280; Simone an Francesco II. Gonzaga, zit. nach ebd., S. 103. Siehe dazu auch Lockwood, Music in Renaissance, S. 309. 58 Milner, Town-Criers, S. 109. 59 Francesco Malatesta an Francesco II. Gonzaga, Florenz, 11. Juni 1500, ASMn, AG, b. 1103, fol. 70r; Francesco Malatesta an Francesco II. Gonzaga, Florenz, 14. Juni 1500, ASMn, AG, b. 1103, fol. 72v–73r. 60 Francesco Malatesta an Francesco II. Gonzaga, Florenz, 28. Juli 1500, ASMn, AG, b. 1103, fol. 122r–123v abgedr. in: Gattoni, La Titanomachia, Nr. 28, S. 214. 61 Bologneser Rennordnung von 1739, zit. nach Gambassi, Concerto Palatino, S. 414 f. 62 Vgl. beispielsweise die Kollision des Mantuaner Rennpferds Falcone mit einem Maultier beim Florentiner Palio di Sant’Onofrio von 1498 (Simone an Francesco II. Gonzaga, Florenz, 15. Juli

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3. Wettkampfgeräusche und -musik

Dass die Akustik der agonalen Performanz selbst – das mächtige Geräusch galoppierender Pferde in engen Straßenschluchten – nur über sprachliche Beschreibungen zugänglich ist und akustisch dokumentierte soundsnaps von Pferderennen gänzlich der Moderne überlassen werden müssen63, ist mit Blick auf die Begrenztheit vormoderner Klangüberlieferungen nicht mehr als eine Binsenweisheit. Freilich waren die Palio- und Scharlachrennen auch visuell ein eher flüchtiges Geschehen: „Man stand auf der Straße und sah nichts als die Pferde vorbeirasen“, kommentierte Montaigne mäßig begeistert seine Erfahrungen beim Florentiner Palio 158164, und auch Goethe kann angesichts dieser kinetischen Energie auf dem römischen Corso nur die Grenzen der Sichtbarkeit konstatieren: [K]aum daß man sie erblickt, sind sie vorbei.65 Dutzende zeitgenössische Rennberichte im Rahmen diplomatischer Korrespondenzen versuchen sich zwar an einem eigenen Beschreibungskanon equiner Hochgeschwindigkeit – schnell wie ein Pfeil, schneller als ein Vogel und der Westwind, nur am Start und im Ziel zu sehen, niemals aber während des Rennens usw. –, schenken dem Klangrepertoire des Wettkampfs selbst aber kaum Aufmerksamkeit.66 Eine singuläre Ausnahme stellt in diesem Zusammenhang ein Zeugenverhör vor dem Nördlinger Stadtgericht vom 23. Juni 1495 dar, das dem umstrittenen Ausgang des dortigen Scharlachrennens gewidmet war.67 Dabei sollte geklärt werden, ob der Reiter auf dem siegreichen Rappen des Grafen Eberhard II. von Württemberg den Grauschimmel des Ritters Hans von Hohenheim tatsächlich mit der Geißel behindert – gevarlich geirrt – habe.68 Während die meisten der insgesamt 17 Zeugen unter genauer Angabe ihres Standorts an der Rennstrecke visuelle Sinneswahrnehmungen schilderten – hab er gesehen, aber nit gesehen, darnach uff die andern nachfolgenden ros geluogt69 –, gaben Hanns Hufel, Michel Höchstetter, Jörg Vischer und Jörg Heydegker auch Höreindrücke zu Protokoll: Nachdem der Grauschimmel das Bein des württem1498, ASMn, AG, b. 2452, fol. 686r). Vgl. Nosari, Canova, Palio nel Rinascimento, S. 188. Zum Kreuzen der Rennstrecke als jugendliche Wettpraxis beim Palio di San Giovanni von 1489 siehe Jaser, Agonale Ökonomien, S. 621. 63 https://www.soundsnap.com/tags/horse_race, (20.08.2019). 64 Montaigne, Journal de voyage, S. 308. Übersetzung bei Montaigne, Tagebuch, S. 239. 65 Goethe, Italienische Reise, S. 507. 66 Alessandro Gabbioneta an Francesco II. Gonzaga, Rom, 19. Februar 1515, ASMn, AG, b. 876, fol. 121r; Giovanfrancesco da Crema an Francesco II. Gonzaga, Florenz, 30. Juni 1509, ASMn, AG, b. 2475, fol. 393r; Angelo Poliziano, In equum Laurentii Medicis, 1487, in: Lungo, Prose volgari, S. 130. 67 Vgl. zu diesem Streitfall und seinen Hintergründen siehe Jaser, Irrung; Mussgnug, Nördlinger Scharlachrennen, S. 125–131. 68 Hans von Hohenheim an den Rat der Stadt Nördlingen, 3. November 1496, StANö, Messe, R. 38 F 10, Nr. 13, fol. 8r. 69 Zeugenverhörprotokoll zum Nördlinger Scharlachrennen von 1495, 24. Juni 1495, StANö, Messe, R 38 F 10, Nr. 13, fol. 1r, 2v.

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bergischen Jockeys touchiert hatte, habe dieser ihn mit dem Ellenbogen weggestoßen und Aw Aw geschrien70; alternativ wird lautmalerisch berichtet, die Reiter hätten mit iren geyslen geknatscht und der württembergische Jockey habe damit um sich geschlagen, so dass der Grauschimmel mit dem kopf hinter sich schnart – im Sinne eines rauhen vibrierenden Geräuschs – und dadurch an Geschwindigkeit verloren habe.71 Der Zeuge Michel Höchstetter, der eine Behinderung des Hohenheimer Pferdes wahrgenommen haben wollte, führte bereits an der Rennstrecke stante pede eine lautstarke Klage gegen den schuldigen Jockey: […] also schri er dem knaben und schelt in warumb er das pferdt also schlieg.72 In Italien versuchten die Stallknechte der Rennpferde, die sogenannten barbareschatori, akustisch auf das Geschehen Einfluss zu nehmen, wie etwa Bartolomeo de’ Barbari vom Ferrareser Palio di San Giorgio berichtet: „Ich habe so sehr geschrieen und so sehr geflucht, dass es mir die Stimme verschlagen hat und ich drei Fieberschübe erdulden musste.“73 Nimmt man ferner die lautstarken Zuschauerreaktionen und Anfeuerungsrufe hinzu, war mit einer agonalen Geräuschkulisse und einem Lärmpegel zu rechnen, die ein entsprechendes Habituationstraining der Rennpferde voraussetzten, wie es Jordanus Ruffus bereits im 13. Jahrhundert in seiner „Hippiatria“ vorgeschlagen hatte.74 Im Umfeld der dem Wettkampf beiwohnenden Stadtregierung war während des Rennens auch für musikalische Unterhaltung gesorgt, wie etwa das Florentiner cassone-Bild mit Trompetern und einem Dudelsackspieler im Zieleinlauf auf dem sogenannten carro, dem Festwagen mit dem Paliobanner, anschaulich zeigt (Abb. 1). Näheres lässt sich aus den Sieneser Stadtrechnungen erfahren: Dort wurden bereits 1316 an sechs Musiker – Trompeter, Schalmeibläser, Pauker –, die allesamt in mit dem Stadtwappen versehene Brusttücher und Wimpel eingekleidet wurden, zwölf soldi für eine rinchontrata, einen gemeinsamen Auftritt, während des Paliorennens ausbezahlt.75 Hier wie auch andernorts in Italien war es überdies üblich, ad honorandum festum patronis zahlreiche auswärtige Musiker einzuladen, in Siena 1457 waren es rund 60 Blechbläser und mehrere Pfeifer, Sänger, Lautenspieler und Pauker aus Florenz, Pisa, Lucca und anderen toskanischen Städten, die dem Stadtsäckel insgesamt 1158 grossi kosteten.76 Zusammen bliesen die einheimischen und auswärtigen Trompeter einfache Fanfaren oder eine bloße Abfolge von lauten Trompetenstößen77, die in jedem Fall auf eine akustische Überwältigung der 70 Ebd., fol. 1r. 71 Ebd., fol. 1r, 2v. 72 Ebd., fol. 1r. 73 Bartolomeo de’ Barbari an Francesco II. Gonzaga, Ferrara, 26. August 1496, zit. nach Nosari, Canova, Palio nel Rinascimento, S. 179. 74 Ruffus, Hippiatria, S. 15. Vgl. dazu Hiepe, „Buch über die Stallmeisterei“, S. 28–31. 75 Ausgaben für das Sieneser Paliorennen, 17. August 1316, ASS, Biccherna, 132, fol. 15r, zit. nach Cecchini, Palio, S. 349. Vgl. dazu ebd., S. 313; D’Accone, The Civic Muse, S. 685. 76 Zahlungen an die Musiker für das Sieneser Patronatsfest, 10. August 1457, ASS, Concistoro, 545, fol. 58v (zit. nach D’Accone, Civic Muse, S. 707–708, hier S. 707). 77 D’Accone, Civic Muse, S. 689.

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Zuhörer abzielte, dabei aber auch die allegrezza des festlichen Anlasses markierte.78 Im Soundscape von Patronatsfest und Paliorennen waren honor und gaudium, Musik und Ehre auf eine Weise verschränkt, die den Status und die Reputation der Ausrichterstadt tangierte und damit eine kompetitive Dynamik nach innen wie nach außen entfaltete.79 4. Akklamationen und musikalische Kommemoration

Mit dem Zieldurchlauf wandelte sich die in Gestalt der Glocken, Stadttrompeter und -pfeifer bisher eindeutig kommunal dominierte soundscape schlagartig in den Echoraum dynastisch-fürstlicher „Lautmarken“80, so dass sich auch akustisch diese Wettkämpfe als Schnittpunkte von städtischer Öffentlichkeit und höfischer Patronage erweisen. Denn die Akklamation des siegreichen Patrons durch die Zuschauermenge bildete häufig genug den Schlussakt der Palioinszenierung: Galeazo, Galeazo, schallte es etwa 1506 „aus festlich gestimmten und lauten Kehlen“ durch die Bologneser Straßen, als das Pferd des apostolischen Protonotars Antongaleazzo Bentivoglio den Bologneser Palio di San Ruffilo gewonnen hatte.81 Noch weitaus häufiger erklangen auf italienischen Rennstrecken Schlachtrufe der Mantuaner Gonzaga-Dynastie, die in den Jahrzehnten um 1500 unter Markgraf Francesco II. mit Abstand das erfolgreichste Renngestüt besaß: Jeder habe freudig Mantua Mantua gerufen, weil die Gonzaga-Rennpferde alle anderen überholt haben, berichtet ein sichtlich zufriedener Giovanni Sabadino degli Arienti aus Bologna an Markgräfin Isabella d’Este im Juni 1505.82 Nach einem Sieg des Mantuaner Markgrafen bei einem römischen Paliorennen im Jahre 1508 wies Papst Julius II. einige seiner Familiaren eigens an, dass sie Gonzaga Gonzaga schreien sollten83, während Alessandro Gabbioneta im Anschluss an einen weiteren Gonzaga-Triumph in Rom 1514 eine veritable Siegesfeier schildert: „Wir zogen aus mit dem Palio und mit Trompeten, Pfeifern und Paukern und es waren mehr als hundert Pferde; […] wir ritten durch halb Rom, wo man nichts anderes hörte als Gonzaga, Turcho und Mantua.“84 Turco als traditioneller Schlachtruf der Gonzaga ging angeblich auf Francescos Großvater Ludovico 78 Vgl. dazu Žak, Musik, S. 26, Anm. 23. 79 Vgl. dazu ebd., S. 26–30. 80 Vgl. Missfelder, Period Ear, S. 37. 81 Giovanni Sabadino degli Arienti an Isabella d’Este, Bologna, 22. Juni 1506, ASMn, AG, b. 1146, ed. in: James, Letters, Nr. 178, S. 242. Vgl. dazu auch dies., An Insatiable Appetite, S. 384. 82 Giovanni Sabadino degli Arienti an Isabella d’Este, Bologna, 29. Juni 1505, ASMn, AG, b. 1146, ed. in: James, Letters, Nr. 153, S. 221. 83 Ludovico da Camposanpiero an Francesco II. Gonzaga, Rom, 7. März 1508, ASMn, AG, b. 858. 84 Alessandro Gabbioneta an Francesco II. Gonzaga, Rom, 26. Februar 1514, ASMn, AG, b. 862, fasc. I.1., fol. 35r–26r, abgedr. in Malacarne, Il mito, S. 195 f. Vgl. auch Alessandro del Cardinale an Francesco II. Gonzaga, Rom, 15. Februar 1510, ASMn, AG, b. 858, fol. 534r–v; Floriano Dolfo an Francesco II. Gonzaga, Bologna, 4. Oktober 1493, ASMn, AG, b. 1143, ed. in: Dolfo, Lettere ai Gonzaga, Nr. I, S. 3.

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II. und dessen türkische Barttracht zurück, dürfte aber durchaus auch den turkophilen Neigungen des Enkels entsprochen haben.85 Über das Medium der Akklamation brach sich nicht nur eine agonale Spannung Bahn, sondern konstituierte sich auch eine „akustische Gemeinschaft“86 zwischen Rennpatron und seiner Anhängerschaft vor Ort, die die in jedem Paliogewinn inhärente symbolische Eroberung der Ausrichterstadt auf klanglichem Wege artikulierte. Ein poetisches Echo dieser ephemeren Ehrgemeinschaften findet sich noch bei Filippo Lapacini zu Beginn des 16. Jahrhunderts, der in seinem Loblied auf das Mantuaner Rennpferd namens Il Sauro einen gleichsam nationalen Schlachtruf schmiedet – Turcho, Turcho, tutta Italia chrida, „Turco, Turco, schreit ganz Italien“ – und diese Triumphchiffre ausdrücklich mit virtù und onore des siegreichen Markgrafen verbindet.87 Grundsätzlich war der honore de la vittoria88, um ein Diktum von Francesco Gonzaga von 1514 aufzugreifen, strikt ereignisgebunden, lokal begrenzt und von eher kurzlebiger Dauer. Um diesem Defizit Abhilfe zu schaffen, wurde am Mantuaner Gonzaga-Hof das mediale Format einer diachronen Leistungsmemoria quasi erfunden. Entsprechend verewigt der 1512 in Auftrag gegebene Libro dei palii vinti die Paliosiege von insgesamt 34 Rennpferden in Text und Bild89: Oben jeweils der Name des Pferdes in Goldschrift, darunter eine Abbildung des Rennpferds dal naturale, in der unteren Bildhälfte schließlich wiederum in Goldschrift die Auflistung der gewonnen Paliorennen jedes einzelnen Rennpferds, insgesamt 197 Siege zwischen 1499 und 1518.90 Gegenüber der Aufzeichnungslogik des Libro dei palii vinti als agonale Leistungsbilanz besticht die 1527 ausgemalte Sala dei Cavalli, der Audienzsaal des Mantuaner Palazzo Te, eher durch die ästhetische Inszenierung von vier durch Inschriften individualisierten Rennpferden als equi illustri,91 deren Anblick dem Dichter Torquato Tasso derart naturgetreu erschien, dass er das Getrappel ihrer Hufe zu hören vermeinte.92 Geradezu als musikalischer Erinnerungsort der einheimischen Rennpferdezucht kann die fünfstimmige Motette Enceladi Coeique Soror des Mantuaner Kathedral­ 85 Campana, Arbori delle famiglie le quali hanno signoreggiato con diversi titoli in Mantua (…), Mantua 1590, S. 25. Vgl. Dolfo, Lettere ai Gonzaga, S. 243; Luzio, Isabella d’Este, S. 115–167, 412–464, hier S. 126; Kissling, Sultan Bâjezîds II., S. 57. Vgl. Bourne, Francesco II Gonzaga, S. 243–244; dies., The Turban’d Turk, S. 53–64. Vgl. zu Schlachtrufen im Mittelalter auch Lett, Offenstadt, Les pratiques, S. 5–41, hier S. 31 f. 86 Missfelder, Period Ear, S. 37; Schafer, Ordnung der Klänge, S. 350 f. 87 Lapacini, In laudem Sauri, in: Libro dei palii vinti, 1512–1518, Mailand, Collezione Giustiniani Falck, fol. 6v, zit. nach Malacarne, Il mito, S. 229. 88 Francesco II. Gonzaga an Alessandro Gabbioneta, Mantua, 4. März 1514, ASMn, AG, b. 2921, l. 231, fol. 78v. 89 Vgl. Malacarne, Il mito, S. 87 f. 90 Vgl. ebd., S. 93. 91 Tobey, Sala dei Cavalli, S. 146; Malacarne, Il mito, S. 147–157. 92 Tasso, Le rime, S. 639. Vgl. Tobey, Sala dei Cavalli, S. 143, 146; dies., Palio, S. 249, 261–263; Malacarne, Il mito, S. 147–157.

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Abb. 1: Giovanni ­Toscani, Cassone, ca. 1430, ©­ ­Cleveland, Museum of Art, ­Holden Collection.

kapellmeisters Jachet von Mantua aus dem Jahr 1549 gelten93, die ein kurzes Lobgedicht des Mantuaner Hofpoeten Antonio Tebaldeo auf das Gestüt Herzog Federicos II. Gonzaga vertont: Schwester des Encelados und des Koios / und Botschafterin der Wahrheit und der Lüge / Du durchquerst Länder und Meere / Wenn Du schneller als gewöhnlich sein willst / leg’ Deine Flügel ab und / nutze stattdessen die geschwinden Pferde des Königs Gonzaga.94

Eine Motette zu Ehren der Mantuaner Rennpferde – damit wurde musikalisch kommemoriert, was Francesco II. Gonzaga bereits 1513 angesichts einer aufstrebenden Medici-­ Konkurrenz behauptet hatte: Unsere Ehre [liegt] in den Pferden.95 93 Zu Jachet von Mantua siehe Nugent, Jacquet Motets, S. 40–122; Fenlon, Music and Patronage, S. 45–78; Widmaier, Jachet von Mantua, S. 85 f.; Dunning, Staatsmotette, S. 262–264. Vgl. auch das instruktive Booklet der Neuaufnahme Willaert, Mantoue, Messe et Motets de Circonstances. 94 Tebaldeo, De equis Fed. Gonzagae, Bd. 9, S. 244. Vgl. dazu Nugent, Jaquet Motets, S. 224. 95 Francesco II. Gonzaga an Giuliano II. de’ Medici, Mantua, 31. Juli 1513, ASMn, AG, b. 2921, l. 231, fol. 4v. Vgl. Malacarne, Il mito, S. 79.

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5. Fazit

Wie klingt also das Agonale am Ausgang des Mittelalters? Zumindest mit Blick auf ­Italien, wo durch enge Straßenschluchten und vorbei an Zuschauermassen geritten wurde, kann konstatiert werden: Städtische Pferderennen waren eine laute Angelegenheit, und das Knatschen der Geißeln oder das Schnarren der Pferde war dort aufgrund der Geräuschkulisse sicher nicht immer zu hören. Diesseits und jenseits der Alpen ist das Agonale nicht ohne das Akustische denkbar, werden die Rennereignisse durch ein klangliches Signalregime gestartet, strukturiert und gesichert. Dabei sind die akustischen Repräsentationen entlang der Rennstrecken ihrerseits von kompetitiven Dynamiken durchzogen. Das gilt für die explizite oder implizite Konkurrenz der Patronatsfeste und Jahrmärkte, die nicht zuletzt über die Quantität und Qualität der festlichen soundscapes ausgetragen wurde, nicht weniger aber für den Triumph- und Überbietungsgestus der Akklamationen und musikalischen Erinnerungsorte. Abkürzungen AG – Archivio Gonzaga ASS – Archivio di Stato di Siena

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ASMn – Archivio di Stato di Mantova b. – busta HAB – Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel l. – libro OKAR – Oberkammeramtsrechnungen StAA – Stadtarchiv Augsburg StANö – Stadtarchiv Nördlingen StAM – Stadtarchiv München WStLA – Wiener Stadt- und Landesarchiv Quellenverzeichnis Ungedruckte Quellen

ASMn, AG

b. 858 b. 862 b. 876 b. 1106 b. 1143 b. 1146 b. 1231 b. 2452 b. 2475 b. 2921, l. 231

ASS, Biccherna

132 786

ASS, Concistoro, 545 HAB, Cod. 18.12. Aug. 4 ° Mailand, Collezione Giustiniani Falck, Libro dei palii vinti StAA, Verschiedene Provenienzen – Polizeiwesen, Sign. 3: Diverse Ordnungen und Statuten (1454–1776), Nr. 39 StANö, Messe

R 38 F 10, Nr. 13 R 38 F 9, Nr. 11

StANö, Missiven 1459 StAM, Kammerrechnungen

Nr. 63 Nr. 69

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Gedruckte Quellen

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Muhende Kühe und plappernde Priester Die Wahrnehmung akustischer Störungen im Umfeld humanistischer Gelehrsamkeit Julia Samp

1. Einleitung

Offenbar hat „kein Zeitalter seit Erschaffung der Welt […] so viel und so ungeheuerlichen Lärm gemacht“1 wie das unsrige. Die akustische Belästigung ist eines der weltweit am meisten diskutierten Probleme. In diesen Diskussionen stellt die Vokabel „Lärm“ den „negativ konnotierte[n] Schlüsselbegriff des Modernisierungsprozesses“2 schlechthin dar. Dahinter verbirgt sich das in unserer Gesellschaft vorherrschende, an einer technologischen bzw. umweltwissenschaftlichen Sichtweise auf die Welt ausgerichtete, Verständnis, dass Lärm ein anhand von Dezibel-Zahlen mess- und entsprechend handhabbares Phänomen ist. Das Fehlen eines äquivalenten Begriffes für entsprechende Erscheinungen in der Vormoderne scheint dies zu bestätigen. Das deutsche Wort „Lärm“ – in der uns heute geläufigen Bedeutungsvariante – gibt es erst seit dem 17. Jahrhundert.3 Das antike Latein kennt gar kein direktes sprachliches Pendant. Demgegenüber sei die Klanglandschaft der Vormoderne durch Geräusche gekennzeichnet gewesen, die aufgrund ihrer Natürlichkeit und starken Wellenbewegungen nicht als lärmend zu klassifizieren seien4 – und so spricht u. a. Schafer von einer eintönigen Stille in früher Zeit.5 Hat es vor dem Zeitalter von Maschinen und Klangreproduktion keinen Lärm gegeben? 1 So der Titel der Studie von Saul: „Kein Zeitalter seit Erschaffung der Welt hat so viel und so ungeheuerlichen Lärm gemacht …“. Lärmquellen, S. 187–217. 2 Dommann, Antiphon, S. 135. Gemeint ist hier v. a. die Technologisierung infolge der Industrialisierung des 19. Jh., aber auch der elektrotechnischen Revolution des 20. Jh. 3 Noch im 16. Jh. trägt der Begriff den Bedeutungsgehalt des Auf- und Zusammenlaufens, der Zusammenrottung einer Menge, bevor im 17. Jh. darunter auch wildes Geschrei, Geräusch und Getöse verstanden wird; vgl. Dommann, Antiphon, S. 135. 4 Vgl. z. B. die Untersuchung von Rosen u. a., Noise-Free Population, S. 135–152. Der Schall­ pegel habe in vorindustrieller Zeit 40 Dezibel meist nicht überschritten. Nur in Ausnahmefällen (z. B. rituelle Feierlichkeiten) sei der Schallpegel auf ca. 70 bis max. 100 Dezibel angestiegen – ­Payer, Geräusch, S. 173–191, S. 1, spricht den Geräuschen zudem eine andere Zusammensetzung und Qualität zu; die heutige Geräuschkulisse sei hingegen geprägt durch monoton und kontinuierlich flach verlaufende Schallwellen, die als anhaltende Laute (Rauschen) wahrgenommen werden. 5 Schafer, Ordnung, S. 104, der sein Urteil auf die in der Vormoderne vorherrschenden Geräusche (der Elemente, der lebenden Natur und der Ruralität) bezieht.

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Im Folgenden soll entgegen dieser Annahmen der Versuch unternommen werden, das Phänomen „Lärm“ und dessen Terminus als ein durch den kulturellen Bedeutungszusammenhang geprägtes und durch die gesellschaftliche Praxis geformtes Konstrukt zu erweisen, dem in der vormodernen Klanglandschaft ein gewichtiger Stellenwert zukam. Dafür werden exemplarisch anhand des Briefwechsels des laut lebenden, aber leise lernenden Willibald Pirckheimer (1470–1530) auf dem Wege einer systematischen Kategorisierung die, für die Wahrnehmung von akustischen Störungen verwandten, sprach­lichen Codes sichtbar gemacht. Deren semantische Entschlüsselung verweist auf die leitenden Konstruktions- bzw. Bewertungsweisen der Wahrnehmung von akustischen Ereignissen als „Lärm“. Im Umfeld humanistischer Gelehrsamkeit lässt sich die der Untersuchung zugrunde gelegte These nachweisen: Jene Konstruktions- und Bewertungsweisen sind maßgeblich kulturell geprägt bzw. intendiert, sodass Lärm als eine qualifizierende Metapher für eine vielgestaltige Störung verstanden werden kann. Bei dieser handelt es sich jedoch vordergründig um eine Störung innerhalb der Auseinandersetzung von Identitäten sowie inmitten symbolischer Gesellschafts-­Ordnungen. Die Wahrnehmung und Problematisierung von Lärm ist somit primär Resultat sozialer Konstruktion und dient, wie zu zeigen sein wird, dem humanistischen Gelehrten als ein Medium sozialer Distinktion. Wesentlich für diese Annahmen ist ein Perspektivwechsel auf Basis neuerer psychoakustischer Erkenntnisse über die Entstehungsursachen von Lärm: Geräusche und Klänge werden weniger aufgrund einer bestimmten Lautstärke oder Intensität als Lärm wahrgenommen; entscheidend für die Bewertung ist eine bestimmte, ihnen eigene Qualität, die insbesondere von nachteiliger psychologischer Wirkung auf Verhalten und Kognition ist:6 Lärm ist ein Stressor, der entsteht, wenn Menschen Geräusche aufgrund einer Empfindung deren Unerwünschtheit respektive damit verbundener unangenehmer Empfindungen als Störung wahrnehmen und diese auch problematisieren. Die eigentliche Ursache für die Bewertung eines akustischen Stimulus als Lärm verlagert sich damit hin zur individuellen oder kollektiven Einstellung zu einem solchen. Entscheidend aber für eine solche Bewertung verschiedenster Klangqualitäten als Lärm ist dann in der Tat der kulturelle Bedeutungszusammenhang. Darauf aufbauend geht die Untersuchung im Folgenden konkret drei Fragen nach: Welche akustischen Reize der mittelalterlichen Klanglandschaft werden vom Humanisten im genannten Sinne bewertet und als akustische Störung wahrgenommen? Welcher Bedeutungszusammenhang liegt der Empfindung des Gestört-Seins zugrunde und bedingt, dass aus Geräuschen Lärm wird? Und: Inwiefern hat diese Wahrnehmung Auswirkungen auf die soziale Praxis?

6 Akuter und chronischer Lärm mindert v. a. die menschliche Leistungsfähigkeit, kann aber auch Sprechstörungen, Stress, Schlafstörungen o. ä. nach sich ziehen. Vgl. zusammenfassend Fels u. a., Report (unveröffentlicht).

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In einem ersten Schritt werden wesentliche Forschungslinien zur Einordnung der aufgeworfenen Thesen dargestellt, denn leider spiegelt sich die Vorstellung einer lärmlosen Vormoderne in der bisher erfolgten Erforschung von Lärm- und Geräuschphänomenen – insbesondere in der Mediävistik – deutlich wider: Es fehlen Forschungsansätze wie methodische Vorgehensweisen. Doch in den jungen Disziplinen der Sound Studies oder der Kulturanthropologie finden sich deutliche Belege für die Notwendigkeit eines Sichtwechsels und produktive Anknüpfungspunkte für die historische Untersuchung auditiver Kulturen; ausgehend davon begründen sich die im zweiten Schritt vorzustellende Auswahl eines Quellenkorpus sowie dann die Generierung einer zielführenden Methodik, bevor schließlich die Ergebnisse der klanggeschichtlichen Analyse des Briefwechsels aufgezeigt und hinsichtlich der These eingeordnet werden. 2. Mediävistische Klang- und Lärmforschung: ein disparates Forschungsfeld

Die Wahrnehmung akustischer Störungen ist noch vorrangig ein Forschungsgegenstand der Psychologie.7 In den zumeist experimentalpsychologischen Forschungen wird auf zum Teil gravierende Leistungsminderung bei auditiver Distraktion in Bezug auf Gedächtnisinhalte und Reaktionszeiten hingewiesen. Ziel der Studien ist die Entschlüsselung der Wirkweisen bestimmter Stimuli sowie der dahinter stehenden kognitiven Mechanismen: Psychoakustisch gesehen ist Lärm jener oben bezeichnete Stressor, der durch eine akustische Störungsempfindung hervorgerufen wird. Bisher hat die Geschichtswissenschaft überwiegend auf den Einsatz des Gehörs verzichtet und „sich mit dem Klang der Stille begnügt“8. Insbesondere die Mediävistik hat das Hören und die Klänge bisher kaum beachtet und eine wirkliche Wertschätzung dessen macht sich „erst in wenigen Ansätzen bemerkbar“9. Dieses Desinteresse der historischen Wissenschaften gegenüber der Untersuchung vergangener auditiver Kulturen ist wohl letztlich auf eine ideengeschichtliche Verhaftung zurückzuführen, die von Kulturwissenschaftlern wie Jonathan Sterne als „audiovisual litany“10 bezeichnet wird. Die bis heute reichende Konsequenz: Jegliche Aneignung von Vergangenheit und Geschichte erfolgt über den Gesichtssinn. Darüber hinaus unterliegt die klang­

 7 Vgl. Fels u. a., Report, S. 1–3. Thematisiert wird v. a. der Zusammenhang von Wahrnehmung akustischer Störungen und Bildungskontexten bzw. Aufmerksamkeitssituationen.  8 Müller, Silence, S. 29.  9 Müller, Silence, S. 28. Eine erste Annäherung an das mittelalterliche Hören und die Klänge findet sich bei Wagner, Hören im Mittelalter, S. 155–172 und Wenzel, Hören und Sehen. 10 Sterne, Audible Past, S. 15. Dies bezeichnet den beständig aufrechterhaltenen Gegensatz von Auditivem und Visuellem, der letztlich dazu führt, dass der auditive Sinn untergeordnet und als Subjektivität Vorschub leistend abgeurteilt wird (ausführlich Ders., S. 10–19).

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geschichtliche Untersuchung einer in Kapitel 3 noch genauer zu benennenden quellenheuristischen Problematik. Allerdings beginnt in den Kulturwissenschaften neuerdings ein „Umhören“ im Rahmen eines sog. Sensual Turn,11 welches sich wohl v. a. auf die unüberhörbare Zunahme des Lärms, einhergehend mit der Transformation „from an exclusively aural experience to a root methaphor about our world, our lives, and the meaning of our lives“12 zurückführen lässt. So entwickelt sich aktuell eine explizite Erforschung von Klängen – auch von Klängen des Lärms – in Form einer eigenen Disziplin, den Sound Studies. Der überwiegende Teil der klang- und lärmforschenden Studien jener als transdisziplinäres Forschungsfeld zu bezeichnenden „Klangwissenschaft“ nimmt besonders die Lautsphäre des städtischen Raumes im modernen Lärmzeitalter – und zwar aus vorwiegend musikund medienwissenschaftlicher Perspektive – in den Fokus. Es werden die Geräusche von Fabriken, Verkehr sowie Musik- und Vergnügungskultur und damit zusammenhängende Klangpraktiken analysiert bzw. kritisiert: Unter dem Label der Sound Studies erscheint der Klang des Lärms vorwiegend als ein umweltbelastender Faktor der Moderne.13 Historische Fragen nach den Verbindungen dieser Praktiken mit den sozialen sowie kommunikativen Zusammenhängen oder auch nach der Veränderung von Hörverhaltensweisen an sich bleiben dabei ausgespart. Paradigmatisch und richtungsweisend ist in diesem Bereich der Beitrag Schafers zur Soundscape-Forschung, der v. a. darin besteht, die Soundscape – verstanden als die aus der Gesamtheit aller vorhandenen Schallereignisse zusammengesetzte akustische Hülle – „überhaupt erst diskursfähig“14 gemacht zu haben. Für kulturwissenschaftliche und historische Betrachtungen kann sein Konzept insofern vorbildhaft sein, als dass es die Beschreibung der akustischen Umwelt mit deren Wahrnehmung und Deutung kombiniert. Die Wahrnehmung und Ertragbarkeit von Klängen und Geräuschen erscheint so als wechselseitig auf die gesellschaftliche Situation bezogen. Die Einsicht daraus: In damit zusammenhängenden Praktiken erhalten „gesellschaftliche […] Machtstrukturen und Defizite“15 eine sichtbare Gestalt. Zunehmend ist auch die Zahl kulturanthropologischer Untersuchungen auditiver Kulturen, die gewissermaßen eine den Sound Studies inhärente Disziplin bilden. Die Kulturanthropologie thematisiert neben kulturellen auch historische Fragestellungen und weist damit anregend voraus in die Richtung einer dringend notwendigen historischen Anthropologie auditiver Kulturen. Ziel des dort angestrengten Einbezugs von Klängen – wie auch der Forcierung einer Anthropologie der Wahrnehmung des gesamten sensorischen Systems – ist es, die Übermacht des Visuellen in der modernen Gesellschaft 11 Vgl. Aichinger, Sinne, S. 21–22. Dazu auch Jütte, Geschichte der Sinne, bes. S. 9–16, der ein größer werdendes historisches Interesse auf eine steigende Aufmerksamkeit für den Körper innerhalb der Alltagskultur zurückführt. 12 Schwartz, Making Noise, S. 21. 13 Ausführlich dazu Morat, Geschichte, S. 695–716; Morat, Historizität, S. 131–144. 14 Breitsameter, Hörgestalt, S. 7–33, S. 17. 15 Breitsameter, Hörgestalt, S. 25.

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zu regulieren. Der Wert jener Arbeiten – in Bezug auf die hier verfolgte Fragestellung – besteht in der sich aufdrängenden Folgerung, dass Klang und ebenso Lärm aus anthropologischer Sicht eben nicht als rein objektiv messbare und primär ökologisch begründete Probleme zu behandeln sind. Stattdessen erwächst aus den kulturanthropologischen Beschreibungen der sich verändernden Ausdrücke und Reaktionen hörender Subjekte die Erkenntnis, dass auditive Wahrnehmung bzw. die Wahrnehmung akustischer Störungen als vorrangig soziales Instrument die menschliche Vorstellung von der Welt sowie das Verhalten in historischen Handlungszusammenhängen steuert und wiederum über entsprechende Ausdrücke und Reaktionen auch erklärbar werden lässt. Kristallisationspunkt der beginnenden kulturanthropologischen Erforschung auditiver Kulturen – mit historischer Perspektive – ist der Forschungsansatz Corbins, der sich dann ganz ähnlich auch bei Smith findet. Während Corbin im Hinblick auf das Konflikt- und Identitätsbildungspotential die Herstellung einer symbolischen Ordnung durch Kirchenglocken für die Zeit des Nationalkonvents nach der Französischen Revolution untersucht,16 betrachtet Smith die Klangkulturen des industrialisierten Nordens gegenüber jenen des Plantagensüdens Amerikas und entdeckt dabei auch miteinander konkurrierende Vorstellungen beider Seiten über die Klanglandschaft der jeweils anderen Kultur.17 Ähnliche Erkenntnisse erzielt auch Bailey im Kontext des viktorianischen Zeitalters: Wahrnehmung und Bedeutungszuweisung akustischer Störungen fungieren – ähnlich wie die zeitgenössischen Standards von Literalität und körperlichem Anstand bzw. körperlicher Scham – als wichtige Medien der sozialen Distinktion. Lärm ist ein Indikator für individuelle und kollektive Identität und somit eine wichtige Ressource des Widerstandes.18 Der Wert all dieser Untersuchungen liegt zusammengefasst darin, die auditive Wahrnehmung in ihrer sinnlichen und sinnhaften Bedeutung durch den jeweiligen kulturellen Bedeutungszusammenhang verständlich zu machen und so überhaupt erst neben dem Werden und den Kontinuitäten auch die Veränderlichkeit menschlicher (Hör-)Erfahrung reflektieren zu können. Damit bietet sich der historischen Untersuchung auditiver Kulturen diese Neu-Definition des Phänomens: Erstens handelt es sich bei dem als Lärm bezeichneten Phänomen um einen Klang hoher symbolischer Bedeutung, dessen Wahrnehmung und Deutung maßgeblich durch kulturelle Vorstellungen vorgeprägt sowie durch damit zusammenhängende soziale Praktiken geformt ist, d. h. Lärm ist immer (auch) soziales Konstrukt. Basierend auf seinen Bedeutungsvarianten kristallisiert sich in Lärm als Symbol, zweitens, stets der Verweis auf etwas „Außer-­Ordentliches“19; denn der Bewertung entsprechender Erscheinungen als akustische Störung einschließlich deren Wahrnehmung als unerwünscht liegen Be-Deutungszuweisungen zugrunde, durch die lärmende Klänge zu Symbolen eines Angriffs sowohl auf die individuelle Iden16 Corbin, Sprache der Glocken. 17 Smith, Listening. 18 Bailey, Sound Barrier, S. 49–66. 19 Payer, Geräusch, S. 13.

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tität als auch die gesellschaftliche Ordnung werden. So ist Lärm, drittens, eine Art und Weise des Wissens und Handelns, die als Mittel der Identitätsstiftung und -abgrenzung genutzt werden kann. Insgesamt ist „Lärm“ also ein Begriff, „bei dem soziale Konflikte mitschwingen“20. 3. Quellenheuristische Grundlagen für die Erforschung der humanistischen Wahrnehmung akustischer Störungen

Der historischen Perspektive auf Klänge oder Lärm vergangener Zeiten steht eine wesentliche Problematik entgegen. Jeder historischen Untersuchung auditiver Kulturen scheint der Makel des Spekulativen anzuhaften, weil entsprechende auditive Zeugnisse – also Geräusche bzw. deren materialisierte Formen –, über die eine sinnliche Vergangenheit zu rekonstruieren wäre, überwiegend verloren sind: Schall „existed only as it went out of existence“21. Jegliche Formen der menschlichen Lautäußerung vormoderner Zeiten – das Geschrei antiker Senatsdebatten, der Gesang in mittelalterlichen Messen und hitzige Reden frühneuzeitlicher Parlamentssitzungen u. ä. – sind verloren. Folglich sind auch quantitative bzw. generell empirische Annäherungsweisen über vorliegende objektive oder objektivierbare Daten unmöglich. Akzeptiert scheint die Annahme, dass eine rückblickende Analyse des Auditiven für den Historiker erst für die Zeit ab 1900 möglich sei.22 Für die Zeit vor 1900 aber, also auch für den zeitlichen Rahmen des hier zu bearbeitenden Themas, muss entsprechend von einem ganz grundlegenden Mangel ausgegangen werden, der wiederum einen Mangel an zielführenden Forschungsansätzen und effektiven Methoden nach sich zieht. Gleichwohl soll an dieser Stelle deutlich gemacht werden, dass die Annahme einer generellen Nicht-Erschließbarkeit vormoderner Klanglandschaften aufgrund eines Mangels an Tondokumenten gewissermaßen ein Trugschluss und die geschilderte Gehörlosigkeit zwar eine „teilweise notgedrungene, teilweise aber auch selbstverordnete Gehörlosigkeit“23 ist: Zum einen gibt es sehr wohl erhaltene oder auch nachgebaute geräuschproduzierende Artefakte24 sowie anderweitige akustische Zeugnisse.25 Zum anderen „spricht a priori [nichts] dagegen, dass sich auch die Geschichte des Hörens 20 Dommann, Antiphon, S. 140. 21 Sterne, Audible Past, S. 1. 22 Um 1900 entwickelten sich Technologien zur Speicherung und Wiedergabe auditiver Erscheinungen. Diese überliefern nicht nur akustische Tatsachen, sondern stellen selbst eine neue Art des Quellenmaterials dar. Jene Reproduktionsmittel sind bereits entsprechend häufig Mittelpunkt der angedeuteten Untersuchungen geworden und haben sich als ergiebige Quellen für die Erforschung des Hörens erwiesen. Vgl. insges. Morat, Geschichte. 23 Müller, Silence, S. 43. 24 Kirchenglocken, Schreibmaschinen, Musikinstrumente usw. 25 Notenschriften usw.

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[…] durch die Auswertung von akzidentiellen Quellen oder von schriftlich fixierten Berichten […] dem Klang der Vergangenheit annähern kann“26 – der Verzicht auf die Möglichkeit der Analyse von schriftlichen Quellen ist in Anbetracht der geisteswissenschaftlichen Schriftfixierung geradezu verwunderlich. Schon des Öfteren haben sich im Rahmen einer Anthropologie der Sinne demgegenüber die von Aichinger als Ego-Dokumente27 und von Schafer als Ohrenzeugenberichte28 bezeichneten Zeugnisse als ertragreiches Quellenkorpus für die Rekonstruktion vormoderner Lautsphären und deren auditiver Codes erwiesen. Denn entscheidend für die Rekonstruktion vergangener Sinneswelten ist es laut Sterne gerade nicht, zu erforschen, wie die historischen Klänge ursprünglich geklungen haben;29 es gilt vielmehr, so Morat, die Bedeutung zu eruieren, die die Klänge aus zeitgenössischer Sicht begleiteten.30 Gerade die deskriptiven wie performativen Ausdrücke der akustischen Umwelt durch das hörende Subjekt selbst eignen sich dafür außerordentlich. Die folgende Annäherung an Geräusche über deren schriftlich fixierte Ausdrücke, d. h. über konkrete Objektivierungsund entsprechende Kommunizierungsversuche subjektiver Erfahrungen und Empfindungen, von akustischen Störungen soll dies unter Beweis stellen. Besonders geeignet für die Offenlegung akustischer Wahrnehmung erscheint im Spektrum der mittelalterlichen Quellenzeugnisse, wie nun zu zeigen sein wird, der in den stillen Studierstuben der Humanisten um Willibald Pirckheimer hervorgebrachte Brief.31 Dass innerhalb des weiten Panoramas mittelalterlicher Gelehrsamkeit gerade die Gruppe der Renaissance-Humanisten prädestiniert ist für die Erforschung negativer Deutungen akustischer Ereignisse, belegen zahlreiche psychoakustische Studien insofern, als dass sie die Auswirkungen von akustischen Störungen besonders im Kontext von Bildung und Aufmerksamkeit nachweisen: Wenn akustische Störungen einen stark mindernden Einfluss auf die Kognitionsfähigkeit haben, stellen sie v. a. für den wissenschaftlich tätigen Geist eine Belastungserscheinung dar und machen so im humanistischen Gelehrtenkreis deutliche Reaktionen auf Störungen akustischer Art sehr wahrscheinlich. Für diese Gruppe, die um die Wende zum 15. Jahrhundert nach einer dynamischen Verbindung von Antikerezeption und einer an der Antike ausgerichteten Lebenspraxis mit dem Ziel der Wiederbelebung menschlicher Kreativität strebte, wurde bereits eine ausgeprägte Abstraktion von den Sinnen als fester Bestandteil des sogenannten Gelehr26 Müller, Silence, S. 27. 27 Vgl. Aichinger, Sinne, S. 10, Briefe, Tagebücher oder Autobiographien. 28 Vgl. Schafer, Ordnung, S. 43, literarische und mythologische Texte, anthropologische oder historische Abhandlungen. 29 Vgl. Sterne, Audible Past, S. 19, bezeichnet hier auch ein solches Ansinnen als „striv[ing] for a false tran­scendence“. 30 Vgl. Morat, Historizität, S. 136. 31 Auch in städtischen Verordnungen u. ä. ließen sich sinnliche Elemente ausmachen; dabei handelt es sich allerdings um die normativ gefilterten Spuren kollektiver Vereinbarungen über Geräusche.

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tenhabitus gekennzeichnet. Nach Algazi ist es ein „in jüngster Zeit oft eingeschlagener Weg […,] ähnlichen Fragen [und zwar zudem] anhand von […] Zeugnissen der schriftlichen Selbstreflexion nachzugehen“32. Aufgrund dieses Habitus bietet der Typus des Humanisten in vielerlei Hinsicht einen äußerst „passende[n] Schlüssel zu den Sozialformen“33 der vormodernen Gelehrtenwelt und einen sinnvollen „Background“ für die Untersuchung einer sozial grundgelegten Wahrnehmung und Behandlung von störenden akustischen Stimuli. Kristallisationspunkt der demonstrativen Kommunikationskultur humanistischer Gelehrter war das an die platonische Akademie anknüpfende gelehrte Zwiegespräch. „Geradezu als Ersatz eines solchen direkten Gesprächs müssen die Briefe gelten, auf deren Austausch Humanisten besonderen Wert legten“34. Diese Briefe haben, als das Kommunikationsmittel erster Wahl, in doppelter Weise einen herausragenden Quellenwert für den Habitus des vormodernen Gelehrten sowie dessen Gruppenpraxis einerseits, andererseits aber auch für die in der gelehrten Gemeinschaft thematisierten Diskurse. Sie dienten den Gelehrten nie nur als dokumentarischer Träger von Inhalten, sondern vor allem auch als pragmatisches Signal formaler Konventionen – eine „leise“ Möglichkeit im Angesicht der Abwesenheit des Anderen, Präsenz durch eine Verschriftlichung des Dialogs zu erzeugen: ein Medium der sozialen Konsolidierung. Gerade die Korrespondenz Willibald Pirckheimers ist mit über 1.000 erhaltenen Briefen, Briefkonzepten und -fragmenten äußerst umfangreich und gut bearbeitet – seit 2009 liegt deren Edition abgeschlossen vor.35 Pirckheimer wurde 1470 in Eichstätt als Sohn einer Patrizierfamilie geboren. Er starb 60 Jahre später in Nürnberg als deutscher Humanist von europäischem Rang – in der Forschung jedoch ist er eher als schreiender Ratsherr und polternder Lebemann bekannt.36 Seine außergewöhnliche Wirksamkeit u. a. auf den Gebieten der Geschichtsschreibung und Griechisch-Studien wird dabei verkannt, ebenso seine Netzwerkfunktion für den deutschen Humanismus.37 Diesem Status entspricht der weite Kreis an Korrespondenzpartnern – neben Pirckheimer kommen auch Humanisten von gleichfalls europäischem Rang und Namen „zu Wort“. Aus diesem komplexen Beziehungsgeflecht erklärt sich sodann die beachtliche thematische Bandbreite der gesammelten Briefe, die sich zudem aus der Vielfalt der wissenschaft­lichen Interessen Pirckheimers speist: Das im Briefwechsel aufscheinende „Kulturbild“38 macht ihn zu einer interessanten Quelle gerade für kulturgeschichtliche Forschungsvorhaben wie die hier angestrebte historische Anthropologie auditiver Kulturen. 32 Algazi, ,Sich selbst vergessen‘, S. 389. Vgl. auch Ders., Gelehrte Zerstreutheit, S. 235–250; Ders., Geistesabwesenheit, S. 325–342. 33 Müller, Specimen, S. 150. 34 Müller, Specimen, S. 129. 35 Pirckheimers Briefwechsel, 7 Bde. 36 Vgl. Holzberg, Pirckheimer, bes. S. 11–13. 37 Vgl. Holzberg, Pirckheimer, bes. S. 11–13. 38 Pirckheimers Briefwechsel, Bd. 1, S. XXXVI.

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4. Vorgehensweise: Die prototypensemantische Untersuchung einer Sprachfigur

Adäquate Methoden für historisch-klangwissenschaftliche Untersuchungen sind immer noch ein grundlegendes Desiderat der Forschung, denn das vorhandene, überwiegend sprachliche Quellenmaterial, auf welches der Historiker für eine Klanggeschichte der Zeit vor 1900 angewiesen ist, benötigt besondere Herangehensweisen: Liegt der Fokus auf den Bedeutungen, die den Klängen aus Sicht der Zeitgenossen zukamen, gilt es, wie bereits gesagt, die deskriptiven wie performativen Ausdrücke durch das hörende Subjekt zu analysieren,39 um über die Bedeutungszusammenhänge die Wahrnehmungsweisen akustischer Störungen und deren Handhabungen deuten zu können. Gerade im Bereich der Mediengeschichte haben sich semantische Vorgehensweisen, die eine Art „Wahrnehmungsarchäologie“ betreiben, als erfolgsversprechend erwiesen. Jene Ansätze suchen die hinter den sprachlichen Codes liegenden auditiven Codes zu „übersetzen“, denn sie sind von vornherein bedeutend mental vorgeprägt. Zeichentheoretisch gewendet müssen Geräusche als konkrete Ereignisse verstanden werden, die auf die Wirklichkeit rekurrieren und daher in dieser Zeichenfunktion und Symbolhaftigkeit sowie hinsichtlich ihres Signalcharakters untersucht werden sollten: Die entscheidende Frage ist also jene nach den, durch die eigentlich physikalische Tatsache evozierten, emotionalen und kognitiven Konzepten. Für das weitere methodische Vorgehen bedeutet dies zunächst, den gesamten Pirckheimer’schen Briefwechsel auf sämtliche Versprachlichungen akustischer Störungsempfindungen zu untersuchen, d. h. alle sprachlichen Zeichen zusammenzustellen, die einen akustischen Stimulus denotieren und/oder eine damit zusammenhängende Störung konnotieren.40 Diese Gesamtheit aller „besten Vertreter“ der Kategorie „Lärm“, abgebildet in Form eines prototypensemantisch organisierten Wortfeldes, verdeutlicht nicht nur unterschiedliche oder gemeinsame semantische Nuancen, sondern lässt darüber auch den Bedeutungszusammenhang akustischer Störungen im Kontext humanistischer Gelehrsamkeit sichtbar werden.41 Auf dem Wege dieser „Semantik des Geräusches und der Klänge“ wird die Untersuchung auch die zugrunde liegenden und sich verändernden kulturellen Konfigurationen und verdichteten sozialen Beziehungs­ systeme sichtbar werden lassen. Genau in diesem Spannungsfeld findet sich schließlich, 39 Vorhandene Arbeiten beweisen, dass nur über eine historisierende Bedeutungszuweisung vergangene Sinneswelten zur Rekonstruktion der Vergangenheit beitragen können; vgl. insgesamt Morat, Historizität. 40 Eine Denotation bezeichnet die sachlich neutrale Information („das Geräusch“), während eine Konnotation die emotional gesteuerte Mitbedeutung („das Gestörtsein“) meint. Vgl. Kessel, Reimann, Basiswissen, S. 164–165. 41 Dass im Briefwechsel alle Korrespondenzpartner erscheinen, ist mit Blick auf die gewählte Methodik positiv zu beurteilen, da so die Untersuchung der sprachlich fixierten Wahrnehmung ebenso den bestimmenden Diskurs einbeziehen kann.

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so die Vermutung, die Grundlage für eine sozial gedachte Wahrnehmung und Deutung akustischer Störungen: Ist Lärm tatsächlich ein durch soziale Konstruktionsweisen geformtes Objekt? 5. „Gelehrte Lärmempfindlichkeit“ und „gelehrte Taubheit“: Auditive Wahrnehmung als soziales Instrument

Innerhalb der Pirckheimer’schen Korrespondenz wird wiederkehrend das Ringen um den Ausgleich von Praxis und Muße thematisiert. Insofern erscheint es überraschend, dass insgesamt nur wenige Geräusche der mittelalterlichen Lautsphäre überhaupt versprachlicht werden: Akustische Ereignisse natürlicher oder technischer Herkunft nehmen im postalischen Gespräch eine marginale Rolle ein und nur wenige von diesen Geräuschen werden dann auch als akustische Störungen formuliert. Im Zusammenhang mit der Beschreibung großer Unwetter beispielsweise wird zwar von Verwüstungen berichtet, doch nur ein einziges Mal auch von „stetem doneren“42 – aber ohne Hinweis auf eine Störungsempfindung o. ä. Auch Geschrei, Muhen, Bellen und Gejammer von Ochsen, Rindern und Hunden sowie Wölfen ertönen im gesamten Briefwechsel nur einmal.43 Schlagende Glocken und andere wesentliche Elemente der mittelalterlichen Klanglandschaft wie klingende Schmiedehämmer usw. werden überhaupt nicht genannt oder gar beklagt.44 Dies berechtigt jedoch nicht zu dem Schluss, dass die (Lärm-)Wahrnehmung der humanistischen Gelehrten in vormoderner Zeit deshalb weniger differenziert gewesen sei45 oder ihnen eine mangelnde Hörfähigkeit zu unterstellen wäre.46 Es liegt nahe, in dieser Gehörlosigkeit – hier als „gelehrte Taubheit“ bezeichnet – eine Art Gegenstück zur unten noch auszuführenden „gelehrten Lärmempfindlichkeit“ zu sehen, d. h. als mutmaßlich strategisch intendierte Abstraktion von den Sinnen, um die umgebende äußerliche Welt gewissermaßen überhörend auszuschließen. Algazi versteht die von ihm konstatierte gelehrte Zerstreutheit und Geistesabwesenheit als feste Bestandteile des vormodernen Gelehrtenhabitus zur Abschirmung vor zu großer sozialer

42 Pirckheimers Briefwechsel, Bd. 5, S. 86 (Nr. 793). 43 Vgl. Pirckheimers Briefwechsel, Bd. 3, S. 411 (Nr. 561). 44 Vgl. zur Beschaffenheit der mittelalterlichen Klanglandschaft Wagner, Hören und Schafer, Ordnungen, bes. S. 91–133. 45 Vielmehr ist davon auszugehen, dass aufgrund der Hi-Fi-Qualität der mittelalterlichen Soundscape der einzelne Laut deutlicher und in seiner Perspektive wahrnehmbar gewesen ist: Nach Schafer, Ordnung, S. 92, arbeiteten „die Ohren […] in einer solchen Soundscape mit seismografischer Empfindlichkeit“. Entsprechend niedriger ist im Vergleich zur heutigen Lo-Fi-Soundscape die Wahrscheinlichkeit von Hörschäden. 46 Hinweise auf ein generelles Ohrenleiden finden sich im Briefwechsel Pirckheimers, trotz einer großen Anzahl medizinischer Rezepte gegen diverse Krankheiten und Gebrechen, nicht.

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Nähe und dies­bezüglichen Empfindungen.47 Deutet man seinen Ansatz zu einer Theorie humanistischer Weltwahrnehmung um, ist davon auszugehen, dass auch gelehrter Lärmempfindlichkeit und Taubheit die gleiche Funktionsweise zukam und diese zur Demonstration symbolischer Distanz gedacht waren. Art und Funktion einer so gelagerten humanistischen Wahrnehmung akustischer Störung sollen nun an zwei – solche versprachlichenden – Beispielen genauer erläutert werden. 5.1 Muhende Kühe und zischende Karren: Gefahren des humanistischen Seelenhaushaltes

Im brieflichen Austausch rund um Willibald Pirckheimer wird wiederholt der als „höfisch“ zu bezeichnende Lärm aufgegriffen, also eine Störung akustischer Art, die im Umfeld des sozialen Raumes „Hof “ entsteht. In diesem Kontext werden die akustischen Erscheinungen im Sinne des gesuchten psychologischen Stressors empfunden und versprachlicht. Willibald Pirckheimer – dem zumal ein „unendliches Ruhe- und Friedensbedürfnis“48 nachgesagt wird – drückt eine solche Empfindung in einem Brief an Johannes Trithemius (1462–1516) im Jahr 1507 aus und erklärt gleichzeitig, worin die empfundene Belastung genau besteht. Der größte Schatz für das häufige Studium der Wissenschaften und für die Unversehrtheit dieser Tätigkeit sei die Einsamkeit; gestört und verletzt werde sie hingegen durch die Unruhe, erzeugt durch den Lärm des Hofes und die lärmende, öffentliche Versammlung in der Stadt, weshalb er auch die Dienstangebote einiger Fürsten ausgeschlagen habe: Sed nunquam induci poteram, ut alicis me palponibus paterer coniungi, vetante id non minus philosophia quam religione, quam in tumultu aulico illaesam conservare nescio si quis potuerit unquam. Ad literas natus sum, quarum frequens studium tumultus horret aulicos, solitudinem diligit et publicum detestatur in urbe consessum.49

Störend erscheint hier v. a. das mit der Umwelt verbundene soziale Beziehungsgeflecht mit seinen spezifischen Umgangs- bzw. Kommunikationsformen. Immer wieder beklagt der Humanist derartige, durch die Staatsgeschäfte entstehende, Belastungen und entschließt sich im Jahre 1523 letztlich dazu, seine städtischen Ämter endgültig niederzulegen, um sich doch noch voll und ganz der Wissenschaft widmen und damit den wahren Frieden finden zu können.

47 Vgl. bes. Algazi, Geistesabwesenheit. 48 Geiger, Pirckheimer, S. 810–817 unter Pirckheimer, Bilibald [Online-Version]; URL: https://www. deutsche-biographie.de/pnd118594605.html#adbcontent (zuletzt eingesehen am: 26.08.2019). 49 Pirckheimers Briefwechsel, Bd. 2, S. 8 (Nr. 173).

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Ulrich von Hutten (1488–1523) beschreibt – vermutlich im Kontext des Augsburger Reichstages 1518 – eine solche „Lärmsituation“ konkret als Geschrei der Ochsen und Rinder, Bellen der Hunde und Gejammer der Wölfe sowie der auf den Feldern arbeitenden Menschen, als Zischen und Sausen, als Geräusch der Wagen und Karren: Audiuntur ovium balatus, boum mugitus, canum latratus, hominum in agro operantium vociferationes, carrorum et vehiculorum stridores ac strepitus, ae nostrae domi luporum etiam ululatu […].50

Es folgt darauf eine Beschreibung der damit einhergehenden Empfindungen von Bewegtheit, Beunruhigung und Aufruhr, Beklemmung, Zermürbtheit und Erschöpfung – die akustischen Ereignisse führen auch hier zu der gesuchten kognitiven Belastungsempfindung: Omni die de crastino cura est et sollicitudo est. […] ut nunquam non sit, quod moveat, quod turbet, quod angat, quod maceret, quod conficiat, quod evocet, quod extrahat [et] ex­trudate51 Der Ausdruck der empfundenen Störung gipfelt in der Äußerung der gleichen Sorge, die sich bereits bei Pirckheimer regte – die Sorge um das stille Glück des Gelehrten und die Angst um die eigenen Studien, welche so in eine kausale Verbindung zu den genannten Geräuschen gebracht werden: Durch weltliche wie alltägliche Pflichten, bäuerliche Hand-Arbeiten, menschliche Unterwürfigkeiten und Abneigungen, schließlich Krankheiten entsteht bei von Hutten der Eindruck eines stürmischen und zügellosen Hoflebens (turbulentum/soluta52), das Verwirrung und Ruhelosigkeit stiftet (turbis et inquietudinibus53). Doch der Hofstaat wimmelt nicht nur von diesen Belastungen (-tum aula istis scatet54); hinzu kommen die dort auf den Marktplätzen zusammenströmenden Menschen – hier konkret Bauern und Klientele: sunt coloni, quibus agros nostros, vineas, prata et sylvas locamus […] sunt clientelae55. Jene am Hof herrschende – scheinbar akustische – Unruhe gefährdet die wissenschaftliche Geisttätigkeit immens: Sunt officia, sunt clientelae, sunt fora, sunt conventus, sunt obsequia, sunt curae, sunt motus, sunt labores, sunt fastidia, tum casus et undique imminens fortunae iniuria ac morbi dolores56. Bei genauerem Hinsehen allerdings scheint so die beklagte Unruhe nicht primär auf einen durch die höfische Lebensweise verursachten Mangel an akustischer Ruhe zurückzuführen zu sein. Gefährdet wird die geistige Arbeit vielmehr durch die verstärkte soziale Nähe anderer Menschen und das damit verbundene Weltverhältnis; es sind die alltäglichen bzw. weltlichen Sorgen, die eine Stille im Sinne des inneren Seelenfriedens und eine Ruhe im Sinne betonter Abgeschiedenheit gefährden. 50 Pirckheimers Briefwechsel, Bd. 3, S. 409 (Nr. 561). 51 Pirckheimers Briefwechsel, Bd. 3, S. 409 (Nr. 561). 52 Pirckheimers Briefwechsel, Bd. 3, S. 411 (Nr. 561). 53 Pirckheimers Briefwechsel, Bd. 3, S. 411 (Nr. 561). 54 Pirckheimers Briefwechsel, Bd. 3, S. 411 (Nr. 561). 55 Pirckheimers Briefwechsel, Bd. 3, S. 411 (Nr. 561). 56 Pirckheimers Briefwechsel, Bd. 3, S. 411 (Nr. 561).

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Um 1400 hatte sich in der spätmittelalterlichen Gelehrtenkultur ein grundlegender Wandel vollzogen. Indem sich die Gelehrten von den bisherigen Institutionen (Kloster und Universität) lösten, änderten sich für sie nicht nur die bekannten Karrieremuster, d. h. im beruflichen Bereich erfolgte der Übergang von der klösterlichen/universitären in die öffentliche Sphäre. Dazu wurde im privaten Bereich die zölibatäre Lebensweise aufgegeben. Damit büßte der vormoderne Gelehrte neben einer kodifizierten (Rechts-) Sicherheit v. a. einen überschaubaren Handlungsrahmen ein. Die veränderten Bedingungen wissenschaftlicher Reproduktion erforderten eine Neuorganisation und zwangen letztendlich den Gelehrten in gleich zwei eigentlich negierte Beziehungsgeflechte: Für die Besorgung des Lebensunterhaltes und für wissenschaftliche Autarkie begab sich der vormoderne Gelehrte – so auch Pirckheimer selbst – in städtische oder höfische Dienstverhältnisse sowie in die Ehe (und Familie). Diese neue Umgebung aber potenzierte die Gefahr einer Ablenkung des gelehrten Geistes um ein Vielfaches, indem man dadurch letztlich Teil einer Welt und deren Sorgen wurde, der man eigentlich enthoben sein wollte/musste.57 Schon die gelehrten Autoritäten der Antike waren geprägt von diesem Grundverständnis der eigenen kognitiven Betätigung (contemplatio), der im Vergleich zur Handarbeit des Handwerkers oder der Bauern ein höherer Anspruch hinsichtlich ihres generellen Wertes zustehe. Damit aber bedurfte die wissenschaftliche Berufung, verstanden als völlige Hingabe an die Studien, für vernünftige Überlegungen (ratio) und rechte Urteilsfindung (discretio) der völligen Versunkenheit des Gelehrten in den wissenschaftlichen Betrachtungen; Voraussetzung wiederum dafür sei eine ganz besondere Form der Muße (otium) aus akustischer Stille sowie äußerer und insbesondere innerer Abgeschiedenheit und Sorgenfreiheit.58 Genau jenes spezifische, historisch gewachsene Verständnis vom gelehrten otium bildet vermutlich den Hintergrund, vor dem die unerwünschten Störungsempfindungen der beiden Humanisten, die jedoch Ausdruck in einer akustischen Beeinträchtigung finden, zu verstehen sind. Willibald Pirckheimer scheint dieses Verständnis geteilt zu haben; so übermittelt er – in Form einer Gedichtrezitation – an seinen engen Vertrauten Johannes Cochläus (1479–1552), dass nur ein senft und on sorg eyn gemut ist angenem der weisheit und sie wonet in einem geruigen herzen. Die ruigen mugen erforschen das gesetz wann sie haben freie herzen von allem strepitu59. Fühlte man sich also wie Pirckheimer und seine Mitstreiter allein für die Wissenschaften berufen, musste der neue Tätigkeitsrahmen als Gefährdung der Studien gedeutet und damit gewissermaßen als existentielle Bedrohung wahrgenommen werden. Die eigentliche Wurzel des beschriebenen Gestört-Seins resultiert daher sowohl bei von Hutten und ebenso bei Pirckheimer eher aus einer – infolge gesellschaftlicher Wandlungsprozesse hervorgerufenen – empfindlichen Störung des Beziehungsgeflech57 Vgl. Algazi, Geistesabwesenheit, S. 325–329. 58 Vgl. Algazi, Zerstreutheit. 59 Pirckheimers Briefwechsel, Bd. 1, S. 195 (Nr. 59).

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tes. Das als ambivalent empfundene Weltverhältnis mit der daraus resultierenden Störung des humanistischen Seelenfriedens wird dann durch ein akustisches Gestört-Sein versprachlicht:60 Die Vokabel „Hoflärm“ ist so auf der einen Seite als eine Metapher für eine unerwünschte innere, nicht akustische, Unruhe respektive fehlende Konzentration zu verstehen. Auf der anderen Seite handelt es sich um eine akkumulierende Versprachlichung der höfischen Lebensweise voll alltäglicher Pflichten und bäuerlicher Arbeiten. Sie ist Emblem einer nicht-humanistischen, sondern handwerklich-bäuerlichen Welt aus mit der Hand und nicht mit dem Kopf arbeitenden, jammernden Menschen und schreienden Tieren, der man sich eigentlich enthoben betrachtete. Die Metapher der akustischen Störung erscheint damit bedingt durch die sozial nahe Stellung des Humanisten in seinem sozial eigentlich fernen Umfeld. 5.2 Schreiende Menschen und plappernde Theologen: Bedrohung der symbolischen Ordnung

Besonders auffällig – und ein direkter Verweis auf das soziale Spannungsfeld – erscheint darüber hinaus das Untersuchungsergebnis, dass der Großteil der versprachlichten akustischen Ereignisse Lautäußerungen sind, die von der menschlichen Stimme ausgehen. Die Versprachlichungen der Wahrnehmung von Lärm in Form einer menschlichen Lautäußerung werden innerhalb des Briefwechsels in vielfältigen Ausprägungen als Störungen angeführt. Entweder schreien alle rum (omnes clamitant61) oder aber es wird mit großem Gebrüll gerufen (magno boatu clamitant62). Daneben hört man Geplapper (blactaverit63) oder Gelaber (blacteramina64), Geschwätz (famigeratissimo65) und Klagelaute (autumnant66). Es folgt Gestöhne (gemitus67); sogar Gelächter (cachinos68) ist zu vernehmen. All diese Klänge lösen eine als störend empfundene Unruhe – des inneren Seelenhaushaltes – aus. Dies wird meist durch beigefügte negativ assoziierte Bezeichnungen unterstrichen. Der Befund stimmt insofern vollkommen mit dem Bild überein, welches die im 13. Jahrhundert beachtlich zunehmenden Lärmgesetzgebungen vermitteln: Gerade 60 Bereits Sterne, Audible Past, bes. S. 11–13, hat es als legitim erwiesen, in gesellschaftlichen Wandlungsprozessen die eigentliche Ursache für veränderte Wahrnehmungskonstruktionen zu suchen: Der Veränderung von Wahrnehmungsweisen/Klangpraktiken geht eine Veränderung im technologischen Bereich voraus. Hören und Klangwahrnehmung müssen sich ändern, weil sie so wie der Körper steten Transformationen in Reaktion auf die Umwelt unterworfen seien. 61 Pirckheimers Briefwechsel, Bd. 1, S. 13 (Nr. 2). 62 Pirckheimers Briefwechsel, Bd. 5, S. 156 (Nr. 834). 63 Pirckheimers Briefwechsel, Bd. 1, S. 238 (Nr. 69). 64 Pirckheimers Briefwechsel, Bd. 3, S. 321 (Nr. 540). 65 Pirckheimers Briefwechsel, Bd. 3, S. 209 (Nr. 483). 66 Pirckheimers Briefwechsel, Bd. 2, S. 240 (Nr. 243). 67 Pirckheimers Briefwechsel, Bd. 3, S. 297 (Nr. 529). 68 Pirckheimers Briefwechsel, Bd. 5, S. 5 (Nr. 762).

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die menschliche Stimme und die von ihr ausgehenden Lautäußerungen waren es, die als Konzentrationspunkt städtischer Kontroversen zunehmend und äußerst selektiv von den Verordnungen bekämpft wurden – und nicht die viel lautere Kirchen­glocke, Schmiedewerkstatt oder ähnliches.69 Was genau bedingt aber dieses Gestört-Sein? Bereits Schafer und Schwartz konnten dazu mit ihren Untersuchungen nachweisen, dass der Umgang mit Klängen und insbesondere Lautphobien in kausaler Beziehung mit dem allgemeinen Stand der betroffenen Gesellschaft und vor allem dem sozialen Zusammenleben stehen. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich sodann, dass die oben genannten Lautäußerungen der menschlichen Stimme und eine damit einhergehende Störungsempfindung immer dann entstehen, wenn die Humanisten um Pirckheimer sich mit anderen sozialen Gruppen, mit Kollektiven eines sozialen Gegenübers konfrontiert sehen – dem Heer an Kriegern,70 der Versammlung auf dem Markt71 oder einer Masse an Studenten.72 Dies verweist bereits deutlich auf den vermuteten sozialen Zusammenhang der gelehrten Klagen; es ist dann auch wiederum nicht das Geräusch selbst, mit seiner spezifischen Lautstärke und Intensität, welches die Bewertung als Störung nach sich bzw. auf sich zieht: Die akustischen Störungen werden so wie auch im obigen Beispiel als Metapher einer vielgestaltigen und vor allem sozialen Störung verwendet. Die genannten lärmenden Formeln werden als metaphorischer Ausdruck einer damit einhergehenden Empfindung sozialer Bedrohung verwendet. Im Hintergrund dieser Wahrnehmungsweisen liegt dabei die Assoziation, dass Menschenansammlungen im Allgemeinen nicht nur Unruhe und Unordnung, sondern damit die Gefahr eines Angriffs auf die bestehende Ordnung symbolisieren.73 Die symbolische Bedeutung der akustischen Störungen in Form von terrorisierendem Geschrei, ungezügeltem Gelächter oder auch peinlichen Geräuschen wiederum greifen, wie Peter Bailey zeigen kann, diese Angst auf: Jene Klänge sind – in den Augen der victorianischen Oberschicht und vermutlich auch der vormodernen Gelehrten – wesentliche Anzeichen eines Angriffs auf die bestehende Ordnung, indem in ihnen immer auch fehlende „Kultiviertheit und gesteigerte Anstößigkeit“74 mitschwingen; denn diese aus mehreren Arten des Schalls zusammengesetzten Geräusche scheinen jeder Ordnung zu entbehren bzw. jeglicher Sinnhaftigkeit zu widersprechen. Demgegenüber werden antike Rede- und Sprachformen aufgrund ihrer Ordnung und Klarheit von den Humanisten um Pirckheimer hochgelobt75 und auch Musik bzw. Gesang sind Klänge, die durchaus gerne gehört 69 Vgl. Schafer, Ordnung, S. 225. 70 Vgl. Pirckheimers Briefwechsel, Bd. 3, S. 61 (Nr. 415) und Bd. 5, S. 2 (Nr. 761). 71 Vgl. Pirckheimers Briefwechsel, Bd. 5, S. 46 (Nr. 776). 72 Vgl. Pirckheimers Briefwechsel, Bd. 3, S. 190 (Nr. 475). 73 Z. B. diffundit turpes temeraria contio voces (Pirckheimers Briefwechsel, Bd. 1, S. 46 (Nr. 1–4, Anhang)) oder strepitus turma (Pirckheimers Briefwechsel, Bd. 1, S. 239 (Nr. 69)). 74 Bailey, Noise, S. 60. 75 Z. B. in Lehr- und Jugendgedichten: concio nobilitat linguas facunda disertas (Pirkheimers Briefwechsel, Bd. 1, S. 46 (Nr. 1–4, Anhang); loquitor latino sermone (Pirckheimers Briefwechsel,

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werden,76 eben weil sie Wohlklang und Sinnhaftigkeit bedeuten. Geschrei usw. aber werden mit Unsinn assoziiert: „Noise is nonsense“77. Basierend auf diesem Verständnis versprachlicht die schreiende oder zankende Menge also die sozial gedachte Androhung eines Angriffs auf die eigene Kultiviertheit bzw. Gelehrtheit respektive der eigenen gelehrten Autorität durch die Masse des geistig niedrigeren Gegenübers. Bezeichnenderweise wird einerseits das Gelächter auch den Untüchtigen und andererseits das Gejammer den Bauern zugeordnet. Für eine Bekämpfung der genannten akustischen Störung muss entsprechend nicht das Geräusch, die menschliche Stimme selbst, zum Schweigen gebracht werden, sondern, so Pirckheimer, eine neue rechte Ordnung hergestellt werden.78 Nicht nur Kollektiven, sondern auch Einzelpersonen werden stereotyp Lautäußerungen mit negativer Konnotation zugeschrieben; die damit einhergehende Zuordnung von personifizierenden und die Negation des Wohlklanges bzw. der Sinnhaftigkeit bedeutenden Adjektiven zu menschlichen Lautäußerungen scheint ebenso auf eine geistige Disqualifizierung des sozialen Gegenübers abzuzielen. So wird in bestimmten Fällen das akustische Gestört-Sein hervorgerufen durch die raue oder schändliche Stimme (rauca […] voce79), irrtümliches oder gar schändliches Geplapper (obloquitur vati vel Musis irrita blactret [sic]/cum rusus tetro blactiverit ore80) oder durch dummes, verdorbenes und so schändliches Gelaber (tam stulta, perdita ac turpissima blacteramina81). Es ist zu vermuten, dass es sich bei diesen Formulierungen jeweils um eine sogenannte Enallage/Hypallage handelt, d. h. um ein – und das wäre wiederum typisch für den Renaissance-Humanisten – aus der Antike übernommenes Stilmittel, bei dem die Vertauschung eines adjektivischen Attributes zu einer Abweichung des semantischen Bezuges führt.82 Tatsächlich erscheinen bei dem Versuch, das adjektivische Attribut zum eigentlichen Bezugswort zurückzuführen, ein rauer sowie irrtümlicher – weil überdies ungelehrter – Priester und dann ein schändlicher Theologe; dazu treten dumme, verdorbene und so schändliche Kontrahenten im Dunkelmännerstreit. Schließlich gesellt sich noch ein grauenhafter Reformator hinzu. Dieser Befund stimmt sehr genau mit den Ergebnissen von Smith überein, der im Gegenüber verschiedener – an der sozialen Gruppe ausgerichteter – Klangkulturen erkannt hat, dass jedes Kollektiv bestimmte VorBd. 1, S. 29 (Nr. 1–4, Anhang)). Das letzte Beispiel gehört zu einer Reihe an positiven Äußerungen über die lateinische Sprache; gemeint ist dann aber das klassische Latein der antiken Autoritäten. Demgegenüber kommt es vermehrt und heftig zu Ausfällen gegen die Sprachverdorbenheit der Scholastiker/Theologen. Zum Phänomen der Sprachkritik vgl. z. B. Meyvaert, Voicing, S. 743–763. 76 tunc indignatas placabo voce sorores (Pirkheimers Briefwechsel, Bd. 1, S. 34 (Nr.1–4; Anhang)). 77 Bailey, Noise, S. 60. 78 pleraque increta digessi, duriora mutavi, multa obliteravi ac penitus delevi (Pirkheimers Briefwechsel, Bd. 3, S. 252 (Nr. 504)). 79 Pirckheimers Briefwechsel, Bd. 3, S. 252 (Nr. 504). 80 Pirkheimers Briefwechsel, Bd. 1, S. 237 (Nr. 69) und Bd. 1, S. 238 (Nr. 69). 81 Pirckheimers Briefwechsel, Bd. 3, S. 321 (Nr. 540). 82 Vgl. Bussmann, Hypallage, S. 285–286, S. 285.

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stellungen über die Klanglandschaft eines anderen Kollektivs hat: Die negative Klangbotschaft spiegelt die mit dem sozialen Gegenüber verbundenen sozialen Spannungen wider und wird – genauso wie in der wiederum von Corbin beschriebenen Glockenpolitik – als Waffe innerhalb sozialer Auseinandersetzungen benutzt. Die Metapher der akustischen Störung wird hier also wieder einmal zum Ausdruck – und möglicherweise auch zur Kompensation – einer inneren Unruhe verwendet. Diese innere Unruhe resultiert aber wiederum aus einer vielgestaltigen, vor allem sozialen Störung. Jene wiederum begründet sich in der Tatsache eines als ambivalent zu bezeichnenden Verhältnisses des Renaissance-Humanismus und seiner Vertreter zur Religion allgemein und den scholastischen Traditionen der gelehrten Theologie insbesondere. Einerseits verachteten die humanistischen Gelehrten den, meist dem Mönch zugeschriebenen, unkultivierten Umgang mit den verehrten antiken Schriften, andererseits engagierten sie sich maßgeblich für eine innerkirchliche bzw. spirituelle religiöse Reform nach dem eigens entwickelten „Programm“ eines christlichen Humanismus. Ganz grundsätzlich erscheint der Weg der scholastischen Methode dem humanistischen Bildungsprinzip, welches auf Vervollkommnung des Menschen durch den eigenen, erkennenden (Nach-) Vollzug zielte, diametral entgegengesetzt. Anlassbezogen kam es im Kontext dessen sogar zu großen und öffentlich ausgefochtenen Konflikten: Innerhalb des sogenannten Streits um die Dunkelmännerbriefe z. B. sahen sich die Humanisten mit Zank und mit diversen Antastungen sowie Verunglimpfungen und Beschimpfungen belastet. Pirckheimer selbst bzw. sein Name geriet im weiteren Verlauf dieser sozialen Auseinandersetzungen auf die gegen Luther gerichtete Bannandrohungsbulle. Das Resultat: innere Unruhe und seelischer Unfrieden. 6. Fazit

Die vorgestellten Versprachlichungsstrategien belegen, dass bei den humanistischen Gelehrten im Umkreise Pirckheimers das Ereignis einer akustischen Störung eine durch den sozialen Zusammenhang geformte Metapher für eine vielgestaltige soziale Störung ist. Dieses Phänomen soll hier als „gelehrte Lärmempfindlichkeit“ bezeichnet und abschließend in seiner Bedeutung genauer erläutert werden. Bereits Algazi hat für Eigenschaften wie die gelehrte Zerstreutheit usw. nachgewiesen, dass sie feste kognitive Bestandteile des vormodernen Gelehrtenhabitus sind und im Angesicht fehlender sozialer Distanz, in Anlehnung an die wiederum aus der Antike tradierten „Standeszeichen“, als Charakteristika des Gelehrten um 1500 gelten können – sie sind greifbare Ausdrücke sozialer Distinktionsversuche, d. h. zur Demonstration symbolischer Distanz gedacht. Der dargestellten akustischen Wahrnehmung lässt sich die gleiche Funktion zusprechen.83 83 Vgl. Algazi, Geistesabwesenheit, S. 342.

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Dabei soll zweierlei unterschieden werden: eine „gelehrte Lärmempfindlichkeit“ und eine „gelehrte Taubheit“. Gelehrte Lärmempfindlichkeit basiert auf einer Konkretisierung der Sinne gegenüber der sozialen Außenwelt. Das Gestört-Sein durch muhende Kühe und plappernde Theologen ist der metaphorische Ausdruck einer verstärkten Empfindung der Abwesenheit des persönlichen Friedens durch die potenzierte Wahrnehmung der Anwesenheit des sozialen Gegenübers. Auf der anderen Seite ist die gelehrte Taubheit als Abstraktion von den Sinnen zu verstehen, um die umgebende äußerliche Welt überhörend auszuschließen.84 Die Gelehrten verschmolzen entweder mit dem bekannten „Gehäus“ – in privatum domum concessimus, ubi et studiis […] maior est commoditas85 – oder sie zogen sich über einen durch das große Vorbild Petrarca geprägten Kunstgriff in die Höhle des Geistes zurück, um sich durch dieses besondere „Schutzschild“86 vor der Außenwelt und den Sorgen der eigenen Seele zu schützen. Lärmempfindlichkeit und Taubheit fungieren also hier als sinnliche Medien sozialer Distinktion.87 Die Untersuchung hat damit insgesamt die Annahme bestätigt, dass eine rückblickende Rekonstruktion von konkreten Schallereignissen vormoderner Zeiten nicht möglich ist, da die verfügbaren Versprachlichungen akustischer Wahrnehmungsweisen dem Historiker eben keine Primärwahrnehmungen wiedergeben. Vielmehr handelt es sich, wie gezeigt, bei diesen Versprachlichungen um Chiffren für zumeist vielgestaltige Störungen.88 Zwar verschwimmt insgesamt die Grenze zwischen akustischer Realität und metaphorischem Ausdruck, doch konnte deren Qualität durch die Rückführung jener Störung auf den Bedeutungszusammenhang sichtbar gemacht werden: Die Analyse der Metapher im Kontext humanistischer Gelehrsamkeit hat – vorläufig – zu der Erkenntnis geführt, dass Lärm als ein Konstrukt dazu dient, symbolische und „emotionale […] Distanz […] vor allem dort [zu schaffen], wo es keine soziale Distanz gibt“89. So ist der in historischer Perspektive eigentlich nicht quantifizierbare Stimulus am Ende doch noch messbar geworden, nämlich am sozialen Gegenüber. Dem gottesfürchtig schweigenden Gelehrten steht der gotteslästerlich schreiende Theologe90 gegenüber. 84 Die Trennung hat rein systematische Gründe, grundsätzlich sind beide Formen als wechselseitig aufeinander bezogen zu verstehen. 85 Pirckheimers Briefwechsel, Bd. 3, S. 190 (Nr. 475). Immer wieder geht es im Pirckheimer’schen Briefwechsel um die Versuche, der Ablenkungsgefahr durch eine fassbare räumliche Abgrenzung – die „Feste der Wissenschaften“ (Pirckheimers Briefwechsel, Bd. 3, S. 411 (Nr. 561)) – zu entgehen und die den Studien angemessene Muße zu schaffen. Dieses „Standeszeichen“ des vormodernen Gelehrten hat sogar Eingang in ein Lehrgedicht des Erasmus gefunden; vgl. ­Algazi, Geistesabwesenheit, S. 333. 86 Algazi, Geistesabwesenheit, S. 333. 87 Diese unterstreicht noch einmal deutlich die Funktion des humanistischen Briefes als ein Medium sozialer Konsolidierung; vgl. Müller, Specimen, S. 146. 88 Algazi, Geistesabwesenheit, S. 342, bezeichnet analog die von ihm beschriebene Geistesabwesenheit nicht nur als soziales Distinktionsmittel, sondern auch als einen literarischen Topos. 89 Algazi, Geistesabwesenheit, S. 334. 90 Vgl. Pirckheimers Briefwechsel, Bd. 2, S. 54 (Nr. 186).

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Gleichfalls konnte unter diesen Chiffren aber ein Begriff ausgemacht werden, der – was in weiteren Untersuchungen nachzuprüfen wäre – durchaus als lateinischsprachiges Äquivalent des uns geläufigen Terminus „Lärm“ bezeichnet werden kann: Der Begriff strepitus gibt, als Denotat eines unspezifischen akustischen Stimulus („das Geräusch“) und als Konnotat einer damit zusammenhängenden sozial konstruierten Störung („das Gestörtsein“) das gesuchte Phänomen in seiner Bedeutung ziemlich genau wieder.91 Schließlich muss die Wahrnehmung akustischer Störungen nun als Effekt und Affekt eines in sozialer Hinsicht strategisch gedachten Habitus verstanden werden – also als eingefleischte Disposition des vormodernen Gelehrten. Dies bedeutet wiederum, dass es sich dabei um eine gelernte Lärmempfindlichkeit und Taubheit handelt. Damit deutet sich gleichzeitig an, dass nicht nur kognitive Eigenschaften als Elemente der Formierung des Gelehrtenhabitus Beachtung finden müssen, sondern sich dieser ebenso auf Aspekte der sinnlichen Wahrnehmung erstreckt: Willibald Pirckheimer ist auch Humanist, weil er die Welt mit humanistischen Ohren hört! Quellenverzeichnis Willibald Pirckheimers Briefwechsel, hg. von Emil Reicke [u. a.], 7 Bde., München 1940–2009. Literaturverzeichnis Wolfram Aichinger, Sinne und Sinneserfahrungen in der Geschichte. Forschungsfragen und Forschungsansätze, in: Sinne und Erfahrung in der Geschichte, hg. von Wolfram Aichinger, Franz X. Eder, Claudia Leitner (= Querschnitte 13), Innsbruck 2003, S. 9–28. Gadi Algazi, ,Sich selbst vergessen‘ im späten Mittelalter. Denkfiguren und soziale Konfigurationen, in: Memoria als Kultur, hg. von Otto G. Oexle (= Veröff. d. Max-Planck-Instituts für Geschichte 121), Göttingen 1995, S. 387–427. Gadi Algazi, Gelehrte Zerstreutheit und gelernte Vergesslichkeit, in: Der Fehltritt. Vergehen und Versehen in der Vormoderne, hg. von Peter von Moos (= Norm und Struktur 15), Köln, Weimar, Wien 2001, S. 235–250. Gadi Algazi, Geistesabwesenheit. Gelehrte zu Hause um 1500, in: Historische Anthropologie 13 (2005), S. 325–342. Peter Bailey, Breaking the Sound Barrier: A Historian Listens to Noise, in: Body & Society 2/2 (1996), S. 49–66. 91 Paradigmatisch zeigt dies die oben bereits angeführte Äußerung Pirckheimers Die ruigen mugen erforschen das gesetz wann sie haben freie herzen von allem strepitu (Pirckheimers Briefwechsel., Bd. 3, S. 70 (Nr. 421)). Der Begriff bezeichnet in erster Linie ein mit dem Menschen verbundenes Geräusch (Pirckheimers Briefwechsel, Bd. 3, S. 70 (Nr. 421)). Es handelt sich zudem um einen Terminus, der auch im Mittelhochdeutschen und in der Rechtssprache – als iuris strepitum (Pirckheimers Briefwechsel, Bd. 2, S. 553 (Nr. 361)) – angewandt wird.

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Hadumod Bußmann, Hypallage, in: Lexikon der Sprachwissenschaft, 3. Aufl. Stuttgart 2002, S. 285–286. Alain Corbin, Die Sprache der Glocken. Ländliche Gefühlskultur und symbolische Ordnung im Frankreich des 19. Jahrhunderts, übers. von Holger Fliessbach, Frankfurt a. M. 1995. Monika Dommann, Antiphon. Zur Resonanz des Lärms in der Geschichte, in: Historische Anthropologie 14/1 (2006), S. 133–146. Janina Fels [u. a.], Final Report. Lärm, Aufmerksamkeit, Bildung. Eine technische, psychologische und historische Betrachtung von Lärm in Schule und Universität, Aachen 2014 (unveröffentlicht). Ludwig Geiger, Pirckheimer, Willibald, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 26, Leipzig 1888, S. 810–817 unter Pirckheimer, Bilibald [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-­ biographie.de/pnd118594605.html#adbcontent (zuletzt eingesehen am: 26.08.2019). Robert Jütte, Geschichte der Sinne. Von der Antike bis zum Cyberspace, München 2001. Katja Kessel, Sandra Reimann, Basiswissen Deutsche Gegenwartssprache, Tübingen, Basel 42012. Paul Meyvaert, „Rainaldus est malus scriptor Francigenus“ – Voicing National Antipathy in the Middle Ages, in: Speculum 66 (1991), S. 743–763. Daniel Morat, Zur Geschichte des Hörens. Ein Forschungsbericht, in: Archiv für Sozial­ geschichte 51 (2011), S. 695–716. Daniel Morat, Zur Historizität des Hörens. Ansätze für eine Geschichte auditiver Kulturen, in: Auditive Medienkulturen. Techniken des Hörens und Praktiken der Klanggestaltung, hg. von Axel Volmar, Jens Schröter, Bielefeld 2013, S. 131–144. Harald Müller, Specimen eruditionis. Zum Habitus der Renaissance-Humanisten und seiner sozialen Bedeutung, in: Beiträge zur Kulturgeschichte der Gelehrten im späten Mittel­alter, hg. von Frank Rexroth (= Vorträge und Forschungen 73), Ostfildern 2010, S. 117–151. Jürgen Müller, „The Sound of Silence“. Von der Unhörbarkeit der Vergangenheit zur Geschichte des Hörens, in: Historische Zeitschrift 293/1 (2011), S. 1–29. Peter Payer, Vom Geräusch zum Lärm. Zur Geschichte des Hörens im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Sinne und Erfahrung in der Geschichte, hg. von Wolfram Aichinger, Franz X. Eder, Claudia Leitner (= Querschnitte 13), Innsbruck 2003, S. 173–191. Samuel Rosen, Presbycusis Study of a Relatively Noise-Free Population in the Sudan, in: Transactions of the American Otological Society 50 (1962), S. 135–152. Klaus Saul, „Kein Zeitalter seit Erschaffung der Welt hat so viel und so ungeheuerlichen Lärm gemacht “. Lärmquellen, Lärmbekämpfung und Antilärmbewegung im Deutschen Kaiserreich, in: Umweltgeschichte. Themen, Methoden, Potentiale, hg. von Günter Bayerl, Norman Fuchsloch, Torsten Meyer, Münster 1996, S. 187–217. Murray Schafer, Die Ordnung der Klänge. Eine Kulturgeschichte des Hörens, übers. u. neu hg. von Sabine Breitsameter, Mainz 2010. Hillel Schwartz, Making Noise. From Babel to the Big Bang & Beyond, New York 2011. Mark M. Smith, Listening to Nineteenth-Century America, Chapel Hill 2001. Jonathan Sterne, The Audible Past. Cultural Origins of Sound Reproduction, Durham, London 2003.

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Auditive Strukturen der Reformationszeit Potentiale einer historischen Akustikanalyse Antonia Krüger

Aller meist […] umb der einfeltigen und des jungen volcks willen, […] mus man lesen, singen, predigen, schreiben und tichten [dichten], und wo es hulflich [hilfreich] und fodderlich [förderlich] dazu were, wolt ich lassen mit allen glocken dazu leuten und mit allen orgeln pfeiffen und alles klingen lassen, was klingen kunde [konnte].1

Dies kündigte Martin Luther (1483–1546) programmatisch in seiner Vorrede zur Gottesdienstordnung 1526 an. Der gesamte Zeitraum vor der technischen Tonaufzeichnung (vor 1870) ist faktisch zwar verklungen, aber keinesfalls klang- oder lautlos. In dem angeführten Zitat greift Luther selbst auf die akustische Ebene zurück, die für die Durchsetzung reformerischer Ziele eine wichtige Rolle spielte. Der Beitrag wendet sich der Fragestellung zu, welche Funktion die auditive Dimension in gesellschaftlichen und religiösen Transformationsprozessen wie der Reformation besitzt und wie diese historisch zu erforschen sind. Dabei werden Grundsätze und Potentiale einer historischen Akustikanalyse verfolgt und neben methodischen Überlegungen allgemein, einzelne Fallbeispiele des Forschungsprojektes „Der akustische Sakralraum am Beispiel von Zwickau 1500–1550“2 vorgestellt. Unter dem Blickwinkel der auditiven Regulation und der akustischen Codierung von Klang- und Hörraum gilt es die reformatorischen Eingriffe in die Lautsphäre zu untersuchen. 1. Zwischen den Disziplinen – methodische Ansätze

Akustische Phänomene – Schallereignisse – sind einerseits physikalisch messbare Einheiten (phänomenologisch) und andererseits in ihrer Interpretation subjektiven Wahrnehmungen unterworfen und damit der Psychoakustik angehörig. Die eigene Wahrnehmung ist mehr wert als die genaueste Beschreibung, besonders wo es sich, […] um eine Analyse von Sinnesempfindungen handelt, die sich schlecht genug jemandem beschreiben lassen, der

1 Luther, Vorrhede 1526, in: EKO, S. 11. 2 Die in diesem Beitrag skizzierte Darstellung ist Gegenstand des aktuellen Dissertationsprojektes: „Der akustische Sakralraum am Beispiel von Zwickau 1500–1550“ an der Technischen Universität Chemnitz.

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sie nicht selbst erlebt hat.3, schreibt von Helmholtz in seinem Werk zur Lehre über die Tonempfindungen und umreißt ein Grundproblem, dem auch die Geschichtswissenschaftler ausgesetzt sind: Wie sind akustische Sinneseindrücke historischer Akteure zu analysieren und zu klassifizieren? Obgleich das junge Forschungsfeld der Akustikgeschichte noch an hermeneutischen Methoden für die Vormoderne arbeitet,4 sind aus dem Bereich der interdisziplinären Sound Studies5 relevante Impulse für die Geschichtswissenschaften hervorgegangen. Indem die Soundforschung das Beziehungsgefüge der Menschen zu den sounds6 in ihrer Umwelt hinterfragte, durchbrach sie eine rein musikwissenschaftliche Auseinandersetzung um die akustische Dimension und beförderte den Diskurs um eine gesellschaftliche und kritische Wahrnehmung der auditiven Umwelt allgemein. Der von Schafer geprägte Begriff der soundscape7 setzte sich in den kulturwissenschaftlichen Disziplinen durch.8 Auch für die historische Akustikanalyse bietet sich der Terminus an, da er historische sounds nicht als Entitäten, sondern als dynamische Einheiten, die stets in einer gesellschaftlichen, zeitlichen und lokalen Wechselwirkung stehen, zusammenfasst.9 Aufgrund der Zeitgebundenheit akustischer Phänomene sind Historiker auf die Überlieferungen der hörenden Rezipienten und akustischen Produzenten angewiesen. Der Zugriff erfolgt über akustische Abstraktionen (Zeichensysteme) in Sprache und Bildern, die wiederum auf ‚Wahrnehmung, Deutung und Kontextualisierung‘10 basie 3 Helmholtz, Lehre, S. 9.   4 Jürgen Müller konstatierte: „[…] es müssen erst noch tragfähige hermeneutische Konzepte für die […] Entschlüsselung auditiver Codes und die empirisch abgesicherte Rekonstruktion vergangener Lautsphären entwickelt werden.“ Müller, „The Sound of Silence“, S. 27. Wichtige Ansätze für die methodische Untersuchung der auditiven Dimension in der Reformationszeit liegen unter anderem von Philip Hahn, Jan-Friedrich Missfelder oder Daniela Hacke vor. Für die historische Disziplin allgemein sind weiterführend Daniel Morat, Mark M. Smith, Karin Bijsterveld, Jonathan Sterne u. a. zu benennen.  5 Schulze, Sound Studies. Die mehrbändige Reihe präsentiert die Ergebnisse, die im Rahmen der Forschungskooperation Sound Studies Lab, die 2011 auf Initiative von Holger Schulze mit Unterstützung der DFG an der Humboldt-Universität zu Berlin und der Leuphana Universität Lüneburg gegründet wurde, entstanden.   6 Der englische Begriff ‚sound‘ konnte sich auch im dt. Sprachraum durchsetzen, da er eine breitere Assoziationsfläche bietet und sowohl gesteuerte Klänge, Töne sowie ungesteuerte Geräusche umfasst. Vgl. dazu: Missfelder, Klang der Geschichte, S. 635–637.   7 Im deutschen Sprachgebrauch wird ‚soundscape‘ auch als ‚Klanglandschaft‘ oder ‚Lautsphäre‘ bezeichnet. In der folgenden Untersuchung werden ‚Lautsphäre‘ und ‚akustische Umwelt‘ äquivalent benutzt. Vgl. Einführung von Sabine Breitsameter, in: Schafer, Die Ordnung der Klänge, S. 14–15.   8 Z. B.: Bijsterveld, Soundscapes; Hahn, The Reformation; Atkinson, The noisy Renaissance; Werner, Soundscape-Dialog.   9 Einen allgemeinen bibliografischen Überblick historischer Akustikforschung liefern z. B.: ­Morat, Geschichte des Hörens; Missfelder, Klang der Geschichte. 10 Ebd. S. 648.

