Lateinamerika Jahrbuch 2002 9783964562890

Beiträge zu Themen wie Verstädterung, politische Institutionen, Staatsbürokratie, Technologie sowie Mikrofinanzierung. A

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Lateinamerika Jahrbuch 2002
 9783964562890

Table of contents :
INHALT
Teil I: Aufsätze
Jüngere Tendenzen der Verstädterung in Lateinamerika
Politische Institutionen und Regierbarkeit in Lateinamerika. Empirische Untersuchung zur Politisierung der Verwaltung am Beispiel der argentinischen Staatsbürokratie
Technologie und Innovation - Verpasst Lateinamerika den Anschluss an die Wissensgesellschaft?
Mitfinanzierung in Lateinamerika: Ein wirksames Instrument der Armutsbekämpfung und Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung? Entwicklungsgeschichte, Status Quo, Stand und Perspektiven der Mikrofinanzierung in Lateinamerika
Teil II: Entwicklungen in Ländern und Regionen
Cono Sur
Brasilien
Andenregion
Mexiko
Zentralamerika
Karibischer Raum
Lateinamerika allgemein

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Lateinamerika Jahrbuch 2002

Institut für Iberoamerika-Kunde - Hamburg Lateinamerika Jahrbuch • Band 11

Institut für Iberoamerika-Kunde • Hamburg

LATEINAMERIKA JAHRBUCH 2002 Herausgegeben von Klaus Bodemer, Detlef Nolte und Hartmut Sangmeister

Vervuert Verlag • Frankfurt am Main 2002

Institut für Iberoamerika-Kunde • Hamburg Ä , I I K EBB Verbund Stiftung Deutsches Übersee-Institut

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Lateinamerika Jahrbuch ... / Institut für Iberoamerika-Kunde, Hamburg.- Frankfurt am Main: Vervuert Erscheint jahrlich. - Aufnahme nach 1992 ISSN 0943-0318 1992-

© Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 2002 Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Konstantin Buchholz Gedruckt auf säure- und chlorfreiem, alterungsbeständigem Papier Printed in Germany ISBN 3-89354-430-5

INHALT Seiten

Teil I: Aufsätze Martin Coy Jüngere Tendenzen der Verstädterung in Lateinamerika Agustín E. Ferraro Politische Institutionen und Regierbarkeit in Lateinamerika. Empirische Untersuchung zur Politisierung der Verwaltung am Beispiel der argentinischen Staatsbürokratie

9

43 Andreas Stamm Technologie und Innovation - Verpasst Lateinamerika den Anschluss an die Wissensgesellschaft? Rochus Mommartz Mitfinanzierung in Lateinamerika: Ein wirksames Instrument der Armutsbekämpfung und Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung? Entwicklungsgeschichte, Status Quo, Stand und Perspektiven der Mikrofinanzierung in Lateinamerika

67

89

Teil II: Entwicklungen in Ländern und Regionen Basisdaten - Kennziffern - Chronologien 2001 ConoSur

108

Mercosur Argentinien Chile Paraguay Uruguay

109 117 135 149 157

Brasilien

168

Andenregion

180

Bolivien Ekuador Kolumbien Peru Venezuela

181 189 197 207 217

Mexiko

230

Zentralamerika

246

Costa Rica El Salvador Guatemala Honduras Nikaragua Panama

247 253 259 269 277 285

Karibischer Raum

292

Dominikanische Republik Haiti Kuba

293 297 305

Kennziffern zu den Klein- und Kleinststaaten im Karibischen Raum

315

Lateinamerika allgemein

329

Kennziffern zur demographischen, sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung Gesamtwirtschaftliche Eckdaten 2001 Außenwirtschaftliche Eckdaten 2001

329 332 333

Technische Erläuterungen zu der Datenbank I B E R O S T A T

334

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter

338

Teil I

Coy: Jüngere Tendenzen der Verstädterung

Martin Coy

Jüngere Tendenzen der Verstädterung in Lateinamerika 1.