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ren, da Schallereignisse gehört und von den historischen Akteuren durch ihre Fixierung selektiert und bewertet werden.11 Die subjektive Wertung (Ohrenzeugenberichte12) akustischer Phänomene ist einerseits von individuell-kognitiver, andererseits von kultureller, sozialer und lokaler Prägung. Der Musikethnologe Steven Feld entwickelte das Konzept der acoustemology13 und stellte die soziale Befähigung, sich mittels Akustik zu assimilieren, auszudrücken oder zu reflektieren als ein Grundwerkzeug menschlicher Orientierung heraus.14 Das „Hören“ selbst und daraus hervorgegangene Hörtechniken liefern Informationen über soziale Kulturen. Die Geschichtswissenschaften griffen den Diskurs unter dem Begriff des „Hör-Wissens“15 auf und fragen nach der Bedeutungsperspektive von Hör-Wissen für historische Gesellschafen. Mittels einer vergleichenden Analyse rezipierter Akustik (in ihren Zeichensystemen und Fixierungen) sind objektivierbare Daten gesellschaftlicher Klangwahrnehmungen vormoderner Kulturen zu gewinnen. Insbesondere der Wandel gesellschaftlicher Konnotationen von Sinneswahrnehmungen innerhalb von Transformationsprozessen wie der Reformation, zeigt die wechselnden Bedeutungen von Werten und Normen, die mit der akustischen Wahrnehmung verknüpft sind, auf. So ergeben sich für Schallereignisse und das Hören stets neue und unterschiedliche Bewertungen und Toleranzgrenzen.16 Was beispielsweise als akustische Störung empfunden wurde, unterliegt einerseits den historischen, sozialen und kulturellen Hörstrukturen, andererseits den persönlichen und individuell geprägten Hörgewohnheiten. Akustische Realitäten – im Sinne von physikalischer Schallintensität und -qualität historischer Ereignisse – sind über sprachliche oder bildliche Fixierungen nicht zu eruieren und stehen nicht im Vordergrund der Lautsphärenuntersuchung.17 Die historische Akustikanalyse erforscht das Zusammenspiel und die Vernetzung individueller Sinneserfahrungen im sozialen Kontext, die Auskunft über die kulturellen Prägungen und den gesellschaftlichen Umgang mit Klängen und Geräuschen liefern. Damit sind historische Akustikphänomene nur aus sozialen Verbindungen und Wahr11 „It has been common for historical actors to articulate their perception of sounds only when particular sounds moved them, in either a positive or a negative sense.“ Bijsterveld, Soundscapes, Einleitung, S. 14. 12 Begriff nach Schafer: „Earwitness: One who testifies or can testify to what he or she has heard“. Schafer, The soundscape, S. 272. 13 Etymologische Verschränkung aus Akustik und Epistemologie. „Acoustemological approaches […] concentrate on relational listening histories – on methods of listening to histories of listening – always with an ear to agency and positionalities.“ Feld, Acoustemology, S. 15. 14 Vgl. dazu auch Missfelder, Period Ear, S. 35–36. 15 „Diese Doppelung von ‚Wissen über‘ [das Hören] und ‚Wissen durch‘ [das Hören] soll im Folgenden durch den Begriff des Hör-Wissens eingefangen werden“, Morat, Einleitung, in: Netzwerk „Hör-Wissen im Wandel“, S. 3–5. 16 Aichinger, Sinne und Sinneserfahrung, S. 10–13. 17 Ziel der Analyse ist nicht die Rekonstruktion akustischer Ereignisse. Vgl. dazu Missfelder, Klang der Geschichte, S. 648.

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nehmungen zu deuten. Für die Analyse müssen zunächst der zu untersuchende historische Raum (zeitlich und geografisch) definiert sein, sowie die medialen Gegebenheiten berücksichtigt werden, in denen Klänge und Geräusche produziert, konsumiert und letztlich eingeschrieben sind.18 Schriftliche Quellen stellen den medialen Schwerpunkt für die Analyse akustischer Phänomene der Reformationszeit dar.19 Innerhalb der rezeptiven Akustik, bilden Klangregulierungen, die überwiegend in normativen und administrativen Quellengattungen fixiert sind, einen wichtigen Bestandteil für die Lautsphärenuntersuchung. Sie können Aufschlüsse über klangsteuernde und klangkonstituierende Prozesse innerhalb einer Gesellschaft geben und damit die Klangproduzenten und akustischen Akteure offenlegen. Die Untersuchung zur Lautsphäre Zwickaus unterscheidet zwischen der Hörerschaft und den Klangproduzenten, die direkt (Türmer, Prediger, Musikanten) oder indirekt (Obrigkeiten, die in die Finanzierung und Regulation akustischer Ämter eingriffen) auf die akustische Umwelt einwirkten. Bildquellen – Altäre, Flugblätter – die mittels ikonischer Klangzeichen (Auditory Icons20) in abstrahierter Form Akustik vermittelten, zählen zu den Zeugnissen visuell-­ akustischer Interaktion und stellen für die Akustikanalyse einen weiteren Zugang dar.21 Historische Schallquellen und Geräuscherzeuger (Sachquellen wie Glocken, Instrumente etc.) werden für die Analyse nur ergänzend hinzugezogen. Akustische ‚Zeitzeugen‘, wie beispielsweise die Glocke „Gloriosa“ (1497) in Erfurt, entfalten im heutigen akustischen Umfeld zwangsläufig eine andere Wirkung, als sie es noch im 15. und 16. Jahrhundert vermochten. Die historische Lautsphäre, in der Luther die „Gloriosa“ in Erfurt selbst vernommen hatte, ist längst verklungen und steht in einem anderen sensorischen Wahrnehmungskontext (Veränderung des anthropologischen Hörens) und Schallkontext (Veränderung der akustischen Umwelt). Selbst wenn sich der Glockenton heute noch phänomenologisch determinieren lässt, sind aufgrund der fehlenden Informationen über die Gegebenheiten der historischen akustischen Umwelt keine detaillierten Informationen zur historischen Lautsphäre, alleine vom 18 Smith orientierte sich in seiner Untersuchung „Listening to Nineteenth-Century America“ an geografischen und ökonomischen Räumen, die maßgeblich die kulturelle und soziale Entwicklung prägten und auf deren Grundvoraussetzungen sich akustische Strukturen (‚patterns or clusters of sound‘) bildeten. Smith, Hearing history, S. 391. 19 „Our knowledge of past soundscapes, transient and intangible as they are, is therefore largely dependent on historical texts in which people described what they heard and what these sounds meant to them.“ Bijsterveld, Soundscapes, Einleitung, S. 14. 20 Sound, Bild und Handlung stehen in Interaktion zueinander und bilden eine Einheit, in: Schoon, Volmar, Informierte Klänge, S. 24. 21 Die Visualisierung von Schrift, durch Textträger oder Schriftbänder auf den bildlichen Altären, erinnerte die Gläubigen daran, dass das Bild in Zusammenhang mit dem Wort steht und insofern nur eine Metapher für das Gehörte darstellt. Vgl. Wenzel, Hören und Sehen, S. 477. Für Zwickau bietet der Wohlgemut-Altar (1479) in der Marienkirche durch den Bildverweis auf den Hymnus des ‚Salve Regina‘ einen Zugang zur Akustik.

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reproduzierten Glockenklang ausgehend, nachzuzeichnen.22 Die rein phänomenologische Gestalt akustischer Ereignisse und deren Reproduzierbarkeit im Sinne von experimentalarchäologischen oder empirischen Untersuchungen gehören nicht zum Forschungsgegenstand. Ausgangspunkt für die vorliegende Untersuchung ist der Zeitraum der reformato­ rischen Umbrüche (ca. 1500–1550) am Beispiel der Stadt Zwickau. Bei der Sichtung des historischen Quellenmaterials wurden schriftlich fixierte akustische Phänomene gesammelt und vergleichend ausgewertet.23 Als ein Teilergebnis kann festgehalten werden, dass nahezu ausschließlich menschliche Laute in den schriftlichen Quellen erwähnt sind – Klänge, die in Form der intentionalen Akustik von Menschen ausgeübt, gesteuert und absichtsvoll entstehen. Hingegen finden Laute, in Form von Geräuschen wie Tierbzw. Naturgeräusche oder soziale Nebengeräusche aus den Gewerken sowie Menschen­ ansammlungen innerhalb des gesichteten Quellenkorpus kaum Erwähnung. Sofern Geräusche in den untersuchten schriftlichen Quellen fixiert wurden, wie beispielsweise: Den zu Reichenbach ist bevolen, den Chor also zuverwaren, das der gemeine man nicht darin wasche24 [schwatze] und claffe25 domit die seelsorger unverhindert pleiben.26 generieren sie zu auktorialen Intentionen. Sie wurden ausdrücklich angeführt, um auf einen Zustand aufmerksam zu machen, oder diesen zu diskreditieren. Die Visitatoren bewerteten das Reden der Laien als „Geschwätz“ und damit als störendes Geräusch und ein zu sanktionierendes akustisches Phänomen im Chorraum, hingegen für die Laien das Gespräch oder Reden intentional gesteuerte Akustik darstellte. An diesem Beispiel zeigen sich differenzierte Wertigkeiten und Wahrnehmungen akustischer Phänomene, die jeweils unterschiedliche Deutungskonzepte für akustische Rezipienten und Akteure besaßen. Klänge und Geräusche werden differenziert wahrgenommen und unter verschiedenen Absichten gehört und bewertet.27 Damit sind die Zuschreibungen als „Klang“

22 Über den Glockenklang sind Informationen über Tonalität und Lautstärke zu gewinnen, der Radius bzw. die Reichweite des Schalles, kann nur ungefähr ermittelt werden, da sich das Stadtbild durch Architektur und Baumaterialien verändert hat. Für die sensorische Wahrnehmung ist anzumerken: „Was den mittelalterlichen Menschen stark reizte, ist für uns möglicherweise schwacher Stimulus – oder umgekehrt. […] Damit sind Kernbereiche einer historischen Anthropologie der Sinne angesprochen.“, Aichinger, Sinne und Sinneserfahrung, S. 10. 23 Bild- und Sachquellen wurden für die Akustikanalyse hinzugezogen, konnten hier jedoch nicht weitergehend angeführt werden. 24 Waschen, weschen, mhd., steht bildlich für „schwatzen“, in: Lexer, Pretzel, Mittelhochdeutsches Taschenwörterbuch, S. 309. 25 Klaffe übersetzt als „schwatzen“ auch als „verleumdendes Geschwätz“; klaffen steht für „viel und laut reden“ sowie für „tönen und schallen“, in: Lexer, Pretzel, Mittelhochdeutsches Taschenwörterbuch, S. 108. 26 Visitationsprotokoll zu Reichenbach bei Zwickau, 1533, in: MAVZ, Heft 7, S. 94. 27 Grond, Hermann, Zeitgenössische Perspektiven, S. 47.

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oder „Geräusch“ keine festen Kategorien, die ein akustisches Phänomen charakterisieren, sondern vielmehr Aufschluss über die Wahrnehmung und Deutung des Autors geben.28 Natürliche Laute, die beispielsweise Geräusche des Wetters einschließen, bilden eine eigene Kategorie innerhalb der akustischen Phänomene. Sie sind in den schriftlichen Quellen als Hinweise göttlicher Ordnung fixiert. Zum Beispiel: Am 30 tag Januarii in der nacht umb die zeit zwuschen 1 und 2 sein sulche erschragliche Donnerschlag erhort, das auch die halb tode schir sein erweckt wurden.29 Hier wurde die Geräuschkulisse des Wetters in Form eines erschraglichen Donnerschlags hervorgehoben, der so laut war, dass er sich von den anderen Wettergeräuschen absetzte. Der Zwickauer Chronist Oswald Lasan (1494–1567) misst dem Donnerschlag eine exponierte Bedeutung bei und fügt das Geräusch in einen kausalen Zusammenhang. So führt er anschließend an: Das einen grossen schaden gethaen dem gestül der glocken, alzo das man es hat widerumb müssen pauen.30 Atmosphärische und meteorologische Geräusche wie das Donnern besaßen grundsätzlich im 16. Jahrhundert und somit für den Chronisten intentionalen Charakter, da sie innerhalb der moraltheologischen Vorstellung unmittelbar auf Gott zurückgeführt wurden.31 Das Benennen und Anführen von Klängen oder einer Geräuschkulisse ist entweder Teil der narrativen Struktur, um eine Situation umfassend zu schildern, oder steht in einem Deutungszusammenhang, der sich aus der Funktionslogik der Quelle erschließt. Die abgeleiteten Sinnzuschreibungen und Narrative stellen die Produkte der gesellschaftlichen Lautphänomene dar, die für die Untersuchung der sozialen Funktion der Akustik entscheidend sind. Nicht dokumentierte Geräusche und Klänge bleiben als Verlustgeschichte verklungen. Die Akustikanalyse ist maßgeblich vom Quellenautor und seinem Wahrnehmungs- und Deutungshorizont (Hör-Wissen)32 sowie von seiner Selektions­logik geprägt. Die Motivation für die Abfassung des Textes und die gesellschaftliche Position des Autors sind für die Auswahl und Fixierung akustischer Phänomene wichtige Indikatoren. Historische sounds geben nach Smith in der Form, wie sie wahrgenommen, gedeutet und konnotiert sind, Informationen über die Position des Hörers innerhalb der Gesellschaft wieder.33 Er rekurriert auf relationale Wechselbeziehungen zwischen akustischem Ereignis und sozialem Gefüge. 28 Vgl. die Unterteilung der Soundscape bei Schafer: „[…] to discover the significant features of the soundscape, those sounds which are important either because of their individuality, their numerousness or their domination“. Schafer, The soundscape, S. 9–10. Sowie die Klassifizierung der Laute, Schafer, Die Ordnung der Klänge, S. 226–250. 29 Lasan, Zwickau, in: MAVZ, Heft 10, S. 47. 30 Lasan, Zwickau, in: MAVZ, Heft 10, S. 47. 31 Vgl. Hense, Glockenläuten, S. 44; Das ‚Donnern‘ wird bei Schafer auch als „heiliger Lärm“ bezeichnet: „[der] als Symbol für göttliche Kämpfe oder die Unzufriedenheit mit den Menschen galt […].“ vgl. Schafer, Die Ordnung der Klänge, S. 434. 32 Vgl. zum Begriff auch Missfelder, Wissen was zu hören ist, S. 297. 33 Smith bezeichnet dies als „sectional identity“, Smith, Hearing history, S. 395.

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Für die Erforschung der akustischen Umwelt um 1500 ist die Erschließung mehrerer Quellengattungen vorteilhaft. Normative neben deskriptiven Texten ermöglichen einen breiten auditiven Zugang und wurden vergleichend betrachtet. Das schriftliche Quellenkorpus baut auf verschiedene Autoren auf, die aus unterschiedlichen Bevölkerungsschichten kommend, ein heterogenes und inkohärentes Sprachbild liefern und deren schriftliche Fixierungen differenzierte Darstellungsabsichten verfolgten. So stehen theologisch-rhetorische Motive aus Predigttexten neben narrativen Motiven chronikalischer Überlieferungen, polemisierende Begriffe neben normativen Beschlüssen. Ein methodischer Zugriff auf die akustischen Phänomene der Reformationszeit in Zwickau erfolgte über die Ebenen des Sprachsystems, um intertextuelle Bezüge herauszustellen. Über die semantische Wortfeldanalyse wurden akustische Denkfiguren sichtbar, bei denen die Form und der Kontext der Rezeption sowie der Adressatenkreis von Bedeutung sind. So konnte mit dem Geschrei ein akustisches Warnsignal innerhalb einer Gemeinschaft verortet sein: hatt durch sein geschrei die wolffe abgeschreckt und verjagt34 heißt es in Schumanns Chronik. In den Ratsbeschlüssen galt das Geschrei als Bedrohung der gemeinschaftlichen Ordnung und Ruhestörung, insbesondere zur Nacht wurde es strafrechtlich geahndet: des geschreis halbe bey nacht. / Sol verboth [sein]35. Dem entgegenstehend verortete Nikolaus Hausmann (1478–1538) das Geschrei im sakralen Kontext: Das heist nit Gott gedienet […], wu Jmants […] mit Geschrei bei Gott Gnade will erwerben.36 Er diskreditierte im Sinne lutherischer Reformprozesse die römische Messliturgie als Geschrei. Dem Diskursbegriff folgend, geben sprachliche Figuren über Wertigkeiten und Funktionalisierungen historischer Gruppen Auskunft. Was gesellschaftlich als „normal“ und was als deviant dargestellt wurde, wirkte auf Handlungsformen und Sozialstrukturen zurück.37 Die sprachliche Gleichsetzung „akustischer Störung“ (Geschrei) mit „ritueller Praktik“ evoziert ein kognitiv verändertes Wahrnehmungskonzept, das mit den symbolischen Umdeutungen reformerischen Handelns konform ging. Der zielgerichtete Gebrauch akustischer Versprachlichungen – insbesondere von reformatorischen Akteuren – die auf Abgrenzung und akustische Distinktionen lenkten, bildet einen Bestandteil der Untersuchung. Einen zentralen Zugang zur historischen Akustikanalyse liefern Klangnormierungen innerhalb des Verwaltungsschriftgutes. Anhand akustischer Regulierungen und Steuerungen lassen sich aktive Eingriffe in die Lautsphäre klassifizieren. Aus den administrativen Quellen, die für das Zwickauer Beispiel aus den sächsischen Visitations34 Peter Schumann (d. Ä. um 1515–1580), Zwickau, 28. Dezember 1543, in: Falk, Alt-Zwickau, Nr. 12, S. 3. Zur Person Schumanns vgl. Bräuer, Chronistik, S. 102. 35 Ratsprotokoll vom Montag Vigilia Simonis et Jude (27. Oktober) 1516, in: StAZw, Sign. RP III x, 60/5, fol. 3a–b. 36 Nikolaus Hausmann, 1. Gutachten, um 1523, Bericht von allerlei bebstlichem beschwerlichem Mißbrauch, und Vorschlag wie sie mögen abrogirt werden. In: Preller, Bd. 22, S. 351. 37 Diskursbegriff bei Michel Foucault (1926–1984), in: Foucault, Archäologie des Wissens; vgl. dazu auch Jordan, Theorien, S. 191–192.

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protokollen, den Zwickauer Ratsprotokollen und den neuen Gottesdienstordnungen bestehen, sind Informationen zum reformatorischen und obrigkeitlichen Lärmverständnis zu generieren. Die Definition von „Lärm“ als eigene Analysekategorie ist anhand der Beschluss­akten bestimmbar. Wer darf wann, wie lange und welche Klänge oder Geräusche innerhalb der Stadt Zwickau produzieren? Was wurde als Lärm, der nicht zwangsläufig laut sein muss, sondern eine soziale Kategorie für eine akustische Störung bezeichnet, definiert?38 Über diese Mediatoren können akustische Codes einer Gesellschaftsform genauer herausgestellt und im Kontext zu politischen, religiösen und sozialen Veränderungen analysiert werden. In diesem Fall bildet die hinter den Quelltexten stehende Autorität die aktiven Klangregulatoren bzw. indirekten Klangproduzenten, da ihre Beschlüsse die Lautsphäre beeinflussten. Unter diesem Ansatz avancieren akustische Phänomene zur politischen Kommunikation und lassen Akustikgeschichte zur politischen Kultur­geschichte werden.39 2. Reformatorische Eingriffe in die Lautsphäre 2.1 Akustische Regulation

Unter dem Einfluss Nikolaus Hausmanns – seit 1521 Pfarrer an der Zwickauer Marienkirche und enger Freund Martin Luthers – sowie den Auswirkungen der Kirchenvisitationen40 veränderte sich die Liturgie in Zwickau entscheidend.41 Das Ausbleiben fest­ licher Prozessionen, die Aufstellung steinerner Predigtstühle (Kanzeln), das Abbrechen der Chorschranken in der Marien- und Katharinenkirche sowie die Erneuerungen in den Messordnungen sind nur vereinzelte Beispiele für ein bewusstes Eingreifen in die spätmittelalterliche Lautsphäre Zwickaus. Im Zuge der reformatorischen Transformationen kam es zur Neugestaltung des akustischen Raumes, was akustische Identitäten42 veränderte. Dem methodischen Ansatz des 38 „Lärm [ist] weniger ein objektivierbares akustisches Phänomen […] als vielmehr [ein] Produkt sozialer und kultureller Aushandlungsprozesse.“ Missfelder, Lärmschutz, S. 151. Vgl. dazu auch den Beitrag von Julia Samp in diesem Band. 39 Vgl. Missfelder, Klang der Geschichte, S. 636–637. 40 Die Visitationen wurden zunehmend bereits um 1523–1525 von Nikolaus Hausmann in seinen Gutachten gefordert. Vgl. Hausmann, 2. Gutachten, 1525 Vermahnungsschrift an Churf. Johannsen, in: Preller, Nicolaus Hausmann, S. 365–379. 41 Vgl. dazu auch die soziale Situation in Zwickau, die von einem enormen Bevölkerungswachstum und daraus hervorgehenden Wohnungsmangel geprägt war. Bräuer, Chronistik, S. 42–100. 42 Akustische Identitäten können spezifische, wiederkehrende oder regionaltypische Laute vermitteln. Schafer prägte den Begriff der ‚Soundmark‘: „The term is derived from landmark to refer to a community sound which is unique or possesses qualities which make it specially regarded or noticed by the people in that community.“ Schafer, The soundscape, S. 274. Diese auch als Lautmarken bezeichneten Klänge geben einer Gemeinschaft eine eigene Identität.

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Period Ear43 folgend, stehen Macht und Akustik in einem Wechselverhältnis und zeigen, dass die Dominanz über einen akustischen Raum auch politische bzw. gesellschaftliche Macht offenlegt.44 Vergleichend sind die Eingriffe des Zwickauer Stadtrates in die religiöse Praxis der Franziskaner zu lesen. Noch in der frühen Phase der Reformation (um 1521) wurde den Franziskanermönchen in Zwickau durch den Stadtrat das Terminieren verboten und das Begräbnisrecht entzogen. Nicht nur die liturgische, sondern auch die akustische Partizipation wurde ihnen im gesellschaftlichen Stadtraum untersagt. Zwischen 1523–1524 erhielten sie das Verbot der öffentlichen Predigt und verloren damit eines ihrer zentralen theologischen Instrumente. Die Zwickauer Obrigkeit orientierte sich maßgeblich an den Wittenberger Reformprozessen.45 So hatten die Reformatoren in Wittenberg das Verbot des Messehaltens für die Franziskaner bereits um 1521 erwirkt: Man hat den parfussern an das closter offentlichen angeschlagen, wo sie mit Messe lesen nit ablasen wolten, ßo wolt man mit gewalt daran und inen vorthin Meß zu halden vorbitten.46 Die öffentliche Androhung von Gewalt bei Nichteinhaltung des Verbotes stellt deutlich die Besetzung des liturgischen Raumes und die Inanspruchnahme der akustischen Kontrolle dar. Diese Forderungen wurden unter Nachdruck mit akustischer Gewalt angekündigt. Der Zwickauer Bürgermeister Hermann Mühlpfort ließ sich von einem Studenten am 10. Dezember 1521 unmittelbar von den Geschehnissen in Wittenberg unterrichten. In diesem Schreiben heißt es: Dan bei vierzig edelleute und studenten [sind] am freitage [6. Dezember] zu nacht mit bauken und pfeifen biß umbs segers zwolf in die nacht umbgangen und seint alle mit wehre woll gerust gewesen.47 Das akustische Agieren mit Pauken und Pfeifen als Ausdruck von Macht und akustischer Raumbesetzung geht auf militärische Handlungsmuster zurück, da Akustik hier mit physischer Gewaltandrohung kombiniert wurde. Als ein Akt der Einschüchterung ist dem Gegner mit akustischen Mitteln deren Überlegenheit signalisiert worden.48 Das Phänomen der akustischen Machtrepräsentation und Raumbesetzung stellt eine eigene Kategorie für die DurchDazu zählen das Glockengeläut ebenso wie das Hämmern der Schmiede oder das Rauschen eines Flusses – folglich die Eigenheiten einer komplexen, lokalen und zeitgebundenen akustischen Umwelt. 43 Vgl. den aus der Kunstwissenschaft geprägten Begriff des „Period Eye“, in: Baxandall, Painting and experience. 44 Missfelder, Period Ear, S. 39. 45 Beispielhaft die engen Kontakte Nikolaus Hausmanns zu Martin Luther. Zudem schickte der Zwickauer Stadtrat Studenten zur Beobachtung der politisch-religiösen Entwicklung nach Wittenberg. 46 Hermannum Mulpforten, Student zu Wittenberg, 1521, in: MAVZ, Heft 11, S. 26–28. 47 Ebd., S. 26–28. 48 Vgl. Clauss, Akustische Kommunikation. Ein herzlicher Dank gilt Martin Clauss für die Möglichkeit der Einsichtnahme in das noch unveröffentlichte Manuskript. Hohe Schallintensitäten haben nachweislich physische Negativfolgen für den Menschen. Akustik als Militaria spielt auch in der modernen Kriegstechnik eine nicht zu unterschätzende Rolle. Vgl. Schreiner, Laut, S. 105, online: http://dx.doi.org/10.18452/16126 (10.06.2017).

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setzung reformerischer Glaubensinhalte dar. Zu dieser Kategorie zählen akustische Störungen von liturgischen Praktiken bzw. die Okkupation akustischer Räume durch ein überlagerndes akustisches Auftreten, was im Folgenden als ‚agonale Akustik‘ bezeichnet wird.49 In Zwickau vermerkte der Chronist Peter Schumann: 1525 umb Vincentii (22. Jan.) seint im Closter [Franziskanerklosterkirche] alhie etzliche pose buben gewest, die haben großen unfug drinne getrieben mit scheltwortten und andern, […].50 Die Besetzung sakraler Räume durch agonale Akustik, die oft von handgreiflichen Handlungen flankiert war, bildet eine eigene Kategorie für die Konstituierung „neuer“ Klang- und Hörräume. Die proreformatorischen Akteure bedienten sich vergleichbarer Strategien, wovon die akustische Distinktion einen zentralen Aspekt darstellte. Den Franziskanern sind neben ihren päpstlichen Privilegien51, die sie seit dem 13. Jahrhundert besaßen, sukzessive ihre akustische Präsenz und Handlungsfähigkeit abgesprochen worden, wie im folgenden Fall der Chemnitzer Franziskaner deutlich wird: Die verordneten Visitatoren […] befehlen in Gegenwart des Raths den Barfüßern […] das sie nicht mer predigen leutten noch einig offentlich cerimonien zu […] der kyrchen halten sollenn; wollen sie aber zu […] den festen Christi unter sich doch dartzu ungeleutt unnd mit versperrten kyrchenthurn in still haltenn, soll ihnen unverboten sein.52

Die öffentliche akustische Aktivität und Partizipation wurden demzufolge untersagt. In diesem Beispiel zeigt sich, dass der akustische Raum der obrigkeitlichen Kontrolle unterlag und das Recht auf öffentliche Machtausübung sicherte.53 Die akustische Raumbesetzung und Ausgrenzung im Rahmen liturgischer Handlungen hat die religiöse und gesellschaftliche Isolation zur Konsequenz. Die Bettelmönche sollten sich in still halten, heißt es im Beschluss der Visitatoren, was einer akustischen Distinktion gleichkommt und einen direkten Eingriff in den liturgischen Ablauf darstellt. In Zwickau sind die Franziskanermönche, nachdem ihnen alle Rechte der öffentlichen Partizipation genommen wurden, bereits 1525 aus der Stadt – und damit aus dem akustischen Kommunikationsraum – vom Rat verwiesen worden.54 49 Zum Begriff der ‚agonalen Akustik‘ vgl. den Beitrag von Christian Jaser in diesem Band. 50 Schumann, Zwickau, in: Falk, Alt-Zwickau, Nr. 2, 1923, S. 8. 51 Nach den päpstlichen Privilegien aus dem 13. Jh., unter Papst Honorius III. (1216–1227), hatten die Franziskaner das Recht auf freie Predigt, Messelesen, Beichtehören sowie das Begräbnis­ recht inne. Vgl. Kahleyss, Bürger von Zwickau, S. 144–146. 52 Beschluss der Visitatoren vom 30. Juli 1539, in: Ratsarchiv Chemnitz Cap. IV Sect. 1 No. 56 fol. 15., ed. in: CDS II 6, Nr. 498, online unter: http://codex.isgv.de/codex.php?band=cds2_06 (29.05.2016). 53 Vgl. Hacke, Hearing Cultures, S. 653. 54 Monche halb / […] der Radt verursacht das closter /[zu] beschlissen /, vgl. Ratsprotokoll vom Montag nach Scholastice (13. Februar) 1525, fol. 38b, in: StAZw, Sign. RP III x, 61/144; 1525 am Sonnabent, do man das All(elu)ja niderlegt, als den 11 februarii, hatt ein Erbar Radt und der

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Ein weiteres Beispiel für die Regulation des akustischen Raumes, präsentiert folgender Ausschnitt aus den Visitationsakten von 1556: Gleicher gestalt will auch ein Erbar Radt der ergerlichen und bis anhero eingefurten bösen gebrauche des feiertäglichen schissens [Schießens] der schutzen abschaffen, und ernstlich vorbitten lassen, und also das sie nicht eher, denn wann der Catechismus und die Mittags predigt vorbracht, zuschissen anfanhen sollen, Auf das die Leuthe, […] hieran nicht gehindert, […] und dem heiligen Worts Gottes seyne gepurliche ehre wiederfahre.55

In den angeführten Beispielen zeigen sich akustische Reglementierungen als Resultat obrigkeitlichen Eingreifens in die Gesellschaftsstruktur. Wie bereits eingangs geschildert, erweisen sich Lärmdefinitionen für die akustische Untersuchung des Mittelalters und der Frühen Neuzeit als ein wichtiges Analysekriterium für die Bewertung und Wahrnehmung akustischer Phänomene. Das „Schießen der Schützen“ wird dem Beispiel nach als Lärm bzw. akustische Störung empfunden, besonders da es den kirchlichen Ablauf und die symbolische Ordnung beeinträchtigt. Lärm als Politikum und soziales Thema56 stellt für die akustische Untersuchung eine Methode dar, um die Veränderung sozialer Gefüge sowie soziale Distinktionen und gar Ordnungsstrukturen zu identifizieren. 2.2 Vom Klangraum zum Hörraum

Liturgische Änderungen führten zu neuen Raumdefinitionen des Sakralraumes, die sich besonders auf akustischer Ebene auswirkten. Der akustische Sakralraum lässt sich in der historischen Perspektive ausgehend vom Klangkonsumenten bzw. der Hörerschaft bestimmen. Er umfasst den Raum, in dem der Klang hörbar und damit akustisch eingenommen wird, er ist nicht zwingend an die Architektur gebunden, sondern muss vielmehr als ein gesellschaftlicher Raum gedacht werden.57 Die architektonischen Innen- und Außenräume können als Verstärker des Klanges oder Absorptionsraum wirken und somit akustische Phänomene unmittelbar beeinflussen. Niall Atkinson wies in seiner jüngsten Studie auf die dialektische Verbindung zwischen Körper, Raum und Architektur hin, die für eine akustische Untersuchung bedeutsam ist.58 Er kritisierte: „But the focus on the

Pastor alhie den Barfuser Munchen alhie das Kloster zugemacht und ihnen verpotten, das sie nicht mehr predigen dorfften, Schumann, Zwickau, in: Falk, Alt-Zwickau, Nr. 2, 1923, S. 8. 55 Zwickau Widembuch 1556, S. 142–145. 56 Morat, Zur Geschichte des Hörens, S. 714. 57 „The acoustic space of a sounding object is that volume of space in which the sound can be heard.“ Schafer, The soundscape, S. 214. 58 „Architecture, therefore, was a dialectic between the design of space and its reconfiguration by the body that confronted it with its sensorial apparatus.“ Atkinson, The noisy Renaissance, S. 9.

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formal production and reception of [architecture] effaces the productive role of early listeners and the active participation of the buildings in producing aural communities.“59. Die Hörenden bilden die akustische Gemeinschaft, sie sind den gleichen Klängen und Geräuschen innerhalb eines akustischen Raumes ausgesetzt und von diesem geprägt. Sie werden innerhalb der Untersuchung als ‚akustische Gemeinschaft‘ klassifiziert. Obwohl jeder Einzelne seinen eigenen sensorischen Wahrnehmungsraum besitzt, interessiert nicht die individuelle psychoakustische Prägung, sondern das Herausstellen des gemeinsamen und gemeinschaftsstiftenden Hörraumes. Alain Corbin betonte in seinem Werk die direkte Verbindung von akustischer Prägung und gemeinschaftlicher Identität: „Das Lesen der klanglichen Umwelt war damals Teil des Prozesses, in dem die Identität, die individuelle wie die kommunitarische, hergestellt wurde.“60. Die akustische Gemeinschaft zerfiel wiederum in einzelne Partikulargemeinschaften, je nach religiöser Angehörigkeit, persönlichem Netzwerk und sozialem Stand. Die Glocken der Marien- und der Katharinenkirche in Zwickau konstituierten eigene akustische Partikulargemeinschaften und entsprechende kommunitarische Zugehörigkeiten.61 Wenn akustische Ereignisse gesellschaftliche Räumlichkeiten62 (Informations- und Kommunikationsräume) produzieren, verweist dies auf inszenierte und funktionale Klänge, die von einer Hörerschaft zu decodieren sind. In einem gesellschaftlich gestalteten Klangraum muss die Hörerschaft über die klanglichen Bedeutungen und die akustischen Codes informiert sein, um innerhalb dieses Raumes interagieren zu können. Sofern der einzelne Hörer den Klangraum nicht deuten kann, kann er als Hörer den Klang (phänomenologisch) per se zwar vernehmen, allerdings ohne Informationsgehalt bzw. als einen fremden Klangraum (gesellschaftlich nicht partizipierend), oder als einen Raum, den er das erste Mal hört (Aspekt der Novität), aber deren Bedeutung er nicht zu decodieren vermag. „Die Sinnesorgane Reisender empfingen eine Fülle nicht vertrauter Signale, was sie oftmals als Zumutung empfanden und sie hoben in ihren Berichten das hervor, was den Ansässigen allzu vertraut und gar keiner Erwähnung wert war, […].“63 Um den Klangraum als Informations- und Kommunikationsraum zu besetzen und zu nutzen, mussten Interdependenzen akustischer Zeichensysteme (Codierung) zwischen Hör- und Klangraum und zwischen Klangproduzenten und Klangkonsumenten existieren. Daniela Hacke schlussfolgerte, dass sich nicht nur Klangräume, sondern 59 Atkinson, The noisy Renaissance, S. 7. 60 Corbin, Sprache der Glocken, S. 15. 61 Diese Zugehörigkeiten basierten auf Netzwerke, die sich über Berufe/Zünfte, sozialem Kontext und Wohnlage definierten und maßgeblich von den Gemeinschaften der seit 1523 aufgelösten Laienbruderschaften geprägt waren, Vgl. Kahleyss, Bürger von Zwickau, S. 443–446. 62 Vgl. Lenk, Klang- und Resonanzräume, S. 56. 63 Vgl. Aichinger, Sinne und Sinneserfahrung, S. 23–24. Für die historische Akustikanalyse können insbesondere Reiseberichte ein wichtiges Potential darstellen, da die akustische Kommunität einer lokalen Lautsphäre von einer externen Person, der nicht über die akustischen Codes verfügte, zwangsläufig anders erfasst werden musste.

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auch Hörräume konstituierten, die sich gegenseitig beeinflussten und bedingten, um dechiffrierbar zu sein.64 Auf diesen engen Funktionszusammenhang zwischen Klang- und Hörraum am Beispiel von Glocke und Kommune wies Alfred Haverkamp in den 1990er Jahren hin.65 Glocken als wichtigste akustische Signalgeber des Mittelalters und der Frühen Neuzeit sind in ihrer Funktionalität vielfältig: vom Zusammenrufen, Alarm geben, Informationen verbreiten, Zeitschlagen bis hin zum Einläuten von liturgischen Feierlichkeiten und letztlich bilden sie die signalgebende Umrahmung für den spätmittelalterlichen Alltag über Taufe, Hochzeit und Tod.66 Der Glockenklang musste von den Hörenden gedeutet und interpretiert werden, um die beabsichtigten Handlungen zu realisieren bzw. das Ziel des Läutens umzusetzen.67 Die Glocke als liturgisch-sakrales Medium erhält im Zuge der reformatorischen Veränderungen eine neue Deutungsebene. So wies Philip Hahn darauf hin: An examination of the ways in which Lutherans developed their own approach towards the use of bells in a sacred context over the course of the sixteenth and seventeenth centuries enables us to understand the extent to which the Reformation transformed the early modern soundscape and its perception by contemporaries.68

Anhand der verfügbaren Visitationsprotokolle ist festzustellen, welche reformatorischen Eingriffe es in den jeweiligen Läuteordnungen gab, allerdings sind die angeführten Änderungen nicht zwangsläufig akustischer Natur, sondern beziehen sich beispielsweise auf die Semantik des Glockenklangs. So wurde das tägliche Ave-Maria-Läuten durch das Pro-Pace-Läuten, ein Läuten zum Friedensgebet, unter den reformatorischen Eingriffen umgedeutet.69 In den Zwickauer Visitationsprotokollen von 1529 heißt es:

64 Hacke, Hearing Cultures, S. 659. 65 Vgl. Haverkamp, Information, Kommunikation, S. IX–X; Haverkamp, … an die große Glocke hängen. 66 Hense, Glockenläuten, S. 34–36. 67 „Es setzte und setzt voraus, daß die je verschiedenen akustischen Signale innerhalb der Stadtmauern und ihres unmittelbaren Umlandes auch von allen verstanden worden sind. Die Bedeutung eines Glockenzeichens mußte als sogenannte ‚Zeigehandlung‘ innerhalb der Stadtöffentlichkeit internalisiert, sozial wie rechtlich akzeptiert werden.“ Fouquet, Zeit, Arbeit, S. 239. 68 Hahn, The Reformation, S. 525. 69 Das Ave-Maria-Läuten zur Mittagszeit ist bereits 1456 unter Papst Calixt III. als Gebet gegen die Türkengefahr als ‚Pacem-Läuten‘ bekannt gemacht worden. Vgl. Dohrn-van Rossum, Geschichte der Stunde, S. 191. Das tägliche Mittagsgeläut galt der Erinnerung an das Gebet zur Hilfe gegen die Türken und findet sich in zahlreichen evangelischen Kirchenordnungen wieder. Vgl. Kaufmann, Anfang der Reformation, S. 102–104.

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Zur predigt, messe und vesper, […] mag man leuten, doch das es […] bei einem leuten mit einer glocken bleibe. Desgleichen mag man pro pace leuten, doch das das folk des wol bericht werde.70

Die Gemeinde sollte über das Läuten unterrichtet werden, um die Bedeutung des Klanges an die Hörerschaft zu transportieren. In der Wolfenbütteler Kirchenordnung findet sich ein vergleichbares Beispiel, das eine genaue Anweisung zur Umcodierung des Glockenklanges vorgibt: Morgendts / Mittags / und Abends einen sonderlichen Glockenschlag / dadurch das Volck vermahnet solle werden / die Jungfraw Marien anzuruffen / Weil aber die hochgelobte Jungfraw Maria solche Ehre/ die Gott allein gebueret/ nicht haben wil/ unnd auch widder Gottes Wort ist / soll davon das Volck unterrichtet werden. Es kan aber der Glockenschlag an im selber/ […] behalten werden.71

Die angeführten Beispiele zeigen, dass die reformatorischen Eingriffe in die Läuteordnungen nicht zwangsläufig akustische Änderungen waren, sondern die Deutung des Glockenklanges betrafen. Inwieweit die Hörerschaft die semantischen Umcodierungen verinnerlichte und akzeptierte, ließ sich nicht kontrollieren. Ob ein Ave-Maria oder ein Friedensgebet gebetet wurden, lag jeweils in der Glaubensauffassung der Hörenden und konnte auch parallel bestehen und somit mehrere Deutungskonzepte vereinen. Gerhard Dohrn-van Rossum wies auf den wichtigen Umstand hin, dass: „viele altvertraute [akustische] Glockensignale zu praktisch unentbehrlichen Zeitsignalen geworden waren“72 und damit zum festen Bestandteil des spätmittelalterlichen Alltags gehörten. Wurde der Glockenschlag innerhalb einer Ortschaft akustisch aus- oder gar abgesetzt, führte dies zu Streitigkeiten in der Gemeinschaft: Desgleichen, weil auch die verordnung mit der betglocken ungleich gehalten, so man das pacem nennet, weil an etlichen orten dieselbige als ein papistische anreizung zur abgötterei geachtet und demnach ein zeitlang unterlassen worden, deswegen sich die leut beklaget, […].73

Um 1528 sind die Konflikte um das Läuten noch als unnöthige und kindische Angelegenheiten bezeichnet worden.74 Die Pfarrer sollten um des Friedens willen, der Mehr70 Verordnung der Visitatoren für Zwickau vom 30. Januar 1529, in: EKO, S. 721. 71 Kirchenordnung, Wolfenbüttel 1569, S. 157, VD16 B 7330, online unter: http://digitale.bibliothek.uni-halle.de/vd16/content/titleinfo/999184 (20.04.2016) 72 Dohrn-van Rossum, Geschichte der Stunde, S. 198. 73 Kursächsische Kirchenordnung von 1580, in: EKO, S. 431. 74 Melanchthon, Unterricht, fol. 39v–40r.

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heit der Gemeinde – der akustischen Gemeinschaft – weichen und sie innerhalb der Predigt zum rechten Inhalt des Läutens vermahnen und unterrichten.75 Die inhaltliche Deutungsebene sollte nach reformatorischer Auffassung reglementiert und korrigiert werden. Den reformatorischen Predigern kam dabei die Deutungshoheit und Aufgabe der akustischen Vermittlung und Klangauslegung zu. Anhand der Beispiele sind akustische Umstrukturierungen der Reformatoren als dynamischer Prozess zu verstehen, die partiell sogar doppeldeutig blieben. 3. Ausblick

Die skizzierte Analyse untersucht die Lautsphäre des reformatorischen Zwickaus unter zwei Paradigmen: Erstens unter der akustisch-politischen Auswirkung und zweitens unter schriftlich fixiertem „Hör-Wissen“ im Rahmen der Diskursanalyse. An einzelnen Beispielen konnte gezeigt werden, dass schriftlich rezipierte Akustik auf gesellschaftliche Ordnungsstrukturen, Distinktionen und sprachliche Denkfiguren verweist. Neben den aktiven Klangproduzenten (anzuführen sind Pulsanten, Glöckner, Kantoren, Prediger, Sänger, Schützen etc.), die eine unmittelbare Wirkung auf ihr Auditorium entfalteten, sind insbesondere die Gruppe der indirekten Klangproduzenten zu berücksichtigen. Jene Obrigkeiten, die normative Festlegungen über die auditive Ebene beschlossen, die Klangregulierungen bestimmten, Lärm definierten und letztlich akustische Akteure einsetzten und finanzierten. In Zwickau wurde bereits um 1520 die Besetzung der akustischen Akteure im Sakralraum ausschließlich durch den Stadtrat entschieden. Durch neue liturgische Regelungen in der Umbruchphase der Reformation lässt sich eine Verschiebung der Kompetenzen in Bezug auf Klangregulation und Klangausübung feststellen. Für die Vermittlung akustischer Codes wie beispielsweise der Glockensignale sind reformatorische Prediger beauftragt worden, die Gläubigen über die inhaltliche Klangauslegung in Kenntnis zu setzen. Im Unterricht der Visitatoren (1528) steht dazu: Doch es mus das der Prediger […] ausrichten, [nicht] die Glocken / sonst würde ein Teuffels treudel daraus.76 Nur sukzessive ließ sich eine Umdeutung gewohnter Hörmuster durchsetzen, wie bereits Corbin nachwies: „Die Rezeption ist oft auch abhängig von der Textur der sensorischen Umwelt, den Modalitäten der Aufmerksamkeit und den Methoden der Dechiffrierung sensorischer Botschaften.“77. Über Jahrhunderte etablierte Hörgewohnheiten in Form akustischer Signale ließen sich innerhalb einer Gesellschaft nur bedingt ablösen und ändern. Vor der Liturgiereform sollte dem Grundsatz lutherischer Prägung zunächst eine Lehrreform stehen, indem die Gemeinde durch Unterweisungen und Predigten 75 Melanchthon, Unterricht, fol. 40r. 76 Melanchthon, Unterricht, fol. 39r–40r. 77 Corbin, Sprache der Glocken, S. 22.

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den Umbruch verstehen und aktiv als Multiplikatoren reformerischen Gedankenguts mitvollziehen konnte.78 Veränderungen akustischer Codierungen konnten Kommunikationssysteme stören79 und die Identität aufheben – sie führten aber auch zu neuen Identifikationsebenen und schufen neue Zugehörigkeiten. Durch agonale Akustik in Form von akustischen Störungen und akustischen Neubesetzungen konnte sich eine „neue“ – reformatorisch gesinnte – Gemeinschaft im Stadtraum konstituieren, hingegen die religiöse „bekämpfte“ Gemeinschaft – hier die Franziskaner – akustisch ausgegrenzt und letztlich des Kommunikationsraumes verwiesen wurde.80 Die reformatorische ‚Besetzung‘ des akustischen Raumes erfolgte auf verschiedenen medialen Ebenen über Gesang, Predigt, Glockensignale, akustische Störungen etc. Bereits das Ablegen der lateinischen Sprache innerhalb des akustischen Sakralraumes bedeutete eine gravierende Veränderung für das Auditorium. Semiliturgische und volkssprachliche Elemente sind verstärkt in die Kirchenräume gedrungen, was die akustische Teilhabe der Zuhörenden zwangsläufig veränderte. Um auf das eingangs angeführte Zitat der Gottesdienstordnung von 1526 zurückzukommen, diente den Reformatoren die auditive Ebene als Podium der Vermittlung reformatorischer Heilsvorstellung, was sich an vielfältigen Eingriffen in die akustischen Strukturen zeigte. Abkürzungen CDS – Codex diplomaticus Saxoniae EKO – Evangelische Kirchenordnungen HZ – Historische Zeitschrift MAVZ – Mitteilungen des Altertumsvereins zu Zwickau und Umgegend RP – Ratsprotokoll StAZw – Stadtarchiv Zwickau VD 16 – Verzeichnis der im dt. Sprachbereich erschienenen Drucke des 16. Jahrhunderts

78 Michel, Liturgische Reformen, S. 116. 79 „Sinnliche Veränderungsschübe können auch die Kommunikationsfähigkeit zwischen den Generationen zerbrechen.“ Vgl. Koselleck, Politische Sinnlichkeit, S. 31. 80 Fastnachtspiele, die mit Geschrei und Kritik am Mönchtum im Zentrum von Zwickau ausgetragen wurden, ließ man in Zwickau ohne Sanktionen gewähren. Vgl. Schumann, Zwickau, in: Falk, Alt-Zwickau, Nr. 1, S. 8. Analog zu den Zwickauer Entwicklungen, vgl. das Beispiel der Lübecker Gemeinde, in: Missfelder, Akustische Reformation, S. 119.

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Akustische Phänomene in den Chronica maiora des Matthaeus Parisiensis Eine Spurensuche Miriam Weiss

1. Einleitung

Im Jahr 1248 ereignete sich laut der Erzählungen des Chronisten Matthaeus Parisiensis ein schreckliches Erdbeben in England. Er berichtet in seinen Chronica maiora: Tholus quoque lapideus magnae quantitatis et ponderis […] raptus de loco suo, non sine dampno super ecclesiam cecidit; et cum ab alto rueret, tumultum reddens horribilem, audientibus timorem incussit non minimum.1 Auch eine steinerne Kuppel von großem Umfang und (großer) Masse […] wurde von ihrem Platz gerissen und fiel nicht ohne Schaden auf die Kirche; und als sie von der Höhe fiel, einen schrecklichen Lärm verursachend, flößte es denjenigen, die es hörten, eine nicht geringe Furcht ein.

Auf der Suche nach akustischen Phänomenen lassen sich in diesem Ausschnitt auf den ersten Blick zwei Stellen benennen, die es zu beachten gilt: Erstens der schreckliche Lärm, den die herabstürzende Kuppel verursacht, und zweitens die Tatsache, dass es Hörer gibt, bei denen das Geräusch eine Emotion auslöst. Der schreckliche Lärm der herabstürzenden Kuppel lässt sich aufgrund der Schilderung des großen, schweren, aus beachtlicher Höhe herabfallenden Steins sehr gut vorstellen. Zu fragen wäre hier, wieso das Geräusch derart beschrieben wird. War seine Lautstärke ungewöhnlich groß und wird dadurch bemerkenswert? Oder soll das laute Geräusch die Masse des herabfallenden Steins einmal mehr betonen und wird damit nicht um seiner selbst willen in den Bericht aufgenommen, sondern lediglich als Ergänzung, zur Verdeutlichung der Wucht des Sturzes? Oder gehört Lärm ganz einfach zu einer guten Erdbebengeschichte dazu? Ähnliche Fragen beziehen sich auf die genannten Hörer. Dient ihr Schrecken als Ausdruck für die Wucht des Sturzes? Werden sie vielleicht genannt, um deutlich zu machen, dass es Zeugen für das Erdbeben und die fallende Kuppel gab, die Geschichte also der Wahrheit entspricht? Oder kann es für den Chronisten – ähnlich dem umfallenden Baum im Wald – nur ein Geräusch geben, wenn es auch einen Hörer gibt? 1 Matthaei Parisiensis, Chronica Majora, (CM) V, S. 46.

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Das kurze Beispiel verdeutlicht zweierlei: Hinweise auf akustische Phänomene in einer Chronik zu finden, ist leicht. Aufgrund der narrativen Ausrichtung der Quellengattung sind die Berichte erzählerisch gestaltet und dem Schreiber ist es möglich, seine Geschichten auszuschmücken. Gerade bei Matthaues Parisiensis ist dies häufig der Fall.2 Seine Chronica maiora sind eine Universalchronik, die im englischen Kloster St. Albans in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts entstand. Sie beinhalten sowohl Bilder als auch verschiedenartige sprachliche Elemente und bestechen durch ihre ungewöhnliche Ausführlichkeit. Sie sind im Original erhalten und umfassen rund 500 folia (3254 edierte Textseiten).3 Der große Umfang der Quelle mit vielfältigen Erzählungen und zahlreichen Bildern prädestiniert sie dafür, unter vielfältigen Fragestellungen in den Blick genommen zu werden, so auch zur Frage nach einer mittelalterlichen Lautsphäre. Methodisch stellt sich dabei die Herausforderung, wie sich die relevanten Quellenabschnitte – möglichst vollständig – zusammentragen lassen. Ein methodisch fundiertes Textverständnis muss von einer vollständigen Erfassung der Chronik ausgehen; die Interpretation vereinzelter Passagen oder von einzelnen Wörtern erscheint hingegen wenig sinnvoll. Natürlich besteht auch die Möglichkeit einer Schlagwortsuche. Dabei macht es Sinn, zunächst durch eine ausführliche Lektüre bestimmte Schlüsselbegriffe herauszufiltern, die in dieser Chronik immer wieder innerhalb von Erzählungen, die akustische Phänomene enthalten, verwendet werden. Aus heutiger Sicht naheliegende Schlagworte wie „hören“, also audire, sind nicht automatisch zielführend und liefern beispielsweise in den Chronica maiora keine für die Analyse einer mittelalterlichen Klangwelt brauchbaren Ergebnisse. Zwar ergeben sich zahlreiche Treffer, sie stellen sich aber anders als erwartet dar. So wird „hören“ in den meisten Fällen im Sinne von „erfahren“ gebraucht. Unter dem Jahr 1248 hört der englische König beispielsweise von Vorwürfen gegenüber seiner Person, für die er sich schämt (Haec cum audisset dominus rex, confusus in semetipso erubuit […]4). In diesem Sinne wird in der Chronik fast immer audire verwendet, wenn eine Person Kenntnis von 2 Zu Matthaeus Parisiensis vgl. beispielsweise das Standardwerk von Vaughan, Matthew Paris oder Weiss, Die Chronica maiora des Matthaeus Parisiensis. 3 Das originale Manuskript ist in drei Teilen erhalten: A – Cambridge, Corpus Christi College, MS. 26 – beinhaltet den Text von der Schöpfung bis zum Jahr 1188 und wurde zu Lebzeiten des als Matthaeus Parisiensis bezeichneten Hauptschreibers im Skriptorium in St. Albans von zwei Händen geschrieben. Zusätze – auf eingefügten Blättern, am Rand, im Text und in Form von Überschriften – stammen vom Hauptschreiber. B – Cambridge, Corpus Christi College, MS. 16 – umfasst die Jahre 1189 bis 1253 und ist ab 1213 autograph. Schon vorher wurden einzelne Berichte vom Hauptschreiber angefertigt, genauso wie alle Zusätze, Korrekturen, Randbemerkungen und Zeichnungen. R – London, British Library, Royal MS. 14 C vii – beinhaltet den Text der Chronica maiora ab 1254. Dieser ist bis zur Nennung des Todes von Matthaeus im Jahr 1259 komplett autograph. Zudem existiert eine unter der Aufsicht des Hauptschreibers angefertigte Kopie von B – genannt C (London, British Library, Cotton MS. Nero D v). Weitere Handschriften der Chronica maiora existieren nicht. 4 CM V, S. 7.

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etwas erhält. Eine Abwandlung der Formulierung ist „die Ohren erreichen“ (ad aures ascendere), wie beispielsweise unter dem Jahr 1249, als dem König erneut Beschwerden zu Ohren kommen (Ascendit clamor usque ad regias aures […]5). Diese Quellenausschnitte zeigen zwar die Bedeutung der Mündlichkeit bei der Überlieferung von Informationen, das Schlagwort „hören“ führt allerdings offenkundig nicht zu den gewünschten Ergebnissen hinsichtlich einer mittelalterlichen Klangwelt. Ebenso wenig ist eine Suche nach Schlagwörtern wie „laut“, „lautlos“, „Musik“, „singen“, „Stille“, „Glocke“ und „Lärm“ in den Chronica maiora hilfreich. All diese Begriffe erbringen Treffer, sind aber willkürlich und unvollständig. Um die Passagen zu akustischen Phänomenen vollständig zu erfassen, bleibt nur eine umfassende Lektüre, wobei sich sicherlich nach einigen Berichten herausstellt, dass es werkspezifische Ausdrücke gibt, die immer wieder in den Erzählungen auftauchen. Sind diese ermittelt, ließe sich nach ihnen gezielt suchen. In der vorliegenden Unter­suchung wurde die vollständige Lektüre der Chronica maiora vorgezogen. Während also das Aufspüren geeigneter Quellenpassagen in Chroniken recht einfach erscheint, da es zahlreiche dieser Passagen gibt, stellt sich die Interpretation derselben als äußerst komplex dar. Jede einzelne Passage muss auf ihre Funktion innerhalb der Erzählung hin untersucht werden. Inwieweit aber führen diese Überlegungen an eine mittelalterliche Lautsphäre heran? Im vorliegenden Beitrag werden einige Hinweise aus den Chronica maiora auf eine mittelalterliche Klangwelt vorgestellt, und es wird ein Vorschlag zur Unterteilung dieser Phänomene unterbreitet. Die Chronica maiora dienen dabei als Versuchsquelle, um einzuschätzen, ob eine Untersuchung chronikalischer Werke im Hinblick auf eine mittelalterliche Klangwelt sinnvoll ist, wie sie methodisch funktionieren kann und inwiefern sich Ergebnisse formulieren lassen, die für weitere Untersuchungen an anderen Quellen Anschluss- und Erweiterungsmöglichkeiten bieten. 2. Akustische Phänomene in den Chronica maiora

Zur Erläuterung der in den Chronica maiora auftauchenden akustischen Phänomene ist es hilfreich, diese in eine Ordnung zu bringen. Der erste Impuls, dabei nach sprachlichen und nicht-sprachlichen Klängen zu unterscheiden, erscheint wenig sinnvoll, da sich beides überschneiden kann. So gibt es beispielsweise in einer Schlachtenerzählung Geschrei und Waffenklirren oder bei einer Messe Gesang und Glockenläuten. Solche Erzählungen aufgrund einer für die Analyse geschaffenen Trennung von sprachlichen und nicht-sprachlichen Klängen auseinander zu nehmen, ist kontraproduktiv, tauchen die Klänge doch in der Erzählung beabsichtigt zusammen auf. Darüber hinaus lassen sich nicht alle Laute problemlos in diesen Kategorien erfassen. Handelt es sich beispielsweise bei „Stöhnen und Seufzen“ um einen sprachlichen oder einen nicht-sprachlichen Klang? 5 CM V, S. 67.

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Gleiches gilt bei einer Ordnung nach Klängen als solchen. Würde beispielsweise nach Glockenläuten, Gesängen, Waffenklirren oder Rufen getrennt, so würden erneut Erzählungen auseinander genommen und zudem Laute vermischt, die eigentlich getrennt werden müssen. Dies zeigt wieder das Beispiel des Seufzens. Haucht ein Sterbender sein Leben mit einem Seufzen aus, so ist dies anders zu behandeln, als ein Seufzen, welches der König aufgrund der Einfältigkeit seiner Untergebenen von sich gibt. Es ließe sich versuchen – so wie es beispielsweise bei Raymond Murray Schafer6 zu finden ist – nach Arten von Tönen zu differenzieren. Schafer unterscheidet zwischen Grundlauten (z. B. das Rauschen des Windes in den Bäumen), Signallauten (z. B. Glockenläuten) und Orientierungslauten (z. B. Glockenklänge von Weidetieren).7 Eine solche Trennung ist hilfreicher, betont sie doch, dass es unterschiedliche Klänge aus unterschiedlichen Medien mit ähnlicher Funktion gibt. So können auch für die Chronica maiora beispielsweise Glockenläuten und das Zusammenrufen einer Menschengruppe durch öffentliche Ausrufer gemeinsam betrachtet werden, da es sich bei beiden um Signallaute handelt. Gleichwohl lassen sich nicht alle Klänge befriedigend in diesen Kategorien unterbringen. Wie ließe sich etwa das benannte „Seufzen“ klassifizieren? Ist das Seufzen eines Sterbenden ein Grundton, ein Signalton oder ein Orientierungslaut? In der vorliegenden Untersuchung soll zunächst beschrieben werden, welche Möglichkeiten das Manuskript überhaupt (textlich und bildlich) aufzeigt, um die Klangwelt zu integrieren. Die Idee ergab sich durch die Lektüre eines Aufsatzes von Caroline Emmelius über die Funktionen von stimmlichem Klang in Viten und Offenbarungen.8 Als Ziel ihrer Ausführungen hält sie fest: „Die folgenden Beobachtungen möchten vielmehr zeigen, dass das konstatierte Desiderat der Stimmlichkeit9 in der Schrift auf seiner Kehrseite gleichsam das Bemühen hervorbringt, den Charakter des gesprochenen Worts in der Schrift zu bewahren.“10 Dies lässt sich für die Chronica maiora allgemeiner übertragen: Die folgenden Beobachtungen möchten zeigen, dass das bestehende Desiderat von Klängen in der Chronik auf seiner Kehrseite gleichsam das Bemühen hervorbringt, die Klangwelt in das Manuskript zu integrieren. Auf welche Weise das geschehen kann, wird nun anhand einiger (schriftlicher und bildlicher) Beispiele vorgestellt. Dabei soll gleichzeitig hinterfragt werden, welche Funktion das Einbringen der Klangwelt an der jeweiligen Stelle hat, also wieso gerade dort und gerade auf diese Weise der Bezug auf die Klangwelt integriert wird. Es wird damit eine Untergliederung akustischer Phänomene in den Chronica maiora möglich. Sie werden im Folgenden unterschieden in selbstverständliche, erwartete und stilistische  6 Schafer, Klang und Krach; siehe auch Wagner, Hören, S. 155–172.   7 So auch Wagner, Hören, S. 158.  8 Emmelius, süeze stimme, S. 64–85.   9 Gemeint ist hier die Tatsache, dass es in einem Text keine tatsächlich hörbare Stimme geben kann. 10 Emmelius, süeze stimme, S. 65.

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Klänge. Diese Untergliederung wird wie die zuvor genannten Ordnungen von Klängen aus analytischen Gründen geschaffen und dient als Hilfestellung, um das Augenmerk auf gleiche Eigenschaften verschiedener Klänge innerhalb von Erzählungen zu richten. Die Dreiteilung ist weder ausschließend (Ein Klang kann durchaus sowohl selbstverständlich als auch erwartet sein.), noch beansprucht sie eine Vollständigkeit (Das Einfügen der Klangwelt in Narrationen kann sicherlich weitere als die hier aufgeführten Gründe haben und die Dreiteilung soll dazu anregen, ergänzt zu werden.). Die Untergliederung soll lediglich die spezielle Herangehensweise verdeutlichen und den Lesefluss erleichtern. 2.1 Selbstverständliche Klänge

Als erste Kategorie möchte ich Klänge in den Chronica maiora zusammen betrachten, die in den Erzählungen selbstverständlich wirken, sich also für den mittelalterlichen Rezipienten offenbar von selbst verstehen. So werden beispielsweise an mehreren Stellen der Chronica maiora öffentliche Ausrufer (vox praeconia11) genannt. Sie rufen ein Parlament zusammen oder verkünden neue Regelungen. Sie haben keinen herausragenden Stellenwert innerhalb der Erzählung, ihre Erwähnung findet sich eher „nebenbei“ und bedarf keinerlei Erklärung. Ihr Auftauchen versteht sich vielmehr von selbst, denn öffentliche Ausrufer dienen im Mittelalter der öffentlichen Bekanntmachung und scheinen damit in diesem Kontext (öffentliche Bekanntmachung) „normal“. In einem bestimmten Kontext selbstverständlicher Klänge gibt es noch weitere. So ist mehrfach die Rede von kirchlichem Gesang während einer Messe oder einer Prozession (cantare12). Und auch Glockenläuten erscheint in kirchlichen Kontexten selbstverständlich. Es gibt ein schönes Beispiel, in dem dies auch zeichnerisch zu erkennen ist.13 Als der Papst 1208 das Interdikt über Abb. 1: Interdikt über England. © Cambridge, England verhängt, veranschaulicht der Corpus Christi College, MS 16, fol. 31v.

11 Z. B. CM V, S. 15, 29, 35. 12 Z. B. CM IV, S. 639, 642; CM V, S. 81. 13 Zu Klang, der sich in Bildern findet vgl. auch die Überlegungen von Saurma-Jeltsch, Sprechende Bilder, S. 4–11, zum Text „Heidin“ aus dem Jahr 1470.

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Chronist den Bericht seines Vorgängers durch eine nicht läutende Glocke.14 Der Rezipient kann hier sehen, dass die Glocke nicht läutet. In der Historia Anglorum, der Nachfolgechronik der Chronica maiora, wird die Aufhebung des Interdikts fünf Jahre später durch läutende Glocken veranschaulicht.15 Dass sie läuten, ist deutlich an ihrer Bewegung sowie an den sie bewegenden Händen zu erkennen. Eine Erklärung dafür, dass Glocken in der Chronik als visuelle Marker im Kontext eines Interdiktes bzw. im Kontext seiner Aufhebung verwendet werden, ist nicht zu finden. Dies scheint sich von selbst zu verstehen. Das Bild der läutenden bzw. nicht läutenden Glocken ist also selbstverständlich und hilft dem Rezipienten offenkundig, einen Umstand (nämlich das Verhängen bzw. die Aufhebung eines Interdiktes) zu erkennen.16 Ähnliches ist auch unter dem Jahr 1246 der Fall, als der Tod John Nevilles, der das königliche Forstamt innehatte, mit Hilfe einer Zeichnung verdeutlicht wird.17 Abb. 2: Aufhebung des Interdikts über England. Zu erkennen ist sein auf dem Kopf © London, British Library, Royal MS 14 cvii, stehender Schild, der auf diese Weise den fol. 94. Tod der Person anzeigt. Darüber hängt an einem Haken ein Jagdhorn, welches auf das Amt John Nevilles verweist. Das Symbol aus der Klangwelt lässt den Rezipienten erkennen, welche Tätigkeit die verstorbene Person zu Lebzeiten ausübte, und es scheint zusätzlich zum Schild geeignet, auf diese Person zu verweisen. Dass das Jagdhorn auf das königliche Forstamt anspielen kann, scheint sich von selbst zu verstehen. Dieses Vorgehen lässt sich auch auf sprachlicher Ebene beobachten. So heißt es bei14 Cambridge, Corpus Christi College, MS 16, fol. 31v. 15 London, British Library, Royal MS 14 cvii, fol. 94. 16 Vgl. auch Lewis, Art of Matthew Paris, S. 184. 17 Cambridge, Corpus Christi College, MS 16, fol. 205v; vgl. auch Lewis, Art of Matthew Paris, S. 224.

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Abb. 3: Tod John Nevilles. © Cambridge, Corpus Christi ­College, MS 16, fol. 205v.

spielsweise unter dem Jahr 1248 in der Jahreszusammenfassung des Chronisten, dass das gesamte Jahr besonders warm gewesen sei und sogar im Winter weder Schnee noch Frost zu sehen gewesen wären. Bäume hätten im Februar geblüht und Vögel im April gesungen und geworben (aviculas quasi in Aprili canentes lascivire18). Das Geräusch des Vogelzwitscherns verdeutlicht also die warmen Temperaturen, versteht sich also bei warmen Temperaturen von selbst. Dieses Beispiel zeigt eine offenkundige Schwierigkeit im Zusammenhang mit selbstverständlichen Klängen: Sie werden – gerade aufgrund ihrer Selbstverständlichkeit – nur selten in der Chronik vermerkt. Wenn sie angeführt sind, dann einerseits als „normale“ Geräusche in bestimmten Kontexten (wie das öffentliche Ausrufen von Gesetzen oder Gesänge während einer Messe) oder andererseits, wenn sie in einem bestimmten Kontext „falsch“ zu hören sind. So ist das Vogelzwitschern bei aufkommender Wärme ein selbstverständlicher Klang und findet unter dem Jahr 1248 nur Erwähnung in der Chronik, weil es zu diesem Zeitpunkt im Jahr ungewöhnlich ist. Der „falsche“ Zeitpunkt des eigentlich selbstverständlichen Klanges ist ausschlaggebend für die Aufnahme in die Erzählung. Als selbstverständlichen Klang könnte man auch das eingangs vorgestellte Beispiel des Erdbebens, bei dem die herabfallende Kuppel einen schrecklichen Lärm macht, interpretieren, denn Lärm könnte sich bei einem Erdbeben von selbst verstehen. Das Beispiel lässt sich aber auch sehr gut der zweiten Gruppe von in den Chronica maiora zu findenden Klängen zuordnen: Den erwarteten Klängen.

18 CM V, S. 47.

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2.2 Erwartete Klänge

Die in die Chronica maiora aufgenommenen Berichte sind Erzählungen und haben Adressaten. Dementsprechend müssen die Erzählungen derart gestaltet sein, dass sie Ansprüchen und Vorstellungen der Adressaten genügen. In diesem Sinne ließe sich bei der Erdbebenerzählung argumentieren, dass Lärm innerhalb einer solchen Erzählung vom Rezipienten erwartet und aus diesem Grund dort aufgenommen wird.19 Ich möchte dies an weiteren Beispielen verdeutlichen. Am eindrucksvollsten kommt die anzunehmende Erwartungshaltung des Rezipienten innerhalb von Schlachtenerzählungen zum Ausdruck. So heißt es unter dem Jahr 1247, als eine Schlacht beginnt: […] armorum tinnitus, hastarum fragor, tumultus ictuum, equorum hinnitus, vociferantium cohortatio, vulneratorum clamores, morientium gemitus, ipsum aera cum densi pulveris elevatione et fumo anhelantium et sanguinis profluvio videbatur perturbare.20 […] das Klirren der Waffen, das Krachen der Lanzen, der Lärm der Schläge, das Wiehern der Pferde, die Anfeuerung der Rufenden, die Schreie der Verletzten, das Stöhnen der Sterbenden, schien selbst die Luft zu stören zusammen mit dem Aufwirbeln des dichten Staubes und dem Dampf der Keuchenden und dem Hervorfließen des Blutes.

Es ist klar, dass es sich um eine Schilderung handelt, welche die Erzählung unterhaltsamer macht (dazu siehe unten: stilistische Klänge). Und wahrscheinlich erwarten die Rezipienten solche Klänge in einer Schlacht. Dies soll nicht heißen, dass die Klänge in einer Schlacht nicht selbstverständlich waren oder tatsächlich zu hören gewesen sein können. Es soll lediglich verdeutlichen, dass das explizite Nennen hier eine andere Funktion in der Narration hat. Die Schilderung der Lautsphäre gehört als zentraler Passus zu einer Schlachtenschilderung. Die Klänge werden im Gegensatz zu den selbstverständlichen Klängen nicht „nebenbei“ vermerkt. Sie bedienen eine Rezipientenerwartung an eine gute Schlachtenerzählung. Dies lässt sich auch bei bildlichen Darstellungen beobachten. Als unter dem Jahr 1215 berichtet wird, wie bei einem Unwetter mehrere Schiffe sinken und Menschen ertrinken, wird dies auch zeichnerisch dargestellt.21 Vergrößert man die zwei Personen am unteren linken Bildrand, so erkennt man, dass diese den Mund weit geöffnet haben und vermutlich schreien (oder womöglich beten?), wie es bei einer solchen Szenerie sicherlich erwartet wird.

19 Dazu vgl. auch zahlreiche Überlegungen bei Clauss, Kriegsniederlagen. 20 CM IV, S. 611. 21 Cambridge, Corpus Christi College, MS 16, fol. 46v; vgl. auch Lewis, Art of Matthew Paris, S. 81–83.

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Abb. 4: Unwetter auf See. © Cambridge, Corpus Christi College, MS 16, fol. 46v.

Abb. 4a: Teilausschnitt der Unwet­ terszene. © Cambridge, Corpus Christi College, MS 16, fol. 46v.

Abb. 5: Parade in Cremona. © Cambridge, Corpus Christi ­College, MS 16, fol. 152v.

Unter dem Jahr 1241 ist eine Parade in Cremona geschildert, welche von Gesängen und Musik begleitet wird (canticis et musicis instrumentis22). Dabei läuft auch ein Elefant mit, auf dem Personen sitzen, die Trompeten spielen und in die Hände klatschen (tubis canentes, et manibus joculando applaudentes23). Der Elefant ist gezeichnet.24 22 CM IV, S. 166. 23 CM IV, S. 167. 24 Cambridge, Corpus Christi College, MS 16, fol. 152v; vgl. auch Lewis, Art of Matthew Paris, S. 281–282.

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Abb. 6: Sarazeninnen am Hof Friedrichs II. © Cambridge, ­Corpus Christi College, MS 16, fol. 150r.

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Zu erkennen sind hier die Trompeter und weitere Musikinstrumente. Zusätzlich sieht man den magister bestiae eine Glocke schwingen. Es werden Klänge, nämlich Musik, die bei einem solchen Anlass erwartet wird, schriftlich und bildlich dargestellt. Gleichzeitig macht gerade die Zeichnung aber auch auf die Begebenheit aufmerksam, und zwar nicht zuletzt durch die gezeichnete Glocke, die – würde man sie hören – Signallaute von sich geben würde. Das gleiche Vorgehen findet sich auch unter dem Jahr 1241, als Festivitäten am Hof Friedrich II. geschildert werden, bei denen zwei Sarazeninnen tanzen, singen und Musikinstrumente spielen. Das zugehörige Bild zeigt die beiden Frauen, auf Bällen tanzend, eine mit Kastagnetten und die andere mit einem Tamburin.25 Wieder finden sich erwartete Klänge zu einem bestimmten Anlass – nämlich Musik und Gesang am Hof.26 Gänzlich andere Klänge sind bei Szenen mit Personen auf einem Kranken- oder Sterbebett zu beobachten. Unter dem Jahr 1244 wird geschildert, dass der französische König sehr krank ist und wie tot mehrere Tage auf seinem Bett liegt.27 Seine trauernde Mutter spricht schluchzend zu Gott (Sed mater ipsius […] singultibus ait sermonem) und berührt ihren Sohn mit einem Kreuz. Danach beten alle Umstehenden innig weiter und schlagartig erwacht der König mit einem plötzlichen Atemzug (suspirans), bewegt Arme und Beine und spricht mit aus der Tiefe kommender Stimme, wie aus dem Grab zum Leben erweckt (voce praecordiali, quasi ex sepulchro resuscitatus), zu den Umstehenden. Das Ganze wird auch bildlich festgehalten.28 Hier ist hinsichtlich der Klänge allerdings nur das inbrünstige Beten eines Umstehenden am Rand zu erkennen. Gleichwohl dienen die schriftlichen und bildlichen Hinweise beide

25 Cambridge, Corpus Christi College, MS 16, fol. 150r; vgl. auch Lewis, Art of Matthew Paris, S. 280–281. 26 Darüber hinaus weisen der Bericht und die Zeichnung auch auf eine gewisse Besonderheit und Exklusivität hin, welche durch die Darstellung einer für die westliche mittelalterliche Welt ungewöhnlichen Klangwelt verdeutlicht wird. Diese Beobachtung hat bereits Veronica Steiger in ihrer Untersuchung zu islamischen Musikinstrumenten an europäischen Herrscherhöfen herausgearbeitet; vgl. Steiger, Hören und Staunen, S. 175–189. 27 CM IV, S. 397; vgl. auch Lewis, Art of Matthew Paris, S. 308–309. 28 Cambridge, Corpus Christi College, MS 16, fol. 183r; vgl. auch Lewis, Art of Matthew Paris, S. 308–309.

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Abb. 7: Krankenbett Ludwigs des Heiligen. © Cambridge, Corpus Christi College, MS 16, fol. 183r.

einer guten Darstellung für den Rezipienten, in welche auch die angenommene Klangwelt integriert werden soll. Besonders deutlich ist dies, da Seufzen und Stöhnen bei zahlreichen Sterbe- und Krankenszenen vorkommt, ähnlich wie Kampflärm zum Standardrepertoire in Schlachtenerzählungen gehört. All diese Geräusche – Kampflärm, Musik bei Prozessionen und am Hof sowie Seufzen am Sterbebett – gehören also offenbar zu einer erwarteten Klangkulisse, die, eben weil sie erwartet wird, auch in den Erzählungen geschildert wird. Gleichzeitig richtet die in der Episode über den französischen König betonte Grabesstimme des Regenten das Augenmerk auf die Tatsache, dass akustische Elemente eine Erzählung auch besonders unterhaltsam machen können. Die Beschreibung der Stimme lässt den Augenblick des Erwachens des Königs plastisch und dramatisch wirken. Ähnlich ließe sich auch bei der Erdbebenepisode interpretieren, dass die Wucht des Sturzes der herabfallenden Kuppel mit großem Lärm beschrieben wird, um das Ereignis für den Rezipienten besonders lebensnah und aufregend zu schildern. Diese Überlegungen führen zu einer dritten Gruppe von Klängen, die in den Chronica maiora zu finden sind: Die stilistischen Klänge. 2.3 Stilistische Klänge

Stilistische Klänge werden einer Erzählung aus stilistischen Gründen zugefügt und dienen dazu, die Erzählung für den Rezipienten besonders ansprechend zu machen. Berichte können mit ihrer Hilfe unterhaltsamer, plastischer, lebensnäher, spannender, dramatischer und Ähnliches werden. Sie richten das Augenmerk also darauf, dass ein Schreiber bei der Abfassung seiner Erzählungen bewusst Elemente verwendet, um die Lese- oder auch Hörfreude der Rezipienten zu steigern. Diese Elemente sind vielseitig und selbstverständlich sind es nicht nur akustische Phänomene, die von Schreibern verwendet werden (auch visuelle Elemente spielen dabei – speziell in den Chronica maiora – eine große Rolle).

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Stilistische Klänge sind häufig in den Chronica maiora zu finden und äußerst interessant. Meistens handelt es sich um stimmliche Klänge. Ähnlich der Grabesstimme Ludwigs wird die Stimme eines verletzten Geistlichen beschrieben, der Mönche zusammenrufen möchte und dabei ein Todesröcheln aus der Kehle stößt (oregmon a gutture emitteret29). Und als Friedrich II. unter dem Jahr 1248 von einem Verrat an seiner Person erfährt, heißt es: Hoc autem postquam ipsi F[retherico] innotuisset, quasi alto sauciatus vulnere, in ore et corde ingemuit, suspiria cruentata geminando.30 Aber als dies Friedrich bekannt wurde, stöhnte er, wie tief verletzt, mit der Stimme und im Herzen auf, gepaart mit blutdürstigem Seufzen.

Die Beschreibungen der mit dem Mund verursachten Geräusche sollen die Erzählungen lebendiger und ansprechender machen. Es handelt sich um vom Schreiber gewählte Formulierungen zur Verbesserung seiner Geschichte. Das Bemühen, Berichten über das gesprochene Wort bzw. über Klänge, die dem Mund entweichen, mehr Lebendigkeit (und sicherlich auch Glaubwürdigkeit) zu geben, zeigt auch die Tatsache, dass es unzählbar viele Stellen in den Chronica maiora gibt, an welchen Personen in wörtlicher Rede miteinander sprechen, also den agierenden Personen eine Stimme gegeben wird, wodurch erzähltheoretisch der Rezipient seine Informationen unmittelbar von diesen Personen erhält und die Erzählerinstanz fast gänzlich verschwindet.31 Das Vorgehen ist sogar bildlich zu fassen, denn wörtliche Rede kann auch bei wichtigen Dialogen auf Spruchbändern erscheinen. So findet sich unter dem Jahr 1228 die Geschichte von Cartaphilus, dem wandernden Juden.32 Ursprünglich handelt es sich um die Legende von einem Juden namens Cartaphilus, der Jesus, welcher sich mit seinem Kreuz auf dem Weg zur Kreuzigung ausruht, antreibt, schneller zu gehen. Daraufhin antwortet Jesus ihm, Cartaphilus werde laufen müssen bis Jesus wiederkehre. Damit ist Cartaphilus dazu verwünscht, bis in alle Ewigkeit zu leben und auf die Rückkehr des Herrn zu warten. Die Begebenheit, also der Dialog, wird in den Chroncia maiora bildlich festgehalten.33

29 CM IV, S. 32. 30 CM IV, S. 15. 31 Vgl. beispielsweise Martinez, Scheffel, Einführung, S. 54. 32 CM III, S. 161–164. Zu Cartaphilus und Matthaeus Parisiensis vgl. beispielsweise Tilly, Der „Ewige Jude“ in England, S. 289–303, Lewis, Art of Matthew Paris, S. 300–304 und Weiss, Juden, S. 64–66. 33 Cambridge, Corpus Christi College, MS 16, fol. 74v.

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Abb. 8: Jesus und Cartaphilus. © Cambridge, Corpus Christi College, MS 16, fol. 74v.

Auf der rechten Seite ist Jesus zu sehen, der das Kreuz schultert und sich Cartaphilus zuwendet.34 Beide Figuren haben „gesprochenen“ Text auf langen Schriftrollen. Cartaphilus spricht: „Geh, Jesus, zu dem dir vorbereiteten Urteil“ (Vade, Jesu, ad judicium tibi praeparatum). Seine Schriftrolle entspringt seiner rechten Hand und endet am Ellenbogen Christi, wie wenn sie ihm helfe, das Kreuz zu stemmen. Die Schriftrolle Christi führt aus dessen linker Hand nach rechts und hat die Aufschrift: „Ich gehe, wie es über mich geschrieben ist, Du aber wirst so lange Gnade erhoffen“ (Vado, sicut scriptum est de me, tu vero expectabis donec veniam). Das gesprochene – und für die Erzählung ausschlaggebende – Wort erscheint also als Spruchband im Bild – heute wäre es vielleicht eine Sprechblase. Weitere Wendungen verweisen in den Chronica maiora auf das gesprochene Wort bzw. auf den Tonfall. So heißt es beispielsweise unter dem Jahr 1248, als der französische König die Umstehenden auf eine ernste Angelegenheit aufmerksam machen möchte, er ändere seinen Gesichtsausdruck und seine Stimme (rex mutato vultu et sententia35). An anderer Stelle ist es Richard von Cornwall, der dreist seine Stimme erhebt (voce protervius elevate36). Während hier auf die Lautstärke der Stimme angespielt wird, ist es an anderen Stellen die Art und Weise des Tonfalls. Wir finden schrecklich ertönende (reboando horribiliter37) Stimmen, weinendes und heulendes (lacrimando et ejulando38) 34 Cartaphilus auf der linken Seite ist gekleidet wie ein Bauer und lehnt auf einer Spitzhacke. Cartaphilus sieht gealtert und gebrechlich aus, wohingegen Christus als jugendlicher agiler Gegenpart erscheint. Die Darstellung ist zudem beschriftet. Über Cartaphilus steht geschrieben: Cartaphila Christo. Yppa Christo, crassay Christus. Christus ist beschriftet mit den Worten: Responsio Christi. Euena yppa uo ananymamo. 35 CM V, S. 4. 36 CM V, S. 19. 37 CM V, S. 32. 38 CM V, S. 56.

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Sprechen oder auch plötzliches, schreckliches Ausrufen (exclamavit rex subito et horribiliter39). Auffallend ist, dass solche akustischen Eigenschaften oft mit anderen körperlichen Merkmalen, also Gestik und Mimik, zusammen auftauchen. So gibt es Seufzen und Tränen, (suspiria et lacrimas40) oder Grimassen und Gelächter (sannis et cachinnis41). Friedrich II. schreit seine Untergebenen an und verknotet dabei die Finger (lamentando contorquens digitos42). Werden Personen angesprochen, wirft man ihnen einen grimmigen Blick (torvo respiciens intuitu43) zu. Der französische König nimmt seine zum Papst gesprochenen Worte zurück, als er dessen widersprechenden Gesichtsausdruck (vultum contradictionis44) sieht. Die Art und Weise des Sprechens wird also – in Kombination mit anderen körperlichen Zeichen – dazu genutzt, emotionale Zustände zu beschreiben. Sehr deutlich wird dies auch im obigen Beispiel Friedrichs II., der nicht nur mit dem Mund, sondern auch im Herzen aufstöhnt (innotuisset […] in ore et corde45). Inwieweit dies nun an eine mittelalterliche Klangwelt heranzuführen vermag, sei dahingestellt. Vielleicht könnte man auf diesem Wege der von William Layher angedachten Frage nachgehen, inwiefern Klang auch Geste sein kann, nämlich eine hörbare Geste, die zu bestimmten Zwecken instrumentalisiert wird.46 Auf jeden Fall machen die Beobachtungen deutlich, dass Klang nicht unabhängig besteht, sondern häufig mit anderen körperlichen Erscheinungen gekoppelt ist. 3. Schlussbetrachtung

Es wurden drei Kategorien – selbstverständlich, erwartet und stilistisch – für die in den Chronica maiora geschilderten akustischen Phänomene vorgestellt. Natürlich sind diese Kategorien nicht einander ausschließend, sondern dienen lediglich der Verdeut39 CM V, S. 58. 40 Z. B. CM V, S. 35, S. 69. 41 Z. B. CM IV, S. 628. 42 CM IV, S. 69. 43 CM V, S. 57. 44 CM V, S. 23. 45 CM IV, S. 15. 46 Vgl. Layher, Hörbarkeit im Mittelalter, S. 29, wo Layher als Schlusswort unter der Teilüberschrift „Näheres über Geräusch als Repräsentation, z. B. über Klang als Geste zu entdecken“ formuliert: „Letzteres klingt freilich widersprüchlich, denn Gesten sind sichtbare Zeichen, die eine kommunikative Funktion ausüben. Der Klang ist natürlich nur auditiv wahrzunehmen. Vielleicht gelingt es aber, unter Anlehnung an den Diskurs über Synästhesie – von der Farbe eines Dufts oder Geschmack einer Farbe – Deutungsmuster zu formulieren, die die Zeichenhaftigkeit des Klangs beleuchten. Nicht bloß, dass wir uns auf die Suche nach „hör­baren Gesten“ in der deutschen Dichtung begeben – sondern vielmehr, dass wir uns auf die Vielfältigkeiten von inner- wie auch außerliterarischen Situationen einlassen, in denen der Klang instrumentalisiert wird.“

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lichung, durch welche Blickwinkel sich die akustischen Phänomene betrachten lassen. Der Lärm bei einem Erdbeben ließe sich wie gezeigt als für den Rezipienten selbstverständlich im Kontext eines Erdbebens, als vom Rezipienten erwartet im Kontext eines Erdbebens und als Stilmittel zur Unterhaltung des Rezipienten interpretieren. Und auch ein Seufzen kann ein „normales“, ein erwartetes und ein aus stilistischen Gründen eingefügtes Geräusch gleichzeitig sein. Dennoch richtet die vorgestellte Trennung das Augenmerk recht hilfreich auf quellenspezifische Besonderheiten. Mittelalterliche Chroniken beinhalten Erzählungen, welche unterhalten, informieren und belehren sowie bestimmten Erwartungen genügen sollen. All diese Komponenten finden sich auch bei der Integration akustischer Phänomene in die Erzählungen wieder. Sie machen einen Bericht unterhaltsam, genügen Erwartungen an eine Schilderung oder liefern einen informativen Aspekt. Mit welchen dieser Klänge lässt sich nun aber an eine vermeintlich ‚wirkliche‘ Klangwelt des Mittelalters herankommen? Ich denke, dass als selbstverständlich eingestufte Klänge an eine tatsächliche Klangkulisse heranführen könnten. Schwierig ist dabei, dass sie eben dadurch, dass sie selbstverständlich sind, äußerst selten auftauchen. Hier wird man am besten fündig an Stellen, an denen eigentlich „normale“ Klänge in irgendeiner Art „falsch“ zu hören sind, beispielsweise zu falschen Zeitpunkten. Erwartete Klänge können ebenfalls Aufschluss über eine Klangwelt geben und sei es nur über eine imaginierte, die aber in dieser Art imaginiert wird, weil sie bereits gehört oder in dieser Art bereits häufig geschildert wurde. Die aus stilistischen Gründen in die Erzählungen eingefügten Klänge sind am schwierigsten zu handhaben. Es sei an dieser Stelle nur festgehalten, dass sie sehr schön zeigen, inwiefern eine – hier verbale – Klangwelt nicht einfach nur bestand, sondern auch, dass sie von Bedeutung war. So wie nämlich die Mimik eines Menschen für den Hergang von Situationen ausschlaggebend sein kann, können es auch Tonfall, Tonlage und Unterton. Alle Überlegungen und Beispiele gemeinsam zeigen nicht nur, dass in den Chronica maiora auf verschiedenen Ebenen, nämlich sprachlich und bildlich, versucht wird, akustische Phänomene zu integrieren, sondern auch, dass bei der Analyse akustischer Phänomene ein Fokus auf die Klangwelt allein nicht ausreicht.47 Eine Klangwelt besteht nämlich nicht unabhängig von anderen (nicht nur körperlichen) Erscheinungen und sollte aus diesem Grund auch nicht unabhängig untersucht werden. Vielmehr scheint es lohnenswert, zu untersuchen, mit welchen weiteren Erscheinungen akustische Phänomene erzählerisch vielfach verknüpft werden, welchen Sinn dies erfüllen soll und welche Rolle dabei das akustische Phänomen spielt. Es ist sicher lohnenswert, ähnliche Untersuchungen an anderen Quellengattungen durchzuführen, um Vergleiche ziehen zu können. Eine derartige Studie verspricht ein interessantes Bild der mittelalterlichen Klangwelt als Teil der uns überlieferten mittelalterlichen Welt.

47 Dazu vgl. beispielsweise Green, Terminologische Überlegungen, S. 1–22.

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Abkürzungen CM – Chronica maiora Quellenverzeichnis Cambridge, Corpus Christi College, MS 16 und 26. London, British Library, Royal MS 14 cvii. Matthaei Parisiensis. Monachi Sancti Albani. Chronica Majora, hg. von Henry R. Luard, 7 Bände, London 1872–1883, (Neudruck London 1964 = Rolls Series 57). Literaturverzeichnis Martin Clauss, Kriegsniederlagen im Mittelalter. Darstellung – Deutung – Bewältigung, Paderborn 2010. Caroline Emmelius, süeze stimme, süezer sang. Funktionen von stimmlichem Klang in Viten und Offenbarungen des 13. und 14. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 171 (2013), S. 64–85. Dennis H. Green, Terminologische Überlegungen zum Hören und Lesen im Mittelalter, in: Eine Epoche im Umbruch. Volkssprachliche Literalität 1200–1300. Cambridge Symposium 2001, hg. von Christa Bertelsmeier-Kierst, Christoper Young, Tübingen 2003, S. 1–22. William Layher, Hörbarkeit im Mittelalter. Ein auditiver Überblick, in: der âventiuren dôn. Klang, Hören und Hörgemeinschaften in der deutschen Literatur des Mittelalters, hg. von Ingrid Bennewitz, William Layher (= Imagines Medii Aevi 31), Wiesbaden 2013, S. 9–29. Suzanne Lewis, The Art of Matthew Paris in the Chronica Majora (= California studies in the history of art 21), Berkeley [u. a.] 1987. Matias Martinez, Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, 9. erweiterte und aktualisierte Auflage, München 2012. Lieselotte E. Saurma-Jeltsch, Sprechende Bilder. Vom lang nachhallenden Klang illustrierter Worte, in: Ruperta-Carola 1 (2012), S. 4–11. Raymond Murray Schafer, Klang und Krach. Eine Kulturgeschichte des Hörens, Frankfurt a. M. 1988. Veronica Steiger, Hören und Staunen – Islamische Musikinstrumente an den europäischen Herrscherhöfen, in: Dichtung und Musik der Stauferzeit. Wissenschaftliches Symposium der Stadt Worms vom 12. bis 14. November 2010, hg. von Volker Gallé (= Schriftenreihe der Nibelungenlied-Gesellschaft Worms 7), Worms 2011, S. 175–189. Michael Tilly, Der „Ewige Jude“ in England. Die mittelalterliche Cartaphilus-Legende in ihrem historischen Kontext, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 47/4 (1995), S. 289–303. Richard Vaughan, Matthew Paris (= Cambridge Studies in Medieval Life and Thought 6), Cambridge 1958.

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Wolfgang Wagner, Hören im Mittelalter. Versuch einer Annäherung, in: Sinne und Erfahrung in der Geschichte, hg. von Wolfram Aichinger, Franz X. Eder, Claudia Leitner, Innsbruck [u. a.] 2003, S. 155–172. Miriam Weiss, Juden in den Chronica maiora des Matthew Paris. Informationsbeschaffung und Informationsverarbeitung – eine Spurensuche, in: Pro multis beneficiis. Festschrift für Friedhelm Burgard. Forschungen zur Geschichte der Juden und des Trierer Raums, hg. von Sigrid Hirbodian [u. a.] (= Trierer Historische Forschungen 68), Trier 2012, S. 57–72. Miriam Weiss, Die Chronica maiora des Matthaeus Parisiensis (= Trierer Historische Forschungen 73), Trier 2018.

Von brüllenden Löwen und murmelnden Bächen Tierlaute und andere Geräusche in antiken und frühmittelalterlichen Listen Achim Thomas Hack

Die Erforschung des Akustischen in der Vormoderne hat in den letzten Jahren – vor allem unter Schlagworten wie Geschichte des Hörens und der Sinneswahrnehmung, Erforschung historischer Lautsphären oder Klanglandschaften, Sound (Culture) Studies und Sound Histories, sei es nun mit oder ohne Proklamation eines Acoustic (auch: Auditory, Sonic, Aural) Turn – deutlich an Fahrt aufgenommen.1 Die zweite Hälfte des Mittelalters spielt darin erfreulicherweise bereits eine nennenswerte Rolle, die erste fehlt dagegen fast ganz. Der folgende Beitrag kann diese Lücke selbstverständlich nicht schließen. Er unternimmt es aber, zu zeigen, dass eine wissenschaftliche Beschäftigung mit den Klängen des frühen Mittelalters durchaus möglich und sinnvoll ist. 1. Zur Einleitung

Konkreter Gegenstand der hier folgenden Ausführungen sind ein paar zunächst vielleicht sehr merkwürdig erscheinende Texte: Kataloge von Tierlauten und anderen Geräuschen.2 Dazu einige einleitende Bemerkungen. 1.1 Das akustische Phänomen: Tiergeräusche

Den Ausgangspunkt bildet eine einfache, alltägliche Beobachtung: Tiere verursachen Geräusche. Das tun sie natürlich schon immer. Aber im Mittelalter nehmen diese einen sehr viel größeren Anteil an der Geräuschkulisse ein. Nach den Schätzungen des kanadischen Klangforschers Raymond Murray Schafer machen Geräusche natürlichen Ursprungs in unserer heutigen Umwelt rund sechs Prozent aus; in Mittelalter und 1 Aus der großen Zahl von Veröffentlichungen vgl. etwa (mit Hinweisen auf die ältere Literatur) Schafer, Ordnung der Klänge; Wagner, Hören; Müller, „The Sound of Silence“; Morat, Geschichte des Hörens; Missfelder, Period Ear. – Beispielhaft für ältere Kulturen ist die bereits 1958 fertiggestellte Tübinger Habilitationsschrift von Wille, Akroasis (zusammen mit den Studien des Verfassers über die antike Musik). 2 „Tierlaut“ und „Tiergeräusch“ werden im Folgenden synonym und als allgemeine Begriffe verwendet, „Tierstimme“ und „(Tier-)Sprache“ als speziellere. Vgl. dazu auch unten, Abschnitt 6, e.

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Renaissance waren es ihm zufolge 34 Prozent – das heißt: über fünf Mal so viel.3 Zahlen wie diese sind freilich höchst problematisch und nur mit großer Vorsicht zu verwenden. Sie zeigen allerdings eine grobe Richtung der Entwicklung an, die sicher nicht zu bezweifeln ist.4 Tiere verursachen charakteristische Geräusche. Diese zeichnen sich durch einen sehr hohen Grad an Differenziertheit aus. Jeder einzelne ist in der Lage, eine nicht geringe Zahl solcher Geräusche zu unterscheiden. Spezialisten, wie zum Beispiel geübte Ornithologen, kommen leicht auf viele Dutzende wenn nicht sogar Hunderte. Diese Geräusche können benannt werden. Das geschieht am besten durch Verben. 1.2 Das textliche Phänomen: Tiergeräuschlisten

Mittelalterliche Tiergeräusche besitzen wir nicht mehr direkt, sondern nur, wenn sie verschriftlicht wurden, das heißt: zu Texten geworden sind.5 Das kann durch reine Imitation der Laute geschehen, so zum Beispiel wenn gesagt wird: Der Hahn macht kikeriki. Solche Imitationen sind ein durchaus interessantes Forschungsfeld, weil auch diese Wiedergaben kulturell geprägt sind. Schon im Französischen klingt derselbe Hahn sehr viel dunkler – cocorico –, im Englischen macht er gar cock-a-doodle-doo. Ganz ähnlich verhält es sich mit der historischen Dimension. Während etwa die Äußerung einer Katze im modernen Deutsch stets mit miau wiedergegeben wird, lautet sie in frühneuhochdeutschen Texten oft – einsilbig – nau. Diese Imitationen sollen hier nicht weiter untersucht werden.6 Die Verschriftlichung kann aber auch durch Bezeichnungen geschehen, die diese Tierlaute benennen: in aller Regel, wie schon gesagt, durch Verben. In dem oben gewählten Beispiel wäre das krähen (der Hahn kräht). Solche Bezeichnungen von Tierlauten können wiederum gesammelt und zu Listen zusammengestellt werden – und das geschieht öfter, als man denkt. Daher sind solche Listen aus der Antike und dem Mittelalter in ziemlich großer Zahl überliefert und dementsprechend von der Forschung immer wieder behan3 Vgl. Schafer, Schallwelt. Der Verfasser unterscheidet 1) Frühkulturen, 2) Mittelalter, Renaissance, vorindustrielle Epochen, 3) nachindustrielle Epochen, 4) Gegenwart, sowie a) Naturlaute, b) Menschenlaute, c) Werkzeug- und Maschinengeräusche. Der Anteil von Naturlauten beträgt ihm zufolge in den genannten Epochen 69, 34, 9 und 6 Prozent. Danach Blaukopf, Musik im Wandel, S. 202 und andere. Wagner, Hören, S. 158 f., verwendet für das Mittelalter irrtümlich die Zahl, die Schafer für die „Frühkulturen“ angibt (also 69 statt 34). 4 Zu den Positionen Schafers vgl. den einleitenden Essay von Breitsameter zur Neuübersetzung seines oben genannten Hauptwerks (Schafer, Ordnung der Klänge), S. 7–32. 5 Tierlaute, besonders der Gesang von Vögeln, werden auch schon im Mittelalter musikalisch wiedergegeben, vgl. etwa Jensen, Birdsong; epochenübergreifend Harley, Art. Birdsong (mit ausführlicher Bibliographie). Die Laute anderer Tiere werden fast immer mit schlechtem Gesang verglichen (und umgekehrt), vgl. Stoessel, Howling. Den kategorialen Unterschied zwischen dem Gesang von Menschen und Vögeln betont Leach, Sung Birds. 6 Vgl. dazu schon Wackernagel, Voces variae animantium.

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delt worden.7 Eine zentrale Frage war dabei meist diejenige nach den Abhängigkeiten – zugleich eine Frage, die in der Regel nur sehr schwer beantwortet werden kann. Denn bei diesen Listen handelt es sich gleichsam um ‚lebendige Texte‘, die nicht – wie etwa die Werke klassischer oder kirchlicher Autoren – möglichst unverändert übernommen, sondern je nachdem ergänzt, gekürzt oder umgestellt werden.8 1.3 Zur Auswahl

Im Folgenden sollen drei dieser Listen näher vorgestellt werden, die aus dem zweiten, fünften und achten Jahrhundert stammen. Bei ihrer Auswahl waren zwei Kriterien entscheidend: Zum einen handelt es sich um umfangreiche Listen, die nicht etwa vier oder fünf Elemente – denn auch solche sind überliefert9 –, sondern deutlich mehr, also zwanzig, fünfzig oder siebzig umfassen. Zum anderen handelt es sich um nackte Listen aus gleichförmigen Einträgen, die lediglich den Namen des Tieres enthalten und den Laut, den es von sich gibt. Listen, die in andere Texte eingearbeitet sind (wie zum Beispiel in Gedichte), bleiben dagegen unberücksichtigt. Daraus ergibt sich ganz zwanglos der Aufbau der hier folgenden Ausführungen: In den ersten drei Abschnitten werden die angekündigten Listen vorgestellt; im vierten folgt der Versuch einer allgemeinen Deutung, um dann im letzten Abschnitt noch auf einige Einzelprobleme einzugehen. 2. Gaius Suetonius Tranquillus

Die erste hier vorzustellende Liste stammt von Gaius Suetonius Tranquillus, einem Angehörigen des Ritterstandes, der um 70 n. Chr. geboren wurde und um das Jahr 150 verstarb. Ausgebildet unter anderem in Grammatik und Rhetorik nahm er am Kaiserhof das Amt eines Sekretärs a studiis, a bibliothecis und ab epistolis ein – mit Sicherheit unter Hadrian, aber vielleicht auch schon unter seinem Vorgänger Trajan.10 Bekannt ist   7 Für einzelne Listen vgl. Finch, Suetonius’ Catalogue; Marcovich, Voces ani­mantium; Díaz y Díaz, Sobre las series; Lagorio, Three more Vatican Manuscripts; Benediktson, Polemius Silvius’; Ders., Cambridge University Library L1 1 14, F. 46r–v. A Late Medieval Natural Scientist; Peris, Una llista inèdita. Übergreifend Klenner, Tierstimmen-Katalog; Fijałkowski, ­Voces ­variae animantium; Bettini, Voci (dazu die Rezensionen von Fox, in: Bryn Mawr Classical Review 2008.12.09; Marotta, in: Studi e saggi linguistici, S. 189–202; Caprini, in: Quaderni di semantica, S. 63–70).   8 Diese Abhängigkeiten werden im Folgenden nicht im Zentrum des Interesses stehen.   9 Mit vier Gliedern: Marcus Terentius Varro, Saturae Mennipeae, lat.-dt. v. Krenkel (Subsidia classica, hier Aborigines Nr. 3 (S. 5 f.). Allerdings ist der Text nur fragmentarisch überliefert, sodass der ursprüngliche Umfang unklar bleibt. 10 Über Leben und Werk vgl. Sallmann, Schmidt, Suetonius, mit Hinweisen auf die ältere Literatur.

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Sueton vor allem als Verfasser der Caesarenviten, einer Reihenbiographie, in der Leben und Taten der ersten zwölf Kaiser von Caesar an geschildert werden. Auch im Mittelalter war sie sehr geschätzt und diente Autoren wie Einhard bei der Abfassung ihrer eigenen Werke als Anregung.11 Weniger bekannt ist dagegen eine nur fragmentarisch überlieferte Schrift Suetons, die den Titel Pratum – oder nach anderen Prata – trägt: offenbar eine Art Enzyklopädie in, wie es scheint, zwanzig Büchern. Den gängigen Rekonstruktionen zufolge war das zehnte Buch der Naturkunde gewidmet, vielleicht hatte es aber auch nur die Zoologie zum Gegenstand.12 Jedenfalls ist unter der Überschrift De naturis animantium eine Liste überliefert, die August Reifferscheid als Fragment 161 abgedruckt hat. Sie lautet folgendermaßen: (1) Leonum est fremere uel rugire, (2) Tigridum rancare, (3) Pardorum felire, (4) Pantherarum caurire, (5) Ursorum uncare uel saeuire, (6) Aprorum frendere, (7) Lyncum urcare, (8) Luporum ululare, (9) Serpentium sibilare, (10) Onagrorum mugilare, (11) Ceruorum rugire, (12) Boum mugire, (13) Equorum hinnire, (14) Asinorum rudere uel oncare, (15) Porcorum grunnire, (16) Uerris quiritare, (17) Arietum blatterare, (18) Ouium balare, (19) Hircorum miccire, (20) Haedorum bebare, (21) Canum latrare seu baubari, (22) Uulpium gannire, (23) Catulorum glattire, (24) Leporum uagire, (25) Mustelarum drindrare, (26) Murium mintrire uel pipitare, (27) Soricum desticare, (28) Elephantum barrire, (29) Ranarum coaxare, (30) Coruorum crocitare, (31) Aquilarum clangere, (32) Accipitrum plipiare, (33) Uulturum pulpare, (34) Miluorum lupire uel lugere, (35) Olorum drensare, (36) Gruum gruere, (37) Ciconiarum crotolare, (38) Anserum gliccire uel sclingere, (39) Anatum tetrissitare, (40) Pauonum paupulare, (41) Gallorum cucurrire uel cantare, (42) Graculorum fringulire, (43) Noctuarum cuccubire, (44) Cuculorum cuculare, (45) Merulorum frendere uel zinziare, (46) Turdorum trucilare uel soccitare, (47) Sturnorum passitare, (48) Hirundinum fintinnire uel minurrire – dicunt tamen quod minurrire est omnium minutissimarum auicularum –, (49) Gallinae crispire, (50) Passerum titiare, (51) Apum bombire uel bombilare, (52) Cicadarum fritinnire.13

Wie leicht zu erkennen ist, bietet der Text nicht die in der Überschrift angekündigte allgemeine Zoologie oder Naturkunde, sondern einen (allerdings sehr umfangreichen) Tierstimmenkatalog. Er besteht aus einer Liste von 52 Tieren, die in zwei Gruppen unterteilt sind: Tiere, die auf dem Lande leben (Nr. 1–29), und Tiere, die die Lüfte bevölkern (Nr. 30–52). Den Abschluss dieser Liste bilden Bienen und Zikaden. Der11 Dazu zuletzt Scherberich, Zur Suetonimitation. 12 Zur Rekonstruktion vgl. Schmidt, Suetons Pratum, besonders S. 3812 f.; Sallmann, Schmidt, Suetonius, S. 25 f. – Animans kann sowohl alle beseelten, das heißt: lebenden Geschöpfe, aber auch nur die Tiere bedeuten. 13 C. Suetoni Tranquilli Pratorum libri, ed. Reifferscheid, S. 109–176, hier Fragm. Nr. 161 (S. 247– 254). Zur Verdeutlichung der Listenstruktur wurde (hier und in den folgenden Listen) der Beginn jedes Eintrags großgeschrieben und Nummern zwischen Klammern ergänzt.

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artige Zuordnungen haben schon zu der irrtümlichen Ansicht geführt, in der Antike und im Mittelalter habe man geflügelte Insekten zu den Vögeln gerechnet.14 Dabei werden allerdings schlicht und einfach die Kategorien verwechselt; denn zugrunde gelegt ist bei Sueton und anderen nicht das Linnésche Tierklassensystem, sondern die Unterscheidung nach den drei Lebensbereichen Erde, Luft und Wasser – wobei die Wassertiere gemeinhin als stumm betrachtet werden und daher hier nicht von Interesse sind.15 Diese Tradition beschränkt sich im Übrigen nicht auf die klassische Antike und das westliche Mittelalter, sondern hat auch in orientalischen Quellen ihren Niederschlag gefunden. Das bekannteste Beispiel ist der biblische Schöpfungsbericht, der die Erschaffung genau dieser Tiergruppen am fünften und sechsten Tag schildert.16 Diese 52 Tiernamen (im Genitiv Plural) sind immer mit einem Verb im Infinitiv verbunden (zu ergänzen ist jeweils ein est),17 das die charakteristischen Laute dieser Tiere nennt; in zwölf Fällen sind dies sogar zwei Verben. 3. Polemius Silvius

Polemius Silvius gehört zu jenen Autoren, über die nicht viel bekannt ist. Das Wenige stammt aus seinem eigenen Werk und aus der Vita des Hilarius von Arles; auch eine Notiz in der Chronica Gallica zum Jahre 438 ist offenbar auf ihn zu beziehen. Demnach hatte Polemius Silvius zunächst eine militärische und dann eine zivile Karriere eingeschlagen, bevor er schließlich in den geistlichen Stand eintrat. Sein Wirkungsbereich war der Süden Galliens.18 Von seinen Werken ist nur ein einziges überliefert; es trägt den Titel Laterculus. Damit ist in der Grundbedeutung ein Ziegelstein gemeint, hier jedoch ein Kalender ungefähr im Format eines Ziegelsteins. Dieser ist uno codice in einer Handschrift des 12. Jahrhunderts überliefert, die heute in Brüssel liegt; zu ihren Vorbesitzern gehörte unter anderen Nikolaus von Kues. Polemius Silvius hat seinen Text in den Jahren 448/49 verfasst und dem befreundeten Bischof Eucherius von Lyon dediziert, der ebenfalls als Verfasser christlicher Texte hervorgetreten ist.19 Er wurde im späten 19. Jahrhundert von keinem geringeren als Theodor Mommsen kritisch ediert, 14 Über die vielfältige Sicht auf die Bienen in Antike und Mittelalter vgl. Engels, Nicolaye, Ille operum custos. 15 Vgl. aber zum Frosch unten, Anm. 25. 16 Vgl. Genesis 1, 20–25. – Nach welchen Kriterien die Tiere innerhalb der genannten Klassen angeordnet sind, lässt sich nicht sagen; erkennbar sind nur hin und wieder kleine Gruppen ähnlicher Tiere wie zum Beispiel Hase, Wiesel, Maus und Spitzmaus bei Sueton (Nr. 24–27). 17 Die Einträge sind also nach dem Schema (Natura) luporum (est) ululare aufzulösen. 18 Zu Polemius Silvius und seinem Text vgl. Polemii Silvii, ed. Mommsen, S. 633–667; Ziegler, Art. Polemius; Wesch-Klein, Laterculus (zur Liste der römischen Provinzen); Paniagua, New Perspectives (und weitere Arbeiten dieses Verfassers). 19 Vgl. dazu Prévot, Recherches.

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allerdings in zwei voneinander getrennten Teilen: der eigentliche Kalender im Corpus Inscriptionum Latinorum,20 die übrigen Stücke in den Monumenta Germaniae Historica, genauer im neunten Band der Auctores Antiquissimi.21 Bei dem Werk handelt es sich, wie gesagt, um einen Kalender, der ursprünglich den Monaten entsprechend auf zwölf Tafeln verteilt war. Auf den Seiten dazwischen (in alternis inter eos foliis) standen insgesamt elf (oder zwölf ?) listenartige Texte, die Wissenswertes aus unterschiedlichen Gebieten boten. Diese Listen etc. sind im Vorwort angekündigt und haben sich in immerhin sieben Fällen erhalten.22 Es handelt sich um eine Kaiserliste, ein Verzeichnis der römischen Provinzen, eine Liste aller Tiere, eine Anleitung zur Berechnung der Mondphasen sowie des Osterfestes, ein Verzeichnis der Bauwerke Roms, eine Liste von Fabeln, ein Abriss der Geschichte Roms, Maße und Gewichte, ein Verzeichnis der Metren, eine Liste der Philosophenschulen und ein Verzeichnis der Voces variae animantium. Das zuletzt genannte lautet:23 (1) Ovis balat, (2) Canis latrat, (3) Lupus ululat, (4) Sus grunnit, (5) Bos mugit, (6) Aequis hinnit, (7) Asinus rudit, (8) Ursus sevit, (9) Leo fremit, (10) Corvus crocit, (11) Merulus frendit, (12) Turtur gemit, (13) Turdus trucilat, (14) Anser glangit, (15) Grus gruuit, (16) Milvus linguit, (17) Apis bubbit, (18) Hirundo minurrit, (19) Rana coaxat, (20) Populus strepit, (21) Ignis crepitat, (22) Cursus aque murmurat, (23) Terra stridit, (24) Aes tinnit.24

Die Liste besteht also aus 24 Positionen, von denen sich die ersten 19 auf Tiere beziehen: neun, die auf der Erde (Nr. 1–9), und neun, die in den Lüften leben (Nr. 10–18). Direkt danach steht der Frosch (Nr. 19), der offenbar dem Element des Wassers zugerechnet wird. Auf diese Weise sind hier alle drei Gruppen von Tieren vertreten.25 Damit aber nicht genug – es folgen noch fünf weitere Geräusche: Das Volk lärmt, das Feuer 20 Fasti Furii Dionysii Philocali et Polemii Silvii, edd. Henzen, Hülsen, Mommsen, S. 254–279. Dazu Rüpke, Kalender, S. 151–160. 21 Polemii Silvii Laterculus, ed. Mommsen, S. 511–551. 22 Eine vergleichende Gegenüberstellung (und Rekonstruktion) bei Mommsen, Laterculus, S. 637 f. – Abweichend davon geht Paniagua, New Perspectives, von zwölf Einheiten aus, indem er ratio quaerendam lunae festivique paschalis als zwei separate Texte auffasst. Allerdings gehören der Sache nach die Berechnung der Mondphasen und des Osterfestes aufs Engste zusammen. Und gleich zu Beginn ist mit enumeratio principum cum tyrannis (Polemii Silvii Laterculus, ed. Th. Mommsen, S. 518) auch nur eine Liste gemeint. Eine definitive Entscheidung fällt jedoch schwer, solange das Layout des Kalenders ungeklärt ist. 23 Nach Mommsen zwischen November und Dezember; sie sind im Vorwort angekündigt als stridores animantium. 24 Polemii Silvii Laterculus, ed. Th. Mommsen, Nr. VI (S. 548). – Die Geräusche, die nicht von Tieren stammen, sind in der Liste (im Anhang) durch Kursivdruck gekennzeichnet. 25 In der Liste Suetons stehen die Frösche an 29. Stelle zwischen den Land- und den Lufttieren. Sie können also entweder noch den Landbewohnern zugeordnet werden oder, wie bei Polemius Silvius, eine eigene Gruppe bilden. Ihre Position ist als Amphibie eben nicht eindeutig.

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knistert, der Bach murmelt, die Erde knirscht, das Erz tönt (Nr. 20–24). Diese bilden offensichtlich einen Anhang, der von der Überschrift – Voces variae animantium – nicht mehr abgedeckt wird. Das bedeutet aber einen bemerkenswerten Unterschied: Denn obwohl die Liste des gallischen Autors wesentlich kürzer – nicht einmal halb so lang – als diejenige Suetons ist, stellt sie in inhaltlicher Hinsicht eine sehr bemerkenswerte Erweiterung dar. 4. Aldhelm von Malmesbury

Eine dritte Liste geht auf Aldhelm von Malmesbury zurück, der um 640 als Mitglied des westsächsischen Königshauses geboren wurde und im Jahre 709 verstarb. Seit 675 war er Abt von Malmesbury, gegen Ende seines Lebens wurde er schließlich zum Bischof der neu gegründeten Diözese Sherborne erhoben (705). Bekanntheit erlangt hat er aber vor allem als Begründer der sogenannten ‚anglosächsischen Renaissance‘, deren wichtigster Repräsentant er zugleich war.26 Unter Aldhelms zahlreichen literarischen Texten findet sich auch eine Epistola ad Acircium de metris et enigmatibus ac pedum regulis. Dabei handelt es sich um einen sehr umfangreichen Lehrbrief an König Aldfrid von Northumbrien, der in der kritischen Monumenta-Ausgabe nicht weniger als 145 Druckseiten im Quartformat umfasst.27 Er behandelt unter anderem die Symbolik der Zahl Sieben und den Bau des Hexameters, enthält einhundert Rätsel in Hexametern – diese sind auch separat überliefert – sowie eine komplette Metrik. In diesem letzten Teil gibt es ein Kapitel über den steigenden Ionikus (ionicus a minore), einen viergliedrigen Versfuß nach dem Schema kurz-kurzlang-lang. Der Verfasser gibt einige Beispiele respektive Merkworte dafür, eines von diesen lautet rudibundus, zu Deutsch etwa unentwegt brüllend (wie ein Esel). Dieses spezielle Wort bringt Aldhelm dazu, über die Laute der Tiere allgemeiner nachzudenken, und er fügt einen längeren Exkurs unter der Überschrift Haec sunt species vocis confusae, ut maiorum auctoritas tradidit ein:28 26 Über den „first English man of letters“ und sein Œuvre vgl. Manitius, Geschichte, S. 134–141; Orchard, Poetic Art; Lapidge, Career of Aldhelm. 27 Vgl. Aldhelmus, De metris, ed. Ehrwald, S. 59–204. Nur die einhundert darin enthaltenen Rätsel wurden seither neu ediert, vgl. Aenigmata Aldhelmi, ed. Glore, S. 359–540 (mit einer englischen Übersetzung). – Noch länger als die Epistola ad Acircium ist allerdings seine Epistola de virginitate. 28 Die einleitenden Worte lauten: Quae nomina seu verba ionico minori competunt? Ionico minori huiuscemodi pauxillula sufficiant exempla ut sapientes, populares, seniores, furibundi, rubicundi, verecundi, moribundi, rudibundi id est rudentes et boantes; nam ruditus proprie asellorum est, ut poeta linguaque rudenti edidit humanas animal pecuale loquelas. Et quia apta se vocis occasio praebuit, non modo propter structuram pedum et rationem metrorum, verum etiam ob differentiam vocum et discretionem sonorum non absurdum arbitror quadripedum et volucrum et reptilium voces cum generalitate pluralitatis et specialitate singularitatis subtiliter dirimere, siquidem vocis quali-

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Nam (1) Apes ambizant vel bombizant, (2) Aquilae clangunt, (3) Anseres crinciunt vel trinsiunt, (4) Aves minuriunt vel vernant vel vernicant, (5) Accipitres pipant vel plipiant, (6) Anates teritisant, (7) Arietes crissitant vel blaterant, (8) Asini oncant vel rudunt, (9) Apri frendunt, (10) Arma crepant, (11) Aes tinnit, (12) Amfora profusa bilibit, (13) Boves mugiunt vel reboant, (14) Cornices butant, (15) Cicni desistant, (16) Cicadae fretinniunt, (17) Ciconiae gratulant vel glottorant vel critalant, (18) Corvi crociunt vel crocant, (19) Caprae micciunt, (20) Canes baubantur vel latrant vel ganniunt, (21) Catuli glattilant, (22) Cervi rugiunt, (23) Citharae sonant, (24) Canis venatica nictit, (25) Elefanti barriunt vel stridunt, (26) Equi hinniunt, (27) Ferae mussitant, (28) Grues gruddant vel gruunt vel grugulant, (29) Gallinae cacillant, (30) Galli cantant vel cucurriunt, (31) Galuae fringilliunt, (32) Graculi grinciunt, (33) Hirundines trutissant vel trissant, (34) Hienae hirriunt, (35) Haedi balant vel bebant, (36) Iuppiter tonat, ut fabulae fingunt, (37) Infantes vagiunt, (38) Leones fremunt, (39) Linces hircant, (40) Lepores vagitant, (41) Lupi ululant, (42) Litora murmurant, (43) Milvi iugiunt vel iugilant vel luriunt, (44) Meruli zinzitant, (45) Mustelae dindrant, (46) Mures mintriunt vel muniunt, (47) Noctuae cucubiunt, (48) Olores drensitant, (49) Oves balant, (50) Onagri vagillant, (51) Palumbes raucitant, (52) Passeres titiant, (53) Parri tinnipant, (54) Pavi paululant, (55) Perdices cacabant, (56) Pulli et pueri pipant, (57) Pantherae cauriunt, (58) Pardi feliunt, (59) Porcelli grunniunt, (60) Porci grundiunt, (61) Ranae coaxant, (62) Sturni parsitant, (63) Sorices denticant, (64) Serpentes sibilant, (65) Silvae strepunt, (66) Turdi soccitant vel faccilant, (67) Tigrides raccant, (68) Tubae clangiunt, (69) Tauri mugiunt, (70) Vultures pionpant, (71) Venti flant vel tremunt vel sibilant, (72) Ursi urgant vel saeviunt, (73) Vulpes eiulant, (74) Verres quiritant; item (75) Homines loquuntur, (76) Rustici iubilant et reliqua similia.29

Aldhelms Liste ist umfangreicher als alle anderen vor ihm. Sie enthält immerhin 76 Einträge (im Nominativ Plural), denen mindestens ein Lautverb zugeordnet wird; in 15 Fällen sind es allerdings zwei, in fünf sogar drei Alternativen. Unter diesen Einträgen finden sich 63 Tierlaute (das heißt, diese dominieren nach wie vor sehr deutlich), zwölf betreffen andere Geräusche: das Klirren der Waffen (Nr. 10), das Gluckern beim Austatem quadripertitam, tam philosophorum quam grammaticorum auctoritas propalavit: articulatam, inarticulatam, litteratam, illitteratam, quamvis alii duas esse vocis species attestentur, hoc est articulatam et confusam; nam articulata hominum tantummodo dicta est, quod articulo scribenti comprehendi possit, confusa est, quae scribi non potest. Pande exempla vocis confusae de diversis rerum naturis congesta! Haec sunt species vocis confusae, ut maiorum auctoritas tradidit. (Aldhelm, De metris, ed. Ehrwald, S. 179). Im Anschluss an die Liste heißt es dann: Haec genera vocum non ad ionicum pertinebunt, sed discretionis gratia prolata sunt (ebd., S. 180). – Die Unterscheidung von vox articulata und confusa sowie von vox articulata/inarticulata und litterata/illiterata lassen sich auf die Stoa zurückführen, vgl. Hülser, Fragmente, S. 544–557. Zu den beiden zuletzt genannten Begriffspaaren, auf die später auch Alcuin, Grammatica, ed. Migne, Sp. 849–902, hier Sp. 854, eingeht, vgl. Eco u. a., Animal Language, S. 10–14. 29 Aldhelm, De metris, ed. Ehrwald, S. 179 f.

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gießen einer Amphore (Nr. 12) oder das Rauschen des Waldes (Nr. 63); außerdem die Klänge der Instrumente wie des Horns (Nr. 14), der Kithara (Nr. 23) und der Trompete (Nr. 66); und schließlich das Donnern (Nr. 36), das von Jupiter selbst verursacht wird – ut fabulae fingunt, wie der gelehrte Abt umgehend hinzufügt. Im Unterschied zu den beiden ersten Listen nimmt Aldhelm keine inhaltliche Untergliederung vor. Vielmehr bietet er sein sehr umfangreiches Material in alphabetischer Reihenfolge dar.30 Anders als es in seiner Überschrift heißt, handelt es sich um keine Liste von Tierlauten, sondern um ein Verzeichnis von Geräuschen im Allgemeinen. 5. Zur Deutung: Antik-mittelalterliche Listenwissenschaft

Wie kann man diese auf den ersten Blick sehr merkwürdig erscheinenden Listen verstehen? Die hier vorgeschlagene Deutung lautet: als ein Beispiel der antik-mittelalterlichen Listenwissenschaft. Der Begriff „Listenwissenschaft“ wurde von Wolfram von Soden, einem der berühmtesten Altorientalisten deutscher Zunge (geboren 1908 in Berlin, gestorben 1996 in Münster, wo er lange als Professor gewirkt hatte) im Jahre 1936 geprägt.31 Damals erschien sein an die hundert Seiten starker Aufsatz über – so der Titel – die „Leistung und Grenze sumerischer und babylonischer Wissenschaft“.32 Er wurde später mehrfach nachgedruckt und hat zuletzt auch in überarbeiteter Form Eingang in seine Einleitung in die Altorientalistik gefunden.33 Seither ist immer wieder von einer altorientalischen Listenwissenschaft die Rede: im Hinblick auf Texte aus Sumer und Babylon, an denen das Konzept entwickelt worden ist,34 aber später dann ebenso mit Bezug auf Beispiele aus Ägypten (etwa das Onomastikon des Amenemope) sowie dem Alten Israel ( Jesus Sirach 42,15–43,33 und andere).35 Es handelt sich jedenfalls um einen längst eingeführten Begriff. Bei genauer Betrachtung zeigt sich jedoch sehr schnell, dass diese Listenwissenschaft keineswegs auf den Alten Orient beschränkt ist. Es lassen sich ebenso Beispiele aus der klassischen Antike, aus 30 Genau genommen sind die Lemmata richtig unter ihren Anfangsbuchstaben eingeordnet, innerhalb derselben stimmt die Reihenfolge jedoch oft nicht. 31 Vgl. über ihn Sommerfeld, Art. Soden. 32 Von Soden, Leistung, S. 411–464 und S. 509–557. 33 Nachdruck gemeinsam mit der Leipziger Antrittsvorlesung seines Lehrers Benno Landsberger von 1926 (Eigenbegrifflichkeit der babylonischen Welt, S. 1–19) unter demselben Titel (S. 21– 123) sowie mit Nachträgen und Berichtigungen (S. 125–133). Vgl. außerdem Ders., Sprache, Denken. Zuletzt Ders., Einführung, S. 138–164 (Kap. XI: „Sumerische und babylonische Wissenschaft“). 34 Vgl. als loci classici Cavigneaux, Art. Lexikalische Listen; Edzard, Sumerisch-akkadische Listenwissenschaft; aus den letzten Jahren vgl. Hilgert, Von ‚Listenwissenschaft‘; ­Cancik-Kirschbaum, Stabilität; Van De Mieroop, Philosophy. 35 Vgl. Brunner, Altägyptische Erziehung, S. 93–98 („Onomastika und Listen“); Keel, ­Schroer, Schöpfung, S. 170–173 („Die Listenwissenschaft und das Denkmal memphitischer Theologie“).

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dem Mittelalter, ja sogar aus der Neuzeit beibringen, ohne dass dafür allerdings bislang der Begriff „Listenwissenschaft“ Verwendung gefunden hätte (von einer umfassenden Zusammenstellung und Analyse ganz zu schweigen).36 Daher scheint eine Neubewertung dringend notwendig zu sein. Listen sind nicht nur eine historisch frühe Form der Wissenschaft, sondern vor allem eine grundlegende und folglich an keine bestimmte Epoche gebunden. Ihre hohe Bedeutung lässt sich bis in die Gegenwart hinein leicht nachweisen.37 Worum geht es dabei? Grundanliegen dieser Listen und damit der Listenwissenschaft ist die Inventarisierung und Ordnung eines Wissensfeldes, im Idealfall – und das ist zugleich der Maximalfall – des gesamten Wissens. Die Ordnungskriterien können dabei sehr unterschiedlich sein; sie geben somit Auskunft über das jeweils zugrundeliegende Wissenssystem.38 Was bedeutet das für den konkreten Fall? Die hier vorgestellten Listen sind – so meine These – in erster Linie eine Bestandsaufnahme des akustischen Raumes. Hervorgegangen aus einer Zusammenstellung von Tierstimmen (als besonders differenzierten Klangphänomenen) haben sie sich zu Verzeichnissen entwickelt, die akustische Phänomene allgemein (und ohne erkennbare Einschränkungen) erfassen. Dabei lassen sich drei Typen unterscheiden: Listen von a) Tierstimmen (ausschließlich) (Sueton), b) Tierstimmen mit anderen akustischen Phänomenen (additiv verbunden) (Polemius), c) Klangphänomenen überhaupt (Aldhelm).39 Es handelt sich also um eine typologische Entwicklung, die allem Anschein nach einer historischen Entwicklung entspricht.40 Alles in allem und etwas zugespitzt kann 36 Für die griechische Antike vgl. immerhin Bernecker, Regenbogen, Art. Πίναξ (allerdings ohne Bezugnahme auf den Alten Orient). Während der Neue Pauly immerhin zwei knappe Artikel ss. vv. „Katalog“ und „Liste“ bietet, fehlen im Lexikon des Mittelalters bezeichnenderweise beide. 37 Als Beispiel dafür können die Königslisten dienen. Für die ältesten Zeugnisse vgl. Röllig, Zur Typologie. Aus dem Mittelalter vgl. etwa Sandmann, Herrscherverzeichnisse. Da für das Mittelalter angeblich „bessere“ (das heißt: ausführlichere) Quellen vorliegen und überdies Listen oft nicht als vollwertige Texte wahrgenommen wurden, bilden Studien wie die von Sandmann noch immer eine Ausnahme. – Auf Listen basieren bis heute auch Wörterbücher, Lexika, Enzyklopädien usw., die für die Wissenschaft nach wie vor unentbehrlich sind. 38 Schon im Alten Orient sind Listen von Vögeln, Fischen und Landtieren etc. überliefert. 39 Auch in den griechischen Listen sind zum Teil Geräusche, die nicht von Tieren stammen, berücksichtigt, vgl. Klenner, Tierstimmen-Katalog, S. 7 (Geräusche, die „Wagen, Schiffstaue, Wind, Quellen, Feuer“ etc. erzeugen). 40 Es wird hier also nachzuweisen versucht, dass die drei Listen – und weitere könnte man leicht hinzufügen – auf sinnvolle Weise gemeinsam betrachtet werden können. Das wird allein schon durch ihre inhaltliche und formale Ähnlichkeit sowie ihre direkte oder indirekte Abhängigkeit voneinander nahegelegt. Einzeln betrachtet liegt für Suetons Liste ein tierkundlicher, für jene Aldhelms eventuell ein sprachlicher Zusammenhang nahe, der dann als weitere (sekundäre) Funktion zu bezeichnen wäre. Bei Polemius Silvius im 5. Jahrhundert bilden bereits andere Listen den Kontext. – Klenner, Tierstimmen-Katalog, der bislang die umfangreichste Zusammenstellung derartiger Listen vorgelegt hat, sieht in Homers Schiffskatalog (eine klassische

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man formulieren: Bei den angeführten Listen handelt es sich um so etwas wie eine antik-mittelalterliche Form der Sound Studies, verstanden als die Erforschung des akustischen Raumes. Ausgangspunkt sind dabei in allen Fällen die jeweiligen Verursacher (resp. Quellen) der Geräusche. 6. Einzelfragen

Über die Generalia – die allgemeine Einordnung der drei frühmittelalterlichen Verzeichnisse – hinaus sollen im Folgenden noch einige ausgewählte Einzelfragen untersucht werden. 6.1 Wie viele Worte gibt es, um ein Geräusch zu bezeichnen?

Nimmt man die Vokabeln für Geräusche aus den Listen von Sueton, Polemius Silvius und Aldhelm zusammen, so kommt man auf insgesamt (ungefähr) 130 Lautverben, von ambizare bis zinzitare – ein ziemlich stattliches Lexicon vocum (vgl. den Anhang).41 In vielen Fällen ist klar, mit welchem Verb ein entsprechender Tierlaut zum Ausdruck gebracht werden kann: Beim Wolf ist es ululare (dies und nichts anderes), beim Frosch coaxare (dies und nichts anderes), bei der Schlange sibilare (dies und nichts anderes) usw. Hier herrscht also eine exklusive Zuordnung. In anderen Fällen existiert dagegen eine Vielzahl von Ausdrücken, bisweilen bis zu fünf. So ist für das Summen der Biene ambizare, bombilare, bombizare, bombire und bubbire, für das Schnattern der Gans crincire, glangere, gliccire, sclingere und trinsire bezeugt.42 Manchmal handelt es sich um echte Alternativen, zum Beispiel wenn für das Bellen eines Hundes baubari und latrare genannt werden. Bisweilen sind es aber auch nur Verben, die auf ein und derselben Wurzel basieren, so etwa das für den Raben angeführte crocare, crocire und crocitare. Selbst die Möglichkeit, dass einzelne Varianten durch Versehen in der Überlieferung zustande gekommen sind, ist grundsätzlich in Betracht zu ziehen.43 Solche Fälle müssen allerdings mit größter Vorsicht beurteilt werden.

Enumeratio) den Ursprung aller abendländischen Kataloge und trägt dadurch nicht gerade zu deren Verständnis bei. Fijałkowski, Voces variae animantium, versucht dagegen die Listen aus einer „Unterrichtstradition“, vor allem im Zusammenhang mit dem Spracherwerb, zu erklären. Das kann vor allem für die älteren Listen nicht zutreffen, da sich diese offenkundig an Muttersprachler richten. 41 Dabei kommen 90 Verben in einem, 27 in zwei und 13 in drei Texten vor. (Allerdings ist dabei an den sehr unterschiedlichen Umfang und die unterschiedlichen Inhalte der Texte zu erinnern.). 42 Die übrigen Möglichkeiten (zwischen eins und fünf ) sind ebenfalls bezeugt. 43 So hält zum Beispiel Bettini, Voci, S. 266, das lugere bei Sueton (Nr. 24: milvus) für eine Verschreibung für iugere.

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6.2 Übersetzungsprobleme

Ein ganz erheblicher Teil der in den drei Listen zusammengestellten Lautverben lässt sich nicht ohne weiteres ins Deutsche übersetzen. Selbstredend kann man für ihre Wiedergabe allgemeine Ausdrücke wählen, die sich für eine große Zahl von Tieren verwenden lassen, wie zum Beispiel brüllen (für größere Vierbeiner) oder zwitschern (für viele Vögel). Dabei geht dann jedoch die differentia specifica verloren, die in den lateinischen Texten gegeben ist. So werden etwa von Sueton vier unterschiedliche Verben für Löwe, Tiger und Panther gebraucht: fremere, rugire, rancare und felire; im Deutschen müsste man sie alle mit brüllen wiedergeben. Ebenfalls drei Verben werden für den Esel und den Waldesel (Onager) verwendet: rudere, oncare sowie mugilare; das deutsche Pendant müsste jeweils schreien lauten.44 Die Wörterbücher wie zum Beispiel das von Karl Ernst Georges behelfen sich damit, dass sie in solchen Fällen vom ‚Naturlaut‘ der Tiger, der Luchse, der Kamele usw. sprechen und auf eine Übersetzung ins Deutsche verzichten. Allein von den 62 Lautverben, die Sueton in seiner Zusammenstellung verwendet, werden 28 auf eine solche Art und Weise wiedergegeben.45 Wie sich die größere Zahl an lateinischen Vokabeln erklärt (einmal vorausgesetzt, dass diese Beobachtung zutrifft), ist bislang unklar.46 6.3 Wissen aus Büchern oder Wissen aus Erfahrung?

Wie kommen die drei Verfasser zu ihrem Wissen im Allgemeinen und zu ihren Vokabeln im Speziellen? Zunächst einmal ist festzuhalten, dass sie keinerlei Phantasietiere anführen: keine Drachen, Basilisken, Einhörner und dergleichen.47 Sodann gilt es sorgfältig zu unterscheiden. Sueton kann sämtliche Tiere, die er aufführt, auch gesehen und gehört haben, zumindest wenn er das römische Freizeitangebot seiner Zeit wahrgenommen hat.48 Bei Aldhelm sieht dies ganz anders aus: Er dürfte wohl niemals Löwen, Tiger, 44 Ähnliche Probleme existieren auch bei anderen Sinneswahrnehmungen, zum Beispiel bei Farben, vgl. Stotz, Handbuch. 45 Vgl. Georges, Handwörterbuch 1–2, ss. vv. raccare, uncare, frendere, urcare, mugilare, oncare, quiritare, blatterare, glattire, drindrare, mintrire, desticare, (coaxare), plipiare, pulpare, lupire, drensare, gruere, gliccire, sclingere, tetrissitare, paupulare, cuccubire, zinziare, trucilare, soccitare, passitare, crispire, titiare (in der Reihenfolge des Textes). 46 Grundsätzlich sind eher sprachliche und eher zoologische Erklärungen denkbar. Als ein Beispiel für die zweite Kategorie (an deutschen Vogelnamen) vgl. Wember, Namen, S. 10 f. 47 Die einzige zoologische Schwierigkeit besteht in der Unterscheidung von pardus und panthera, die bei Sueton an dritter und vierter Stelle stehen. Gemeinhin werden beide mit „Panther“ übersetzt. Diese Schwierigkeit ist allerdings kein Spezifikum des hier interessierenden Textes, vgl. Jareb, Art. Panther. 48 Vgl. dazu Jennison, Animals for Show; Toynbee, Tierwelt. – Besonders zu den Tierhetzen Drexel, Die römischen Venationen; Betrandry, Remarques. – Für bildliche (und nicht immer „realistische“) Darstellungen vgl. Andreae, Antike Bildmosaiken.

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Elefanten usw. zu Gesicht bekommen haben. Seine Kenntnisse stammen also sicherlich auch aus der literarischen Tradition – und genau das bringt er selbst zum Ausdruck mit seinem Verweis auf die Autorität der Alten.49 Andere Tiere und Tierlaute muss Aldhelm aus der Natur gekannt haben, darunter auch all jene, die gegenüber Sueton ergänzt worden sind, wie zum Beispiel Störche, Ziegen, Tauben usw. Es dürfte sich also im Falle der jüngsten der hier untersuchten Listen um eine für das (frühe) Mittelalter typische Verbindung von Buchwissen und Erfahrungswissen handeln.50 6.4 Lautmalerei und Etymologie

Viele Lautverben haben onomatopoetischen Charakter, das heißt: sie versuchen den Laut des betreffenden Tieres zu imitieren. Nur einige Beispiele (in Klammern der daraus erschlossene Laut): baubari das Bellen des Hundes (bau), coaxare das Quaken des Froschs (coax), balare und bebare das Blöcken des jungen Schafes (ba oder be), ululare das Heulen des Wolfes (ululu), pipiare das Pfeifen der Maus (pipi).51 Besonders häufig kommen solche Lautverben bei Vögeln vor. Man denke etwa an cacilare beim (Haus-)Huhn, cacabare beim Rebhuhn, crocare beim Raben, gruere beim Kranich usw. bis hin zu zinziare bzw. zinzitare bei der Amsel. In vielen Fällen lässt sich allerdings nicht sicher entscheiden, ob die betreffenden Verben onomatopoetisch zu deuten sind.52 Außerdem gibt es bisweilen einen Zusammenhang zwischen dem Namen von Tieren und den Lauten, die diese von sich geben. Das beste Beispiel dafür ist im Deutschen (und in zahlreichen anderen Sprachen) der Kuckuck, der nach seinem charakteristischen Reviergesang heißt.53 In lateinischen Texten wird er als cuculus bezeichnet, das dazugehörige Verb (Kuckuck rufen) lautet cuculare. Isidor von Sevilla möchte in dieser Beziehung sogar so etwas wie eine feste Regel sehen. So schreibt er im zwölften Buch seiner Etymologiae: Avium nomina multa a sono 49 Ut maiorum auctoritas tradidit; vgl. oben bei Anm. 27. – Die Tatsache, dass Aldhelm oft mehrere Lautverben zu einem Tier notiert, könnte auf Exzerpte aus der (klassischen) Literatur schließen lassen. Allerdings sind viele dieser Beispiele antik gar nicht bezeugt (wie etwa ambizare und bombizare, crincire und trinsire) und auch schon Sueton reiht oft zwei oder drei Alternativen hintereinander (vgl. oben, Abschn. 2). 50 Für ein weiteres Beispiel vgl. Hack, Abul Abaz, S. 34–36 und S. 47–57. 51 Über Verben onomatopoetischen Charakters generell Tichy, Onomatopoetische Verbalbildungen; eine entsprechende Arbeit für das Lateinische fehlt. – Sehr anregend, obwohl mit Beispielen aus anderen Sprachen und anderen sachlichen Zusammenhängen, Hilmer, Schallnachahmung. 52 Onomatopoesie ist häufiger, als dies eingestanden wird, eine Frage der subjektiven Bewertung. 53 Oder der, wie es in einem berühmten Lied Hoffmann von Fallerslebens heißt, Kuckuck, Kuckuck aus dem Wald ruft. – Zu diesem und ähnlich gelagerten Fällen (Zilpzalp, Uhu usw.) – Vögeln also, „die ihren Namen sagen“ – vgl. Wember, Namen, S. 11–13. Nach Wember finden sich unter den 130 deutschen Typusnamen für Vögel immerhin 29 „lautmalende Namen, die die Stimme von Vögeln wiedergeben“ (S. 207). – Über die Imitation des Kuckucks in der Musik des Mittelalters und der Renaissance vgl. Jensen, Birdsong, S. 53–58.

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vocis constat esse conposita: ut grus, corvus, cygnus, pavo, milvus, ulula, cuculus, graculus et cetera. Varietas enim vocis eorum docuit homines quid nominarentur.54 Wie so oft bei Isidor stimmen die angeführten Beispiele zum Teil und zum Teil stimmen sie nicht. Denn dass etwa der Schwan (cycnus) nach seinem Gesang (a canendo) benannt wurde, muss zumindest stark bezweifelt werden.55 Dass die Weihe (milvus) von mollis abgeleitet wurde, ist schlicht unrichtig (und mollis ist noch nicht einmal ein Laut, so dass hier also ein doppelter Irrtum vorliegt).56 6.5 Systematik und ihre Grenzen

Aristoteles unterscheidet in seiner Tierkunde (Περὶ τὰ ζῷα, Historia animalium) Geräusch, Stimme und Sprache. Stimme (φωνή), so schreibt er, werde mit dem Kehlkopf erzeugt; daher hätten nur jene Tiere eine Stimme, die auch über eine Lunge verfügten. Sprache (διάλεκτος) sei eine Gliederung der Stimme mit Hilfe der frei beweglichen Zunge. Mit Kehlkopf und Stimme würden die Vokale, mit Zunge und Lippen die Konsonanten gebildet. Geräusche (ψόφοι) hingegen entstünden vor allem durch die Reibung der Luft, würden also mit anderen Körperteilen hervorgebracht.57 Soweit das antike Theorieangebot.58 Obwohl zwei der hier interessierenden Listen mit Tier-Stimmen überschrieben sind, folgen sie nicht streng dieser Definition. Vielmehr sind jeweils auch Insekten enthalten, die nach Aristoteles zwar Geräusche erzeugen, aber über keine Stimme verfügen. Auch beim Storch wird das charakteristische Klappern – critalare, crotalare oder gratulare – durch das Aufeinanderschlagen des Schnabels und nicht etwa durch die Stimme verursacht.59 54 Isidori Hispalensis episcopi Etymologiarum, ed. Lindsay, lib. XII, cap. 7, 9 (sine pagina). 55 Vgl. Isidor, Etymologiae, lib. XII, cap. 7, 18: Cygnus autem a canendo est appellatus, eo quod carminis dulcedinem modulatis vocibus fundit. Vgl. Walde, Wörterbuch, Bd. 1, S. 320 f. (s. v. cycnus) und 212 f. (s. v. ciconia). 56 Vgl. Isidor, Etymologiae, lib. XII, cap. 7, 58: Milvus mollis et viribus et volatu, quasi mollis avis, unde et nuncupatus. Vgl. Walde, Wörterbuch, Bd. 2, S. 89 (s. v. miluus). – Onomatopoetischen Ursprung vermutet Isidor auch bei der Ziege (cap. 1, 15), beim Elefanten (2, 14), beim Hund (2, 25), bei der Grille (3, 8), bei den Fröschen (6, 58), bei diversen Vögeln wie dem Kranich (7, 14), dem Storch (7, 16), dem Kautz (7, 38), dem Uhu (7, 39), der Eule (7, 42), dem Raben (7, 43), dem Pfau (7, 48), der Turteltaube (7, 60), dem Rebhuhn (7, 63), der Wachtel (7, 64), dem Kuckuck (7, 67) usw. 57 Vgl. Aristote, Histoire des animaux, griech.-franz. v. Louis, lib. IV, cap. 9 (Bd. 1, S. 147–151); Aristoteles, Tierkunde, dt. v. Gohlke, Bd. 8, 1, S. 179–184. 58 Für die Aussagen des Aristoteles über den akustischen Bereich (und zwar in einem sehr breiten Kontext) vgl. Wille, Akroasis, S. 813–998. Zu den Aussagen über die menschliche Stimme, insofern sie für die Rede von Bedeutung sind, vgl. jetzt auch Schulz, Die Stimme (über Aristoteles S. 25–35). Für die Rezeption am Übergang vom hohen zum späten Mittelalter vgl. Köhler, Homo animal, hier Bd. 2, 1, S. 393–489. 59 Was schon Isidor, Etymologiae, lib. XII, cap. 7, 16, vermerkt. Vgl. dazu Biville, Ciconiarum crotolare, S. 59–65.

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Auch sonst wird die Systematik nicht allzu genau genommen: So ist nicht nur nach Tierarten unterschieden, sondern gegebenenfalls auch nach Geschlecht – die Henne gackert (cacilare), der Hahn kräht (cantare) – und nach Größe – große Hunde bellen (latrare, baubari), kleine kläffen (glattire oder glattilare). Außerdem führt Aldhelm eigens den Jagdhund (canis venatica) an, der schnüffelt (nictire) – ein Wort, das primär gar kein Lautverb ist, sondern vielmehr das Einziehen der Luft durch die Nase bezeichnet; es hat aber natürlich durchaus auch eine hörbare Komponente.60 6.6 Tierische und menschliche Laute

Neben den tierischen Lauten werden schließlich auch die menschlichen erwähnt. Charakteristikum des Menschen ist die Sprache. Aldhelm benennt diesen (eigentlich selbstverständlichen) Sachverhalt ausdrücklich: homines loquuntur.61 Sprechen ist aber nicht die einzige menschliche Äußerung: Schon die (wie so oft: klischeehaft dargestellte) Landbevölkerung (rustici) brüllt laut und ungestüm (iubilare). Menschen als Masse (populus) – so Polemius Silvius – machen unspezifischen Lärm (strepere). Außerdem kann der Mensch singen (cantare) (was in keinem der hier interessierenden Texte eigens hervorgehoben wird). Das können auch Vögel, die natürlichen Sänger unter den Tieren. Nur welche sind das? Heute bezeichnen die Zoologen eine ganze Gruppe (eine Unterordnung) als Singvögel: Finken, Drosseln, Lerchen, Amseln usw.62 In der Antike sowie im Mittelalter sind es jedoch nicht sie, die als Sänger verstanden werden. Das sind vielmehr die Hähne, und zwar ausschließlich sie.63 Auch noch andere Verben werden sowohl im Hinblick auf Menschen als auch auf Tiere gebraucht. Kinder (pueri) wimmern (pipare) – ein Wort, das ebenso für den Laut von Greifvögeln (accipiter) und jungen Tieren, beson60 Auch saevire – in allen drei Texten vom Bären gesagt – ist ursprünglich kein Lautverb, sondern meint wüten, toben. 61 Zur antiken und mittelalterlichen Diskussion über Tiersprachen vgl. etwa Eco, Lambertini, Marmo, Tabarroni, Latratus canis; in einer überarbeiteten Fassung erneut unter dem Titel: On Animal Language, in: Eco, Marmo, Medieval Theory, S. 3–41. In der mittelalterlichen Literatur kommen nicht nur immer wieder sprechende Vögel (dazu Ziołkowski, Talking Animals), sondern ganze Vogelkonzilien und -parlamente vor, vgl. Heimpel, Über den Pavo; Busch, Die Vogelparlamente. Das Motiv einer Vogel-Konferenz („Mantiq at-tair“) hat der persische Dichter Farid ud-Din Attar schon um 1200 für sein mystisches Gedicht verwendet, vgl. Attar, Die Konferenz der Vögel, dt. v. Völlmer. 62 Das Wort ist seit dem 17. Jahrhundert belegt, bezeichnet aber zunächst noch keine spezielle Klasse, sondern schlicht singende Vögel, vgl. Grimm, Deutsches Wörterbuch 10, 1, s. v. Singvogel, S. 1096. – Der in der Zoologie gängige Terminus passeri bezeichnet im Lateinischen ursprünglich Sperlinge bzw. Spatzen. 63 So zumindest in den hier untersuchten Listen. In anderen Texten wird hin und wieder auch bei anderen Vögeln von einem ‚Gesang‘ gesprochen, vgl. die Art. cantare und cantus, in: Thesaurus Linguae Latinae 3, Sp. 287–291 und Sp. 292–295. Nahezu omnipräsent ist im Mittelalter die Zeitbestimmung beim ersten Hahnenschrei: in primo galli cantu.

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ders Küken (pullus) gebraucht werden kann.64 Säuglinge (infantes) schreien oder quäcken (vagire), ganz ähnlich offenbar, wie dies ein Hase (lepus) tut. Und natürlich ist es dem Menschen – oder zumindest manchen Menschen – möglich, die Laute von Tieren zu imitieren. So zum Beispiel jenem Marcus, auf den Ausonius ein acht Zeilen umfassendes Epigramm verfasst hat (In hominem vocis absonae): Dieser könne, so schreibt der Dichter, das Bellen junger Hunde, das Wiehern von Pferden und das Meckern der Ziegen nachmachen, ebenso das Schreien von Eseln, das Krähen der Hähne und das Krächzen der Raben, und zwar so gut, dass man es von den echten Lauten dieser Tiere nicht unterscheiden könne. Nur über den Klang der menschlichen Stimme verfüge er leider nicht.65 Anhang: Lautverben

Im Folgenden sind alle Lautverben aus den Listen bei Sueton (S), Polemius Silvius (P) und Aldhelm (A) in alphabetischer Reihenfolge verzeichnet;66 die nicht von Tieren verursachten Laute sind durch Kursivschrift kenntlich gemacht. Diese Zusammenstellung dokumentiert nicht nur die Übereinstimmungen und Abweichungen der genannten Listen im Einzelnen, sondern kann auch als Nukleus für ein künftiges, sehr viel ausführlicheres Lexicon vocum dienen.67

64 Vor allem das letztere bildet offenbar den Anknüpfungspunkt. Pullus ist auch ein Kosename für Kinder, vgl. etwa den Brief Kaiser Mark Aurels an seinen Lehrer Fronto: Marci Cornelii Frontonis Epistolae, ed. van den Hout, hier lib. I, nr. 1 (S. 86): pullus noster Antonius, sowie dessen Antwortschreiben: lib. I, nr. 2 (S. 90). Weitere Beispiele s. v. pullus im Thesaurus Linguae Latinae 10, 2, Sp. 2587–2591, besonders Punkt A, c (Sp. 2589). – Eine Untersuchung der Kosenamen im Lateinischen, in denen Tiere epochenübergreifend eine große Rolle spielen, liegt m. W. nicht vor. 65 Decimi Magni Ausonii Burdigalensis Epigrammata, ed. Prete, S. 286–329, Nr. 5 (S. 288 f.): Latratus catulorum, hinnitus fingis equorum, / caprigenumque pecus lanigerosque greges / balatu adsimulas; asinos quoque rudere dicas / cum uis Arcadicum fingere, Marce, pecus. / gallorum cantus et ouantes gutture coruos / et quidquid uocum belua et ales habet, / omnia cum simules ita uere, ut ficta negentur, / non potes humanae uocis habere sonum. Ganz ähnlich im 7. Jahrhundert: Eugenii Toledani Libellus Carminum, ed. Alberto, Bd. 14, S. 51–278, Nr. 41 (S. 254): De voce hominis absona. 66 Verben, die sich nur durch einfache oder doppelte Konsonanten unterscheiden wie blat(t)erare und cuc(c)ubire wurden zu einem Lemma zusammengefasst. 67 Diese Zusammenstellung müsste durch Lautverben aus anderen Quellen, seien diese nun Listen oder nicht, ergänzt werden. Dann würde der akustische Raum der Spätantike und des frühen Mittelalters noch besser ausgeleuchtet – und zugleich der Nutzen einer Listenwissenschaft auch in der Gegenwart gezeigt.

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ambizare balare barrire baubari bebare bilibere blat(t)erare bombilare bombizare bombire bubbire butare cacabare cacillare cantare caurire clangere coaxare crepare crepitare crincire crissitare crispire critalare crocare crocire crocitare crotolare cuc(c)ubire cuculare cucurrire denticare desistare desticare dindrare drensare drensitare drindrare eiulare faccilare felire

apis A ovis S, P, A; haedus A elephans S, A canis S, A haedus S, A amfora profusa A aries S, A apis S apis A apis S apis P cornicen A perdix A gallina A gallus S, A panther S, A aquila S, A; tuba A rana S, P, A arma A ignis P anser A aries A gallina S ciconia A corvus P, A corvus A corvus S ciconia S noctua S, A cuculus S gallus S, A sorex A cycnus A sorex S mustela A olor S olor A mustela S vulpis A turdus A pardus S, A

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fintinnire flare fremere frendere fretinnire fringillire fringulire fritinnire gannire gemere glangere glattilare glattire gliccire glottorant gratulare grincire gruddare gruere grugulare grundire grunnire hinnire hircare hirrire iubilare iugere iugilare latrare linguere loqui lugere lupire lurire miccire mintrire minurrire mugilare mugire

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hirundo S ventus A leo S, P, A aper S, A; merulus S, P cicada A galba A gracula S cicada S vulpis S; canis A turtur P anser P catulus A catulus S anser S ciconia A ciconia A graculus A grus A grus S, P, A grus A porcus A porcus S; sus P; porcellus A equus S, P, A lynx A hyaena A rusticus A milvus A milvus A canis S, P, A milvus P homo A milvus S68 milvus S milvus A hircus S; capra A mus S, A hirundo S, P; omnis minutissima avicula S, avis A onager S bos S, P, A; taurus A

68 Vgl. dazu oben, Anm. 43.

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munire murmurare mussitare nictire oncare parsitare passitare paululare paupulare pionpant pipare plipiare pipitare pulpare quiritare raccare rancare raucitare reboare rudere rugire saevire sclingere sibilare soccitare sonare strepere stridere teritisare tetrissitare tinnipare tinnire titiare tonare trinsire tremare trissare trucilare trutissare ululare uncare

mus A cursus aquae P; litus A fera A canis venatica A asinus S, A sturnus A sturnus S pavo A pavo S vultur A accipiter A; pullus A; puer A accipiter S, A mus S vultur S verres S, A tigris A tigris S palumbes A bos A asinus S, P, A leo S, cervus S, A ursus S, P, A anser S serpens S, A; ventus A turdus S, A cithara A populus P; silva A terra P; elephans A anas A anas S parrus A aes P, A passer S, A Iuppiter A anser A ventus A hirundo A turdus S, P hirundo A lupus S, P, A ursus S

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urcare urgare vagillare vagire vagitare vernare vernicare zinziare zinzitare

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lynx S ursus A onager A lepus S; infans A lepus A avis A avis A merulus S merulus A

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Ludwig der Fromme und der Nachhalleffekt Akustisch-visuelle Rekonstruktionen öffentlicher Redesituationen am Beispiel der Aula regia in Ingelheim Boris Gübele

Mit Worten die Welt zu verändern, mittels einer performativen Sprechhandlung Geschichte zu machen, dies ist in zwei Novemberreden gelungen, die auf den ersten Blick nicht viel gemein zu haben scheinen. Als am 9. November 1918 Philipp Scheidemann in Berlin vom Balkon des Reichstags herab die Republik ausrief, veränderte er den Gang der Welt ebenso wie Jahrhunderte zuvor Papst Urban II., der am 27. November 1095 mit den Worten Gott will es den Ersten Kreuzzug auslöste und damit eine Lawine lostrat, von deren Wucht er selbst überrascht gewesen sein dürfte. Was beide Reden miteinander verbindet, ist ihre Überlieferungslage. Denn von keiner der beiden Ansprachen gibt es eine im Wortlaut wirklich gesicherte Version, vielmehr liegen unterschiedliche Darstellungen vor, was sicherlich nicht zuletzt der schwierigen akustischen Situation geschuldet ist. Denn beide Redner sprachen vor einer großen Menschenmenge und konnten ausschließlich auf ihre Stimme zurückgreifen, wenngleich natürlich, was die Überlieferungslage angeht, auch andere Aspekte, wie etwa das Erinnerungsvermögen eine Rolle spielten. Bei Urban II. im Speziellen war darüber hinaus die Sprache von großer Bedeutung, denn möglicherweise sprach er auf Latein. Untersuchungen der Universität Nebraska-­ Lincoln zeigen, dass ein Hörer, dessen Muttersprache mit derjenigen des Redners deckungsgleich ist, Letzteren besser versteht als jemanden, bei dem dies nicht der Fall ist; dies trifft selbst dann zu, wenn der Redner in einer Fremdsprache spricht.1 Derartige Studien zum Hörverstehen sind bislang nicht für historische Fragestellungen herangezogen worden. Sie sind aber deswegen äußerst aufschlussreich, weil bei mittelalterlichen Reden oftmals von der Lingua franca Latein Gebrauch gemacht wurde, während Redner und Zuhörer mit den verschiedensten Sprachen und Dialekten aufgewachsen waren. Möglicherweise wären also Untersuchungen zum lateinischen Hörverstehen ein Schritt, die Rezeptionsfähigkeit der Zuhörer und damit auch die persuasive Kraft mittelalterlicher Reden besser begreifen zu können. Was anhand von Urbans Rede weiterhin auffällt, ist, dass sie im Freien gehalten wurde. Eine Erklärung dafür ist sicherlich der zur Verfügung stehende Platz. Doch es stellt sich die Frage, ob im Freien tatsächlich mehr Menschen die verbalen Äußerungen inhaltlich verstehen konnten, als wenn sie beispielsweise in einer großen Kirche den 1 Peng, Effects; vgl. http://digitalcommons.unl.edu/archengfacpub/71/ (07.08.2018).

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Worten des Redners gelauscht hätten. Gerade mittelalterliche Kirchen weisen eher eine hohe Nachhallzeit auf, die das Zuhören schwierig macht, da der massive Hall das Verständnis erschwert. So verursacht etwa die Akustik der Konstantinsbasilika in Trier große Probleme im Hinblick auf das Verstehen des gesprochenen Wortes und auf den Genuss von dargebotener Musik, weshalb mittlerweile regelmäßig eine Konzertdecke zum Einsatz kommt, die der viel zu langen Nachhallzeit entgegenwirkt.2 Das Stuttgarter Projekt „Reden ohne Mikrophon“ möchte die architektonische Umgebung eines historischen Redeaktes rekonstruieren, die Position des Redners wie der Zuhörer ermitteln und schließlich eine akustische Rekonstruktion des Redegeschehens anfertigen, um herauszufinden, ob die Zuhörer den Redner hören und verstehen konnten. Hierbei geht es insbesondere um die Wirkung des Nachhalleffektes, der das Verständnis gesprochener Worte deutlich beeinträchtigen kann. Die Geschichtswissenschaft sowie die Rhetorik haben sich bisher um die Frage nach der Verständlichkeit, nach der Akustik und damit nach der Rezipierbarkeit in Zusammenhang mit der architektonischen Umgebung eines Redeaktes nicht gekümmert. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass in vormodernen Gesellschaften das gehörte Wort von herausragender Bedeutung war.3 Der Redner wirkte dabei verbal wie nonverbal. Letzteres mag vor allen Dingen dann von Bedeutung gewesen sein, wenn die architektonische Umgebung eine akustische Rezeption von Seiten des Publikums erschwerte. Spielten im Mittelalter also das visuell sichtbare Ritual und die optisch wahrnehmbare Symbolik eine größere Rolle als das eigentliche gesprochene Wort? Dies könnte nur durch eine breit angelegte Auswertung mittelalterlicher Überlieferung beantwortet werden, die zugleich die akustische Untersuchung mehrerer historischer Rederäumlichkeiten beinhalten müsste. Interessant scheint auch die Frage, inwiefern ein historischer Redetext mit einem historischen Rederaum korrespondiert und ob akustische Überlegungen beim Bau eines Gebäudes oder dem Verfassen eines Textes eine Rolle spielten. Um derartige Fragestellungen beantworten zu können, ist es erforderlich, dass Geschichtswissenschaft, Archäologie und Akustik Hand in Hand arbeiten. Es müssen geeignete Texte sowie Gebäude ausgewählt, schließlich muss ein Computermodell Letzterer angefertigt werden, das Werte wie Raumvolumen, Deckenhöhe oder die Mauerdicke berücksichtigt. Dann werden Sprachaufnahmen in einem reflexionsarmem Raum durchgeführt, um sicherzustellen, dass die für die „Auralisation“ verwendeten Aufnahmen nicht durch den Nachhalleffekt beeinträchtigt sind, denn schließlich soll genau dieser simuliert werden. Mithilfe der Akustik kann eine akustische Simulation sowie eine Auralisation hergestellt werden. Die Simulation zeigt die Ergebnisse visuell auf und ermöglicht es, unter Verwendung des 2 Vgl. Evangelische Kirchgemeinde Trier, Schall, https://ekkt.ekir.de/index.php?id=2621 &tx_ttnews%5Btt_news%5D=1300&cHash=e7baa4d90f5ecc3f04bd2b4cb4886ff4 (07.08.2018). 3 Vgl. Smith, Sensing, S. 42.

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Speech-Transmission-Index, festzustellen, wie gut die Aussagen an bestimmten Hörerpositionen verstanden werden, während die Auralisation den rekonstruierten Raum tatsächlich hörbar macht – die im reflexionsarmen Raum angefertigten Sprachaufnahmen werden künstlich mit Nachhall versehen und klingen nun so, wie sie in der simulierten Umgebung klingen würden. Ein nicht mehr existenter historischer Rederaum kann so wieder akustisch erfahrbar werden. Möchte man sich mithilfe derartiger Methoden der frühmittelalterlichen Inszenierung des Kaisertums in Europa widmen, so bieten sich hier insbesondere die sogenannten Kaiserpfalzen an. In ihnen beriet sich der Herrscher mit den anderen Magnaten des Frankenreiches, sprach im wahrsten Sinne des Wortes Recht, ließ Beschlüsse in Urkundenform vortragen. Daher ist es sinnvoll, Herrscherpfalzen akustisch zu rekonstruieren, wenn man nach der Wirkung mittelalterlicher Redesituationen fragt. Die Aula regia in Ingelheim, die dortige Königshalle, ist für eine akustische Untersuchung geeignet, da der Raum zum einen nicht mehr existent ist, sich die Simulation also lohnt, weil seine Akustik anders nicht mehr erschlossen werden kann, zum anderen aber genügend archäologische Funde vorliegen, die etwa Aufschluss über das Raumvolumen geben. Zudem können die Ergebnisse dieser Rekonstruktionsarbeiten im Ingelheimer Museum präsentiert werden. Mit Vorarbeiten für derartige Versuche wurde bereits an der Universität Stuttgart im Rahmen eines Projektseminars zu historischen Rederäumen begonnen: Studierende der Geschichtswissenschaft untersuchten gemeinsam mit ihren Kommilitoninnen und Kommilitonen von der Architekturgeschichte in interdisziplinärer Zusammenarbeit Grabungsberichte und schriftliche Quellen, um Rederäume zu rekonstruieren.4 Ziel ist es, dem Museumsbesucher klanglich vorführen zu können, wie ein Text, der in der Ingelheimer Königshalle vorgetragen wurde, in den Ohren eines anwesenden mittelalterlichen Zuhörers geklungen hat. Eine Urkunde Ludwigs des Frommen soll hierfür als Beispiel dienen. Die Pfalzen werden im Rahmen dieser Untersuchungen in erster Linie als Rederaum wahrgenommen. „Pfalz“, also palatium, bezeichnet sowohl den eigentlichen herrschaftlichen Palast als auch den gesamten Palastbezirk.5 Die mittelalterlichen Herrscher setzten das Konzept palatium zu einem Zeitpunkt ein, da das Reisekönigtum die gängige Herrschaftspraxis war. Letztere vollzog sich mobil, indem der König reiste, da es keine „Hauptstadt“ im modernen Sinne gab.6 Die Pfalzen bildeten ein Netzwerk, das sich aus Orten zusammensetzte, an denen der König seine Macht ausübte, weshalb er diese in regelmäßigen Abständen besuchte.7

4 Vgl. Universität Stuttgart, https://www.hi.uni-stuttgart.de/ag/forschung/rom/ (26.08.2019). 5 Vgl. Jacobsen, Herrschaftliches Bauen, S. 91. 6 Vgl. Renoux, Pfalzen, S. 59. 7 Vgl. Renoux, Bemerkungen zur Entwicklung, S. 29.

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Eine frühmittelalterliche Pfalz hatte mehrere Funktionen: Sie bot Wohnraum, Raum für herrscherliche Repräsentation, für den religiösen Kult, für Gästeunterbringung, für die Jurisdiktion, für Verwaltung, Unterhaltung und sie diente auch als Heerlager.8 Als ein wichtiger Teil einer solchen Anlage erfüllte die sogenannte Aula regia, die Königshalle, mehrere dieser Funktionen. Es wurde postuliert, dass sie insbesondere dazu diente, Herrscherauftritte und wichtige politische Ereignisse in zeremonieller Form so zu inszenieren, dass sie vom bloßen Zusehen allgemein verständlich wurden.9 Wenn Letzteres tatsächlich der Fall sein sollte, dann mag dies darauf zurückzuführen sein, dass visuell sichtbare Rituale akustisch bedingte Verständnisschwierigkeiten kompensieren sollten. War die Akustik der Herrscherpfalzen aber tatsächlich so problematisch? War es in ihnen möglich, Herrschaft so zu inszenieren, dass sie auch vom Zuhören her verständlich wurde? Die eindrucksvolle, wohl auch übertreibende, Darstellung des Ermoldus Nigellus, der die Ingelheimer Pfalz in schillernden Farben beschreibt, sie mit mythischen Gestalten verbindet, zeigt deutlich, dass ein solcher Bau nicht zuletzt Eindruck machen sollte.10 Hier an diesem Ort herrscht und wirkt der Kaiser, kommt den Reichsgeschäften nach, gebietet über Untertanen: Illic ergo pius Caesar dat jura subactis, / More suo regni rite revolvit opus.11 Hierher kommt die dänische Flotte mit hundert Schiffen, den dänischen Herrscher Harald Klak an der Spitze.12 Die repräsentative Funktion, die einem solchen Gebäude zukommen musste, kann also kaum hoch genug eingeschätzt werden. Dementsprechend werden die Dänen bei Ermoldus mit riesigem Pomp willkommen geheißen.13 Ludwig kann Harald in der Pfalz ganz wie ein großer Staatsmann empfangen, wobei dies sicher in der Aula regia geschieht, wie auch Ermoldus’ Wortwahl nahe 8 Vgl. Hugot, Pfalzen, S. 395; Volmer, „Palatia“, S. 602; Untermann, Handbuch, S. 165. Nicht jeder Aufenthaltsort eines mittelalterlichen Königs darf als „Pfalz“ bezeichnet werden, sondern nur diejenigen, bei denen der terminologische wie auch der archäologische Nachweis für ein derartiges Gebäudeensemble möglich ist; vgl. Ehlers, Einführung, S. 9.  9 Vgl. Fries-Knoblach, Hinweise, S. 377. Renoux zufolge war die aula einer der drei Pfeiler der großen karolingischen Paläste des neunten Jahrhunderts, neben der camera und der capella; vgl. Renoux, Architecture, S. 26 f. Der Begriff aula selbst konnte im Frühmittelalter, zumindest bei dem Poeta Saxo, auch einfach „Palast“ bedeuten; vgl. Krüger, Poeta Saxo, S. 98. 10 Grewe meint, derartige Quellenstellen seien zumindest dahingehend zutreffend, dass schon die zeitgenössischen Berichte nahelegten, dass der Ingelheimer Pfalz in baugeschichtlicher Hinsicht eine Sonderstellung einzuräumen sei; vgl. Grewe, Der Neubeginn, S. 27. 11 Nigellus, Poème, S. 166, V. 2165 f. Auch der Poeta Saxo schrieb im späten neunten Jahrhundert: Regressusque dehinc hiberno tempore toto / Mansit in Ingulenheim, sedes ubi regia fulget, Poeta Saxo, Annales, V. 332 f., S. 26. 12 Nigellus, Poème, S. 166, V. 2168–2172: Ecce volant centum per Rheni flumina puppes, / Velaque candidolis consociata nodis, / Denorum populis oneratae munere nec non; / Heroldum regem prima carina vehit, / Te, Hludowice, petens. 13 Ebd., V. 2178 f.: Mittit equos faleris multos ostroque paratos, / Qui revehant homines ad sua tecta novos.

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legt.14 Harald hingegen lässt der Dichter demütig zu dem Frankenherrscher sprechen, lässt ihn eine lange Rede äußern.15 Wenn die Rede Haralds in dieser Form auch fiktiv sein mag, so führt sie dennoch vor Augen, dass eine frühmittelalterliche Kaiserpfalz ein Ort der Rede war. Ermoldus lässt Ludwig sogar auf Haralds Preisung der christlichen Religion antworten, wobei der Kaiser dem Dänen zustimmt, dass dieser sich nun taufen lassen könne. Hierauf begab man sich dann zu den tecta sacrata, um die Taufe zu vollziehen, was abermals darauf hindeutet, dass der Empfang Haralds in der Aula regia vonstattenging, da man sich nun gewissermaßen zu anderen tecta begab.16 Das Gedicht des Ermoldus beschreibt die Kaiserpfalz in Ingelheim zur Zeit Ludwigs des Frommen als Ort der herrscherlichen Repräsentation, die eng mit mündlicher Rede verknüpft ist. Saß der Herrscher an einem solchen Ort zu Gericht, dann konnte es durchaus vorkommen, dass zur Beweisführung eine Urkunde öffentlich verlesen wurde.17 Hagen Keller vermutet, dass die Erteilung eines Privilegs am Königshof seit Beginn der Karolingerzeit in einem kommunikativen Geschehen stattfand, bei dem das Dokument nicht nur als Textträger eine Rolle spielte.18 Seit Karl dem Großen bestand die Unterzeichnung aus dem „Vollziehungsstrich“, der öffentlich in einem zeremonialen Akt ausgeführt wurde, wobei die Urkunde wohl auch vorgezeigt und vor der Versammlung verlesen wurde.19 In diesem Zusammenhang spricht Keller davon, dass innerhalb des Urkundentextes „chiffrenhaft die Palastaula als Raum eines interaktiven Geschehens in Erscheinung“ trete. Bildlich gesprochen erscheine „der Raum, in dem der Herrscher mit den Großen kommuniziert, zweigeteilt“: Der Herrscher sei beim Empfang seiner Getreuen gewissermaßen in einer „erhöhten, mit sakralen Attributen ausgestalteten Thronapsis platziert.“20 Diesen Vorgang wird man sich in Ingelheim sicherlich so vorstellen dürfen, wie Keller dies anhand seiner Analyse frühmittelalterlicher Urkunden beschreibt. Denn in 14 Ebd., V. 2182 f.: Caesar eum gaudens celsa suscepit ab aula, / Ordinat expensas distribuitque dapes. 15 Ebd., V. 2184 ff.: Caesar optime, tuas quae res me vexit ad arces, / Meque domumque meam, et genus omne simul, / Incipiam nararre, jubet si vestra potestas, / Caesareis promptus auribus atque canam. 16 Ebd., S. 170, V. 2239. Die Taufe selbst fand in Mainz statt: Mogontiaci apud sanctum Albanum; Annales regni Francorum, ed. Kurze (MGH SS rer. Germ. 6), S. 169 f. Ingelheim wurde aufgrund dieses Ereignisses bereits als „Taufpfalz“ bezeichnet; vgl. Zotz, Pfalzen, S. 13; vgl. außerdem Hauck, Karolingische Taufpfalzen. 17 Vgl. Ratpert, Casus sancti Galli, ed. Steiner (MGH SS rer. Germ. 75), Hannover 2002, S. 180: Deinde carta traditur legenda. Cum vero audisset episcopus contra suum decretum cartę procedere textum, protinus recusavit istam asserens perversam aliamque cupiens suę perversitatis in praesentiam adferre scripturam. Es war versehentlich eine andere Urkunde präsentiert worden, als vom Konstanzer Bischof intendiert; vgl. ebd. Für ein etwas späteres Beispiel vgl. Bündner Urkundenbuch, ed. Meyer-Marthaler, Perret, S. 79, Nr. 96: Et perlecto precepto mandavit dux Burchardus, ut secundum legem Romana (sic) iudicarent, qui de hac causa facere debuissent. 18 Vgl. Keller, Zu den Siegeln, S. 434. 19 Vgl. ebd., S. 435 f. 20 Vgl. ebd., S. 435.

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der dortigen Aula regia finden wir sehr wohl eine Apsis, in der sich der König oder Kaiser aufhielt, wohl auch, wenn eben ein Urkundentext verlesen wurde. Jene Südkonche wurde von der Architektur derart stark betont, dass Grewe sie sogar für den „architektonisch am stärksten akzentuierten Ort der Aula regia, vielleicht der Pfalz insgesamt“21 hält, was sie erst recht zu einem potentiellen Ort für die herrscherliche Repräsentation macht. Auch der Sprecher mag sich dort aufgehalten haben, was von der Akustik her angebracht gewesen sein mag, doch werden wir dies noch eingehender untersuchen. Er wird vielleicht etwas vor dem Herrscher gestanden haben, der selbst möglicherweise auf einem Thron saß.22 Nicht nur der Herrscher, sondern auch der Urkundentext, der verlesen wurde, hätten damit aufgrund ihrer herausgehobenen, leicht erhöhten Position an Autorität gewonnen. Ermoldus Nigellus jedenfalls schildert uns, wie Ludwig der Fromme 816 auf einem erhöhten Thron saß. Sein Freund Stephan war neben ihm platziert, während die anderen Adligen ein jeder ihrem Rang nach saßen.23 Keller vermutet, dass Veränderungen in der Sprache der Urkunden, etwa im Zuge der Kanzleireform unter Ludwig dem Deutschen, aus „Rücksichtnahme auf das öffentliche Verlesen des Textes vor einem breiten Auditorium von Großen“24 geschehen seien, insbesondere die Vereinfachung der Sprache. Akustisch gesehen ergibt dies durchaus Sinn, da der Hall, der in antiken und mittelalterlichen Gebäuden oftmals vorzufinden ist, möglicherweise ein langsames Sprechen in kurzen Sätzen erforderlich machte.25 So beschreibt auch Mark Mersiowsky, dass das Zeigen und Verlesen von Urkunden in der Karolingerzeit gängige Praxis war, und zwar sowohl bei Königsdiplomen als auch bei Privaturkunden.26 Hans-Henning Kortüm geht ebenfalls davon aus, dass Urkunden laut

21 Vgl. Grewe, Archäologie, S. 36. 22 Auch die Königshalle in Aachen weist eine erhöhte Apsis auf, in welcher der Thron des Herrschers gestanden haben dürfte; vgl. Falkenstein, Pfalz, S. 46. 23 Nigellus, Poème, S. 74, V. 934 ff.: Mane novo Caesar Stefanum, proceresque senatum / Convocat; ast illi regia jussa colunt. / Caesar in excelsa consedit sede togatus, / Multa tenens animo, quae parat incipere. / Aurea sella sacrum lateri sociavit amico, / At proceres resident ordine quisque suo. Unmittelbar darauf lässt Ermoldus Ludwig eine Rede halten. 24 Vgl. Keller, Zu den Siegeln, S. 437. 25 Die Untersuchung der antiken Curia Iulia in Rom zeigt, dass auch hier der Nachhalleffekt das Verständnis des gesprochenen Wortes deutlich erschwert haben dürfte; vgl. hierzu Universität Stuttgart, https://www.hi.uni-stuttgart.de/ag/forschung/rom/ (26.08.2019). Zu der Notwendigkeit, langsam und in kurzen Sätzen zu sprechen vgl. Meyer-­Kalkus, Rhetorik der Stimme, S. 679–688. 26 Mersiowsky, Die Urkunde in der Karolingerzeit, S. 853 ff. Für Belegstellen, dass schon unter Pippin und auch später unter Karl dem Großen dem Herrscher Urkunden vorgelegt und verlesen wurden vgl. ebd., S. 606 f. sowie S. 620; zur Verlesung bei der Übergabe der Urkunde vgl. ebd., S. 706; zum Verlesen vor Gericht vgl. ebd., S. 733, S. 891, S. 894 f., S. 711; vgl. auch Gübele, Kreuzzugsreden, S. 229–248.

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verlesen wurden und meint daher, dass der verlesene Urkundentext die sprachliche Verständnisebene von Aussteller und Empfänger nicht allzu weit verlassen dürfe.27 Eine Urkunde, die in der Aula regia in Ingelheim verlesen worden sein dürfte, stammt vom 27. Juli 823. Mit dieser gewährte Ludwig der Fromme dem Kloster Corvey Schutz und Immunität. Dass sie tatsächlich in der Pfalz Ingelheim vollzogen wurde, macht die Datazeile des Dokumentes deutlich: actum Ingilinheim palatio feliciter amen.28 Damit ist es also möglich, die Urkunde der Pfalz in Ingelheim zuzuweisen, auch wenn sich der Schriftzug des Rekognitionszeichens ein wenig über selbige Zeile erstreckt. Die Formulierungen der Urkunde wurden zu dieser frühen Phase freilich noch nicht, im Sinne Hagen Kellers, an die akustischen Voraussetzungen angepasst, zumindest, wenn man davon ausgeht, dass sie in einer Umgebung vorgetragen wurde, die Nachhall produzierte. Sie dürfte zwar verlesen worden sein, doch kann man hier nicht unbedingt von einem einfachen, parataktischen Satzbau sprechen, der von vielen Jahrzehnten des Umgangs mit dem lateinischen Hörverstehen zeugen würde. Im Gegenteil, die Sätze sind recht lang geraten, was für frühmittelalterliche Urkunden nichts Ungewöhnliches ist.29 Die Formulierungen wirken eher umständlich, die Wortwahl könnte ebenfalls einfacher sein.30 War es einem fränkischen Laien des neunten Jahrhunderts möglich, dieses Latein zu verstehen? Angesichts derart langer Sätze kam es sicherlich darauf an, wie häufig er bereits mit Urkunden in Berührung gekommen war, aber auch, wie viel er von den vorhergehenden Verhandlungen mitbekommen hatte. Natürlich ist es auch keineswegs ausgeschlossen, dass gebildete Kleriker zusammenfassende Erläuterungen lieferten, dass vieles vorher volkssprachlich erklärt, besprochen, erörtert wurde, ehe der zeremonielle Akt des Verlesens vollzogen wurde. Der Urkundentext selbst, als Redetext verstanden,

27 Vgl. Kortüm, Le style, S. 43 f. 28 Die Urkunden Ludwigs des Frommen, ed. Kölzer (MGH DD Kar. 2, 1), S. 565, Nr. 227. 29 Vgl. z. B. ebd., S. 567, Nr. 228; Die Urkunden Ludwigs des Frommen, ed. Kölzer (MGH DD Kar. 2, 2), S. 639, Nr. 255; Die Urkunden der Karolinger, ed. Mühlbacher (MGH DD Kar. 1), S. 123, Nr. 85; ebd., S. 124 f., Nr. 86; ebd., S. 126 f., Nr. 87; ebd., S. 128, Nr. 88; ebd., S. 130, Nr. 90; ebd., S. 131 f., Nr. 91; ebd., S. 133, Nr. 92; ebd., S. 138, Nr. 96; ebd., S. 141, Nr. 98; ebd., S. 142, Nr. 99; ebd., S. 146, Nr. 102; ebd., S. 150 f., Nr. 106; ebd., S. 159 f., Nr. 113; ebd., S. 171, Nr. 122; ebd., S. 174, Nr. 124; ebd., S. 176, Nr. 126; ebd., S. 193 f., Nr. 142; ebd., S. 197 f., Nr. 145; ebd., S. 204, Nr. 150; ebd., S. 207 f., Nr. 153; ebd., S. 211, Nr. 156; ebd., S. 219, Nr. 162; ebd., S. 252 f., Nr. 188 etc. 30 Ebd., S. 564: Idcirco noverit omnium fidelium nostrorum tam praesentium quam et futurorum sagacitas, quia adiens serenitatem culminis nostri vir reverentissimus Adalardus abba ex monasterio Corbeia, quod ei dudum in provincia Saxonica ad augmentum mercedis nostrae ex novo con­ struere iussimus super fluvium Uuisera in villa regia in loco nuncupante dudum Hucxori dicatum in honore sancti Stephani protomartyris, suggessit mansuetudini nostrae, ut idem monasterium et monachos ibidem per tempora degentes cum rebus et hominibus non solum sub nostra tuitione et defensione constitueremus, verum etiam et talem inmunitatem fieri iuberemus, qualem omnes ecclesiae in Frantia habent.

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ist damit nicht mit einer senatorischen Ansprache des republikanischen Rom zu vergleichen. Er ist nicht Teil einer Debatte, sondern allenfalls ihr Ergebnis. Im Folgenden wollen wir uns dem Schauplatz des hier untersuchten Redeaktes zuwenden, nämlich der Kaiserpfalz. Bei Ingelheim befand sich eine typische merowingische Siedlung, die über zwei Eigenkirchen verfügte. Die Gebäude der Ingelheimer Pfalz bildeten, einer römischen Tradition folgend, eine Art Rechteck, das über eine halbkreisförmige Seite verfügte.31 Die Position der Anlage auf einer Hangterrasse am Nordabhang des Rheinhessischen Plateaus zum Rheingraben verlieh ihr eine hervorragende Sichtbarkeit und Fernwirkung.32 Im Südwesten der Pfalz, die nicht wehrhaft ausgebaut war, befand sich die Aula regia.33 Jene Aula, das zentrale Gebäude der Pfalzanlage, war ein nord-süd-orientierter Saal, der über keine Seitenschiffe verfügte, der rechteckig war und eine halbrunde Apsis hatte.34 Die Langseiten sind in der Mitte von Öffnungen durchbrochen, die einander gegenüberliegen, wobei es sich um seitliche Portale handelt.35 Der älteste befestigte Fußboden zeichnet sich durch eine bis zu 0,4 m starke Steinrollierung aus, durch eine Schicht also, die aus Steinen besteht.36 Dazu fand man kleinformatige Steinplatten eines opus-sectile-Bodens.37 Der Haupteingang des Gebäudes lag vermutlich auf der Nordseite.38 Er bestand aus zwei 1,7 m breiten Türen.39 Die Mauertechnik ist durch einen in trockenem Zustand reinen, weißen und festen Mörtel gekennzeichnet.40 Die Halle hatte eine innere Gesamtlänge von rund 38 m,

31 Vgl. ebd. Endemann glaubt nicht nur an Anknüpfung an römische Traditionen, sondern spekuliert sogar, dass eine römische Villa die Lage und auch das Arrangement der Gebäude ausschlaggebend mitbestimmt habe; vgl. Endemann, Steine des Anstoßes, S. 3. Es wurde auch schon geurteilt, dass mit dem Bau der Ingelheimer Pfalz neue Vorstellungen Gestalt annahmen, die den Focus besonders auf die Einbindung antikisierender Elemente setzten und klassische Formen rezipierten, was sich besonders an dem Halbkreisbau feststellen lasse; vgl. Gai, karolingische Pfalzanlage, S. 71–100, hier S. 86. In jedem Fall stehen die Gebäude in der Tradition antiker und spätantiker Kultur; vgl. Grewe, Die Pfalz Karls des Großen, S. 47–67, S. 59, S. 49 f. 32 Vgl. Grewe, Archäologie, S. 32. 33 Vgl. Sage, Ausgrabungen, S. 145. 34 Vgl. Grewe, Ausgrabungen, S. 158. 35 Vgl. ebd. 36 Vgl. ebd. 37 Vgl. ebd. Die Platten weisen Kantenlängen bis zu 11,5 cm auf und bestehen aus Kalkstein, Marmor sowie grünem und rotem Porphyr; vgl. ebd., S. 158. Es wurde allerdings auch gemutmaßt, dass es sich aufgrund des geringen Vorkommens dieser Platten möglicherweise nur um einzelne Zierfelder gehandelt haben könnte; vgl. Grewe, Die Königspfalz, S. 145. Über den Fragmenten des Fußbodens der ersten Periode lag eine etwa 15 cm dicke Abbruchschicht, die planiert und befestigt das Gründungsniveau des zweiten Bodens bildete; vgl. Grewe, Bauliche Entwicklung, S. 107. 38 Vgl. Grewe, Ausgrabungen, S. 158. 39 Vgl. Grewe, Archäologie, S. 36. 40 Vgl. Sage, Ausgrabungen, S. 151.

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einschließlich der Apsis.41 Anhand von zwei Fenstern, die in der Apsis noch erhalten sind, kann die Fensterreihe rekonstruiert werden, die in selbiger vorhanden war und vier Fenster aufwies.42 Bereits 1909 wurde festgestellt, dass das Mauerwerk Reste einer Verputzung trug.43 Jedoch belegen 3.000 Fragmente von zum Teil mehrfarbig bemaltem Wandputz keineswegs ein aufwändiges figürliches Bildprogramm, wie es Ermoldus Nigellus annahm.44 Sollten stattdessen jedoch Wandteppiche vorhanden gewesen sein, dann hätte dies sicherlich Auswirkungen auf die Nachhallzeit und damit auf die Akustik gehabt, da die Teppiche Schall deutlich stärker absorbieren als eine kahle Wand, was die Schallreflexion verringert und damit den Nachhall reduziert.45 Letzterer ist aber in erster Linie für Verständnisschwierigkeiten in einem Innenraum verantwortlich, weshalb eine Reduzierung desselben zu einem etwas besseren Verstehen führen dürfte, wenngleich verbale Äußerungen durch die Teppiche ein wenig leiser sein mögen, denn schließlich erhöht der Hall die Lautstärke dieser Äußerungen. Zumindest für die Aula regia in Paderborn gibt es literarische Hinweise auf Wandteppiche, die eindeutiger sind als die Ausführungen des Ermoldus Nigellus über Ingelheim.46 Wie bereits dargelegt, soll die Aula regia im Rahmen dieser Untersuchung in erster Linie als Rederaum begriffen werden. Als sich Thomas Haye vor rund zehn Jahren mit spätmittelalterlichen Gesandtschaftsreden befasste, kam er zu dem Urteil, dass „der moderne Betrachter nur noch einen Teil der oratorischen actio greifen“ könne, und zwar die verbale, also die textuelle Kommunikation, „während die für die Rhetorik so bedeutenden, gleichzeitig ablaufenden nonverbalen Bereiche von Mimik und Gestik sowie die akustische Qualität des Gesprochenen nicht rekonstruierbar“47 seien. Letzteres lässt sich anhand der Möglichkeiten, die eine Zusammenarbeit mit Akustikern und Architekturhistorikern offeriert, nicht aufrechterhalten, insbesondere nicht im Angesicht des technischen Fortschrittes. Die akustische Rekonstruktion einer Gesprächssituation, auch einer mittelalterlichen, ist mittlerweile durchaus bis zu einem gewissen Grad möglich, wenngleich natürlich die stimmliche Qualität eines mittelalterlichen Sprechers nicht präzise ermittelt werden kann. Da es eine bauliche Rekonstruktion der Aula regia auch 41 Vgl. ebd., S. 152. Die Aula regia umschloss das größte Innenraumvolumen aller Pfalzgebäude, das weder vertikal durch Geschossebenen noch horizontal durch eine mehrschiffige Binnengliederung unterteilt war; vgl. Grewe, Die Pfalz Karls des Großen, S. 52. 42 Vgl. Sage, Ausgrabungen, S. 152. 43 Vgl. Rauch, Nieder-Ingelheim, S. 4. 44 Vgl. Grewe, Archäologie, S. 36. In dieser Hinsicht wurden bereits Parallelen zwischen den Königshallen in Ingelheim und in Paderborn gezogen; vgl. Preissler, Zu den Wandputzfragmenten, S. 106. 45 Jacobsen hielt Wandteppiche für möglich; vgl. Jacobsen, Herrschaftliches Bauen, S. 93. 46 Das Paderborner Epos erwähnt sie jedenfalls: Karolus Magnus et Leo papa, ed. Brunhölzl, S. 96, V. 524: Clara intus pictis conlucet vestibus aula. Antonella Sveva Gai sieht eine „gewisse Wahrscheinlichkeit der hier beschriebenen Objekte“, auch wenn sich der Text an antiken Vorbildern wie Vergil orientiert; vgl. Gai, karolingische Pfalzanlage, S. 71. 47 Vgl. Haye, Lateinische Oralität, S. 136.