Der lateinamerikanische Verstädterungsprozess in quantitativer Hinsicht

Unter den Großregionen der so genannten Dritten Welt ist bekanntermaßen Lateinamerika mit Abstand diejenige, die am weitesten im Verstädterungsprozess vorangeschritten ist. Insgesamt leben heute bereits 75,3% aller Lateinamerikaner in Städten, in Asien sind es dagegen lediglich 36,7% und in Afrika 37,9%. Für Europa und Nordamerika werden Werte von 74,8% bzw. 77,2% angegeben (alle Daten für 2000 nach UNCHS 2001: 271 ff.). Verstädterungsgrade von 89,9% für Argentinien, 85,7% für Chile bzw. 86,9% für Venezuela (vgl. auch Abb. 1) gehören sogar zu den weltweit höchsten Verstädterungsgraden für Flächenstaaten überhaupt. Dabei lassen sich die lateinamerikanischen Länder deutlich in drei unterschiedliche Gruppen einteilen. Seit jeher weisen die Cono-Sur-Länder sowie Venezuela die höchsten Verstädterungsgrade auf. Insbesondere in den Ländern des südlichen Südamerika hängen die hohen Verstädterungsgrade mit dem vergleichsweise frühen Einsetzen des Industrialisierungsprozesses zusammen. Länder wie Brasilien und Mexiko, die flächengrößten und bevölkerungsstärksten des Subkontinents, folgten über viele Jahrzehnte erst mit deutlichem Abstand. Inzwischen leben allerdings auch in Brasilien über vier Fünftel der mehr als 160 Millionen Einwohner in den Städten. In der Gruppe der Länder mit mittleren Verstädterungsgraden finden sich neben Mexiko insbesondere die größeren Andenstaaten. Die Gruppe der Länder mit den geringsten Verstädterungsgraden bilden Paraguay, Bolivien, Ekuador sowie der Großteil der mittelamerikanischen und karibischen Staaten (vgl. Abb. 1).

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Lateinamerika Jahrbuch 2002

Abbildung 1: Verstädterung in Lateinamerika

Verstädterungsgrad 2000 0 - 5 0 %

50-60% 60 - 70 % 70 - 80 % 80 - >90 %

Jährliche Verstädterungsrate in %

M

üv 1

" -0.5

I

1970-1975

II

1980-1985

III 1 9 9 0 - 1 9 9 5 VI 2 0 0 0 - 2 0 0 5

Oatengrundlage. UN HABITAT 2000 Entwurf: Marlin Coy 2002 Zeichnung: Simona S c h n e i d »

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Coy: Jüngere Tendenzen der Verstädterung

Betrachtet man die Entwicklung der jährlichen Zuwachsraten der städtischen Bevölkerung, so lassen sich während der letzten 30 Jahre deutliche Trends erkennen (vgl. Abb. 1). In den meisten Ländern, insbesondere in denen, die bereits einen hohen Verstädterungsgrad aufweisen, nehmen die jährlichen Wachstumsraten kontinuierlich ab (z.B. Brasilien, Argentinien, aber auch Mexiko, Kolumbien, Peru); für Chile wird in den kommenden Jahren sogar eine negative Entwicklung prognostiziert. In den Ländern mit geringeren Verstädterungsgraden setzt die Umkehr zu einem prozentual geringeren Stadtwachstum später (zumeist in den 80er Jahren) ein, die jährlichen Zuwachsraten verbleiben trotz ihrer Abnahme im Vergleich zu den stark verstädterten Ländern nach wie vor auf einem relativ hohen Niveau (Beispiele hierfür sind Paraguay, Bolivien, Ekuador). Nur in einigen zentralamerikanischen Ländern lässt sich der beschriebene Prozess des prozentualen Rückgangs des städtischen Bevölkerungswachstums noch nicht eindeutig ablesen. Nach Schätzungen der Siedlungsorganisation der Vereinten Nationen (UNCHS) wird sich trotz der im Vergleich zu Afrika und Asien erheblich geringeren jährlichen Zuwachsraten auch in Lateinamerika in den kommenden 30 Jahren die Zahl der Stadtbewohner von ca. 391 Millionen im Jahr 2000 auf ca. 604 Millionen im Jahr 2030 (dann einem Verstädterungsgrad von 83,2% entsprechend) nochmals deutlich erhöhen (im Vergleich hierzu geht man davon aus, dass die Zahl der in Städten lebenden Europäer in den kommenden 30 Jahren nur unwesentlich von heute ca. 545 Millionen auf dann ca. 570 Millionen ansteigen wird) (vgl. UNCHS 2001: 271 ff.). Die Stadtfrage wird also in Lateinamerika auch in den kommenden Jahren trotz der rückläufigen Zuwachsraten wenig von ihrer aktuellen Brisanz verlieren. Für die Struktur des lateinamerikanischen Verstädterungsprozesses ist die große Bedeutung der Metropolisierung von jeher besonders charakteristisch (zur Definition vgl. Bronger 1996). Das Metropolenwachstum hat nicht zuletzt dazu geführt, dass in Lateinamerika heute mit Säo Paulo, Mexiko-Stadt, Buenos Aires und Rio de Janeiro vier Megastädte (nach UN-Terminologie Städte über 8 Millionen Einwohner) liegen, wobei Säo Paulo und Mexiko-Stadt mit deutlichem Abstand zu den übrigen lateinamerikanischen Metropolen in die Gruppe der größten Urbanen Agglomerationen der Erde zählen. Nicht nur große Teile der gesamten Stadtbevölkerung des jeweiligen Landes, sondern auch ein Großteil der Wirtschaftskraft, der kulturellen Einrichtungen sowie der politischen und ökonomischen Steuerungsfunktionen konzentrieren sich in zahlreichen lateinamerikanischen Staaten von jeher in nur einer oder doch nur in wenigen Städten. Länder, die als Musterbeispiele für solche extrem konzentrierten Primatstadtstrukturen gelten können, sind beispielsweise Uruguay, Chile, Peru, Argentinien sowie eine Reihe kleinerer Länder, wie beispielsweise Panama, Surinam und Guayana. Venezuela und Brasilien, aber auch Kolumbien oder Mexiko kennzeichnen dagegen ausgewogenere Strukturen (vgl. Bähr 1997: 83).