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zukünftig nicht geben wird,48 macht eine akustische Rekonstruktion Sinn, nicht zuletzt auch im Hinblick auf eine mögliche museale Präsentation in Ingelheim. Jacobsen urteilte, dass die Inszenierung herrscherlicher Macht die inhaltliche Grundlage gewesen sei, nach der sich die Ausstattung der Räume und die architektonische Gestalt einer Aula regia zu richten gehabt hätte.49 Trifft dies auch in akustischer Hinsicht zu? Unsere Untersuchungen sollen also die akustische Eignung der Räumlichkeiten für historische Redesituationen ermitteln. Die akustische Rekonstruktion könnte auch bei der Suche nach der Position des Vorlesers behilflich sein, da wohl kaum anzunehmen ist, dass der Herrscher die Urkunden selbst vortrug. Positionierte man den Vorleser aufgrund eines möglichen akustischen Vorteils in der Apsis und damit auf derselben Höhe, auf der sich der König bzw. Kaiser befand? Dies würde dem Redner sicherlich zusätzliche Autorität verschaffen, jedoch ist wohl eher nicht davon auszugehen, dass er unmittelbar bei dem Herrscher stand, sondern evtl. ein wenig schräg vor ihm. Eine derartige Position zeigt eine Buchmalerei in der sogenannten Vivian-Bibel.50 Auch eine Darstellung aus dem Utrechter Psalter, auf der möglicherweise Moses zum Volk Israel spricht bzw. etwas vorliest, wobei er erhöht vor einem Stuhl steht, könnte eine solche Interpretation unterstützen.51 Andererseits mag dagegen eingewendet werden, dass dem Redner eine Position innerhalb der Apsis nicht zusteht. Hätte eine Positionierung vor der Apsis akustische Auswirkungen? Für die Erstellung einer ersten akustischen Rekonstruktion der Aula regia wurde mithilfe der Programme Rhinoceros 3D sowie SketchUp ein Modell des Gebäudes erstellt, das in reduzierter Form insbesondere den Innenraum simuliert und visuell darstellt.52 Wichtig war es hierbei, Größen wie Länge, Breite und Deckenhöhe des Raumes zu erfassen. In einem zweiten Arbeitsschritt wurde dieses Modell dazu genutzt, um unter Verwendung der Software ODEON den Raum akustisch zu simulieren. Hierzu wurden den Oberflächenmaterialien, wie etwa dem Wandputz, der sich auf den Kalksteinmauern befand, aber auch den anderen Elementen, wie der angenommenen Holzkassettendecke, Absorptionsgrade zugewiesen, die angeben, wie stark etwa eine Wand den Schall reflektiert oder absorbiert. Schließlich wurden Redner- wie Hörerpositionen definiert und die 48 Vgl. Grewe, Forschen, S. 57 f. 49 Vgl. Jacobsen, Herrschaftliches Bauen, S. 94. 50 Die Person ist aufgrund der fehlenden Tonsur und ihrer Gewandung klar als Laie zu erkennen. Sie hält sicherlich in diesem Moment keine Rede, doch legt ihre Position und ihr Auftreten zumindest die Vermutung nahe, dass Vorleser zu karolingischer Zeit an vergleichbarer Position gestanden haben könnten; vgl. Paris, BnF, Ms. Lat. 1, S. 423r. 51 Vgl. Utrecht, Universitätsbibliothek, Hs. 32, S. 43r. 52 Für die Erstellung der akustischen Simulation und der Auralisation der Aula regia in Ingelheim bin ich dem Fraunhoferinstitut in Stuttgart und dort insbesondere Xiaoru Zhou zu großem Dank verpflichtet. Zu danken ist außerdem Verena Stappmanns, ohne die das benötigte Modell der Aula regia nicht hätte erstellt werden können. Danken möchte ich auch unseren Studierenden Kristina Stilz sowie Moritz Grimm für ihre Vorarbeiten.

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Lautstärke des Ersteren festgelegt, wobei man sich für 75 dB (A) entschied, was lautem Sprechen entspricht, das noch nicht in Schreien übergeht. Die so gewonnene akustische Simulation legt dar, wie gut verbale Äußerungen an einer bestimmten Hörerposition verstanden werden konnten, indem sie die Verständlichkeit anhand des Speech-Transmission-Index aufzeigt. Die Frage ist also, ob an einigen Positionen innerhalb der Aula regia das Gesprochene durch den Nachhalleffekt derart beeinträchtigt wurde, dass es nicht mehr verstanden werden konnte. Für den Speech-Transmission-Index (STI), der die Sprachverständlichkeit beim Hörer beschreibt, gilt, dass der relevante Bereich des STI zwischen 0,3 und 0,5 liegt, wobei Sprachsignale die unter 0,3 liegen, nicht mehr zu verstehen sind, während diejenigen, deren STI-Wert über 0,5 liegt, perfekt zu verstehen sind. Die Schwelle hinsichtlich der Wahrnehmung von Unterschieden zwischen verschiedenen Ausprägungsgraden des STI liegt bei etwa 0,03.53 Eine so erstellte akustische Rekonstruktion der Aula regia zeigt tatsächlich, dass ein Redner (P2), der in der Apsis, unmittelbar vor den Stufen, und damit etwas vor dem Herrscher (M4), positioniert ist, ganz am Ende der Halle in der Tat etwas besser zu verstehen ist, als ein Redner (P1), der außerhalb der Apsis steht, wobei der Unterschied anhand des Speech-Transmission-Index (STI) allerdings lediglich 0,01 beträgt, was kaum wahrnehmbar sein dürfte.54 Was den Schalldruckpegel angeht, der die Stärke eines Schallereignisses anzeigt, so beträgt dieser an derselben Stelle bei erhöhtem Redner 49,8 dB (A) und im anderen Fall 49,6 dB (A). Die Positionierung innerhalb der Apsis brachte also zwar einen heute messbaren, in der damaligen Realität jedoch nicht wahrnehmbaren akustischen Vorteil, was allerdings auch dem Umstand geschuldet ist, dass für unsere Simulation davon ausgegangen wurde, dass der Redner nicht direkt beim Herrscher stand, der selbst als Redner die beste Akustik gehabt haben dürfte. Lediglich ein Hörer (M1), der sehr weit vorn stand, hätte einen kleinen Unterschied wahrgenommen, wenn der Redner von der Apsis aus sprach. Hier beträgt der Unterschied in STI immerhin 0,03 im Vergleich zu einem Sprecher, der außerhalb der Apsis vor deren Stufen stand.55 Dennoch ist der Unterschied auch hier sehr gering, beide Rednerpositionen (P1, P2) erreichen für unseren Hörer (M1) mit Werten in STI von 0,53 bzw. 0,56 einen 53 Vgl. z. B. Mapp, Designing, S. 1394 mit Fig. 40–12; Friesecke, Audio-­Enzyklopädie, S. 869. 54 Zu den Ergebnissen vgl. den Anhang zu diesem Aufsatz. Für die Stimme wurde eine Totalleistung von 75 dB (A) angenommen, der Schalldruckpegel erreicht damit bei 1 m ca. 56 db (A). Es wurde weiterhin davon ausgegangen, dass die Halle über eine Holzkassettendecke verfügte, die nicht sehr dicht war. Ihre Absorptionskoeffizienten betragen α = 0, 36 bei einer Frequenz von 63 Hz, α = 0, 44 bei 250 Hz, α = 0, 31 bei 500 Hz, α = 0, 4 bei 2000 Hz und α = 0, 24 bei 8000 Hz. Hinweis: Der Absorptionskoeffizient α gibt an, wie groß der absorbierte Anteil des einfallenden Schalls ist. Bei α = 1 wird der gesamte einfallende Schall absorbiert, bei α = 0 findet hingegen überhaupt keine Absorption statt, was bedeutet, dass dann der einfallende Schall komplett reflektiert wird. Für die Wände wurde davon ausgegangen, dass diese einen Wandputz aufwiesen, und dass ihre Absorptionskoeffizienten zumeist ungefähr um α = 0, 08 betragen. 55 Für unseren Fall wurde allerdings ein Redner (P2) angenommen, der von unserem potentiellen Hörer (M1) ein wenig weiter weg steht als der Redner innerhalb der Apsis (P2).

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Grad an Sprachverständlichkeit der völlig ausreichend ist, da er über 0,5 liegt. Auch im Hinblick auf den Schalldruckpegel ist der Unterschied mit 53,7 dB (A) im Vergleich zu 55,5 dB (A) nicht groß. Der akustische Befund stützt damit die These nicht, dass der Redner an einer Position im vorderen Bereich der Apsis stand, wenngleich er sie natürlich auch nicht negiert. Als Argument für eine erhöhte Position bliebe damit lediglich die buchstäblich erhöhte Autorität, die der Vorleser dann gehabt hätte. Fraglich bleibt, ob dies ausreichte, denn auch auf dem Bild in der Vivian-Bibel steht die oben genannte Person in einer anderen, als hierarchisch niedriger zu klassifizierenden Ebene, als der Herrscher und seine unmittelbare Umgebung.56 Die kombinierte Betrachtung aus Bildmaterial und akustischer Untersuchung würde damit eher darauf hindeuten, dass der Redner vielleicht doch vor den Stufen der Apsis stand. In mittelalterlichen Gebäuden verursacht insbesondere der vorhandene Hall Verständnisschwierigkeiten. Für unsere Untersuchungen wurden verschiedene Hörerpositionen betrachtet. War im hinteren Bereich der Königshalle noch etwas zu verstehen? Die Rekonstruktion bestätigt insgesamt tatsächlich, dass die Aula regia, in vollbesetztem Zustand, ein für Redeakte verschiedener Art geeignetes Gebäude war. Die Nachhallzeit, die, je nach Frequenz, durchaus etwas über 2 s liegt, lässt den Repräsentationsraum karolingischer Herrscher als Räumlichkeit erscheinen, die theoretisch etwa auch für Orgelmusik geeignet wäre. Auch die äußerst gleichmäßige Schalldruckpegelverteilung ist günstig. Sie ist zudem nicht positionsabhängig – in der Königshalle können problemlos Reden von anderen Orten als der Apsis gehalten werden. Ein Hörer (M3), der sich im hinteren Bereich des Gebäudes befindet, hat bei vollbesetztem Haus, wenn der Redner vorn spricht, immerhin noch einen STI-Wert von 0,48 bis 0,49, was durchaus verständlich ist. Eine Person, die über einen eher niedrigen sozialen Rang verfügte und daher ganz hinten stand, war demnach akustisch nicht gravierend benachteiligt. Der Kaiser hat an seiner angenommenen Position mit die besten STI-Werte. Die an diesem Ort gemessene Sprachverständlichkeit fällt in unserer Untersuchung nie unter 0,5. Jedoch hat auch ein in der Mitte platzierter Zuhörer (M2) sehr gute Werte zu verzeichnen, was abermals unterstreicht, dass das Gebäude für Redeakte verschiedener Art gut geeignet war. Es war damit über repräsentative und rituelle Funktionen hinaus ein Ort, an dem das gesprochene Wort wirken konnte. Dass hierbei ein Hörer, der sehr weit vorn stand (M1), bei der Sprachverständlichkeit sehr gute Werte aufzuweisen hat, darf nicht überraschen, zumindest wenn von vorn gesprochen wurde. Sollte sich, etwa in Form einer Debatte, ein Redner von etwas weiter hinten, etwa auf mittiger Höhe (P3), zu Wort gemeldet haben, dann hätte jener Zuhörer diese Äußerungen jedoch spürbar schlechter verstanden, und zwar mit einem STI-Wert von 0,48, was um 0,5 bzw. 0,8

56 Vgl. Paris, BnF, Ms. Lat. 1, S. 423r. Karl der Kahle und seine nächsten Vertrauten wie auch seine Leibwache befinden sich regelrecht auf einem himmlisch anmutenden Untergrund, der aus Wolken besteht, und sie sind damit etwas von der restlichen Welt entrückt.

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schlechter liegt als bei den Rednern weiter vorn. Jedoch dürfte auch dieser Wert noch im verständlichen Bereich liegen. Insgesamt ergibt der Befund also, dass die STI-Werte der hier untersuchten Redesituationen nur selten unter 0,5 fallen, im schlechtesten Fall erreichen sie einen Wert von 0,48. Die Halle weist damit eine völlig ausreichende Akustik auf. Sie war für die in den Schriftquellen beschriebenen verbalen Handlungen geeignet und wurde sicherlich auch dementsprechend genutzt. Selbst ein komplizierter und langer lateinischer Satz, der vom Urkundenpergament abgelesen wurde, wäre für einen lateinkundigen Hörer noch zu verstehen gewesen, wenngleich dies ganz am Ende der Halle ein wenig schwieriger gewesen sein mag. Unsere Urkunde vom 27. Juli 823 war damit für die architektonische Umgebung, in der sie mutmaßlich vorgetragen wurde, geeignet, was möglicherweise kein Zufall ist. Da nicht zu erwarten war, dass ihr Vorleser mit übermäßig viel Nachhall zu kämpfen hatte, war bei ihrer Abfassung hierauf wohl auch keine Rücksicht genommen worden. Es wäre sicherlich interessant zu sehen, ob in anderen Fällen Text auf Architektur anders reagierte. Die Ergebnisse legen außerdem nahe, dass Sprechhandlungen in der Aula regia mehr als nur visuell sichtbares Zeremoniell waren. Worte, die hier geäußert wurden, konnten in der Tat ihre Wirkung entfalten, konnten Politik machen, Recht setzen und die Welt verändern.

Abb. 1: Positionen der Redner P1, P2 und P3 sowie der Zuhörer M1, M2, M3 und M4. © Boris Gübele, Xiaoru Zhou.

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Position

Redner P1, vorn STI/SPL dB(A)

Redner P2, in der Apsis STI/SPL dB(A)

Redner P3, hinten STI/SPL dB(A)

M1 (vorne)

0,53/53,7

0,56/55,5

0,48/51,6

M2 (Mitte)

0,51/52,3

0,51/52,3

0,65/54,1

M3 (hinten)

0,48/49,6 (schlechteste Übertragung)

0,49/49,8

0,49/50,5

M4 (Kaiser)

0,52/53,5

0,82/61,4 (beste Übertragung)

0,50/51,3

Ergebnisse anhand des Speech-Transmission-Index (STI) sowie des Schalldruckpegels (SPL)

Abkürzungen BnF – Bibliothèque nationale de France dB – Dezibel DD – Diplomata Hz – Hertz MGH – Monumenta Germaniae Historica Poetae – Poetae Latini medii aevi SPL – Schalldruckpegel SS rer. Germ. – Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum separatim editi STI – Speech-Transmission-Index Quellenverzeichnis Annales regni Francorum, ed. Friedrich Kurze (= MGH SS rer. Germ. 6), Hannover 1895. Bündner Urkundenbuch, ed. Elisabeth Meyer-Marthaler, Franz Perret (= Bündner Urkundenbuch 1), Chur 1955. Die Urkunden der Karolinger, ed. Engelbert Mühlbacher (= MGH DD Kar. 1), Hannover 1906. Die Urkunden Ludwigs des Frommen, ed. Theo Kölzer (= MGH DD Kar. 2,1), Wiesbaden 2016. Ermoldus Nigellus, Poème sur Louis le pieux, ed. Edmond Faral (= Les Classiques de l’histoire de France au moyen âge 14), Paris 1932. Karolus Magnus et Leo papa, ed. Franz Brunhölzl (= Studien und Quellen zur westfälischen Geschichte 8), Paderborn 1966. Paris, Bibliothèque nationale de France (BnF), Ms. Lat. 1, S. 423r. Poeta Saxo, Annales de gestis Caroli Magni imperatoris, ed. Paul von Winterfeld (= MGH Poetae 4,1), Berlin 1899. Ratpert, Casus sancti Galli, ed. Hannes Steiner (= MGH SS rer. Germ. 75), Hannover 2002. Utrecht, Universitätsbibliothek, Hs. 32, S. 43r.

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2. Wahrnehmung von Lautsphären

Klang – Raum – Bewegung Wahrnehmungsweisen lautlicher Sphären in Konrads von Würzburg Partonopier und Meliur Almut Schneider

Die Wahrnehmung von ‚Klangbildern‘ spielt in der Kultur des Mittelalters eine bedeutsame Rolle. Sie ist in der mediävistischen Forschung in den letzten Jahren zunehmend in den Blick geraten, so etwa im Kontext der Diskussion um Hören und Hörgemeinschaften mit dem Ansatz, das Mittelalter „auch als auditives Zeitalter zu erkunden“.1 In historischer Perspektive lässt sich fragen, inwieweit diese ‚Klangbilder‘ der mittelalterlichen Wahrnehmung hörbarer Reize entsprechen, welche akustischen Signale gesendet und unter welchen Bedingungen sie empfangen wurden. Doch mittelalterliche Klänge sind uns vielfach nur vermittelt zugänglich – in ihren medialen Transformationen, die sich in Bildern und Texten aufzeigen lassen. Der Begriff der ‚Klangbilder‘, mehr noch der der ‚Lautsphären‘ motiviert, der Verbindung von Klang und Raum in Texten des Mittelalters nachzuspüren. Wie also wurden klangliche Phänomene literarisch inszeniert? Mein Beitrag möchte dieser Frage am Beispiel eines späthöfischen Romans nachgehen. Ziel ist es zu beschreiben, in welche Deutungshorizonte literarisch entworfene Lautsphären und Klangbilder eingebunden sein können. Am Rande einer Stadt oder mittendrin. Die Elektrizität, die gerne grell leuchtet, dröhnt und surrt, summt und brummt, Elektromechanik rattert und prallt, die Glasscheiben erzittern – ganze Zitadellen aus Stahlbeton, verschalt von gläsernen Panzern. Aus Schießscharten knallen Membranen ihren Schall über die Straße, Verbrennungsmotoren brummen in sanft surrend-wiederholten Detonationen, Werbebotschaften suchen auf akustischem Wege ihre Zielgruppe, sie zu treffen. Menschen tauschen sich darüber aus, was sie wahrnehmen, empfinden, sehen, schmecken, hören: Wir wollen uns mitteilen, beeindruckt, erschrocken, erfreut über ein Ereignis in Klang.2

Mit dieser Skizze leitet Holger Schulze seinen Einführungsband Sound Studies ein: mit der Beschreibung einer modernen Stadt in ihrer klanglichen Vielfalt, vor der es kein Entrinnen gibt. Klänge umgeben denjenigen, der sich in ihr bewegt. Die Klangbilder einer mittelalterlichen Stadt differieren sicher grundlegend von der Klangkulisse moderner 1 Vgl. die Beiträge in: Bennewitz, Layher, der âventiuren dôn, das Zitat ebd., S. 7; Ackermann, Bleumer Gestimmte Texte; Layher, sô süeze was der schellen klanc. 2 Schulze, Über Klänge sprechen, S. 9.

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Städte, doch auch dort geht es nicht lautlos zu, verleihen doch allein die Handwerksstätten der Stadt ihr lautliches Gepräge.3 Umso bemerkenswerter ist es, wenn es in einer mittelalterlichen Stadt fast nichts zu hören gibt. Ein junger Mann, genauer ein Knabe von dreizehn Jahren, durchstreift eine Stadt, in die er auf abenteuerliche Weise gelangt ist: auf der Jagd in einem Wald verirrt, hat er zur Orientierung einen Berg bestiegen, um von dort aus das Meer zu erblicken, den Strand mit einem Boot. Er läuft hinab und besteigt das unbemannte, aber kostbar ausgestattete Boot, das sogleich ablegt und ihn auf eine Insel entführt. Er erreicht eine Stadt, am Fuß einer Burg gelegen, die eine überwältigende visuelle Wahrnehmung auslöst: vil schiere spürte er unde sach eine burc und eine stat bî dem mer, daz man getrat in zwô schœner veste nie. von in beiden verre gie durchliuhtic unde liehter schîn. vil reine und ûz der mâzen fîn wârens unde dûhten. si glizzen unde lûhten als ein gestirne wünniclich.4 (V. 776–785) Bald darauf nahm er eine Burg und eine Stadt am Meer wahr, von solcher Art, dass man niemals je zuvor in zwei schönere Befestigungsanlagen hätte eintreten können. Von beiden ging ein vollständig strahlender und heller Glanz aus. Sie waren vollkommen schön und über die Maßen zierlich, sie glänzten und leuchteten wie ein wunderbares Gestirn.5

Die Stadtbefestigung mit ihren Mauern, Toren und Türmen erstrahlt in hellem Glanz von Gold und Lapislazuli, die Wände sind mit einem Schachbrettmuster aus rotem und weißem Marmor geschmückt. Das Boot legt an und der junge Ritter, ein Herzogssohn, durchreitet die Gassen der Stadt, um sie vollständig anzusehen, beschowen ûf ein ende (V. 805) heißt es im Text. Er entdeckt wunderbare Versammlungshäuser, die von innen heraus leuchten, von außen aber mit vielfarbigem Marmor verziert sind, rot, weiß, blau, grün und gelb gefärbt. Die Dächer, nicht mit Ziegeln, sondern mit reinstem Silber gedeckt, gleißen im Sonnenlicht wie Spiegel. Die Kugeln der Turmspitzen sind aus Gold gewirkt, die Leibungen der Fenster an den Wohngebäuden aber sind mit Steinmetzarbeiten in Form von Löwen und anderen Tieren gestaltet. An den Vorhallen und 3 Vgl. dazu die Beiträge im 3. Kapitel: „Lautsphäre der Spätmittelalterlichen Stadt“ in diesem Band. 4 Konrads von Würzburg Partonopier und Meliur, hg. von Karl Bartsch, 1871. 5 Übersetzung der Verfasserin.

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Laubengängen finden sich Skulpturen und Reliefs, teils mit Gold und Lapislazuli verziert, die einzelne Figuren, aber auch Geschichten darstellen: mit lâsur und mit golde / was vil an dem gemiure / der alten aventiure / gemâlet harte reine (V. 858–861). Ihre Themen benennt der Text nicht, doch wären sie ein klassischer Ort etwa für eine Darstellung des Trojanischen Krieges.6 Dies alles ist so kunstvoll gestaltet, dass man nirgendwo sonst so prachtvolle Wohnhäuser hätte sehen können. Dazu sind die Straßen in einer Weise gepflastert, dass es, wenn es regnet, scheint, als strahlten sie wie Glas. Einmal mehr zeigt sich, dass die erlesensten Kunstwerke, in diesem Fall die schönsten Bauwerke, solche sind, die nur durch Sprache hervorgebracht werden.7 man dorfte weder ê noch sît beschouwen nie deheine stift sô gar durchliuhtic, sô diu schrift und diz maere von ir zelt. si was gelesen und erwelt ûz allen houbetvesten ein ouge mohte ir glesten kûme erlîden und vertragen. si was gereinet und getwagen mit den wunsches hende vor aller missewende und schein iedoch diu burc dar obe an schœnheit rîcher unde an lobe. (V. 872–884) Weder zuvor noch später hätte man je eine so strahlende Burg besichtigen können wie diejenige, von der die Schrift und diese Geschichte hier erzählen. Sie war erlesen und auserwählt vor allen Hauptstädten; das Auge konnte ihr Strahlen kaum erdulden und ertragen. Sie war von jedem Makel mit den Händen aller Vollkommenheit gereinigt und gewaschen – und doch erschien die Burg oberhalb der Stadt an Schönheit und Pracht noch vollkommener zu sein. 6 So trifft in Vergils Aeneis der trojanische Held bei seiner Ankunft in Karthago auf einen Tempelfries mit einer solchen Darstellung (V. 446–493). Vgl. Publius Vergilius Maro, Aeneis, S. 38 f. An prominenter Stelle in der deutschen Literatur des Mittelalters findet sich der Trojanische Krieg auf Enites Pferdedecke in Hartmanns Erec ebenso ins Bild gesetzt wie auf dem Pokal in Konrad Flecks Flore und Blanscheflur und auf der Kappe des Meier Helmbrecht. Hartmann von Aue, Erec, V. 7454–7551; Konrad Fleck, Flore und Blanscheflur, V. 1587–1643; Wernher der Gartenaere, Helmbrecht, V. 45–56. Zu den Trojanischen Bildeingängen in mittelalterlicher Literatur Wandhoff, Ekphrasis. 7 Diese Zuschreibung nimmt Konrad selbst für Gewänder vor, die durch Sprache so kunstvoll und fein gewoben sind, dass sie kein Abbild in der Realität haben können. Vgl. Krass, Geschriebene Kleider, S. 374; Schneider, Das textile Gewebe des Krieges, S. 163–183.

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Die Stadt strahlt, glänzt, gleißt in einer Weise, dass das Auge den Anblick kaum ertragen kann.8 Zu hören aber gibt es nichts. Dies setzt sich im palas, dem Wohnhaus der Burg, fort. Einzig die wol gespraechiu zunge (V. 552) des Knaben, mit der er um Gottes Beistand bittet, ist wohl auch zu hören.9 In der Stadt aber erklingt kein Geräusch. Mit der Doppelformel spürte unde sach (V. 776) hebt Konrad immer wieder hervor, dass das Sehen sich hier mit einer Form der Wahrnehmung verbindet, die Geschmack, Geruch und den Tastsinn zu umschließen scheint zu einer umfassenden Sinneswahrnehmung, die das Hören allerdings ausspart. Umso bedeutsamer erscheint der Moment, in dem eine Stimme erklingt. Der höfische Roman, um den es hier geht, ist Partonopier und Meliur, verfasst von Konrad von Würzburg, einem außerordentlich vielseitigen, kunstreichen und sprachgewandten Dichter des dreizehnten Jahrhunderts, gestorben um 1287 in Basel.10 Konrad greift hier den in der zweiten Hälfte des zwölften Jahrhunderts von einem unbekannten Autor zur Verherrlichung des Hauses Blois-Champagne geschaffenen, mehrfach in die Volkssprache übertragenen altfranzösischen Roman Partonopeus de Blois auf, wobei er der Vorlage zum Teil sehr genau folgt, darüber hinaus aber – wie in allen seinen Werken – eigene Akzente setzt. Auch hier lässt sich festhalten, wie Klaus Grubmüller für die Novellistik herausgestellt hat: „Konrad schafft sich die Formen für seine Themen selbst.“11 Konrad verwendet eine Vorlage, die der erhaltenen Pariser Handschrift aus dem 14. Jahrhundert nahesteht.12 Der Partonopeus de Blois entstand wohl in den Jahren um 1182–85 und umfasst in 11.000 Versen die Geschichte Partonopeus’, des Grafen von Blois und Angers. Dessen Abstammung reicht zurück auf den trojanischen König Priamos, und er ist ein Neffe des Merowingers Chlodwig, des Begründers des fränkischen Königreiches. Auf einem wunderbaren Schiff in den Orient entführt, wird Partonopeus dort der Geliebte von Melior, der zauberkundigen Erbin des byzantinischen Reiches. Allerdings teilt sie ihre Nächte mit ihm nur unsichtbar und verbietet ihm jeden Versuch, sie zu Gesicht zu bekommen. Von seiner Mutter angestachelt, verletzt Partonopeus das Gebot und muss Melior verlassen. Zum Sterben entschlossen, wird er im letzten Moment gerettet und kann schließlich die Geliebte zurückgewinnen und heiraten. Der altfranzösische Roman zeichnet sich damit durch eine intertextuelle und gattungsüber  8 Diese „Überfülle des Sichtbaren“ fasst Hartmut Bleumer als „eine Art visuelles Rauschen, in dem der Held keinen Begriff vom Gesehenen mehr gewinnen kann.“ Vgl. Bleumer, Entzauberung des Wissens, S. 217. Hartmut Bleumer führt seine Überlegungen mit Blick auf Hans Blumenberg auf eine Inkongruenz von ästhetischer Neugierde und Reflexion, die zur Auf­ lösung von Wissen führt. „Wenn Partonopier der sprachlichen Rationalisierung des Unsichtbaren vertraut, verfällt er in Wahrheit einem Mythos.“ Ebd., S. 221.  9 Hübner, wol gespraechiu zunge, S. 215–234. 10 Vgl. Brunner, Art. „Konrad von Würzburg“, Sp. 272–304. 11 Grubmüller, Die Ordnung, der Witz und das Chaos, S. 155. 12 Vgl. Brunner, „Konrad von Würzburg“, Sp. 295; Hübner, wol gespraechiu zunge, S. 217 und Anm. 6.

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schreitende Orientierung aus, denn er vereint Elemente des Antikenromans mit denen der Fin’amor, der Suche also nach der vollkommenen Liebe, wie sie in den Chansons der provenzalischen Troubadours besungen wird, und solchen des höfischen Erzählens der matière de Bretagne.13 Im Zentrum des Textes steht das Erzählmotiv von der ‚gestörten Mahrtenehe‘, der Verbindung eines Menschen mit einer übernatürlichen Partnerin, wie es in der Antike durch den Mythos von Amor und Psyche vorgebildet ist, sich aber auch in keltischen Erzählungen findet.14 Die Begegnung mit einer anderweltlichen, feenhaften Frau fern vom Hof in einem unzugänglichen Raum, ausgelöst durch die Initiative der Frau, die den Mann in ihr Reich lockt, die Verbindung der beiden unter der Vorgabe eines Tabus, zumeist eines Sehtabus, der Tabubruch, der die Trennung des Paares zur Folge hat, Suchfahrt und Wiederfinden gehören zu diesem Erzählschema.15 Und doch wird das Motiv in den jeweiligen Erzähltraditionen in Variationen ausgestaltet, die einen markanten Umschlag erkennbar werden lassen: in der antiken Fabel, wie Apuleius sie erzählt, ist es das Mädchen, das ihrem Geliebten nur nachts begegnen darf, bei Konrad dagegen sind die Geschlechterrollen vertauscht. Partonopier ist der Jüngling, der, wie Anne Wawer herausgearbeitet hat, der Mädchentragödie entsprechend zur Ehe entführt wird.16 Partonopier steht damit an der Stelle Psyches, und so überkreuzen sich hier zwei Mythen: die Mädchentragödie mit ihren keltischen Spuren und der antike Mythos von Amor und Psyche. 1.

Mit dem Sehtabu, das den Kern der Liebe bestimmt wie auch gefährdet, erweist sich Konrads Roman als ein Text, der um Sehen und Sichtbarkeit kreist. Entsprechend wurde in der Forschung vielfach Sichtbarkeit als Kernthema des Partonopier hervorgehoben.17 Christoph Huber hat gezeigt, dass der Erzähler „ausdrücklich die Perspektivik des Sehens bewusst macht und zugleich relativiert. Das Leitmotiv des Sehens, das als eine der zentralen Metaphern den Hauptteil des Romans strukturiert und ausdeutet, wird so auf den Vorgang des Erzählens projiziert.“18 Ich schließe an seine Überlegungen an, möchte aber den Fokus auf das Sehen erweitern um eine Perspektivierung auf das Hören, um zu zei13 Schulz, Poetik des Hybriden. 14 Apuleius, Der Goldene Esel; Wawer, Tabuisierte Liebe, S. 1–10; Haug, Konrad von Würzburg, S. 345. 15 Zu Meliur als übernatürliche Partnerin, vgl. Eming, Geliebte oder Gefährtin? 16 Vgl. Wawer, Tabuisierte Liebe, S. 40–43 und S. 86–94. 17 So zuletzt durch Runow und Zimmermann, Von unsichtbarer Schönheit; Müller, Höfische Kompromisse, hier S. 283, bezeichnet Konrads Roman zu Recht als ein „Lehrstück der Sichtbarkeit“. 18 Huber, Brüchige Figur, S. 292.

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gen, dass es in diesem Roman nicht allein um Visualität geht – allerdings auch nicht um Auditivität, sondern um Wahrnehmungsweisen sinnlicher Eindrücke, die sich vielleicht als ‚synästhetisch‘ bezeichnen lassen könnten: um eine Wahrnehmung, die im besten Fall mit allen Sinnen aufzunehmen wäre – und um eine Störung derselben.19 Ich verfolge die Szene auf der Burg mit ihrem Ineinander von Sichtbarkeit und Stille weiter. Nachdem Partonopier im menschenleeren palas der Burg getafelt hat, von Händen unsichtbarer Träger bedient, wird er in ein Schlafgemach geleitet. War der den Protagonisten umgebende Raum von Stadt, Burg, palas und Kemenate zunächst von überbordender Sichtbarkeit geprägt, so wird nun das Licht gelöscht. Es gibt nichts mehr zu sehen, doch in diese Finsternis hinein erklingt eine Stimme. Denn bald darauf legt sich im Schutz der Dunkelheit eine wunderbare Frau zum Jüngling ins Bett. Es ist Meliur, die Herrin der Insel, die sich Partonopier als ihren Geliebten ausgewählt und dessen Überfahrt arrangiert hat. Lässt sie, nach einer Anrufung Mariens,20 zunächst nur Seufzer ertönen, so kommen die beiden bald in ein zunächst ängstliches und dann mehr und mehr forderndes und werbendes Zwiegespräch. Während Meliur verlangt, Partonopier möge die Kemenate verlassen, bittet Partonopier um Minne. Denn allein aufgrund ihrer Rede und ihrer Stimmqualität entbrennt Partonopier in Liebe zu Meliur, noch ohne sie je gesehen zu haben: doch wizzet daz sîn herze bran nâch ir minne sam ein kol. er hôrte an ir gebære wol und an ir sprâche reine, daz nie wart von beine noch ûz fleische ein wîp geborn sô lûter unde als ûz erkorn sam diu minniclîche fruht. (V. 1536–1543) Doch sollt ihr wissen, dass sein Herz nach ihrer Liebe brannte wie ein Kohlenstück. Er hörte sehr gut an ihrem Gebaren und an ihrer klaren Sprache, dass nie zuvor eine so strahlende und auserwählte Frau aus Fleisch und Bein geboren worden war wie dieses wunderbare Geschöpf.

Inmitten einer Stadtarchitektur, voll blendender Schönheit und dennoch in absolutes Dunkel getaucht, ertönt eine Stimme, deren Klanglichkeit hervorgehoben ist. An zen­ 19 Huber, ebd., S. 287, führt die Wahrnehmungsstörung Partonopiers darauf zurück, dass Konrad „in seinem Roman ein gebrochenes, in divergierende Aspekte auseinanderfallendes Heldenbild ausarbeitet, das die Außen-Innen-Relation hochgradig problematisiert und didaktischer Eindeutigkeit entgegensteht.“ 20 Partonopier, V. 1321–1340.

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traler Stelle kommt die Stimme ins Spiel, die Unsichtbares wahrnehmbar werden lässt, in diesem Fall Meliurs Schönheit. Partonopier ‚sieht‘ über das Ohr, denn die Stimme verkündet ihm die Schönheit der Dame. Die Stimme, wie Dieter Mersch in anderem Kontext beschrieben hat, trägt eine „Spur des Körpers“, sie „eröffnet den Moment des Sagens“ als ein performativer Akt.21„In jeder Stimme wird so der Bogen zwischen der Leiblichkeit des Sprechenden und der Beziehung zum Anderen gespannt.“22 Denn die Stimme gibt sich preis, sie ist Gabe an den Anderen und setzt sich ihm aus: sie ist „Atemgeben und Selbstaussetzung“.23 Erst die „Artikulation macht dann aus der Stimme ein Instrument der Zeichenproduktion. Sie stellt sie in den Dienst der Sprache, die zwischen Körperlichkeit und Signifikanz oszilliert.“24 So ist die Stimme nicht allein Medialität des Zeichens, sie ist auch Laut, Leib, Augenblick. Partonopier aber geht noch einen Schritt weiter, indem er die Stimme mit dem Harfenklang des Orpheus vergleicht, des thrakischen Sängers, der als Erfinder der Musik gilt und mit dieser Kunst die Grenze zwischen Natur und Kultur, aber auch diejenige zwischen Leben und Tod überwinden kann: sô dunket iuwer sprâche doch   mîn herze unmâzen süeze noch, wan si nâch wunsche erhillet: si dœnet unde schillet durch daz ôre in den gedanc vil baz denn aller harpfen klanc, den Orfêus brâhte für. (V. 1599–1605) So erscheint Eure Sprache meinem Herzen doch als über alle Maßen süß, weil sie so vollkommen klingt: sie ertönt und schallt durch das Ohr bis ins Denken hinein, viel besser als aller Harfenklang, den Orpheus jemals hervorgebracht hat.

Der Vergleich zwischen der Stimme Meliurs und dem Instrumentalspiel des thrakischen Sängers unterstreicht die klangliche Qualität ihrer Rede, denn sie übertrifft nicht den Gesang, sondern das wortlose Harfenspiel des thrakischen Musikers. Auch die Liebessehnsucht macht sich erstmals im Seufzen bemerkbar (V. 1555–1559). So hebt ­Partonopier spezifisch den Klang der Sprache hervor, der als Überbietung der optima vox des Orpheus über das Gehör ins Zentrum des Intellekts vorzudringen vermag. Im Kern des Mythos trifft Partonopier auf Wissen und Eloquenz.25 Mit dem Orpheus-­ 21 Mersch, Präsenz und Ethizität der Stimme, S. 211. 22 Ebd., S. 213. 23 Vgl. ebd. 24 Ebd., S. 215. 25 Hübner weist darauf hin, dass Konrad im Prolog – als eine Besonderheit mittelhochdeutscher Prologtopik – über das horazische prodesse et delectare hinaus Eloquenz als diejenige Fertigkeit

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Vergleich fokussiert Konrad auf den wortlosen Aspekt einer Sprache, die eben nicht wie Gesang, wohl aber wie Harfenklang ertönt. Dieser Harfenklang jedoch wirkt unmittelbar ins Denken.26 Denn das Gehör führt auf ganz besondere Weise ins Innerste der Gedanken. Theoretisch fundiert wird dieser Satz bei Platon, der im Timaios ausführt, dass das Sehvermögen zur Philosophie leite, doch gelte dies in gleicher Weise für das Gehör. Ohne das Sehvermögen gebe es zwar „keine wissenschaftlichen Theorien über die Natur des All“, doch Platon weist der Stimme und dem Gehör dieselbe erkenntnisstiftende Funktion zu:27 Was Stimme und Gehör angeht, so gilt wiederum dieselbe Erklärung, dass sie uns dazu mit derselben Absicht von den Göttern geschenkt wurden: Die Sprache ist nämlich genau zu demselben Zweck geschaffen und trägt den größten Anteil dazu bei und ebenso alles, was uns durch den Klang der Musik für das Gehör nützlich um der Harmonie willen gegeben wurde. Die Harmonie aber mit ihren Bahnen, die den Umläufen der Seele in uns verwandt sind, ist für den, der im Einklang mit der Vernunft mit den Musen Umgang pflegt, nicht zu einer unvernünftigen Lust nützlich, wie sie heute allgemein betrachtet wird, sondern wurde uns von den Musen als Verbündete gegeben, um den in uns befindlichen unharmonischen Umlauf der Seele in Ordnung und in Zusammenklang mit sich selbst zu bringen. Und ebenso wurde uns der Rhythmus als Helfer zu demselben Zweck von denselben gegeben wegen der Neigung in uns, Maß und Anmut zu verfehlen.28

Das Hören eröffnet den Weg zum Denken, die Stimme aber erweist sich als ein Abbild der Seele. Der Blick auf den Orpheus-Mythos zeigt, dass die Stimme an der Gelenkstelle zwischen Mythos und Wissen steht.29 Mit der Orpheus-Reminiszenz ist die Thematik von Klang und Stimme zugleich auf die Musik als diejenige Kunst bezogen, die als Teil der septem artes liberales, als Kunst des Quadriviums, zugleich triviales und quadriviales Wissen im harmonischen Zusammenspiel in sich vereint.30 Auch in Meliurs Reich spielt Musik eine Rolle – doch erst bei Turnier und Hochzeitsfest als Teil der höfischen bezeichnet, die der Dichter vermitteln soll. Vgl. Hübner, wol gespraechiu zunge, S. 215 f.; dazu Bleumer, Entzauberung des Wissens. 26 Hübner, wol gespraechiu zunge, hat das rhetorische Potenzial der Figurenreden im Partonopier erschlossen, seinen Überlegungen zu deren diskursiver Eleganz möchte ich ergänzend die Dimension des Klangs zur Seite stellen; zur Philosophie der Stimme Lagaay, Zwischen Klang und Stille. 27 Platon, Timaios, hier Kommentar S. 225. 28 Ebd., S. 83–85. 29 Haas, Musikalisches Denken im Mittelalter, S. 71 f.; Ostheimer, Orpheus und die Entstehung einer Musiktheorie im 9. Jahrhundert. 30 Musik nimmt auch deshalb eine besondere Rolle im System der sieben freien Künste ein, weil sie das Zusammenspiel der trivialen und quadrivialen Künste selbst wiederum verkörpert. Vgl. Haas, Musikalisches Denken, S. 69–73.

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Festkultur.31 Denn Meliur ist vor allem eine Magierin des Blickes, des Sichtbaren wie der Einbildungskraft, denn von Kindheit an vermag sie goukelbilde (vgl. V. 8110) hervorzubringen, um ihrem Vater die Zeit zu verkürzen.32 So lässt sich festhalten: ­Meliurs Burg wie auch die ihr vorgelagerte Stadt zeichnen sich durch eine Überreizung von Visualität aus. Das Eigentliche aber darf nicht besehen werden, es verbirgt sich in der Stimme.33 In ihrem Zentrum, in der nächtlichen Begegnung, wird der Sehsinn ausgeschaltet, stattdessen gibt es die Berührung und den Klang einer Stimme, die von Liebe kündet und Unsichtbares wahrnehmbar werden lässt – aus ihrer Klangfülle innere Bilder hervorbringt. Mit der Überblendung von Klanglichkeit und Imagination in dem Moment und in dem Maße, in dem sich Schönheit nicht im Anblick, sondern durch das Gehör weist, schließt Konrad einmal mehr an Gottfrieds von Straßburg Tristan an. Zu denken ist an die Episode, in der Isolde vor der irischen Hofgesellschaft singt und dadurch bei allen Anwesenden Begehren auslöst, ausgenommen bei Tristan, der zum eigentlichen Ziel des Gesangs erst werden wird, hier aber zumindest explizit noch nicht affiziert ist. Isolde singt offenlîche (V. 8119) und zugleich tougen (V. 8125).34 Ihr verborgener Gesang ist ihre Schönheit, die durch die Augen ins Herz einzieht.35 So eignet dem Gesang Isoldes, der durch Ohren und Augen seinen Weg ins Herz nimmt, eine synästhetische Wirkung in der Weise, dass er alle Sinne zugleich berührt, und auch Isoldes Wirkung ist die der Magie: sô was der tougenlîche sanc ir wunderlîchiu schœne, diu mit ir muotgedœne verholne unde tougen 31 Partonopier, V. 14204–14209; V. 17405–17409. 32 In welcher Weise solche magischen Bilder auf die Seele wirken, hat Hans Jürgen Scheuer herausgestellt: „Bildmagie ist also mittelalterlich keine Hexerei, sondern eine Technik erotisch intensivierter Phantasmenproduktion in den Seelen der anderen, die der ars rhetorica, der ars dialectica und der ars poetica beziehungsweise der Musik und Bildenden Kunst nahesteht. In der Literatur um 1200 verdichten besonders der Minnesang und die phantastischen Erzählungen der matière de Bretagne im Artusroman diese Psychologie.“, Scheuer, Secundum phisicam et ad litteram, S. 258. 33 Hartmut Bleumer hat dies in erzähltheoretischer Perspektive überzeugend herausgearbeitet: „Dieser Medienwechsel von hörbarer Sprache zur sichtbaren Erscheinung ist entscheidend, denn er forciert die Mythifizierung des Erzählschemas und problematisiert in dessen Auflösung die theoretische Neugierde als dezidiert ästhetischen Prozess.“, Bleumer, Entzauberung des Wissens, S. 211. 34 Gottfried von Straßburg, Tristan und Isold, hg. von Haug † u. Scholz. Die breite Forschungsdiskussion zu dieser Episode kann an dieser Stelle nicht aufgearbeitet werden, vgl. den Kommentar von Haug und Scholz, ebd., Band 2, S. 458–463. 35 Vgl. Bleumer, Tristan und die generische Paradoxie, S. 54; Krass, Meerjungfrauen, S. 66; Layher, sô süeze was der schellen klanc.

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durch diu venster der ougen in vil manic edele herze sleich und daz zouber dar în streich, daz die gedanke zehant vienc und vâhende bant mit sene und mit seneder nôt. (V. 8122–28) Der heimliche Gesang hingegen, das war ihre wundersame Schönheit, die mit ihrer inneren Musik heimlich und verstohlen durch die Fenster der Augen sich in viele edle Herzen schlich und sie mit Zauber erfüllte, der die Gedanken leichthin fing und band und fesselte mit Liebe und sehnsuchtsvoller Qual.36

Hartmut Bleumer interpretiert den Sirenenvergleich Gottfrieds in der Weise, dass Isolde als Kristallisationsfigur der Lyrik schlechthin entworfen sei: „Isolde ist in jeder Hinsicht das Ideal der Minnelyrik. Sie emergiert in ihrem eigenen Gesang. Und wie die Sirene im Musenanruf des Erzählers wird sie später der Antrieb für Tristans Kunst, in der er selbst aufgeht.“37 Meliurs Welt dagegen ist gespalten in eine sichtbare, hell glänzende und eine unsichtbare, allein dem Ohr wahrnehmbare Welt. Ihre Schönheit ausgerechnet ist zunächst nur Teil dieser hörbaren Welt. Alles in ihrer strahlenden Burg ist auf Sichtbarkeit ausgelegt. Unendlich viel gibt es zu sehen, ein ganzer Herrschaftskosmos öffnet sich allein dem Auge dessen, der von den vier Türmen der Burg den Blick schweifen lässt. Einen ganzen Tag verbringt Partonopier mit nichts als dem Schauen – Meliurs Schönheit allerdings erkennt Partonopier über die Stimme, sie offenbart sich ihm über das Ohr.38 Die mittelalterliche Vorstellung von Wahrnehmung aber ist eine, die alle Sinne umschließt, deren Eindrücke erst im Inneren, in sensus interior aus den fünf äußeren Sinnen zu einer Einheit verschmelzen. Hier erst, so Daniel Heller-Roazen, vereinen sich die Eindrücke der Sinne zu einer Wahrnehmung, die synästhetische Bilder formt, die zwischen imaginatio, phantasia und memoria bewegt werden.39

36 Die Übersetzung folgt der Ausgabe von Haug und Scholz. 37 Zur Doppeldeutigkeit der Sirene, die im Tristan beides ist, Verführerin zum Tode und zugleich Sehnsuchtsfigur, vgl. Bleumer, Tristan, S. 54; zum Sirenenvergleich Gottfrieds mit den neun Musen vgl. Krass, Meerjungfrauen, S. 67 f.; Kern, Isolde, Helena, S. 1–30; Okken, Kommentar zum Tristan-Roman. 38 Unter dem Blickwinkel auf die im Roman entworfene Farbigkeit mit ihrer vielfältigen und changierenden Semantik kommt Corinna Virchow zu dem Ergebnis: „Ein ‚Erkennen‘ gelingt dem Protagonisten also nicht über das Sehen, sondern einzig in der Ohr und Tastsinn geschuldeten Sinnlichkeit im Dunkeln.“, Virchow, ‚Partonopier und Meliur‘ im Zauberlicht, S. 532. 39 Heller-Roazen, Der innere Sinn, S. 35–48.

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Mehrfach entwirft der Roman Klangbilder und Lautsphären, die die Stimme ins Zentrum einer Verschränkung von Hörbarkeit und zugleich Unsichtbarkeit setzen. Wenn es dabei um eine Disharmonie sinnlicher Wahrnehmung, um die Auflösung des ‚synästhetischen‘ Zusammenspiels aller Sinne geht, so ist dies lange vorbereitet. Gegenüber der Stadtarchitektur mit der prachtvollen Burg im Zentrum setzt der Roman den Wald in Opposition und greift damit auf die höfische Entgegensetzung der Kultur des umbauten Ortes mit der wilden Natur aus. Doch mit dem Einsetzen der Romanhandlung wird für den Protagonisten schon der Wald zu einem Raum, in dem sich die Einheit der sinnlichen Wahrnehmung aufzulösen beginnt. Partonopier, der Neffe des Königs von Kärlingen, bricht zur Jagd auf. Die Jagdhunde lassen ihre süezen Stimmen erschallen (V. 345). Zum Erstaunen seines Gefolges erlegt Partonopier trotz seiner Jugendlichkeit einen Eber. In höfischer Jagdmanier reizt er die Hunde durch das Blut des Ebers weiter zur Jagd, doch indem er ihnen durch den Wald nachsetzt, verliert er sein Gefolge. Als ihm dies bewusst wird, erscheint der Wald seltsam still. Bedrohliche Tiere sind zu sehen, auf einmal heißt es, der walt ist aller würme vol (V. 530). Unter ihnen befindet sich auch der Basilisk, von dem der Protagonist sagt, der totet mit den ougen. (V. 538). Partonopier sieht den Wald mit all seinen Gefahren – doch nimmt er ihn nicht akustisch wahr. Er steigt auf einen Berg, um sich einen Überblick zu verschaffen, und erblickt das Boot, das ihn auf die Insel Meliurs entführen wird. Die erste Aventiure Partonopiers, die Jagd des Jünglings im Wald, thematisiert den Zusammenhang von Emotionalität und Wahrnehmung. Denn erst im Moment der Angst wandelt sich der Wald Partonopiers vom höfischen Jagdrevier zum Ort voller Gefahr, erst dann werden wilde Tiere sichtbar.40 Anders gesagt: Partonopiers Angst findet Ausdruck in der bedrohlichen Fauna des Waldes, so etwa im Auftauchen von Basilisken, die mit dem Blick töten können. Der Wald zu Beginn der Romanhandlung ist nicht der wilde Wald höfischer Aventiure und auch nicht derjenige, in den sich der Ritter zurückzieht, der von der Gesellschaft verstoßen ist. Vielmehr erscheint er als ein Wald innerer Zustände, als Abbild einer inneren Disharmonie.41 40 In welcher Weise diese Angst ihren Ort in der Imagination des Jünglings besitzt, zeigt Bleumer, Entzauberung des Wissens, S. 214; Huber, Brüchige Figur, S. 290, unterstreicht, wie sehr im Partonopier – in Abwandlung der altfranzösischen Vorlage – die Autonomie des Erzählers zurückgenommen wird zugunsten eines Erzählens aus der Figurenperspektive. „Konrads Seelendarstellung bezieht eine wesentliche Qualität aus dem amplifizierenden Verfahren, das an der Oberfläche der Textausarbeitung nicht streng gezügelte assoziative Denkbewegungen zulässt.“ Aus dieser Beobachtung erschließt Huber eine „nicht auf den Begriff gebrachte Innendimension“ der Figuren. Ebd., S. 303. 41 Haufe unterstreicht, dass „Imaginations- und Handlungsraum immer auch Stimmungsräume sind“, in denen sinnliche Wahrnehmung und Verfasstheit der Figuren einander überlagern. H ­ aufe, ‚Gestimmter Blick‘, S. 100. Die These trifft sich zudem mit der Beobachtung Jan

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Ein zweites Mal gelangt Partonopier in den Wald, nachdem er das Sehtabu gebrochen und Meliur mit Hilfe einer magischen Lampe betrachtet hat. Voller Schmerz um den Verlust der Geliebten flieht er in den Ardennerwald mit der festen Absicht, sich von den wilden Tieren dort töten zu lassen. Ein Löwe nähert sich, greift aber stattdessen Partonopiers Pferd an. Das Pferd holt aus und tritt dem Löwen mit solcher Kraft gegen den Schädel, dass der Löwe tot zusammenbricht. Das Pferd flieht zum Meeresstrand und lässt weithin sein Gewieher erschallen:42 weiende unde schrîende kam es sô rehte balde geriuschet uz dem walde, daz man daz wunder nie vernam. mit vorhten ez geloufen kam an daz mer vil drâte sider. bi dem lief ez ûf unde nider, sam ez wære wilde, die berge und daz gevilde, daz wazzer und die velse grôz erfulte sîner stimme dôz geschreies in der stunde. ez gie von sînem munde vil angestlich gedœne. (V. 10570–83) Wiehernd und brüllend kam es so schnell aus dem Wald gestürmt, dass man ein solches Wunder nie zuvor erfahren hatte. Mit großer Furcht erreichte es bald darauf das Meer, an dessen Strand es auf und ab galoppierte, als ob es wild sei. Die Berge und das Gefilde, das Meer und die großen Felsen erfüllte währenddessen der Klang seiner Stimme mit seinem Brüllen. Aus seinem Maul erklang ein sehr angstvolles Getön.

Strümpels, dass von diesen wilden Tieren auf der Handlungsebene des Textes keine Gefahr für den Protagonisten ausgeht, noch ist dieser Wald als ein Ort markiert, an dem die Handlung vorangetrieben würde: hier „gabeln sich keine Wege und müssen keine Entscheidungen getroffen werden.“, Strümpel, „der walt ist aller würme vol“, S. 379. Das Gegenstück dazu bildet die Burg Meliurs mit der Kemenate in ihrem Zentrum, die Annette Gerok-Reiter als einen personalen Erfahrungsraum, als ein imaginaire beschrieben hat. Gerok-Reiter, Raumverschaltungen, S. 309. 42 Armin Schulz weist darauf hin, dass dieses Pferd, das Löwen tötet und brüllend umherläuft, nicht auf ein reales Tier verweise, sondern es vielmehr um einen „Stellvertreter für dasjenige [gehe], was Partonopier zwar als Potenz in sich trägt, was er aber selbst nicht mehr tut.“, Schulz, Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive, S. 392.

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Erst in der Wahrnehmung durch eine Gruppe Reisender um die Dame Irekel wird die Stimme des Pferdes eingebunden in eine umfassendere Sinneswahrnehmung: durch die wolken schône enbrehen sach man den mânen sunder wer. gestillet hete sich daz mer und was daz weter linde. deheiner slahte winde ruorten ûf dem wâge sich dâ von diu stimme frevelich des pherdes deste lûter hal und ûf daz mer sô verre schal. (V. 10586–594) Durch die Wolken sah man den Mond ohne Hindernis auf schöne Weise hervortreten. Das Meer hatte sich beruhigt und das Wetter war mild. Nicht das kleinste Lüftchen rührte sich über den Fluten, so dass die Stimme des Pferdes umso lauter erklang und weithin über das Meer erschallte.

Der Schiffer weiß einen Segen gegen die wilden Tiere, man verfolgt die Blutspur des Pferdes und Irekel bleibt allein im Wald zurück: Ein Umstand, der zu verdeutlichen scheint, dass es nicht um eine realitätsnahe Erzählebene geht, sondern um ein anderes, inneres „Sehen“ – um die Belange der menschlichen Seele. Wieder ist es eine Stimme, die aus dem Verborgenen heraus erklingt, auch hier paart sich das Ertönen der Stimme mit der Unsichtbarkeit dessen, der sie hervorbringt. Von neuem geht es um den Wald als einen Raum verminderter Sichtbarkeit, aus dem heraus die Stimme umso markanter ertönt und so die Wende im Geschehen einleitet. Denn im hohlen Baum verborgen, lässt Partonopier seine Seufzer in Todeserwartung aufsteigen. Die Dame aber hält so lange inne und lässt ihre Augen suchend umherschweifen, bis sie den Verursacher der Stimme entdeckt hat und sich die Spannung der Szene auflöst. Wieder sind es nicht Worte, die zu hören sind, sondern zunächst der Klang der Stimme in einer Situation, in der Sichtbarkeit ausgeblendet ist: diu maget lûter unde vîn, seht, diu bestuont aleine. daz tet diu maget reine durch einen siuften harte lanc, der ûz herzen grunde dranc Partonopiere bî der frist. diu maget hôrte in, wizze Krist, ersiuften jâmerlîche. dar an diu tugende rîche

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erkante in ir gemüete sâ, daz ein mensche læge dâ verborgen ir vil nâhen bî. diu reine süeze wandels frî began dô warten umbe sich, biz daz ir ouge wünneclich den holen boum aldâ gesach, dâ marterlichez ungemach Partonopier leit inne. (V. 10756–10) Die strahlende und reine junge Dame, seht, die blieb allein zurück. Das tat sie um eines sehr langen Seufzers willen, der zur selben Zeit aus dem tiefsten Grund des Herzens Partonopiers hervorgedrungen war. Die junge Dame hörte ihn, weiß Gott, jammervoll aufseufzen. Daran erkannte die Tugendreiche in ihrem Innersten, dass ein Mensch ganz in ihrer Nähe verborgen liege. Die schöne, süße Makellose begann umher zu schauen, bis ihr wunderbares Auge den hohlen Baum erblickte, in dem Partonopier qualvolle Not litt.

In dem Moment, da Sehen und Hören zusammenfinden, setzt Partonopiers Genesungsprozess ein, an dessen Ende er mit Meliur erneut vereint sein wird. Denn die Dame gibt sich als Schwester Meliurs zu erkennen. Sie wird ihn mit sich in ihr eigenes Reich führen, das – als ein irdisch paradîs (V. 11089) benannt – schon aufgrund dieser Bezeichnung Heilung verspricht.43 Von dort aus wird es ihm durch die Teilnahme an einem Turnier doch noch gelingen, Meliur für sich zu gewinnen.44 3.

Mehrfach – in höfischer Architektur wie auch in der wilden Natur des Waldes – entwirft der Roman Räume, in denen die Wahrnehmungsweisen von Hören und Sehen in Opposition zueinander geraten. In der hell erleuchteten Stadtarchitektur wie auch im Ardennerwald, in dem Partonopier sich im Verlauf der Jagd verirrt, erfährt der Jüngling überwältigende visuelle Sinneseindrücke, zu hören aber ist nichts. In der Kemenate und in der zweiten Waldszene dagegen, als Partonopier im hohlen Baum verborgen liegt, gibt es nichts zu sehen. Stattdessen ertönt eine (wortlose) Stimme, deren Klang auch 43 So heißt es von Irekels Reich: der selbe wünneclîche kreiz / stuont als ein irdisch paradîs (V. 11088 f.). 44 Ein drittes Mal wird ihn der Weg in den Wald führen – und wieder wird er eine Stimme hören, ohne dass er deren Ursprung sehen könnte: es ist die Stimme seines Knappen, der sich hat taufen lassen und nun einen Verrat beklagt, dem er sich ausgeliefert sehen musste. Die Spur dieser Stimme möchte ich an dieser Stelle nicht weiter verfolgen, die Figur des Knappen Fursîn/Anshelm wäre aber einzubinden in eine Frage um eine theologische Deutungsebene, die dem Roman eingeschrieben wird.

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die Funktion übernimmt, Unsichtbares sichtbar werden zu lassen. Der visuelle Eindruck vermittelt sich hier im Akustischen. Die Stimme generiert eine Lautsphäre, in der allein die auditive Wahrnehmung ein inneres Bild erzeugt, in welchem die Sinneseindrücke von Klang und Bild zu einer Einheit verschmelzen. Der Wald (wie auch die Kemenate) scheint gebunden an die Wahrnehmungsweise dessen, der ihn betritt, als ein Spiegel der Seelenzustände des Jünglings, der diese Räume zu durchqueren hat. Wie ist das zu verstehen? Nach mittelalterlicher Wahrnehmungstheorie ist auch der Klang ein Phänomen, das mit allen Sinnen wahrgenommen wird, so wie es den mittelalterlichen Wahrnehmungsweisen im Blick auf den sensus communis entspricht.45 Der Ort der Wahrnehmung ist die Seele mit dem inneren Sinn, dem sensus communis, in dem alle Sinneswahrnehmungen zusammenfließen. Erst hier werden die Eindrücke der fünf Sinne zu einem Ganzen vereint. Umgekehrt gilt, so beschreibt es Augustinus in seinem Traktat De musica: „Der Klangeindruck ist ein Produkt der Seele.“46 Mit Aristoteles’ Traktat Über die Seele lässt sich festhalten, dass nur der beseelte Laut zur Stimme wird, denn nur beim Menschen ist die Stimme in der Lage, Sprache und Wort aufzunehmen bzw. zu tragen.47 Warum aber ereignet sich eine solche Erschütterung zu Beginn der Romanhandlung? Der Protagonist ist zu diesem Zeitpunkt noch ein Jüngling, vor allem seine Kindlichkeit lässt ihn seine Umgebung als gefahrvoll erleben: der edele und der guote, der hövesche und der klâre was noch ein kint der jâre und was gevaren selten ê: dar umbe entsaz er deste mê den wüesten ungehiuren walt. (V. 556–561) Der edle und tüchtige, höfische und schöne Jüngling war an Lebensjahren noch ein Kind und war nie zuvor gereist: darum entsetzte er sich umso mehr vor dem wüsten, ungeheuren Wald.

Partonopier ist dreizehnjährig, wie der Text mehrfach betont. Er steht damit an der Schwelle zu einem neuen Lebensalter, im Übergang von der Kindheit zur Adoleszenz. 45 Zum sensus communis vgl. in anderem Kontext Scheuer, Receptaculum Amoris, S. 149–170. 46 Aurelius Augustinus, De musica, S. XXIV. 47 Aristoteles, Über die Seele, S. 113. So argumentiert Aristoteles, ebd. Buch II, Kapitel 8, S. 113: Daher ist Stimme das Anschlagen der eingeatmeten Luft an die sogenannte Luftröhre, das durch die diesen Teilen innewohnende Seele bewirkt wird. Nicht jeder Ton eines Lebewesens ist nämlich Stimme […], sondern das Anschlagende muss beseelt sein und mit einer gewissen Vorstellung begabt; denn die Stimme ist ein bedeutungsvoller Ton (Laut) […]. Vgl. Riethmüller, Zum vokalen Prinzip in der Musikgeschichte, S. 28.

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Auch Odysseus etwa ist dreizehnjährig, als er auf einer Eberjagd die Narbe an seinem Schenkel empfängt, an der er zuletzt erkannt werden wird.48 Die Adoleszenz aber ist zugleich das Alter, in dem die Erfahrung der Minne erstmals hereinbricht, ohne dass sie schon bewältigt werden könnte. Nach dem „christlich geprägte[n] Strukturbild der Lebensalterlehre“, so argumentiert Winfried Wehle in anderem Kontext, zeichnet sich der Übergang zu ihr als dem zweiten Lebensalter dadurch aus, dass der Heranwachsende an dieser Schwelle erstmals mit der Liebe konfrontiert wird. Für Petrarcas Canzoniere hat Wehle gezeigt, in welcher Weise die Divinae Institutiones des Laktanz (vor allem Buch 6, 3) einen Schlüssel für das Werk Petrarcas darstellen, indem sie vor Augen stellen, wie sich Lebenswege in dieser Schwellensituation aufspalten: von der kindlichen „Naivität des Seelenfriedens“ einerseits zu einem Passionsweg der Liebe, andererseits zu einem vergeistigten Weg unter Unterdrückung der Leidenschaften. „In der Adoleszenz aber, nach dem 14. Jahr etwa, gerät der junge Mensch an eine Verzweigung seines Lebenslaufes, repräsentiert in den beiden Zweigen des Y: ein linker und ein rechter Weg öffnen und verschränken sich zu einer Zwei-Wege-Lehre.“49 Auf den Punkt gebracht bedeutet diese Erfahrung: „Amor verletzt das Herz elementar, weil es am Ausgang der ‚puerizia‘ noch schutzlos ist“.50 Im Partonopier offenbart sich diese seelische Erschütterung der Figur in einem auseinanderdriftenden sinnlichen Wahrnehmungsvermögen des Helden. 4.

Der Roman Partonopier und Meliur zeichnet die seelische Stimmung des Protagonisten als eine Klanglandschaft. Die Stimme verkörpert die Verbindung der Seele zur äußeren Wahrnehmung, indem sie beispielsweise von Liebe erzählt. Doch erst das Zusammenspiel aller Wahrnehmungen, eine alle Sinne umschließende Wahrnehmung, lässt Harmonie entstehen. In der Vereinigung von Amor und Psyche kommt die Seele zur Ruhe. So entwickelt Konrad im ersten Teil seines Romans eine differenzierte Reflexion über Sinneswahrnehmung, indem er das Wahrnehmungsvermögen des Protagonisten als einen Spiegel seiner Seelenzustände zeichnet. Mit der Erschütterung der noch kindlichen Seele des Protagonisten setzt eine Disharmonie ein, ein Auseinanderfallen der Sinneswahrnehmungen der fünf Sinne, die sich zunächst nicht zu einer Einheit, zu einer Harmonie vereinen lassen. Konrads Partonopier und Meliur reflektiert auf diese Weise die ungeheure Erschütterung der Seele, die sich ereignet, wenn der junge Mann 48 Die Narbe bewahrt den erfolgreich absolvierten Passage- oder Mannbarkeitsritus im Körpergedächtnis und bleibt zugleich im Namen präsent. Scheuer, Polytropia, S. 52 f. In der Wiedererkennungsszene mit Eurykleia wird der Tastsinn als der elementarste der Sinne gegen das Sehen ausgespielt. Die Szene weist damit auch in der Intimität der Berührung auf die Kindheit des Helden zurück. Grethlein, Die Odyssee, S. 165 f.; Hahn, Körper und Gedächtnis, S. 156 f. 49 Wehle, Formen der Dichtung, S. 254. 50 Ebd., S. 252 f.

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die Schwelle zur Adoleszenz erreicht und ihm die Minne mit all ihrer Macht – das Mittelalter bezeichnet sie als Magierin, als Krankheit zum Tode und Ärztin zugleich – zum ersten Mal begegnet.51 Diese Reflexion findet Ausdruck in Bildern komplexer Wahrnehmungsweisen, in Klangbildern und Lautsphären, die eingebunden sind in die Frage nach der menschlichen Wahrnehmungsweise und ihrer Verbindung zur Seele und zum Denken. Was könnte treffender sein, als wenn Konrad diese Erschütterung der Seele an der Schwelle zur Adoleszenz in den Bildern des Mythos von Amor und Psyche erzählt. Abkürzungen LiLi – Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik PBB – Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur RUB – Reclams Universalbibliothek Quellenverzeichnis Apuleius, Der Goldene Esel. Metamorphoses, Übersetzt von August Rode, hg. von Karl-Maria Guth, Berlin 2016. Aristoteles, Über die Seele. Griechisch/Deutsch, Mit Einleitung, Übersetzung (nach Willy Theiler) und Kommentar, hg. von Horst Seidel, Griechischer Text in der Edition von Wilhelm Biehl, Otto Apelt (= Philosophische Bibliothek 476), Hamburg 1995. Aurelius Augustinus, De musica. Bücher I und VI. Vom ästhetischen Urteil zur metaphysischen Erkenntnis, Lateinisch – Deutsch, Eingeleitet, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Frank Hentschel (= Philosophische Bibliothek 539), Hamburg 2002. Gottfried von Straßburg, Tristan und Isold, hg. von Walter Haug † und Manfred Günter Scholz, mit dem Text des Thomas hg., übersetzt und kommentiert von Walter Haug †, 2 Bde., Berlin 2012. Hartmann von Aue, Erec. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, hg., übersetzt und kommentiert von Volker Mertens (= RUB 18530), Stuttgart 2008. Heinrich von Veldeke, Eneasroman. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, Nach dem Text von Ludwig Ettmüller ins Nhd. übersetzt, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Dieter Kartschoke, durchges. und bibliographisch ergänzte Ausgabe, Stuttgart 1997. Konrad Fleck, Flore und Blanscheflur, hg. von Emil Sommer (= Bibliothek der gesamten deutschen National-Literatur 12), Quedlinburg, Leipzig 1846. Konrad von Würzburg, Partonopier und Meliur, Turnei von Nantheiz, Sant Nicolaus, Lieder und Sprüche. Aus dem Nachlasse von Franz Pfeiffer, Franz Roth, hg. von Karl Bartsch, Wien 1871. 51 Als Ärztin zum Tode wird Minne in Gottfrieds von Straßburg Tristan, V. 12164, entworfen, als Krankheit und Ärztin zugleich findet sie sich auch im Minneexkurs in Heinrichs von ­Veldeke Eneasroman beschrieben. Heinrich von Veldeke, Eneasroman, S. 548–552 (V. 9800–9868).

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Den Herrscher hören Zu akustischen Phänomenen im Reinfried von Braunschweig Gesine Mierke

Als Reinfried von Braunschweig und Sachsen, der Protagonist des um 1300 entstandenen gleichnamigen Romans zu einem Turnier um die Hand der dänischen Königstochter eingeladen wird, bricht er mit seinem Gefolge prompt auf. Sein Aufbruch ist weithin zu hören und wird wie folgt geschildert: Sus hât er [Reinfried] sich gerüstet wol. […] nu kan diu zît ouch nâhe gar dar ûf der turnie was geleit. dâ von der helt von hûse reit mit rîcher koste keiserlich. sîn schar mit grôzen rotten sich zerspreit ûf acker und ûf velt. sîn lop nâ hôher wirde gelt was mê denn lange wernde. […] von rotten harphen seiten spil tambûr bûsûn schalmîgen hôrt man in lüften schrîgen sam ungewiters dunres krach der dôz dur tal und berge brach daz ez dâ von moht zittern. er fuor mit ahzic rittern gerüstet wol nâ ritters lop. von tanphe swebet ein nebel op in, swele strâze sî joch riten, gar nâ keiserlîchen siten rûschent sam daz Wuotes her. (RvB, V. 455–480)1 [In solcher Weise hatte er sich gut gerüstet. […] Nun näherte sich der Tag, an dem das Turnier stattfinden sollte. Daher zog der Held mit herrschaftlicher Ausstattung von zu Hause fort. Sein Heer verteilte sich in großen Abteilungen auf Kampfplätzen und Feldern. Sein

1 Zitiert nach der Ausgabe von Bartsch.

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Lob, das lange Bestand haben sollte, strebte nach hoher Geltung. Rauten,2 Harfen, Saiteninstrumente, Trommeln, Posaunen, Schalmeien hörte man durch die Lüfte tönen wie den grollenden Donner eines Unwetters. Das Getöse brach durch Täler und Berge, sodass diese davon erzitterten. Achtzig Ritter begleiteten ihn, die alle in bester Weise gerüstet waren. Vom Dampf umgab sie ein Dunst, welchen Weg sie auch nahmen, sie rauschten in herrschaftlicher Weise wie das Heer Wotans.]3

Der Aufbruch Reinfrieds kündigt sich hier zunächst akustisch an. Dabei werden nicht nur verschiedene Instrumente aufgeboten, sondern der Protagonist erscheint mit dunres krach und dôz, die weithin durch Berg und Tal hallen. Mithin steigern sich die Klänge von den leiseren Saiten- hin zu den lauteren Blasinstrumenten, bis sie schließlich in einem Donnerschlag münden, der für den Herrscher selbst steht. Auch auf der Handlungsebene markiert der geräuschvolle Aufbruch Reinfrieds einen neuen Abschnitt, nämlich die Reise an den Hof der dänischen Prinzessin Yrkane. Ferner nimmt die beschriebene Klangkulisse den Turniersieg des Helden am Dänenhof vorweg: Sie markiert den Anspruch Reinfrieds auf die Hand der Königstochter,4 denn zweifellos trägt, wer sich so ankündigt, auch den Sieg davon. Doch sind es nicht allein die Klänge, sondern auch visuelle Eindrücke, die Reinfrieds Aufbruch inszenieren. Das hier aufgerufene Bild des Nebelwaldes und der Vergleich mit dem Heer Wotans evozieren die unüberwindliche Kraft, die Reinfried und seine Schar unaufhaltsam an den dänischen Hof treibt. Somit verbinden sich akustische und visuelle Inszenierung zu einem synästhetischen Zusammenspiel. Eine auffällige Passage – an die sich ohne weiteres viele weitere Beschreibungen von Klangkulissen im Text anschließen lassen. Obwohl die akustische Dimension des Romans immer wieder betont wurde,5 ist man ihr bislang eigens nicht nachgegangen, und es standen vor allem Aspekte des Visuellen im Fokus der Forschung.6 Zuletzt betonte Martin Baisch die Bedeutung des Sehens in den Reiseteilen des Romans7 und Wolfgang Achnitz hob das aufmerksame Betrachten als Aspekt der Neugier hervor.8 So sei etwa auch das Verlieben, wie Achnitz ausführt, an die Blicke des Paares gebunden. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich indes, dass schon zu Beginn des Romans das Motiv der Fernminne 2 Rauten sind „harfenartige Saiteninstrumente“, vgl. Lexer, Mittelhochdeutsches Handwörterbuch, Bd. 2, Sp. 508. 3 Die Übersetzungen stammen, wenn nicht anders angegeben, von der Verfasserin. 4 Vgl. Wenzel, Hören und Sehen, S. 143. 5 Martin Baisch hat auf die Häufung akustischer Phänomene im Text hingewiesen, geht aber vor allem Phänomenen der Sichtbarkeit nach, vgl. Baisch, durchgrinden, S. 199, Anm. 20. 6 Vgl. Achnitz, Babylon, S. 172–184; Röcke, Lektüren des Wunderbaren. Auf die Wiedergabe des Forschungsstandes zu Phänomenen der Sichtbarkeit und des Akustischen verzichte ich an dieser Stelle und verweise auf die Einleitung dieses Bandes. 7 Vgl. Baisch, durchgrinden, S. 191. 8 Vgl. Achnitz, Babylon, S. 105, 174; dazu auch Baisch, durchgrinden, S. 191.

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zitiert wird. Reinfried ist demnach längst in Yrkane verliebt, bevor er sie sieht.9 Bereits das Über-Sie-Hören hat seine Liebe initiiert, sodass er sich kurzerhand für das Turnier rüstet. Damit steht das Hören bereits hier – zumindest in der temporalen Abfolge – über dem tatsächlichen Anblick der Geliebten.10 Diesen ersten Befund möchte ich meinen Überlegungen voranstellen und am Beispiel des anonym überlieferten Romans Reinfried von Braunschweig nach der Funktion und der Semantik von Klangphänomenen innerhalb des Textes fragen. Dabei werde ich versuchen die strukturierende, kommentierende und performative Funktion, wie sie Jörg Bölling für die Musik in Adventusszenen herausgearbeitet hat,11 für den Roman fruchtbar zu machen. Dazu wende ich mich in einem ersten Schritt den ‚Klängen der Macht‘, in einem zweiten den ‚Klängen der Welt‘ zu, bevor ich in einem letzten Schritt nach der Performanz von Klängen im Reinfried frage. 1. Klänge der Macht – Die Inszenierung des Herrschers

Der anonym überlieferte Minne- und Aventiureroman Reinfried von Braunschweig wurde um 1300 vermutlich in der Nähe von Zürich verfasst. Die einzige Handschrift bricht nach 30.000 Versen ab und bleibt Fragment.12 Die Vorstellung Reinfrieds als Herzog der Sachsen und Westfalen im Text stellt zunächst eine Verbindung zu den Braunschweiger Welfen her. Aufs Ganze gesehen weist die Handlung, die sich in Minnegeschehen und Abenteuerfahrt gliedern lässt, denn auch Parallelen zur Jerusalemfahrt Heinrichs des Löwen von 1172 auf. Das historische Geschehen wird also in fiktionale Zusammenhänge überführt.13 Der Protagonist, Reinfried, verliebt sich endgültig während einer Turnierfahrt in Yrkane, die Tochter des dänischen Königs. Um sie heimführen zu können, muss er verschiedene Hindernisse überwinden, was ihm gelingt. Nach der Hochzeit bleibt das Paar jedoch kinderlos. Dies ist Auslöser der genealogischen Krise, die Motivation für den zweiten Teil des Romans ist. Um das dynastische Dilemma abzuwenden, legt Reinfried   9 Dies korrespondiert sicher auch mit der tatsächlichen Praxis des Adels, dass die versprochenen Brautleute einander häufig nicht kannten und mittels Porträts und Erzählungen vorgestellt wurden, vgl. dazu Spiess, Unterwegs, S. 17. 10 Seit der Antike besitzt das Sehen den Primat unter den fünf Sinnen. Vgl. Schleusener-Eichholz, Das Auge, S. 27 f. Allerdings lassen sich in der mittelalterlichen Literatur zahlreiche Beispiele finden, die davon abweichen und etwa das Hören gleichberechtigt neben das Sehen stellen. Aufs Ganze gesehen gewinnt die Wahrnehmung mit allen Sinnen ab dem 13. Jahrhundert zunehmend an Bedeutung, sodass eine Hierarchie nur schwerlich abzuleiten ist. Dies ist auch für die mittelalterliche Rechtspraxis belegbar und die lectio divina verbindlich. Vgl. Stock, After Augustine, S. 110 f.; dazu auch Mierke, Literarische Augenzeugenschaft, S. 41–43. 11 Vgl. Bölling, Musicae Utilitas, S. 231. 12 Vgl. dazu ausführlich Achnitz, Babylon, S. 23–26. 13 Vgl. dazu Ridder, Mittelhochdeutsche Minne- und Aventiureromane, S. 172–184.

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schließlich ein Gelübde ab und zieht zum Kampf gegen die Heiden in den Orient. Dort ist er siegreich und erlangt Zugang zu den heiligen Stätten. Nach erfolgreichem Gefecht fährt er jedoch nicht umgehend nach Hause zurück, sondern bricht zu einer Expedition auf, die ihn an die Grenzen der Erde führt und zahlreiche Wunder schauen lässt. Diese Wunderfahrt führt ihn zu den Amazonen, Sirenen, Pygmäen und zum Magnetberg. Als Yrkane einen Nachfolger zur Welt bringt, wird Reinfried zur Rückkehr aufgefordert. Er macht sich auf den Heimweg, erleidet Schiffbruch und wird auf eine Insel gespült. Hier bricht der Text ab. Bereits zu Beginn des Romans werden, wie schon erwähnt, verschiedene ausdrucksstarke Klangkulissen beschrieben. So wird Reinfried als vorbildlicher, dem ritterlichen Codex entsprechender Herrscher eingeführt. Mithin wird betont, dass: sîn nam sô wîte was erkant daz man im hôher êren jach. des ouge in doch nie an gesach, den hôrte man in prîsen. des zühterîchen wîsen lop hât alliu lant durchflogen. (RvB, V. 104–109) [Sein Name war weithin so bekannt, dass man ihm hohes Ansehen zusprach. Auch derjenige, der ihn noch nie gesehen hatte, sprach Lob über ihn. Das Lob des wohlgezogenen Herren erfüllte alle Länder.]

Der Erzähler betont, dass Reinfried wegen seines großen Ruhmes weithin bekannt sei. Auch derjenige, der ihn noch nicht gesehen hat, habe ehedem schon von seiner Vorbildlichkeit gehört, denn Reinfrieds Lob verbreite sich wie im Flug in allen Ländern. Hier wird wie in dem eingangs zitierten Beispiel erneut darauf hingewiesen, dass man den Herrscher hört, bevor man ihn sieht. Dies ist ein besonderes Merkmal Reinfrieds. Das Lob des Herrschers wird neben der verbalen Ebene auch auf klanglicher Ebene durch den anaphorischen Rhythmus der Verse ausgedrückt und der Fokus auf den ‚Namen‘ des Herrschers gelenkt, der überall bekannt sei.14 Dies wird einige Verse später erneut wiederholt, als ein fremder Bote an Reinfrieds Hof kommt, um für die dänische Königstochter zu werben und dabei erneut verkündet, dass sîn lop sô verre erschollen si (V. 174). Der mittelhochdeutsche Terminus schal bezeichnet nach Auskunft der einschlägigen Wörterbücher zunächst einen lauten Ton, der von Musikinstrumenten oder Stimmen erzeugt wird. Wohl aber meint schal auch „lautes Getöse, Krach, Freudenjubel, nicht

14 Vgl. zum anaphorischen Rhythmus in der Kaiserchronik ausführlich Ghattas, Rhythmus, S. 74 f.

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zuletzt auch den guten Ruf oder das Gerücht“15. ‚Schal‘ umfasst somit ein breites Bedeutungsspektrum und taucht in unterschiedlicher semantischer Auslegung im Text auf. In den in Rede stehenden Passagen wird auf die Hörbarkeit des Herrschers,16 auf die lobende Rede über ihn und auf seinen Namen, seine „Aura“17 abgehoben. Da der mittelalterliche Herrscher nicht immer und überall präsent sein konnte, sollten das Lob auf ihn bzw. sein Ruhm, diese Präsenzfunktion übernehmen. Name und Lob vergegenwärtigen ihn und schreiben ihn über die Zeiten – sowohl im diachronen als auch im synchronen Sinne – und über Räume hin in das kollektive Gedächtnis ein. Der „Name[…] eines Menschen“ sei, so Host Wenzel, „Memorialzeichen für seine Geschichte“18. Erst die Literatur fülle ihn mit einer historia. Der Aspekt der Memoria besitzt neben der dynastisch-symbolischen Dimension auch Relevanz für die Kohärenz des Textes und für sinnstiftende Bezüge zu anderen Texten. Wesentliche Teile lassen sich durch Vorausdeutungen oder zum Teil wörtliche Wiederholungen aufeinander beziehen. So hebt der Erzähler einige Verse vor der benannten Stelle ebenfalls auf das lop (V. 68) des Herrschers ab und nimmt somit bewusst Bezug auf den Iwein Hartmanns von Aue und das berühmte Lob König Artus’ im Prolog des Romans. Obwohl dieser längst gestorben sei, so lebe doch immer sein Name: des habent die wârheit sîne lantliute: sî jehent er lebe noch hiute: er hât den lop erworben, ist im der lîp erstorben, sô lebet doch iemer sîn name. (Iwein, V. 12–17)19 [Deshalb haben seine Landsleute recht: sie sagen, er lebe heute noch. Da er diesen Ruhm erworben hat, bleibt über den Tod des Leibes hinaus, sein Name für immer lebendig.]

Im Vergleich mit Hartmanns Text zeigt sich, wie der Reinfried gemacht ist: Durch unzählige intertextuelle Verweise auf vorgängige Texte entsteht ein dichtes Geflecht, das auf einen gelehrten Autor verweist und ein ebenso gebildetes Publikum voraussetzt.20 Der Protagonist wird in die Artusnachfolge gestellt und die vorbildliche Herrschaft, die hier

15 Lexer, Sp. 637. 16 Vgl. Wenzel, Hören und Sehen, S. 157. 17 Dies hat Horst Wenzel mit Blick auf andere Texte bereits ausgeführt, vgl. dazu ebd., S. 156. 18 Wenzel, Hören und Sehen, S. 157. 19 Zitiert nach der Ausgabe von Krohn. 20 Vgl. Achnitz, Babylon, S. 27, 36–41, 140–156; Ridder, Mittelhochdeutsche Minne- und Aventiureromane, S. 58–87, 253.

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für die Welfen in Anspruch genommen wird, auf diese Weise als zentrales Thema des Textes formuliert.21 Entsprechend heißt es einige Verse später im Text: Hie vor ein werder fürste was der zuht und êr ie an sich las mit milte und ritterlîcher tât, dâ von sîn lop geblüemet stât früht iemer unverdorben. ist im der lîp erstorben, wel nôt? sîn lop doch hôhe swept. wê dem verzagten der sô lept swenn im der lîb alhie verstirbt, daz sîn lop mit dem lîb verdirbt. (RvB, V. 65–74) [Einst lebte ein trefflicher Herrscher, der Anstand und Sitte, Freigiebigkeit und ritterliche Taten auf sich vereinte. Daher wurde ihm höchstes Lob zuteil, das für immer bleibt. Ist es wirklich eine Not, wenn sein Leib stirbt? Sein Lobpreis steht dennoch über allem. Wehe dem Verzweifelten, der so lebt, dass mit seinem Tod auch sein Ruhm vergeht.]

Die Substantive lop und lîp und das Verbum sind hier kreuzweise miteinander verbunden. Der regelmäßige Wechsel ist durch die Zäsur ‚leben‘ unterbrochen. Die Artuspassage aus dem Iwein ist dem Reinfried folglich vorausdeutend unterlegt, sodass sich „literarische Normhorizonte“ entfalten, „vor denen der Autor das Wertsystem des Protagonisten im Rahmen der literarischen Kenntnis des Publikums entwickelt“22. Man muss also bereits zu Lebzeiten dafür sorgen, dass das Lob das Lebensende überdauert. Dass Reinfried seinem Vorgänger und Vorbild gerecht wird, zeigt sich nicht zuletzt an der akustischen Inszenierung und der Hörbarkeit des Protagonisten, die ihn als auserwählten Herrscher stilisieren. Die Schilderung des Einzugs am dänischen Königshof erinnert an den Aufbruch Reinfrieds nach Dänemark: sus fuoren sî hin dur die stat. […] die krîer lûte riefen, von Brûneswîc der Sahsen vogt der kumt sô keiserlîch gezogt daz sin lop hôch in wirde swept. […] alsus sî liefen after wegen und schriuwen lop mit schalle. […] dar nâ gezieret wart der luft 21 Ausführlich dazu Ridder, Mittelhochdeutsche Minne- und Aventiureromane, S. 49–54. 22 Ridder, Mittelhochdeutsche Minne- und Aventiureromane, S. 53.

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von überdôn des schalles krach, sô daz er dur die wolken brach mit brahte sam ein dunres dôz. der schal von phîfen wart sô grôz daz ez in leit zerstôrte. nieman den andern hôrte, waz er seite ald waz er sprach. dar nâch man hundert ritter sach ie zwêne sament rîten: […] dar nâch kam der gehiure Reinfrit von Bruneswîc gezogt. wær er ze Rôm gewesen vogt, dâ moht niht mê sîn schalles. (RvB, V. 610–661) [Darauf zogen sie in die Stadt ein. Die Ausrufer schrien laut: „Der von Braunschweig, Herzog der Sachsen, kommt in so herrlicher Weise, dass sein Ruhm in hohen Ehren schwebt. […] Sie liefen hinter ihm und verkündeten sein Lob mit großem Lärm. […] Danach war die Luft erfüllt vom übermäßigen Getöse der Töne. Es durchbrach die Wolken dröhnend wie ein Donnerschlag. Die Töne der Flöten waren so laut, dass aller Kummer verschwand. Niemand hörte den anderen, was der auch sagte oder sprach. Dann sah man hundert Ritter, die jeweils zu zweit ritten: […] Darauf folgte der herrliche Reinfried von Braunschweig. Wäre er Schirmherr von Rom, so hätte es dort keinen größeren Jubel gegeben.]

Wie in dem eingangs zitierten Beispiel wird auch hier der Einzug des Helden mit entsprechendem akustischem Pomp und mächtigem Getöse inszeniert. Überdies wird Reinfrieds Ankunft mit dem Einzug des Kaisers verglichen, so dass sein Lobpreis in höchster weltlicher Würde schwebt. Er lebe in vorbildlicher Weise vor Gott und in der Welt, heißt es an anderer Stelle des Textes. Die Anspielung auf den Artusroman nutzt der Verfasser, um eine Erwartungshaltung beim Publikum aufzurufen. Zugleich aber wird der zeitliche Rahmen des Romans und vor allem der Ruhm des Protagonisten in die zeitgenössische Gegenwart verlängert und überhöht somit die Artusidealität. Stilistisch ist die Schilderung des Herrscheradventus intern fokalisiert, sodass der Erzähler das Geschehen aus der Perspektive des Zuschauers darstellt und der Rezipient den Zug quasi vorbeiziehen sieht. Dies insinuiert eine stärkere Teilhabe des Publikums am Geschehen und verstärkt die Klangkulisse, die die Macht Reinfrieds vergegenwärtigt. Auch hier verbinden sich Visuelles und Akustisches im dem Bild des durch die Wolken brechenden Herrschers. Die Geräuschkulisse steigert sich bis zum Einzug Reinfrieds.23 Macht und Akustik stehen somit in einem direkten Verhältnis. Die Klangkulisse setzt Reinfried dem Kaiser gleich, was am Ende der Passage erneut betont wird: wær er ze 23 Zum Ablauf in Adventusszenen vgl. Bölling, Musicae Utilitas, S. 239.

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Rôm gewesen vogt, / dâ moht niht mê sîn schalles.24 Damit wird auf den Einzug des Kaisers in die römische Stadt angespielt. Der hereinbrechende Donner ist zudem symbolisch Zeichen Gottes (1 Sam 7,10; Hiob 37,2–5) und steht somit auch auf der Deutungsebene für Reinfried und seine Macht. Dies wird zudem auf der Ebene des Discours durch die Dominanz der dunklen Vokale an dieser Stelle zum Ausdruck gebracht: alsus sî liefen after wegen und schriuwen lop mit schalle. […] dar nâ gezieret wart der luft von überdôn des schalles krach, sô daz er dur die wolken brach mit brahte sam ein dunres dôz. der schal von phîfen wart sô grôz daz ez in leit zerstôrte. nieman den andern hôrte, waz er seite ald waz er sprach. dar nâch man hundert ritter sach ie zwêne sament rîten: […] (RvB, V. 626–651)

Rechtmäßigkeit und Vorbildhaftigkeit Reinfrieds stehen somit zu keiner Zeit in Frage. Er wird die Königstochter gewinnen, denn er ist der rechtmäßige Herrscher. Die inszenierten Klänge dienen dazu, seinen Ruhm durch die Zeiten und durch die gesamte Handlung präsent zu halten. Dass die akustische Inszenierung für Adventusszenen eine besondere Rolle spielt, verdeutlicht der Blick auf ein gänzlich anderes Beispiel. Im Liber ad honorem augusti sive de rebus siculi (1195/1197) des Petrus de Eboli findet sich ein Negativbeispiel für die Bedeutung von Klängen in Adventusszenen. Das Bild zeigt den Einzug Tankreds in Palermo. Bereits die Tituli verweisen darauf, dass die Darstellung nicht als Ausweis seiner Vorbildlichkeit dient, denn Tankred wird als Usurpator bezeichnet (quando Tancredus usurpavit sibi regni coronam) und einer der Priester, der ihm vorausreitet (Matheus de Ajello) als bigamistisch attribuiert. Tankred erscheint so als schlechtes Gegenbild zu Heinrich IV., der einige Seiten später umso vorbildlicher erscheint. Die Adventusszene, die hier ins Bild gesetzt wird, diskreditiert 24 Die akustische Präsenz des Herrschers, die Ausbreitung seines Ruhms markiert also auch seine Herrschaftsposition. Vor diesem Hintergrund verweist eine weitere Stelle im Roman ebenfalls auf die akustische Wahrnehmung des Potentaten. Als Reinfried im zweiten Teil des Romans nicht rechtzeitig an seinen Hof zurückkehrt, macht er sich der Curiositas verdächtig. Der Erzähler beklagt folglich die Abwesenheit des Regenten und den bevorstehenden Zerfall des Reiches. Letzterer ist gerade nicht durch den küneclîche[n] schall[] (RvB, V. 26.834) gekennzeichnet.

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den Herrscher auf verschiedene Weise.25 So wird Tankred voraus eine Standarte oder Schellenbaum getragen, auch das Schwert zeigt mit der Spitze nach unten. Auf Tankreds Kopf und an anderen Stellen sitzen Vögel, die nach hinten blicken. Damit wird zwar auf antike Triumphzüge angespielt, Tankreds Zug zugleich aber ins Lächerliche gezogen. Er hält in der linken Hand nur einen Palmwedel, kein Szepter und auch nicht den Reichsapfel. Auf dem Kopf trägt er keine Krone, sondern eine Mütze, die das Gehänge einer Krone hat, und sie sitzt schief. Und auch der Text, der dem Bild voraufgeht, verunglimpft Tankred als „­bekränzten Mimen“26. Der Festzug besteht aus Bogenschützen, abgesessenen Reitern, Fanfarenbläsern, Beckenschlägern, Trommlern, Lanzenträgern.27 Und gerade die Musikanten evozieren eine negative Klangkulisse, denn sie musizieren offenbar nicht der üblicherweise Abb. 1: Triumphzug Tankreds von Lecce in festgelegten Ordnung gemäß, sondern ­Palermo. © Bern, Burgerbibliothek, Cod. 120 II, sie blasen kreuz und quer durcheinan102r. der, sodass dabei eher ein unerträgliches Lärmen entsteht. Im Text heißt es: Ne quemquam lateat, erea plectra sonant. [Damit er niemandem verborgen bleibt, lärmen eherne Schläger.]28 Text und Bild heben auf diese Klangkulisse ab, was ihre Bedeutung unterstreicht. Akustik strukturiert hier nicht nur das Geschehen, sondern kommentiert – wie auch im Reinfried von Braunschweig – das Gesehene.29

25 Joachim Bumke zieht die Darstellung des Einzugs Tankreds als Beispiel für das feste Protokoll der Festzüge heran, übersieht dabei aber die parodistische Aussage von Text und Bild. Vgl. ­Bumke, Höfische Kultur, S. 291–292. 26 Zitiert nach der Ausgabe von Kölzer, S. 61. 27 Vgl. die Aufzählung bei Kölzer, S. 62. 28 Zitiert nach der Ausgabe von Kölzer, S. 61. 29 Jörg Bölling spricht von strukturierender, kommentierender und perfomativer Funktion von Musik, vgl. Bölling, Musicae Utilitas, S. 231.

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2. Die Klänge der Welt

Klänge dienen im Reinfried nicht nur der Inszenierung des Herrschers, sondern sie markieren auf der Handlungsebene zugleich den Erkenntnisprozess des Protagonisten. Vor diesem Hintergrund ist das Sirenenabenteuer zentral, das zugleich einen Wendepunkt des Geschehens darstellt.30 Nachdem Reinfried Frau und Land erworben hat, begibt er sich auf den Weg in das Heilige Land. Auf seiner „Wallfahrt“31 besucht er jedoch nicht nur die Heiligen Stätten,32 sondern schaut auch die Wunder der Welt. In diesem Kontext steht desgleichen sein Besuch auf dem sagenumwobenen Magnetberg.33 Hier offenbart sich erstmals die heilsgeschichtliche Dimension des Textes, denn durch die Bezugnahme auf die vierte Ecloge der Bucolica Vergils wird Reinfried in die Christusnachfolge gestellt.34 Lesend und damit sehend erfahren Reinfried und seine Begleiter von den Ereignissen der Vorzeit. Dies wird an anderer Stelle erneut wiederholt, als der Held aufbricht, um wie Odysseus den Gesang der Sirenen zu hören.35 In der Forschung wurde bislang auf die allegorischen Allusionen der Szene hingewiesen, ihr Potenzial allerdings nicht erschöpfend ausgedeutet.36 Ich möchte dies im Folgenden ein Stück weit nachreichen.37 Denkt man die allegorische Ebene mit, wird mit dem Sirenenabenteuer das Motiv der Imitatio Christi erneut aufgegriffen. Reinfried wird, wie Christus ans Kreuz, an den Mast gebunden und muss dem verführerischen Gesang Sirenes standhalten. Ihr Gesang überwältigt ihn allerdings, gerade nicht wie bei Homer durch den Inhalt, sondern allein durch seinen Klang.38 Im Text wird dies wie folgt beschrieben:

30 Vgl. dazu Achnitz, Babylon, S. 192–202; Ridder, Mittelhochdeutsche Minne- und Aventiureromane, S. 71–81; Vögel, Naturkundliches, S. 112. 31 Vögel, Naturkundliches, S. 96. Christine Wand-Wittkowski sieht Reinfrieds Reise dagegen gerade nicht als Wallfahrt, sondern als Selbstzweck, die dem Helden neuen Typus’ Vergnügen bereitet und bezeichnet sie gar als „touristisch […]“ (S. 336), ausführlich dazu Wand-Wittkowski, Der vergnügte Reisende, S. 333–347. 32 Er besucht Nazareth, sodann die übrigen Schauplätze der Evangelien bis Golgatha, vgl. dazu auch Achnitz, Babylon, S. 170 f. 33 Vgl. dazu ausführlich Herweg, Erinnerungsorte. 34 Vgl. etwa Vögel, Naturkundliches, S. 96. 35 Zum Sirenenabenteuer vgl. ebd., S. 101–107. Zur mittelalterlichen Transformation der Sirene vgl. ausführlich Krass, Meerjungfrauen, S. 49–96; Ders., Poetik der Stimme. 36 Herfried Vögel hat auf verschiedene Stellen hingewiesen, die auf eine allegorische Lesart hindeuten, vgl. Vögel, Naturkundliches, S. 95, dazu auch: Neudeck, Continuum historiale, S. 186 ff. Dagegen vgl. Wand-Wittkwoski, Der vergnügte Reisende, S. 330, Anm. 8; Ditt­ rich-Orlovius, Zum Verhältnis, S. 130. 37 Vgl. auch Baisch, durchgrinden, S. 194 f. 38 Dies hat Andreas Kraß bereits ausgeführt, vgl. Krass, Poetik der Stimme, S. 33.