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Lateinamerika Jahrbuch 2002

Abbildung 2: Bevölkerungsentwicklung in den größten Metropolitanregionen in Lateinamerika, 1975-2000

Während der letzten 25 Jahre wies das Metropolenwachstum in den verschiedenen lateinamerikanischen Ländern allerdings deutliche Unterschiede auf (vgl. Abb. 2). Insbesondere die Metropolitanräume in den hochverstädterten Ländern wie beispielsweise Buenos Aires, Santiago de Chile, Caracas, aber auch Rio de Janeiro, haben deutlich an Wachstumsdynamik verloren. Die Metropolitanregionen in den Andenländern sowie in Zentralamerika und der Karibik - also den Ländern mit mittleren Verstädterungsgraden - wuchsen demgegenüber auch in den letzten 25 Jahren weiterhin stark an. Im Vergleich der beiden größten Megastädte Mexiko-Stadt und Säo Paulo ist es die brasilianische Wirtschaftsmetropole bzw. ihre Metropolitanregion, die in den letzten Jahren den dynamischeren Wachstumsprozess durchlaufen hat (siehe unten). Bis 2015 soll die Metropolitanregion von Säo Paulo nach UN-Angaben sogar die Schwelle von 20 Millionen Einwohnern noch überschreiten, Mexiko-Stadt wird allerdings nur knapp darunter bleiben (vgl. U N C H S 2001: 304 f.).

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Coy: Jüngere Tendenzen der Verstädterung

2.