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in hôher wîse wunnesam mit süezen noten schoenen begond sî aber doenen in minnenclîcher wîse. vom êrsten huop sî lîse und sang ie heller und ie baz. der fürste rîch wol hôrte daz und nam sîn eigenlîche war. swaz nâtûre ie gebar ald luftes twanc von doenen, daz kon überkroenen der Syrênen stimme. (RvB, V. 22.372–22.383) [Auf hohe herrliche Art, mit süßen schönen Tönen begann sie in lieblicher Weise zu singen. Zuerst hob sie leise an und sang dann immer lauter und besser. Der vornehme Herrscher hörte das und nahm es auf eindrückliche Weise wahr. Was auch immer die Natur jemals hervorbrachte, oder was durch Luft zu Tönen gemacht wurde, das konnte die Stimme der Sirene überbieten.]

Es sind die süßen Töne, die Reinfried betören, somit ist es der besondere Klang der Stimme, die Qualität der Töne, nicht aber sind es die Worte Sirenes.39 Der Erzähler beschreibt die Stimme als das Natürliche, dass das Geschaffene übersteigt. Und es ist vor allem die Höhe der Töne und der Wechsel zwischen hoch und tief, welche den Gesang der Sirene so außergewöhnlich erscheinen lassen. Der Erzähler beschreibt die Töne allerdings mehrfach als zu überschwänglich (güftic, V. 22.387, güfteclîche, V. 22.403) und klassifiziert sie damit als außerhalb des Ordo stehend. Schließlich stellt er resümierend fest, dass er daz unbilde von süeze (V. 22.412 f.) nicht mehr länger beschreiben möchte. Die Süße der Töne lässt sich der augustinischen Dingauslegung zufolge in bonam partem – also auf alles wohltuend Angenehme, kurz das Himmlische beziehen.40 Sie lässt sich aber auch in in malam partem als verführerische Weltsüße auslegen.41 Andreas Kraß hat an anderer Stelle darauf hingewiesen, dass die mittelalterliche Vorstellung der Sirene, wie sie in Konrads von Megenberg Buch der Natur beschrieben ist – und die nun auch im Reinfried auftaucht –, „eine poetologische Fracht mit sich [führ]e, die bis zu Horaz zurückreiche“42. Horaz vergleicht am Eingang seiner Poetik missratene Kunstwerke mit Monstren, die aus Menschenleib und Tierkörper bestehen. Wäh39 Vgl. dazu ebd., S. 39. 40 Das Bedeutungsspektrum des Wortes „süß“ hat Friedrich Ohly ausführlich beschrieben. Vgl. Ohly, Süße Nägel. 41 Vgl. Ohly, Süße Nägel, S. 20, 140. 42 Krass, Poetik der Stimme, S. 42.

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rend es in der antiken Literatur jedoch um Inhalt und Form des Sirenengesangs gehe, werde dieser um 1300 auf seinen Klang reduziert.43 Sirenes Lied transportiert keinen Inhalt. Sie wird entmythisiert,44 der Inhalt ihres Liedes getilgt und ihr Gesang christlich überschrieben, indem – dem mehrfachen Schriftsinn gemäß – auch im Reinfried eine moralisch-allegorische Dimension beigefügt wird.45 Sirene wird wie Eva als sündhafte Frau ausgelegt, was die verlockenden Töne zum Ausdruck bringen.46 An den Mastkorb gebunden muss Reinfried Schlimmstes überstehen und hören: Der Sirenengesang wird für ihn zur Todesqual. Der Gesang, so heißt es im Text, betöre die Sinne, führe folglich zu Gottesferne. Und so fällt Reinfried aufgrund seiner Abkehr in tiefe Trauer: Ich trag iemer swaere (V. 22.670), beklagt er, nachdem Sirene verschwunden ist. Der Gesang, den er hört, ist im Gegensatz zur Verkündigung an Maria, jener verführerische Klang, der ihn aus der Welt fortreißt: swaz ie in waldes krône von kleiner vogel zungen dœne wart gesungen, daz wac niht umb einen snal gên dirre stimme diu sô hal daz sî sinne stôrte al dem sô sî hôrte, zam unde wilde (RvB, V. 22.404–11). [Welche Töne auch immer von zarten Vögeln im Dach des Waldes gesungen wurden, sie sind nichts als bloßes Geklapper gegen diese Stimme, die so klang, dass sie jedem, der sie vernahm, Mensch oder Tier, die Sinne verstörte.]

Besonderes Kennzeichen der Töne, die Sirene erklingen lässt, ist ihre große Differenz in der Tonhöhe. So gehorchen sie weder den Gesetzen der Harmonie noch sind sie einem irdischen Klang vergleichbar. Damit werden sie in die Sphäre des Unfassbaren, Unbegreiflichen, den menschlichen Geist Übersteigenden (unbilde, V. 22.412), zugleich auch des Unrechten gerückt und schließlich verurteilt. Dem süßen sanc der Sirene stehen die Leidensschreie Reinfrieds gegenüber (den süezen sanc, des herren schrei, V. 22.443). An dieser Stelle lässt sich eine Analogie zur Kreuzigung herstellen, sodass Christi Leiden typologisch auf Reinfried übertragen wird und als innere Erfahrung nachzuvollziehen ist. Dass der Erkenntnis die Erfahrung voraus-

43 Ebd., S. 42. 44 Vgl. Vögel, Naturkundliches, S. 110. 45 Vgl. Krass, Poetik der Stimme, S. 42. 46 Vgl. ebd., S. 42.

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geht, hat bereits Gregor der Große formuliert.47 Diese spirituelle Erfahrung macht auch Reinfried, denn der Protagonist wird durch seine Wahrnehmung der Weltwunder zur Erkenntnis geführt. Seine Pilgerreise lässt sich damit typologisch auf die Sinnsuche des Menschen in der Welt beziehen. Narratologisch korrespondiert diese mit dem Lesen im Buch der Welt, wie es auf dem Magnetberg inszeniert wird, und die gleiche Erfahrung ermöglicht. Reinfrieds Erkenntnisprozess wird innertextuell durch die Korrespondenz und Gegenüberstellung von Sirene und Yrkane inszeniert.48 Im Mittelpunkt stehen dabei das Begehren – gitekeit – und die Erkenntnis der richtigen Liebe. Hier sind es die Töne der Damen, die Reinfrieds Seele in Aufruhr bringen und in jene Gefahr versetzen, die Reinfried bestehen muss.49 Erst die Erinnerung an die Geliebte erlöst Reinfried schließlich aus der sinnlichen Notlage: daz gedenken haete in ein teil ze sinnen brâht, wan er hât sich vor verdâht an die süezen stimme, daz er todes grimme hatte gahtet kleine. (RvB, V. 22.718–22.723) [Die Erinnerung hatte ihn ein stückweit zu Verstand gebracht, denn er hatte sich zuvor der lieblichen Stimme hingegeben, sodass er selbst des Todes Macht geringschätzte.]

An dieser Stelle wird erneut betont, dass der Held sich in die Stimme Sirenes verdâht, verloren hatte. Schließlich führt das Sirenenabenteuer Reinfried zu Läuterung und zum Erkennen Yrkanes. Tod in Gestalt Sirenes und Leben in Gestalt Yrkanes werden auf diese Weise kontrastiert. Entsprechend wird Sirenes Begehren als ûz der mâze (V. 22.493) und als gîteclîch (V. 22.619), ihr Gesang als unbilde (V. 22.412) verurteilt. Auch äußerlich korrespondiert die Beschreibung Sirenes mit der Yrkanes. Letztere steht in mariologischer Tradition50 und so entspricht ihrem Aussehen auch ihr Gesang:

47 Amor ipse intellectus est. Vgl. Ohly, Süße Nägel, S. 68, Anm. 168. 48 Magnetberg- und Sirenenabenteuer werden dem Leser zweimal erzählt. Dies unterstreicht einerseits deren Bedeutung, andererseits werden die Geschichten beim Hören wiederholt und so erneut vergegenwärtigt. 49 Vgl. Vögel, Naturkundliches, S. 109. 50 […] sam die wilden rôsen var / lûhten leiht ir wengel, / und hienc des hâres strengel / ein löckel reit dâ bî ze tal. / diu schoene süeze über al / sô minnenclîch erlûhte, / daz einen wol bedûhte, / ez wær ein engel, niht ein wîp. (RvB, V. 2212–2219).

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man sach sî under stunden ziehen schâhzabelspil. harpfen rotten hât sî vil, psalterien videlen gîgen. ravenne zitollen swîgen hôrt man unlange stunde, wan diu süeze kunde ûz den selben sachen ir selben fröude machen mit slahende unde grîfen. lie sî dâ zuo slîfen ir engellîchen stimme, ich wæn irs herzen grimme dâ von gesenftert würde. (RvB, V. 23.290–303) [Zuweilen sah man sie Schach spielen. Harfen, Rauten hatte sie einige, auch Streichpsalter, Fiedeln und Geigen. Nur kurzzeitig verstummten Ravennen51 und Zitolen52. Die Liebliche konnte sich selbst mit diesen Dingen Freude bereiten, wenn sie die Saiten anschlug oder griff. Wenn sie dazu ihre engelsgleiche Stimme erklingen ließ, so glaube ich, wurde der Zorn ihres Herzens besänftigt.]

Yrkanes Gesang nimmt den lobenden Gesang der Engel und Heiligen vorweg und ist Ausdruck ihrer besonderen Würde, Reinheit und Gottesnähe, wie Almut Schneider konstatiert.53 Denn während Yrkane mit ihrer Musik und Stimme den Zorn des Herzens – irs herzen grimme – und alle Sorgen vertreibt, betört der Sirenengesang die Sinne und führt zu Verwirrung und Zweifel – zu todes grimme. Das Sirenenabenteuer ist als akustischer Höhepunkt für das Verständnis des Textes zentral. Es vergegenwärtigt auf der Handlungsebene Reinfrieds Stellung in der Heilsgeschichte. Zugleich wird der Schlüssel zum Verständnis des Textes geliefert, der im Sinne einer christlichen Poetik eine moralisch-allegorische Auslegung des Textes fordert. Klänge strukturieren nicht nur die Episode, sondern kommentieren sie und haben gleichfalls erkenntnisfördernde, ja memorierende und spirituelle Funktion. Damit ist im weitesten Sinne auch eine wirkungsästhetische Dimension verbunden, die ich im Folgenden skizzieren möchte.

51 Ravennen sind auf nordwestafrikanisch „Rehâb“ zurückzuführen und meinen traurig klingende Streichinstrumente. Vgl. Sachs, Lexikon der Muskinstrumente, Berlin 1913, S. 318 a,b. 52 Gemeint ist die Zither. 53 Vgl. zum „Sprachklang als Raum der Grenzüberschreitung“, Schneider, Sprachklang, S. 211.

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3. Performanz

Neben der strukturierenden und kommentierenden Funktion spielt der Text Klangphänomene auch auf der Ausdrucksseite aus. Lautgestaltung, Versmaß und Reim werden bewusst eingesetzt, um eine Wirkung auf das Publikum zu erzeugen. Und so sind die Klänge der erzählten Welt kaum zu überhören. Auf der Ebene der Historie halten sie den Herrscher präsent, kündigen Ereignisse an oder differenzieren Land und Leute. Heiden und Christen, Fremdes und Vertrautes sind an unterschiedlichen Klängen zu erkennen.54 Und so lassen sich auch die Wundervölker, die an den Rändern der Welt leben und denen Reinfried im Orient kämpferisch begegnet,55 nicht zuletzt an ihren Rufen und Lauten identifizieren und werden auf diese Weise als Verlierer ausgewiesen. Während die einen sam die hunde / grinen unde bullen (V. 20.445), haben die anderen eine tiuvellîche stimme (V. 20.464). Reinfrieds Schwert hingegen übertönt die grausigen Geräusche mit hellem dône (V. 20.392 f.). Überdies werden Klänge auf der Ebene des Discours eingesetzt und somit die „persuasiven Möglichkeiten“56 des Sprachklanges genutzt. Bestimmte Rhythmen (Anaphern, Wiederholungen, Rufe etc.) erzeugen beim Publikum Präsenzeffekte und haben nicht zuletzt eine Wirkung auf die Körper der Zuhörer.57 Der Einsatz dieser performativen Mittel zielt auf den Akt der Aufführung, also das Lesen oder Hören des Textes, das auch innerhalb der Dichtung mehrfach thematisiert wird. Somit wird der Rezipient bereits auf der Handlungsebene auf die Bedeutung von Klängen aufmerksam gemacht, die nun auch auf den Rezeptionsprozess zu applizieren sind. Das Hören, das Wahrnehmen von Welt und Wirklichkeit sind Themen, über die der Erzähler in eingeschobenen Kommentaren reflektiert oder die in den Handlungen der Figuren verdeutlicht werden. Reinfried selbst macht die Erfahrung von Welt, und so wird auch an das Publikum qua Lektüre oder Zuhören Wissen vermittelt und das Hören aus didaktischer Perspektive stetig thematisiert.58 Dass durch den Einsatz akustischer Mittel die Rezeption des Publikums insbesondere im Akt des Vorlesens gesteuert wird, lässt sich mithin auch daran verdeutlichen, dass Kampfschilderungen etwa in jambischen Rhythmen vorgetragen werden, um den Galopp der Pferde zu vergegenwärtigen: Alsus kam er mit grôzer maht. sich huop dô manic lûter braht, von phîfen dôz und scheften krach. 54 Vgl. auch den Willehalm Wolframs, dazu Greenfield, Schall im Willehalm; dazu auch: Grieb, Schlachtenschilderungen, S. 86. 55 Vgl. Röcke, Lektüren des Wunderbaren, S. 291. 56 Hausmann, Stil, S. 222. 57 Vgl. dazu auführlich die Arbeit von Ghattas, Rhythmus, S. 11. 58 Vgl. dazu Röcke, Lektüren des Wunderbaren, S. 291.

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man sach daz dirre jenen stach: so viel dort einr von jenem nider. sich pînten manges ritters lider ûf der âventiure trost. (RvB, V. 985–991) [Er kam mit großer Heeresstärke. Da erhob sich ein klirrender Lärm vom Schall der Pfeifen und dem Krachen der Lanzenschäfte. Man konnte sehen, dass dieser jenen zu Boden stach: So fiel dort einer durch den anderen. Der Körper so manchen Ritters wurde in dieser Aventiure geschunden.]

Diese vermeintliche Regelmäßigkeit wird durch die Kampfrufe unterbrochen, die zugleich Schwerthiebe imaginieren: man horte schrîgen, wîchâ, wîch! von Brûneswîc der fürste rîch kunt aber hie mit frîger ger. sîn hant diu hât wol zwênzic sper mit der tjost verswendet. (RvB, V. 997–1001) [Man hörte Rufe: „Weich aus, weiche! Der mächtige Fürst von Braunschweig kommt zu Hilfe. Seine Hand hat wohl zwanzig Speere im ritterlichen Zweikampf zerbrochen.“]

Die Verwendung bestimmter Stilmittel wie in oben benanntem Beispiel der Geminatio zeigt, dass auch auf der Ebene des Discours Laute instrumentalisiert werden. Sie verweisen noch einmal auf den poetischen Charakter der Sprache und sind für die Sinnstruktur des Textes bedeutsam. So wird etwa an verschiedenen Stellen auf den Beginn einer neuen Sequenz mittels akustischer Signale aufmerksam gemacht bzw. Sequenzen werden wiederholt, um beispielsweise die Abläufe von Festen, Einzügen etc. als wesentliche Kulturtechniken einzuüben. Akustische Beschreibungen, die am Beginn bestimmter Passagen stehen, wirken zunächst aufmerksamkeitssteigernd und kündigen das Folgende appellativ an. Ihre Wiederholung wirkt gliedernd und schafft intratextuelle Kohärenz; akustische Phänomene werden vom Publikum wiedererkannt und können darüber hinaus intertextuelle Verbindungen zu anderen Klangkulissen herstellen. Performanz wird überdies auch anhand metaleptischer Einschübe fassbar. Wenn etwa Wolfram von Eschenbach im Willehalm seinen Figuren zuruft, dass sie sich beeilen sollen, um zum Kampf zu kommen (Willehalm 403,11–404,7)59, dann ist dies einerseits 59 Im Willehalm 403,11–404,7 heißt es: Waz half nû Heimrîches kint, / daz die sibne und ir vater sint / bi ein ander und diu kristen diet? / der groze puneiz si doch schiet / und der starke krach der pusin; / und daz der tusent muosen sin, / rotumbes, die man da sluoc, / da von erwagete genuoc / Larkant daz wazzer und der plan, / als da der werde Gawan / an Lit marvale lac: / sölhes bibens

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ein Fiktionalitätssignal, andererseits kann die Stimme des Erzählers die Grenzen zwischen Realität und Fiktion überschreiten. Überdies wird der Lärm beim Gawankampf auf der Wunderburg im Parzival mit dem Donner beim Anbeginn der Welt verglichen.60 Dieser Lärm wird im Willehalm erneut evoziert, als Christen und Heiden aufeinandertreffen, und er steigert die Brisanz der Situation. Zudem wird der heranrollende Lärm als Ursache für die Wellen des Flusses benannt. Damit werden Schallwelle und die Welle des Wassers auch bildlich miteinander verbunden. Als „akustischer Höhepunkt“61 des Textes ist dies zugleich der Moment höchster Gefahr, denn das Heer der Christen droht von den Heiden überrannt, sprich vom Meer der Heiden, wie es im Text heißt, überschwemmt und hinweggespült zu werden. Die Instrumente der Heiden setzen, so erzählt es der Text, diese Bewegung erst in Gang.62 4. Zusammenfassung

Die von Jörg Bölling beschriebene strukturierende, kommentierende und performative Funktion von Klängen lässt sich auch im Reinfried von Braunschweig ausmachen. So strukturieren Klangkulissen auf der Handlungsebene zunächst den Text. Aufmerksamkeitssteigernde Signale gehören zu den Verfahren der Rezeptionssteuerung. Sie unterstützen die Inszenierung des Protagonisten als vorbildlichen Herrscher. Überdies kommentieren Klänge das Geschehen und verdeutlichen auf diese Weise die Sinndimension des Textes. Eigens im Sirenenabenteuer kommt der akustischen Wahrnehmung besondere Funktion zu, denn es liefert den Schlüssel zum Verständnis des Textes, indem die moralisch-allegorische Auslegung vorgeführt wird. Dies hat vor allem durch die Beschreibung der Gesänge von Sirene und Yrkane zugleich spirituelle, memorierende Funktion und erweitert so das von Bölling beschriebene Spektrum. Schließlich spielen Klänge auf der Ebene der Performanz bewusst auf die Rezeption des Textes an. Das Hören oder Lesen wird an verschiedenen Stellen des Textes thematisiert und inszeniert, stilistische Mittel bewusst eingesetzt. In der Forschung wurde mehrfach betont, dass sich der Protagonist des Reinfried während seiner langen Reise in den Orient der Curiositas schuldig mache und beim Alitschanz nu phlac. […] / da kom gezimieret / manec Sarrazin durch wibe lon / gein des sune von Narbon. – / der was sneller, der was lazzer – / über Larkant, daz wazzer. / [H]urta hurta hurte! / wie da uz manegem vurte / manec sunder storje strebete, / diu niht volleclichen lebete, / unz ir der tac bræhte die naht! Zitiert nach der Ausgabe von Schröder. 60 Hier heißt es Parzival 567,20–27: swaz der doner ie gedôz, / und al die pusunære, / op der êrste wære / bî dem jungesten dinne / und bliesen nâch gewinne, / ezn dorft niht mêr dâ krachen. Gâwân muose wachen, swier an dem bette læge. 61 Greenfield, Schall im Willehalm, S. 52. 62 Vgl. Willehalm, Schlacht auf Alischanz, Buch VIII. Dazu auch Kiening, Reflexion – Narration, S. 138 f.

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Wunder schauen der Augenlust, der Evidentia, anheimfalle.63 Im Hinblick darauf, dass der Erzähler an verschiedenen Stellen hervorhebt, dass die Welt mit allen Sinnen wahrzunehmen sei, scheint es dennoch naheliegend, dass gerade die synästhetische Erfahrung und Wahrnehmung der Welt im Zentrum des Romans steht. Somit soll auch die Vermittlung von Wissen auf allen Ebenen stattfinden. Reinfrieds Heiliglandfahrt folgt dem Muster der Pilgerführer. In diesen Texten geht es darum, die heiligen Orte zu imaginieren und Heilsgeschichte zu vergegenwärtigen, um das Leben Jesu nachzuvollziehen.64 Eben dies durchlebt auch Reinfried mittels unterschiedlicher sinnlicher Erfahrungen. Er durchreist die Welt und die Weltreiche, sieht, hört und liest über verschiedene Wunder, ohne sich zu vergehen, sondern um Gott zu erfahren. Bereits im Prolog, in dem das zentrale Anliegen des Textes dargelegt wird, werden die Jungen aufgefordert, wahrzunehmen, was bereits passiert ist und was künftig passieren wird, sprich sich an Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu orientieren: herz und sinne sönt ie dar mit den gedenken vehten, swâ man ze êren flehten sich siht mit wirdeclîcher tât. ein reine leben selten hât genomen ein swachez ende. (RvB, V. 17–23) [Herz und Sinne sollen immer dort mit dem Denken streiten, wo man sich mit würdevoller Tat um Ansehen bemüht. Ein sündenfreies Leben hat selten ein schlechtes Ende genommen.]

Während der irdischen Zeit bringt das Streben nach Ansehen Gottes Lohn. Der weltliche Ritter soll sich demnach mit Herz und Verstand in der Welt verdingen. Ein Beispiel für die Erfahrung des Irdischen liefert Reinfried selbst. Auf welche Weise die Welt zu erfahren ist, formuliert der Erzähler in der Mitte des Textes in einer Sentenz: Swer ie mit ganzen sinnen vaht gen gote, dem was er bereit (RvB, V. 12.896 f.). Vor diesem Hintergrund ist das vom Erzähler selbst benannte durgründen der Sinne (RvB, V. 1968),65 für das Verständnis des Textes und seine Botschaft zentral. Darin kommt – hier ist Wolfgang Achnitz und Klaus Ridder zuzustimmen – das „erkenntnistheoretische“66 Anliegen des Textes zum Ausdruck, dem auch die akustische Dimension zuträglich ist.

63 Vgl. den kurzen Abriss der Diskussion bei Achnitz, Babylon, S. 173, nebst Anm. 558. 64 Vgl. auch ebd., S. 170. 65 Vgl. Baisch, durchgrinden, S. 192. 66 Ridder, Mittelhochdeutsche Minne- und Aventiureromane, S. 318. Vgl. dazu auch Baisch, durchgrinden, S. 192; Achnitz, Babylon, S. 126.

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In den letzten Jahren wurde Hybridität als besonderes Kennzeichen der späthöfischen Texte beschrieben,67 sodass sie ein stückweit aus ihrer peripheren Stellung heraustreten konnten. In diesem Zusammenhang verdeutlicht die Auseinandersetzung mit akustischen Phänomenen die Vielschichtigkeit dieser Texte, die gerade stilistisch und kompositorisch einen hohen Anspruch verfolgen, da sie stetig Vorgängiges variieren und sich mit der ‚Tradition‘ auseinandersetzen. Vor diesem Hintergrund kann die Beschreibung von Klangphänomenen dazu beitragen, gerade das innovative Potenzial der Literatur der späthöfischen Zeit aufzuzeigen. Nimmt man die Forderung im Prolog des Textes nach der Einbindung aller Sinne ernst und beachtet den Befund, dass damit sowohl Phänomene der Sichtbarkeit als auch des Klanges anvisiert werden, dann bleibt darüber hinaus zu fragen, woher gerade die späthöfischen Romane – neben der Auseinandersetzung mit dem höfischen Roman – ihre Einflüsse ziehen. An dieser Stelle wären weitere Untersuchungen anzuschließen, die das intergenerische Potential der Texte, etwa den Einfluss von geistlicher Literatur und geistlichem Spiel auf den späthöfischen Roman und seine Inszenierung von Wahrnehmung, gezielt untersuchen. Gerade für die Fragen nach der Aufführung und nach der Rezeption der Texte ließe sich hier sicher noch einiges ans Licht und zu Gehör bringen. Quellenverzeichnis Iwein, Mhd./Nhd., hg. u. übers. von Rüdiger Krohn, komm. von Mireille Schnyder, Stuttgart 2012. Petrus de Ebulo „Liber ad honorem Augusti sive de rebus siculis“ Codex 120 II der Burgerbibliothek Bern. Eine Bilderchronik der Stauferzeit, hg. von Theo Kölzer, Marlis Stähli, Textrevision und Übersetzung von Gereon Becht-Jördens, Sigmaringen 1994. Reinfrid von Braunschweig, hg. von Karl Bartsch, Nd. d. Ausgabe Tübingen, Fues 1871; Hildesheim [u. a.] 1997. Wolfram von Eschenbach: Willehalm. Text und Übersetzung, 3. Aufl., Text der Ausgabe von Werner Schröder, Übersetzung, Vorwort und Register von Dieter Kartschoke, Berlin, New York 2003. Literaturverzeichnis Wolfgang Achnitz, Babylon und Jerusalem. Sinnkonstituierung im Reinfried von Braunschweig und im Apollonius von Tyrland Heinrichs von Neustadt (= Hermaea 98), Tübingen 2002. Martin Baisch, durchgrinden. Subjektivierung und Objektivierung von Wissen im Reinfried von Braunschweig, in: Inszenierungen von Subjektivität in der Literatur des Mittelalters, hg. von Martin Baisch [u. a.], Königstein, Taunus 2005, S. 186–199. 67 Vgl. dazu ausführlich Kerth, Gattungsinterferenzen, S. 5–8; Dies., Jenseits der matière, S. 265; Schulz, Poetik des Hybriden, S. 36 f.

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1. Minnelyrik zwischen ‚Lied‘ und ‚Gedicht‘

Wer sich mit der mittelhochdeutschen Minnelyrik befasst, wird unweigerlich mit einem altbekannten Problem konfrontiert: der Divergenz zwischen Überlieferung und originärem Gebrauch. Von der Überlieferung wird sie in schriftlicher Form präsentiert, also weitgehend als reiner Lesetext. Wir wissen aber aus den verschiedensten Quellen, dass sie nicht als ‚Leselyrik‘ gedacht war, sondern für die ‚Aufführung‘,1 den Vortrag durch einen Sänger vor einem Publikum, vermutlich mit instrumentaler Begleitung.2 Die Crux dabei ist nicht nur, dass sich über den pragmatischen Rahmen so gut wie gar nichts Sicheres sagen lässt,3 sondern vor allem, dass die musikalische Seite nahezu unbekannt bleibt, weil in den drei wichtigsten Sammelhandschriften, die den Großteil der mittelhochdeutschen Minnelyrik des 12. und 13. Jahrhunderts überliefern,4 nur die Texte, nicht aber die dazugehörigen Melodien aufgezeichnet sind und weil es, anders als etwa im Falle der Sangspruchdichtung, auch keine spätere Parallelüberlieferung mit Melodien oder ein Weiterleben der ‚Töne‘ in jüngeren Traditionszusammenhängen, dem Meistersang oder der Meisterlichen Liedkunst,5 gibt. Man ist also auf zufällige punktuelle Aufzeich1 Vgl. dazu den grundlegenden Aufsatz von Kuhn, Minnesang. Vgl. auch Strohschneider, Aufführungssituation; Tervooren, Die ‚Aufführung‘. 2 Diese erfolgte vermutlich durch Blasinstrumente (Flöte) oder Saiteninstrumente (Fidel, Harfe, Psalterium oder Verwandtes), im letzteren Fall vielleicht auch vom Sänger selbst gespielt. Vgl. dazu z. B. Holznagel, Geschichte, S. 14 f., den Überblick bei Mertens, Tagelieder, S. 280 f., oder Lewon, Wie klang Minnesang, S. 111–116. 3 Vgl. dazu Mohr, Minnesang als Gesellschaftskunst; Kleinschmidt, Minnesang. Vgl. auch – mit sozialgeschichtlichem Ansatz – Ortmann, Ragotzky, Minnesang. Kritisch zu der weit verbreiteten Vermutung, Minnelieder hätten ihren angestammten Platz bei höfischen Festen gehabt, Willaert, Minnesänger. Die Autorbilder in den Handschriften B und C (siehe unten, Anm. 4) sind diesbezüglich überraschend wenig aussagekräftig. Zwar sind immer wieder Instru­ mente abgebildet, aber keine der Szenen gibt auch nur ansatzweise einen Einblick in die aufführungspraktische Realisierung der Minnelieder (dafür sind die Miniaturen in den meisten Fällen wohl auch zu stark stilisiert). Vgl. z. B. Mertens, Visualizing, S. 150; Holznagel, Geschichte, S. 14 f. 4 A (Kleine Heidelberger Liederhandschrift, UB Heidelberg, Cpg 357), B (Weingartner Liederhandschrift, Württembergische Landesbibliothek Stuttgart, HB XIII 1) und C (Codex M ­ anesse, UB Heidelberg, Cpg 848). 5 Zu vielen Sangspruchtönen gibt es überlieferte Melodien. Zu erwähnen sind besonders die Jenaer Liederhandschrift J ( Jena, Thüringische ULB, Ms. El. f. 101) und die Kolmarer Liederhandschrift k (München, BSB, Cgm 4997). Vgl. die Zusammenstellung bei Brunner, Hartmann,

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nungen6 oder auf eindeutige Kontrafakturen angewiesen, ohne dann aber ganz sicher sein zu können, dass die Melodie der Vorlage auch tatsächlich unverändert übernommen wurde. Und selbst dann ist eine halbwegs authentische Rekonstruktion einer Aufführung so gut wie unmöglich, nicht zuletzt, weil die erhaltenen Melodie-­Aufzeichnungen nichts über die rhythmische Ausgestaltung der Melodien verraten.7 Besser sieht es im Hinblick auf die Melodieüberlieferung bei den Neidhartliedern sowie bei der Großform des Leichs aus, und dann auch im Spätmittelalter, etwa bei Oswald von Wolkenstein oder dem Mönch von Salzburg. Hier ist man aber wiederum mit anderen Problemen konfrontiert, z. B. Fragen der Aufführungspraxis; und auch hier ist über den pragmatischen Rahmen, in dem die Lieder erklangen, so gut wie nichts bekannt. Man befindet sich also zwangsläufig in der wenig befriedigenden Lage, die Minnelieder des 12. und 13. Jahrhunderts zunächst einmal als Leselyrik, als ‚Gedichte‘ wahrnehmen zu müssen, und nicht als das, was sie eigentlich sind: Lieder für den gesungenen Vortrag, bei denen die Schrift ursprünglich allenfalls sekundäre Funktionen hatte, mit einem breiten Spektrum zwischen Verschriftung und Verschriftlichung.8 Dieses Spek­ trum reicht von der „skizzenhaft-unvollständigen schriftlichen Gedächtnisstütze für den mündlichen Vortrag“ bis hin zur „planmäßigen Aufzeichnung eines den Anforderungen von Schriftlichkeit genügenden, wenn auch ehemals singbaren Textes“.9 Zum Ende des 13. Jahrhunderts zeigt sich, etwa bei Johannes Hadlaub und dem Zürcher Manesse-­Kreis, dass die Gattung Minnesang schon in ihrem ‚Spätherbst‘ und im Übergang zu ihrer eigenen Musealisierung (der Sammlung in teils prachtvoll gestalteten Sammelhandschriften mit der Intention, die Texte zu bewahren) zu genau dem geworden ist, als was sie uns

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Spruchsang. Zur eingeschränkten Aussagekraft späterer Melodieüberlieferung vgl. Lewon, Wie klang Minngesang, S. 84 f., der darauf hinweist, dass nicht nur die Texte, sondern auch die Melodien „den Veränderungen des Zeitgeschmacks unterworfen“ (S. 85) waren. Vgl. zu den überlieferten Minnesang-Melodien den konzisen Überblick von Brunner, Die Melodien, S. XLIX–LI (dort auch weiterführende Hinweise), sowie Lewon, Wie klang Minnesang, S. 90–93. Vgl. zu diesen methodischen Problemen die einleitenden Bemerkungen von Haug, Musikalische Lyrik, S. 59–68: „Der Spielraum des Ungefähren, Schwankenden und Kontigenten [sic!], in dem sich – wie alles Sprechen – die vokale Aktion des gesungenen Lieds bewegt, wird von der Schrift nicht erfaßt“ (S. 60). Vgl. auch die Ausführungen von Lewon, Wie klang Minnesang, dessen Aufsatz eindrücklich vor Augen führt, was wir alles nicht über die musikalischen und aufführungspraktischen Aspekte des Minnesangs wissen. Vgl. zu den Begriffen Oesterreicher, Verschriftung. Beide Zitate Müller, Performativer Selbstwiderspruch, S. 379 f. Beispiele für die planmäßige Aufzeichnung durch den Autor bieten etwa die Prachthandschriften mit den Liedern Oswalds von Wolkenstein (Wien, ÖNB, Cod. 2777; Innsbruck, ULB, ohne Signatur) oder Hugos von Montfort (Heidelberg, UB, Cpg 329).

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auch heute entgegentritt: zwar liet und sang, aber nurmehr noch in buochen niedergeschriebener ‚literarischer‘ (kein musikalischer!) Text.10 Man könnte auf dieses grundsätzliche Dilemma der Minnesang-Forschung resignativ reagieren und die Minnelieder so analysieren und interpretieren, wie sie auf uns gekommen sind: als reine Lesetexte, als schriftliterarische ‚Gedichte‘. Das wird oft genug gemacht und ist an sich auch weder illegitim noch methodisch problematisch, etwa wenn es um rein inhaltliche Fragen, z. B. nach Minnekonzepten, oder um die ‚poetische Faktur‘ der Texte geht. Schließlich kann man auch die Texte von Beatles-Songs literaturwissenschaftlich untersuchen und Bob Dylan den Literaturnobelpreis verleihen, oder man kann Goethe-Gedichte analysieren, ohne Schuberts kongeniale Vertonungen hinzuzuziehen.11 Sobald es allerdings um die Interaktion zwischen Sänger-Ich und Publikum,12 die Rollenhaftigkeit der Lieder oder die Intentionalität ihres Sprachklangs in einer konkreten Aufführung geht (auch das ist ja ein zentrales Element der ‚poetischen Faktur‘), wird die Unmöglichkeit eines analytischen Zugriffs auf die klangliche Seite des im Liedvortrag realisierten Minnesangs wieder virulent. Die Minnesang-Forschung hat sich diesem Problem und der ihm inhärenten methodischen Herausforderung schon seit langem gestellt: Hugo Kuhn prägte in den 1960er Jahren das Schlagwort vom ‚Minnesang als Aufführungsform‘;13 Jan-Dirk Müller, Peter Strohschneider und andere14 haben seine Überlegungen präzisiert und fortgeführt und dadurch verschiedene Wege gewiesen, die es ermöglichen, die Aufführungssituation trotz der fehlenden musikalischen Dimension und der dürftigen Fakten zum pragmati10 So formuliert es Hadloub in seinem sogenannten ‚Manesse-Lied‘; ich führe exemplarisch die erste Strophe an: Wa vunde man sament so manig liet? / man vunde ir niet in dem künigrîche, / als in Zürich an buochen stât. / Des prüevet man dike da meister sang. / der Manesse rank darnâch endelîche, / des er diu liederbuoch nu hât. / Gegen sim hove mechten nîgin die singære, / sîn lob hie prüeven und andirswâ, / wan sang hât boun und würzen dâ. / und wisse er, wâ guot sang noch wære, / er wurbe vil endelîch darnâ („Wo fände man so viele Lieder beisammen? Man fände sie im ganzen Königreich nicht, wie sie in Zürich in Büchern stehen. Drum hat man da mit Sangeskunst Erfahrung. Der Manesse bemühte sich zielstrebig darum, und so hat er jetzt die Liederbücher. Die Sänger sollten sich vor seinem Hof verneigen und seinen Ruhm begründen hier und andernorts. Denn dort stehn Baum und Wurzeln des Gesangs. Und wenn er wüßte, wo es noch ein gutes Lied gäbe, er würde sich drum bemühen, bis er’s hat“). Benutzte Ausgabe: Die Schweizer Minnesinger, Bd. 1, Lied Nr. 8, S. 325 f. Die Übersetzung entnehme ich: Deutsche Lyrik des späten Mittelalters, S. 349. 11 Der letzte Vergleich hinkt, weil im Falle von Schuberts Liedern die Musik sekundär-additiver und nicht, wie beim Minnesang oder bei den Beatles und Bob Dylan, primärer Bestandteil des ‚Kunstwerks‘ ist. 12 Zum Verhältnis zwischen ‚Text-Ich‘, ‚Performanz-Ich‘ sowie ‚biographischem Autor‘ vgl. Mertens, Autor. 13 Vgl. Kuhn, Minnesang. Zuvor ähnlich schon Mohr, Vortragsform. 14 Vgl. Müller, Ir sult sprechen; Müller, Performativer Selbstwiderspruch; Strohschneider, Aufführungssituation; Strohschneider, nu sehet, wie der singet!; Grubmüller, Ich als Rolle; Mertens, Autor; Tervooren, Die ‚Aufführung‘.

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schen Rahmen in den Blick zu nehmen. Dennoch: Die hohe Dichte der lyrischen Sprache des Minnesangs schon im 12. Jahrhundert ist ohne die auditive Wahrnehmung der gesungen vorgetragenen Sprache einer wesentlichen, wenn nicht sogar der wesentlichen Dimension beraubt. Die Reim- und Sprachartistik des späteren Minnesangs verschärft dieses Problem eklatant. Hugo Kuhn hat sie in anderem Zusammenhang bei aller terminologischen Problematik und der Unschärfe seines Ansatzes am Beispiel Gottfrieds von Neifen treffend als ‚Objektivierung‘ bzw. genauer als eine Objektivierung des Wortes beschrieben,15 als formalistische Inhaltsleere und übertriebene Sprachkunst, der lediglich ein Minimum an inhaltlicher Füllung gegenübersteht, die sich aber gerade durch den „Zusammenhalt von Reimwort und Wortsinn“ auszeichnet: Konventionelle, althergebrachte Motive und Elemente des hochhöfischen Minnesangs sind „zu ‚objektiven‘ Worten verhärtet, und diese erst treiben die Reim- und Formkünste aus sich heraus“. In dieser „objektive[n] Wendung der früheren Motive“ ist laut Kuhn der Kern des lyrischen Formalismus der Minnelyrik des 13. Jahrhunderts zu sehen. Sein leicht überpointiertes Fazit lautet: Bei Gottfried von Neifen sei „die Vorstellung zum Reimwort geworden“.16 Durch die auffälligen Sprachspielereien und die virtuose Reimkunst – beides Elemente, die später im 13. Jahrhundert wichtige Kennzeichen des geblümten Stils werden17 – rückt die klangliche Seite der Texte noch mehr ins Zentrum. Das gilt grundsätzlich für den späteren Minnesang, ist aber in Fällen, in denen der Reimklang auf die Spitze getrieben wird, von besonderer Relevanz. Exemplarisch angeführt seien zwei extreme Beispiele: 1. das Schlagreim-Lied Konrads von Würzburg (Schröder Nr. 26; die erste von zwei Strophen mag hier zur Illustration genügen):18 Gar bar lît wît walt. kalt snê wê tuot; gluot sî bî mir! gras was, ê clê spranc. blanc bluot guot schein, ein hac pflac ir. schœne dœne clungen jungen liuten; triuten inne minne mêrte. sunder wunder- bære swære wilden 15 Kuhn, Minnesangs Wende. Zur kritischen Auseinandersetzung mit Kuhns Ansatz vgl. z. B. Hübner, Minnesang, S. 9–13 und passim. 16 Alle Zitate Kuhn, Minnesangs Wende, S. 73. 17 Mit Burkhart von Hohenfels ist ein schwäbisch-alemannischer Dichter in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts einer der frühesten ‚Blümer‘; vgl. dazu – nach der grundlegenden Untersuchung von Kuhn, Minnesangs Wende, S. 7–43 – z. B. Hübner, Lobblumen, v. a. S. 301–310. 18 Benutzte Ausgabe: Kleinere Dichtungen Konrads von Würzburg, Bd. 3, Nr. 26, S. 47 f. Die im Vergleich zu Schröders Ausgabe leicht abgeänderte Interpunktion folgt F. Schanze, Zu einem Lied. Von dort übernehme ich auch die Übersetzung.

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bilden heide weide rêrte, dô frô sâzen die, der ger lâzen spil wil hie. Völlig kahl steht weithin der Wald. Kalter Schnee bereitet Pein – Hitze sei in mir! Gras gab es, ehe Klee aufsproß. Helle Blüte leuchtete herrlich, Gebüsch umfriedete sie. Heitere Weisen erklangen jungem Volk; Liebkosen steigerte ihre innere Leidenschaft. Ohne sonderliche Mühe den wilden Tieren das Gefilde Nahrung gewährte, wo frohgemut diejenigen weilten, deren Begehr das Vergnügen hier nun unterlassen will.

Das Lied zählt – wie auch Nr. 13 (Jârlanc vrîjet sich diu grüene linde) und Nr. 30 (Swâ tac erschînen sol zwein liuten)19 – zu Konrads ‚Kunststücken‘, bei denen formale Eigenheiten so sehr in den Vordergrund rücken, dass man den Eindruck hat, der Dichter wolle lediglich seine exorbitante Reimkunst vorführen: Jede einzelne Silbe reimt, d. h. das Lied besteht ausschließlich aus Reimklängen.20 Konrad erweist sich hier als ein großer Meister des Schlagreims. Er entfaltet mit einer wahren Kaskade von Wort für Wort aufeinander folgenden Reimen eine Art Klangteppich, dessen akustischer Reichtum förmlich die Sinne betört. Die ornamentale Klangfülle […] bestimmt die Wahrnehmung so sehr, daß der Sinn des Textes dadurch zumindest dem unmittelbaren Verständnis teilweise entzogen wird. Er erschließt sich zwar beim genaueren Hinhören, bleibt aber auch dann in Einzelheiten uneindeutig.21

Beim gesungenen Vortrag muss dieser klangliche Effekt noch wesentlich intensiver gewirkt haben – und der Text dürfte umso schwieriger zu verstehen gewesen sein. Dass das Lied aber keine banale Minnekanzone ist, die auf reine Klanglichkeit und Formspielereien beschränkt bleibt,22 ließe sich durch eine Interpretation, die etwa das Changieren des Liedes zwischen Minnekanzone und Marienlied näher beleuchtet, leicht erweisen.23 19 Vgl. zu diesen beiden Liedern z. B. Hübner, Minnesang, S. 139–144, der mit Blick auf die formale Kunst Konrads anmerkt: „Die Reimkunst schmeichelt nicht der Wahrnehmung, sondern soll als Artistik erkannt werden; sie lenkt das Interesse vom Inhalt auf die Ausdrucksform um“ (S. 141). 20 Zu den verschiedenen Reimarten, die Konrad nutzt, vgl. Stridde, Innovativer Formalismus, S. 210. 21 F. Schanze, Zu einem Lied. 22 So Hübner, Versuch über Konrad, S. 81; Stridde, Innovativer Formalismus, S. 210 („Inhaltlich gesehen bedient sich Konrad hier aus dem traditionellen Motivinventar der Minneklage“); Meyer, ‚Objektivierung als Subjektivierung‘, S. 188 mit Anm. 12. 23 Vgl. dazu F. Schanze, Zu einem Lied. Auch Christoph Huber deutet eine „Systemversetzung in einen geistlichen Assoziationsraum“ an, ohne einen möglichen marianischen Bezug zu explizieren; Huber, Wege aus der Liebesparadoxie, S. 101 f. Erste Hinweise auf m ­ arianische Subtexte in Konrads Liedern bei Cramer, Minnesang in der Stadt, S. 101.

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2. ein ähnlich schlagreimgesättigtes Lied Oswalds von Wolkenstein (Klein Nr. 93),24 der bekanntlich ebenfalls grundsätzlich nicht mit Reimreichtum geizt. Burghart Wachinger hat diesem Lied eine bestechende Analyse gewidmet.25 Hier sei ebenfalls lediglich die erste von drei Strophen angeführt: Herz, prich! rich! sich: smerz scherz hie dringt, ser zwingt und pringt natürlich lieb in immer ach. nach rach ich grimmiklichen schrei. ei frei, gesell, wenn kenn dein treu bedencken. Herz, brich! Nein, räche dich! Sieh: Schmerz verdrängt hier das Scherzen, unterdrückt es sehr26 und bringt naturgebundene Liebe in immerwährendes Ach. Um Rache rufe ich voller Zorn. O befreie mich, Geliebte, falls deine Treue der Zuwendung fähig ist.

Auch in diesem Lied wird der Textsinn fast völlig von der Reimartistik – auch wenn sie nicht ganz so extrem ist wie in Konrads Schlagreim-Lied – zusammen mit einer dunklen Metaphorik und einer ausgeprägten syntaktischen Ambivalenz27 überlagert. Anders als im Falle Konrads haben wir hier allerdings Zugriff auf die musikalische Seite (zumindest auf einen Teil davon), und das zeigt das Grundproblem, um das es mir geht, nochmals in aller Deutlichkeit. In den Handschriften ist für die 2. und die 3. Strophe ein ‚normaler‘ Lesetext überliefert, für die erste Strophe dagegen ein Gebrauchstext für zwei Sänger: Unter den Noten für Tenor und Discantus steht je ein unvollständiger Text; beide Stimmen singen teilweise parallel, teilweise aber ergänzen sie sich im sogenannten Hoquetus, im abgehackten Wechsel einzelner Noten, wobei sich eine sinnvolle Aussage erst aus der Abfolge der Stimmen ergibt. Nur in der kombinierten Realisierung der beiden je unvollständigen Sängertexte baut sich für den Hörer ein Gesamttext auf. […] Zu dem, was ein Hörer bei einer Aufführung der zweistimmigen Komposition vernehmen und aufnehmen konnte, stehen Singetext und Lesetext in einem gebrochenen Verhältnis.28 24 Text und Übersetzung entnehme ich Wachinger, Herz prich rich sich, S. 13 f. Vgl. auch die handschriftennahe Textherstellung Wachingers in: Die Lieder Oswalds von Wolkenstein, S. 228. 25 Vgl. Wachinger, Herz prich rich sich. 26 Anders als in Wachingers Übersetzung ist ser wohl als Substantiv (sêr) aufzufassen: „Schmerz verdrängt hier das Vergnügen, Leid zwingt und bringt naturgebundene Liebe in immerwährendes Ach“. 27 Vgl. dazu Wachinger, Herz prich rich sich. 28 Ebd., S. 7. Vgl. den entsprechend eingerichteten Textabdruck in Wachingers Oswald-Ausgabe, S. 228.

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Das Oswald-Beispiel verdeutlicht im Hinblick auf den hier skizzierten Problemkomplex zweierlei: Zum einen ist die Kluft, die zwischen der konkreten Aufführung und dem überlieferten ‚Singetext‘ (Noten und Text) und ‚Lesetext‘ (nur Text) klafft, sehr groß, und das wäre sicher auch der Fall, wenn die Minnelieder des 12. und 13. Jahrhunderts mit Melodien überliefert wären. Zum andern ist der Weg zum ‚Minneklang‘ auch in den Fällen, in denen Melodien erhalten sind, ausgesprochen weit – vielleicht zu weit. 2. Das ‚volle Wort‘?

Was also tun, wenn keine Melodie überliefert, das Lied folglich nur als Lesetext erhalten ist und wenn man nicht die Extremposition von Thomas Cramer übernehmen will, der zwar die Möglichkeit einer liedhaften Aufführung von Minnelyrik nicht grundsätzlich ausschließt, aber dennoch davon ausgeht, dass „mittelalterliche Gedichte […] im Wortsinne literarische, also durch die Schrift bestimmte Kunstgebilde in ihrer Konzeption, der primary reception und der Verbreitung“29 waren? Dass die Berücksichtigung des Liedvortrages aus methodischer Sicht eine Grundprämisse zu sein hat, dürfte unstrittig sein. Das ist letztlich die Konsequenz aus Kuhns Betonung des Status der Minnelyrik als einer Aufführungsform. Für die Weiterentwicklung von Kuhns Ansatz war Paul Zumthors Performanz-Modell30 von entscheidender Bedeutung, das den primär sprachlichen Faktoren verschiedene paralinguistische Werte der Aufführung eines Textes wie Gestik und Mimik, Interaktion mit dem Publikum, aber auch klangliche Aspekte wie Phrasierung oder Betonung zur Seite stellt.31 Eine Reduktion auf den schriftlich tradierten Text kann mithin lediglich „eine leere und zweifellos zutiefst veränderte Form dessen [liefern], was in einem anderen senso-motorischen Kontext einmal gewissermaßen ein volles Wort gewesen ist“.32 Das Problem, dass auf diesen „anderen senso-motorischen Kontext“ nur schwer zurückgegriffen werden kann, lässt sich freilich nicht lösen, aber das empirische Defizit (Nicht-verfügbarkeit von Daten) hebt […] die theoretische Notwendigkeit nicht auf, den Aufführungscharakter mittelalterlicher Lieddichtung in Rechnung zu stellen. Die faktische Rekonstruierbarkeit von Aufführungen auf der einen Seite und ‚Aufführung‘ als kommunikationstheoretischer Rahmen von Textproduktion und -rezeption auf der anderen betreffen unterschiedliche […] Analyseebenen. Auch wenn man kein ein29 Cramer, Waz hilfet âne sinne kunst, S. 8. Ähnlich auch Cramer, Die Lieder. Zur breiten Kritik an Cramers Ansatz vgl. u. a. Schiendorfer, Minnesang als Leselyrik. Vgl. auch Hübner, Minnesang, S. 30 f. und passim, z. B. S. 76 und 81 f. (zu Gottfrieds von Neifen Lied KLD Nr. VI). 30 Zumthor, La Lettre et la voix; deutsche Übersetzung: Zumthor, Die Stimme und die Poesie. Vgl. zum Folgenden Stock, Das volle Wort, S. 191–194. 31 Vgl. Zumthor, Die Stimme und die Poesie, S. 36. 32 Ebd., S. 60 (Hervorhebung im Original).

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ziges Zeugnis für einen bestimmten Vortrag eines Minneliedes hat, ist Minnesang, insofern er sanc, musikalische Darbietung, ist, mindestens auch dafür vorgesehen, in einem Vortrag zu Gehör gebracht zu werden. ‚Aufführung‘ mag deshalb als realgeschichtliches Faktum nicht mehr konkretisierbar sein; als kommunikationstheoretische Kategorie ist sie unverzichtbar, wenn man die textuelle Besonderheit des Minnesangs erfassen will.33

Wie man dabei vorgehen kann, haben – nach Wachingers brillanter Oswald-Analyse – auf überzeugende Weise u. a. Matthias Meyer und Markus Stock für den Minnesang des 13. Jahrhunderts vorgeführt:34 Meyer am Beispiel Konrads von Würzburg mit Blick auf eine extreme Subjektivierung der eigentlich ‚objektiven‘ Sprecherhaltung in den Minneliedern,35 Stock, unter anderem auf Meyer zurückgreifend, anhand eines Liedes Gottfrieds von Neifen. Beide gehen von der Prämisse aus, dass die „Kraft des Leitworts und seiner sprachlichen Umspielung im lyrischen Text“,36 also das, was Kuhn mit ‚Objektivierung‘ meinte, zwar primär im gesungenen Vortrag ihre Wirkung entfaltet, dass aber die „starke Rhetorisierung […] in den Texten erhalten und deutlicher Indikator der Wichtigkeit der Realisation des Textes im Vortrag“37 ist. Stock nimmt an, dass sich die „Spuren eines ‚konzeptionellen‘ Vortrags im Lied“ finden lassen; es geht ihm bei seiner Analyse also nicht um „Spuren einer ‚realen‘ Aufführungssituation, sondern um Spuren einer Vorstellung davon, wie das Lied klingen sollte“,38 mithin um „im Text sichtbare Klangphänomene“.39 Auch wenn man Stocks Vermutung, der „überlieferte Text der Handschrift müßte eher Spuren einer dem Vortrag vorgängigen, wahrscheinlich schriftlich niedergelegten Konzeption des für den mündlichen Vortrag bestimmten Liedes bewahren als Spuren eines Vortrags selbst“,40 nicht ohne weiteres beipflichten mag,41 ist seine „Annäherung an die Vokalität der Gattung“42 am Beispiel eines Liedes Gottfrieds von 33 Müller, Performativer Selbstwiderspruch, S. 385. 34 Meyer, ‚Objektivierung als Subjektivierung‘; Stock, Das volle Wort. 35 Meyer, ‚Objektivierung als Subjektivierung‘, S. 190: „Konrads Lyrik [ist] stark sexuell aufgeladen […], aber objektiv und abstrakt ist sie nicht. In der Vorführung […] sind die Texte extrem subjektiv und präsentieren ein männliches Ich, das eindeutig ein Recht auf individuelle erotische Freuden einfordert. Das grammatische Ich, an das solche Ansprüche in der Regel geknüpft werden, fehlt zwar auf der sprachlichen Ebene, wird aber im mündlichen Ausdruck manifest: Die euphonische Rhetorik der Freude ist kein Selbstzweck, sondern repräsentiert die Stimme des lyrischen Ichs. […] Konrad ist ein Extrembeispiel dieser Tendenz des sich in scheinbar objektiven Formulierungen erschöpfenden Sprechens, der Objektivierung des Liebeskonzepts.“ 36 Stock, Das volle Wort, S. 192. 37 Meyer, ‚Objektivierung als Subjektivierung‘, S. 189. 38 Beide Zitate Stock, Das volle Wort, S. 194. 39 Ebd., S. 195. 40 Ebd., S. 194 f. 41 Dagegen spricht ja schon der lange Zeitraum zwischen der Entstehung der Lieder und der greifbaren Überlieferung und die damit einhergehende mouvance vieler Minnesang-Texte. 42 Stock, Das volle Wort, S. 195.

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Neifen überzeugend, und Stock ist darin zuzustimmen, dass sich in seinem Ansatz „eine Möglichkeit an[deutet], mit dem methodischen Problem umzugehen, daß die Vokalgattung Minnesang nur schriftlich überliefert ist“.43 Wie weit dieser dem Sprachklang als einzig greifbarem Relikt einer Minnesang-spezifischen Klanglichkeit nachgehende Ansatz trägt, der vom sich gerade formierenden Forschungsparadigma der interdisziplinär-kulturwissenschaftlich ausgerichteten sound studies angeregt ist bzw. dieses in Teilen vorwegnimmt,44 bleibt allerdings zu prüfen. Ich rekapituliere dazu Stocks Analyse des Liedes (Gottfried von Neifen: Wir suln aber schône enpfâhen, KLD 15, Lied Nr. III). Zunächst der Text:45 I Wir suln aber schône enpfâhen Meien, der kan fröide bringen und vil manger hande wunne, liehte bluomen, rôsen rôt. sît daz uns wil fröide nâhen, sô suln wir mit fröiden singen. wê im der uns fröide erbunne! dem sî werndiu fröide tôt. wol im der uns fröide mêre, sît man lützel fröide hât! wê im der uns trûren lêre! wol im der uns leit verkêre, sît diu werlt mit trûren stât! II Lieplîch blicken von den wîben dar und dan mit spilnden ougen, daz kan sende swære büezen und fröit sendesiechen man. 43 Stock, Das volle Wort, S. 194. 44 Vgl. dazu den grundlegenden Überblick von Stock, Triôs, triên, trisô, vor allem S. 365–375. Nach der spezifischen ‚Auditivität‘ der mittelhochdeutschen Literatur fragt der Sammelband Bennewitz, Layher, der âventiuren dôn, hier v. a. der Beitrag von Layher, Hörbarkeit im Mittelalter. Vgl. zum Thema auch Ackermann, Bleumer, Gestimmte Texte; Layher, Acoustic Control; Köbele, Rhetorik und Erotik; Braun, Aufmerksamkeitsverschiebung; aus einer anderen Perspektive auch Mittler, Virtualität im Minnesang. Hingewiesen sei auch auf Cölln, Der Klang der selde. 45 Benutzte Ausgabe: Deutsche Liederdichter des 13. Jahrhunderts, S. 84–86. Vgl. auch den Textabdruck bei Stock, Das volle Wort, S. 186 f. (mit einer von KLD abweichenden Interpunktion und der Rücknahme einiger Konjekturen). Die beigegebene Übersetzung stammt von mir.

208 ez kan sendiu leit vertrîben, swâ ein man sîn liep siht tougen und mit minneclîchem grüezen in daz lachelîch siht an. lache, daz mir sorge swinde, lachelîch, ein rôter munt. sît dîn lachen mich enbinde von den sorgen, daz ich vinde fröide; dast ein lieplîch funt. III Reiniu wîp, durch iuwer güete lât mich senden iuch erbarmen daz mich diu vil wolgetâne hât geheizen hinnân für, obe iuch daz durh niht enmüete wan daz man mich siht sust armen in den fröiden fröiden âne; daz ich leider an mir spür. hinnân für, daz wort mir swendet fröide, ich bin an fröiden tôt. hinnân für, daz wort mich sendet in den tôt, ob ez niht wendet ir munt gar durchliuhtic rôt. IV Ich gesach von rôtem munde nie sô lachelîchez lachen als diu minneclîche lachet swâ si liebe lachen wil. baz dan ich erdenken kunde kan si liebe liebe machen. swâ si liebe liebe machet, dâ hebt sich der wunnen spil. Minne, wer daz si iht lache swenne ich si mit ougen sehe. wiltu daz mir sorge swache, süeziu Minne, an ir daz mache daz si dir gewaltes jehe.

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V Ich muoz wol von schulden sorgen wie mir von der minneclîchen, nâch der zaller zît ich brinne, mîner swære werde buoz. beidiu âbent und den morgen sorge wil mir niht entwîchen. daz klag ich dir, süeziu Minne, daz diu minneclîche ir gruoz mir verseite und ouch ir hulde. daz tuot mînem herzen wê. wære ez doch von mîner schulde, daz ich kumber von ir dulde, son geklagte ichz niemer mê. Lasst uns abermals den Mai gebührend empfangen, der Freude bringen kann und vielfältige Wonne: leuchtende Blüten, rote Rosen. Da sich uns Freude nähert, sollen wir freudig singen. Weh dem, der uns Freude missgönnte! Dem sei beständige Freude auf Dauer verwehrt. Wohl dem, der uns die Freude mehrt, da man wenig Freude hat! Weh ihm, der uns das Trauern lehrt! Wohl ihm, der uns das Leid verwandelt, da die Welt Trauer trägt! Liebreizende Blicke von den Frauen hin und her mit funkelnden Augen, das kann Sehnsuchtskummer bessern und freut den sehnsuchtskranken Mann. Wenn ein Mann seine Geliebte heimlich anschaut und sie ihn mit liebevollem Grüßen lächelnd anblickt, kann das den Sehnsuchtsschmerz vertreiben. Lache lächelnd, roter Mund, auf dass die Sorgen von mir weichen, weil dein Lachen mich von den Sorgen befreien kann, so dass ich Freude finde: Das ist ein freudiger Fund. Makellose Frauen, erbarmt euch meiner als eines Sehnsüchtigen wegen eurer Güte – aber nur, wenn es euch überhaupt keine Mühe macht! –, da mich die Wunderschöne fortgejagt hat, so dass man mich Allerärmsten ohne Freude in dieser freudvollen Zeit sieht; diesen Zustand muss ich leider an mir feststellen. ‚Fort von hier!‘, dieses Wort schwächt mir die Freude; meine Freude ist erstorben. ‚Fort von hier!‘, dieses Wort schickt mich in den Tod, wenn es ihr strahlendroter Mund nicht zurücknimmt. Ich sah von einem roten Mund nie so lächelndes Lachen ausgehen wie wenn die Liebreizende lacht, wo immer sie liebreich lachen will. Noch besser, als ich zu träumen gewagt hätte, kann sie Liebe freudvoll machen. Wo immer sie Freude mit Liebe füllt, herrscht allerhöchste Wonne. Minne, geschähe es doch, dass sie ein wenig lacht, wenn ich sie ansehe. Willst du, dass meine Sorge nachlässt, süße Minne, dann veranlasse, dass sie sich in deine Gewalt gibt. Ich muss mir völlig zurecht Gedanken darüber machen, wie mir durch die Liebreizende, für die ich allezeit entbrannt bin, Abhilfe für meinen Kummer werden kann. Am Abend und am Morgen will die Sorge nicht von mir weichen. Das klage ich dir, süße Minne, dass

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die Liebreizende mir ihren Gruß versagte und auch ihre Zuneigung. Das schmerzt mich im Herzen. Wäre ich doch selbst schuld daran, dass ich durch sie Kummer erdulden muss, dann würde ich darüber niemals mehr klagen.

Stock stellt in seiner Analyse Gottfrieds Konzentration auf die Leitwort-Technik in den Vordergrund, die sich in der ersten Strophe an der gezielten Platzierung des Wortes fröide festmachen lässt:46 Im zweiten Vers eingeführt, wird fröide im zweiten Stollen und zu Beginn des Abgesang zum Leitwort, das jeweils vor dem Reimwort steht. In den letzten drei Versen des Abgesangs wird es durch trûren und leit ersetzt; „allein dadurch“, also auf einer rein formalen Ebene, könne „die Gefährdung der fröide illustriert werden“, auch wenn in V. 7, 8 und 10 fröide in negativem Kontext stehe, in V. 12 leit in positivem. „Das Prinzip setzt sich durch die stetige Wiederholung des Wortklangs des Leitwortes gleichsam gegen die Semantik durch, und die klangliche Persistenz des Leitwortes schiebt sich gegenüber der (wenig komplexen) semantischen Ebene der Strophe in den Vordergrund. […] Die in der Strophe zentrale fröide sagt sich primär im Klangkörper des Leitwortes aus“,47 das assonierend in Konkurrenz zum Endreim tritt und zu diesem eine „Spannung“48 aufbaut. Das in der ersten Strophe als formales poetisches Prinzip eingeführte Leitwortverfahren setzt Gottfried in den folgenden drei Strophen fort, allerdings variierend. In der zweiten Strophe treten der nach wie vor präsenten fröide mit sende bzw. sendiu (der ersehnten Freude in der Liebeserfüllung) und dem vielfach als figura etymologica variierten lachen an verschiedenen Positionen in der Strophe und im Vers zwei neue Leitbegriffe zur Seite. Auch hier weist der „sprachliche Klangeffekt weit über eine dienende Funktion im rhetorischen Gefüge des Liedes hinaus“.49 In der dritten Strophe wird das bisher recht objektiv gehaltene Lied „endgültig zum genre subjectif minnesängerischen Leidens“. Stock konstatiert auch hier eine „dichte Textur des Sprachklangs“,50 entfaltet sie aber in seiner Analyse nicht so detailliert wie in den ersten beiden Strophen – ich vermute, weil sie nicht mehr ganz so leicht greif- und beschreibbar ist, sondern ziemlich komplex wird. Die wenigen Hinweise Stocks sind aber durchaus treffend; erwähnt sei lediglich das Polyptoton mit dem Leitwort fröide in V. 7: Das Sprecher-Ich ist in den fröiden fröiden âne, was den Kontrast zwischen seiner eigenen Situation und der eingangs dargestellten umgebenden Frühlingsfreude verdeutlicht. Stock fasst das wie folgt: Um „die gespaltene Situation des Ich zu betonen, wird ‚in Freuden freudlos‘ in einem Vers zusammengestellt.“51 Hinzuweisen wäre ergänzend 46 Zur inhaltlichen Funktion von fröide für dieses Lied vgl. Stock, Das volle Wort, S. 195. 47 Alle Zitate ebd., S. 195. 48 Ebd., S. 196. 49 Ebd., S. 197. 50 Beide Zitate ebd., S. 197. 51 Ebd., S. 197.

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zu Stocks Beobachtungen auch auf die mehrfache Wiederholung von hinnân für (V. 4, 9 und 11: „weg von hier“!), der zentralen Chiffre für die Abweisung durch die Geliebte. In der vierten Strophe kulminiert das Klangspiel, das Gottfried in diesem Lied treibt. Im Zentrum der Strophe stehen lachen, lieben und minne, die in einem Frauenpreis aufgehen, der auf den für Gottfrieds Lieder typischen, metonymisch auf die vrouwe bezogenen ‚roten Mund‘ und dessen Lachen hin ausgerichtet ist.52 Dieser Frauenpreis erreicht im zweiten Stollen der vierten Strophe mit einer Funktionszuweisung an die vrouwe und zugleich an den Frauenpreis selbst seinen Höhepunkt: baz dan ich erdenken kunde / kan si liebe liebe machen. / swâ si liebe liebe machet, / dâ hebt sich der wunnen spil (Str. 4, V. 5–8). Dieser „klanglich-formale […] Höhepunkt“ des gesamten Liedes hat, so Stocks Fazit, „bedeutungsstiftende Funktion“,53 und in dem erdenken des Sprecher-Ichs sieht Stock eine selbstreferentiell-poetologische Volte (Sprecher = Sänger = Dichter): „Vor der Qualität ihrer Kunst, Liebesfreude freudvoll zu machen, muß selbst die Qualität der Liedkunst, die, wie das hier aufgeführte Lied zeigt, exquisite Klangkunst ist, zurückstehen. […] Je aufwendiger die Klangkunst, desto höher das Lob der minneclîchen.“54 Und weiter: „Klangform und ‚Inhalt‘ verschmelzen so zu einer Einheit: Eine Trennung des Inhaltlichen vom Klanglich-Formalen ist nicht mehr möglich. […] Bei Gottfried von Neifen bilden […] Klang und Inhalt gemeinschaftlich die ‚Botschaft‘; Klang ist auf einen Zweck hin konzipiert, der über das rein Klangliche hinausgeht.“55 Nach dem Höhepunkt in der vierten Strophe findet diese Klangintensität, die sich mit Manuel Braun als für den Minnesang des 13. Jahrhunderts typische „Aufmerksamkeitsverschiebung“56 vom Inhalt zur Form beschreiben lässt, keine Fortsetzung. Zur fünften Strophe bemerkt Stock dann nur noch: „Das Lied endet in einer konventionellen Redefigur, in der die Unschuld des liebenden Ich an seiner beklagenswerten Situation beteuert wird.“57 52 Schon im 13. Jahrhundert galt der ‚rote Mund‘ als ‚Markenzeichen‘ Gottfrieds von Neifen, wie ein Minnelied des alemannischen Minnesängers Taler zeigt, in dem es heißt: der Nîfer lobt die frowen sîn / und ir rœselehtez mündelîn. Benutzte Ausgabe: Die Schweizer Minnesinger, Bd. 1, Lied Nr. 3, Str. 2, V. 7 f. (S. 278). Zur Funktion des hyperbolischen Gebrauchs des ‚roter Mund‘-­ Motivs allgemein vgl. Köbele, Die Kunst der Übertreibung. Zum roten Mund bei Gottfried von Neifen vgl. auch Bleumer, Der lyrische Kuss, S. 45–49. 53 Beide Zitate Stock, Das volle Wort, S. 198. 54 Ebd., S. 198. 55 Ebd., S. 199. Zu einem ähnlichen Befund kommt Hübner, Minnesang, bei seiner Analyse von Gottfrieds von Neifen Lied KLD Nr. VI (S. 76–83, hier S. 81–83): „Der Wohlklang des Liedes leistet, was das Konzept der höfischen Liebe eigentlich von den Frauen verlangt. […] Während Neifens Lieder mit ihrer Euphonie selbst kollektive Freude produzieren, durchkreuzen sie zugleich die Idee, dass Freude allein mittels Minnesang herzustellen wäre. Aus dem Wohlklang des Liedes heraus ertönt die emphatische Botschaft, dass es Minne geben muss, wenn der Minnesang einen Wert haben soll. Minnesang muss an praktizierte höfische Liebe, Freude durch Minnesang an Freude durch Minne gekoppelt bleiben“ (S. 81/82). 56 Vgl. Braun, Aufmerksamkeitsverschiebung. 57 Stock, Das volle Wort, S. 199.

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Es ist eine virtuose und überzeugende Analyse, die Stock hier vorlegt. Sie wirft aber im Hinblick auf das eingangs skizzierte Problem einige Fragen auf, von denen ich zwei erörtern möchte, die erste ausführlicher (3.), die zweite nur ganz kurz (4.). 3. Das ‚volle Wort‘ bei Heinrich von Morungen?

Dass die Sprachartistik und die „Kunstfertigkeit und Virtuosität in der Klangerzeugung“58 zentrale Elemente der Lieder Gottfrieds von Neifen sind – und zudem ‚schulbildend‘ waren, indem sie die weitere Entwicklung der Minnelyrik im 13. Jahrhundert entscheidend prägten –,59 steht außer Frage. Um kontrastierend das Verfahren des ‚klassischen‘ Hohen Minnesangs zu illustrieren, führt Stock vor seiner Analyse von Gottfrieds Lied unter Rückgriff auf Albrecht Hausmann60 als Gegenbeispiel Reinmars ‚Schachlied‘ MF 159,161 an, in dem eben nicht ‚klanglich‘, sondern argumentativ ausgearbeitet werde, was vröide im Minnedienst sein kann62 – so wie im klassischen Minnesang Zentralbegriffe und die Vorstellungen von ‚Liebe‘ meist nicht als gegebene Tatsachen konstatiert, sondern diskursiv entwickelt werden, anders als im späteren Minnesang, wo sie ‚erstarrt‘ sind.63 Dem will ich nicht widersprechen. Es sei aber zumindest angemerkt, dass das Reinmar-Beispiel im Hinblick auf dessen deutlich anderen Umgang mit dem Zentralbegriff vröide von Stock mindestens geschickt ausgewählt ist. Lieder des ‚klassischen‘ Minnesangs, die zeigen, dass es auch hier Sprachartistik sowie Kunstfertigkeit und Virtuosität in der Klangerzeugung gibt, die zugleich Bedeutung generieren, sind rasch gefunden, auch wenn sie weit weniger frequent und auch weniger augenfällig sind als in der Lyrik des 13. Jahrhunderts.64 Für Gegenbeispiele muss man nicht einmal an so besondere Fälle wie Walthers Reimspielereien – das bekannte Vokalspiel in L 75,25 (Die welt was gelf, rôt unde blâ) oder die Schlagreim-Strophe L 47,16 (Ich minne sinne lange zît)65 –, das 58 Stock, Das volle Wort, S. 200. 59 Einen ‚spätstaufischen Dichterkreis‘ um Burkhart von Hohenfels, Gottfried von Neifen und Ulrich von Winterstetten an den Höfen Heinrichs VII. und Konrads VI. vermutete Kuhn, Minnesangs Wende, S. 1–6. Diese Vorstellung ist schon aus zeitlichen Gründen nicht haltbar, vgl. dazu z. B. Hübner, Minnesang, S. 21 f. und S. 63 f. (zu Burkhart). Zur ‚schulbildenden‘ Nachwirkung Gottfrieds von Neifen vgl. ebd., S. 73. 60 Vgl. Hausmann, Reinmar der Alte, S. 179–185. 61 Benutzte Ausgabe: MF, S. 305–307. 62 Vgl. Stock, Das volle Wort, S. 188–191. 63 „Eine diskursive Sukzession, ein gedanklicher Vorgang findet nicht statt“; Worstbrock, Lied VI des Wilden Alexander, S. 198. 64 Es geht mir selbstredend nicht darum, dieses Spezifikum des späteren Minnesangs in Abrede zu stellen, und ich will auch nicht Stocks Ergebnisse hinterfragen, ganz im Gegenteil: Ich will lediglich auf einige methodische Probleme hinweisen. 65 Vgl. dazu Köbele, Rhetorik und Erotik, S. 324–326, und C. Schanze, Klangform und ‚Sinn‘.

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hochkomplexe, „berüchtigte“66 tandaradei in seinem ‚Lindenlied‘ L 39,1167 oder Reinmars eben auch auf sprachlicher Ebene manifeste Ästhetik des trûrens erinnern (etwa im ‚Preislied‘ Swaz ich nû niuwer mære sage, MF 165,10). Man könnte z. B. auf ein meines Wissens bislang noch nicht näher beschriebenes Phänomen im Œuvre Rudolfs von Fenis verweisen, der in einigen Liedern über eine signifikante Häufung des Personalpronomens der 1. Person Singular eine radikale Subjektivierung der Sprecherrolle erzielt – ein Kunstgriff, der sich dann auch bei den ‚Klassikern‘ finden lässt, etwa bei Heinrich von Morungen oder bei Hartmann von Aue (von Walther und Reinmar ganz zu schweigen); man könnte an Berngers von Horheim Binnenreim-Strophe MF 115,27 (Nu lange ich mit sange die zît hân gekündet) denken, in der – ähnlich wie in Walthers Schlagreim-Strophe L 47,16 – die Kernelemente der hohen Minne klanglich herausgehoben werden;68 oder man könnte Heinrichs von Morungen Lichtästhetik anführen, die auch und gerade sprachlich-klanglich realisiert wird.69 Heinrich von Morungen liefert die drei konkreten Gegenbeispiele zu Stocks These einer erst im späteren Minnesang deutlich ausgeprägten Klangsinn-Ästhetik, auf die ich etwas näher eingehen will. 66 Müller, ‚Gebrauchszusammenhang‘, S. 295. 67 Der refrainartig in jeder der vier Strophen wiederholte Vers tandaradei ist eine per se a-semantische Silbenfolge, die – als Verweis auf den Vogelgesang in der ersten (und auch in der vierten) Strophe – zunächst einmal ihre eigene Klanglichkeit in den Vordergrund stellt; vgl. dazu Müller, ‚Gebrauchszusammenhang‘, S. 295 f. Eine spezifische Bedeutung bekommt das tandaradei dadurch zugeschrieben, dass es im Bericht der Protagonistin des ‚Lindenliedes‘ in der zweiten und dritten, aber auch in der vierten Strophe von der Sprecherin übernommen wird und als Platzhalter an genau die Stelle rückt, an der davon berichtet wird, was under der linden geschah. Dieses Changieren zwischen Klang und Sinn entspricht dem Verhältnis von Sagen und Verschweigen, das das ‚Lindenlied‘ mit seiner kokett-verschämten, verrätselnd-offen sprechenden Protagonistin durchspielt; das tandaradei wird dadurch zum ‚Schlüssel‘ für das offene Geheimnis, von dem die Sprecherin in einem höfisch-ästhetisierten Rahmen (vgl. dazu Müller, ‚Gebrauchszusammenhang‘, S. 296 f.) berichtet. Zum Klangeffekt des tandaradei vgl. auch K ­ öbele, Rhetorik und Erotik, S. 310 („von Semantik entlastet, ohne asemantisch zu sein“, „zwischen Sinn und Klang oszillierende […] Rätselwörter“, die „genau dadurch hohe semantische Energie auf sich [ziehen]“), zu seinen ironischen Zügen Köbele, Ironie und Fiktion, S. 294–296 („So gibt der Lied-Refrain tandaradei zwar vor, als ‚reine‘ Klangrede alle Diskursivität oder realistische Referentialität zu tilgen, sagt aber doch nicht nichts, ist Verlockung und Verweigerung zugleich“; S. 295). Einer ähnlich rätselhaften Formulierung in einem Sangspruch Wernhers von Teufen (triôs, triên, trisô) widmet sich Stock, Triôs, triên, trisô, S. 375–380. 68 Vgl. dazu auch Raumann, Ironie und ‚frühe‘ Formkunst, S. 333–335. 69 Vgl. Tervooren, Heinrich von Morungen, Sp. 809 f. („Das virtuose Spiel mit den Reimen, Signum des späten Minnesangs, ist bei H. v. M. vorgebildet“; Sp. 809). Mit dem spezifischen Verhältnis von Klang und Visualität bei Heinrich von Morungen befasst sich Bleumer, Das Echo des Bildes, der pointiert formuliert: „Letztlich erweist sich der Klang als das entscheidende Medium visueller Intensität“ (S. 334), „der Stimmklang des Sängers ist das Licht, das die Schönheit der Dame erzeugt“ (S. 335, Hervorhebung im Original).

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Zunächst die ungewöhnliche Einzelstrophe MF 137,17:70 Vrowe, mîne swaere sich, ê ich verliese mînen lîp. ein wort du spraeche wider mich: verkêre daz, du saelic wîp! Du sprichest iemer neinâ neinâ nein, neinâ neinâ nein. daz brichet mir mîn herze enzwein. maht du doch eteswenne sprechen jâ, jâ jâ jâ jâ jâ jâ jâ? daz lît mir an dem herzen nâ. Herrin, schau auf meine Qual, bevor mein Leben dahinschwindet. Du sagtest einst ein Wort zu mir: Nimm es zurück, gepriesene Frau, die auch Glück zu schenken vermag. Du sagst immer nein, nein, nein, nein, nein, nein, das bricht mir das Herz. Kannst du nicht doch zuweilen ja sagen, ja, ja, ja, ja, ja, ja, ja? Das liegt mir so am Herzen.

Die Strophe ist im wahrsten Sinne des Wortes ein ‚Wort-Spiel‘. Beschrieben wird eine kurze Szene mit einer Adresse des minnenden Sprecher-Ichs an seine vrouwe. Im Aufgesang klagt der Sprecher ihr sein offensichtlich lebensbedrohliches Leid, das von genau dem einen Wort herrührt, das die Dame dem Sprecher gegenüber geäußert hatte. Zentral ist also dieses eine Wort (V. 3: ein wort), das zu Beginn des Abgesangs dann auch wortreich angeführt wird: neinâ, neinâ nein, / neinâ, neinâ nein.71 Diese Vervielfachung des einen Wortes verweist auf zweierlei, nämlich auf die Endgültigkeit der Absage der vrouwe sowie auf die Iteration dieser endgültigen Absage: Der Sprecher hat sich offensichtlich nicht die erste Abfuhr geholt (V. 5: du sprichest iemer). Wenig überraschend 70 Benutzte Ausgabe: Heinrich von Morungen, hg. von Tervooren, Lied Nr. XX, S. 98; der Text entspricht MF, er folgt der Handschrift A (zur leicht abweichenden C-Fassung siehe unten, Anm. 71 und 73). Die Übersetzungen stammen hier und im Folgenden aus Tervoorens Ausgabe. Die Strophe MF 137,17 hängt inhaltlich und durch Responsionen eng mit der Strophe MF 137,10 zusammen, mit der sie in A und C auch als Einheit überliefert ist. Allerdings gibt es formale Unterschiede; vgl. dazu den Kommentar von Tervooren, S. 171. Mohr, Minnesang als Gesellschaftskunst, S. 219 f., geht von einem zweistrophigen Lied aus und sieht dessen Pointe in der überraschenden Verlängerung des Abgesangs in der zweiten Strophe, mittels dessen Heinrich von Morungen „die Hörer […] viel intensiver […] mit ins Spiel [nimmt]“ (S. 220). Auch Irler fasst die beiden Strophen als Einheit auf; vgl. Irler, Minnerollen, S. 120–123. 71 Hier weicht die C-Fassung ab: Sie hat in V. 5 nur zweimal ‚nein‘ (neinâ nein; dadurch entspricht der hier viertaktige Vers formal dem Abgesang-Beginn der ‚Schwesterstrophe‘ MF 137,10) und lässt die dreifache Wiederholung in V. 6 komplett aus. Ob das nur ein Schreiberversehen ist (ein Augensprung vom ersten auf das vierte neinâ) oder eine gezielte Variation der Strophe, ist nicht zu entscheiden.

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ist, dass nur ein anderes Wort Abhilfe schaffen kann, nämlich das direkte Gegenstück: jâ. Dieses ‚Ja‘, also die Annahme des Dienstes, die Zulassung der Werbung, die Erfüllung des Begehrens usw., ist – ganz gemäß dem Schema der Hohen Minne – das, was der Sprecher einfordert. Als Hohe-Minne-Klage mit vorsichtig hoffnungsvollem Ende trotz der wiederholten Absage und mit Zügen einer Werbestrophe ist das einstrophige Lied wenig auffällig. Spektakulär ist jedoch die rein auf die Klanglichkeit des ‚vollen Wortes‘ zielende Potenzierung des zentralen Wort-Gegensatzpaares neinâ/nein und jâjâ/jâ. Hier dürfte wohl ein Beispiel dafür vorliegen, dass in der musealisierten schriftlichen Überlieferung der Strophe in den Sammelhandschriften A und C „Spuren […] davon, wie das Lied klingen sollte“,72 erhalten sind. Die mehrfache Wiederholung der beiden Schlüsselwörter (von ‚Leitwort‘ mag man hier nicht sprechen) wäre nämlich für die Strophenstruktur nicht zwingend nötig, zumal V. 9 überfüllt ist, zumindest wenn man einen aus zwei gleichen Teilen bestehenden Abgesang annimmt (was freilich nicht zwingend nötig ist). Diese Wiederholung ist aber sinntragend, da durch sie – und nur durch sie! – am Ende die ‚Jas‘ die ‚Neins‘ überwiegen.73 Möglicherweise ist hier (in V. 6 und V. 9) jeweils Platz für eine melismatische freie Improvisation. Das ist aber in der ‚verschriftlichten‘ Form, in welcher der Text auf uns gekommen ist,74 eigentlich dysfunktional, nimmt man nicht die eben skizzierte sinntragende Funktion an. Stocks Fazit seiner Analyse von Gottfrieds Lied lässt sich jedenfalls problemlos auf diese Einzelstrophe Heinrichs von Morungen übertragen: Akustischer Wortklang und semantischer Inhalt bilden gemeinschaftlich die ‚Botschaft‘; der ‚Klang‘ des Textes ist, auch wenn er sich in den Vordergrund schiebt und in diesem Fall vielleicht ‚nur‘ eine gute Pointe ist, wie Carl von Kraus vermutet,75 auf einen Zweck hin konzipiert, der über das rein Klangliche hinausgeht. Das zweite Gegenbeispiel ist für Heinrich von Morungen ebenfalls eher ungewöhnlich. Das „leichte, anmutige Lied“76 MF 139,19 beginnt in der ersten von drei Strophen mit einem pastourellenartigen Natureingang, der in eine Tanzszene mündet. Vergleichbares gibt es nur in frühen lateinischen und romanischen Pastourellen, nicht aber im 72 Stock, Das volle Wort, S. 194. 73 In der C-Fassung überwiegt das ‚Ja‘ durch die Verkürzung von V. 5 (Du sprichest iemer neinâ nein) und den Ausfall von V. 6 noch deutlicher. Durchaus reizvoll ist die Idee einer versteckten Pointe, die Carl von Kraus mit Blick auf das eine jâ in V. 8 im Gegensatz zum mehrfachen neinâ neinâ nein in V. 5 vermutet (allerdings erst nach einer Reihe von textkritischen Umbaumaßnahmen): „Eine Frau hat viele ‚nein‘, aber nur ein ‚ja‘ zu vergeben“; Kraus, Zu den Liedern, S. 37 f., hier S. 38 (Hinweis im Kommentar von Tervooren, S. 172). 74 In der handschriftlichen Aufzeichnung ist weder in A (fol. 14v) noch in C (fol. 79v) eine ‚besondere‘ Behandlung dieser ungewöhnlichen Wortfolgen erkennbar. 75 Siehe Anm. 73. Dass die Strophe klare parodistisch-komische Züge hat, wie Irler, Minnerollen, S. 122 f., vermutet (sie „eröffnet dem Vortragskünstler gerade durch die Repetition die reizvolle Möglichkeit, in die Stimmlage und die Gestik der Dame hinüberzugleiten und diese komisch­erotisch zu überzeichnen“; S. 122), kann nicht recht überzeugen. 76 Tervooren, Kommentar, S. 175.

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deutschen Minnesang um 1200.77 Erst etwas später werden solche Strophen zu Standard-­ Liedeinleitungen, vereinzelt bei Walther, häufiger bei Neidhart und dann natürlich im späteren Minnesang des 13. Jahrhunderts. Schon eher typisch für Heinrich von Morungen sind die dunklen Bilder der zweiten und der aggressive Ton der dritten Strophe78 und insgesamt die Vieldeutigkeit und Opazität des ganzen Liedes, das in drei Strophen drei unzusammenhängende Szenen einer Begegnung des Sprecher-Ichs mit seiner vrouwe nachzeichnet, die jeweils auf ein aktives Suchen des Sprechers zurückzuführen sind (I,6: die vant ich ze tanze; II,1 f.: ich vant sî verborgen / eine […]; III,1 f.: ich vant si an der zinne / eine […]).79 Mir geht es aber hauptsächlich um die ungewöhnliche und auffällige Reimtechnik, die hier angewendet wird und die vor allem in der ersten Strophe durch ihre Klanglichkeit einen Mehrwert erhält: Ich hôrte ûf der heide lûte stimme und süezen sanc. dâ von wart ich beide vröiden rîch und an trûren kranc. Nâch der mîn gedanc sêre ranc unde swanc, die vant ich ze tanze, dâ si sanc. âne leide ich dô spranc. Ich hörte am Waldesrand helle Stimmen und lieblichen Gesang. Das erhöhte meine Freude und vertrieb sogleich meinen Kummer. Sie, um die meine Gedanken immer und immer kreisten, erblickte ich dort, singend beim Tanz. Befreit tanzte ich da mit.

Die konventionelle Endreimstruktur (kreuzgereimter Aufgesang mit angereimtem Abgesang: abab-bbb) wird im Abgesang mit Binnenreimen angereichert: das vom zweiten Reimklang des Aufgesangs (-anc) ausgelöste ‚Reimgeklingel‘ mit seiner Reimhäufung durch den Inreim in V. 5, dem Beginn des Abgesangs (gedanc : sanc : ranc), sowie zusätzlich der ‚falsche‘ Mittenreim im letzten Vers.80 Mit diesen drei Strophen müsste sich 77 Vgl. Tervooren, Kommentar, S. 175. 78 Das Sprecher-Ich fasst seine Begegnung mit der Minnedame an der zinne (III,1) in das Bild eines von ihm verantworteten verheerenden Brandes, das durch den besonderen Rhythmus des fünften Verses mit seinen auffälligen Inreimen (dazu ausführlicher am Beispiel der ersten Strophe unten) nicht nur semantisch, sondern auch klanglich realisiert wird: Dô wânde ich diu lant hân verbrant sâ zehant (III,5). 79 Zur Interpretation des Liedes vgl. z. B. Speckenbach, Morungens Umspielen; Irler, Minnerollen, S. 102–114. 80 Statt des Reimklangs -anc, der ansonsten der einzige Reim im Abgesang ist, wird das Reimwort der ersten Stollenverse in V. 7 als Mittenreim aufgenommen (heide : beide : leide). leide ist allerdings eine Konjektur: In Handschrift C, dem einzigen Überlieferungszeugen des Liedes, steht leit. Die beiden folgenden Strophen zeigen aber, dass auch in der ersten Strophe der entsprechende Mittenreim anzusetzen ist.

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Heinrich von Morungen vor Reimartisten aus dem späteren 13. Jahrhundert nicht verstecken. Und wieder finden sich hier Spuren des ‚vollen Wortes‘, könnte man in der ersten Strophe die Reimhäufung auf denselben Reimklang (-anc) im Abgesang und vor allem im mit Inreimen gefüllten fünften Vers doch als klangliches Abbild des auf der inhaltlichen Ebene geschilderten Frühlingstanzes auffassen,81 da die Reimreihe mit sanc anhebt und mit spranc endet: Das Minnelied wird zum Tanz bzw. zum „Gedankentanz“82 – eine enge und absichtsvolle Beziehung von Wort und Sprachklang, die dann in der zweiten und dritten Strophe mit dem Umschwung von Freude (I,3 f.: dâ von wart ich beide / vröiden rîch und an trûren kranc) zu Trauer (zweite Strophe) und aggressivem Überschwang (dritte Strophe) in den minnesängerischen „Ausnahmesituationen“83 des Aufeinandertreffens mit der vrouwe an einem nicht näher bestimmten abgelegenen Ort (zweite Strophe) bzw. an der zinne (III,1) eine radikale Umwertung erfährt. Das dritte Gegenbeispiel weist in eine etwas andere Richtung. Das nur in C überlieferte zweistrophige Lied MF 141,37 ist in beiden erhaltenen Strophen von einer wiederum dunklen Bildlichkeit sowie einer beispiellos aggressiven Grundstimmung geprägt. Auffällig ist auch hier der Reimklang: Heinrich von Morungen beschränkt sich nämlich wie im vorigen Beispiel (MF 139,19), allerdings bei einem längeren, nämlich sechsversigen Aufgesang, pro Strophe auf zwei Reime,84 was wohl auf klanglicher Ebene das monoton-aggressive toben und quelen (vgl. I,5) des Sprecher-Ichs wegen der durch die Dame verursachten Liebeskrankheit, der Abweisung durch sie und des aussichtslosen Dienstes illustrieren dürfte: I Si hât mich verwunt rehte aldurch mîn sêle in den vil toetlîchen grunt, dô ich ir tet kunt, daz ich tobte unde quêle 81 Vgl. zum tänzerischen Rhythmus des Inreim-Verses auch Irler, Minnerollen, S. 105; Minnesang. Mittelhochdeutsche Liebeslieder, hg. von Klein, Kommentar zu MF 139,19, S. 366: „Erzielt wird damit ein Rhythmus, der die inhaltliche Aussage – Tanz auf der Heide (Str. 1) – nicht nur unterstützt, sondern im Medium der Sprache selbst imitiert“; Zimmermann, Typenverschränkung, S. 77 f. (unter Verweis auf Klein). 82 Zimmermann, Typenverschränkung, S. 78. Ob das Lied ein ‚echtes‘ Tanzlied ist, also für die Begleitung beim Tanzen gedacht war, ist kaum zu entscheiden. Überlegungen in diese Richtung bei Mertens, Fragmente, S. 39 f. und S. 43. 83 Kellner, Gewalt und Minne, S. 56. 84 Überdies sind die männlichen Reimwörter der ersten Strophe bis auf zwei (I,1: verwunt; I,4: kunt) in der zweiten Strophe als weibliche Reime wieder aufgenommen: grunt (I,3) → grunde (II,9); munt (I,6) → munde (II,2); stunt (I,7) → stunde (II,5); gesunt (I,10) → gesunde (II,8).

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umb ir vil güetlîchen munt. Den bat ich zeiner stunt, daz er mich ze dienste ir bevêle und daz er mir stêle von ir ein senftez küssen, sô waer ich iemer gesunt. II Wie wirde ich gehaz ir vil rôsevarwen munde, des ich noch niender vergaz! doch sô müet mich daz, daz si mir zeiner stunde sô mit gewalt vor gesaz. Des bin ich worden laz, alsô daz ich vil schiere wol gesunde in der helle grunde verbrunne, ê ich ir iemer diende, in wisse umbe waz. Sie hat mich verwundet im tiefsten Grund meiner Seele und meinen Lebensnerv getroffen, als ich ihr offenbarte, daß ich raste und mich quälte wegen ihres so vollkommenen Mundes. Den bat ich einstmals, er möge mich in ihren Dienst befehlen und mir von ihr einen leisen Kuß stehlen. Dann wäre ich für immer gesund. Wie kommt es, daß ich ihren rosenfarbenen Mund zu hassen beginne, den ich noch nie vergessen habe. Gleichwohl quält es mich, daß sie einmal vor mir saß und ihr Eindruck mich so überwältigte. Ich bin es müde geworden, so daß ich lieber sofort bei lebendigem Leibe in der tiefsten Hölle verbrennen würde, als fernerhin zu dienen, ohne zu wissen, wofür.

Auffällig ist in diesem Lied zudem Heinrichs virtuoses Spiel mit dem Motiv des ‚roten Mundes‘ (!), das als zentrale Chiffre für die vrouwe nicht diskursiv entwickelt wird, sondern schon hier gewissermaßen erstarrt, zu einem – mit Kuhn – ‚objektiven‘ Wort „verhärtet“ ist und die Reime im wahrsten Sinne des Wortes „aus sich heraus“ treibt:85 Der Zen­tralbegriff munt gehört als Polyptoton sowohl in der ersten (I,6: munt) als auch in der zweiten Strophe (II,2: munde) zu einem der beiden Reimklänge; Inhalt (die Fokussierung auf den Mund und den Kuss der Geliebten) und ‚Klangform‘ (Reim-Monotonie) verschmelzen.86 Der Mund wird dabei jeweils mit einem Epitheton ornans (I,6: güetlîch; 85 Kuhn, Minnesangs Wende, S. 73. 86 Kellner, Spiel der Liebe, S. 216, weist darauf hin, dass mit den -unt-Reimen auch die vom Sprecher-Ich gewünschte Entwicklung von der tödlichen Verwundung bis zur Heilung durch den Kuss abgebildet wird (verwunt – grunt – kunt – munt – stunt – gesunt). „Dieser Weg wird über die Kussraubphantasie zwar imaginiert, doch zeigt das feindliche Verhalten der Dame gegen-

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II,2: rôsevarwen) versehen, was ihn und damit den zärtlichen Kuss (I,10: senftez küssen), den das Sprecher-Ich von der Dame erhofft, in deutlichen Kontrast zu den überwältigenden und durchaus negativ dargestellten Gefühlen des Sprecher stellt, die in der in drastische Bilder gefassten Drohung der Dienst-Aufkündigung im Abgesang der zweiten Strophe (II,7–10) gipfeln.87 Im Codex Manesse, dem einzigen Überlieferungszeugen des Liedes, ist Platz für eine dritte Strophe frei gelassen (fol. 80r); entweder wusste der Schreiber von einer solchen, oder er hat angesichts der Drastik der zweiten Strophe vermutet, dass das Lied so eigentlich nicht enden kann. Auch wenn man ein wenig suchen muss – natürlich mehr als im späteren Minnesang –, ließen sich die angeführten Beispiele leicht vermehren,88 und das nicht nur anhand von Strophen Heinrichs von Morungen, in dessen Texten solche Effekte aufgrund ihrer spezifischen Ästhetik89 vielleicht noch am ehesten zu erwarten sind. Ich möchte aber betonen, dass es mir, wenn ich auch für den Minnesang um 1200 eine besondere Sprachklanglichkeit im Sinne des ‚vollen Wortes‘ konstatiere,90 weder darum geht, dem Minnesang des 13. Jahrhunderts die Neigung zum sprachklanglichen Exzess als augen- bzw. ohrenfälligem Spezifikum abzusprechen,91 noch will ich Stocks Analyse läufig dazu, dass es soweit wohl nicht kommen wird.“ In der zweiten Strophe sind es dann „ganz ähnliche Reime wie in der ersten Strophe auf -u, die das Gesagte noch einmal über die Klangstruktur verdeutlichen“. 87 Der Kommentar Tervoorens zu diesem Lied verdeckt mit seiner harmlosen Bewertung die existentielle Drohung, die dem Lied inhärent ist. „Daß das Ganze aber nicht unbedingt ernst gemeint ist, zeigt der Wechsel zwischen der ernsten dunklen Stimmung des Aufgesang von 1 und der schalkhaften Bitte an den personifizierten Mund der Geliebten (nicht die Geliebte selbst!)“ (S. 180). Vgl. zum Austesten der Gattungsgrenzen in diesem Lied die eingehende Analyse von Langer, Das Spiel. 88 Hinweisen will ich noch auf Heinrichs von Morungen Lied MF 140,32, in dessen zweiter Strophe das ‚reguläre‘ Reimschema des Aufgesangs (abab) durch einen Schüttelreim potenziert wird, der die zentralen Elemente des Frauenpreises im ersten Stollen dieser Strophe (der Preis ist von Naturbildern in der ersten und dritten Strophe umrahmt) hervorhebt: Seht an ir ougen und merkent ir kinne, / seht an ir kele wîz und prüevent ir munt. / si ist âne lougen gestalt sam diu Minne. / mir wart von vrouwen so liebez nie kunt (II,1–4: „Seht ihre Augen und betrachtet ihr Kinn, seht ihren weißen Hals und schaut euch ihren Mund an. Es läßt sich nicht leugnen, sie gleicht der Liebesgöttin. Niemals habe ich bei Frauen solchen Liebreiz gefunden“). Das Lied zeichnet sich auch sonst durch verschiedene außergewöhnliche Reimformen (Zäsurreime, Inreime) und auffällige Freiheiten in der Reimgestaltung (Variierung von Strophe zu Strophe) aus. Vgl. zu solchen vermeintlichen Unregelmäßigkeiten C. Schanze, Der Dürner, vor allem S. 446–448. 89 Siehe oben, Anm. 69. 90 Nur am Rande: Ist das nicht eigentlich ganz grundsätzlich immer ein Zeichen von ‚Lyrizität‘? 91 Vgl. Köbele, Rhetorik und Erotik, S. 324: „Minnesang ist auch und vor allem das Medium des ‚süßen Klangs‘ […]. Wenn Liebe nicht nur Gegenstand der Lyrik ist, sondern, als Sinnlichkeit zum Klang drängend, Gegenstand und Medium zugleich, dann bleibt Unmittelbarkeit notgedrungen immer eine medial inszenierte, unter anderem klangintensive. Insbesondere das Spiel von Erwartung und Erfüllung, das der Reim spielt, scheint gezielt in den Dienst

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von Gottfrieds von Neifen Lied kritisch hinterfragen oder gar abwerten. Als striktes Kriterium einer Differenzierung innerhalb der Gattung Minnesang muss dieser Faktor meines Erachtens aber doch mit einem nicht ganz kleinen Fragezeichen versehen werden.92 4. ‚Klangform‘ und Klang

Der zweite Punkt, an dem ich bei Stocks Analyse einhaken will, betrifft eine Formulierung, mit der Stock auf das seinem Aufsatz zugrundeliegende methodische Problem der Uneinholbarkeit des pragmatischen Rahmens reagiert, das ich eingangs umrissen habe. Stocks elegante Analyse zeigt deutlich, wie in Gottfrieds von Neifen Lied „Klangform und ‚Inhalt‘ […] zu einer Einheit“93 verschmelzen und dass die für den Minnesang des 13. Jahrhunderts typische – bzw. eben als Unterscheidungskriterium, wie ich hoffentlich zeigen konnte, vielleicht doch nicht ganz so typische – Formkunst keiner Inhaltsleere gegenübersteht, sondern dass „Klang und Inhalt gemeinschaftlich die ‚Botschaft‘“ bilden: „Klang ist auf einen Zweck hin konzipiert, der über das rein Klangliche hinausgeht.“94 Stocks Befund lässt sich für den späteren Minnesang verallgemeinern, er lässt sich aber eben auch auf den Minnesang des 12. Jahrhunderts übertragen, wenn auch leicht modifiziert. Ich frage mich dabei jedoch, ob man das, was Stock zutreffend als ‚Klangform‘ bezeichnet, so einfach mit ‚Klang‘ im Sinne des in einer Aufführungssituation erklingenden gesungenen Liedes gleichsetzen kann. Ich meine nein, und diese grundlegende Differenz erscheint in Stocks Analyse als nivelliert.95 Es ist offensichtlich, dass sich auch über den Umweg der ‚Klangform‘ die grundsätzliche Aporie, in der wir uns bei der analytisch-interpretatorischen Beschäftigung mit Minnelyrik befinden, nicht auflösen lässt.

erotischer Imagination gestellt. Und der hohe Minnesang spielt das Spiel anders als der spätere. Man fragt sich, was verschiebt sich hier, wann, unter welchen Bedingungen und wie? Die Potenzierung von Klang scheint ein nicht unwesentlicher Faktor im Spiel mit den Grenzen des hohen Sangs.“ 92 Vgl. dazu auch Hübner, Minnesang, S. 9 f. und passim. 93 Stock, Das volle Wort, S. 199. 94 Beide Zitate ebd., S. 199. 95 Stock, Triôs, triên, trisô, unterscheidet die beiden Ebenen ‚Klangform‘ und ‚tatsächliche, einmalige, unwiederholbare und nicht rekonstruierbare Aufführung‘ dann auch klar und deutlich (z. B. S. 369).

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5. Wie klingt die Minne? Nochmals: Minneklang bei Heinrich von Morungen

Was also tun? Man muss, so ist zu befürchten, diese Aporie als solche akzeptieren. Ich will mich der Frage, wie ‚die Minne‘ klingt, daher als Ausblick auf einem anderen Weg annähern und werde mich anhand eines Extrembeispiels mit der Klanglichkeit des Minnesangs auf seiner Inhaltsseite befassen96 – selbstredend nicht als ‚Ausweg‘ aus der oben skizzierten Aporie, sondern schlicht als eine andere Möglichkeit, sich der Frage ‚Wie klingt die Minne?‘ anzunähern, und ohne den Anspruch, diesen Weg methodisch verallgemeinern zu können. Mein Beispiel stammt ebenfalls von Heinrich von Morungen, der unter den Dichtern um 1200 wohl der innovativste und experimentierfreudigste war, ohne dass er allerdings die konzeptuellen Grenzen der hohen Minne überschritten hätte, wie es etwa Walther von der Vogelweide mit seinen neuen Minnekonzepten getan hat. Das Lied MF 145,33 hat eine komplizierte Überlieferung, auf die ich hier jedoch nicht näher eingehen will. Ich lege die dreistrophige Fassung des Codex Manesse zugrunde, die in der Forschung allgemein als ‚echt‘ akzeptiert ist.97 I Ich wil eine reise. wünschent, daz ich wol gevar. dâ wirt manic weise, diu lant wil ich brennen gar. Mîner vrowen rîche, swaz ich des bestrîche, daz muoz allez werden verlorn, sî enwende mînen zorn. II Helfet singen alle, mîne vriunt, und zieht ir zuo mit … schalle, daz si mir genâde tuo. Schrîet, daz mîn smerze mîner vrowen herze breche und in ir ôren gê. sî tuot mir ze lange wê. 96 Beispiele für die besondere Rolle des Klangs auf der Inhaltsseite in den Liedern Heinrichs von Morungen auch bei Bleumer, Das Echo des Bildes, z. B. S. 334 f. (zu MF 124,32). 97 Vgl. zur Überlieferung und zu Echtheitsfragen die Angaben in der Ausgabe Tervoorens, S. 134 f. und S. 188. Zur Überlieferungssituation auch Schweikle, Eine Morungen-Parodie.

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III Vrowe, ich wil mit hulden reden ein wênic wider dich. daz solt dû verdulden. zürnest dû, sô swîge aber ich. Wiltu dîne jugende kroenen wol mit tugende, sô wis mir genaedic, süeziu vruht, und troeste mich dur dîne zuht. Einen Kriegszug will ich unternehmen. Wünscht mir, daß ich mein Ziel erreiche. Dabei wird mancher Waise, das Land will ich mit Feuer verwüsten. Was auch immer ich von dem Herrschaftsbereich meiner Herrin erreichen kann, ist zum Untergang bestimmt – wenn sie nicht meine Wut besänftigt. Freunde, helft mir alle singen und rückt heran mit lautem Ruf, damit sie mich erhört. Schreit, daß mein Schmerz meiner Herrin Herz erweiche und in ihre Ohren dringt. Schon zu lange quält sie mich. Herrin, ich will – Deine Zustimmung vorausgesetzt – ein wenig mit dir plaudern. Du wirst es hinnehmen. Erzürnt es dich, dann höre ich auf. Wenn du deine Jugend mit höchster Vollkommenheit schmücken willst, dann erhöre mich, süßes Geschöpf, wie es deiner feinen Art entspricht.

Zu Beginn kündigt das Sprecher-Ich einen Kriegszug an und bittet sein Publikum dafür um gutes Gelingen: Ich wil ein reise. / wünschent, daz ich wol gevar (I,1 f.). Die auf Kampf und Krieg bezogene Bildlichkeit ruft den Topos des Liebeskrieges auf, der im Minnesang um 1200 eigentlich eher selten vorkommt, von Heinrich von Morungen jedoch häufiger genutzt wird.98 Ungewöhnlich ist der Beginn des Liedes trotzdem, weil im gesamten Aufgesang der ersten Strophe (I,1–4) nicht erkennbar ist, dass es sich hier um ein Minnelied handelt. Der zweite Stollen umreißt zunächst die unausweich­lichen Folgen des geplanten Kriegszuges: dâ wirt manic weise, / diu lant wil ich brennen gar (I,3 f.) – viele Tote, verwüstete Landstriche. Erst im Abgesang wird klar, gegen wen sich der angedrohte Kriegszug des Sprecher-Ichs wendet: Mîner vrowen rîche, / swaz ich des bestrîche, / daz muoz allez werden verloren (I,5–7). Das Reich ist metaphorisch zu verstehen, es steht metonymisch für die Minnedame des Sprecher-Ichs. Der letzte Vers benennt den Grund für die Kriegserklärung – mînen zorn – und weist zugleich einen möglichen Ausweg auf, der der Adressatin der Kriegserklärung offenstehe: den zorn des Sprecher-Ichs zu besänftigen und damit den Kriegsgrund aus der Welt zu schaffen. Bemerkenswert ist die selbstbewusste 98 Einen Überblick über die „Kampf-, Kriegs- und Brandmetaphorik“ in den Liedern Heinrichs von Morungen gibt Kellner, Gewalt und Minne, S. 35; vgl. grundsätzlich die Studie von Kohler, Liebeskrieg.

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und ausgesprochen aggressive Grundhaltung, die das Sprecher-Ich hier an den Tag legt. Selbst im Rahmen der Liebeskriegs-Topik stehen die zornerfüllten Gewaltphantasien, die hier geäußert werden, in eklatantem Gegensatz zum Konzept der hohen Minne.99 Ähnlich wie der letzte Vers der ersten Strophe hat auch der letzte Vers der zweiten Strophe Schlüsselfunktion,100 denn er liefert die Begründung für das zornige Wüten des Sprecher-Ichs: sî tuot mir ze lange wê (II,8). Die existentielle Notlage, in der sich jeder Sänger der hohen Minne befindet, hat das Sprecher-Ich Heinrichs von Morungen in diesem Lied offensichtlich zum Äußersten getrieben, nämlich zum gewaltsamen Aufbegehren gegen die Situation, die die Konstellation der hohen Minne bildet: ewiger Kummer und Schmerz durch die grundsätzliche Unerreichbarkeit der Minnedame sowie ihre vollständige Ablehnung des Begehrens des Minnesängers. Ist dieser Gewaltakt, der eine „potentielle Handlungsweise des Sängers“101 darstellt, in der ersten Strophe noch als die tatsächliche Androhung physischer Gewalt in Form einer Kriegserklärung markiert, wird er in der zweiten Strophe in den Rahmen des Minnesangs zurückgeholt.102 Allerdings kapituliert das Sänger-Ich vor seinem eigenen Plan und lagert ihn an eine andere Instanz aus, nämlich an den dritten Pol der ‚standardmäßigen‘ triangulären Konstellation der Hohen Minne: das Publikum, das der Sprecher offensichtlich als auf seiner Seite stehend begreift. Er fordert die vriunt auf: Helfet singen alle (II,1). Ein Minnesänger, der um Mithilfe und Unterstützung beim Singen bittet? Dieses ungewohnte Bild erklärt sich vielleicht aus der Art des Minneklangs, der hier imaginativ evoziert wird: Es ist kein höfisch-edler, schöner, ‚hoher‘ Minnesang, der erklingen soll, sondern das Äquivalent des Kriegsgeschreis des in der ersten Strophe als drohende Möglichkeit in den Raum gestellten Kriegszuges.103 Die vriunt sollen der Minnedame des Sprecher-Ichs mit schalle104 entgegentreten, sie sollen sie anschreien und auf diese Weise den Schmerz des Sängers zum Ausdruck bringen, eben weil der Sänger die gattungsgemäße Klage über seinen Minne-Kummer – sî tuot mir ze lange wê (II,8) – verweigert und andere in seinem Namen sprechen bzw. schmerzerfüllt  99 Vgl. dazu auch Kellner, Gewalt und Minne, die allerdings auf dieses Lied nicht eingeht. Leuchter, Dichten im Uneigentlichen, S. 60, spricht von einer „Frechheit“, zumindest „aus minnetheoretischer Sicht“. 100 Die beiden Verse sind anaphorisch aufeinander bezogen: sî … 101 Stock, Die unmögliche Empörung, S. 156. 102 Vgl. ebd., S. 158: „Das Bild des gewaltsam sich Empörenden hat keinen Bestand. In der zweiten Strophe wechselt das singende Ich die Rolle des kriegerischen Empörers gegen die des Sängers“. 103 Tervooren verweist in seinem Kommentar (S. 188) auf eine mögliche Anspielung auf den Rechtsgebrauch des ‚Gerüfte‘, auf „eine indirekte Anklage […], die auf der im altdeutschen Recht verankerten Form der Anklage ‚mit Geschrei‘ basiert“. Aber warum sollten die vriunt dann vom Sprecher-Ich aufgefordert werden, ihm beim singen zu helfen? Die zweite Strophe spielt mit der ‚klanglichen‘ Spannung zwischen ‚schönem‘ Minnesang und dem Kriegslärm der ersten Strophe. Skeptisch hinsichtlich Tervoorens Verweis auf rechtliche Konnotationen ist auch Stock, Die unmögliche Empörung, S. 159, Anm. 8. 104 Die überlieferungsbedingte Lücke in diesem Vers ließe sich vielleicht durch eine nähere Beschreibung der Klangqualität füllen, z. B.: mit [vil lûtem] schalle.

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schreien lässt. Zugleich wird damit in unmittelbarem Anschluss an die erste Strophe ein erneuter Gewaltakt gegen die Dame eingeleitet: Die akustische Drohkulisse, die als Klimax bzw. mit Blick auf die Klang­dimension als „Crescendo“105 inszeniert wird – vom singen über das schallen zum schrîen –, soll konkrete physische Auswirkungen auf den Körper der Minnedame haben, indem die potenzierten Schmerzensschreie durch die Ohren in die vrouwe eindringen und ihr herze bersten lassen (II,5–7):106 gebrochenes Herz gegen gebrochenes Herz, Schmerz gegen Schmerz, körperliche Reaktion gegen körperliche Reaktion, die natürlich als Chiffre für die Annahme des Minnedienstes durch die Minneherrin gedacht ist (II,4: daz si mir genâde tuo). Aus dieser Perspektive wird über die imaginierte Klanglichkeit der zweiten Strophe das Gewaltpotential der ersten Strophe noch gesteigert und nicht reduziert, wie es auf den ersten Blick erscheint und wie es in der Forschung auch bislang meist gesehen wurde.107 Die Fallhöhe der revocatio in der dritten Strophe ist damit ungleich höher. Das Sprecher-Ich wendet sich nun – plötzlich ganz handzahm – direkt an die Dame, bittet um Erlaubnis, ein wenig mit ihr sprechen zu dürfen (III,1 f.: Vrowe, ich wil mit hulden / reden ein wênic wider dich),108 und stellt in Aussicht, bei Nichtgefallen sofort gänzlich still zu schweigen. Die in den ersten beiden Strophen planvoll aufgebaute physisch-akustische Drohkulisse fällt lautlos und verzagt in sich zusammen,109 und das, was das Sprecher-Ich nun wenîc (III,2) gegenüber der Dame äußern will, ist eine Werbe- und Preisrede, wie sie im Rahmen der Hohen Minne konventioneller kaum sein könnte: Wiltu dîne jugende kroenen wol mit tugende, sô wis mir genaedic, süeziu vruht, und troeste mich dur dîne zuht. (III,5–8)

Das Lied gibt sich also als ein vielschichtiges metapoetisches Spiel mit verschiedenen Sängerrollen110 und mit den Möglichkeiten und Grenzen der Ausgestaltung dieser Rollen im Rahmen der hohen Minne. 105 Stock, Die unmögliche Empörung, S. 159. 106 Leuchter, Dichten im Uneigentlichen, S. 62, spricht von „akustische[r] Folter“, die „die Herrin die peinigenden Gefühle des Ichs nachempfinden lassen“ soll. 107 Vgl. z. B. Schweikle, Eine Morungen-Parodie, und zustimmend Tervooren, Kommentar, S. 188; Stock, Die unmögliche Empörung, S. 158 f.; Irler, Minnerollen, S. 128. 108 Zum Verständnis des Verspaars vgl. Tervooren, Kommentar, S. 189. 109 Vgl. Stock, Die unmögliche Empörung, S. 159: „Nach dem Crescendo der zweiten Strophe tritt nun, zwischen Auf- und Abgesang der letzten Strophe, quasi eine Generalpause ein: Der Vers zürnest du, sô swîge aber ich (III,4) bezeichnet präzise den ‚Nullpunkt‘ des Lieds“. 110 Vgl. auch Stock, Die unmögliche Empörung, S. 160; Irler, Minnerollen, S. 129 f., der zwar in den „vorgeführten Rollen satirische Züge“ (S. 129, ähnlich auch S. 128 und S. 130) ausmacht, diese Beobachtung aber nicht näher erläutert.

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Der exponierte Stellenwert, den Klanglichkeit an sich und verschiedene Klangeffekte in diesem Lied – kulminierend in der zweiten Strophe – zugewiesen bekommen, verlagert sich in einer Aufführungssituation, dem gesungenen Vortrag dieses Liedes durch einen Minnesänger (und zunächst sicherlich durch Heinrich von Morungen selbst), von der rein inhaltlichen Ebene auf eine real körperlich erfahrbare sensuelle Ebene: Das Kriegsgeschrei der Freunde geht nicht nur innerhalb der Fiktion des Minneliedes der vrouwe durch die Ohren ins Herz, es prallt auch als ‚realer‘ akustischer Reiz auf die Körper der Zuhörer. Der Klang der Minne, der hier als wüstes und schmerzerfülltes Schlachtgeschrei imaginiert und auf diese Weise gewissermaßen indirekt ‚real‘ hörbar wird, erzeugt einen ‚Präsenzeffekt‘ (Hans Ulrich Gumbrecht)111 bzw. ‚poetische Emergenz‘ (Hartmut Bleumer).112 Durch diesen Präsenzeffekt des Wortklangs113 wird das Publikum Heinrichs von Morungen unmittelbar physisch berührt, unabhängig von der eigentlichen, bloß semantischen Ebene des Wortes. Kummer und Schmerz, die Grundkonstituenten der Befindlichkeit des Sprecher-Sänger-Ichs der hohen Minne, werden so hautnah und jenseits der Dichotomie von Wort und Wortklang sinnlich erfahrbar. Die Minnesänger des 13. Jahrhunderts trauten dieser Unmittelbarkeit des ‚vollen Wortes‘ offensichtlich nicht mehr ganz und substituierten sie durch die überbordende formale Artistik einer ‚Klangform‘. In beiden Fällen ist der Präsenzeffekt zwar unabhängig von der medialen Vermittlung des ‚Liedes‘ – wenig zweifelhaft aber ist, dass der ‚süße Klang‘114 der Minnelyrik im gesungenen Vortrag ungleich eindrucksvoller und intensiver war als in unserer stillen oder auch lauten Lektüre.115 Nicht ohne Grund lässt Heinrich von Morungen sein Sänger-Ich in MF 133,13 betonen, es sei (nur) zum Singen geboren: Singe aber ich dur die, diu mich vröwet hie bevorn, sô velsche dur got nieman mîne triuwe, wan ich dur sanc bin ze der welte geborn. (I,5–7) Singe ich aber für die, die mich früher froh gestimmt hat, dann möge um Gottes willen niemand meine Aufrichtigkeit in Frage stellen, denn zum Singen bin ich geboren.

111 Vgl. Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik. 112 Vgl. zum Begriff Bleumer, Das Echo des Bildes. 113 Vgl. Stock, Autorität und Intensität, S. 390 (mit Bezug auf ein Lied Gottfrieds von Neifen): „Wortwiederholung und Klangeffekt scheinen auf Effekte des Präsentischen zu zielen, auf eine Form der Rezeption, in der Unmittelbarkeitseffekte und ästhetisches Intensitätserleben gegenüber dem hermeneutisch-verstehenden Entschlüsseln dominieren“; minimal variiert wieder in Stock, Triôs, triên, trisô, S. 381. Vgl. auch Köbele, Rhetorik und Erotik, S. 324 (siehe das Zitat in Anm. 91). 114 Köbele, Rhetorik und Erotik. 115 Vgl. dazu die Überlegungen von Hübner, Klang als Form, S. 68.

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3. Lautsphäre der spätmittelalterlichen Stadt

Campanile und Minarett Konflikte in städtischen Lautsphären seit dem Mittelalter Gerhard Dohrn-van Rossum

Campanile und Minarett waren und sind in der städtischen Umwelt im christlichen wie im islamischen Bereich seit jeher als herausragende Bauwerke Träger von religiösen Signalquellen. Glocken und Glockentürme hat es bei den frühen Christen nicht gegeben und das Minarett kam erst später als eine Art Antwort auf die christlichen Glockentürme auf. Überall da, wo die beiden großen Religionen am selben Ort präsent sind, bleiben Campanile und Minarett bis heute in Konkurrenz und oft in Konflikt aufeinander bezogen. Beide Formen der von ihnen ausgehenden Gebetsrufe waren über lange Zeit beherrschende Elemente urbaner Lautsphären, alltäglicher und bedeutsamer als andere intentionale Signale, etwa Trompeten- und Hornklänge oder von Musik begleitete Umzüge. Als Signale und Symbole prägen Glockentöne und muslimische Gebetsrufe seit dem Mittelalter die religiös akustischen Umwelten der Städte. Ausgehend von vielen vorliegenden Arbeiten zur Geschichte der Glocken, der Glockentürme und der Minarette und den weniger zahlreichen Arbeiten zu den konkurrierenden Tönen und Klängen1, soll hier eine bis in die Moderne reichende Übersicht über das immer spannungsgeladene Verhältnis dieser Signale versucht werden. Vergangene Klangwelten lassen sich nicht mehr hörbar machen. Wir suchen somit unvermeidlich nach ihren Spuren in Texten, Bildern und in geringerem Umfang in Überresten von Schallquellen wie erhaltenen Glocken, Instrumenten oder speziellen Bauwerken. Dazu kommt ein weiteres methodisches Problem: Laute als Elemente von Lautsphären in der Alltagswelt hinterlassen nur dann Spuren, wenn sich etwas ändert, wenn neue Laute und Signale auftauchen, wenn Lautsphären zum Thema in Konflikten werden. Kaum Spuren hinterlassen dagegen die vielfältigen anderen alltäglichen Geräusche, die das städtische Leben in der Vormoderne akustisch begleiteten. Als modulierte Schallwellen werden Glocken und Gebetsrufe von ihren Erzeugern und den Hörern Bedeutungen (Aufruf, Befehl, Warnung, Ausdruck von festlicher Stimmung) zugeschrieben, die im jeweiligen kulturellen Kontext verstanden werden. Die Intensität und Reichweite dieser Signale markieren auch immer beherrschte Räume oder Räume, für die Herrschaft beansprucht wird. Glocken und Gebetsrufe waren und sind nicht nur Signale, sie stehen vielmehr symbolisch umfassend für die beiden Religionen.

1 Tolan, Clanging Bells ist die bisher wichtigste Arbeit für die Iberische Halbinsel im Mittelalter.

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Bis in die Gegenwart wird immer mal wieder um die Anzahl, die Intensität und die Dauer von Glockentönen gestritten. Bauverbote werden für Minarette oder Verbote der islamischen Gebetsrufe mit der Begründung gefordert, dass sie politisch motivierte Bauten bzw. akustische Provokationen seien, die einen religiös-politischen Machtanspruch symbolisierten. Kirchenglocken und Uhrglocken sind in Deutschland und anderswo längst nicht mehr Klänge einer vertrauten, heimatlichen Umgebung, sie stoßen heute als „klerikaler Lärmteppich“ häufig nicht nur auf aggressive, anti-religiöse Kritik, sondern auch auf Klagen wegen Ruhestörung oder Verletzung des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit durch dergleichen umweltschädlicher Lärmemissionen.2 Aber auch von moslemischer Seite wird die Konkurrenz gelegentlich durch einen aggressiven Islam verschärft. Im Jahr 1997 hat der türkische Präsident, einen nationalistischen Dichter vom Anfang des 20. Jahrhunderts zitierend, gesagt: Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten.3

Das hat zwar seit über 1500 Jahren kein moslemischer Gelehrter so gesagt, zeigt aber, dass der ‚Kampf um die akustische Lufthoheit‘ gerade in den Grenzbereichen zwischen Christentum und Islam nicht nur sehr alt, sondern auch unverändert aktuell ist. Der Begriff ‚Lautsphären‘ hebt auf abstrakte Räume ab, während oft mit Blick auf den Begriff der ‚Landschaft‘ auch von ‚paysage sonore‘4‚ paesaggio sonoro‘5 bzw. ‚soundscape‘ die Rede ist. Wenig sinnvoll erscheint m. E. die Bezeichnung ‚religious noise‘, weil die intentionalen Klänge, Töne und Signale religiöser und ziviler Institutionen wie auch musikalische Veranstaltungen von den vielfältigen, aber diffusen städtischen Geräuschen unterschieden werden sollten. Die Beschäftigung mit den Glockenkulissen ist natürlich auch verbunden mit nostalgischen Erinnerungen an eine erst im 19. und 20. Jahrhundert untergegangene akustische Kultur Alt-Europas, das Friedrich Heer einmal sehr treffend als „Glocken-Europa“ bezeichnet hat, eine Kultur, die heute einer ‚Un-Kultur‘ des allgemeinen „Lärms und Krachs“6 gewichen sei. Schon im Mittelalter galten Städte als lärmende Plätze. Der sensible Intellektuelle Francesco Petrarca entzog sich dem höllischen Großstadtlärm – „tumultus Tartareus“, Hunde, Wagen, Stimmengewirr – an stillere Orte. Die multikulturelle Großstadt Avignon, damals Sitz der Päpste, vergleicht

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Hense, Glockenläuten und Uhrenschlag. Der Dichter Ziya Gökalp (Mehmed Ziya, 1876–1924), zit. n. Die Welt, 22. September 2004. Corbin, Cloches; Corbin, Glocken. Bordone, Campane. Heer, Verkündung, S. 2; Schafer, Klang und Krach; zu vergleichbaren Fragen in Amerika vgl. Weiner, Religion out loud.

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er mit Babylon, der Hölle im Diesseits.7 Der in kriegerischen Konflikten als Waffe eingesetzte Lärm in vielen Formen soll hier nicht behandelt werden. Gebetsrufe durch Glocken oder gar Glockentürme werden in der Bibel ebenso wenig erwähnt wie solche Rufe durch einen Muezzin von einem Minarett im Koran. In der Antike waren kleine Glöckchen und Schellen (κ´ωδονες, tintinnabula) als schmückender Behang an Menschen und Tieren wie auch als Signalinstrumente in Gebrauch. Die frühe Kirche lehnte sie wegen ihrer Verwendung bei den Heiden, v. a. aber wegen ihres traditionell apotropäischen, d. h. böse Geister abwehrenden Gebrauchs ab. Im sogenannten Wetterläuten ist diese Funktion des Glockenläutens später wieder aufgenommen und seit der Reformation als Aberglauben wieder abgetan worden.8 Zunächst nur zögernd benutzt, werden dann Glocken, zunächst Handglocken, seit dem späten 6. Jahrhundert neben anderen Signalinstrumenten für den Aufruf zu den regelmäßigen täglichen Gebeten und auch für die Gliederung des Tagesablaufs in den Klöstern benutzt.9 Die in der Mitte des 6. Jahrhunderts entstandene Benedikt-Regel sieht ein ‚signum‘ als Wecksignal vor und macht die Anzeige der Stunden des Gottesdienstes zur Pflicht.10 Seitdem gliederten Glockensignale mit einer gewissen Reichweite Gebetszeiten und damit auch die Tageszeiten der ländlichen und städtischen Umgebung. In den östlichen Kirchen blieben und bleiben z. T. bis in die Gegenwart die wohl jüdischer Tradition entstammenden hölzernen Schlagbretter (Semantron, Simandron) üblich, mit denen sich weit klingende und auch differenzierte Töne erzeugen lassen.11 Nach unbestätigten venezianischen Überlieferungen geht der – vergleichsweise seltene – Glockengebrauch im griechischen Osten auf die Stiftung von 12 schweren Glocken durch den Dogen Orso I. an den Kaiser in Konstantinopel um das Jahr 880 zurück.12 Glocken erklangen in Konstantinopel erst wieder nach der Eroberung der Stadt durch die Kreuzfahrer 1204. Die sich seit dem 10. Jahrhundert reich entwickelnde russische Tradition der Glocken und Glockenspiele kann hier nicht behandelt werden.13 Auch in manchen westlichen Klöstern und Gemeinden wird das Schlagholz (Tabula) während der stillen heiligen ‚Drei Tage‘ von Gründonnerstag bis Ostersonntag als Gedenken an das Leiden Christus‘ geschlagen. In großem Umfang wurden seit dem 7./8. Jahrhundert die Kirchen der lateinischen Christenheit mit Glocken (zunächst signum, dann campana, clocca, nola, tintinnabulum u. a.) zum Gebetsruf ausgestattet. Wegen der etymologischen Nähe hat man die Stadt Nola in Kampanien als Ursprungsort vermutet und den hl. Paulinus von   7 Petrarca, De vita solitaria c. I, 6, S. 62, Komm. S. 189–191.  8 Gibert, Sonneries; Haid, Naturgefahren.  9 Trumpf-Lyritzaki, Glocke; Cuscito, Campanile; Neri, Cloches; gute Übersicht zur Frühzeit der Glocken bei Arnold, Goodson, Community. 10 Regula Benedicti, c. 22 u. 46. 11 Dombart, Semanterium; Stichel, Semantron. 12 Iohannes Diaconus Venetus, Chronicon Venetum, [verf. Anf. 11. Jh.], S. 126; Dandulo, Chronica, S. 160; vgl. Hannick, Glocken. 13 Dazu Williams, Bells of Russia, S. 21–22.

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Nola zum Patron der Glockengießer gemacht. Dass der Papst Sabinian (604–606) das Horengeläut angeordnet habe, ist jedoch eine hartnäckige Legende. Für die katholischen Kirchen in den Städten verbindlich gemacht wurde das Läuten der Sequenz der sieben kanonischen Horen (Laudes, Prim, Terz, Sext, Non, Vesper, Komplet) erst in Kapitularien der Karolingerzeit.14 Damit hatte nach den Klöstern die städtische Öffentlichkeit akustisch Anteil am Rhythmus der Gebetszeiten und Gottesdienste. Von Glockentürmen hören wir in einiger Anzahl seit dem 8. Jahrhundert.15 Zeitgenössische Chroniken berichten seitdem vielfach von Glockeninstallationen, von der Einrichtung mehrerer Glocken, von Glockengießern und Sorgen um die Metallbeschaffung. Kirchenglocken wurden dann auch zu weltlichen Zwecken, wie dem Zusammenrufen zu Ratssitzungen, bei Alarm und militärischem Aufgebot, benutzt. Schon früh ist der weltliche Gebrauch der Kirchenglocken belegt. Wann Städte mit der Installation eigener Glocken, wohl erst auf Kirchtürmen, dann auch auf stadteigenen Türmen angefangen haben, ist nicht ganz deutlich zu erkennen – vermutlich seit dem 11. Jahrhundert. Schon seit dem Frühmittelalter war den Zeitgenossen bewusst, dass die Glocken der Kirchen und später auch die der Städte Schallräume, eigene Lautsphären bestimmter Reichweite in Öffentlichkeiten erzeugten, die Zugehörigkeiten, Zuständigkeitsbezirke aber auch Machträume konstituierten. Durch Glockenzeichen konstituierte Lautsphären stifteten in besonderer Weise Identitäten und Öffentlichkeiten.16 Nach einer frühspanischen, wisigothischen, vor dem Jahr 712, also vor der islamischen Eroberung, verfassten Liturgie soll zur Todesstunde eines Bischofs für die Öffentlichkeit geläutet („signum publice“) werden und dieses Läuten soll möglichst auch von Kirchen in einem Radius von zwei Meilen aufgenommen werden.17 Glockeninstallationen und Glockenläuten waren auch ohne Glockentürme möglich, die wohl seit dem 8. Jahrhundert üblich wurden.18 Häufige Gewichtsangaben zeigen dann, dass die Glocken seit dem 8. Jahrhundert deutlich größer werden. In Europa entwickelt sich die Kunst des Bronze-Gießens, nicht mehr nur des Schmiedens, schwerer Glocken, als ein technischer Sonderweg. Bald wird es üblich, mehr als eine Glocke aufzuhängen. Nach dem ‚Liber Pontificalis‘ hat Papst Stephan (752–757) die Basilika Alt-St. Peter in Rom ausdrücklich mit einem Turm und 3 Glocken ausgestattet.19 Gelegentlich einer römischen Glockenstiftung des Papstes 14 MGH, Leges 2: Capitularia regum Francorum, l Nr. 36 (802), c. 8: Ut omnes sacerdotes horis conpetentibus diei et noctis suarum sonent aecclesiarum signa […]. 15 Trevisan, Campane e campanili. 16 Haverkamp, Öffentlichkeit; Arnold, Goodson, Community, S. 124 f. 17 Férotin, Liber ordinum, c. 43, col. 140 f. 18 Arbeiter, Ruf zu Gebet, S. 151. 19 Idem Beatissimus Papa […] fecit basilicam beati Petri apostoli turrem, quam ex parte inauravit, et ex parte argento investivit, in quo tres posuit campanis, qui clero et populum ad officium dei invitarent Duchesne, Liber pontificalis. I c. 44, S. 545; de Blaauw, Campanae Papst Leo IV. (847–855), Rom S. Andrea bei S. Pietro Fecit etiam ubi supra campanilem et posuit campana cum

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Leo IV. (gest. 855) taucht zum ersten Mal das Wort ‚campanile‘ für Glockenturm auf, und seit dieser Zeit bestimmen kirchliche und städtische Glockentürme – die meisten wurden im 12./13. Jahrhundert errichtet – das Bild der Städte des lateinischen Europa und ihre Klänge die urbanen Lautsphären. Einen deutlichen Beleg für die Kombination von Kirchturm und Glocke bietet eine Illumination im Apokalypse-Kommentar des Beatus von Liebana aus dem Kloster Tábara im Königreich Lèon ungefähr aus dem Jahr 970. Sie zeigt das Skriptorium des Klosters und einen Glockenturm mit zwei verschiedenen Glocken, ein Hinweis auf die schon damals üblichen differenzierten Glockensignale. Auf den offenbar noch nicht selbstverständlichen Bau weist der Miniator Emeterius im Kolophon des Manuskripts ausdrücklich Abb. 1: Glockenturm und Skriptorium in einem hin: O hoher und steinerner Turm.20 Apokalypsenkommentar des Beatus von ­Lièbana aus dem Kloster San Salvador de Tábara, 970, Emotional waren die Klänge der Ms. L.1097 B, f°171v°; © Madrid, Archivo H ­ istórico Glocken intensiver besetzt und überNacional. Online unter: https://commons.wiki­ mittelten differenziertere Botschafmedia.org/w/index.php?curid=150634, ten als die Gebetsrufe der Muezzin. [Zugriff am: 07.04.2019] Durch Glockenweihe bzw. Glockentaufe, vor allem aber durch personalisierende Namensgebung der Glocken (Hosanna, Gloriosa, Maria etc.) werden Glocken gleichsam vermenschlicht, zu Personen gemacht. In dramatischen Situationen läuten sie von selbst. Im Aberglauben klagen sie bei Unglücken; sie läuten nicht, wenn sie verärgert sind oder gestohlen wurden etc. Auch dadurch wird eine besondere Art von Bindung der Glocken an die jeweiligen Gemeinden erzeugt und verstärkt. Das Ensemble der – gelegentlich zeitlich hierarchisch geordneten – Signale zu den verschiedenen Gottesdiensten der verschiedenen Kirchen einer Stadt ließ die Bewohner malo [malleo] ereo et cruce exaurato, Liber Pontificalis II c. 105, S. 119. 20 O turre Tabarense alta et lapidea, Delisle, Mélanges, S. 125.

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akustisch an den liturgischen Vollzügen teilnehmen, diente ihnen aber auch zur Gliederung der urbanen Lautsphären nach der Tageszeit. Städtewachstum und innerstädtische Differenzierungsprozesse (neue Kirchen und Klöster, neue Feste, neue Institutionen, neue Gewerbe) wurden bis ins 14. Jahrhundert von einer ständig wachsenden Zahl von Glocken und ständig komplexer werdenden Glockenkulissen begleitet. Zu einer mittelalterlichen Großstadt gehörte um 1300 auch eine große und differenzierte Glockenkulisse, d. h. die städtische Lautsphäre war dominiert und strukturiert durch eine Vielzahl von Glockensignalen aus verschiedenen Quellen.21 In der alten Redensart „An die große Glocke hängen“ bleibt die Konstitution der städtischen Lautsphäre durch Glocken deutlich. Erkennbar konkurrierten die Städte auch um besonders große und schwere Glocken, was sich oft in ihren Namen (‚magna campana‘, ‚grosse cloche‘), in Angaben zur Reichweite und in den notierten, aber nicht immer plausiblen Gewichtsangaben äußert. Bei einem Versuch, eine weitreichende Glocke 1285 in Parma zu installieren, berichtet der Chronist Salimbene de Adam, dass die Parmesen gehofft hatten, dass ihr Klang bis nach Reggio Emilia (östl. 27 km) und Fidenza (westl. 22 km) hörbar sein werde. Der erste Guss verunglückte, der Klang war schlecht, und Salimbene beschließt seinen Bericht: „Damit bestrafte Gott die Parmesen, weil sie eine Glocke von solcher Stärke haben wollten, […] und man konnte sie mit Müh’ und Not in Parma hören […]“.22 Die Konkurrenz zwischen Florenz und Siena wurde auch mit Turmbauten und Glocken ausgetragen. Florenz installierte 1305–1307 eine „campana magna“ mit einem für damalige Verhältnisse enormen Gewicht von 5,5 Tonnen – zunächst in einem hölzernen Gerüst. 1322 erhält ein Erfinder aus Siena eine hohe Belohnung, weil er eine mechanische Vorrichtung entwickelt hatte, die die schwere ‚campana del popolo‘ mit zwei Männern zu läuten vermochte, die man vorher nur mit 12 Männern bewegen konnte.23 Die in Siena anlässlich der Vollendung des seit 1325 errichteten „Torre del Mangia“ gegossene Glocke (‚campana grossa‘) wog ca. 9 Tonnen! Die Stadtkommune Perugia hatte schon 1342 acht (!) besoldete und uniformierte Glöckner, die die große Glocke von San Lorenzo zu allen „nötigen“ Anlässen läuten sollten.24 Als ein Meilenstein in der Geschichte der Statistik gilt die 1288 verfasste Stadtbeschreibung De magnalibus urbis Mediolani des Bonvesin de la Riva (ca. 1240 – ca. 1315), weil sie durch eine Flut von Zahlen und Maßangaben Mailands Größe anschaulich macht. Bonvesin gibt die Zahl der Einwohner (200.000), die Länge des Mauerrings, den täglichen Getreide- und Fleischverbrauch, die Zahl der festen Häuser (12.500), der Brunnen (6000), der Mühlen (über 900) und ihrer Räder (über 3000), der Chirurgen (150) 21 Dohrn-van Rossum, Stunde, S. 185–201; vgl. dazu die brillante Studie zu Florenz von ­Atkinson, Noisy Renaissance. 22 Salimbene, Cronica, S. 876 f., S. 896, S. 952. 23 Villani, Nuova Cronica, lib. X, c. 158; Bonaiuti; Cronaca fiorentina, S. 30; vgl. De Blaauw, Campane, S. 406–408; Bordone, Campane, trombe, S. 95. 24 Statuti Perugia (1342), S. 201–2033.

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der Ärzte (28) etc. Die Zahl der Kirchen veranschlagt er auf ca. 200, die der Altäre auf 480. Außer dem Stadtturm mit seinen vier Glocken wurde von 120 Kirchtürmen mit über 200 Glocken geläutet.25 Die Anzahl und Größe der Glocken und die Komplexität des akustischen Ensem­ bles machten die Größe und die Bedeutung der Stadt mehr hörbar als sichtbar, und die Verschiedenartigkeit des Geläuts stand darüber hinaus für politische und ökonomisch-­ soziale Differenzierung. Im Libellus de descriptione Papiae des Opicino de Canistris (um 1320) wird, wie bei Bonvesin, auf die große Zahl der Kirchtürme und Kirchenglocken in Pavia hingewiesen. Zugleich aber skizziert er die komplexe urbane Lautsphäre durch Nennung der jeweiligen Adressaten. Danach hing die größte Glocke, die man über 6000 Schritt (ca. 9 km) hören konnte, in der Kathedrale. Unter den Glocken der Klöster waren die der Prädikanten und der Karmeliter die größten. Die Zünfte besaßen eine eigene große Glocke, die auch geläutet wurde, um das Volk zu den Waffen zu rufen. Durch ein bestimmtes Glockenzeichen (certum sonus campanae) wurde der Rat der Weisen zusammengerufen, der Rat der Hundert durch ein davon verschiedenes (alius dissimilis sonus). Noch ein anderes Zeichen (diversus sonus) rief die Gesamtheit der Einwohner zusammen, ein weiteres (alius sonus) rief zu Urteilsverkündungen und städtischen Verlautbarungen. Der Text erwähnt außer dem Geläut zu Beerdigungen noch das Ave-Maria-Läuten am Abend und am Morgen, die Weinglocke (campana bibitorum), eine Schelle (scilla) für den abendlichen Torschluss und eine andere Glocke, die am Morgen mit sieben Schlägen anzeigt, dass man die Stadt verlassen darf.26 Voller Stolz benutzt der Text das geschilderte akustische Ensemble der Stadt als Indiz für die Vielfalt und die relative Selbstständigkeit der städtischen Funktionsbereiche. Für Rom im Jahre 1944 hat Pietro Romano immerhin noch 1.270 Glocken mit 51.840 Schlägen pro Tag geschätzt.27 Arabische Autoren identifizierten Glocken generell mit dem Christentum, und arabische Geographen rechneten die Vielzahl der Kirchen in Rom unter die ‚mirabilia‘ der Stadt. Der persische Geograph Ibn al-Faqih schätzte im 10. Jahrhundert die Zahl der schlagenden Glocken in Rom auf 120.000.28 Die ganze Fülle der Informationen, die durch die Vielzahl von Glocken von Kirchen, Klöstern, Schulen, Hospitälern und anderen städtischen Institutionen vermittelt wurden und ihre Bedeutung für die Kommunikation von in weiten Teilen illiteraten Stadtgesellschaften kann hier nicht entfaltet werden.29 Zwischen den Städten Europas gab es in dieser Hinsicht sehr viele Gemeinsamkeiten, aber natürlich auch Unterschiede. Wir wissen aus mittelalterlichen Sprachführern, dass den Zeitgenossen bewusst war, dass nur am Ort Geborene, nicht aber Ortsfremde die jeweilige Vielzahl 25 Bonvesin de la Riva, c. 2, 64ff, c. 2, IX, S. 70. 26 Opicino de Canistris, Libellus de Descriptione Papie, S. 100, S. 102, S. 105, S. 109, S. 110. 27 Romano, Campane di Roma. 28 Nallino, Mirabilia, S. 884; vgl. Traini, Rūmiya. 29 Settia, Codici; Mantini, Voce; Haverkamp, Öffentlichkeit.

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der Signale konkreter Lautsphären, den jeweiligen urbanen ‚Code sonore‘ verstehen bzw. entschlüsseln konnten.30 Läutordnungen regelten die Zeichenzahl, die Zeichenfolge und die Dauer der Glockenzeichen. Ratsglocken sollten öfter so lange geläutet werden, bis man von einem Ende der Stadt bis zum Rathaus gehen konnte. Hohe Feste wurden z. B. durch volleres Geläut (compulsatio) markiert. Wie heute noch üblich, wurde dreimaliges Läuten zu einem Ereignis als Aufruf (ad invocandum), als Versammlungssignal (ad congregandum) und als Zeichen für deren Beginn (ad inchoandum) verstanden. Durch Variation der Läuttechniken lassen sich Glockenzeichen vielfach differenzieren und Glockentöne modulieren. Eine Glocke ließ sich läuten durch mehr oder weniger heftiges Ziehen am Glockenseil, was zum abwechselnden Schlag des Klöppels an den vorderen oder hinteren Glockenrand führte. Mit geeigneten Aufhängevorrichtungen (‚Glockenjoch‘) konnte man Glocken sich überschlagen lassen. Sturmgeläut geschah häufig durch Anschlagen der Glocke mit einem Hammer (‚a martello‘). Mittels Repetiervorrichtungen am Glockenhammer ließ sich seit dem 14. Jahrhundert auch die Zählzahl der Uhrstunden angeben. Dazu konnten das abgestimmte Geläut ganzer Glockengruppen und im Spätmittelalter auch Glockenspielwerke (Carillons) treten, die mittels einer Klaviatur oder automatisch Melodien spielten.31 Innerhalb der kirchlichen und städtischen Glockensignale gab es auch Läuthierarchien, dergestalt, dass z. B. Gemeinde­kirchen erst nach der Bischofskirche läuten durften. Ein Schweigen der Glocken führte zu empfindlichen Unterbrechungen des gemeindlichen Lebens und zu hörbaren Einschnitten in den gewohnten Lautsphären. Kirchenstrafen wie Exkommunikation und Interdikt bedeuteten nicht nur Verbot der Gottesdienstteilnahme sondern auch das Verbot, die Glocken zu läuten.32 Im Heiligen Land, im gerade eroberten (1153) Askalon war ein Konflikt zwischen den Rittern des Johanniter-­ Ordens und dem Patriarchen Fulcher entstanden. Wilhelm von Tyrus (1130–1186) berichtet über eine Maßnahme der Ritter gegen die über sie verhängten Interdiktsdekrete. Wenn aber einmal wegen schwerer Vergehen in einem Landstrich oder einer Kirche jeder Gottesdienst verboten war, so schlugen sie die Glocken stärker als sonst an, machten so die Wirkung des Interdikts hinfällig.

Ähnliche akustische Gegenmittel wurden in Jerusalem angewandt.

30 Kristol, Langage, (1396), S. 8, S. 12, S. 17, S. 45; Billiet, Paysage, S. 4, S. 21. 31 Rombouts, Singing Bronze. 32 Hense, Glockenläuten, S. 71.

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[…] sie errichteten gegenüber der heiligen Grabeskirche sie weit überragende, mächtige Gebäude, schlugen, wenn der Patriarch dort predigen wollte, so gewaltig an ihre Glocken, dass er von den Andächtigen nicht verstanden wurde.33

Städtische Glocken symbolisierten auch verliehene oder angemaßte Autonomierechte. Verlust der städtischen Autonomie bedeutete fast immer auch Wegnahme oder Zerstörung der Stadtglocken. Das zeigt die Vielzahl der kommunalen Erhebungen, bei denen die Stadtglocke eine besondere Rolle spielte.34 Daher stand der meist streng abgesicherte und strafbewehrte Zugang zu den städtischen Glocken auch symbolisch für politische Herrschaft. Erniedrigung und Demütigung und die symbolische Kassierung lokaler Souveränität als Motiv spielte dabei eine große Rolle. Das Schweigen der Stadtglocken war das symbolische Ende der Kommune. Strafexekutionen gegen Turm und Glocken konnten auch als sogenannte „abbildende Strafen“, bei denen Gegenstände Beschuldigte repräsentierten (z. B. Glocke für Stadt), an die Stelle von Hinrichtungen, Zerstörungen oder Reparationszahlungen treten. In Florenz bestrafte 1307 die Kommune die Mönche der Badia mit der Zerstörung des Glockenturms bis auf die Grundmauern, weil ihre Glocke zu einem Aufruhr geläutet hatte.35 Erst zwischen 1310 und 1330 erhielt sie dann ihren heutigen charakteristischen Turm. In der Nacht zum 20. Juli 1378 bemerkte der Fiorentiner Uhrwärter Nicolò degli Oriuoli, dass ein Anführer des Ciompi-Aufstands gefoltert wurde, und er alarmierte die Stadt mit dem Ruf A l’arme, a l’arme; i priori fanno carne, wobei die Glocke im Alarmmodus a martello geschlagen wurde und nach und nach alle anderen Glocken eine Signalkette bildeten, e così di campana in campana tutta Firenze sonava a martello.36 ‚Piagnona‘, die ‚Klagende‘ hieß die große Glocke des Klosters S. Marco in Florenz, weil dort Savonarola seine Bußpredigten gehalten hatte, und ‚Piagnoni‘ wurden seine Anhänger vor und nach seiner Hinrichtung im Mai 1498 genannt. Die ‚Piagnona‘ wurde bei der Belagerung des Konvents im April 1498 ‚a martello‘ geläutet. Angesichts des Geläuts beim Aufstand wurde die Glocke aus Rache wegen Hochverrats auf einem Karren durch die Stadt gebracht, von einem Scharfrichter gezüchtigt und anschließend für Jahre exiliert.37 In der Stadtrepublik Novgorod war das ‚veche‘ genannte Gremium die höchste städtische Autorität. Nachdem der russische Großfürst Ivan III. 1478 die Kontrolle über die Stadt an sich gerissen hatte („Sammlung der Lande“), demütigte er die Stadt durch die 33 Willelm Tyrensis, Chronicon, lib. 18, c. 3, S. 812 f. 34 Wilmart, Troubles; Firnhaber-Baker, Son de cloche. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Gerald Schwedler in diesem Band. 35 Villani, Nuova Cronica lib. IX. c. 89. 36 Zur Glockenkulisse bei der Erhebung vgl. Acciaioli, Cronaca s.a 1378, S. 17, S. 22, S. 65; Cronaca prima d’anonimo S. 75, S. 78, S. 91–94; Cronaca seconda S. 113, S. 116, S. 120; Cronaca terza S. 134; Lettera S. 141. 37 Gherardi, Nuovo Documenti, S. 312–323; Villari, Savonarola, t. 2, S. 213; Rasario, Tracce del Savonarola; Zolli, Brown, Bell on Trial.

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Abführung der Veche-Glocke.38 Seit dem Spätmittelalter wächst auch das Interesse am Material der Glocken, das sich für die neuartigen Pulvergeschütze eignete. Glockengießer waren seit dieser Zeit meist auch Kanonengießer. Glockenraub und Glockenzerstörung bedeutete dann nicht nur demütigende Störung urbaner Lautsphären, sondern war auch ein Weg der Rohstoffbeschaffung. Der ritterliche Pilger Arnold von Harff (1471–1505) berichtet z. B. von einer großen Zahl zerbrochener christlicher Glocken im osmanischen Arsenal in Adrianopel (Edirne).39 Bei der Zerstörung von Glocken ging es in der französischen Revolution, wie auch noch in der frühen Sowjetunion, um den Kampf gegen das Christentum bzw. gegen seine akustische Präsenz. Im Juni 1930 wird in Moskau und in umliegenden Städten das Glockenläuten ganz verboten.40 Bis in die Weltkriege des 20. Jahrhunderts gab es in vielen Ländern Glockenkonfiskationen. Die drastische Reduktion der urbanen Lautsphären erzeugte natürlich Widerstand, und manche Gemeinden konnten wenigstens eine Glocke durch Verweis auf den für das zivile Leben wichtigen Uhrschlag retten. Diese und viele andere vergleichbare historische Episoden zeigen die enorme Bedeutung der Glocken und der durch sie konstituierten Lautsphären in den europäischen Städten vom Mittelalter bis in die Moderne. Wie im Christentum hat sich auch im frühen Islam die Tradition einer Abfolge fünf über den Lichttag verteilter Gebete ausgebildet, die in Ausrichtung auf Mekka verrichtet werden sollten.41 Die zeitliche Lage der Gebete orientiert sich an der Zu- und Abnahme des Tageslichts und wechselt daher auch in Abhängigkeit von der Jahreszeit und der geographischen Lage. Ermittelt wurden diese Gebetszeiten durch einfache astronomische Methoden, sogenannte ‚folk astronomy‘.42 Nach einer etwa im 8. Jahrhundert verfestigten islamischen Tradition tauchte nach dem Abzug Mohammeds und seiner kleinen Gemeinde von Mekka nach Medina im Jahr 622, die Frage auf, wie die Gläubigen zum Gebet gerufen werden könnten. Vorschläge ein Horn zu benutzen wie die Juden oder eine ‚nâqûs‘ (Schlagholz bzw. Glocke) wie die Christen, missfielen dem Propheten, weil er den Gebetsruf von dem der Christen und Juden deutlich unterschieden wissen wollte. Wegen seiner schönen Stimme wurde dann der schwarze Diener Bilal zum ersten Gebetsrufer (Muezzin) ernannt. Die muslimische Abneigung gegen Glocken wird gelegentlich auch mit einem Satz aus den Hadith-Sammlungen, die auf die Zeit des Propheten zurück gehen sollen, begründet: Die Engel betreten keinen Tempel, in dem Bilder, Glocken

38 Williams, Bells of Russia, S. 34. 39 Harff, Pilgertagebuch (1498), S. 226. 40 Williams, Bells of Russia, S. 63 f. 41 Juynboll, „Adhān“. 42 King, Astronomy and Islamic Society; Schmidl, Volkstümliche Astronomie.

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oder Hunde sind.43 Mehrfach wird berichtet, dass Mohammed die Glocken für Instrumente des Teufels gehalten habe, womit wohl vorislamische Glocken gemeint waren.44 Die ersten Minarette wurden vermutlich in der Zeit des ersten Umayyaden-Kalifen Mu‘awiya (661–680) gebaut, also in der Zeit, in der auch bei den westlichen Christen Glocken und Glockentürme üblich wurden. Dass Minarette als optisch und akustisch konkurrierende Bauwerke zu christlichen Glockentürmen errichtet worden sind, erscheint plausibel. Für Achim Arbeiter waren sie Zeugnisse der „optischen wie akustischen Konkurrenz von hochgebauten Exponenten der jeweiligen religiösen Identität“, an denen sich Hader entzündete. Für John Tolan waren sie monumentaler Ausdruck islamischer Selbstbehauptung gegenüber einer christlichen Mehrheit in der frühen Phase der Expansion des Islam.45 Ihre Bauformen in Syrien erinnern zunächst an massive quadratische Wach- oder Leuchttürme aus der Antike. Soweit wir sehen, entstanden Campanile und Minarett etwa gleichzeitig, wobei Creswell mit Blick auf Syrien Minarette als konkurrierende Bauwerke sieht, Ann Priester dagegen eine Priorität islamischer Bauten in al-Andalus vermutet. Entschieden ist die Prioritätsfrage aber keineswegs.46 Später wurden die Gebetszeiten in den islamischen Städten durch spezialisierte Astronomen (Muvakkit) ermittelt, die sich in besonderen Baulichkeiten (Muvakkithane) aufhielten. Mittels Sonnenuhren und Astrolabien kalkulierten sie die Gebetszeiten für die Gebetsrufer (Muezzin) auf den Minaretten. Bis ins 19. Jahrhundert gliederten die ausgerufenen lokalen Gebetszeiten den städtischen Alltag in hinreichender Weise. Auch wenn es dafür heute Tabellenwerke, Radiosignale und Apps gibt, richteten sich die Gebetszeiten anders als im neuzeitlichen Europa nicht nach abstrakten Uhrzeiten, sondern immer nach den entsprechend der Jahreszeit unterschiedlichen langen Stunden aus. Nach anfänglichem Widerstand gegen technische Schallquellen als ‚Instrumente des Satans‘ werden heute vielfach Tonträger und fast überall Lautsprecher für die Gebetsrufe eingesetzt. Dabei ist auch ein interessantes Argument gegen die technischen Mittel und für die Vielfalt der Muezzin-Rufe von verschiedenen Minaretten aufgetaucht: abwechslungsreiche und vielgestaltige Rufe sicherten ein Gefühl für die Ausdehnung des städtischen Raums und seine Vielfalt.47 Im christlichen Europa gehörten Glocken und ihr Geläut zur vertrauten, akustischen Umgebung. Viele Zeugnisse belegen, dass der Gebrauch von Glocken religiöse und kulturelle Grenzen zwischen dem westlichen Christentum sowohl gegenüber den östlichen Kirchen und ihrem Gebrauch der Schlaghölzer wie auch – und viel deutlicher – gegen43 Lammens, L’attitude, S. 350; Crespi 1983, S. 115; Tolan, Clanging Bells, S. 148. 44 Nach al-Bukhari (810–870), Hadith no. 2. kamen dem Propheten Inspirationen mit einem Klang so stark wie eine Glocke; n. al-Bukhari Hadith 3005 hat der Prophet vom abergläubischen Gebrauch von Glocken abgeraten und sie mit Instrumenten des Satans verglichen; ­Muzammil H. Siddiqi in: https://www.pakistanlink.org//religion.htm (04.04.2019). 45 Arbeiter, Glockentürme, S. 153; Tolan, Clanging Bells, S. 148. 46 Creswell, Minaret; Bloom, Creswell; Bloom, Mosque towers; Priester, Campanile. 47 Khan, Acoustics.

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über dem islamischen Raum markierte. Der Erzbischof von Novgorod Antonij berichtet von einer Reise nach Konstantinopel im Jahr 1200 vom Gebrauch des Semantrons: Das Schallholz aber halten sie […]; aber die Glocken läuten die Lateiner.48 Die Veränderung gewohnter Lautsphären ist im Mittelalter zahlreichen Reisenden und Pilgern aufgefallen. Durchweg wurde das Fehlen von Glocken im Heiligen Land und in Ägypten registriert. Burchard von Straßburg, der 1175 von Kaiser Friedrich I. Barbarossa zum Sultan Saladin nach Ägypten geschickt wurde, berichtet, dass für die Moslems die Gebetsrufe der Muezzins an die Stelle der Glocken getreten seien, eine Bemerkung, die sich wie ein Topos in zahlreichen mittelalterlichen Pilgerberichten findet.49 Lionardo Frescobaldi bemerkt 1385 das Fehlen von Glocken im ganzen „Heidenland“.50 Von seiner Pilgerfahrt (1483/84) berichtet der Dominikaner Felix Fabri aus Ulm, dass er bei einem Besuch einer Kirche auf Zypern seine Gefährten belehrt habe, dass sie auf der Weiterreise ins Heilige Land und nach Ägypten keine Glocken mehr hören würden. Im östlichen Mittelmeer verliefen deutliche akustische Grenzen gegenüber Glockeneuropa.51 Für europäische Reisende und Pilger waren Moscheen und Kirchen ebenso wie Minarette und Glockentürme funktionale Äquivalente.52 Die unausgesprochene bauliche und akustische Konkurrenz von Campanile und Minarett, von Glockengeläut und Muezzinrufen wurde bald von einem aggressiven Gegeneinander überlagert.53 Die rasche islamische Expansion im Nahen Osten, in Ägypten und Nordafrika, auf der iberischen Halbinsel und im Osten erfolgte nicht immer kriegerisch. Bei der Besetzung oder Eroberung fester Plätze traf meist eine schmale islamische Erobererschicht auf eine christliche Mehrheit, die sich nicht in kurzer Zeit zum Islam bekehren ließ. Geschah die Unterwerfung einer Stadt unblutig, folgte meist eine Vereinbarung, die den legalen Status der Christen und der Angehörigen anderer schriftbesitzender Religionen wie den Juden regelte. Die zahlreich überlieferten Vereinbarungen gehen zurück auf den sogenannten Vertrag des Umar, dem zweiten der vier sogenannten rechtgeleiteten Kalifen, Umar b. al-Chattab (633–644). Der Vertrag ist im Original nicht erhalten, aber man hat sich in verschiedenen Abmachungen darauf berufen, sodass der Inhalt einigermaßen zuverlässig rekonstruiert werden kann. Danach wurden Christen Schutzbefohlene (Dhimmis). Sie hatten eine Steuer ( Jizya) zu entrichten und 48 Stichel, Semantron, S. 216. 49 Loco campanarum precone utuntur; Thomsen, Burchards Bericht, S. 529; vgl. Hazard, History, S. 61 f. 50 In su li loro campanili non hanno campane, e non ne trovamo niuna in tutto ’ l Paganesimo; Bar­ tolini, Nome del Dio, S. 136, vgl. S. 146, S. 155. 51 Fabri, Galeere, S. 87. 52 In Ramla 1335: Audivi super turrim clamare tres Sarracenos terribiliter illam legem pessimam et execrabilem Mahometi. Et illa turris fuit campanile maioris ecclesie et nunc illa maior ecclesia est mosceta seu ecclesia Sarracenorum, Jacobus de Verona, Liber peregrinationis, S. 21 f., vgl. S. 73, S. 105. 53 Arnold, Goodson, Community, S. 112 f.

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in ihrem Verhalten, ihrem Äußeren, ihrer Kleidung und Haartracht ihre untergeordnete Stellung zu markieren. Nach dem Vertrag durften keine neuen Kirchen gebaut und verfallene nicht repariert werden. Untersagt war jede Form öffentlicher Praktizierung ihrer Religion, z. B. das Zurschaustellen des Kreuzes auf von Muslimen frequentierten Wegen und Märkten. Die Stimme sollte in Gegenwart von Muslimen nicht erhoben, öffentliche Prozessionen vielerorts nicht durchgeführt und christliche Tote nicht laut beklagt werden.54 Durch diese Vorschriften wurden die ‚Schutzbefohlenen‘ fraglos benachteiligt. Auch wenn Muslime innerhalb der Städte siedelten, ging das Leben der Christen meist einfach weiter. Wir übersehen leicht, dass den alten Gesellschaften die Vorstellung von einer Gleichheit aller Menschen und aller sozialen und religiösen Gemeinschaften vollkommen fremd war, und, was wir für Unterdrückung halten, war damals einfach auch Schutz. In den christlichen Kirchen durfte ihr in den arabischen Quellen ‚nâqûs‘ genanntes Signalmittel (Schlagbrett oder Glocke) gar nicht oder nur leise ertönen, keinesfalls aber während oder unmittelbar vor oder nach den muslimischen Gebeten. Die öffentliche und sichtbare Abgrenzung der verschiedenen Religionen war auch eine Abgrenzung ihrer urbanen Lautsphären. Das aggressive Gegeneinander, das sich je länger je mehr entwickelte, entstand entweder rasch durch Unterwerfung christlicher Siedlungen nach harten Kämpfen oder allmählich mit der zunehmenden Durchsetzung muslimischer Verwaltungen. Die Besetzung und Umwidmung religiös bedeutsamer Plätze war schon in der Antike und im Frühmittelalter gängige Praxis z. B. bei Christianisierungskampagnen. Während der islamischen Expansion gehörte die Konversion von Kirchen zu Moscheen zum normalen Vorgehen bei der Eroberung fester Plätze, wovon die Geschichtsschreiber mit großer Regelmäßigkeit berichten.55 Nach der Eroberung von Damaskus 636 ist an der Stelle eines römischen Tempels die byzantinische Johanniskirche errichtet worden, die zunächst von Christen und Moslems gemeinsam genutzt, und dann zu Beginn des 8. Jahrhunderts zu einer Moschee umgebaut wurde. Die Konversion bzw. Umwidmung von Kirchen zu Moscheen, auch von Glockentürmen zu Minaretten wurde während der Expansion bis nach Spanien überall zur Regel.56 In der Folge erlangten Minarette und die Rufe der Muezzin gegenüber den Glockentürmen und dem Glockengeläut für lange Zeit die Oberhand. Diese Entgegensetzung ist weit älter als die visuelle Opposition Kreuz und Halbmond.57 Die Bestimmungen des Umar-Vertrags wurden in der Folgezeit in den islamischen Gebieten sehr unterschiedlich durchgesetzt, je nachdem ob die Muslime an einem Ort eine Minderheit von Eroberern oder später Christen eine Minderheit in einer weitge54 Tritton, Non-Muslim Subjects; Fattal, Statut légal; Cohen, Pact of Umar; Noth, Ordinances. 55 Jaspert, Zeichen und Symbole, S. 295. 56 Hasluck, Christianity I, S. 24 f.; Capilla, Mezquitas; Capilla, Premières mosques. 57 Jaspert, Zeichen und Symbole, S. 295.

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hend muslimischen Stadt waren. Christliche Gemeinden sollen auch durch gefälschte Schutzbriefe versucht haben, einzelne Vorschriften des Umar-Vertrags umzukehren und damit das Verbot des Schlagens des ‚nâqûs‘ bzw. der Glocken außer Kraft zu setzen.58 Die Balance zwischen Toleranz und Repression war auch von der jeweiligen politisch-­ militärischen Lage, von Zweckbündnissen über die konfessionelle Grenzen hinweg wie auch von persönlichen Befindlichkeiten der jeweils am Ort Herrschenden abhängig, und die Lautsphären der Städte im islamischen Raum spiegeln das natürlich wieder. Rekonstruieren können wir dies aus normativen Texten nur ganz allgemein, etwas konkreter und öfter da, wo Lautsphären zum Konfliktthema wurden, und das war und ist bis heute natürlich in den Grenzbereichen der islamisch-christlichen Welt häufiger der Fall. Vom ersten umayyadischen Kalifen Mu’âwiya (661–680) wird berichtet, dass sein Schlaf in Damaskus vom Schlagen der ‚nâqûs‘ in der Kirche der melkitischen Christen gestört war und er deshalb einen Botschafter mit einer Beschwerde zum byzantinischen Kaiser nach Byzanz geschickt habe.59 Umgekehrt soll der sechste Kalif al-Walîd b.’Abd al Malik (gest. 715), bei einer Predigt in einer Moschee von den Glocken eines Konvents gestört, diesen habe zerstören lassen, was wiederum zu einem Protest des byzantinischen Kaisers geführt habe.60 Bei der islamischen Eroberung der iberischen Halbinsel nach 711 hat es von Anfang an Angriffe auf Kirchen gegeben. Bei der zweiten großen Angriffswelle um 712 soll Mûsâ ibn Nusair, Gouverneur von Nordafrika, jede Kirche zerstört und jede Glocke zum Schweigen – eine vielgebrauchte Formel – gebracht haben.61 Wenigen Gemeinden gelang es, ihre Glocken rechtzeitig zu vergraben. Wie häufig berichtet, wurde bei den rund 50 Feldzügen des Regenten und Heerführers Muhammad ibn Abi Amir Al-Mansur (Almansor) am 10. August 997 (AH 387) das stark befestigte Santiago de Compostela in Galicien, eines der Hauptpilgerzentren der damaligen Christenheit, erobert.62 Dabei ließ al-Mansur das angebliche Grab des Apostels Jakob unangetastet, nahm aber die Türen der Kathedrale und zwei kleinere Glocken als Trophäen mit nach Córdoba, der Hauptstadt des neu eingerichteten umayyadischen Kalifats. Die Türflügel wurden in das Dach der großen Moschee eingebaut, und die Glocken auf dem Rücken christlicher Gefangener nach Córdoba transportiert. Dort wurden sie umgedreht aufgehängt und zu Leuchtern als Trophäen und Symbole des besiegten christlichen Glaubens für die Große Moschee umgearbeitet.

58 Graf, Schutzbriefe. 59 Fattal, Statut légal, S. 205. 60 Al-Mas’ûdi (896–956), Prairies V, S. 381 f.; Fattal, Statut légal, S. 206. 61 Tritton, Non-Muslim Subjects, S. 45; Fattal, Statut légal, 185; Tolan, Racket, S. 150. 62 Der cordobesische Historiker Ibn H.ayyān (†1076) verglich das Grabmal von Santiago in seiner Bedeutung mit der Kaaba von Mekka; al-Maqqarī, Mohammedan Dynasties, vol. II, S. 193.

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Abb. 2: Zum Leuchter umgearbeitete christliche Glocke aus Spanien in der Qarawiyyin-Moschee, Fez, Marokko. Aus: Al-Andalus, The Art of Islamic Spain, Ausst.-Kat. © The Metropolitan Museum of Art, ed. Jerrilynn D. Dodds, New York 1992, Kat. Nr. 55.

Vom Glockenraub in Santiago berichten arabische Chroniken63; die christlichen Autoren erzählen dann, wie König Fernando III. von Kastilien und León 1236 nach der Eroberung Córdobas die Glocken auf dem Rücken gefangener Sarazenen wieder nach Santiago habe zurückbringen lassen. Sie wurden in der zur Kathedrale umgewidmeten Moschee installiert und verkündeten zusammen mit anderen cimbali bene sonatibus Gottes Lob und verwandelten so die durch den Raub der Glocken entstandene Schande in Ruhm.64 Die Konversion von tönenden Trophäen zu Trägern von Lichtquellen in Córdoba waren kein Einzelfall. Der tunesische Geschichtsschreiber Ibn al-Kardabūs (12./13. Jh) berichtet von Leuchtern in der Hauptmoschee von Valencia, die aus den 1108 in Barcelona

63 al-Maqqarī, Mohammedan Dynasties, vol. II, S. 196; Lévi-Provençal, Califat, S. 250; Alibhai, Santiago’s Bells. 64 Lucas von Tuy, Chronicon Mundi IV, 101, S. 341 f., S. 55–58; Rodericus Ximenius, Historia [abgeschlossen 1243], lib. V, cap. XVI, S. 165; lib. VIII, cap. 17, S. 299.

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eroberten Glocken gefertigt waren,65 und nach der Chronik des Ibn S.āh.ib al-S.alāt sind bei der Eroberung der Stadt Úbeda 1180 neun Glocken abgeführt und auf marokkanische Moscheen verteilt worden. Eine davon könnte sich in der Qarawiyyīn Moschee in Fez erhalten haben, wo sich unter den erhaltenen Glocken-Leuchtern auch eine aus dem 1333 eroberten Gibraltar befindet.66 Erhalten ist ein weiterer Leuchter in Oran. Weiterhin hingen in der Moschee in Almería aus christlichen Glocken gefertigte Leuchter, von denen auch der Nürnberger Humanist Hieronymus Münzer (1437/47–1508) auf seiner Spanienreise berichtet.67 Nach der Überlassung mehrerer Festungen durch Peter I. von Kastilien (1369), rühmt sich Muhammad V., Emir von Granada, Wir haben die Häuser Gottes von abergläubischen Idolen gereinigt und die Glocken durch das Wort der Wahrheit ersetzt. In Iznajar und Utrera wurden Glocken gestürzt, und in Algeciras konnte man den Muezzin wieder hören.68 Die Aufzählung solcher Glockenkonversionen lässt sich verlängern, auffällig bleibt die Symmetrie zwischen dem christlichen und dem islamischen Umgang mit den Trophäen von höchster symbolischer Bedeutung. In der Anfangsphase der muslimischen Herrschaft in Andalusien scheint das Geläut der Christen in gewissem Umfang geduldet worden zu sein. Während ein wachsender Teil der Christen sich den gegebenen Verhältnissen anpasste, zum Islam konvertierte und sich kulturell ‚arabisierte‘, auch um sich nicht alle beruflichen Möglichkeiten zu verbauen, radikalisierten sich andere Gruppen und entwickelten eine fundamentalistische, von der offiziellen Kirche nicht gebilligte, öfter selbstmörderische Leidenschaft zu öffentlichem und lautem und strafbewehrtem Glaubensbekenntnis in der islamischen Umgebung.69 Die berühmten hagiographischen Texte der sog. Märtyrer von Córdoba aus dem frühen 10. Jahrhundert sind hinsichtlich ihrer historischen Aussagekraft stark angezweifelt worden. Man meint heute, dass die damaligen Todesurteile gegen Christen auf Anklagen wegen Blasphemie nach islamischen Recht erfolgt seien, und die Verurteilten streng genommen nicht als Märtyrer bezeichnet werden könnten.70 Die Texte des Eulogius von Toledo (gest. 859) und seines Schülers Alvarus von Cordóba (gest. 861) geben sicher nicht die Situation in Córdoba unter dem Emir Muhammad I. wieder, zeigen aber die religiösen Spannungen plausibel als Konflikte in der städtischen Lautsphäre. Polemisch wirft Eulogius den Muslimen vor, sie imitierten spottend die Riten der Christen:

65 Ibn al-Kardabūs [12. Jh.], Historia de Al-Andalus, n. 70, S. 136 f.; Amador de los Ríos, Campanas cautivas; Casanova, Campanas, Fig. 8. 66 Dodds, al-Andalus, Kat.-Nr. 55 u. 58, S. 272, S. 273, S. 278–273. 67 O’Callaghan, Last Crusade, S. 242; vgl. Arnold, Goodson, Community, S. 113f; Münzer, Itinerarium, S. 38. 68 a. a. O. 69 Wolf, Martyrs; Dodds, Architecture, S. 65–67; vgl. Drees, Sainthood and Suicide; Christys, Chritians, ch. 4, S. 52–79; Tolan, Dreadful Racket; Harrison, Christianity. 70 Harrison, Christian communities.

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Die Menge, verführt von ihrem vulgären Aberglauben, zögert, sobald sie den Ton des klingenden Metalls hört, nicht, alle Arten von Flüchen und Gemeinheiten hervorzustoßen. Daher ist es nicht falsch die zu verfluchen, die ihre Anhänger zum Hass gegen Gottes Prophezeiungen anzustacheln.71

Alvarus erklärt Mohammed zum Vorläufer des Antichristen und versichert, dass die Moslems, wenn sie Prozessionen der Christen vorüber gehen sähen, sie mit Steinen bewürfen und obszöne Lieder sängen. Wenn sie die Glocke, das ist der Ton des klingenden Metalls, der zum Zusammenruf der Kirche zu allen kanonischen Gebetsstunden geschlagen wird, [nur] hören, sperren sie den Mund voller Hohn und Verachtung auf, wackeln mit den Köpfen, äußern immer wieder unaussprechbare Dinge, und attackieren und beleidigen mit tausenderlei Flüchen beide Geschlechter, alle Altersstufen und die ganze christliche Herde.72

Für Eulogius waren Minarette und moslemische Gebetsrufe durch die Muezzin Symbole für Mohammeds Irrlehre und zugleich herausragendes Mittel ihrer lautstarken Verbreitung. Mohammed habe Tempel bauen lassen und als ultimativen Ort ihres Aberglaubens (Idolatrie) einen sehr hohen, die andren Gebäude überragenden Turm, von dem aus er die Anordnungen seines kranken Sakrilegs an die von seinem Unrecht Vergifteten richten konnte. Jetzt beachten seine Priester diese Regel: Wie Affen mit klaffenden Kiefern und dreckigen Lippen brabbeln sie ihre Lehren, aber zuerst stecken sie ihre Finger in die Ohren, weil sie ihre eigenen Verkündigungen nicht hören könnten. Immer wenn mein Großvater Eulogius dieses gottlose Geschrei hörte, schützte er sich sofort indem er das Kreuzzeichen auf seinem Kopf markierte und einen Psalm murmelte. […] Auch wir beten sofort, wenn wir die Stimme dieser Boten der Lügen hören.73 71 Mox ut illectum superstitione mendaci uulgus clangorem tinnientis metalli aure captauerit, in omnem maledktionem et spurcitiam linguam admouere non differt. Ergo non incongrue maledicuntur, qui tanto edio aduersus Dei sortem sequipedas suos informant. Eulogius, Memoriale sanctorum [851/52], lib. I, § 21, Corpus Scriptorum Muzarabicorum (CSM), S. 386. 72 Set quum uaselice signum, hoc est, tinnientis (a)eris sonitum, qui pro conuentum eclesie adunandum horis homnibus canonicis percutitur, audiunt, derisione et contemtui iniantes, mobentes capita, infanda iterando congeminant, et omnem sexum uniuersamque (a)etatem, totjusque Xpi Domini gregem non uniformi subsannio, set milleno contumiarum infamio maledice impetunt et deridunt, Alvarus, Indiculus luminosus [854] § 6, CSM S. 278 f. 73 Sed et alia inaudita uanitatis scelera praedicans adinuentione uersipellis, a quo obsidebatur, inuenta, qui se eidem transfigurauit in angelum lucis, delubra in quibus pessimum dogma suum coleretur extruxit, constituens in ultimo idolatriae situ turrem altiori pinnaculo ceteris aedibus prominentem, ex qua populis ueneno nequitiae suae illectis sacrilegi furoris contionaretur decretum; quod hodie suae impietatis sacerdotes ab illo edocti obseruant, ita ut more aselli dissutis mandibulis impurisque patentibus labiis horrendum praeconium non prius emittant quam obseratis utroque digito auribus:

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Wenig später (a. 857) beklagt er das islamische Vorgehen: Kirchtürme umzustürzen, die Bekrönungen von Gotteshäusern zu zerstören, die erhabenen Teile von Giebeln zu demolieren, also die Träger der Glocken, mit deren Hilfe die Christen täglich auf die gebotenen Versammlungen aufmerksam gemacht wurden.74

Diese als Märtyrerakten stilisierten Berichte haben sicher maßlos übertrieben, beziehen aber bei der Schilderung des Kampfes um die akustische Lufthoheit in Córdoba Architektur, Signalmittel und die menschlichen Stimmen mit ein. Die Denunziation der muslimischen Gebetsrufe lässt sich wie ein Topos durch zahlreiche Pilger- und Reiseberichte der folgenden Jahrhunderte verfolgen. Dem vermeintlichen Wohlklang der heimischen Glocken wird dabei stets höhnisch das die Ohren der Christen beleidigende Gejaule bzw. Geschrei der Muezzins, gegenübergestellt.75 Hieronymus Münzer etwa klagt in Granada über das 36 Stunden bis zum Morgengrauen währende Geschrei.76 Von akustischen Konflikten und Konkurrenzen wird auch aus den Kreuzfahrerstaaten im Nahen Osten berichtet. Wie der Kreuzzugs-Chronist Albert von Aachen berichtet, haben die neuen christlichen Herrscher unmittelbar nach der Eroberung Jerusalems im Sommer 1099 zum Zeichen ihres Triumphs die Grabeskirche umgehend mit Glocken ausgestattet. und als […] der heilige Gottesdienst geziemend wiederhergestellt worden war, befahlen (die Fürsten) auch aus Erz und anderen Metallen Glocken herzustellen […] Denn vor diesen Tagen waren in Jerusalem keine Zeichen oder Töne dieser Art gesehen oder gehört worden.77

Nach der Rückeroberung Jerusalems 1187 reinigte und restaurierte Saladin die al-Aqsa-­ Moschee:

quod aliis exequendum annuntiant, quasi quoddam edictum sceleris idem ipse eorum propheta audire non patitur. Quem impietatis ruditum dum diuae memoriae auus meus Eulogius aure captaret, ferunt continuo uexillo crucis frontem praemuniens cum gemitu hunc psalmum solitum fuisse cantare […] Nos autem mox ut fallentis uocem praeconis audimus confestim oramus […]; Eulogius, Liber aplogeticus martyrum [857], § 19, CSM, S. 487. 74 Eulogius, Liber aplogeticus martyrum, § 22, S. 488 f. 75 Gejaule der Muezzins, meist ululatus oder clamor: Fabri lat. non audiebatur cantus, sed planctus, non hymnus, sed fletus et ululatus. I, S. 299; vgl. II, 407; in turribus ululant; praecipue tarnen magnis clamoribus ululabant nobis instantibus, laudantes Machometum e forte nobis maledicentes. III, S. 69, vgl. S. 73, magno ululatu sine omni melodia, S. 87, S. 109, S. 171; Hazard 61f; Harff, Pilgertagebuch, S. 125; Schreien, um die Tageszeit anzuzeigen; S. 100; Casola, S. 240 f. 76 Münzer, Itinerarium, S. 44, S. 51, S. 62. 77 Albert von Aachen, Historia Ierosolimitana, lib. VI, cap. 40, S. 454; vgl. Kotzur, Denkmäler, S. 285; vgl. Shagrir, Soundscape.

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Sie rückten vor, um die Zügel der Eroberung der Stadt Jerusalems, die sich aufgebäumt hatte, anzuziehen, um die Klanghölzer [hier besser Glocken] der Christen verstummen und den islamischen Gebetsruf wieder erschallen zulassen, […].78

Während einer kritischen Phase der Belagerung Akkons durch die Kreuzfahrer am Ende des Jahres 1190 lagen sich die gegnerischen Truppen nah gegenüber, und eine Lebensbeschreibung Saladins verdeutlicht die spannungsreiche Nähe durch einen Hinweis auf die ineinander gehenden Lautsphären: von beiden Seiten konnte man die Feuer sehen, wir hörten den Ton ihrer Glocken, sie unseren Gebetsruf.79 Die in Jerusalem wieder installierten Gebetsrufe tauchen dann auch in einer Episode auf, die die christlich-muslimische Toleranz thematisiert. Der bei seinem Kreuzzug zwischen Kaiser Friedrich II. und dem Ayyubiden-Sultan al-Kamil 1228 ausgehandelte Waffenstillstandsvertrag sah zum Ärger vieler Moslems die zeitweise Abtretung der Stadt Jerusalem an die Christen vor. Wohl um Friedrich als einen toleranten und gegenüber dem Islam aufgeschlossenen Herrscher darzustellen, berichtet der syrische Geschichtsschreiber Ibn Wasil, dass Friedrich bei seinem Aufenthalt in Jerusalem ausdrücklich gebeten habe, die nächtlichen Gebetsrufe der Muezzin nicht aus Rücksicht auf ihn auszusetzen. Friedrich soll den verantwortlichen Qādi zurecht gewiesen haben: Wollt ihr meinetwegen euren Glauben ändern? Wenn ihr bei mir in meinem Lande wäret, ließe ich vielleicht euretwegen die Glocken nicht läuten?80 Beispiele für eine tolerante Praxis finden sich auch in muslimischen Territorien. Im Maghreb schloss ein hafsidischer Herausforderer ’Abd al-Wahid mit König Alfonso III. von Aragón einen Beistandsvertrag, in dem auch die religiösen Freiheiten in der christlichen Niederlassung (‚alfundicum‘) in Tunis geregelt wurden. Ihnen sollte gegen muslimische Normen gestattet sein bei Prozessionen kleine Glocken (‚signum campane sive squille‘) mitzuführen.81 Während der Reconquista waren nach Eroberungen neben Umwidmungen auch Zerstörungen von Moscheen üblich; Neubauten ‚more christiano‘ folgten dann später. Diese Konversionsvorgänge sind gut und sehr häufig belegt.82 Die Chronica Adefonsi Imperatoris beschreibt, wie auf den wiederholten Beutezügen Alfonsos VII. seine Ritter alle Moscheen zerstörten, alle islamischen Bücher verbrannten und alle islamischen Geistlichen umbrachten.83 Die als Reinigung aufgefasste Umwidmung der Hauptmoschee zu einer Kirche der Gottesmutter Maria, der Schutzpatronin der Kreuzzüge, war die Regel. Die Erfolge der Reconquista christlicher Könige auf der iberischen Halbinsel waren immer auch Rückeroberungen von religiösen Lautsphären. Rodrigo Jimínez de 78 Imâd ad-Dīn 47–69, Gabrieli, Kreuzzüge S. 195. 79 Bahā‘ ad-Dīn, n. Gabrieli, Kreuzzüge, S. 143. 80 Gabrieli, Kreuzzüge, S. 331, S. 334; etwa anders Heinisch, Friedrich II. nach Maqrizi, S. 191 f. 81 Constable, Ringing, Bells, S. 53 ff. 82 Orlandis, Conversión; Buresi, Conversions, Carrero Santamaría, Almuédanos y campanas; Capilla, Mezquita. 83 Chronicon Aldefonsi I, 36, II, 36.

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Rada beschreibt in seiner Chronik, wie der kastilische König Alfons VI. im Jahre 1186 die alte westgotische Hauptstadt Toledo einnahm. Der Übergabevertrag sah zwar vor, dass die Moschee der Stadt im Besitz der Muslime verbliebe, doch der neu gewählte Erzbischof nutzte auf Betreiben der Königin Konstanze eine kurzzeitige Abwesenheit des Königs und die Dunkelheit: Er errichtete einen Altar des christlichen Kults und brachte Glocken im Hauptturm an, um die Gläubigen zu rufen. Für diesen Vertragsbruch entschuldigte sich der höchst verärgerte König dann bei den Moslems.84 Bei der Aufteilung der Stadt Murcia in Wohnbezirke (1266) behielten die Mujedars, Muslime unter christlicher Herrschaft, eine Moschee in der Nähe der königlichen Burg (Alcázar). Jakob I. von Aragón verlangte aber die Übergabe mit der Begründung: Es ist nicht angemessen, dass ihr eine Moschee am Tor der Burg habt, weil dann, wenn ich schlafe, der Ruf ‚Allah ist groß‘ nah an meinem Ohr ertönen würde.85 Jede Umwidmung einer Moschee war mit öffentlichen Reinigungszeremonien vom Schmutz (spurcicia Mahometi, ‚Dreck‘, bibl. bei Kadavern) verbunden. Ermoldus Nigellus rühmt Ludwig den Frommen, weil er nach der Eroberung Barcelonas (803) die Orte reinigen ließ, an denen man Götzendienst betrieben hatte. Darauf folgten ein feierlicher und wohl auch lauter Gottesdienst und Prozessionen, um den Sieg und die Überlegenheit des Christentums zu feiern.86 Meist wurde ein provisorischer Altar aufgebaut und Glocken zum Zusammenruf der Gläubigen in den Minaretten aufgehängt.87 Nach der portugiesischen Rückeroberung von Ceuta wurde die große Moschee mit Salz und Wasser gereinigt und zur Kirche umgewidmet. Danach wurden die Glocken, die die Moslems nach Lagos abgeführt hatten, wieder aufgehängt.88 Diese Inszenierungen und damit die Etablierung neuer Lautsphären wurden auch dann durchgeführt, wenn zunächst noch gar keine Gläubigen zur Füllung der Kirchen vorhanden waren.89 Nach der Rückeroberung von Valencia löste das erste Läuten der verhassten Glocken durch die noch wenigen Siedler im nahen Segorbe einen Aufstand der Moslems aus.90 Die nach der Übergabe von Granada unmittelbar folgende Installation einer Glocke auf einem Turm der Alhambra sollte bei den muslimischen Bewohnern Bestürzung wie auch Bewunderung für dieses unerhörte Objekt hervorgerufen haben. Später hätte der König dann über hundert Glocken für die Stadt gestiftet.91 Anekdotisch berichtet Hieronymus Münzer auch, dass König Ferdinand V. (1452–1516) bei den Feldzügen gegen das Emirat Granada 84 Rodericus Ximenius, Historia de rebus Hispaniae, Buch 6, c. 24, S. 206; Alfonso X, Primera Cronica, § 871, S. 541; Harris Conversions, S. 158. 85 Chronicles of James I., cap. 445, S. 567. 86 Ermoldus Nigellus, Carmina I, S. 21: Mundavitque locos, ubi daemonis alma colebant / Et Christo grates reddidit ipse pias., vgl. Keller, Zeichen, S. 139 f. 87 Kroesen, Mosque to Cathedrals, S. 115, S. 136. 88 O’Callaghan, Last Crusade, S. 65, S. 242. 89 Burns, Significance, S. 326. 90 Burns, Transition, S. 100. 91 Münzer, Intinerarium S. 73, S. 75.

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stets Glocken mitgeführt habe. Die Sarazenen hätten zunächst gespottet, dass sie zwar die großen und kleinen Glocken hörten, dem König fehlten allerdings die Kühe dazu. Gottes Hilfe hätte dann aber den Sieg über die Sarazenen gebracht.92 Gegen Ende der Reconquista am Ende des 15. Jahrhunderts wurden in den Kapitulationsverträgen mit den letzten muslimischen Plätzen (u. a. Almería, Guadix, Granada) den Moslems, die nicht auswanderten, gewisse Freiheiten der Religionsausübung zugestanden, nach dem Papier auch die Gebetsrufe der Muezzin, die faktisch jedoch allmählich unterdrückt wurden. Ein arabischer Historiker berichtet von Unruhen in Almería im Jahr 1489 nachdem die Christen verabredungswidrig eine sehr große Glocke in der Stadt installiert hätten.93 Nach der Wende zum 13. Jahrhundert, nach dem Fall von Akkon, mit Vordringen der Mongolen im Osten und der Mamluken in Ägypten, wie auch mit der Ausbreitung von Ketzerbewegungen verschärften sich die christlich-moslemischen Spannungen deutlich. Nach mehreren vereinzelten Anordnungen versucht schließlich Papst Clemens V. auf dem Konzil von Vienne 1312 den muslimischen Gebetsruf generell zu verbieten, und dieses Verbot ist in das Kirchenrecht, in die sog. Clementinen eingegangen: Es ist eine Beleidigung des göttlichen Namens und eine Schande für den christlichen Glauben, daß in einigen Gegenden der Welt, die den christlichen Fürsten untertan sind, und wo die Sarazenen bald getrennt, bald gemischt mit den Christen leben, ihre Priester […] ihren Tempeln oder Moscheen, in denen sich die Sarazenen versammeln, um dort den ungläubigen Mohammed anzubeten, jeden Tag zu bestimmten Stunden an erhöhter Stelle den Namen dieses Mohammed, hörbar für Christen und Sarazenen, mit lauter Stimme anrufen und preisen und dort gewisse Worte zu seiner Ehre öffentlich verkünden. […] Die katholischen Fürsten verbieten es ausdrücklich, daß jemand in ihrem Herrschaftsgebiet zukünftig die genannte öffentliche Anrufung oder Verkündigung des Namens dieses Frevlers Mohammed […] irgendwie aufrechtzuerhalten wagt.94

Für Olivia Constable ist das „a turning point in the Christian effort to control the religious acoustic environment“.95 Einzelne spanische Herrscher versuchten das Verbot auch durchzusetzen, was u. a. deshalb nicht ganz einfach war, weil die nicht getauften Moslems streng genommen nicht dem Kirchenrecht unterstanden.

92 Nolarum et cimbalarum sonum audimus, sed deest Regi vacca. Münzer, Intinerarium, S. 58 f. 93 Zu Almería: Abd er Rahman Sakhawi (AH 830–902/AD –1497), n. Fagnan, Extraits inédits, S. 283–844; keine parallelen Nachrichten; Constable, Religious Noise, S. 80f; O’Callaghan, Last Crusade, cap. VII, S. 177. 94 Wohlmuth, Dekrete, Bd. 2, S. 380; vgl. Richter, Friedberg, eds., Corpus iuris canonici (Graz, 1955; 1995), II: 1180–1181.; vgl. zum Kontext Sherwood, Notice; Poutrin, Capitulaciones; S. 15 f. 95 Constable, Religious Noise, S. 64.

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Der Almohadenherrscher an-Nāsir 1211 feierte die Eroberung der kastilischen Festung Salvatierra mit den Worten Gott, der Allmächtige und Große, hat [uns] erlaubt, an die Stelle des Glockenläutens den Ruf des Muezzins zu setzen.96 Der Koranübersetzer Marcus von Toledo beklagt ganz parallel 1210 die Folgen der muslimischen Herrschaft über die iberische Halbinsel: Von den Kirchtürmen, auf denen einst tröstend Glocken erklangen, beschmutzen nun gottlose Ausrufungen die Ohren der Gläubigen.97 Deutlich wird also, dass beide Seiten den großen militärisch-religiösen Konflikt, den ‚Clash of Cultures‘ sehr artikuliert auch als Konflikt von konkurrierenden Lautsphären begriffen haben. Die Zahl der einschlägigen historischen Anekdoten ist groß, und mithin waren auch konventionalisierte Deutungsmuster und historiographische Klischees über Jahrhunderte wirksam. Grundlage waren aber zweifellos zahlreiche konventionalisierte Handlungsmuster. Nach Umfang und Komplexität hatten die kirchlichen und weltlichen Glockenensembles in Europa im Spätmittelalter ihren Höhepunkt erreicht. Zu den komplexen Klangkulissen trat seit der Mitte des 14. Jahrhunderts ein neuartiges Signal hinzu: Der automatische Schlag der modernen, durch alle Jahreszeiten gleichlangen Stunden von den Glocken der großen Turmuhren ermöglichte eine ganze Reihe von zeitorganisatorischen Neuerungen.98 Das neue Signal machte auf längere Sicht viele hergebrachte Signale überflüssig, weil vielfältige spezielle Terminierungen Befristungen durch abstrakte Uhrzeiten ersetzt wurden. Außerdem wurden seit der Reformation viele Glockenzeichen, die man jetzt für papistisch oder abergläubisch hielt, abgeschafft. Die urbanen Lautsphären wurden seit der Reformation akustisch ärmer. Das Wetterläuten zur Abwehr von Gewittern wurde „abgetan“, Gottesdienstsignale, wie etwa das Ave-Maria-Läuten, wurden in zahlreichen Kirchenordnungen reduziert oder zum Teil als unentbehrliche Uhrzeitsignale umcodiert. Dazu kam später die in protestantischen wie katholischen Ländern betriebene Reduktion der kirchlichen Feiertage und mithin auch ihrer besonderen Gottesdienste und Gottesdienstsignale. Die Reduktion der urbanen Lautsphären, zog sich bis weit ins 19. Jahrhundert hin.99 Das waren schleichende, hinter dem Rücken der Beteiligten ablaufende Prozesse, weil die Einstellung vieler Signale oft unbemerkt verlief. Nach den Augenzeugenberichten war die Eroberung Konstantinopels 1435 durch die Osmanen begleitet von einer gewaltigen Geräuschkulisse: Kirchenglocken und Alarmglocken („campane martelo“)100, die Klagen und das Geschrei der Bewohner, die osmanischen Trompeten, Pfeifen und Trommeln mischten sich mit dem Donner der Kanonen zu einem einzigen Geräusch wie bei einem großen Sturm.101 Unmittelbar nach  96 Überliefert bei al-Himyari, ed. Levi-Provençal, Péninsule, S. 135, n. Maser, „Islamische Welt“ und „christliche Welt“, S. 17.  97 Marcus Toletanus, Vorwort zur Koranübersetzung, n. Maser „Islamische Welt“ und „christliche Welt“.  98 Dohrn-van Rossum, Stunde, cap. 5, 7–9.  99 Corbin, Sprache. 100 Barbaro, Giornale, S. 45–55; Nestor-Iskander, S. 270. 101 Nachweise bei Williams, Bells of Russia, S. 23–24.