Probleme des städtischen Wandels in Lateinamerika: Ein Überblick

Neben den beschriebenen quantitativen Aspekten des lateinamerikanischen Verstädterungsprozesses sind insbesondere seine qualitativen, innerstädtischen Implikationen von Bedeutung. Denn obwohl sich der Verstädterungsprozess insgesamt offensichtlich verlangsamt hat, tragen die nach wie vor unkontrolliert verlaufenden Wachstumsprozesse - gepaart mit ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen im Zeichen des Neoliberalismus - zu einer weiteren Verschärfung der Fragmentierung der städtischen Gesellschaft sowie der räumlichen Stadtstrukturen bei (siehe Abb. 3; zu den räumlichen Prozessen in lateinamerikanischen Großstädten insgesamt vgl. Bähr/Mertins 1995; Gilbert 1998). Die sich verstärkenden sozialen Disparitäten in der städtischen Gesellschaft zeigen sich sowohl in den Metropolen als auch in den Mittelstädten in der immer deutlicheren sozialräumlichen Segregation zwischen Oberschicht- und Unterschichtvierteln. Denn die Städte sind einerseits die Orte, in denen sich die Reichen und Erfolgreichen mit Hochhausquartieren, abgeschlossenen Wohnsiedlungen und Shopping Centers ihre eigenen Aktionsund Repräsentationsräume schaffen. Auf der anderen Seite werden immer größere Bereiche an den Stadträndern oder auf marginalen Flächen ebenso wie Teilgebiete der Stadtzentren zu Überlebensräumen der Armen. Da viele lateinamerikanische Länder seit jeher zu den Gebieten der Erde mit den extremsten Einkommensunterschieden gehören, und sich diese Unterschiede in den letzten Jahren eher noch zugespitzt haben (vgl. UNHCS 2001: 18), erreichen gesellschaftliche und stadträumliche Fragmentierung hier auch besonders krasse Ausmaße. Nach Angaben der Weltbank belief sich für das Jahr 1998 der Anteil der Armen an der gesamten lateinamerikanischen Bevölkerung unter Zugrundelegung der Armutsgrenze eines verfügbaren Tageseinkommens von unter einem US-Dollar auf schätzungsweise 16%, wobei die Mehrzahl dieser 78 Millionen Menschen in den Städten lebt (zit. nach UNHCS 2001: 15). Dieser Wert kann jedoch nicht einmal annähernd Auskunft über das tatsächliche Ausmaß der städtischen Armut geben, zumal gerade in den Städten die Kosten der Existenzsicherung vergleichsweise hoch sind, und somit auch Menschen mit einem höheren täglichen Einkommen zu den städtischen Armutsgruppen zu rechnen sind. Ein großer Teil der Bewohner lateinamerikanischer Städte lebt heute in Marginalvierteln, wobei Werte von bis zu 50% und mehr als realistisch anzusehen sind (vgl. Bähr/Mertins 2000). Oftmals sind dies Landbesetzungen, die ihren Bewohnern keine gesicherten Wohnrechte bieten und in denen es entweder überhaupt keine oder allenfalls höchst prekäre Infrastrukturen gibt. Das bei der Weltsiedlungskonferenz Habitat II in Istanbul im Jahr 1996 eingeforderte „Recht auf Wohnen" muss demnach auch in Lateinamerika für einen großen Prozentsatz der Stadtbewohner nach wie vor als nicht eingelöst gelten. Arbeit und ein geringes Einkommen bietet häufig nur der informelle Sektor. So

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beziffern Bähr und Mertins (2000: 19) den Anteil der im informellen Sektor arbeitenden Bewohner der Marginalviertel weltweit auf 60% bis 75%. Insgesamt ist ein Großteil der städtischen Bevölkerung Lateinamerikas nach wie vor nicht in der Lage, die elementarsten Grundbedürfnisse zu befriedigen. Nachdem sich das Metropolenwachstum in den letzten Jahren relativ verlangsamt hat, wachsen heute in den meisten lateinamerikanischen Ländern kleinere und mittlere Städte - sowohl in der Nähe der Metropolen als auch an peripheren Regionen - besonders rasch an. Die aus den Metropolen bekannten Probleme, wie unkontrolliertes Stadtwachstum, fehlender Wohnraum, städtische Armut, Marginalisierung, Expansion des informellen Sektors, Kriminalität und städtische Umweltprobleme, reproduzieren sich nun auch zunehmend in diesen kleineren und mittleren Städten. Stadtverwaltungen und Planungsinstitutionen werden von dieser explosionsartigen Entwicklung meist völlig überrollt, zumal ihre Handlungsspielräume in Zeiten neoliberaler Politik zunehmend beschränkt sind (vgl. am Beispiel von Städten in der brasilianischen Peripherie Coy 1997, 1999). Zusätzlich stehen aktueller Strukturwandel und Entwicklungsperspektiven auch der lateinamerikanischen Metropolitanräume zunehmend im Zeichen der Globalisierung und ihrer Auswirkungen auf städtische Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur. Vor allem Säo Paulo, aber auch Mexiko-Stadt werden bereits in den unterschiedlichen „Listen" der global cities als übergeordnete Steuerungszentralen von großregionaler Bedeutung geführt. Die Auswirkungen von Privatisierung, Deregulierung und Flexibilisierung auf die wirtschaftliche und soziale Struktur lassen sich auch in den lateinamerikanischen Metropolitanräumen erkennen (vgl. Sassen 1996: 50 ff.). Schließlich hat die Globalisierung der Lebensstile Auswirkungen auf die Homogenisierung der gebauten Umwelt in der Stadt, auf städtische Konsummuster (z.B. Bedeutung der Shopping Centers) und Wohnformen (Tendenzen des „Einbunkerns" der städtischen Oberschichten in geschlossenen, bewachten Wohnvierteln und Appartementhäusern) (siehe hierzu z.B. Frùgoli 1995). Insgesamt ist die zunehmende Fragmentierung der Städte zwischen Zitadellenbildung und Ghettoisierung als grundlegendes Charakteristikum der lateinamerikanischen Stadtentwicklung der letzten Jahre auch unter den Vorzeichen der Globalisierung herauszustellen (zur aktuellen Bedeutung des Begriffs „Fragmentierung" und zu seiner theoretischen Fundierung vgl. Scholz 2000). Wie sich diese Rahmenbedingungen und Prozesse im strukturellen Wandel einzelner Städte nachvollziehen lassen, soll nachfolgend an den Beispielen Säo Paulo und Buenos Aires aufgezeigt werden.

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Coy: Jüngere Tendenzen der Verstädterung

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Lateinamerika Jahrbuch 2002

3.

Eine lateinamerikanische Megastadt im Wandel: Das Beispiel Säo Paulo

Der Aufstieg Säo Paulos zur inzwischen — vor Mexiko-Stadt - größten Megastadt Lateinamerikas und zum wichtigsten Wirtschafts- und Finanzzentrum des Kontinents vollzog sich im Wesentlichen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Nachdem die Stadt erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts die 100.000-Einwohner-Schwelle überschritten hatte und in den 30er Jahren zur Millionen-Metropole heranwuchs, brachte vor allem die im Rahmen des assoziativ-kapitalistischen Modells der 50er bis 70er Jahre auf der Förderung der Industrie basierende Entwicklung den entscheidenden Wachstumsschub. Vor allem in den an die Kernstadt angrenzenden Kommunen des Metropolitanraums bildeten sich große industrielle Standortagglomerationen heraus. Beispielsweise entwickelten sich die Gemeinden des ABC Paulista (Santo André, Säo Bernardo do Campo und Säo Caetano do Sul) mit den Produktionsstätten zahlreicher ausländischer Konzerne (z.B. VW) zu einem der bedeutendsten Standorte des Automobilsektors und der metallverarbeitenden Industrie - nicht nur des Landes, sondern auch des gesamten Kontinents. Die Präsenz ausländischen Kapitals prägt den Wirtschaftsstandort Säo Paulo in besonderer Weise. So gilt die Region beispielsweise als weltweit größte Agglomeration deutscher Industriefirmen außerhalb Deutschlands. Während die wichtigsten Industriestandorte im suburbanen Raum der Metropolitanregion liegen, konzentrieren sich im erweiterten Zentrum der Kernstadt zunehmend die Standorte von Zentralen und Niederlassungen zahlreicher in- und ausländischer Unternehmen des Industrie-, Dienstleistungs- und Finanzsektors. 35 der 100 größten brasilianischen Unternehmen und 45 der 100 größten Banken des Landes hatten 1998 ihren Sitz in Säo Paulo. Ebenso befanden sich die Zentralen von 54 der 100 größten, in Brasilien vertretenen ausländischen Unternehmen 1998 in der Stadt, und 94 von 100 ausländischen Banken unterhielten hier ihre brasilianischen Niederlassungen (vgl. Iglecias 2000). Diese wenigen Daten unterstreichen nicht nur die Bedeutung von Säo Paulo als „Lokomotive" der brasilianischen Wirtschaft, sondern weisen auch auf ihre Funktion als „regionale Steuerungszentrale" im Zuge zunehmender globaler Verflechtungen hin. Die dynamische Wirtschaftsentwicklung im Großraum Säo Paulo ist der entscheidende Grund für die große Attraktivität, die die Metropole seit der Mitte des 20. Jahrhunderts auf Zuwanderer aus allen Landesteilen, insbesondere aus dem brasilianischen Nordosten, ausübt. Zwischen 1960 und 2000 hat sich die Bevölkerung der Metropolitanregion von knapp fünf Millionen auf fast 18 Millionen mehr als verdreifacht. Dabei fand das rascheste Wachstum in den 60er und 70er Jahren statt, um sich dann ab den 80er Jahren wieder zu verlangsamen. Ergebnis dieses außerordentlichen Wachstumsprozesses ist eine hinsichtlich ihrer sozioökonomischen und räumlichen Entwicklungsdynamik sowie hinsichtlich ihrer Strukturen und alltagsweltlichen Lebensbedingungen fragmentierte Metropolitanregion (vgl. Santos 1990, Villaga 1998).