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der Eroberung wurde die Hagia Sophia zur Moschee und erhielt ein Minarett.102 Schon seit dem 14. Jahrhundert hatte sich der osmanische Machtbereich nach Norden auf dem Balkan ausgeweitet. Auch hier gingen die Osmanen gegen die wenigen im Bereich der griechischen Kirche unterhaltenen Glocken v. a. in den größeren Städten vor.103 Mit der Expansion wuchs je länger je mehr der militärische Druck auf das Habsburgerreich. Ogier Ghislain de Busbecq berichtet 1554/55 von einer Gesandtschaftsreise, die er im Auftrag des Erzherzogs Ferdinand I. nach Konstantinopel zum Sultan Süleyman I. unternahm, um einen Waffenstillstand auszuhandeln, der den Habsburgern etwas Ruhe an den Grenzen verschaffen sollte. In seiner kulturgeschichtlich hochinteressanten Reisebeschreibung bemerkt er auf dem Balkan das Fehlen von Entfernungs- als Zeitangaben und beschreibt die primitive Zeitmessung bei der Ermittlung der tageslichtabhängigen Gebetszeiten während des Lichttags, unterdessen die Zeiten der Nacht ungewiss seien. Von der selektiven Übernahme europäischer Technik durch die Osmanen heißt es: Keine Nation sei mehr bereit gewesen ausländische Innovationen zu übernehmen, was sich an der Übernahme der Feuerwaffen und anderer Errungenschaften zeige. Druckerpressen jedoch würden nicht eingeführt, weil gedruckte heilige Schriften keine heiligen Schriften mehr seien, und ebenso wenig öffentlich schlagende Uhren, weil sie die Autorität des Muezzin untergraben würden.104 Busbeqcs Bemerkungen über die osmanische Innovationsbereitschaft werden neuerdings als wichtiges Zeugnis des orientalistischen Missverständnisses hinsichtlich der Modernisierungsvorgänge in islamischen Gesellschaften bezeichnet.105 Zunächst: Stimmt Busbecqs Beobachtung überhaupt? Nicht im Osmanischen Reich, wohl aber auf dem Balkan finden sich Nachrichten über Uhrtürme und – seltener – über schlagende Uhren; diese allerdings gelegentlich mit dem historischen Zusatz „aus der Zeit der Ungläubigen“. Mehrere Reisende berichten z. B. von einer nach französischer Art mit großer Reichweite schlagenden Turmuhr in Skopje (türk. Üsküb).106 102 Emerson, Nice, Minaret. 103 Ćurčić, Legacy; zahlreiche Beispiele für Konversionen bei Baer, Glory of Islam. 104 Neque enim horae sunt Turcis, quibus temporum, neque millaria, quibus locorum spatia distinguant. Talismanes habent hominum genus templorum ministerio dicatum; hic mensuris utuntur ex aqua. Quibus postquam adventari auroram cognoverunt, clamorem tollunt e celsa turri in eum usum constructa; […] totus dies Turcis in quatuor spatia dividitur, […] noctis omne tempus incertum est. Non enim facile gentem aliam minus piguit aliorum bene inventa ad se transferre. Testes majores-minoresque bombardae, multaque alia, quae a nostris excogitata ipsi ad se avertunt. Ut libros tamen typis excuderent, horologia in publico haberent, nondum adduci potuerunt: quod scripturam, hoc est suas literas sacras, non amplius scripturam fore, si excuderetur; & si horologia publice haberentur, aliquid de aedituorum suorum & prisci ritus authoritate diminutum iri arbitrentur. Busbecq, Legationis Turcicae, S. 26f, S. 159 f. 105 Kurz, Clocks, S. 99 f.; Singer, Clock towers, S. 1 f.; Tekeli, S. 124–127; Lyberatos, Clocks. 106 1572, Cette ville a une horloge publique qui s’entend par toute la ville et qui sonne les heures à la française. On l’a apportée de Sigete en Hongrie avec son maître qui touche un bon salaire; et dans toute la Turquie il n’y a pas d’autre horloge publique, bien que les Turcs aiment assez les horloges et

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Auffällig bleibt jedoch, dass die Berichte aus dem osmanischen Reich fast ausnahmslos die Abwesenheit von Glocken und Uhren in lokalen Lautsphären registrierten. Dass solche Bemerkungen öfter wie Klischees des westlichen Islambildes wirken, macht sie m. E. nicht weniger bemerkenswert. Da die städtischen Lautsphären im osmanischen Bereich ärmer an Signalen waren, hatte auch die Verbreitung der öffentlichen Uhren ohnehin weniger Auswirkungen auf die Lautsphären im öffentlichen Raum. Die Osmanen teilten den Tag und die Nacht nach antiker und auch nach arabischer Art in 2 × 12 unter sich gleichlange, aber mit der Jahreszeit und dem Breitengrad wechselnd lange Stunden ein. Der Tag begann mit dem Sonnenuntergang. Daneben gab es auch die in Europa als ‚Italienische Uhr‘ mit ihrer kurz nach dem Sonnenuntergang einsetzenden Zählung von 24 gleichen Stunden. Die Anpassung mechanischer Uhren an beide Systeme ist technisch möglich aber schwierig, weil die Uhren jeweils binnen weniger Tage nachkorrigiert werden mussten. Die 24-h-Teilung nannte man „alaturka“, die europäische Teilung dagegen „alafranga“.107 Zu den hier wegen ihrer Alltäglichkeit nicht erwähnten Rufen der Muezzin kam auf dem Balkan also ein aus der Zeit der Ungläubigen übrig gebliebenes oder von nicht-muslimischen lokalen Autoritäten neu eingerichtetes Uhrzeitsignal. Die verhassten Glocken scheinen wenigstens hier als Uhrglocken nicht bzw. nicht mehr anstößig gewesen zu sein.108 Osmanische Sultane und Emire bestellten, importierten oder ließen sich im Rahmen der sogenannten ‚Türkenverehrung‘ (Zwangsgeschenke zur Sicherung der Ruhe an der habsburgisch-osmanischen Grenze) in beträchtlichem Umfang kunstvolle europäische Uhren für ihren privaten Bereich109 schenken; auch europäische Uhrmacher arbeiteten in Konstantinopel. Hinweise auf öffentliche Uhren fehlen aber tatsächlich im osmanischen Raum bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts. Über die Gründe für die späte Einführung öffentlicher auf Glocken schlagender Uhren in den Hauptregionen des osmanischen Reiches lassen sich nur Vermutungen anstellen. Theologische Vorbehalte gegen Glocken oder gewollte Exklusivität des Muezzinrufs mögen eine Rolle gespielt haben. en fassent très grand compte. Du Fresne-Canaye, S. 34; Geographisches Werk des Mehmed ‘Āšiq: In Üsküb findet sich [1593] unter den Baulichkeiten der Ungläubigen ein als Glockenturm bekanntes Minarett. Auf der Spitze dieses Minaretts ist ein Zeitkünder, daß er unter den Zeitkündern, die den höchsten Ruhm der fränkischen und deutschen Kunstfertigkeit darstellen, der größte ist. Zu jeder Tag- und Nachtstunde zählt er die Stunden und verkündet die Zeit. Der Klang seines Schlages dringt in alle Richtungen über Üsküb hinaus und wird bis gegen zwei Meilen gehört. Die Uhr hat Hüter und Wächter, welche sie beschützen. Anhegger, Forschung, S. 82. 107 Würschmidt, Zeitrechnung. 108 Über Pocitelj (Pogitel, Bosnien-Herzegowina) um 1819: near the centre of the lower part is a mosk, with a dome and elegant minaret, […] Pógitel has also a clock tower, a building met with at Mostar, and other towns of Herzegóvina; for which the Turks are probably indebted to their Christian predecessors; and, what is more singular, the clock strikes the hours, despite the Moslem prejudice, that bells drive away good spirits from the abodes of men. Wilkinson, Dalmatia and Montenegro, S. 46. 109 Kurz, European Clocks.

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Vielleicht war es aber auch so, dass die alltäglichen Gebetsrufe als Tageszeit gliedernde Elemente in den osmanischen Gesellschaften lange Zeit schlicht ausreichend waren. Für diese Zeit heißt es in einem Reisebericht aus dem Jahr 1820, dass die Christen an vielen Orten des Osmanischen Reiches für das Recht, ihre Glocken läuten zu dürfen, einen hohen Geldbetrag zu entrichten hätten.110 Erst ganz allmählich wurden öffentliche Uhren eingerichtet, und im 19. Jahrhundert kam es zu einer regelrechten Installationsbewegung, die ausdrücklich und auch symbolisch eine Modernisierungsbewegung war. Im 19. Jahrhundert war das osmanische Reich aufgrund der Schwäche sowohl gegenüber den modernen, westlichen Staaten wie auch gegenüber den Unabhängigkeitsbewegungen innerhalb des Reiches unter erheblichen Druck geraten. Diesen Entwicklungen zu begegnen wurde eine ganze Reihe von Reformen mit dem Ziel in Gang gesetzt, ein „verspätetes“ multikulturelles Großreich in einen modernen zentralistischen Nationalstaat mit einer modernen Bürokratie, einem modernen Steuerwesen, einem modernen Militär und einem modernen Bildungssystem zu machen. Die unter dem Namen Tanzimat-ı Hayriye (Heilsame Neuordnung) bekannten Reformen begannen unter Sultan Selim III. (gest. 1808) und endeten 1876 mit der Verabschiedung der Osmanischen Verfassung. Sie gipfelten in der radikalen Säkularisierung unter Mustafa Kemâl Pascha, als Vater der Türken ‚Atatürk‘ genannt. Die Reformkonzepte der sogenannten ‚Jungtürken‘ werden heute als Kemalismus bezeichnet. Unter den zahlreichen Einzelreformen finden sich auch urbanistische Vorschriften über den Städtebau und die Kirchen. Letztere sollten nicht größer sein als Moscheen. Größe und Klang der Glocken wurden vorgeschrieben. Viele Kirchen wurden umgewidmet. Die Modernisierung der Kommunikationssysteme (Eisenbahnen, Fahrpläne, Telegraphen) wie auch die Förderung von Regelmäßigkeit und Pünktlichkeit in den Verwaltungen,111 in Schulen und beim Militär112 führten zur gezielten Entwicklung neuer Zeitordnungen und Lautsphären, deren sichtbarster Ausdruck ein Boom osmanischer Uhrtürme war.113 Eine bezeichnende Inschrift am Uhrturm von Adana aus dem Jahr 1882 lautet: Es klingt wie ein Uhrschlag, aber tatsächlich ruft die Regierung.114 Rund 80 neue Uhrtürme zeugen von diesem Bauboom, dessen Höhepunkt mit dem Geburtstag des Sultans Abdülhamid II. (1897–1918) zusammenfiel. Heute zählt man

110 Libanon, Griechenland: The Christians, in Turkey, are much pleased to have the use of bells for their churches, and in many places they pay a considerable sum for that privilege. At Livadia, in Greece, there is a church bell, which was not obtained without a high contribution from the Greeks. At Baitroun [Batroun], instead of a bell, The Maronites, as in many other pars of the Turkish dominion, make use of a flat piece of board, held in one hand, which is beaten with a wooden mallet be the other. Walpole, Travels, S. 229. 111 Birol, Managing Time. 112 Wishnitzer, Reading Clocks, ch. 2–4. 113 Uluengin, Secularizing Anatolia. 114 Kreiser, Ottoman Clock Towers, S. 546.

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ca. 120 solcher Bauten.115 Dazu sind in den letzten zwanzig Jahren eine ganze Reihe von Forschungen veröffentlicht wurden, die diese Bauten inventarisieren und architekturgeschichtlich analysieren. Neuerdings wird kontrovers erörtert, ob es sich dabei um eine westlich inspi­rierte und von den politischen Eliten, ‚von oben‘ durchgesetzte Reform handelt bzw. inwieweit auch lokale Initiativen von Bedeutung waren oder man besser von gleichzeitigen multiplen Modernisierungen sprechen sollte. Der „Kampf um die Uhr“ stand für zwei Wege der Modernisierung116, und, da privater Uhrenbesitz noch selten war, hatte er auch eine akustische Dimension. Im Alltag wurden lange die alten und die neuen Tagesteilungen verwendet. Charakteristisch für das osmanische Reich blieb aber das langfristige Nebeneinander hergebrachter und moderner Zeitordnungen („Ottoman temporalities“).117 Sicher ist allerdings auch, dass die vergleichsweise ruckartige Modernisierung der osmanischen Zeitordnungen und Lautsphären zum Sinnbild für die mentalen Schwierigkeiten der Modernisierung wurde. Das lässt sich an vielen literarischen Zeugnissen, darunter Ahmet Hamdi Tanpinars Roman ‚Das Uhrenstellinstitut‘ (1922) feststellen.118 Daniel Scholz spricht von einer: „deeply tangible experience of late Ottoman temporality“119. Die neuen osmanischen Uhrtürme waren mit schlagenden Uhren ausgestattet. Sie trugen teilweise auch doppelte Ziffernblätter für die lokale Zeit ‚alaturka‘ und die lokale Zeit ‚alafranga‘, womit Tradition und Moderne verbunden waren. ‚Alafranga‘ wurde auch zum Modewort für alles Europäisch-Moderne. Die doppelte Stundenzählung hielt sich bis ins 20. Jahrhundert. Der Staatsapparat blieb bis zum Ersten Weltkrieg beim osmanischen System. Ausländische Gesellschaften, Eisenbahnen und Botschaften waren schon eher zur ortsunabhängigen Greenwich-Zeit übergegangen. Endgültig abgeschafft wurden die Alaturka-Zeit und der Hihri-Kalender erst im Jahre 1925. Undeutlich bleibt vorerst, in welchem Umfang die Tagestunden durch Glockenschläge angezeigt worden sind bzw. wie lange der auditive Vorrang des Islam in den Städten behauptet werden konnte. Im Januar 2016 hat die türkische Regierung den muslimischen Beamten erlaubt, zum mittäglichen Freitagsgebet ihre Arbeitsplätze zu verlassen. Ein Verfahren dazu ist beim obersten Verwaltungs-Gericht anhängig. Die Gegner dieser Regelung argumentieren, dass durch Begünstigung nur einer Religion nicht nur gegen die Verfassung verstoßen würde, sondern auch, dass durch die nach den geografischen Längengraden sehr unterschiedlichen Gebetszeiten Verwirrung in den Verwaltungen gestiftet würde (8. Jan. 2015: Ankara 12.03 Uhr, Iğdır im Osten 11.18 Uhr, Çanakkale im Westen 12.28 Uhr).

115 Verzeichnet u. a. bei Özdemir, Saatler, S. 160 ff.; Çelik, Empire, S. 146–153. 116 Vgl. die Beiträge in Georgeon, Hitzel, Ottomans; Wishnitzer, Reading Clocks; Stolz, Review, S. 116. 117 Wishnitzers Hauptargument, Reading Clocks, S. 151–152. 118 Tanpinar, Uhrenstellinstitut. 119 Stolz, Review.

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Ausblick

Lautsphären-Konflikte lassen sich v. a. in Städten, in denen mehrere Religionen Anspruch auf die Gestaltung der Lautsphäre erhoben und erheben, verfolgen. Die Glocken der Dormitio-Abtei (Mariä Aufnahme in den Himmel) auf dem Zionsberg, etwas außerhalb der Stadtmauern von Jerusalem, ebenso wie die Glocken der Erlöserkirche sind auf Initiative Kaiser Wilhelms II. in Deutschland gegossen und auch in den Tönen aufeinander abgestimmt worden. Ausdrücklich um die muslimische akustische Lufthoheit zu sichern, wurde in Jerusalem auch ein Uhrturm für die alaturka-Zeit gebaut. Wenige Jahre später (1907) entwickelte sich eine lange Auseinandersetzung über die Frage, ob nicht die Glocken der Dormitio-Abtei den Ruf des Muezzins von der Moschee beim Grab König Davids zum Verstummen bringen würden.120 Die israelische Regierung hat dann im Jahr 2017 ein Gesetz „zur Verhinderung von Lärm durch öffentliche Lautsprecher­ systeme in Gebetshäusern“ vorgelegt. Lautsprecherdurchsagen an Gotteshäusern zwischen 23.00 Uhr und 7.00 Uhr sollen verboten werden. Es wird als „Muezzin-Gesetz“ bezeichnet, weil damit der erste zum Sonnenaufgang erfolgende Gebetsruf unterbunden würde.121 Auch die aktuellen Debatten um Muezzins und Minarette nicht nur in Deutschland zeigen, dass die 1500-jährige Geschichte dieses Konflikts noch keineswegs zu Ende ist. Es ist unverändert ein Konflikt zwischen sich religiös verstehenden Mehrheits- und Minderheitskulturen, die jedoch oft durch pragmatische Arrangements entschärft werden. Arrangements ergeben sich gelegentlich auch aus Desinteresse. Symmetrische Toleranz gab es nie und wird es auch nicht geben. Auch wenn öffentliche akustische Zeitsignale, wie allgemein auch Glockenzeichen, längst obsolet geworden bzw. im Lärm der Städte nicht mehr hörbar sind, macht sich ein ‚Clash of Cultures‘ unverändert an Lautsphären mit hergebrachten Signalen und Signaleinrichtungen fest, weil sie für die religiös geprägten Gemeinschaften unverändert hohe symbolische Bedeutung haben. Abkürzungen CCCM – Corpus Christianorum Continuatio Mediaevalis CSM – Corpus scriptorum muzarabicorum MGH – Monumenta Germaniae Historica Quellenverzeichnis Albert of Aachen – Historia Hierosolymitana. History of the Journey to Jerusalem, hg. von Susan B. Edgington, Oxford Medieval Texts, Oxford 2007. 120 Wishnitzer, Reading Clocks, S. 181–182. 121 Zeit online, AFP, nd, 12. Februar 2017, https://www.zeit.de/politik/ausland/2017-02/­ israel-gesetz-gebetsrufe-diskriminierung; (04.04.2019).

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Untrügliche Zeichen von Veränderung Glocken, Gemeinschaftsformierung und spätmittelalterliche ­Stadtaufstände am Beispiel von Chemnitz und Braunsberg Gerald Schwedler

Glocken waren das verbreitetste mittelalterliche „Massenkommunikationsinstrument“. Den Schall vernahm man im innerstädtischen Gedränge, wie auch über die Stadtmauern hinaus ins Umland hinein.1 Durch die unterschiedlichen Glocken auf den Türmen, ihre Schlagzahl und -dauer wurden nicht nur präzise religiöse Zeiten signalisiert wie etwa Andacht, Beginn oder Höhepunkt der Messe, sondern vor allem auch Angelegenheiten, die die Bürgerschaft im nichtreligiösen Alltag betrafen. Der Gebrauch von Glocken changierte dabei stark zwischen profaner und zeremonialisiert sakraler Nutzung.2 In der Forschung wurde die Glocke geradezu als Ausweis von Gemeinschaft gesehen. Kirchenglocken standen für die Pfarr- oder Mönchsgemeinde.3 Darüber hinaus galt das Erklingen der Rathausglocken als das Signal der von Rat und Bürgern getragenen Kommunität. Alfred Haverkamp formulierte in seinem Aufsatz über die Bedeutung der Glocke in den Stadtgemeinschaften pointiert: „Ohne Glocke keine Kommune.“4 Damit hob er die Bedeutung der Glocke als Alleinstellungsmerkmal der okzidentalen Stadt hervor und erweiterte das Spektrum der seit Max Weber diskutierten spezifischen Eigenschaften einer Stadt. Inspiriert ist dieses Modell von urbaner Gemeinschaft als Klanggemeinschaft von der Analogie der Kirchenglocken für die Mönchs- und Kirchengemeinschaften. Die Glocke ruft hier zum Gemeinschaftshandeln. Alfred Haverkamp verknüpfte erstmals aus mediävistischer Perspektive den Forschungsansatz zu den Klanglandschaften mit den Fragen nach Gemeinschaftsbildung in städtischen Kommunen. Er konstatierte, dass die akustische Synchronisierung der Stadtgemeinschaften einen bislang ungekannten Homogenisierungs- und Harmonisierungsgrad erreichte.5

1 Otte, Glockenkunde; Kramer, Glocken; Dirmeier, Information; Arnold, Goodson, Resounding Community; Mersiowski, Wege zur Öffentlichkeit; Garrioch, Sounds of the City. 2 Wenig rezipiert wurden die Ergebnisse der kurzen Analyse von Stockmann, Die Glocke. 3 Garceau, „I call the people“. Minazzi, Der Klang; Bordone, Campane. 4 Haverkamp, „… an die große Glocke hängen“ S. 101 und für den Sonderfall jüdischer Gemeinden S. 110; Vgl. auch den Sammelband Haverkamp, Information. 5 Haverkamp, Ohne Glocken, S. 21–29, vgl. dazu: Escher-Apsner, Hirschmann, Die urbanen Zentren. Vgl. auch Bönnen, Zwischen Kirche und Stadtgemeinde.

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Gerald Schwedler

Hierzu waren freilich kostspielige Tragkonstruktionen und Glockentürme notwendig.6 Der Glockenschlag wurde zum essenziellen Strukturgeber urbaner Zeitvorstellungen und nach Gerhard Fouquet rhythmisierten und normierten sie die Tageschronologie der Städte.7 Die Analyse von Glockennutzung im Alltagsleben mittelalterlicher Städte wurde zunächst im Bereich der Rechts- und Verfassungsgeschichte betrieben.8 Gerade auch, weil Hörweite eigene Räume konstruiert, werden dadurch auch Herrschaft und Kontrolle dokumentiert, Repräsentationsansprüche „intoniert“9. Aber als Instrumente der akustischen Gesellschaftsformierung zog die Rhythmisierung durch Glockenschlag auch das Interesse der Sozialgeschichtsforschung auf sich. Überdies spielte das Interesse an technischen Veränderungen eine Rolle, dass etwa ab dem 14. Jahrhundert den regelmäßigen Glockenschlag vermehrt eine mechanische Uhr taktete, wie etwa Dohrn van Rossums „Geschichte der Stunde“ zeigt.10 Hinzu kam das kulturgeschichtliche Interesse am Wirken von Klang im Raum, was sich gerade in den intensiv betriebenen Studien zu den historischen Klanglandschaften, den soundscapes, zeigt.11 Neben dichten historischen Untersuchungen, wie dem Werk von Alain Corbin (1995), sind auch zahlreiche weitere methodisch reflektierende Arbeiten entstanden, die sich mit der Problematik der verklungenen Quellen auseinandersetzen. Corbin hebt etwa hervor, dass Klänge wie etwa der Glockenschlag in ein akustisches Zeichensystem eingebettet waren, die den sozialen Alltag strukturierten. Auch bezüglich der differenzierten Einstufung der Klänge in ihrer Qualität und Relevanz kam es zu definitorischen Überlegungen. Raymond Murray Schafer verwendet etwa die Begriffe keynote, signal und marker, um unterschiedliche Klangqualitäten auszudrücken, welche die einstigen Wahrnehmungsgewohnheiten bestimmten.12 Doch gilt es im Folgenden, dieses von Stabilisierung und Harmonisierung geprägte Bild beim Glockengebrauch in mittelalterlichen Städten zu korrigieren und die sozialformierende Eigenschaft von Glocken, insbesondere im kritischen Bereich im Rahmen von Unruhen und Aufständen herauszustellen. Glocken, so die These, verkündeten – mit einer Formulierung des Anthropologen Paul Parin – untrügliche Zeichen  6 Fürst, Glockentürme; Oury, Art. Bell, S. 164; Bayliss, Bells and bellringing; Christie, On bells; Delaruelle, Le Problème; Schwarz, Hoch hinaus.  7 Fouquet, Zeit, Arbeit und Muße.  8 Lippert, Glockenläuten; Patart, Les cloches civiles. Vgl. dazu auch spätere Arbeiten wie etwa Wittmann, Rechtsgeste Klang.  9 von Seggern, Herrschermedien; Žak, Musik, S. 8–10. 10 Dohrn-van Rossum, Die Geschichte der Stunde; Frugoni, A Day in a Medieval City, zum Glockenläuten S. 58–63; Lubken, Joyful Ringing; vgl. dazu Burke, Notes for a Social History. 11 Zur theoretischen und praktischen Wahrnehmung von Klängen im Mittelalter Bunett, Sound; zu Glocken Corbin, Die Sprache der Glocken; Bijsterveld, Sound­scapes; Schafer, The Soundscape; Missfelder, Period Ear; Müller, „The Sound of Silence“; Rosenfeld, On Being Heard; vgl. die Textsammlung: Sterne, Sound Studies Reader. 12 Schafer, The Tuning; vgl. auch Morat, Historizität des Hörens.

Untrügliche Zeichen von Veränderung

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von Veränderung, signalisierten auch den Ausnahmezustand.13 Hierzu wird der Blick insbesondere auf die sozialwirksamen Folgen durch ephemer erscheinende Klänge gerichtet, dass also bisweilen dadurch eine kritische Masse von Personen im urbanen Raum in Bewegung gesetzt werden kann. Dabei gilt das Interesse dem Extremfall, wenn Glocken die Funktion gewinnen, nicht harmonisierend, sondern differenzierend eingesetzt zu werden, um etwa einen Aufstand und Umsturz des bisherigen Regimes einzuläuten.14 Exem­plarisch wird an zwei prominenten Beispielen, den Stadtaufständen von Chemnitz und Braunsberg, die Bedeutung von Glocken im historischen Kontext dargestellt.15 In einem zweiten Abschnitt gilt es, auf methodischer Ebene zur Theoriedebatte beizutragen und eine wichtige Position zu belegen, dass nämlich Glocken nicht auf ihre ästhetische und synchronisierende Funktion innerhalb eines akustischen Gesamtkunstwerks bewertet werden müssen, sondern vor allem auch mit Blick auf ihre Funktion als mittelalterliches Medium der Massenkommunikation, dem höchste Aufmerksamkeit bezüglich Medienkontrolle zukam.16 In analoger Weise haben dies mit sehr viel dichteren Quellenbelegen Doris Stockmann für die Verwendung von Glocken im 16. Jahrhundert in Bezug auf die Bauernkriege und Daniela Hacke und Beat Föllmi für die Reformation dargestellt.17 Die Wahl der Beispiele fiel auf die Orte Chemnitz und Braunsberg, da für diese eine außerordentlich gute Quellenüberlieferung für das Verwenden von Glocken in Aufständen zu finden ist. Darüber hinaus ist eine Analyse dieser beiden Städte auch als Gegen­gewicht zu den bislang erfolgten Forschungen zu Städten Frankreich, England, Italien und Süddeutschland zu sehen, zu denen bislang die meiste mediävistische Klanggeschichtsforschung und Theoriebildung erfolgte. Sowohl in Chemnitz als auch in Braunsberg stehen demnach ausreichend Quellen zur Verfügung, um zu belegen, wie bedeutsam hier der Einsatz der Glocken war. Die Quellenproblematik zeigt sich nicht nur darin, dass die ephemeren Klänge von Glocken rasch verklungen sind.18 Auch das relevante Verwaltungsschriftgut erwies sich von wenigen Überlieferungszufällen abgesehen als schnell vergänglich und stellt ein methodisches Hindernis einer systematischen Erfassung dar.

13 Vgl. den autobiographischen Text von Parin, Untrügliche Zeichen; auf das Motiv der selbst läutenden Glocken ist hier nicht weiter einzugehen, vgl. Hödl, Und die Glocken. 14 Einen ähnlichen, aber nicht systematischen Ansatz verfolgen etwa: Sizer, Murmur; Atkinson, The Republic; Föllmi, Création; Hurlbut, The Sound. 15 Oexle, Die Kultur, geht nicht auf die Bedeutung der Glocken ein. 16 Fisher, Music. 17 Stockmann, Der Kampf; Hacke, Klangräume; Dies., Hearing Cultures; Föllmi, Création. 18 Stere, The Audible Past.

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1. Geläut zu Aufruhr und Veränderung

Glocken riefen Menschen zusammen, im Frieden wie im Krieg.19 Zumal der Hauptglocke für eine Mobilmachung größerer Menschenmengen eine zentrale Bedeutung zukam, war ihr Einsatz in nahezu allen spätmittelalterlichen Stadtaufständen in Europa zu finden.20 Mit den folgenden beiden Beispielen Chemnitz und Braunsberg gilt es zu zeigen, dass die spezifische Funktion von Glocken im Falle von Aufständen mit der bisherigen Begrifflichkeit von Klangraum und soundscapes nicht erfasst ist. Chemnitz (1345)

Zunächst gilt das Interesse dem Bürgeraufstand in der Stadt Chemnitz im Jahre 1345, bei dem Glocken mit der Absicht der Trennung bzw. Separation von Gemeinschaft verwendet wurden. Hierzu liegt jedoch nur ein einziger Beleg vor, ein Schreiben, das ohne Datum und Ort von einem Ratsgremium an einen nicht näher bezeichneten Stadtherren überliefert ist.21 Manfred Kobuch konnte durch die detaillierte Analyse des Kontextes plausibel machen, dass es sich um Chemnitz handelte und datierte jenen Aufstand ins Jahr 1345.22 Den Hintergrund dafür bildeten sowohl innere, wie auch äußere Faktoren. Den politischen Anlass bot die Entwicklung, dass die Reichsstadt Chemnitz 1308 endgültig unter markmeißnische Herrschaft kam. Als belastend erwies sich vor allem das autoritäre Regiment Markgraf Friedrichs II. (des Ernsthaften, reg. 1324–1349). Durch seine eigene aggressive Erwerbspolitik hatte die Stadt Chemnitz nun indirekt, durch Steuern, hohe Lasten zu tragen. Friedrich II. führte etwa über mehrere Jahre hinweg gegen den Erzbischof von Mainz, Heinrich von Virneburg, die „Thüringer Grafenfehde“ (1342–1346). Zwar konnte der Markgraf im Rat fast immer seinen Willen durchsetzen, doch sahen sich beide einer Entwicklung ausgeliefert, bei der die sogenannten Innungen immer mehr an Einfluss gewannen. Deren Zahl wuchs zunächst von drei auf sechs und diese forderten politische Mitsprache. Denn im Gegensatz zu den Zünften waren Innungen keine Teilhabe an kommunaler Organisation gestattet. Diese konfrontative Formation führte bei einem Streit um die Formalien der Steuererhebung zur Eskalation. 19 Schubert, Erscheinungsformen, S. 112: „Ihr Schall ruft Menschen zusammen“. 20 Hergemöller, Uplop, S. 217 verzeichnet folgende Aufstände, bei denen eine Glocke eine zentrale Rolle spielte: Chemnitz 1345, Bremen 1349, Bremen 1365, Danzig 1416, Osnabrück 1424, Gent 1447, Magdeburg 1453. Für den europäischen Raum sind weitere Beispiele bekannt, etwa für Veurne 1324 (mit der expliziten Verwendung des Begriffs clockenslagen für den Aufstand), Leuven 1360 und Gent 1479, Dumolyn, Haemers, Takehan, S. 46; für die englischen Aufstände von 1381 Prescott, Shaping, S. 77 f.; Bologna 1376, Lantschner, Invoking, S. 173 f. 21 Liste mit sieben Artikeln in einem undatierten anonymen Pergamentbrief der drei Räte: Kobuch, Bürgerkämpfe [mit Quellenedition: S. 158–159], S. 158–159, Abbildung S. 143. Keine Erwähnung in: Ermisch, Urkundenbuch; Zöllner, Geschichte der Fa­brik. 22 Hergemöller, Uplop, S. 57; Kobuch, Bürgerkämpfe.

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Zunächst versuchte der Rat die Zahl der sogenannten Schoss-Einnehmer, also Steuereintreiber, von sechs auf zehn zu erhöhen. Es kam zu einem Protest aus dem Bereich der Handwerker. Der anonyme Bericht nennt als Urheber zwei Bäcker namens Schutolf und Meseburg sowie den Schuhmacher Mathias auf dem Chemnitzer Kornmarkt. Der weitere Verlauf wird im anonymen Bericht wie folgt beschrieben:23 Der vierte Punkt. Es kam von den Handwerkern eine große Abordnung zum Bürgermeister und fragte ihn, ob sie die Sturmglocke läuten sollte. Da sprach dieser: „Nein, man solle nicht läuten, es sei denn auf Geheiß des Rates oder Schultheißen“. Da sprach ein Bäcker er wolle die merezch-Glocke [also größere Glocke] läuten, damit alle zusammengerufen werden. Da läuteten sie ohne Erlaubnis solange sie wollten. Was sie damit beabsichtigten, das wissen wir nicht.24 […] Der siebte Punkt. Während wir, Herr, hier bei Euch waren und auch die Handwerker zugegen waren, sandten sie nach Hause und forderten die Gemeinde auf, ebenfalls zu erscheinen und verbreiteten, dies erfolge auf Euer Geheiß. Ebenso sollten jene die Sturmglocke läuten, weder mit Tag- noch Nachtgeläut. Sie erschreckten damit die Bevölkerung beklagenswert und zogen aus und besetzten die Tore. Da fragten wir die Torwächter, wer die Tore besetzt hätte und sie sagten, es hätte Kuttener getan. Darauf fragten wir Kuttener, wie dies zu verstehen sei. Da antwortete dieser: „Das ist nicht vor euch [dem Rat] zu verantworten.“ Er wolle dies vor Euch, Herr, verantworten.25

Die Handwerker versuchten also, sich der Sturmglocke zu bemächtigen, konnten dies gegenüber dem Bürgermeister jedoch nicht durchsetzen. Das Läuten der größeren Glocke blieb ohne eine erwünschte Wirkung und stieß beim Bürgermeister auf Unverständnis. Im weiteren Verlauf ließ der Rat einen Fleischhauer hinrichten, unter der Beschuldigung, fünf Jahre lang zwischen Fleischhauern und Schuhmachern Zwist gesät zu haben. In der Folgezeit kam es dazu, dass die Räte zum Markgrafen Friedrich reisten. Als diese also abwesend waren, konnte mithilfe einer List die Sturmglocke geläutet und die Stadt23 Zu den Stadtbränden von 1379, 1389 und 1395, bei denen das Rathaus Schaden nahm vgl. Richter, Chronica, Teil 1, S. 232. 24 Kobuch, Bürgerkämpfe, S. 159: Die vierde sache. Is quamen uz den hantwerken ir ein gut teil zu dem burgermeistere unde vragiten en, ob si die sturmglocke solden luten. Do sprach her: Neyn, man sal ir nicht luten, is heize der rat oder der schultheize. Do sprach ein becker: Hise man is en, her wolde die merezch glocke lute, daz sie allir zuphiffe. Do lutten sie ane loube, wievil sie wolden. Waz sie damite mei[n]ten, des en wiste wir nicht. 25 Kobuch, Bürgerkämpfe, S. 159: Die sibende sache. Divile wir, herre, hie bi uch waren unde die hanthwerken mit uns, do santen sie hin hey unde geboten der gemeyne, zu uch zu kumene, unde jahen, is were uwer geheyze, unde luten die sturmglocke, do is was weder tac noch nacht, unde irschrecten daz volk gemerlichen unde zugen uz unde besazten die toer. Do vrayte wir die torwarten, wer die toer hete besazt, do iahen sie, is hete getan Kuttener. Do vraite wir Kuttenere, wie her is gemeinit hete. Do sprach her: Hete is vor uns nicht zu vorentwortene. Her woldis vor uch wol verantworten, herre.

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tore eingenommen werden. Ein gewisser Kuttener wird beschuldigt, das Besetzen der Tore veranlasst zu haben, er erscheint indes später nicht mehr in den Quellen. Zum weiteren Verlauf fehlen Hinweise, doch besteht kaum Zweifel, dass Markgraf Friedrich ähnlich wie im Jahre 1345 in Dresden hart durchgriff.26 Zur Ruhe kam die Beziehung zwischen Rat und Handwerkern allerdings nicht. Es folgten weitere Aufstände in den Jahren 1393 und 1414.27 Festzuhalten bleibt, dass ein schwacher Rat sich stets beim Stadtherren rückversichern musste. Zumindest hatte er es vermocht, das erste Läuten der Sturmglocke zu unterbinden. Doch hat man sich offenbar mit der großen Glocke begnügt. Das tatsächliche Läuten mit der Sturmglocke war erst durch eine geschickte List möglich. Damit konnte die Stadt in den Ausnahmezustand versetzt werden und nur auf diese Weise die Handwerker die Macht über die Stadttore ergreifen, wenn auch nur vorübergehend. Braunsberg/Braniewo (1396)

Im Folgenden ist auf die Glockennutzung im Konfliktfall in der Stadt Braunsberg/Braniewo in Ostpreußen im Jahre 1396 einzugehen. Diese zur Hanse gehörige Kaufmannsstadt lag verkehrsgünstig vor der Mündung des Flusses Passarge in das Frische Haff, 60 km von Königsberg entfernt. Stadtherr war der Bischof von Ermland, der in Braunsberg eine seiner bischöflichen Residenzen besaß. Es handelte sich um eine ehemalige Ordensburg, die innerhalb der Stadtmauern lag. Das Domkapitel residierte hingegen im unweit gelegenen Frauenburg.28 Das konfliktreiche Verhältnis von Bischof und der Stadt Braunsberg führte zu mehreren Auseinandersetzungen. Im Jahre 1396 kam es zu einer Empörung der Bürger gegen Bischof Heinrich von Sorbom (1373–1401). Anlass bot sein Versuch, die Altstadt mit der Neustadt Braunsbergs zusammenzulegen. In seinem Erlass vom 28. März 1394 vollzog er diese Einverleibung, nach der die Neustadt mit ihrer ganzen Gemarkung fortan zur Altstadt gezählt wurde. Die neustädtische Einwohnerschaft sollte fortan alle Rechte der altstädtischen genießen und ein gemeinsamer Rat die vereinigte Stadt regieren. Von einer Zustimmung des altstädtischen Rates ist bezeichnenderweise nichts bekannt. Mit leidenschaftlicher Erregung nahm die Bürgerschaft der Altstadt diesen eigenmächtigen Eingriff in ihre verbriefte Verfassung auf. Die Bürger der Altstadt wollten den Zusammenschluss nicht akzeptieren und mit jenen Neuen ihre Privilegien teilen. Von Seiten des Rates der Altstadt wurde der Zusammenschluss rückgängig gemacht. Während der Verhandlungen mit Bischof Heinrich und seiner Forderung, die Anführer zu bestrafen, kam es zu einem Aufstand. Das Signal dazu war das Läuten der Glocken auf dem Altstädter Rathaus. Über die genaue bauliche Situation des Rathauses liegen zwar keine genauen 26 Zuletzt Hergemöller, Uplop. 27 Kobuch, Bürgerkämpfe. 28 Jarzebowski, Die Residenzen; dazu auch Jarzebowski, Castrum nostrum.

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Befunde vor, von einer eigenen Rathausglocke ist indes auszugehen.29 Auf dieses Signal hin erstürmten die Bürger das bischöfliche Schloss, das innerhalb der Stadtmauer lag.30 Lediglich zwei Quellen geben darüber Auskunft. Die erste ist der kurz darauf entstandene Gerichtsentscheid, mit dem der Deutschordensmeister am 4. November 1396 die Strafen über die Aufständischen festlegte.31 Die zweite Quelle ist die Chronik des Johann Plastwig (1400–1464), dem Dekan des ermländischen Domkapitels.32 Dieser historiographische Text entstand zwischen 1463 und 1465, basiert auf zeitgenössischen Berichten und schildert die Geschichte des Bistums aus der Perspektive des Bischofs. So schreibt Plastwig, dass der Bischof diejenigen strafen wollte, die an einem bemerkenswerten excessus, also Aufruhr beteiligt gewesen seien. So wurden Rat und Bürgerschaft auf das bischöfliche Schloss bestellt, um in Gegenwart des Bischofs über Bestrafung zu verhandeln. Für ihre Antwort erhielten diese einen Aufschub. Diesen nutzte der Bürgermeister und rief alle Altstädter Bürger zum Rathaus, indem er die Ratsglocke läuten ließ (campana sonans).33 Plastwig findet eine anschauliche Metapher für das Läuten der Glocke: Wie durch einen bösen Geist angestachelt (spiritu instigante), stürzten sich die Braunsberger voller Wut auf das bischöfliche Schloss. Der Glockenklang ist hier keineswegs Ruf der Engel oder des Heiligen Geistes. Man wird nicht fehlgehen, dass der Domdekan laut Plastwig diese Abfälligkeit nur gegenüber einer bürgerlichen Glocke, der Ratsglocke zu äußern wagte. Die Bürger hatten rasch die Oberhand gewonnen. Als sie versuchten, jenen Bischof zu töten, habe er sich durch Flucht auf der Rückseite des Schlosses in Sicherheit gebracht.34 Im weiteren Verlauf konnte er mithilfe von Verstärkung aus dem Bistum, aber vor allem durch den Ordensmeister Konrad von Jungingen, die Stadt wieder einnehmen. Darauf forderte der Bischof das augenfällige Ritual der Deditio. Wörtlich schreibt Johann Plastwig: „Er zwang jene, dass sie ohne Schuhe und 29 Herrmann, Mittelalterliche Architektur, S. 615. Baubefunde liegen nicht vor. So schließt Herrmann, dass Braunsberg wohl einen Rathausturm besaß: Die preußischen Rathäuser hatten üblicherweise einen Dachreiter, in dem die Ratsglocke aufgehängt war, gerade auch, weil Braunsberg nach lübischem Recht auf Lübeck orientiert war, während die umliegenden Städte Kulmer Recht besaßen. 30 Röhrich, Geschichte; Buchholz, Braunsberg im Wandel; Schmid, Mauer und Brücke, S. 306 f. 31 Urteil des Hochmeisters Konrad von Jungingen über die Stadt Braunsberg wegen ihrer Empörung gegen Bischof Heinrich von Ermland, 1396, Nov. 4, in: Codex Diplomaticus Wermansia Bd. 3, Nr. 313, S. 287. 32 Plastwig, Chronicon, S. 79 f. 33 Plastwig, Chronicon, S. 79. 34 Plastwig, Chronicon, S. 79 f.: Et est sciendum, quod cum ipse dominus Heinricus episcopus consulatum et cives oppidi Brunsberg propter certum excessum notabilem punire decrevisset, et ipsi vocati in castrum episcopale in praesentia eiusdem super responsione danda deliberationis inducias postulatas recepissent, consulatus, communitate tota ad praetorium convocata ad sonum campanae consularis, nequam se spiritu instigante, impetuose furia pleni, in castrum episcopale irruentes, eundem dominum episcopum suum interficere conabantur.

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Kopfbedeckung und ihre Gürtel um ihre Hälse tragend alle aus der Stadt kämen und demütig um Vergebung bitten sollten.“35 Dieses Ritual, das schon aus ottonischer Zeit bekannt ist und von Friedrich Barbarossa für Mailand angewendet wurde, ist in diesem Zusammenhang durchaus plausibel.36 Der Bischof habe die Unterwerfungsgeste angenommen und das weitere Urteil dem Hochmeister überlassen. Eine weitere Quelle, die spätere Heilsberger Chronik, bestätigt die Lesart, dass es sich um die Ratsglocke gehandelt habe, also die wichtigste dem Rat zustehende Glocke.37 Diese habe ausgereicht, um Sturm zu läuten und die Bürger gegen den Bischof zu mobilisieren. Eine offene Frage ist die Lokalisierung der Ratsglocke. Üblicherweise geht man davon aus, dass sich die Glocke in einem Dachreiter auf dem Rathaus befand. Doch befand sich das Rathaus zu jener Zeit im Bau, und es muss offen bleiben, wie lange die Rathausglocke von einem Provisorium aus (eine Konstruktion vor/neben dem Rathaus oder zwischenzeitliche Hängung in der Katharinenkirche) geläutet wurde.38 Der Klang der Glocke erreichte zumindest die kritische Masse an Bürgern, um diese zum Aufstand zu bewegen. Von besonderer Bedeutung für die Glockenfrage ist das offizielle Urteil des Hochmeisters Konrad von Jungingen, das dieser am 4. November 1396 in der Marienburg fällte. Es ist im Wortlaut überliefert und bestätigt den Bericht Plastwigs. Als Strafe wurden zahlreiche Formen festgelegt. Materiell am schwersten traf die Stadt, dass sie die Ringmauer des bischöflichen Schlosses erhöhen musste. Die Anstifter wurden ins Exil geschickt. Doch an erster Stelle benennt der Hochmeister noch ein entscheidendes, symbolbeladenes Detail. Er setzte fest, dass die Glocken, die man zum Sturm geläutet habe, dem Bischof gehören sollten.39 Czum ersten so welle wir, das die glacken [sic] wy vil der ist, do methe die gemeyne czum Brunsberge obir unsern herren den Bischoff gelutet haben czu sturme, sullen seyn unsers herren des Bisschofes vnd is sal sten an seinem willen, was her do methe thun wil.40

Es handelt sich also um mehrere Glocken. Dabei ist es durchaus plausibel, dass man auf andere Glocken Zugriff hatte, über deren Verwendung nun der Bischof entscheiden konnte. Für Braunsberg fehlen Hinweise, was mit diesen Glocken geschah. Jedoch fügt sich diese Strafmaßnahme in eine allgemein bekanntere symbolische Bestrafungsform 35 Plastwig, Chronicon, S. 79 f.: Compellens eosdem, ut discalcati discoopertisque capitibus ac cingulos suos in collis deferentes, omnes oppidum exeuntes, humiliter veniam postularent. 36 Althoff, Das Privileg; Weinfurter, Mit nackten Füßen; Schmid, Mauer und Brücke, S. 307. 37 Heilsberger Chronik, S. 275–279. Der Wortlaut macht die Abhängigkeit von Plastwig offensichtlich. 38 Buchholz, Braunsberg im Wandel, S. 20; die These vom Dachreiter auf dem Rathausturm teilt auch Herrmann, Mittelalterliche Architektur, S. 614 f. 39 Dazu auch Lilienthal, Ein Beitrag zur Ehrenrettung, S. 35. 40 Monumenta historiae Warmiensis, Bd. 3, Nr. 313, S. 287.

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ein. Es fehlte nicht nur ein Kommunikationsmedium, mit dem die Bürgermeister gegen den Bischof und seine Bediensteten mobilisieren konnten. Die Bürgerschaft wurde weithin hörbar des Instruments beraubt, sich öffentlichkeitswirksam zu artikulieren. Das Beispiel in Braunsberg und der Schiedsspruch des Hochmeisters zeigt deutlich, welche politischen Implikationen der Zugriff und bereits die Zugriffsmöglichkeit auf eine Glocke hatte. Autorität besitzt, wer die Glocke läuten lassen kann. Dauerhafte Autorität zeigt sich indes darin, wenn das Läuten der Glocke verboten wird und das Schweigen der Glocken erzwungen werden kann. 2. Glocken, Grenzen, Gemeinschaften und der Impuls zur Veränderung

Glocken stiften zwar Gemeinschaft, wie Alfred Haverkamp betonte, doch wird durch Glockenschlag auch die urbane Gesellschaft organisiert und differenziert. Das beginnt damit, dass Glocken selbst schon multidimensionale Medien waren, bei denen unterschiedliche Signalebenen unterschiedlich wahrgenommen werden konnten.41 Bereits der technisch aufwändige Akt des Glockengusses durch auswärtige Experten und eine begrenzte Zuschauerzahl wurde mit zahlreichen Ritualen belegt, geradezu als arkanes Ereignis stilisiert, aus dem die Glocke hervorging.42 Die meist elaborierten Glockeninschriften und Abbildungen blieben etwa nur für einen sehr kleinen Kreis an Personen sichtbar.43 Auch wenn das vorrangig zu erzeugende Geläut für alle hörbar war, wurden damit bestimmte zeitliche Grenzpunkte markiert, die nicht nur Einheit, sondern vor allem eine Abgrenzung innerhalb der sozialen Gemeinschaft bedeuteten. Die Folgen des Glockenschlags konnten sich für die Einzelnen höchst unterschiedlich auswirken. Zu wenig wurde bislang beachtet, dass die Hörgemeinschaft durch Glockengeläut ausdifferenziert wurde und dass das unterschiedliche Hörverhalten weniger an den physischen Hörfähigkeiten als am Rechtsstatus der Person hing. Die Vorstellung von einer Glocke, die „Gemeinschaft schafft“, ist im Folgenden zu spezifizieren. Denn was für den Bürgerstolz gilt, symbolisch durch eine spezielle Glocke vertreten zu sein, wird funktional dadurch aufgeweicht, dass es in der Regel in den Städten des Spätmittelalters stets mehrere Glocken gab. Die Glocke des Rats fügte sich in ein umfangreiches Klangensemble ein, bei dem sich die Klangqualität, Tonhöhe, Lautstärke und Schlagtechnik unterschieden und zudem die Glocken zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen Pulsfrequenzen geläutet wurden. Um diese Differenzierungsfunktion im Sinne von akustischen Markern für die Stadtbevölkerung darzustellen, sind Unterschiede einzelner Glockentypen, insbesondere bei den politischen Glocken wie der Sturmglocke und der Ratsglocke, darzustellen. Dadurch kann 41 Arnold, Goodson, Resounding Community, S. 99. 42 Lusuardi Siena, Neri, Das Heilige. 43 Poettgen, Zur Theologie.

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der funktionale Unterschied der kommunikativen und der transformativen Wirkung des Glockenläutens gezeigt werden. Die politisch bedeutsamste Glocke einer Stadt war die sogenannte „Sturmglocke“.44 Sie wurde bei Gefahr von Feuer oder Feinden geläutet. Wenn dies geschah, betraf es die Bürgerkommunität existenziell. Die Warnfunktion findet sich in ganz Europa: Es handelt sich dabei um eine von allen anderen Glocken der Stadt unterscheidbare Glocke, deren Aufgabe es war, die Bewohner in Alarmbereitschaft zu versetzen. In den mehreren zehntausend europäischen Städten wurde diese Funktion unterschiedlich ausgefüllt. Es variierte nicht nur Größe und Hängung, sondern vor allem auch die Art der zusätzlichen Aufgaben, die mit dieser Glocke verbunden wurden. Ein Hinweis hierfür sind die unterschiedlichen Bezeichnungen für die Alarmglocke in den einzelnen Städten. Im deutschsprachigen Raum wurde die Glocke neben „Sturmglocke“ etwa auch „Feuer­glocke“, „Notglocke“ oder „Bannglocke“ verwendet.45 Während sich die Funktion im Falle von Feuer oder unspezifizierter Not rasch erschließt, ist die Zusatzfunktion, Gerichtszeiten anzuzeigen, nicht überall mit derselben Glocke ausgeführt worden. Die Sturmglocke hing häufig im Kirchturm oder an Wachtürmen sowie vereinzelt auch auf Rathaustürmen. In zahlreichen reicheren Städten wurde die Sturmglocke explizit vom höheren Kirchturm auf den oftmals niedrigeren Rathausturm gebracht. Von dort aus war eine Sturmglocke zwar akustisch weniger prominent, doch zeigte dies gerade, dass bei sehr selbstbewussten Bürgerkommunitäten das wichtigste Signalinstrument souveräner Stadtherrschaft auf das Rathaus geholt wurde. Bisweilen wurden eigene Türme errichtet und insbesondere in Brabant traten die Beffrois als eigene Architekturgattung hervor.46 Zahlreiche andere Beispiele belegen, dass sich die Säkularisierungsthese von Jacques LeGoff, nach der die Räte bestrebt gewesen seien, das politische Geläut zu verweltlichen und Zeit zu kapitalisieren, keineswegs bewiesen werden kann.47 Schon gar nicht lässt sich die These von Alain Corbin halten, erst die Aufklärung hätte Glocken entsakralisiert.48 Doris Stockmann konnte bereits für die Bauernkriege die intensive politische Nutzung von Glocken belegen.49 Eine klare Trennung in weltliche und sakrale Lautsphären ist innerhalb jener mittelalterlichen Kämpfer- und Betgemeinschaft nicht möglich, wohl aber eine Binnendifferenzierung. Denn auch wenn die gesamte Bürgerschaft das Läuten hörte, so waren die Reaktionen und Rechtsfolgen für den Einzelnen doch äußerst unterschiedlich. Was bei Erklingen der Sturmglocke über die Alarmfunktion und Signalisie44 Ausführlich hierzu Lippert, Glockenläuten. 45 Goppold, Politische Kommunikation. 46 Van Uytven, Flämische Belfriede. 47 So bereits Dohrn-van Rossum, Die Geschichte der Stunde, S. 22: „Aus den Arbeiten Renouards und Le Goffs … sind heute eindeutige – und in ihrer Eindeutigkeit falsche – hand- und schulbuchfähige Formeln über den Wandel des Zeitbewusstseins geworden.“ 48 Vgl. dazu Corbin, Die Sprache der Glocken; dazu etwa: Hahn, The Reformation; Miss­ felder, Reformatorische Soundscapes. 49 Stockmann, Der Kampf, S. 163 f.

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rung erhöhter Wachsamkeit vorgeschrieben wurde, findet sich in zahlreichen Stadtordnungen und Bürgereiden. Nicht alle Bewohner, sondern nur die waffenfähigen Männer hatten sich mit Harnisch einzufinden. Das Fernbleiben beim Ertönen der Sturmglocke galt nach den Strafbestimmungen der Bürgerrechte als Verstoß gegen den Untertanenoder Bürgereid, wie zahlreiche Passagen aus den Stadtrechtsaufzeichnungen belegen.50 Schon das einleitende Chemnitzer Beispiel zeigt, dass der Zugriff auf die Sturmglocke geschützt werden musste. Deren Benutzung wusste der Bürgermeister bei einem ersten Versuch der Handwerkerschaft zu verhindern. Als stattdessen mit der großen Glocke „Sturm“ geläutet wurde, verstand man das Signal nicht bzw. nahm es als verstörend wahr. Zu einem Aufstand kam es dadurch also noch nicht. Erst als die Handwerker beim zweiten Mal durch eine List mit der Sturmglocke läuteten, wurde die Stadt in Alarmbereitschaft versetzt, und sie konnten sich der Tore bemächtigen. Denn als der Rat abwesend war, hatte man vorgegeben, auf Befehl des Stadtherren, des Markgrafen von Meißen zu handeln. Aus anderen Städten sind hohe Strafsummen und die Androhung der Exilierung bekannt, falls der Glöckner ohne strikten Befehl des Bürgermeisters die Sturmglocke läutet.51 Die wohl zweitwichtigste politische Glocke war die Ratsglocke. Auch hier ist eine funktionale Abgrenzung zu anderen Glocken, etwa zur Gerichtsglocke, oft nur schwer möglich. Vielfach wurde mit derselben Glocke an Gerichtstagen zu Gericht, und an Ratstagen zum Rat geläutet. Der besondere Unterschied war, dass diese Glocken nur einem höchst selektiven Kreis galten, eben jenen städtischen Funktionsträgern, die nach dem Läuten präsent zu sein hatten. Immer wieder finden sich in spätmittelalterlichen Geschäftsordnungen der Stadträte Strafanordnungen für diejenigen, die das Signal ohne triftige Gründe ignoriert hatten.52 Aus Lübeck sind eindeutige Regeln bekannt. Durch die Strahlkraft des lübischen Rechts in der Stadtrechtsentwicklung in Nordosteuropa entfaltete sich hier eine große Wirkung. Wenn die Ratsglocke auf dem Turm der Lübecker Marienkirche geläutet wurde, hatten sich die Ratsmitglieder im Rathaus einzufinden. Wer erst zum Rat komme, wenn es ausgeläutet sei, der habe 6 lübische Pfennige Buße zu bezahlen.53 Die Strafgelder wurden von den Bürgermeistern verwaltet und einmal jährlich für ein gemeinsames Essen ausgegeben.54 Für die Stadt Nürnberg ist eine ähnliche Regelung bekannt.55 Das Läuten der Ratsglocke für Ratsmitglieder hatte eine koaktive Bedeutung und sollte diese disziplinieren. Bei Missachtung und Unpünktlichkeit drohten zunächst Ent50 Lippert, Glockenläuten, S. 45 u. 103. 51 Strafandrohung von Exil und 100 Pfund für unautorisiertes Läuten in Bern, 1351, Juni 23. Die Rechtsquellen des Kantons Bern. I. Teil, 5. Bd, Nr. 6, S. 5. 52 Isenmann, Ratsliteratur, S. 230. 53 Urkundenbuch der Stadt Lübeck. Bd. 9: 1451–1460, Lübeck 1893, Nr. 916, S. 949, ca. 1460: […] we hir van dem rade erst kumpot, wanner dat dar utgelut unde desse breff gelezen is […]. 54 Pitz, Schrift- und Aktenwesen, S. 300. 55 Quellen zur Geschichte und Kultur der Stadt Nürnberg, Bd. 3, S. 203: Swer auch der wer, der den rat versaumt, untz daz man di ratgloggen gelizze, der muz geben haller.

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zug des Sitzungsgeldes, später auch empfindliche Strafen.56 Denn das Überhören des ephemeren Signals führte zu einem neuen Rechtsstatus: Der Ratsherr war nun Bußgeld schuldig. Doch welche Bedeutung hatte das Läuten der Ratsglocke für die übrige, gezwungenermaßen mithörende Bevölkerung? Auch jenen, die nicht die Glocke direkt aufforderte, bekamen signalisiert, dass nun eine legitime Sitzung begann und der Rat seine Arbeit versah. Das Läuten der Ratsglocke war Symbol der im Hintergrund funktionierenden Regierung, auch wenn es die Markt- und Gewerbetreibenden wie auch die Kleriker und Religiosen in keiner Weise berührte: In einer differenzierten Klanglandschaft der vormodernen Städte war nur für manche aus dem Gehörten eine direkte Handlung ableitbar. Für die zentralen und von vielen Personen ausgeübten Tätigkeiten im urbanen Raum, wie den Markt selbst, aber auch in Handwerk und Gewerbe, wurden durch Anläuten und Ausläuten akustisch die Grenzen gesetzt, die das rechtmäßige Ausüben der Tätigkeit eröffneten oder beschlossen. Die unterschiedlichsten funktionalen Bezeichnungen wie Marktglocke, Kornglocke, Werkglocke, Schmiedglocke, Wachtglocke, Weinglocke, Bierglocke, Mitternachtsglocke und viele andere mehr verweisen auf die zunehmende Durchstrukturierung der Tage und der legitimen Tätigkeiten im Sinne einer Synchronisierung der in den Stadtmauern lebenden Gemeinschaft. Kaum eine mittelalterliche Stadt besaß dabei die gesamte Palette an Glocken, wie sie die Rechtsarchäologie funktional differenziert herausgearbeitet hat.57 Die Vielzahl an Glocken im öffentlichen Raum und die multiplen Möglichkeiten, akustisch Zeitgrenzen zu markieren und dabei sogar scheinbar materielle Grenzen aufzuheben, wenn etwa das Dröhnen bis in die letzten Gassen, ja sogar Wirtshausstuben diffundierte, führten zu einem überaus effizienten und geordneten wirtschaftlichen, religiösen und politischen Leben innerhalb der Stadtmauern. Doch durch die Fragmentierung in Pfarrsprengel, Zunft- und Stadtteilkommunitäten blieben stadtweite einheitsstiftende akustische Signale tatsächlich auf wenige Momente beschränkt.58 Die „Öffentlichkeit“ – soweit man davon sprechen kann, war schon zu jener Zeit differenzierter und fragmentierter, als in der Forschung dargestellt.59 Zudem basiert der Umgang mit den komplexen Klangsignalen darauf, dass die beteiligten Bewohner Vorwissen besitzen, sich also zuvor angeeignet haben, wie die einzelnen Klangsignale zu deuten sind. Aus späteren Fällen ist bekannt, dass dies nicht nur von Kindesbeinen an vor Ort erworben wurde, sondern bei Bürgerversammlungen (etwa der Erneuerung des Bürgereids) erklärt wurde, welche Signale bestimmte Folgen nach sich zogen.60 56 Dohrn-van Rossum, Geschichte der Stunde, S. 234. 57 Lippert, Glockenläuten. 58 Dohrn-van Rossum, Geschichte der Stunde, S. 190. 59 Schwerhoff, Stadt und Öffentlichkeit; Schlögl, Anwesende und Abwesende. 60 Belegt sind derartige Ankündigungen für Zürich, vgl. Goppold, Politische Kommunikation; zum Vorwissen in Städten Rogge, Politische Räume; vgl. auch die Anweisung für die Stadt Brugg/AG, Maiengeding von 1505, in: Die Rechtsquellen des Kantons Aargau, S. 118: den sel-

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3. Fazit

Glocken besitzen gemeinschaftsstiftende, aber durchaus auch gemeinschaftssprengende Funktion. Der allzu offene Begriff der Klanggemeinschaft suggeriert zwar eine Form von communitas, doch jene Rechtsgemeinschaft setzt andere Formalia, wie etwa einen Bürgereid voraus. Aus der Tatsache der Informationsverbreitung kann nicht zwangsläufig ein Gemeinschaftsgefühl geschlossen werden. Wer hören „muss“, ist erst einmal als Lärmopfer zu sehen und erst in zweiter Linie als Mitglied einer Klanggemeinschaft. Glocken erhielten ihre spezifische Bedeutung, wenn sie als Signale für soziales Handeln dienten. Im Falle der dargestellten Stadtaufstände sollten sie eine militante Veränderung der Verhältnisse einleiten und funktionieren hierbei in gewissem Sinne als Sezessionsinstrumente. Dort hieß Hören nicht Gehorchen, sondern war ein Signal zum Aufbegehren. Glockenläuten diente hier also als Auslöser für Fraktionsbildung und spezifisch gerichtete Gewaltanwendung. Für etwaige Stadtherren fielen die Folgerungen eindeutig aus. Sowohl der Bischof von Ermland, als auch in weiteren, hier nicht ausgeführten Beispielen wie etwa die Bischöfe von Würzburg oder Passau, aber auch der Moskauer Großfürst bezüglich der Hansesiedlungen Nowgorod61 und Pskow/Pleskau62 verlangten die Herausgabe der Glocken. Der französische monarchische Staatstheoretiker Jean Bodin empfahl sogar den Stadtherren, den Bürgern alle Glocken abzunehmen, um die eigene Macht zu stärken. Aus diesem Grund hätten muslimische Fürsten in ihren Städten erst gar keine Glocken zugelassen.63 Die differenzierte Darstellung der Glockenarten und -funktionen zeigte, dass die Glocke als Symbol nicht für die Herleitung einer geradezu sozialromantischen vision of ben vnd einer ganzen gemeind sol dry oder vier tag vor dem meyending by iren eyden in das meyending ze komen gebotten vnd aber yetlichem burger gar luter geseit, zuo welchem lüten, es sy mit der kleynen glogken des räts oder der grossen glogken oder zuo welcher gemeind er komen sölle, verkünt werden soll. 61 Stoob, Die Hanse, S. 74–78. 62 Hierzu etwa Pickhan, Pskov, Entstehung und Entwicklung, S. 193. 63 Bodin, Six livres IV,7, Paris 1583, S. 657 f.: Voila, done quelques moyens d’appaiser les seditions entre pluiseurs qu’on peut reciter par le menu: comme on peut aussi dire d’oster les cloches aux rebelles, ansi qu’il fut faict à ceux de Montpelier l’an mil cinq cents septante & quatre et à Bordeaux l’an mil cinc cents cinquante et deux: et qui depuis furent restituees, ores que la pluspart des habitants de Bordeaus fissent instance qu’elles ne fussent remises, ayant senti le fruict qui en reussit: si bien ou mal, i’en laisse la resolution à tout homme de sain ingement: mais quoy qu’il en soit, le grand seigneur et tous les Princes d’Orient ont donné bon ordre que ceste invention des cloches, qui est sortie de Nole en Italie, ne fust receue en leur pays: aussi ne void-on point les troubles et seditions si ordinaires, comme en tout l’empire d’Occident: car non seulement le son des cloches est propre à merveilles pour mettre en armes un peuple mutin, à la mode qu’on les sonne, ains aussi pour effrayer les esprits doux et paisibles, et mettre les sols en furies comme fit celuy qui sonna le tocsain avec la grosse cloche à Bordeaux pour inciter d’avantage le peuple, aussi fut-il pendu au batand de la cloche comme il meritoit. Vgl. Dohrn-van Rossum, Geschichte der Stunde, S. 188, Anm. 372, A. 11; zur christlich-islamischen Klangpragmatik Alibhai, From sound to light.

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urban community tauglich ist. Glocken waren zwar lebenswichtige Kommunikationsinstrumente,64 doch die unitas durch Glockenschlag erwies sich nur in Extremfällen. Ihre eigentliche Wirkung für die Entwicklung der Stadt entfalteten die Glocken vielmehr in der Funktion zur akustischen Markierung von Zeitgrenzen, die die urbane Gesellschaft differenzieren konnte. Die Funktion im Alltagsleben war es, zu steuern und Aufmerksamkeiten zu lenken. Dabei setzten sich Glocken unter allen anderen Möglichkeiten der Klangerzeugung wie Rufen, Pfeifen, Horn- oder Trompetenblasen durch. Als Medien der Massenkommunikation vermochten sie es, im oft dichten Gedränge der Städte gesellschaftliche Ordnung effizient herzustellen. Insofern zeigt sich an der konkreten Kompetenz zum Läuten, dem Zugang zu den Glockenseilen, die Legitimität: Politisch wirksam ist nur der, der – durch den Glockenschlag – Aufmerksamkeit lenken kann. Somit kann festgestellt werden, dass Glocken einen substanziellen Beitrag zur Differenzierung der urbanen Öffentlichkeit im Spätmittelalter leisteten.65 Der Nachweis, dass es beim urbanen Glockengebrauch zu einer stetigen Ausdifferenzierung kam, erlaubt jedoch keineswegs die modernisierungstheoretische Annahme einer linearen Entwicklung. Im Gegenteil, denn es wurde gezeigt, dass sich Nutzungsformen auch anders oder gegenläufig weiterentwickeln konnten. In diesem Fall nahm die Ordnungsfunktion von Glocken je nach Stadt auch wieder ab. Zu einer allgemeinen kampanilen Hypertrophierung und somit zu einem schleichenden Bedeutungsverlust in den lärmenden Innenstädten kam es erst im 19. Jahrhundert, einer Zeit, der ironischerweise auch die meisten Glockenspiele zuzuschreiben sind.66 Die regelrechte „Entglockung“ der Innenstädte der letzten Jahre durch Gerichtsprozesse ist sicherlich neuen Kommunikations- und Lärmvorstellungen geschuldet. Doch das Abschalten der Läutautomaten entwertet die historische Bedeutung von Glocken für die Bildung und Ausdifferenzierung der europäischen Städte – und auch den Bürgerschaften, die hierdurch zusammenstanden und den Lauf der Dinge in der eigenen Stadtkommune veränderten. Die Glocke war nicht nur ein wichtiges Entwicklungsmerkmal der okzidentalen Stadt. Sie war es vielmehr auch als symbolische Form der Selbstverwaltung und Instrument einer sozialen Differenzierung sowie logistisch-alltagspraktischen Effizienzsteigerung, aber auch des stetigen und bisweilen disruptiven Wandels. Quellenverzeichnis Jean Bodin, Les six livres de la République, Paris 1583; Deutsch von Bernd Wimmer und P. C. Mayer-Tasch, 2 Bde., München 1983, 1986. Die Rechtsquellen des Kantons Aargau, I/2, Stadtrechte von Baden und Brugg, hg. von Emil Welti, Walter Merz, Aarau 1899. 64 Haverkamp, An die große Glocke, S. 76. 65 Vgl. hierzu die Fallstudie zu Arras: Symes, Out in the Open. 66 Hierzu etwa: Schmid, Art. Glockenspiel; Herrenschwand, Die Turmbauten.

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Städtische Pfarrkirchen als „Soundzentren“ des Mittelalters Arnd Reitemeier

Seindt die Leüth auch nider Khniet, zue ettlichen gesungen. Darnach ist man mit Ganzer process, wie ahm abendt use, wider herein Gangen bis zue dem Kirchhoff beim beinhauss uff die Weitte. Da hat man aber still gehabt; uff dem Khürchhoff umbher send ahn ettlichen enden (Orten) Schuolerlin gestanden, haben die Arm und finger uf gestreckt gegen Unnsern Herrgott und ettliche gesönglin gesungen.1

Joachim von Pflummern, der diese Zeilen um 1530 schrieb, gehörte einem der Patriziergeschlechter der Stadt Biberach an der Riß an und hatte seiner Stadt viele Jahre lang als Kämmerer gedient. Als Kirchenmeister hatte er eine lange Zeit der Kirchenfabrik von St. Martin, der einzigen Pfarrkirche der Stadt, vorgestanden und beschrieb hier nun die Akustik einer Prozession.2 Die Pfarrkirche prägte die Stadt des Mittelalters und der Frühen Neuzeit unter anderem durch ihre lautliche Dimension sowohl in der Stadt als auch darüber hinaus. Diese akustischen Räume, die von erheblicher Vielfalt waren, werden im Folgenden unter dem Begriff des „Soundzentrums“ zusammengefasst. Ähnliches gilt für Stiftskirchen und Klöster, deren Klangräume allerdings in der Regel nicht auf die Mitwirkung der Gemeinde zielten. 1.

Der am weitesten reichende akustische Raum wurde durch die Kirchenglocken erzeugt, denn der Klang von Metall auf Metall war in der Natur nicht gegeben und wurde stets besonders wahrgenommen.3 Das im Verlauf des Mittelalters immer dichter geknüpfte Netz der Pfarreien schuf eine akustische Gliederung, wobei die Größe der Glocke, ihre Tonlage und ihre Art der Anbringung sowie die naturräumlichen Bedingungen die

1 Schilling, Biberach, S. 119. Dem folgenden Aufsatz liegen im Wesentlichen Forschungen zu den städtischen Pfarrkirchen des späten Mittelalters zugrunde: Reitemeier, Pfarrkirchen. 2 Nach Joachim von Pflummern beschrieb sein Bruder Heinrich von Pflummern gut zehn Jahre später die Zustände in der Reichsstadt nach der Einführung der Reformation; siehe zu den beiden Berichten Borst, Biberach, S. 89–90; auch Rüth, Reformation in Bibe­rach, S. 261–265. 3 Grundlegend: Walter, Glockenkunde; Mahrenholz, Glockenkunde; Ellerhorst, Handbuch der Glockenkunde; Kramer, Die Glocke.

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Reichweite bestimmten.4 Die Städte entwickelten sich im Verlauf des Mittelalters zu akustischen Zentren, denn ihre Kirchtürme waren besonders hoch und ihre Glocken besonders groß und weitreichend.5 Die Verwendung von Glocken war seit karolingischer Zeit vorgeschrieben.6 Ihre eigentliche Funktion, die Menschen auf die Messe aufmerksam zu machen, wurde durch zusätzliche, häufig gestiftete Messen ausgeweitet.7 Hinzu traten die unregelmäßig stattfindenden Messen, besonders im Fall des Todes eines Menschen: Vielerorts konnte die Familie des Verstorbenen oder eventuell gar der Verstorbene gegen eine Geldzahlung darum bitten, dass besonders lange oder mit der größten verfügbaren Glocke oder auch zum Tricesimus etc. geläutet wurde.8 Das Totengeläut bekam damit eine zweite Funktion, denn es stand für die sich im Verlauf des Mittelalters verstärkende Sorge um das Seelenheil und für den Versuch, ein Maximum an Fürbitten zu erhalten. Zugleich erhielt der akustische Raum eine ökonomische wie soziale Komponente, denn ein solches Totengeläut konnten sich nur die Wohlhabenden der Stadt erkaufen: In Nürnberg wurde sehr genau darüber Buch geführt, wer das sogenannte kleine und wer das große Totengeläut erhielt. Manches hiervon wurde auch nach der Reformation fortgeführt, doch teilweise wurden die Städte nach der Einführung des lutherischen Glaubens stiller, denn vielerorts wurden die Friedhöfe nach außerhalb der städtischen Mauern verlegt.9 Die Signalfunktion der Glocken wurde im Verlauf des Mittelalters zunehmend ausgeweitet: Glocken wurden beispielsweise geläutet, um auf Brände aufmerksam zu machen oder um vor herannahenden Feinden oder heraufziehenden Gewittern zu warnen. In Folge erhielten viele städtische Pfarrkirchen mehr als eine Glocke, die dann teilweise auch Namen trugen, welche direkt auf ihre Aussagefunktion bezogen waren: Mittagsglocke, Predigtglocke, Ratsglocke, Sturmglocke.10 Hinzu trat dann vielerorts die Uhrenglocke, also eine an eine Uhr gekoppelte und mit einem Schlagwerk versehene Glocke, mit der die Zeit signalisiert wurde.11 Der akustische Raum wurde damit im Hinblick auf die Zeit immer exakter strukturiert: Gab es im frühen Mittelalter lediglich ein Signal, das auf ein Ereignis bezogen war, so wurde am Ende des Mittelalters die Zeit als solche angegeben, womit der Tag eingeteilt wurde. Doch für die Vielfalt der Signale reichten bald

  4 Zur Historiographie der Glockenforschung Poettgen, Glocken der Spätgotik. Zur Relevanz der Glocke für die Stadt: Haverkamp, … an die große Glocke hängen.  5 Zusammenfassend Reitemeier, Pfarrkirchen, S. 290.  6 Eisenhofer, Grundriss der Liturgik, S. 92–93, Reinle, Ausstattung, S. 247–251; Walter, Glockenkunde, S. 27–32.  7 Vgl. Reitemeier, Pfarrkirchen, S. 285.  8 Reitemeier, Pfarrkirchen, S. 365–370.  9 Reitemeier, Friedhof, S. 129–144; Düselder, O ewich is so lanck. 10 Reitemeier, Pfarrkirchen, S. 286–287. 11 Dohrn-van Rossum, Geschichte der Stunde, S. 150–163; Reitemeier, Pfarrkirchen, S. 291– 293.

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die Glocken nicht mehr aus, sodass zu den verschiedenen Zeiten und Anlässen Motive gespielt wurden, die in einer Läutordnung definiert waren.12 Die Größe des akustischen Raumes ließ sich variieren: So wurden beispielsweise in der Fastenzeit die Klöppel der Glocken gedämpft oder gar durch hölzerne Klappern ersetzt.13 In Biberach bliesen die Türmer zum Beispiel um Mitternacht am Heiligen Abend oder am Ostersamstag. Hingegen wurde beim Auftreten der Pest mancherorts das Läuten, insbesondere zu den Totenmessen, eingeschränkt. Ob der Grund darin lag, dass es – psychologisch gesehen – belastend auf die Bevölkerung wirken konnte, wenn fortlaufend zu Totenmessen gerufen wurde, oder ob den Rat medizinische Gründe bewegten, denn im Seuchenfall half es durchaus, wenn es zu keinen Massenaufläufen kam, oder ob ganz einfach Küster oder Glöckner ihren Verpflichtungen nicht mehr nachkommen konnten, da ja auch noch Gräber auszuheben, Tote aufzubahren waren etc., ist nicht zweifelsfrei zu klären. Doch die Intention, die Bevölkerung zu beruhigen, darf nicht unterschätzt werden. Analog mussten beispielsweise die Räder der Totenkarren mit Lumpen umhüllt werden, um die Menschen nicht fortlaufend durch das Rumpeln der Räder zu verängstigen.14 Die den akustischen Signalen zugewiesene semantische Bedeutung war Gegenstand von Festlegungen und Aushandlungen: Die in vielen norddeutschen Städten und Territorien eingeführten lutherischen Kirchenordnungen verboten das Sturm- und Wetterläuten, das mit dem Wirken des Teufels in Verbindung gebracht wurde.15 In den protestantischen Gegenden Norddeutschlands wurde das morgendliche und mittägliche Angelusgeläut zum Gebet fortgeführt, doch wurde dies als Einladung zu einem Gebet pro pace umgedeutet.16 Die Fortführung des Läutens belegt die Bedeutung des akustischen Raumes und zeigt zugleich, dass sich die Bewohner der Stadt mit diesem, besonders mit den Glocken und ihrem Klang, identifizierten. Der Kirchturm als das in vielen Städten höchste Gebäude wurde häufig als bemannter Wachturm genutzt.17 Der Kirchturmwächter konnte und sollte im Gefahrenfall die Glocke nutzen, um Signale zu geben, aber mancherorts nutzten sie auch Trompeten oder Hörner. Analog wurden zum Beispiel beim Besuch eines Königs oder für besondere Feste Trompeter auf den Kirchturm geschickt, die von dort spielten und deren Musik nun bis weithin hörbar sein sollte.18 Indem das Kirchenschiff und der Kirchturm zu den höchsten Gebäuden der Stadt zählten, waren sie nur unter großen Mühen zu errichten. Zugleich reichten die beim Bau entstehenden Geräusche besonders weit: Das Quietschen beispielsweise des Auf12 Bund, Glocken und Musik; Menschick, Liturgische und musikalische Grundlagen. 13 Tripps, Das handelnde Bildwerk, S. 116–117; vgl. Schilling, Biberach, S. 123. 14 Zu den Totengräbern Reitemeier, Pfarrkirchen, S. 538–540. 15 Reitemeier, Reformation, S. 182. 16 Reitemeier, Reformation, S. 338. 17 Zu den Kirchturmwächtern Reitemeier, Pfarrkirchen, S. 555–556. 18 Vgl. beispielsweise Schilling, Biberach, S. 112 und S. 130–131.

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zugrades, das Hämmern der Zimmerleute und Dachdecker, die Rufe der Handwerker. In den meisten Städten war die Pfarrkirche über Jahrhunderte hinweg das jeweils größte Bauwerk der Stadt und häufig auch die größte Baustelle.19 Als im 16. Jahrhundert besonders in den protestantischen Gegenden die Bauaktivitäten an den kirchlichen Gebäuden zum Erliegen kamen, wurden die Städte folglich stiller.20 Alle Pfarrkirchen waren von einem Kirchhof umgeben, der Ort und Ausgangspunkt von Prozessionen um die Kirche und durch die Stadt war.21 Zwar wurden Prozessionen in aller Regel lediglich von liturgischen Gesängen begleitet, doch in manchen Orten und bei manchen Prozessionen wurde auch beispielsweise ein Portativ mitgeführt oder es spielten Trompeter oder Pfeiffer.22 Dem Fronleichnamszug in Wesel wurde eine Schelle vorangetragen, andernorts gingen Spielleute vorweg, in Bamberg waren es zwei Lautenschläger, in Dresden Pfeiffer.23 Am Ende des 15. Jahrhunderts darf auch die Anzahl der Prozessionen nicht unterschätzt werden – in Ingolstadt, um eine mittelgroße Stadt als Beispiel zu nehmen, gab es 99 Prozessionen pro Jahr.24 Manche der Prozessionen zu Ehren eines Heiligen wurden ähnlich wie ein Osterspiel ausgeschmückt, so dass Plastiken oder Wagen mitgeführt wurden. Zu den vermutlich buntesten und in Folge der Beteiligung von vielen Musikern auch lautesten Spielen gehörte das Johannisspiel in Dresden, das aus Anlass des freien Geleits und des bewilligten Ablass am Tag Johannes des Täufers durchgeführt und das von Tausenden von Menschen besucht wurde.25 Wurden Prozessionen gegen Hochwasser oder die Pest durchgeführt, dann läuteten währenddessen oftmals die Glocken. Prozessionen fanden häufig unter reger Beteiligung und Anteilnahme der Gemeinde statt. Wurde der Pfarrer zu einem Sterbenden gerufen, so begleiteten ihn beispielsweise in Nürnberg Schüler, die Kerzen trugen und sangen. In anderen Städten trug ein Schüler eine Glocke vorweg – vielleicht, damit die Menschen beiseite wichen und der Geistliche schnell vorankam.26 In Schlettstadt, Bayreuth und Biberach begleitete der Küster den Pfarrer, der außerdem vor dem Weggang aus der Kirche die Glocke läutete, damit sich Gemeindemitglieder anschließen konnten.27 Eben weil viele der im öffentlichen Raum jenseits der Pfarrkirche stattfindenden liturgischen Handlungen von Musik begleitet wurden, wirkten das Schweigen und die Stille als akustisches Merkmal, um besondere Feste zu kennzeichnen, wie das Ende der Palmsonntagsprozession in Biberach, welches einleitend zitiert wurde. 19 Hirschmann, Stadtplanung. 20 Reitemeier, Reformation, S. 317–318. 21 Reitemeier, Pfarrkirchen, S. 340–360. 22 Reitemeier, Pfarrkirchen, S. 350. 23 Reitemeier, Pfarrkirchen, S. 350. 24 Greving, Johann Ecks Pfarrbuch, S. 99–100. 25 Richter, Johannisspiel, S. 101–114; Reitemeier, Pfarrkirchen, S. 356–357. 26 Schilling, Biberach, S. 166–167; weitere Beispiele bei Reitemeier, Pfarrkirchen, S. 336. 27 Reitemeier, Pfarrkirchen, S. 335–336.

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Im Inneren einer Pfarrkirche sollten sich alle Gläubigen ruhig verhalten, was allerdings nicht immer gegeben war, wie etwa die Anweisungen für den Küster des Freiburger Münsters zeigen: […] er sol auch in der kirchen iederzeit sein langen stock und under wehrendem gotsdienst vor- und nachmittag das chorhemmet anhaben und tragen.28 Zu verhindern war auch, dass die Menschen in der Kirche sprachen: Er soll auch […] alles unnüz geschwez, so gemeinlich nach vollendtem gotsdienst in der kirchen, sonderlich von jungen leuten fürgeht, abschaffen und nit gestatten.29 Bei der Nürnberger Frauenkirche musste außerdem auf spielende Kinder geachtet werden, die ebenfalls lärmten.30 In allen Orten gab es Bettler, die mindestens an den oder vor den Kirchentüren saßen und eventuell sogar in die Kirchen kamen, um die Menschen um Gaben zu bitten.31 Auch solches erfolgte längst nicht immer schweigend. Besonders streng verfuhr man beispielsweise in St. Martin in Biberach, denn dort achtete ein Ordner auf gutes Benehmen: Vor Vnsser Lieben Frau damitten in der Kürchen ist gesein ain Stuohl, darin ist gestanden ain Mann, der Vnnser Lieben Frawen zue ettlichen vnd die Khürchen gehüett hat.32 Keineswegs herrschte in Kirchen und auf den Kirchhöfen andächtige Stille. Vielmehr wurden Rechtsgeschäfte abgeschlossen oder Heiratsvereinbarungen getroffen, was stets zumindest verbale Kommunikation erforderte.33 Johannes Geiler von Kaysersberg in Straßburg kritisierte, dass Frauen sogar während der Predigt ihre Dienste anböten oder dass Marktbeschicker ebenso wie Handwerker den Weg durch das S­ traßburger Münster als Abkürzung nahmen, was kaum lautlos von sich gegangen sein dürfte.34 Das Kircheninnere war ein Ort der Geschäftigkeit, des Murmelns, der (gewünscht leisen) Kommunikation, doch all dies stand der Kontemplation und der Konzentration auf die Liturgie entgegen. Akustisch prägten die liturgischen Gesänge der Kleriker die Messen. Im Verlauf des Mittelalters aber wurde zunehmend differenziert: Sonntags sang auch der Chor, der in erster Linie aus den Schülern der benachbarten Lateinschule unter der Leitung des Schulmeisters bestand. Handelte es sich um eine große Stadt, so nahmen auch die weiteren an der Kirche beschäftigten Vikare teil, sodass der Chor eine substantielle Größe erreichen konnte.35 Entsprechend konnte der Chor auch bei Toten- und Memorialmessen

28 Albert, Münsterkirche, S. 87. 29 Albert, Münsterkirche. 30 Schulers Salbuch der Frauenkirche in Nürnberg, S. 51. 31 Reitemeier, Pfarrkirchen, S. 594–595. 32 Schilling, Biberach, S. 51. 33 Weiterhin grundlegend Ebner, … in cimiterio …; neuer: Brademann, Leben bei den Toten, S. 20–24. 34 Israel, Geiler von Kaysersberg, S. 234–236. 35 Reitemeier, Pfarrkirchen, S. 321–322.

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auftreten. Die Beisetzung eines Verstorbenen konnte auch von lauten Klagen begleitet werden, wie vereinzelte Hinweise zeigen.36 Im Verlauf des späten Mittelalters wurde in fast allen städtischen Pfarrkirchen eine Orgel angeschafft – teilweise wurden die Instrumente im Verlauf des späten 15. Jahrhunderts erneuert, oder es wurden zusätzliche gebaut.37 Orgeln galten als das einzige Instrument, das der menschlichen Stimme nahekam, so dass sie im Wechselgesang den Chor ergänzen oder ersetzen konnten. Entsprechend wurden Orgeln als personalintensive und teure Instrumente nur höchst selten unter der Woche, sondern vorwiegend an Hochfesten gespielt, was zugleich heißt, dass sich die liturgischen Gesänge im Alltag anders präsentierten als beispielsweise an Heiligentagen. Galt eine Orgel bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts überall als Prestigeinstrument, so wurden doch in diversen süddeutschen Städten im Zuge der Einführung der Reformation Orgeln aus ihren Verankerungen in den Kirchen herausgerissen – teilweise brachte man Pferde in die Kirche und riss die Orgelschränke und Pfeifenwerke mit Gewalt heraus.38 Anderswo im Reich wurde exakt das entgegengesetzte Ideal verfolgt, indem Orgeln in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, besonders in den norddeutschen Städten, konstitutiven Status erhielten, denn beispielsweise in weiten Teilen Frieslands kam es ab dem Ende des 16. Jahrhunderts zu einem Orgelbauboom.39 Visuelle und akustische Inszenierungen ähnlich der Fronleichnamsspiele ergänzten die Liturgie vieler städtischer Pfarrkirchen. Eigene Bruderschaften oder die Gilden führten in der Kirche ein Weihnachts- oder ein Osterspiel auf, bei dem sowohl Kostüme und Licht als auch Gesang und Geräusche wichtig waren.40 Bei solchen Gelegenheiten spielten auch zum Beispiel Pfeiffer in der Kirche – und ebenso wurden teilweise auch die Gemeinden mit ihrem Gesang einbezogen.41 Im Verlauf eines Kirchenjahres gab es zahlreiche Gelegenheiten zu geräuschvollen Inszenierungen: Wurden etwa die Fastentücher abgenommen, die die Altäre verhüllten, so ließ man die Haltestangen krachend auf den Boden fallen, um akustisch das Ende der Fastenzeit zu verdeutlichen.42 Zum Ende des 15. und zu Beginn des 16. Jahrhunderts begannen sich sodann manche akustischen Akzente in den Pfarrkirchen zu verschieben, denn in zunehmendem Maß wurden die Gemeinden an der Liturgie beteiligt. Bereits vor der Reformation wurden in manchen Kirchen deutsche Lieder gesungen.43 Wenn zu Pfingsten der Heilige Geist dargestellt wurde, indem Wasser vom Kirchboden herabgeschüttet oder eine Taube

36 Schilling, Biberach, S. 168–170. 37 Reitemeier, Pfarrkirchen, S. 280–284. 38 Habenicht, Heilsmaschine, S. 333. 39 Reitemeier, Reformation, S. 337–338. 40 Reitemeier, Pfarrkirchen, S. 340–346. 41 Habenicht, Heilsmaschine, S. 320. 42 Habenicht, Heilsmaschine, S. 304. 43 Reitemeier, Pfarrkirchen, S. 320 mit weiterer Literatur.

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heruntergelassen wurde, sang die Gemeinde Komm, Heiliger Geist.44 Als dann im Zuge der Auseinandersetzungen um die Einführung der Reformation einzelne Mitglieder der Gemeinden – manchmal auch Gruppen von ihnen – deutsche Lieder sangen, so bestand das Außergewöhnliche im Unterbrechen der Liturgie sowie in der Konfrontation des Geistlichen mit der Aussage, dass seine Tätigkeit als Vermittler des Heils nicht erwünscht sei.45 In allen großen Pfarrkirchen des späten Mittelalters gab es zahlreiche gestiftete Seitenaltäre. An ihnen waren Vikare tätig, die zu festgelegten Zeiten ihre Messe halten mussten.46 Sie konnten die Messen still lesen, doch war es im Interesse der Stifter, dass die Liturgie in der üblichen Weise gesungen wurde, damit Mitglieder der Gemeinde teilnehmen und Fürbittgebete sprechen konnten. In Folge wurden in großen und reichen Pfarrkirchen nun diverse Male am Tag Memorialmessen abgehalten, so dass wechsel­ seitige Störungen nicht ausgeschlossen werden können. Als Albrecht Dürer 1520 Antwerpen bereiste, war er von der Liebfrauenkathedrale begeistert und hielt in seinem Bericht fest, dass die Kirche so groß sei, dass an verschiedenen Altären gleichzeitig Messen abgehalten werden könnten, ohne sich wechselseitig zu beeinträchtigen.47 Wo dies aber nicht der Fall war, konnten Altäre von einem Vorhang umgeben werden, sodass der jeweilige Geistliche optisch ohne Ablenkung und akustisch zumindest gedämpft seine Messe lesen konnte.48 Zwischenfälle aus der Reformationszeit belegen die Parallelität der Messen, polemisierte doch beispielsweise in Hamburg ein sich zum Luthertum bekennender Kaplan während einer Frühmesse gegen die Altgläubigen, während an einem benachbarten Altar ein Vikar zur Messe läutete.49 Solche akustische Vielfalt fiel nach der Einführung des lutherischen Glaubens weg, sodass akustische Homogenität erreicht, zugleich aber auch das akustische Geschehen deutlich reduziert wurde. 3.

Vieles spricht dafür, dass Pfarrkirchen akustische Zentren der Städte im späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit waren. Stille stand einem akustischen Nebeneinander von Messen ebenso gegenüber wie Kommunikation der Kirchenbesucher. Mit Hilfe der Orgel, des Gesangs, dem Wechsel aus Stille und Kommunikation bildeten die Kirchen akustisch besondere Innenräume. Zugleich schufen sie akustische Räume jenseits des Gebäudes. Die Klanglandschaften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit wurden im 44 Habenicht, Heilsmaschine, Anm. 720. 45 Reitemeier, Pfarrkirchen, S. 85–87 und S. 335–336; ausführlich Missfelder, Akustische Reformation; auch: Mager, Lied und Reformation. 46 Reitemeier, Pfarrkirchen, S. 361. 47 Habenicht, Heilsmaschine, S. 398. 48 Habenicht, Heilsmaschine, S. 52 und S. 258. 49 Jürgs, Reformationsdiskurs, S. 70–71.

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Wesentlichen von den Kirchen und ihren Glocken geschaffen – und unter diesen bildeten die Pfarrkirchen das zentrale Netz. Dieses wurde ergänzt durch Warn-, Hinweis- und Zeitaussagen, von denen die meisten auch über das 16. Jahrhundert hinaus bestanden. Quellenverzeichnis Peter Paul Albert, Ordnungen und Satzungen der Münsterkirche. 2. Dienstanweisungen und Bestallungen (= Freiburger Münsterblätter 1), Freiburg i. Br. 1905, S. 83–90. Otto Richter, Das Johannisspiel zu Dresden im 15. und 16. Jahrhundert, in: Neues Archiv für Sächsische Geschichte und Altertumskunde, hg. von Hubert Ermisch, Bd. 4, Dresden 1883, S. 101–114. Albert Schilling, Die religiösen und kirchlichen Zustände der ehemaligen Reichsstadt Biberach unmittelbar vor Einführung der Reformation. Geschildert von einem Zeitgenossen (= Freiburger Diözesanarchiv 19), Freiburg 1887, S. 1–191. Stephan Schulers Salbuch der Frauenkirche in Nürnberg, Zweiunddreissigster Bericht über das Wirken und den Stand des historischen Vereins zu Bamberg im Jahre 1869, hg. von Joseph Metzner, Bamberg 1869. Literaturverzeichnis Otto Borst, Biberach. Geist und Kunst einer schwäbischen Stadt, in: Geschichte der Stadt Biberach, hg. von Dieter Stievermann [u. a.], Stuttgart 1991, S. 65–171. Konrad Bund, Glocken und Musik. Mit einem Funktionsschema der Glocken der Geläute mittelalterlicher und nachmittelalterlicher deutscher Dom- und Stiftskirchen und einem Tonstrukturvergleich fünfzehn romanischer Glocken (= Jahrbuch für Glockenkunde 9/10), Frankfurt a. M. [u. a.] 1998, S. 121–156. Jan Brademann, Leben bei den Toten, in: Leben bei den Toten. Kirchhöfe in der ländlichen Gesellschaft der Vormoderne, hg. von Jan Brademann, Werner Freitag (= Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme. Schriftenreihe des Sonderforschungs­ bereichs 496, 19), Münster 2007, S. 9–49. Gerhard Dohrn-van Rossum, Die Geschichte der Stunde. Uhren und moderne Zeitordnungen, Köln 2007. Heike Düselder, O ewich is so lanck. Die Sozialtopographie des Kirchhofs in einem lutherischen Territorium – Das Beispiel der Grafschaft Oldenburg, in: Leben bei den Toten. Kirchhöfe in der ländlichen Gesellschaft der Vormoderne, hg. von Jan Brademann, Werner Freitag (= Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme. Schriftenreihe des Sonderforschungsbereichs 496, 19), Münster 2007, S. 253–263. Herwig Ebner, „… in cimiterio …“ Der Friedhof als Beurkundungsort, in: Die Stadt als Kommunikationsraum. Beiträge zur Stadtgeschichte vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert. Festschrift für Karl Czok zum 75. Geburtstag, hg. von Helmut Bräuer, Elke Schlenkrich, Leipzig 2001, S. 121–128.