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Coy: Jüngere Tendenzen der Verstädterung

Abbildung 4: Bevölkerungsentwicklung in der Metropolitanregion Säo Paulo nach Munizipien, 1960-2000

-Francisco Santa Isabel

Mairiporä ; aja mar Caieiraj Gyarulhos

ìanlana de Parnaiba

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Bevölkerungentwicklung ohne Munizip Säo Paulo

Bernaroj

Juquitiba Bevölkerungsdichte 2000 (in E i n w . / q m )

O ba ' 100 O 101-1.000 ö 1001-5,000 ¡¿J 5.001-10.000 • Ober 10.001

Datengrundlage: IBGE 2001

Entwurf: M. Coy Zeichnung: M. Pöhler

Vom Bevölkerungswachstum waren die Munizipien des Metropolitanraums überproportional betroffen (vgl. Abb. 4). Während die Kernstadt 1960 noch 77% der Bevölkerung der Gesamtagglomeration stellte, ging dieser Anteil bis zum Jahr 2000 auf 59% zurück. Von starkem Wachstum sind in den letzten Jahren vor allem die östlich-nordöstlichen Gebiete der Agglomeration geprägt, zum Beispiel Guarulhos, dessen Bevölkerung sich seit 1960 verzehnfachte und das inzwischen die zweitgrößte Stadt des Metropolitanraums ist. Eine weitere Wachstumsregion liegt im Westen der Agglomeration. Neben dem der Kernstadt benachbarten Osasco weisen hier einige kleinere Munizipien (z.B. Barueri, Taboäo da Serra, Santana de Parnaiba) erst in den letzten Jahren ein besonders dynamisches Wachstum auf. Gründe hierfür dürften einerseits die Ansiedlung von Dienstleistungsfirmen (teilweise Verlagerungen aus der Kernstadt) in Standortagglomerationen entlang der grollen Ausfallstraßen (Rodovia Castello Branco) sein sowie andererseits die Entstehung von randstädtischen Wohnvierteln der Bessergestellten, teilweise in Form hochgesicherter condominios fechados (vgl. am Beispiel Alphaville Coy/Pöhler 2001).

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Lateinamerika Jahrbuch 2002

Parallel zu den veränderten Bevölkerungswachstumsmustern sind erhebliche Wandlungen im industriellen Sektor zu konstatieren. Insgesamt hat sich der prozentuale Beitrag der in der Metropolitanregion von Säo Paulo lokalisierten Industrie zur industriellen Wertschöpfung Brasiliens von 44% im Jahr 1970 auf nur noch 25% 1996 deutlich verringert (vgl. Diniz 2000: 43). Dies liegt einerseits an der vergleichsweise dynamischeren Industrieentwicklung anderer Regionen (so im Hinterland von Säo Paulo, im Süden des Landes sowie partiell im Nordosten), andererseits aber am erheblichen Deindustrialisierungsprozess in der Region Säo Paulo selbst. So sollen allein zwischen 1986 und 1996 in der Metropolitanregion ca. 680.000 Industriearbeitsplätze verloren gegangen sein (Diniz 2000: 43). Diese Verluste werden vom Zuwachs im tertiären Sektor, der für den Zeitraum 1986 bis 1996 mit ca. 420.000 Arbeitsplätzen beziffert wird, allerdings nicht aufgefangen. Hieraus lässt sich - beispielhaft auch für andere lateinamerikanische Metropolitanregionen - eine zunehmende Verschärfung der Situation auf dem formellen Arbeitsmarkt, insbesondere für gering qualifizierte Arbeitskräfte, ableiten. Ganz anders als in den durchweg wachsenden suburbanen Munizipien sieht die Bevölkerungsentwicklung in Säo Paulo selbst aus (vgl. Abb. 5). Zwar hat sich auch die Einwohnerzahl der Kernstadt von 1960 bis 2000 fast verdreifacht, trotzdem sind in den letzten Jahren immer mehr Menschen aus der Stadt abgewandert. Allein zwischen 1991 und 1996 waren es 514.000 Bewohner und damit im Jahresdurchschnitt ungefähr 50% mehr als noch in den 80er Jahren. Die Gesamtbevölkerung der Stadt hat nur deshalb nicht abgenommen, weil die Wanderungsverluste durch den natürlichen Bevölkerungszuwachs ausgeglichen werden (vgl. Bögus/Taschner 1998). Dabei sind innerhalb der Stadt deutliche Zentrum-Peripherie-Unterschiede der Bevölkerungsentwicklung festzustellen (vgl. Abb. 5). Insbesondere die zentrumsnahen Stadtviertel haben starke Bevölkerungsverluste hinnehmen müssen. So hat sich beispielsweise die Wohnbevölkerung im Zentrum (Administrativregion Se) in dem relativ kurzen Zeitraum von 1980 bis 2000 fast halbiert. Ebenso sind die Einwohnerzahlen sowohl in den bessergestellten zentrumsnahen Quartieren im Westen (Pinheiros) als auch in den einfacheren Quartieren im Osten des Zentrums (z.B. Moöca) deutlich zurückgegangen. Einen Zuwachs verzeichneten dagegen die zentrumsferneren Viertel im Nordosten, Osten und Südwesten. Die gegenläufigen Trends der Bevölkerungsentwicklung zwischen zentrumsnahen und peripheren Quartieren innerhalb der Kernstadt hängen im Wesentlichen mit zwei Ursachenkomplexen zusammen: Hohe Baudichte, Konzentration von Einzelhandels- und Bürofunktion sowie damit einhergehende extreme Verkehrsbelastung im engeren und erweiterten Zentrum sind mit der Verdrängung der Wohnfunktion verbunden. Wohnraum wird in Büroraum umgewandelt oder durch diesen ersetzt, und diejenigen, die es sich leisten können, ziehen in zentrumsfernere Gebiete mit höherer Wohnumfeldqualität. Hiervon profitieren die randlichen, weniger dicht bebauten Areale.

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Coy: Jüngere Tendenzen der Verstädterung

Abbildung 5: Bevölkerungsentwicklung im Munizip Säo Paulo nach Administrativregionen, 1980-2000

/Jaganä/ Trememb'é

Perus

PpHra IGasaTSantana Berdel .Vi SJm r Vil^Guiltieriro!

Pirituba

Moocäi

'inheirosj Butantä Vila Mariana!

¿mrängai

Campo Lirnpo

Santo Amaro

Capela do Socorro

Datengrundlage: EMPLASA 2001

Ibrmelinol [fClitaràzzo]

[SäöJMiguel •Paujista

IRenhaKf"! | ^¡PP^^àquéra' l^ricanduva ^ilälFormosa : Vila»-,.: H Prudente s ä ° j M , 9 ' s