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Religiöse Umgänge in der mittelalterlichen Stadt und ihre Klangwelt Sabine Reichert

Im Jahr 1424 kam es in Osnabrück zu einem Tumult: Nach dem Tode Bischofs Otto von Hoya wählte das Osnabrücker Domkapitel am 18. Oktober in geheimer Absprache und ohne weitere Verhandlungen, Johann von Diepholz zum neuen Bischof.1 Nach der heimlichen Versammlung im Kapitelsaal zog man in die Kathedralkirche und inthronisierte den Neugewählten feierlich in Anwesenheit des gesamten, dort versammelten Stadtklerus. Erst der Klang der geistlichen Gesänge, der Hymnen und vor allem des Festgeläuts verkündete den überraschten Bürgern, dass sie hintergangen worden waren. Eine kleine Gruppe städtischer Vertreter unter Führung des Altstädter Bürgermeisters Hermann von Melle eilte daraufhin zur Kathedralkirche und verriegelte die Türen. Gut siebzig Jahre später beschrieb der bekannte Osnabrücker Chronist Ertwin Ertmann das Zuschlagen der Domtüren und damit den Augenblick, der weitere Handlungen einleiten sollte, mit lautmalerischem Auftakt: Proch.2 Die anschließende Belagerung des Domes wurde organisiert, indem man die Tore der Stadt verschließen ließ, die Sturmglocke läutete und damit die wehrfähige Stadtbevölkerung zu den Waffen rief. Im Falle der Dombelagerung zeigt sich die Sturmglocke nicht nur als akustisches Signal des städtischen Wehrcharakters, sondern ihr Klang war gleichsam ein Gegengewicht zum Festgeläut des Domes.3 Bereits diese kurze Episode verweist auf die vielfältige Soundscape der mittelalterlichen Kathedralstadt. Der religiös-kultische Klang des Kirchenraums stand durch die dichte Sakraltopographie im direkten Wechselspiel zu anderen geistlichen Institutionen und städtischen Signalgebern. Aus der Fülle möglicher Anknüpfungspunkte möchte ich mich im Folgenden auf einen Aspekt konzentrieren und die Klangwelt mittelalterlicher Prozessionen näher betrachten. Nicht nur zu kirchlichen Festtagen zogen feierliche Umzüge durch die mittelalterliche Stadt, auch zu anderen Gelegenheiten nutz-

1 Beschrieben bei Ertmanni, Cronica, S. 141 f. Ausführlich zum Wahltumult Hergemöller, „Pfaffenkriege“. 2 Ertmanni, Cronica, S. 141. 3 Igel, Belagerung bis Mord, S. 207. Das Glockengeläut gehört sicherlich zu den bekanntesten und besterforschten akustischen Signalen, welches die alltägliche Klangwelt der vormodernen Städte schon allein aufgrund der dichten Sakraltopographie entscheidend mitgeprägt haben muss. Exemplarisch dazu vgl. Bönnen, Zwischen Kirche und Stadtgemeinde; Ders., Zu den Beziehungen. Siehe auch Haverkamp, „… an die große Glocke hängen“.

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ten städtische Eliten und Herrschaftsträger die geordnete Bewegung als Medium der Selbstinszenierung.4 Anhand einer Osnabrücker Prozession soll zunächst auf ihre Klangwelt eingegangen sowie Möglichkeiten und Desiderate ihrer Erforschung erläutert werden. In einem zweiten Abschnitt wird dann die Klangwelt spätmittelalterlicher Umgänge näher betrachtet. Eine chronikalische Quelle aus Biberach an der Riß verdeutlicht die Funktion erzählender Quellen für die interdisziplinäre Betrachtung religiöser Prozessionen und ihrer Musik im Stadtraum. Der Klang der Prozession verband die Teilnehmer mit dem liturgischen Geschehen. Aber auch das Fehlen von Klang konnte eine besondere Bedeutung erlangen, wie abschließend kurz betrachtet werden soll. 1. Die Bedeutung religiöser Prozessionen im Stadtraum

Das ganze Mittelalter hindurch wurden zu den zahlreichen Heiligentagen die festlich geschmückten Reliquienschreine nicht nur innerhalb der Exklusivität religiöser Gemeinschaften umhergetragen, sondern auch aus den Kirchen hinaus in den öffentlichen Raum. Durch das Mitführen der Heiligen in ihren Reliquiaren wurde die eigentliche Quelle der Sakralität in den Raum der Laien überführt5 und der urbane Raum dadurch zumindest temporär umgedeutet: er wurde sakral erhöht und verkörperte für die Dauer der Prozession die Vorstellung der civitas sancta.6 Für die großen Umgänge im Kirchenjahr, beispielsweise das Markusfest (25. April), die Bitttage vor Christi Himmelfahrt oder Palmsonntag, wurden die Straßen und Plätze vorbereitet, also gereinigt und mit Blumen oder Lampen geschmückt. Die Verordnung von Arbeitsruhe an Festtagen ermöglichte den Mitgliedern der städtischen Gemeinschaft nicht nur die Partizipation am religiösen Ritual, sondern sorgte für eine Auszeit vom alltäglichen Geschäft auf den Straßen und Plätzen und damit auch für eine Auszeit von der alltäglichen Klangkulisse der mittelalterlichen Stadt, wie sie im vorliegenden Sammelband fokussiert wird.

4 Gut erforscht ist beispielsweise das Adventus-Zeremoniell. Exemplarisch Johanek, Lampen, Adventus; Schenk, Zeremoniell und Politik. 5 Zum sakralen Charakter des Kirchenraums vgl. de Blaauw, Die Kirchweihe, S. 99; zur monastischen Soundscape exemplarisch Bonde, Maines, Performing Silence. In eben diesem Sammel­band zeigt Judith H. Oliver gelungen die Verbindung von Musik und klösterlicher Buchproduktion am Beispiel einer Prachthandschrift des Zisterzienserinnenklosters Rulle bei Osnabrück auf: „Visually and orally, Gisela’s gradual expresses the nun’s hope of achieving perfect harmony in their worship services, accompanying the heavenly choirs that they hoped to join in the afterlife.“ Oliver, Sounds and Visions, S. 247. 6 Haverkamp, „Heilige Städte“; Johanek, Die Mauer und die Heiligen; Ehbrecht, Die Stadt und ihre Heiligen.

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Prozessionen sind seit dem ritual turn wieder verstärkt in den Fokus der Stadt­ geschichtsforschung gerückt. Die sichtbare Dimension, die Reihenfolge der Teilnehmer, ihre Kleidung, die mitgeführten Ausstattungsgegenstände und Heiltümer sind ausführlich betrachtet worden. Die Bedeutung religiöser Prozessionen als liturgische Ausdrucksform lag im Interesse der Liturgiewissenschaft und zahlreiche musikwissenschaftliche Einzelstudien haben sich mit dem Gesangsrepertoire der Umgänge befasst.7 Die folgenden Ausführungen sind der Versuch, die musikwissenschaftlichen und theologischen Erkenntnisse und besonders die liturgischen Quellen aus stadtgeschichtlicher Sicht zusammenzuführen und sich so der Klangwelt spätmittelalterlicher Prozessionen aus interdisziplinärer Perspektive zu nähern.8 2. Die Osnabrücker Pestprozession 2.1 Verlauf

Die Osnabrücker Pestprozession wurde von der Mitte des 14. Jahrhunderts bis zur Einführung der Reformation im Jahre 1543 am Freitag vor Pfingsten abgehalten. Ob sie als Bittgang aus Furcht vor der herannahenden Seuche oder als Dank für die überstandene Katastrophe gestiftet wurde, lässt sich aufgrund der mangelnden Quellenlage nicht entscheiden. Aber die erhaltenen Handschriften des Domes verzeichnen ihren Ablauf: Unter dem feierlichen Singen des Responsoriums Cognoscimus, Domine, quia peccavimus9 verließ man den Dom. Die Prozession bewegte sich aus dem Bereich der alten Domburg heraus, an der Nikolauskapelle vorbei,10 in Richtung der großen Stiftskirche der Neustadt, St. Johann.11 Nach der dortigen Station führte der Weg am Johannestor und Martinstor vorbei zu den beiden Pfarrkirchen der Stadt, St. Katharinen und St. Marien. In ihnen wurden ebenfalls Stationen gehalten. Ob entlang des Weges Altäre aufgestellt wurden, bleibt unklar. Das ältere Prozessionale des Domes verzeich  7 Vgl. aus der Fülle der Literatur exemplarisch Felbecker, Die Prozession; Brakmann, Muster bewegter Liturgie. Einen ausführlichen Forschungsüberblick bietet Weiss, Prozessionsforschung; Ashley, Hüsken, Moving Subjects. Aus stadtgeschichtlicher Perspektive vgl. die Dissertation von Löther, Prozessionen; Arlinghaus, The Myth. Zur Verbindung von litur­ gischen Quellen und moderner Stadtgeschichtsforschung u. a. Bärsch, Stiftsliturgie. Aus musik­ wissenschaftlicher Perspektive Wiesenfeldt, Musik in Bewegung.   8 Viele dieser Überlegungen entstammen der Arbeit des Themenverbunds „Urbane Zentren und Europäische Kultur in der Vormoderne“ an der Universität Regensburg. Vgl. dazu den Band: Buchinger, Hiley, Reichert, Prozessionen und ihre Gesänge. Zum Desiderat vergleichender, interdisziplinärer Forschung u. a. Burgess, Wathey, Mapping the soundscape, S. 2.   9 BAOs Ma 05 fol.14v (Lk 23, 29–43). 10 Die 1291 erstmals erwähnte Nikolaikapelle lag am Südrand der Domfreiheit, an der Grenze zur Marktleihschaft. Das Kollationsrecht lag beim Domkapitel (OsUB IV Nr. 694). 11 Vgl. (für die Frühe Neuzeit) Stolte, Procedamus in pace.

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net Gesänge zu Ehren der Heiligen Johannes und Martin.12 Eine jüngere Bittprozession, die in ihrer Ausgestaltung eindeutig auf das Vorbild der hier beschriebenen Pestprozession zurückgreift, beinhaltet einen Altar am Martinstor. Von der Marien­kirche aus ging es nicht sofort wieder in den in Sichtweite liegenden Dom, sondern man zog an der Martins- und Vituskapelle, die mit entsprechenden Gesängen bedacht wurden,13 vorbei zum Siechenhaus zur Süntelbeke.14 Dieses lag außerhalb der Stadtmauer und wurde vermutlich auf dem Weg durch das Hasetor aufgesucht. In der der Muttergottes geweihten Kapelle des Siechenhauses grüßte man die Patronin mit einem Salve Regina. Auf dem Weg bedachte man mit entsprechenden Gesängen noch zwei weitere Institutionen, zum einen das auf einer Anhöhe der Stadt vorgelagerte Kloster Gertrudenberg und zum anderen das Heilig Geist Hospital.15 Ihren Abschluss fand die Feier wieder im Dom. Zur Ausgestaltung der einzelnen Stationen wissen wir außer den im Domprozessionale angegebenen Gesängen nichts.16 2.2 Topographie

Bittprozessionen waren gemäß ihrer Grundbedeutung, mittels der liturgischen Ausdrucksform um Gottes Hilfe und Beistand zu bitten, möglichst umfassend aufgebaut: Dem Bittzweck entsprechend versammelte sich die ganze Gemeinde und verfolgte in der Regel eine möglichst das Stadtgebiet einfassende Wegstrecke.17 Die Osnabrücker Pestprozession durchschritt den gesamten Stadtraum der erst zu Beginn des 14. Jahrhunderts freiwillig zusammengeschlossenen Alt- und Neustadt. Während für repräsentative städtische Umgänge die Suburbien eher eine geringe Rolle spielten, war die Aufnahme von Siechenhäusern von großer Bedeutung bei Bittprozessionen und verstärkte deren Bußcharakter. Das Verlassen des ummauerten Stadtraums zeigt, dass der gesamte Stadtraum mit seinen die Stadt umgebenden Suburbien, Hospitälern, Kapellen und Pfarreien mit in das liturgische Gedenken eingebunden war.18

12 BAOs Ma 05 fol. 15v und 16r. 13 BAOs Ma 05 fol. 17r bzw. 17v. 14 Das Hospital ist seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts urkundlich belegt. Zur Geschichte und zur Forschungsdiskussion um die Gründung Nussmann, Das Leprosenhospital. 15 1250 gegründet (OsUB II, Nr. 461). 16 Laut Berning könnte jedes Mal der Segen erteilt und die vier Evangelienbeginne gesungen worden sein. Vgl. Berning, Bistum. 17 Vgl. Lengeling, Die Bittprozessionen. 18 Vgl. den Band: Igel, Lau, Stadt im Raum.

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2.3 Teilnehmer

Wie bereits erwähnt, fehlen genauere Angaben zur Stiftung der Pestprozessionen ebenso wie zu ihrem Teilnehmerkreis. Wie es aber der hohen Bedeutung von Bittprozessionen zukommt, kann man davon ausgehen, dass der gesamte städtische Klerus und die Bürgerschaft partizipierten. Sicher belegt sind Anwesenheitsgelder für die Domherren ebenso wie für die Stiftsherren von St. Johann.19 Das Domstrukturregister verzeichnet regel­ mäßige Ausgaben am Tag der Prozession für die Predigt,20 auch die Diener der Domherren und die Chorsänger erhielten Geld.21 Die Bettelorden beteiligten sich ebenfalls, so verzeichnen die Stadtrechnungen ab dem Jahre 1477 entsprechende Ausgaben.22 Allerdings ist nicht zu klären, seit wann sie tatsächlich am Umgang teilnahmen und welche Rolle ihnen innerhalb der Prozession zukam. Unbeantwortet bleibt die Frage nach der Partizipationsmöglichkeit der Frauenklöster. Die Hl. Gertrud als Patronin des Benediktinerinnenklosters wurde zwar während der Prozession gegrüßt, die Kirche aber wohl nicht aktiv in den Umgang eingebunden.23 Was die Beteiligung der bürgerlichen Laien angeht, sind wir auf Einzelbelege angewiesen. Die städtischen Schützen nahmen an der Prozession teil, ebenso wie die Mitglieder des Schusteramtes. Diese präsentierten sich laut einer erhaltenen Rechnung aus den 1520er Jahren feierlich im Harnisch.24 Die 19 Das Nekrolog von St. Johann verzeichnet die Zahlung von Anwesenheitsgeldern an die Stiftsherren von St. Johann, die am Markustag, den drei Rogationstagen sowie am Freitag vor Pfingsten den Umgängen folgten. Crabus, Das Johannisstift, S. 574, S. 591. Eine Urkunde des Jahres 1147 bestimmt weitere Feste, zu denen die Herren von St. Johann dem Gottesdienst im Dom beiwohnen sollten. OsUB I, Nr. 276. Die Teilnahme des Bischofs ist in den meisten Fällen nicht zu belegen, allerdings pflegte das Domkapitel, die Übernahme der Konventualmesse an den Hochfesten zu fordern. Ausführlich mit Beispielen Berning, Bistum, S. 98. 20 Regelmäßig verzeichnet das Domstrukturregister eine Ausgabe von 9d. Berning, Bistum, S. 108. Rothert folgerte aus diesen Zahlungen, dass am Tage der Pestprozession ebenso wie am Kirchweihfest des Domes jeweils drei Predigten gehalten wurden. Rothert, Die älteste erhaltene Strukturrechnung, S. 306. Berning hingegen vermutet nur für den Kirchweihtag drei Predigten. Berning, Bistum, S. 107. 21 Allerdings nur 6d, während die predicatori jeweils 9d erhielten. So u. a. im Rechnungsjahr 1524/25, Domstrukturregister, fol. 203v. Die in der Domstruktur verzeichneten Ausgaben hatten laut Berning aber wohl weniger mit der Domseelsorge zu tun, sondern waren „Angelegenheit des Kapitels, das auch auf diesem Gebiete für Hebung und Verschönerung der Festfeiern sorgte. Unabhängig davon hielt der Pastor seinen Pfarrgottesdienst mit Predigt.“ Berning, Bistum, S. 108. 22 Eberhard, „Van stades wegen utgegeven unde betalt“, S. 195. 23 Eine Ausnahme von der sonst wohl durch die Klausur bestehenden Nicht-Teilnahme an den Prozessionen bildeten der Markustag und der Mittwoch der Rogationstage. In beiden wurde die Klosterkirche mit in den Umgang einbezogen und am Mittwoch der Rogationstage wurde den Nonnen auch im gesanglichen Aufbau der Feier eine Rolle im Ritual zugesprochen. Vgl. BAOs Ma 05, fol. 14r. 24 Ediert bei Stüve, Gewerbswesen und Zünfte, S. 171.

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Osnabrücker Pestprozession diente also wie so viele religiöse Umgänge durchaus auch der Selbstdarstellung städtischer Gruppen.25 Ob und ggf. wie die bürgerlichen Laien an der musikalischen Ausgestaltung beteiligt waren, lässt sich nicht beantworten. Die liturgischen Handschriften geben in der Regel nur die Gesänge an – versehen mit kurzen Regieanweisungen, die oftmals schon knapper als erhofft ausfallen. In der klassischen römischen Liturgie sind Prozessionshymnen oder dergleichen nicht bekannt. Dafür aber eine weitere Gattung, die das Mitsingen des Volkes erlaubte: die Litanei. Als Träger des Gesangs ist zwar eigentlich der Chor anzusehen, aber es ist anzunehmen, dass die Litanei, die ja auch auf dem Prinzip eines kurzen Antwortrufs beruht, vom Volk mitgesungen wurde.26 2.4 Gesanglicher Aufbau

Seinem Charakter nach war der Umgang eine Sakramentsprozession; dafür spricht der gesangliche Aufbau wie er im älteren Prozessionale des Domes wiedergegeben ist. Es finden sich die ebenfalls bei der Fronleichnamsprozession gesungenen Verse O vere digna hostia und Gloria tibi, Domine, während das bei den Reliquienumgängen an Bitttagen gesungene Surgite Sancte fehlt. Diese beiden Verse dem Sakrament zu Ehren wurden zudem bei jeder Station gesungen, neben jeweils einer Antiphon zu Ehren des entsprechenden Kirchenpatrons.27 Am Osnabrücker Dom wurde im ersten Drittel des 13. Jahrhunderts das Amt des Kantors eingeführt, von 1223 bis 1247 finden wir einen Arnoldus Albus als ersten belegten Amtsinhaber. Bis dahin oblag die Musik einem Scholasticus. Im Jahre 1345 wurde dann die Stelle eines Succentors eingeführt.28 Der Osnabrücker Knappe Sweder von Schledehausen stiftete im Jahre 1398 dem Scholasticus des Domes eine Rente von 6 Schillingen zugunsten armer Scholaren für deren tägliche Teilnahme am Chordienst im Dom.29 Unterstützung im lateinischen Gesang bekamen die Kleriker oftmals von den Chorschülern, welche die Verse u. a. zur Einübung des Lateinischen auswendig zu

25 Zum Repräsentationscharakter von Prozessionen ausführlich Löther, Prozessionen. 26 Vgl. Pfisterer, Musikalische Gattungen, S. 214. 27 Berning weist zudem darauf hin, dass beim Auszug aus der Marienkapelle des Siechenhauses zur Süntelbecke Sakramentsgesänge Verwendung fanden, die auch im Fronleichnamsoffizium gebräuchlich waren. Berning, Bistum, S. 125. 28 „Diesen Leitern des Gesangs unterstanden entweder nur Kleriker oder Scholare, oder wie beispielsweise am Dom von Münster seit 1402 insgesamt 24 Berufssänger mit fester Besoldung, die aber nicht dem geistlichen Stand angehörten.“ Salmen, Geschichte der Musik, S. 113 f. 29 Salmen, Geschichte der Musik, S. 114, mit Verweis auf Bösken, Musikgeschichte, S. 14.

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lernen hatten.30 In Osnabrück finden sich zwei mittelalterliche Stiftsschulen: am Dom und beim Neustädter Stift St. Johann.31 2.5 Ausstattung

Die Gesänge deuten auf eine Sakramentsprozession, bei der – wie die Bezeichnung impliziert – das Allerheiligste in einer prächtigen Monstranz mitgeführt wurde.32 Diese war oftmals mit einem kristallinen Zentrum gestaltet und trug damit dem sich im Spät­ mittelalter ausprägenden Schaubedürfnis der Gläubigen Rechnung.33 Ob und welche Reliquien mitgeführt wurden, verraten die liturgischen Handschriften nicht. Das Dom­ strukturregister vermerkt zumindest für das Jahr 1528, dass das Haupt Karls des Großen bei der Prozession mitgeführt worden sei.34 Das sogenannte Karlshaupt gehörte zu den wertvollsten Stücken des Domschatzes, daher ist es wahrscheinlich, dass auch andere Reliquien in der Prozession getragen wurden. Das Domstrukturregister verweist zudem darauf, dass ebenfalls die großen Prozessionskreuze, die Kapitelkreuze35 sowie einige kleinere Kruzifixe mitgeführt wurden.36 Einige der Ausstattungsstücke, besonders die Kreuze und die prächtigen Reliquienschreine, haben bis heute im Domschatz überdauert.37 30 Vor einigen Jahren haben Pietschmann und Rozenski die Autobiographie Johannes von Soests durch eine kleine Edition zugänglich gemacht. Dieser hatte im 15. Jahrhundert eine typische Gesangsausbildung als Chorschüler in Soest, Kleve und später Brügge erhalten und lebte bis zu seiner Stellung als Kapellmeister in Heidelberg als ein angestellter Musiker ohne geistliche Weihen. Die Quelle ist ein besonderer Glücksgriff und verrät viel zur Ausbildung im Singen und Komponieren des 15. Jahrhunderts. Pietschmann, Rozenski, Singing the Self. 31 Vincke, Der Klerus, S. 13. 32 Ein Inventar der zum Hochaltar des Domes gehörenden Ausstattungsstücke, aufgestellt am 7. Dezember 1559 hat sich erhalten und vermittelt ein Bild der zahlreichen liturgischen Ausstattungsgegenstände. Niedersächsisches Landesarchiv Osnabrück (NLAOs) Abschn. 332 Nr. 1; abgedruckt bei Berning, Bistum, S. 290–292. 33 Grundlegend Rubin, Corpus Christi; Dinzelbacher, Das Blut Christi, hier Bd. 1, S. 415– 434. Zur Intensivierung der Frömmigkeit im ausgehenden Mittelalter exemplarisch Möller, Frömmigkeit; zur religiösen Verdichtung jener Zeit vgl. Hamm, Das Gewicht von Religion; zur spätmittelalterlichen „Schaufrömmigkeit“ und einer kritischen Bewertung dieses Forschungskonzeptes siehe Lentes, So weit das Auge reicht. 34 Es handelt sich um ein Abbild des Kaisers, welches neben ggf. Karls-Partikeln noch weitere Reliquien enthielt. Zur Bedeutung der Karlsverehrung in Osnabrück Queckenstedt, Karl der Große. 35 Die Domstruktur verzeichnet 1528 den Betrag von 4 m 9sl und 6d für die Neuversilberung des Stabes, mit dem das Kapitelkreuz getragen wurden, Domstrukturregister, fol. 248r. Das Dom­ strukturregister ist ediert bei Gunthermann, Turmbau. 36 Domstrukturregister, fol. 226v. 37 Vgl. das Inventariu(m) Sacristiae 1559. NLAOs, Rep. 100, Abschn. 332, Nr. 1. Ediert bei Borchers, Der Osnabrücker Domschatz, S. 173 f. Ein Inventar der Marienkirche aus dem Jahre 1522 nennt ebenfalls Ausstattungsgegenstände, die zu Prozessionen mitgeführt werden konnten, ebenso wie die Fahnen, die um den Kirchhof herumgetragen werden sollten. Steinwascher,

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3. Zur Klangwelt spätmittelalterlicher Prozessionen

Betrachtet man den kirchlichen Kalender, wird deutlich wie stark das Bild mittelalterlicher Städte durch die religiösen Umgänge geprägt war. Nicht nur in Osnabrück wurde das Sakrament ebenso wie die Reliquienschätze regelmäßig aus dem Kircheninneren hinaus in den städtischen Raum getragen. Die dichte Sakraltopographie der mittelalterlichen Städte muss daher einen ganz eigenen Klang gehabt haben, der eben nicht nur aus dem Kircheninneren nach außen schallte, sondern bewusst hinaus getragen wurde. Wie in der Messe wird das zentrale akustische Element zunächst der liturgische Gesang gewesen sein. Über ihn sind wir durch die zahlreichen erhaltenen Handschriften gut informiert. Responsorien und Antiphonen wurden wohl allein von den beteiligten Klerikern bestritten – wer die Kehrverse sang, konnte dabei ganz unterschiedlich geregelt sein und auch verschiedene geistliche Institutionen miteinander verbinden. Beispielsweise konnten die Stiftsherren einer Kirche beginnen, und die Kanoniker einer zweiten Stiftskirche antworteten dann mit dem Kehrvers.38 Während der Palmprozession im Regensburger Kloster St. Emmeram teilte sich sogar die Prozession bei der Rückkehr in die Kirche: Während die Kleriker den Zeno-Eingang benutzten, brachte das Volk cum suo concentu den Palmesel um die Klosterkirche herum zum Haupteingang des Klosters. Leider wird ihr Gesang nicht näher spezifiziert.39 Was die instrumentale Begleitung betrifft, finden sich in den Quellen Hinweise auf Trommeln, Pfeifen und Flöten, aber auch Lauten, Harfen oder Cymbeln wie beispielsweise bei der Fronleichnamsprozession im westfälischen Minden.40 Dies sind transportable Instrumente, die auch zu anderen festlichen Gelegenheiten auftauchen. Für die frühneuzeitliche Regensburger Fronleichnamsprozession ist sogar eine kleine tragbare Orgel belegt. Ob sie allerdings während der Prozession gespielt wurde, ist fraglich. Vermutlich wurde sie vielmehr während einzelner Stationen verwendet.41 Einige Städte bezahlten Zwei Inventarien, S. 205–210. Ein Abdruck des Inventars von 1522 ebd., S. 206 f. Einen Eindruck über die prächtig ausgestalteten Reliquiare und Prozessionskreuze bietet der Katalog zur Ausstellung: Bistum Münster, Goldene Pracht. 38 Beispielsweise verzeichnet der Liber Ordinarius der Trierer Domkirche einen solch wechselnden Gesang für den Montag der Rogationstage. Zwei Verse des Litaneihymnus Ardua spes mundi sangen die Domherren, zwei die Kanoniker aus St. Paulin und die folgenden zwei die Stiftsherren von St. Simeon. Kurzeja, Der älteste Liber Ordinarius, fol. 44r. Noch wenig beachtet sind die personellen Verflechtungen bzgl. der musikalischen Organisation verschiedener religiöser Gemeinschaften und der Pfarrkirchen. Am Beispiel Londons zeigen Burgess und Wathey verschiedene Beispiele einer musikalischen „cross-parish-activity“ auf. Burgess, Wathey, Mapping the Soundscape, S. 13–17. 39 Hiley, Bemerkungen zu Fronleichnamsprozessionen, S. 454. 40 Salmen, Geschichte der Musik, S. 79. Auf weltliche Musik und Musiker kann in den vorliegenden Ausführungen nicht näher eingegangen werden. Vgl. Ders., Der Fahrende Musiker. 41 Güntner, Die Fronleichnamsprozession, hier S. 11. Ebenso ist ein Portativ für die Nürnberger Fronleichnamsprozession belegt. Der Kirchenmeister hatte sich um die Sänger und Instrumen-

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eigene Trompeter, die sowohl als Signalgeber auf Türmen etc. ihren Dienst verrichteten als auch bei religiösen Festen eingesetzt wurden.42 Ebenso finden sich städtische Spielleute unter den Teilnehmenden.43 Die Quellen schweigen leider an vielen Stellen und sind, wie es Kenneth Kreiner so treffend in einem Aufsatz formuliert hat, oftmals mehr an der Kleidung der Musiker interessiert als beispielsweise an der Instrumentation.44 Insgesamt ist die Quellenlage sehr heterogen, und in den meisten Städten finden sich Belege für einzelne Ereignisse oder Zeitphasen. Quellen aus städtischer Perspektive sind oftmals normativen Charakters, beispielsweise die Ermahnung zu einer geziemten Teilnahme oder Verbote von Störungen jeglicher Art des festlichen Ablaufs.45 Die feierliche „Normalsituation“ besonders hinsichtlich des Klangs findet sich leider nur in wenigen Beschreibungen.46 Eine anschauliche Darstellung einer spätmittelalterlichen Prozession ist aus dem schwäbischen Biberach überliefert. Die folgenden Zeilen entstammen der Feder des Joachim von Pflummern, einem Patriziersohn, der ebenso wie sein Bruder Heinrich als entschiedener Gegner der Reformation in einer Chronik die altgläubigen Zustände seiner Heimatstadt überliefern wollte.47 Er gibt einen Überblick über verschiedene Kirchen und Kapellen mit ihrer jeweiligen Ausstattung, beschreibt die Messen und zahlreiche Feiertage. Zum 25. April, dem Markustag, heißt es: An sankt Marxentag, hat man ein Kreuzgang gehabt, der hat geheißen der groß Kreuzgang. […] Das Amt hat man am Morgen desto früher gesungen und nach dem Amt ein Zeichen mit der Sühneglocke gelitten, daß man wisse, wann man gehen sollte. Unter dem Amt ist das Spitaler Kreuz mit Fahnen in die Kirchen kommen; man hat demselben Kreuz im Spital mit talisten zu kümmern, war für ihre Mahlzeiten, aber beispielsweise auch für ihre Ausstattung mit Blumenschmuck verantwortlich. Löther, Prozessionen, S. 112 f. 42 Ausführlich zu Trompetern vgl. Kreitner, Corpus Christi, S. 167. Auch für die Regensburger Fronleichnamsprozession wurden eigens „tüchtige“ Trompeter eingestellt. Güntner, Die Fronleichnamsprozession, S. 11. 43 Beispielsweise bei der Kölner Gottestracht, einer jährlich vom Stadtrat organisierten Sakramentsprozession. Ausführlich Enzel, „Eins Raths Kirmiß…“, S. 447. 44 Kreitner, Corpus Christi, S. 153. Zudem darf nicht aus dem Blick verloren werden, dass auch bei bürgerlicher Beteiligung an den Prozessionen wir uns immer noch mit elitären Gesellschaftsschichten der mittelalterlichen Stadt befassen. Eine Musikgeschichte unterbürgerlicher Schichten wäre ein anderes Kapitel. Vgl. Salmen, Geschichte der Musik, S. 12, S. 14. 45 So auch zu beobachten bei der Kölner Gottestracht. Enzel, „Eins Rath Kirmiß …“, S. 491. 46 Dieses Fehlen von erzählenden Quellen zur mittelalterlichen Alltagssituation betrifft ja keineswegs nur die hier betrachtete Thematik und ist überregional zu beobachten. Kreitner begründet es für das von ihm untersuchte Barcelona wie folgt: „To a resident of 15th century Barcelona there was nothing very extraordinary about any of the musical ensembles in the Corpus Procession. Trumpet bands were the backbone of local ceremonial music throughout the century; polyphonic vocal ensembles were familiar at least through the cathedral, whose choir already owned a good many books of music.“ Kreitner, Corpus Christi, S. 192. 47 Angele, Altbiberach. Erstmals ediert wurde die Chronik 1875 von Schilling, Beiträge zur Geschichte.

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beiden Glocken uss und eingelitten und das Spitalvolk ist mitgan. So man mit dem Kreuz ist usse gangen, hat man mit allen sieben Glocken gelitten; man ist zur hl. Kreuzkapelle gangen und hat ein Amt gesungen. Wer dann hat wöllen weiter gohn, der hats geton, wer denn nit weiter hat wöllen gehen, der ist wieder heimgegangen.48

So pragmatisch wie scheinbar jeder Laie über den Fortgang der Prozession entscheiden konnte, so pragmatisch liest sich die Beschreibung von Pflummerns zur Ausgestaltung des Umgangs. Einzig die Glocken als Signalgeber werden differenziert beschrieben, die weitere klangliche Kulisse bleibt bis auf die Erwähnung der Messgesänge unbekannt. Doch gibt die Chronik weitere Informationen zum musikalischen Aufbau von religiösen Prozessionen im urbanen Raum. In der Beschreibung des Aufzugs wird zumindest bei den Sängern differenziert: Beim Kreuzgang sind zuerst die Fahnenträger gangen, darnach zwei Kreuz, dann die kleinen und größeren Schüeler, nachher der Provisor mit seinem Bakulus, daß er sie in Zucht behalte. Der Kantor war bei den großen Schülern, daß er den Gesang regiere, denn man hat umb und umbher mancherlei Gesäng gesungen.49

Es waren also in Biberach, wie eingangs schon beschrieben, die Schulknaben an der gesanglichen Ausstattung der Prozession beteiligt. Nach den Singknaben sind gangen die Priester, nach ihnen der Pfarrherr oder ein Helfer zu Pferd; er hat ein Särglein mit Heiltumb um den Hals hangen gehabt.50 Die „Singknaben“ waren an zentraler Stelle des Umgangs positioniert und gingen den Reliquien voraus. Damit war der Mittelpunkt der Prozession nicht nur weithin sichtbar – der Heiltumsträger saß exponiert zu Pferde, gefolgt von einer roten Fahne – sondern auch weithin hörbar markiert.51 Betrachtet man die musikalische Untermalung religiöser Prozessionen im öffentlichen Raum, zeigt sich ihre Bedeutung noch auf einer weiteren Dimension als nur der klanglichen Untermalung. Der bereits genannte Kenneth Kreiner formuliert diese tiefere Bedeutung der musikalischen Gestaltung von Prozessionen folgendermaßen: What was unusual about the music in the Corpus Christi procession, then was not the music itself, but how it fitted into a larger dramatic structure. Of all the musicians in the parade, only the trumpeters at the beginning and the cathedral choir near the end were

48 Angele, Altbiberach, S. 69. 49 Ebd. S. 69. 50 Ebd. S. 69. 51 „Es gibt keine zufällige Position der Musik im Zug“, so formuliert es treffend Wiesenfeldt, Musik in Bewegung, S. 48.

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fulfilling their usual function; everyone else was there not only to make music, but to act a role in a huge and elaborate play.52

Ebenso wie die Liturgie innerhalb der Messe war die Prozession selbst ein Mysterium, welches vom Zusammenspiel seiner verschiedenen Elemente lebte. Musik und Gesang waren untrennbar mit der rituellen Praxis verbunden. In diesem Zusammenhang erhielten dann auch die teilnehmenden Laien und etwaige Zuschauer der Prozessionen, über die wir so wenig in den Quellen erfahren, eine ganz eigene Bedeutung. Besonders die Palmsonntagsprozession war aufgrund ihrer Thematik eine unvergleichbare Möglichkeit zur Symbiose klerikaler Frömmigkeitsformen und städtischer Laienfrömmigkeit. Die plastische Schilderung des Einzugs Jesu in Jerusalem bot ein besonderes Identifikationsangebot für mittelalterliche Gemeinschaften. Dies galt besonders für den Bereich der Stadt, da die feierliche Nachahmung der biblischen Vorlagen die Stadtgemeinde und den ansässigen Klerus auf besondere Weise miteinander verband.53 In der Palmfeier wurde die Stadt selbst zu einer Kopie des Himmlischen Jerusalem. Ihre Mauern versprachen Wehrhaftigkeit und Schutz wie im himmlischen Vorbild und die Kirchen sowie die in ihren Reliquiaren präsenten Heiligen schützten die Stadt und ihre Bewohner. In der mimetischen Prozession wurden die Einwohner selbst Teil der himmlischen Stadt, die dem symbolisch einziehenden Christus – ggf. figürlich auf einem Palmesel reitend – unter Hosanna-Rufen den Weg bereiteten. War die Rolle der an der Prozession beteiligten Laien hinsichtlich der liturgischen Riten passiv besetzt, erhielten sie nun eine aktive Rolle im biblischen Heilsgeschehen. Die Ereignisse der Osterwoche wurden an den eigenen Ort, in die eigene Stadt transloziert und in die eigene Gegenwart übertragen. Die Relativität der zeitlichen Ebene ermöglichte der Stadtgemeinde, den Einzug Christi und seine bevorstehende Passion trotz der zeitlichen Distanz zum ursprünglichen Geschehen real mitzuerleben.54 52 Kreitner, Corpus Christi, S. 193. „The choirs and soft bands were dressed not as earthly musicians but as angels and Apocalyptic Edlers, and they represented not themselves but the joys of heaven: and this use of voices and soft instruments to represent the sounds of the paradisical and infernal parallels the patterns of symbolism universally found in the dramatic and artistic traditions of the Middle Ages“. Ebd., S. 196. 53 Zur Palmsonntagsfeier in Jerusalem Gräf, Palmenweihe, S. 3. Zur Stationsliturgie in Jerusalem, ihre Orte und die entsprechenden Quellen ausführlich Baldovin, The Urban Character. 54 Jung, The Phenomenal, S. 76 f. Jung bezieht sich in der Deutung der österlichen Zeit auf Anselm von Canterbury: „Saint Anselm, in his Cur Deus Homo, also identified sacred history as relative time that allows access for all since not all men who were to be saved were able to be present when Christ made that redemption, there was so much efficacy in His death the effect of His death extends even to those who are absent in space and time.“ Das Ritual erschuf neben einer Sakralisierung von Zeit und Raum auch eine besondere Beziehung der Stadtgemeinde zu Christus: „Dialogues between Christ and various biblical personages framed idealized relationships between Christians and Christ and inserted the community and the individual into the biblical narrative.“ Ebd, S. 82 f. Vgl. auch Ohly, Die Kathedrale.

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4. Klang und Stille – ein Ausblick

Schon dieser kurze Überblick konnte verdeutlichen, wie vielfältig die Klangkulisse religiöser Prozessionen innerhalb des Stadtraums war, ohne dass an dieser Stelle näher auf andere Formen religiös-kultischer Raumbesetzung durch Klang eingegangen werden konnte.55 Die Quellenlage ist sehr heterogen, doch zeigen die zahlreichen in der Literatur betrachteten Einzelbeispiele ein umfassendes Bild. Die musikalische Begleitung der Prozessionen hatte verschiedene Funktionen: Sie gab den Rhythmus der Bewegung vor,56 band Teilnehmer wie Zuschauer gleichermaßen ein und hob die religiöse Feier auf eine besondere emotionale Ebene. Musik „vermittelt Heil, weil sie Teilhabe am himmlischen Gesang der Engel bedeutet und sie ist gleichzeitig Ausdruck der Freude über diese Gemeinschaft, Kommunikation mit der Transzendenz wie Kommunikation über die Transzendenz.“57 Die Teilnehmer der Prozession waren nicht nur durch das Singen, sondern auch durch das Hören aktiv eingebunden.58 Die Prozessionsgesänge spiegelten dabei oftmals die religiöse Bedeutung einzelner Elemente wieder – so kommemorierte beispielsweise das bei der betrachteten Palmsonntagsprozession üblicherweise gesungene Responsorium Ingrediente Domino den Einzug Jesu in Jerusalem. Wer von den teilnehmenden Laien die Bedeutung der lateinischen Texte tatsächlich verstand, wird aber nicht befriedigend zu klären sein. Eine neue Möglichkeit der Kommunikation biblischer Texte durch Gesang bot dann erst in umfassendem Maße das deutschsprachige Kirchenlied der Reformationszeit.59 Und auch ein weiterer Aspekt, der in vielen normativen Quellen auftaucht, ist besonders interessant: die Bedeutung der Stille für die Klangwelt der Prozession. Betrachtet man noch einmal das Beispiel der Biberacher Chronik, zeigt sich welchen Wert von Pflummern in seiner Beschreibung auf die Einhaltung der rechten Ordnung und andächtiger Stille legt. Nicht nur die kleineren und größeren Schüler werden beaufsichtigt, sondern die gesamte Schar der teilnehmenden Laien:

55 Die Biberacher Chronik beispielsweise enthält auch Berichte über Jakobspilger, die Lieder des Heiligen singend durch die Stadt gezogen seien. Auch Bettler hätten Lieder über Heilige gesungen, um auf sich aufmerksam zu machen. Angele, Altbiberach, S. 114. „Dem Heiligen zu singen, vom Heiligen zu singen, das ist mittelalterliche Glaubens- und Lebenspraxis.“ Mertens, Jakobus singen, S. 65. 56 Zur Musik als „basales Ordnungsprinzip“ in Prozessionen und zur rhythmischen Fundierung durch Musik vgl. Wiesenfeldt, Musik in Bewegung, bes. S. 50–56. 57 Mertens, Jakobus singen, S. 65; siehe auch Ders., Ungehörte Musik, hier Bd. 3, S. 92–97. 58 Zum Gesang und der aktiven Rolle der Teilnehmenden beim Singen und Hören Fuhrmann, Herz und Stimme; zur rituellen Bedeutung von kirchlichem Gesang Slough, „Let Every Tongue“. 59 Allerdings war deutschsprachiger Gemeindegesang bereits seit dem Hochmittelalter nicht unüblich, wie u. a. Missfelder „entgegen lutherischer Selbstmythologisierung und weiten Teilen der älteren Forschung“ betont. Missfelder, Akustische Reformation, S. 116.

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Ein Büttel und ein Stadtknecht sind mitgangen, daß es bescheidentlich hergange. Es ist allwegen merklich viel Volks von Frauen und Mannen mit dem Kreuz gangen, alles mit rechter Andacht, niemand hat geschwätzt, sondern ernstlich betet […].60

In seiner Rückschau spielt also weniger die eigentliche musikalische Gestaltung der Prozession selbst eine Rolle, vielmehr ist die gesamte Lautkulisse das Entscheidende. Der Umgang gewinnt seine feierliche Bedeutung gerade durch das ungestörte Singen und Beten einer sonst schweigenden Menge. Kein Schwätzen, kein Rumoren und kein Alltagslärm sollten das religiös-kultische Ritual stören. Man hat an heiligen Nächten, Feiertagen, Samstagen und anderen heiligen Tägen nit Unwesen uff den Gassen duldet, es sei in Schreien, Singen, Pfeifen, Geigen, Lauten und dergleichen, heißt es an anderer Stelle in der Chronik.61 Die für die Fest- und Feiertage verordnete Arbeitsruhe ermöglichte also nicht nur die Teilnahme der bürgerlichen Laien, sondern sorgte auch für eine besondere „Auszeit“ von der alltäglichen Klangkulisse der mittelalterlichen Stadt. Die Klangwelt spätmittelalterlicher Prozessionen sollte man also nicht nur auf den Umgang und die dort erzeugte Akustik selbst, sondern auch auf das Umfeld beziehen. Durch das Verbot von Arbeit und den mit ihr verbundenen Lärm62, durch das Schweigen der Teilnehmer und Zuschauer entstand eine akustische ‚Leerstelle‘, in der das religiöse Ritual seine eigentliche Wirkung entfalten konnte.63 Die Prozessionen als liturgisches Mysterium waren allerdings in ihrer Komposition gleichzeitig fragile Gebilde. Dies zeigt sich dann besonders im konfessionellen Zeitalter, wo sie von protestantischer Seite abgelehnt zu einem Ausdruck tridentinischer Frömmigkeit werden sollten und als solcher von altgläubiger Seite umso mehr inszeniert wurden. Glockengeläut, Gesang, Instrumentalmusik – all diese Klangelemente wurden in der Auseinandersetzung zwischen den Konfessionen nur zu gerne eingesetzt, um die jeweils gegnerische Seite zu übertönen, zu verspotten und damit in der Ausübung ihres Glaubens nachhaltig zu stören.64

60 Angele, Altbiberach, S. 69. 61 Ebd., S. 119. Die Ordnung sowohl vom Umgang als auch die der Zuschauer ist ein Kennzeichen von bildlichen Darstellungen. Zum Überblick Löther, Rituale im Bild. 62 Zur Kategorie „Lärm“ im Alltag vgl. den Beitrag von Julia Samp und Stefan Bürger in diesem Band. 63 Besondere Bedeutung erlangt das Wechselspiel von Stille und liturgischem Klang innerhalb monastischer Gemeinschaften, in denen sich Zeiten der Stille abwechseln mit dem klangvollen liturgischen Ritus. Vgl. Bonde, Maines, Performing Silence. 64 Exemplarisch Missfelder, Akustische Reformation; mit weiterer Literatur. Reichert, Prozessionen. Zum Kirchenlied und Volksgesang im Dienst der Kirchenreform siehe Müller, Volksgesang, bes. S. 29.

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5. Zusammenfassung Lobt ihn mit dem Schall der Hörner, lobt ihn mit Harfe und Zither! Lobt ihn mit Pauken und Tanz, lobt ihn mit Flöten und Seitenspiel! Lobt ihn mit hellen Zimbeln, lobt ihn mit klingenden Zimbeln!

Das Lob Gottes durch Musik und Klang, so fordert es der Psalm 150, scheinen die religiösen Prozessionen des Mittelalters durch ihre Klangkulisse zu erfüllen. Das Hinaustragen der Heiltümer und des Sakraments, die Verlagerung der Liturgie in den öffent­lichen urbanen Raum erfüllte diesen weithin hörbar mit diesem Gotteslob. Der städtische Raum wurde dabei für die Dauer der Prozession sakral erhöht und seine Bedeutung für die Stadt als Heilsgemeinschaft deutlich gemacht. Das inhaltliche Programm wurde dabei im Wesentlichen von der Musik getragen, „die eingesetzten Musiker erheben zusammen ein Gesamtprogramm, eine konjunktive Anschauung des Inhalts qua Musik“.65 Leider schweigen die zahlreichen liturgischen Handschriften oftmals über die genaue musika­ lische Ausgestaltung, über die Rolle der Laien ebenso wie über die Zuschauer und -hörer dieser Rituale. Die städtische Überlieferung besteht zumeist aus normativen Quellen, aus Prozessionsordnungen oder Rechnungen. Beschreibende Texte wie die Darstellung des von Pflummern setzen erst spät ein – auch von Pflummern schreibt in der Retrospektive über seine mittlerweile reformierte ehemalige Heimatstadt. All diese Quellen werfen immer nur Schlaglichter auf die Klangkulisse mittelalterlicher Umgänge. Wir werden uns der Klangwelt mittelalterlicher Prozessionen und ihrer Wirkung im urbanen Raum wohl niemals gänzlich versichern können, umso fruchtbarer erscheint aber ihre Untersuchung aus interdisziplinärer Perspektive. Abkürzungen BAOs – Bistumsarchiv Osnabrück NLAOs – Niedersächsisches Landesarchiv Osnabrück OsUB – Osnabrücker Urkundenbuch Quellenverzeichnis Albert Angele (Bearb.), Altbiberach um die Jahre der Reformation. Erlebt und für die kommenden Generationen der Stadt beschrieben von den Zeitgenossen und Edlen Brüdern Joachim I. und Heinrich VI. von Pflummern, Patrizier der Freien Reichsstadt Biberach. Ergänzt durch die Geschichte des Spitals, der beiden Klöster und des Passionsspieles, Biberach 1962. Bistumsarchiv Osnabrück (BAOs), Ma 05 fol. 14r–17v.

65 Wiesenfeldt, Musik in Bewegung, S. 47.

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Miszelle: Vom Anschlagen und Ansagen Baustellenlärm im späten Mittelalter? Stefan Bürger

Können wir uns vorstellen, wie eine Baustelle im Mittelalter geklungen hat? Vor allem für große Bauhütten ist davon auszugehen, dass die Steinmetze mit ihren Äxten, mit denen sie die Steine zurechthauten, in der Stadt zu hören waren. Vielleicht wurde der Lärm der Baustelle durch Schauerdächer oder Hüttengebäude gedämpft oder durch das Markttreiben übertönt, doch gehörten die Haus- und Kirchenbaustellen zweifellos zu den Geräuschkulissen spätmittelalterlicher Städte. Um dieses allgemeine Lärmen auf einer Baustelle wird es in dieser Miszelle nur am Rande gehen. Anhand einiger ausgewählter Aspekte soll skizziert werden, welche Rolle weniger Lärm, sondern vielmehr akustische Signale auf Baustellen des Mittelalters gespielt haben könnten. Das Augenmerk liegt dabei auf einigen ausgewählten Klängen, die sich anhand von Quellen nachweisen lassen und zu den einstigen akustischen Räumen gehörten: Töne, um durch Anschlagen Zeiten anzuzeigen, spezifische Klänge zur Kommunikation und als Signale, um Distanzen zu überwinden, die Sprache als Mittel, um durch Ansagen ggf. den Baustellenlärm zu übertönen.1 1. Die Arbeit und ihre Baustellengeräusche

Wer heute erleben möchte, wie eine Baustelle im Mittelalter eventuell geklungen hat, könnte die Burgenbaustelle im französischen Guédelon besuchen, wo seit einigen Jahren von Grund auf eine Burg des 13. Jahrhunderts mit mittelalterlichen Werktechniken nachgebaut wird (Abb. 1). Doch hat so – wie an arbeitsreichen Tagen in Guédelon – eine Baustelle im Mittelalter geklungen – zumal sich das Bauprojekt dort nicht vornimmt, einen Klangraum, sondern Werkprozesse zu rekonstruieren? Zunächst lässt sich dort vor Ort bemerken, dass sich der Lärm einer einstigen Baustelle, was ihre Lautstärke und die Lärmbelastung anbelangt, offensichtlich in Grenzen gehalten hatte. Nicht zu hören sind bspw. in Guédelon laute Dieselmotoren von Materialtransportern, auch keine kreischenden Kreissägen oder Trennschleifer, keine ratternden Rüttelplatten oder ohrenbetäubende Presslufthämmer, keine Betonmischer und -pumpen, überhaupt fehl­ten Motorengeräusche jeglicher Art. Doch helfen uns – und wenn ja 1 Einführend und zur Einteilung der Lautsphären in Grundgeräusch, Signale und symbolische Klänge, vgl. Wenzel, Sehen und Hören.

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Stefan Bürger

Abb. 1: Baustelle Guédelon, Experimentelle Archäologie beim Bau einer Burg im Wesentlichen mit Techniken des 13. Jahrhunderts, © Stefan Bürger.

wie – unsere eigenen, gegenwärtigen Klangerfahrungen im Umgang mit historischen Befunden und Quellen? Das für den modernen Menschen mit seinen spezifischen Laut-Erfahrungen leicht erträgliche, und im individuellen Empfinden eher angenehme Klangbild wird dagegen bestimmt durch metallenes Hämmern und gedämpftes Klopfen, Hacken und auch durch das Reden der Bauleute sowie durch Hufgeklapper und Wagenrattern. Raspelndes Sägen und dumpfes Hacken waren die Grundgeräusche des Holzplatzes (Abb. 2a+b). Allerdings gehörte wohl das Sägen im Hochmittelalter zu den spezielleren Tätigkeiten, da geschmiedete Sägeblätter teuer waren. Zudem war das Sägen eine Kräfte zehrende Arbeit, bei der die Fasern des Holzes zerrissen und zerstört wurden, was letztlich das Holz anfälliger gegenüber Witterungseinflüssen machte. Witterungsbeständiger waren Balken und Bohlen mit gebeilten Oberflächen. Denn beim Bearbeiten der Hölzer mit Beilen behielten diese über große Längen ihre durchlaufenden Fasern bei und waren im Querschnitt belastbarer. Allerdings ließen sich mit Hölzern, die dem Wuchs der Stämme folgen mussten, keine normierten Konstruktionen erstellen. Die Holzgebinde waren daher einzeln vorzufertigen, auf dem Holzplatz vorzumontieren, zu kennzeichnen, wieder zu demontieren, um sie dann auf der Baustelle

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Miszelle: Vom Anschlagen und Ansagen

Abb. 2a: Zimmermann mit Breitbeil, Hausbuch der Mendelschen Zwölfbrüderstiftung, Band 1, Nürnberg, 1426–1549, 28 × 19,5 cm, © Stadtbibliothek im Bildungscampus Nürnberg, Amb.317.2 °, fol. 37r.

Abb. 2b: Zimmerleute auf dem Holzplatz, Baustelle Guédelon, © Stefan Bürger.

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Stefan Bürger

Abb. 3a: Steinmetz mit Spitzfläche, Hausbuch der Mendelschen Zwölfbrüderstiftung, Band 1, Nürnberg, 1426–1549, 28 × 19,5 cm, © Stadtbibliothek im Bildungscampus Nürnberg, Amb.317.2 °, 4r.

aufzurichten. Dafür war bisweilen viel Platz notwendig, sodass sich die Holzhöfe als Lager- und Fertigungsorte wie auch etwaige Säge- und Schiffsmühlen in Stadtrandlagen oder Tälern befanden, also auch deren Lärm zumeist nur außerhalb der Wohnsiedlungen zu hören war. Einen besonderen Klang erzeugten die Steinhauer und Steinmetze (Abb. 3a+b). Auf einigen historischen Darstellungen ist zu sehen, wie Steinmetze mit Holzknüpfeln ihre Eisen vorantreiben, um aus den rohen Steinen formschöne Werkstücke zu hauen. Diesen Klang beschreibt auch ein bekanntes, angeblich aus dem Spätmittelalter stammendes Steinmetzlied (von 1463?).2 In der zweiten Liedzeile – wo unser 2 Die Bedeutung der Rochlitzer Steinmetztradition spiegelt sich in einem angeblich aus dem ausgehenden 15. Jahrhundert stammenden Steinmetzlied wieder, das bis heute eines der gebräuchlichsten Lieder mitteldeutscher Steinmetzen geblieben ist: Zu Rochlitz in dem Wald / wo unser Knüpfel schallt / wo die Nachtigall tut singen / des Meisters Geld tut klingen / ist nichts als lauter Lust / in uns’rer Steinmetzbrust. // Wo kommen Kirchen her / und Schlösser noch viel mehr / feste Brücken über Flüssen, / die wir erbauen müssen / zu Wasser und zu Land? / Ist unser Steinmetz-

Miszelle: Vom Anschlagen und Ansagen

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Abb. 3b: Steinmetz mit Zahn­ fläche, Baustelle Guédelon, © Stefan Bürger.

Knüpfel schallt –, unmittelbar nachdem Rochlitz als Ort des ansässigen Handwerks benannt wurde, wird jener charakteristische Klang der Knüpfel besungen. Allerdings stimmt diesbezüglich unsere Vorstellung nicht ganz mit dem Befund überein, der sich aus historischen Bildquellen ablesen lässt. Denn mit Hammer und Meißeln arbeiteten die Steinmetze seltener, nämlich nur dann, wenn beispielsweise Löcher in die Werkstücke gehauen werden mussten, um den Wolf einsetzen zu können oder die Steine bei Versatz untereinander verdübeln zu können. Auch Laub- und Bildhauer arbeiteten vorzugsweise mit Meißeln, damit zierliche Formen mit Hinterschneidungen entstehen konnten. Steinmetze arbeiteten vorrangig mit Steinäxten, mit so genannten Flächen oder Spitzflächen. Flächen und Spitzflächen waren beidhändig geführte Werkzeuge, mit denen direkt auf die Steine gehauen wurde. Dadurch ließ sich viel mehr Körperkraft umsetzen und schneller vorankommen. Steinäxte waren das bevorzugte Werkzeug stand. // […]; Liedtext aus Weiss, Steinmetzart, S. 174. – Ein noch heute gesungener Refrain gilt als neuzeitliche Zutat.

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Abb. 4a: Schmied mit Hammer und Amboss, Hausbuch der Mendelschen Zwölfbrüderstiftung, Band 1, Nürnberg, 1426–1549, 28 × 19,5 cm, © Stadtbibliothek im Bildungscampus Nürnberg, Amb. 317.2 °, f. 46r.

der Steinmetze und machten andere, dumpfere Geräusche als Hämmer bzw. Knüpfel auf Eisen. Diese für Baustellen sicher typischen Grundgeräusche waren zweifellos gedämpfter, wenn die Steinmetze in Hütten arbeiteten. Für das Spätmittelalter lässt sich vielfach nachweisen, dass diese Steinmetzhütten geschlossene Räume waren, teilweise sogar mit Glasfenstern und Öfen, um geschützt auch in den Wintermonaten arbeiten zu können.3 Metallenes Hämmern erklang dagegen aus der Schmiede (Abb. 4a+b). Schmiede gehörten in der Regel zu jeder größeren Baustelle. Sie fertigten Eisenteile, Türbeschläge, Winkel, Eisenstangen für Zuganker, Eisenbolzen und -klammern zum Verdübeln der Werkstücke, vor allem auch Nägel in unterschiedlichen Größen und nicht zu vergessen die Hufeisen zum Beschlagen der Pferde, die als Zugtiere auf den Baustellen arbeiteten oder als Dienstpferde die Werkmeister von Baustelle zu Baustelle trugen. Die Schmiede waren auch als Werkzeugmacher tätig. Sie fertigten Hämmer, Äxte und Meißel, Stein­ zangen, Sägeblätter usw. Für den fortlaufenden Baustellenbetrieb war das ständige Stäh3 Bürger, Figurierte Gewölbe, Bd. 1, S. 272.

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Abb. 4b: Schmied mit Hammer und Amboss, Baustelle Guédelon, © Stefan Bürger.

len und Schärfen der Eisen wichtig, denn die Steinäxte und Meißel der Steinmetze wurden schnell stumpf. Zum Baustellenlärm gehörte auch das Rattern der Karren, der Hufschlag der Pferde, die Kommandos der Fuhrleute u. v. m. Doch welche weiteren Arbeitsprozesse und ihre spezifischen akustischen Merkmale sind darüber hinaus kennzeichnend für das Klangbild von mittelalterlichen Baustellen? 2. Die Kommunikation und ihre Signale

Wenig wissen wir darüber, welche akustischen Signale es möglicherweise auf mittelalterlichen Baustellen gegeben hat. Im industriellen Zeitalter wurden Arbeitszeiten großer Produktionsstandorte bspw. mit Dampfpfeifen, Sirenen, elektrischen Klingeln oder Schlagwerken angezeigt. Solche Mittel standen im Mittelalter nicht zur Verfügung. Aus der so genannten Torgauer/Rochlitzer Steinmetzordnung erfahren wir, dass die Parliere (also die Vorarbeiter, die das Sagen hatten und dass unmittelbare Kommando auf der Baustelle führten) als stellvertretende Meister der Bauhütten verpflichtet waren, die rechten

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Zeiten anzuschlagen. Womit und worauf sie schlugen, wissen wir nicht. Möglicherweise existierten Schlageisen oder -hölzer, auf die die Parliere die Zeiten anschlugen.4 Diesbezüglich regelt die Ordnung: Art. 54. Ein pallirer sol zu rechter zeyt ansschlahen vnd es durch niemandes willen lassen.5 Und in der Ordnung stand ebenfalls geschrieben: Art. 62. Ein itzlicher pallirer sol der erste sein des morgens vnd nach essens sein in der Hütten, wen man aufschlueßt, vnd der letzt herauss es sey zu mitag oder abendt, Das sich alle gesellen sindt nach Im zu richten vnd dester eher komen sollen in die arbeit, […].6 Anhand dieser Überlieferungen lässt sich vermuten, dass die Parliere nach Sonnenaufgang den Beginn der Arbeiten anschlugen, den Anfang und das Ende der Mittagspausen und ebenso das Ende eines Arbeitstages vor Sonnenuntergang. In ähnlicher Weise funktionierte dies in der Schifffahrt. Dort gab es Sanduhren, die alle halbe Stunden gedreht werden mussten. War eine halbe Stunde vergangen, wurde mit der Schiffsglocke die Anzahl der Glasen angeschlagen. Nach acht Glasen war die Wachzeit einer Schiffswache abgelaufen und die andere übernahm die Arbeit an Deck. Sanduhren sind seit dem 14. Jahrhundert bekannt. Ob es Sanduhren auch auf Baustellen gab, ist nicht belegt und eher unwahrscheinlich. Die Arbeitszeiten richteten sich sicher nach den Tages- und Messzeiten, die in den Städten und Ortschaften ohnehin mit Kirchenglocken angezeigt wurden.7 Eine offene Baustelle samt ihrer Bauhütte besaß wohl keine lautstarken Türklopfer. Und so musste es eine pragmatische Lösung geben, damit Fremde sich auf einem Bauplatz Gehör und Einlass verschaffen konnten. Es durfte nicht sein, dass beispielsweise ein Wandergeselle kam, auf gut Glück alle ansprach, sich umständlich bis zum Meister durchfragte und dann bei allen Gesellen vorstellte. Dadurch hätte er die Arbeitenden über Gebühr von ihrer Tätigkeit abgehalten. Auch dieses Prozedere des Ankommens regelte die Steinmetzordnung: Kam ein wandernder Geselle, ehe die Zeit angeschlagen wurde, so konnte er noch mit dem vollen Tageslohn rechnen. Um sich angemessen auf der Baustelle zu melden, wenn er von ersten zu der Hütte eingehet (Art. 107), musste er sich sicher am Tor bzw. Zugang zur Baustelle laut und deutlich mit einem Gruß Gehör verschaffen, damit die Beschäftigten auf ihn aufmerksam wurden. Dazu: Art. 106. Kompt ein wander gesell Ee man ruhe anschlecht, der verdinet das tag lon. Ein Itzlich wander gesell, wen man Ime das geschenke auff saget, so sol er umbher gehen von einem zu dem andern vnd sol In der verdanken. Art. 107. Das ist der Gruss, wie ein Itzlicher geselle grüssen 4 Davon abweichend die Bestimmung der Tag- bzw. davon abhängigen Arbeitszeiten durch Sonnenaufgang und das Läuten der Glocken (bspw. zur Complet) in Basel, vgl. Fouquet, Bauen für die Stadt, S. 182; zur Bedeutung des Glockenschlags für Pausenzeiten: ebd. S. 265; Glockenschlagen setzt die im Spätmittelalter zunehmende Existenz von Uhr- bzw. Schlagwerken zur allgemeinen und stadtweiten Anzeige von Tageszeiten/Stunden voraus. 5 Artikel 54 der Torgauer oder Rochlitzer Steinmetzordnung von 1462, S. 10. 6 Artikel 62 der Torgauer oder Rochlitzer Steinmetzordnung von 1462, S. 11. 7 Zur Zeitorganisation mittels Glocken, vgl. Dohrn-van Rossum, Uhren, S. 59–77.

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soll, wenn er von ersten zu der Hütte eingehet, so soll er also sprechen: Gott grüsse Euch, Gott weyse euch, gott lone euch, euch Oebermeister erwiderung, Pallirer vnd euch hübschen gesellen, so sol In der meister oder pallirer danken, das er sieht, welcher der oberst ist in der Hütten.8

Dieser Gruß erreichte alle Meister und Gesellen. Doch nur der ranghöchste Meister erwiderte zunächst den Gruß, damit dem Wandergesellen sofort deutlich wurde, wer auf der Baustelle das Sagen hatte. Erst danach durfte der Wandergeselle herumgehen, um sich bei allen Anwesenden für die Aufnahme in die Hüttengemeinschaft zu bedanken. 3. Überlegungen zur Kommunikation

Das Anschlagen, das Ansagen und das Anzeigen hatten verschiedene kommunikative Funktionen. Und es wird zweifellos noch mehr Klänge und Signale gegeben haben, um sich verständlich zu machen oder um Kommandos zu geben. Auf mittelalterlichen Baubetriebsdarstellungen ist oftmals zu sehen, dass Akteure auf verschiedene Weisen miteinander kommunizieren. Blickkontakte, Sprech- und Zeigegesten sowie dirigierende Stöcke lassen sich beobachten. Die Turmbaudarstellung einer französischen Handschrift ist ein anschauliches Beispiel dafür, wie die Höhendimension des Turmbaus nicht nur mit der Form des vielgeschossigen Baukörpers, sondern mithilfe technologischer Prozesse, aber auch mit Kommunikationen als Teil der Handlungen dargestellt wurde.9 Unten beginnt die Szenenfolge mit jenem Steinmetz, der die Werksteine zurichtet. Zwei Helferknechte tragen die Werksteine empor. Der obere Knecht reicht seinen Stein dem Versetzer, der mit seinem Beil den letzten versetzten Stein im Mörtelbett festklopft. Die Arbeit des Versetzens wird anscheinend vom Meister überwacht. Er kontrolliert mit der Setzwaage den Fugenverlauf und gibt Anweisungen, den Turmbau in die Höhe fortzuführen. Mit einer Hand weist er gen Himmel. Dadurch wird das zukünftige Vorhaben als Teil der Gegenwart sichtbar und das Gebäude als noch unvollendetes Projekt dargestellt. Diesem im Zeigegestus angelegten Aufwärtsimpuls setzte der Maler eine Gegenbewegung entgegen: Zum Versetzer rechts oben gehört eine zweite Figur, die Befehle nach unten erteilt, um den kontinuierlichen Materialtransport in Bewegung zu halten. Damit kommt zum Handeln der Menschen auch das Reden, die Kommunikation hinzu, die auf der babylonischen Baustelle nach dem strafenden Handeln Gottes am Ende Opfer der Sprachverwirrung und Grund für die Entzweiung und Verstreuung der Baustellenbelegschaft werden sollte. Diese zyklische Folge von Reden und Handeln

8 Artikel 106 und 107 der Torgauer oder Rochlitzer Steinmetzordnung von 1462, S. 16. 9 Turmbau zu Babel mit Komposition der Aufwärtsbewegung, Französische Historienbibel, 1320–40 John Rylands University, Library Manchester, MS 5, fol. 16r.

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trug zur Dynamik der gesamten Malerei bei und erhielt auch auf der linken Bildhälfte ein Äquivalent. In vielen Darstellungen mühten sich die Bildkünstler, das Handeln und Reden der Menschen abzubilden. Dabei wird deutlich, warum die biblische Parabel der Sprachverwirrung das Symbol des Turmbaus und des Bauhandwerks nutzte. Denn ein Bauwerk ließ sich nur vollbringen, wenn eine architektonische Idee formuliert, ggf. in Plänen abstrahiert und die notwendigen Arbeitsschritte angewiesen wurden. Während Bauherren und Werkmeister maßgeblich für die Entwürfe verantwortlich waren, galten die Parliere als Hauptakteure bei der Vermittlung architektonischer Formen. Sie rissen den Gesellen die Steine auf, verwalteten das Plan- und Schablonenmaterial und gaben entsprechende Anweisungen. Das dafür notwendige Reden spiegelt sich auch in der vom französischen parler abgeleiteten Berufsbezeichnung Parlier wieder. Die Sprache – vermutlich visuell verstärkt durch Gesten, die nicht nur in Bildwerken als Bildmittel eingesetzt, sondern auch auf den Baustellen praktiziert wurden – war die Grundlage des baukünstlerischen Erfolges. Dass gerade beim Bauen von Türmen die großen Höhendistanzen Probleme hinsichtlich der Kommunikation bereiteten, lässt sich gut nachvollziehen. Heute ist es leicht möglich, sich über elektrische oder elektronische Sprachverstärker und -überträger, wie Handys, Funkgeräte, Megaphone oder Signalhörner, über größere Distanzen verständlich zu machen. Wie mit diesem Problem der Distanzüberwindung im Mittelalter umgegangen wurde, erfahren wir durch die Bildquellen nicht. Jedenfalls ist zumindest bei sehr hohen Turmbauten nicht zu vermuten, wie dies häufig in kompositorisch gedrängten Baubetriebsdarstellungen und Turmbaubildern zu sehen ist, dass die Bauleute gegenseitig bloß durch Zuruf Anweisungen und Kommandos weitergaben bzw. erhielten. Mitunter lässt sich bei Baustellen, auf denen bspw. zwei Parliere entlohnt wurden, vermuten, dass sie direkt die Versetzarbeiten anleiteten, womöglich sich zwischen den Orten bewegten und entsprechend verbal die Arbeitsschritte anwiesen und so unmittelbar auf die Prozesse einwirkten. Ein Rechnungseintrag von 1493/94 zur Dresdner Kreuzkirche weist in eine andere Richtung. Damals wurden ii glocklein zcu keffer uf den torm angeschafft.10 Diese beiden kleineren Glocken wurden wohl am zuvor auf dem Turm aufgerichteten Kran befestigt. Vermutlich hing eine Glocke oben am Kran und eine evtl. am unteren Ende des Aufzugs. So hätten die Arbeiter oben und unten möglicherweise auf sich aufmerksam machen können, um den Windeknechten, den Helferknechten die im Tretrad liefen, mit akustischen Signalen Anweisungen zu geben, damit sie vor-, zurück- oder eben gar nicht liefen. Das Problem der Kommunikation war beim vertikalen Transport mit Kränen und anderen Hebezeugen evident und vergrößerte sich mit zunehmender Höhendistanz. 10 Stadtarchiv Dresden Ratsarchiv 2.1 Brückenamts-Rechnungen 1480–1495 A.XVb.21, fol.182v. Allgemeiner Nachweis für die Herstellung und Verbreitung kleiner (?) Glocken als Schmiedeware (nicht Glockengießerprodukt) Fouquet, Bauen für die Stadt, S. 387.

Miszelle: Vom Anschlagen und Ansagen

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Dieser kommunikative Aspekt wird durch einen weiteren Befund bestätigt: Erasmus von Rotterdam (1466–1536) sah in den akustischen Problemen, den zu geringen Reichweiten der Stimmen zur Verständigung auf der gigantischen Turmbaustelle, die Ursache für das Scheitern der Babelidee.11 Zu diesem Problem kam die geringe Hubgeschwindigkeit der Schwerlastkräne. Bei einem fünf Meter großen Rad und einer vergleichsweise großen Übersetzung von 1:8 bedeutete dies für eine Hubhöhe von 60 Metern, dass die Knechte im Tretrad etwa einen halben Kilometer zu laufen hatten und mindestens eine Viertelstunde benötigten, um eine Last emporzuheben. Während sich die Knechte viel bewegten, bewegten sich die Lasten kaum. Dieses beinahe lautlose Laufen eines Knechtes im gut geschmierten Antrieb erschien als Müßiggang, als scheinbar unnützes ‚Sich-im-Kreis-Drehen‘ – ohne deutlich sichtbare oder hörbare Anzeichen, dass Arbeit verrichtet wurde. In der Turmbaudarstellung einer Bibel der Morgan Library in New York symbolisiert dieses Tretrad die Vermessenheit der Bauaufgabe.12 Das Tretrad wurde deshalb kompositorisch aus der Baustelle herausgelöst und seitlich in einem separaten Bildfeld angeordnet. Dort richten sich die strafenden Engel und der Zorn Gottes allein gegen jenen im Rad laufenden Knecht. Inwieweit eine solche negative Konnotation des Tretrades verbreitet war oder sich gar durch metaphorische Deutungen als ‚endlose Höllenqual‘ oder ‚Teufelskreis‘ verstärkte, ist nicht bekannt und auch nicht vordergründiges Thema innerhalb der Bildüberlieferung. 4. Schluss

Hinweise darauf, dass mittelalterliche Zeitgenossen eine negative Sicht auf die Baustellen und ihre Lärmbelästigung hatten, sind nicht bekannt und angesichts des – im Verhältnis zu heutigem Baustellenlärm – mäßigen Lärmpegels nicht bzw. höchstens nur vereinzelt zu erwarten. Dass Arbeit, d. h. auch Arbeitsgeräusche und laute Kommunikation, zur Baustelle gehörten, ist klar. Insofern ist gerade, wie eingangs angedeutet, an Orten mit großen Kathedralen davon auszugehen, dass sich dieser Baustellenlärm unter die vielfältigen Geräusche des städtischen Lebens mischte. Die Frage, ob und inwiefern dieser Klang die Stellung eines Sakralbauwerkes, ggf. sogar deren symbolische Bedeutung und darüber hinaus die Wahrnehmbarkeit und Präsenz des Sakralen mitbestimmt hat, ist schwer zu beantworten und dürfte – so der Fall – an verschiedenen Orten auch unterschiedlich ausgeprägt gewesen sein. Ob und inwieweit Klänge von einer Baustelle also erhöhte Aufmerksamkeit erregten und wie

11 Borst, Turmbau, S. 1088. 12 Vgl. Turmbau zu Babel mit Komposition der Strafe Gottes, in der Crusader Bible, um 1250, Ausschnitt, The Morgan Library, New York, MS M. 638, fol. 3r.

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Stefan Bürger

das Hörbare ins Bewusstsein der Hörenden vordrang und so besonders zur ‚Visibilität‘ eines Kirchenbauwerkes beigetragen haben, muss an dieser Stelle offen bleiben. Quellenverzeichnis Artikel der Torgauer oder Rochlitzer Steinmetzordnung von 1462, aus: Das Brauchtum der Steinmetzen in den spätmittelalterlichen Bauhütten und deren Fortleben und Wandel bis zur heutigen Zeit, hg. von Alfred Schottner, Münster, Hamburg 1994. Stadtarchiv Dresden Ratsarchiv 2.1 Brückenamts-Rechnungen 1480–1495 A.XVb.21, fol. 182v. Eugen Weiss, Steinmetzart und Steinmetzgeist, Jena 1927. Literaturverzeichnis Arno Borst, Der Turmbau zu Babel. Geschichte der Meinungen über den Ursprung und Vielfalt der Sprachen, 4 Bde., Stuttgart 1957. Stefan Bürger, Figurierte Gewölbe zwischen Saale und Neiße. Spätgotische Wölbkunst von 1400 bis 1600, Bd. 1., Diss., Techn. Univ. Dresden, Weimar 2007. Gerhard Dohrn-van Rossum, Uhren, Glocken und Zeitorganisation in der Vormoderne, in: Städtische Repräsentation, hg. von Nils Büttner, Thomas Schilp, Barbara Welzel (= Dortmunder Mittelalterliche Forschungen 5), Bielefeld 2005. Gerhard Fouquet, Bauen für die Stadt – Finanzen, Organisation und Arbeit in kommunalen Baubetrieben des Spätmittelalters – eine vergleichende Studie vornehmlich zwischen den Städten Basel und Marburg, hg. von Peter Johanek (= Städteforschung A/48), Köln, Weimar, Wien 1999. Horst Wenzel, Sehen und Hören, Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter, München 1995.

Danksagung

Am Schluss gilt es, all denjenigen zu danken, die zum Gelingen der Tagung und dem Entstehen des Sammelbandes beigetragen haben. An erster Stelle steht hier das Team der Chemnitzer Professur für die Geschichte Europas im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Um Organisation und Ablauf der Tagung haben sich verdient gemacht: ­Gabriele Wagner, Michelle Mittag, Stefanie Beck, Sandy Altmann, Marco Blüher und Bettina Auschra. Beate Umann wirkte hilfreich bei der Erstellung des Registers mit. Ein herzlicher Dank geht zudem an das Schlossbergmuseum Chemnitz und seinen Leiter, Herrn Uwe Fiedler. Der Renaissance Saal des Museums war nicht nur akustisch ein hervorragender Tagungsort. Für finanzielle Unterstützung danken wir der Philosophischen Fakultät der Technischen Universität Chemnitz sowie der Professur für deutsche Literatur- und Sprachgeschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit der Technischen Universität Chemnitz unter Leitung von Herrn Professor Christoph Fasbender. Für die ehrenvolle Aufnahme des Bandes in die Beihefte zum Archiv für Kultur­ geschichte danken wir Herrn Professor Klaus Herbers (Erlangen), für die sehr harmonische und professionelle Zusammenarbeit bei der Drucklegung Frau Dorothee Rheker-­ Wunsch vom Böhlau-Verlag. Chemnitz, den 16. Juni 2019

Sachregister

Ausrufer, Ausrufung 34, 35, 98, 99, 101, 108, 183, 256 banditore 35, 37 Stadtschreier 36, 37 banditore  siehe Ausrufer, Ausrufung Becken 185 bellen 62, 64, 123, 125, 127, 128 brüllen, Gebrüll 66, 113, 119, 124, 127, 168 Campanile, Glockenturm 235, 237, 238, 239, 243, 245, 246, 247, 258, 272 Cymbel 308 Disharmonie 167, 172 Donner 80, 121, 178, 183, 184, 193, 256 dröhnen 158, 183, 282 Dudelsack 39 Echo 40, 41 Fanfare 39, 185 Flöte 183, 199, 308, 314 Frequenz 147, 148, 279 Gebetsruf 235, 236, 237, 239, 244, 245, 246, 251, 252, 253, 255, 259, 261 Gehör 55, 163, 164, 165, 195, 206, 328 Gehörlosigkeit  siehe Taubheit, Gehörlosigkeit Gelächter 66, 67, 68, 108 Geläut, läuten 12, 83, 87, 88, 89, 97, 98, 99, 100, 237, 238, 239, 240, 241, 242, 243, 244, 245, 246, 247, 250, 253, 254, 256, 259, 273, 274, 275, 276, 277, 278, 279,

280, 281, 282, 283, 284, 292, 293, 301, 313, 328 Ave-Maria-Läuten 87, 241, 256 Einläuten 87 Festgeläut 301 Horengeläut 238 Läuteordnung 87, 88, 242, 293 Pro-Pace-Läuten 87 Sturmgeläut 242 Totengeläut 18, 292 Wetterläuten 237, 256, 293 Geplapper 66, 68 Geräusch 8, 15, 16, 18, 29, 38, 39, 53, 54, 55, 56, 58, 59, 61, 62, 64, 67, 68, 71, 76, 77, 78, 79, 80, 82, 86, 95, 101, 105, 106, 108, 109, 113, 114, 118, 120, 121, 122, 123, 126, 160, 178, 191, 235, 236, 256, 293, 296, 321, 322, 326, 331 Geräuschkulisse 7, 18, 31, 39, 43, 53, 80, 113, 183, 256, 321 Gesang 58, 67, 90, 97, 98, 99, 101, 103, 104, 114, 125, 126, 127, 163, 164, 165, 166, 186, 187, 188, 189, 190, 193, 201, 210, 216, 294, 295, 296, 297, 301, 303, 304, 306, 307, 308, 310, 311, 312, 313 Messgesang 310 Sirenengesang 188, 190 Wechselgesang 296 Geschrei 7, 53, 58, 62, 64, 67, 68, 81, 90, 97, 168, 223, 251, 252, 256 Kriegsgeschrei 223, 225 Schlachtgeschrei 225 Geschwätz 66, 79, 313 Gespräch 60, 62, 79, 145, 162 Getöse 53, 178, 180, 183

336 Glocke 8, 12, 15, 17, 36, 40, 57, 62, 78, 86, 87, 88, 89, 97, 100, 104, 235, 236, 237, 238, 239, 240, 241, 242, 243, 244, 245, 246, 247, 248, 249, 250, 251, 252, 253, 254, 255, 256, 257, 258, 259, 261, 271, 272, 273, 274, 275, 276, 277, 278, 279, 280, 281, 282, 283, 284, 291, 292, 293, 294, 298, 301, 310, 328, 330 Alarmglocke 256, 280 Bannglocke 280 Bierglocke 282 Feuerglocke 280 Gerichtsglocke 281 Glöckchen 237 Glockengießer 238, 244, 330 Glockenguss 279 Glockeninschrift 279 Glockenklang 12, 17, 79, 87, 88, 98, 277 Glockenraub 244, 249 Glockenspiele 237, 242, 284 Glockenzerstörung 244 Glöckner 89, 240, 281, 293 Handglocke 237 Kirchenglocke 57, 67, 236, 238, 241, 256, 271, 291, 328 Kornglocke 282 Marktglocke 282 Mittagsglocke 292 Mitternachtsglocke 282 Notglocke 280 Predigtglocke 292 Ratsglocke 17, 242, 271, 277, 278, 279, 281, 282, 292 Schiffsglocke 328 Schmiedglocke 282 Sturmglocke 17, 275, 276, 279, 280, 281, 292, 301 Uhrenglocke 236, 258, 292 Wachtglocke 282 Weinglocke 241, 282

Sachregister

Werkglocke 282 Glockenturm  siehe Campanile, Glockenturm Hall 138, 142, 145, 148 Harfe 163, 164, 178, 190, 199, 308, 314 Harmonie 164, 172, 188 Hörbarkeit, hörbar 14, 29, 36, 85, 98, 108, 127, 139, 157, 165, 166, 167, 181, 182, 225, 235, 240, 241, 242, 255, 261, 279, 293, 310, 314, 331, 332 hören 9, 11, 13, 14, 37, 41, 43, 55, 57, 58, 59, 61, 66, 76, 77, 78, 96, 97, 101, 102, 104, 109, 113, 138, 157, 158, 160, 161, 164, 169, 170, 177, 179, 186, 188, 189, 191, 193, 238, 240, 241, 246, 250, 251, 283, 312, 321, 324, 332 erhören 222 hinhören 203 Höreindruck 38 Hörerfahrung 13, 31 Hörfreude 105 Hörgemeinschaft 157, 279 Hörgewohnheit 77, 89 Hörraum 75, 84, 85, 86, 87 Hörtechnik 77 Hörweite 272 Hör-Wissen 11, 18, 77, 80, 89 mithören 13, 282 überhören 13, 62, 70, 191, 282 umhören 56 zuhören 13, 138, 140, 191 Hörer, Zuhörer 17, 40, 78, 80, 85, 86, 87, 88, 90, 95, 137, 138, 139, 140, 147, 148, 149, 191, 204, 214, 225, 235, 314, 332 Hörerposition 139, 146, 147, 148, 153 Horn 121, 235, 244, 284, 293, 314 Instrument  siehe Musik/Musikinstrument

Sachregister

Jagd 158, 167, 170, 172 Jagdhorn 100 Jagdhund 127, 167 Kantor 89, 306, 310 Kithara 121 Klang, klingen 7, 8, 9, 12, 13, 15, 16, 17, 18, 19, 20, 22, 23, 29, 36, 41, 49, 54, 55, 56, 57, 58, 59, 61, 66, 67, 75, 76, 77, 78, 79, 80, 82, 85, 86, 88, 93, 94, 97, 98, 99, 101, 102, 104, 105, 106, 108, 109, 110, 113, 114, 121, 128, 135, 157, 163, 164, 165, 168, 169, 170, 171, 174, 175, 176, 178, 179, 184, 186, 187, 188, 190, 191, 193, 195, 196, 200, 203, 206, 207, 211, 213, 215, 219, 221, 225, 227, 228, 229, 235, 236, 237, 239, 240, 245, 256, 258, 259, 266, 269, 271, 272, 278, 288, 289, 290, 291, 293, 301, 302, 308, 309, 312, 313, 314, 321, 324, 325, 326, 329 Glockenklang  siehe Glocke/Glockenklang Klangbild 17, 157, 167, 173, 229, 322, 327 Klangeindruck 171 Klangerzeugung 212, 284 Klangform 17, 211, 212, 218, 220, 225, 230 Klanggemeinschaft 271, 283 Klangholz 253 Klangkonsument 85, 86 Klangkörper 210 Klangkulisse 105, 109, 157, 178, 180, 183, 185, 192, 193, 256, 302, 312, 313, 314 Klangkultur 12, 57, 68 Klanglandschaft 9, 20, 53, 54, 57, 58, 62, 69, 76, 113, 172, 271, 272, 282, 297 Klangnormierung 81 Klangproduzent 78, 82, 86, 89

337 Klangraum 31, 75, 85, 86, 93, 273, 274, 287, 291, 321 Klangregulator 82 Klangregulierung 78, 89 Klangwahrnehmung 8, 66, 77 Klangwelt 16, 96, 97, 98, 99, 100, 104, 105, 108, 109, 235, 301, 302, 303, 308, 312, 313, 314 Klangzeichen 78 Reimklang  siehe Reim/Reimklang Sprachklang 13, 17, 21, 24, 190, 191, 196, 197, 201, 207, 210, 217, 219, 231 Wohlklang 68, 211, 252 Wortklang 210, 215, 225 Klapper 293 klappern 126, 188, 322 klirren 97, 98, 102, 120, 192 Kommunikation 7, 12, 18, 19, 24, 60, 63, 82, 83, 84, 86, 87, 90, 92, 145, 152, 205, 206, 228, 231, 241, 259, 264, 266, 271, 273, 279, 280, 282, 284, 285, 286, 287, 288, 289, 290, 295, 297, 298, 299, 312, 316, 321, 327, 329, 330, 331 Lärm, lärmen 16, 18, 39, 53, 54, 55, 56, 57, 58, 61, 62, 63, 66, 67, 70, 71, 72, 80, 82, 85, 89, 95, 97, 101, 102, 105, 109, 118, 127, 183, 185, 192, 193, 223, 236, 237, 261, 284, 295, 313, 321, 324, 327, 331 Lärmbelastung 321 Lärmempfindlichkeit 16, 62, 63, 69, 70, 71 laut 7, 16, 36, 39, 40, 43, 54, 67, 79, 80, 82, 95, 97, 127, 147, 169, 178, 180, 183, 187, 222, 225, 247, 250, 254, 255, 294, 296, 321, 328, 331 läuten  siehe Geläut lautlos 75, 97, 158, 224, 295, 331 Lautmalerei, lautmalerisch 35, 39, 125, 301

338

Sachregister

Lautsphäre 7, 8, 9, 12, 13, 14, 15, 16, 17, 18, 29, 56, 59, 62, 75, 76, 78, 81, 82, 86, 89, 92, 96, 97, 102, 113, 155, 157, 158, 167, 171, 173, 233, 235, 236, 238, 239, 240, 241, 242, 244, 246, 247, 248, 250, 253, 254, 256, 258, 259, 260, 261, 280, 321 lautstark 39, 251, 328 Lautstärke 8, 54, 67, 79, 95, 107, 145, 147, 279, 321 leise 54, 60, 145, 178, 187, 218, 247, 295 Lied 13, 17, 18, 41, 125, 173, 188, 199, 200, 201, 202, 203, 204, 205, 206, 207, 210, 211, 212, 213, 214, 215, 216, 217, 218, 219, 220, 221, 222, 223, 224, 225, 226, 227, 228, 229, 230, 231, 251, 296, 297, 299, 312, 313, 318, 324

Ohr 62, 71, 92, 94, 97, 139, 163, 165, 166, 219, 222, 224, 225, 251, 252, 254, 256, 321 Ohrenzeuge 59, 77 oratorisch 34, 35, 36, 145, 153 Orgel 75, 296, 297, 308 Orgelmusik 148

Muezzin 17, 237, 239, 244, 245, 246, 247, 250, 251, 252, 253, 255, 256, 257, 258, 261, 269 Musik, musikalisch 10, 14, 17, 19, 20, 21, 22, 23, 24, 25, 29, 31, 33, 34, 35, 38, 39, 40, 41, 42, 43, 47, 48, 51, 56, 67, 77, 93, 97, 103, 104, 105, 110, 113, 114, 125, 133, 138, 148, 163, 164, 165, 166, 174, 175, 179, 185, 190, 196, 199, 200, 201, 204, 206, 227, 228, 229, 235, 236, 272, 287, 288, 290, 294, 298, 293, 299, 302, 303, 306, 308, 309, 310, 311, 312, 313, 314, 316, 317, 318, 319 Musikant 24, 78, 185 Musiker 14, 24, 34, 35, 39, 47, 163, 294, 307, 308, 309, 314, 319 Musikinstrument/Instrument 35, 36, 58, 78, 104, 110, 121, 163, 175, 178, 180, 190, 193, 197, 199, 235, 237, 245, 296, 308

rattern 157, 321, 322, 327 rauschen 53, 83, 98, 121, 160, 178 Raute 178, 190 Rede 16, 58, 67, 75, 79, 99, 106, 121, 126, 137, 138, 139, 141, 142, 143, 144, 145, 146, 148, 149, 152, 153, 162, 163, 164, 181, 213, 224, 228, 236, 322, 329, 330 Reichweite 8, 36, 79, 235, 237, 238, 240, 257, 292, 331 Reim 191, 202, 203, 204, 213, 216, 217, 218, 219 Binnenreim 213, 216 Endreim 210, 216 Inreim 216, 217, 219 Mittenreim 216 Reimhäufung 216, 217 Reimklang 202, 203, 216, 217, 218 Reimkunst 17, 202, 203 Reimreihe 217 Reimwort 202, 210, 216, 217 Schlagreim 202, 203, 204, 212, 213 Rhythmus 164, 180, 191, 196, 216, 217, 238, 312 Rhythmisierung 272

Nachhall 139, 143, 145, 149 Nachhalleffekt 137, 138, 142, 147 Nachhallzeit 138, 145, 148

Pauke 83, 314 Pauker 39, 40 Pfeife 75, 83, 125, 192, 256, 284, 296, 308, 313, 327 Pfeifer 33, 34, 35, 39, 40, 47, 49, 294 Posaune 178 Psychoakustik, psychoakustisch 54, 55, 59, 75, 86

Sachregister

Ruf, rufen 17, 35, 39, 40, 66, 87, 98, 99, 102, 106, 125, 181, 191, 192, 204, 222, 235, 236, 237, 238, 239, 241, 243, 244, 245, 246, 247, 251, 252, 253, 254, 255, 256, 258, 259, 261, 264, 271, 274, 277, 284, 293, 294, 306, 311 anrufen 88, 162, 166, 255 aufrufen 11, 178, 237, 242 ausrufen 29, 34, 35, 99, 101, 108, 183, 235, 245 Kampfruf 192 Schlachtruf 40, 41 zurufen 18, 192, 330 zusammenrufen 87, 98, 106, 238, 241, 251, 254, 275 Ruhe 16, 63, 64, 172, 257, 258, 276, 328 Arbeitsruhe 302, 313 Ruhelosigkeit 64 Ruhestörung 81, 236 Sänger 39, 89, 127, 163, 199, 201, 204, 211, 213, 223, 224, 225, 308, 310 Chorsänger 305 Minnesänger 17, 210, 211, 217, 223, 225 Schall, erschallen 8, 40, 58, 67, 79, 145, 146, 147, 157, 163, 167, 168, 169, 182, 183, 184, 192, 221, 223, 224, 253, 271, 274, 308, 314, 324, 325 Schalldruckpegel 147, 148, 150 Schallereignis 16, 56, 70, 75, 77, 147 Schallintensität 77, 83 Schallkontext 78 Schallquelle 78, 235, 245 Schallraum 238 Schallreflexion 145 Schallwelle 53, 193, 235 Schallholz 246 Schalmei 39, 178 Schelle 185, 237, 241, 294 Schlagbrett 237, 247

339 Schlageisen 328 Schlagholz 237, 244, 245, 328 Schrei, schreien 40, 41, 60, 66, 68, 70, 102, 108, 124, 128, 147, 188, 204, 222, 224, 252, 313 Schmerzensschrei 224 schweigen 8, 36, 68, 70, 224, 242, 243, 248, 279, 294, 295, 313, 314 Seufzer, seufzen 97, 98, 105, 106, 108, 109, 162, 163, 169, 170 Signal 17, 33, 34, 36, 37, 60, 86, 87, 89, 157, 192, 193, 235, 236, 239, 242, 243, 252, 256, 258, 261, 271, 272, 276, 277, 281, 282, 283, 292, 293, 301, 321, 327, 329, 330 Glockensignal 88, 89, 90, 237, 239, 240, 242 Gottesdienstsignal 256 Klangsignal 33, 282 Signalcharakter 17, 61 Signalgeber 17, 87, 301, 309, 310 Signalhorn 330 Signalinstrument 237, 280 Signallaut 17, 98, 104 Signalregime 31, 34, 43 Signalsetzung 18 Signalstafette 37 Sprachsignal 147 Startsignal 15, 36 Uhrzeitsignal 256, 258 Warnsignal 81 Wecksignal 237 singen 75, 97, 104, 127, 187, 204, 207, 209, 216, 221, 222, 223, 224, 225, 303, 306, 307, 312, 313, 324 Sound 7, 8, 9, 11, 13, 14, 15, 16, 18, 29, 31, 36, 55, 56, 76, 77, 78, 80, 82, 85, 113, 123, 157, 291, 311 Soundscape 7, 9, 29, 30, 33, 40, 43, 56, 62, 76, 78, 80, 87, 236, 272, 274, 301, 302

340

Sachregister

Sprecher, sprechen 15, 106, 108, 124, 127, 141, 142, 143, 145, 147, 163, 200, 206, 210, 211, 213, 214, 215, 216, 217, 218, 219, 222, 223, 224, 225, 260, 282, 297, 329 Stadtschreier  siehe Ausrufer, Ausrufung Stille, still 8, 53, 55, 59, 64, 65, 84, 97, 162, 167, 224, 225, 236, 237, 291, 292, 294, 295, 297, 312, 313 Stimme 24, 39, 66, 67, 68, 98, 104, 105, 106, 107, 125, 126, 128, 137, 147, 160, 162, 163, 164, 165, 166, 167, 168, 169, 170, 171, 172, 180, 187, 188, 189, 190, 191, 193, 204, 206, 216, 236, 244, 247, 251, 252, 255, 296, 312, 331 Grabesstimme 105, 106 Tierstimme 16, 113, 122, 126

Glockenton 78, 235, 236, 242 Grundton 98 Signalton 98 Tonaufzeichnung 75 Tonfall 107, 109 Tonhöhe 188, 279 Tonlage 109, 291 Unterton 109 Trommel 178, 256, 308 Trompete, Trompeter 33, 34, 36, 37, 39, 40, 103, 104, 121, 235, 256, 284, 293, 294, 309 Türklopfer 328

Taubheit, Gehörlosigkeit 58, 62, 63, 70, 71 Ton, tönen 76, 79, 98, 119, 171, 178, 180, 183, 187, 188, 189, 199, 216, 235, 236, 237, 249, 251, 252, 253, 261

Zimbel 314 Zither 190, 314

Unruhe 63, 64, 66, 67, 69 verklingen 8, 31, 75, 78, 80, 272, 273