Bevölkerungentwicklung

Bevölkerungsdichte 2000 (in Einw./qm) •

bis 5.000



5.001 - 7.500

0

7501-10.000

0

10001 -12500



Uber 12501

Entwurf: M. Coy Zeichnung: M. Pöhler

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Lateinamerika Jahrbuch 2002

In diesen Randgebieten dehnen sich - teilweise in räumlicher Nähe zu bessergestellten Wohnvierteln - jedoch vor allem die mit der zumeist illegalen Besetzung von öffentlichem und privatem Land entstehenden Favelas aus. Je nach Quelle schwanken - unter anderem aus methodischen Erhebungsgründen - die Angaben zu dem in Favelas lebenden Bevölkerungsanteil von Säo Paulo erheblich (zur Genese der Favelas von Säo Paulo vgl. Bonduki 1998: 264 ff.). Als gesichert gilt, dass der in Favelas lebende Bevölkerungsanteil seit 1970 im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung der Stadt überproportional angewachsen ist. So werden für 1970 lediglich 1%, für 1987 bereits 8% genannt. Jüngere wissenschaftliche Untersuchungen haben für 1993 ergeben, dass fast 20% der Bevölkerung Säo Paulos (das entsprach damals mehr als 1,5 Millionen) in mehr als 1.500 Favelas lebten (vgl. Maricato 1996: 27). Die Favelas konzentrieren sich innerhalb des Kernstadtmunizips vor allem in den Quartieren der südlichen, der östlichen und teilweise der nördlichen Peripherie. Auch wenn die Zahl der randstädtischen Marginalviertel in den letzten Jahren besonders stark zugenommen hat, so existieren auch in der Innenstadt nach wie vor Wohnquartiere der Armen. Seit ca. 100 Jahren wird insbesondere für die zentrumsnahen Viertel Säo Paulos das Phänomen der cortigos Behausungen mit zumeist subhumanen Wohnbedingungen (z.B. unzureichende hygienische Infrastrukturen), erheblicher Überbelegung, ungeklärter Mietbzw. Eigentumssituation - beschrieben. Diese bilden sich oftmals in den nach dem Wegzug der ursprünglichen Bewohner degradierten Wohngebieten der Bessergestellten (vgl. Kowarick/Ant 1994; Bonduki 1998). Nach wissenschaftlichen Untersuchungen von FIPE/USP aus der Mitte der 90er Jahre sollen über 600.000 Menschen in den cortigos von Säo Paulo leben. Insofern stellt diese Wohnform eine nach wie vor wichtige Überlebensstrategie der Unterschichtbevölkerung in der Megalopolis dar, zumal sie gegenüber den randstädtischen Favelas ihren zumeist im informellen Sektor tätigen Bewohnern den Vorteil der Nähe zum Zentrum als „Arbeitsplatz" bieten. Auch die am untersten Ende der sozialen Rangskala lebenden Stadtbewohner, die so genannte populagäo da rua, die Obdachlosen und Straßenkinder, sind vor allem im Zentrumsbereich der Stadt zu finden. Nach offiziellen Angaben der Stadtverwaltung für das Jahr 2000 halten sich von den insgesamt erfassten ca. 9.000 permanent Obdachlosen drei Viertel in den verschiedenen Quartieren des erweiterten Zentrums auf. Die Häufung von cortigos und die Konzentration der populagäo de rua können als Indikatoren für den tief greifenden sozialräumlichen Wandel im Stadtzentrum von Säo Paulo angesehen werden, der nachfolgend beispielhaft für vergleichbare Entwicklungen in anderen lateinamerikanischen Metropolen dargestellt werden soll. Der eigentliche Zentrumsbereich von Säo Paulo lässt sich in das centro velho und das centro novo gliedern, die durch das Vale do Anhangabaü unterteilt werden. Besonders das centro velho hat sich - neben den traditionellen Straßen des Einzelhandels - seit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit Hauptsitzen und Niederlassungen in- und ausländischer

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Coy: Jüngere Tendenzen der Verstädterung

Banken sowie den Börsen zum Zentrum des Finanzsektors entwickelt. Im centro novo sind neben den zahlreichen Büros insbesondere der Einzelhandel, Hotels und kulturelle Einrichtungen (Teatro Municipal, Kinos etc.) lokalisiert. Der öffentliche Raum des Zentrums sowie seine Cafés, Restaurants, Kinos und Theater dienten den Repräsentations- und Kommunikationsbedürfnissen der „besseren" Gesellschaft der aufstrebenden Metropole. Viele der hier zu findenden breiten Boulevards (z.B. Avenida Säo Joäo und Avenida Säo Luis) galten - und gelten teilweise auch heute noch - als hochwertige Wohnadressen. Charakteristisch für beide Zentrumsbereiche sind die bauliche Dichte und der hohe Vertikalisierungsgrad, der mit dem Bau der ersten Hochhäuser nach nordamerikanischem Vorbild bereits in den 20er Jahren einsetzte (vgl. Souza 1994). Aufgrund der zunehmenden Verdichtung der Büro- und Einzelhandelsfunktionen im räumlich begrenzten Zentrumsbereich, der enormen Belastung durch den öffentlichen und den Individual-Verkehr, auf den das Zentrum durch den Ausbau von Verkehrsachsen und Hochstraßen ausgerichtet wurde, aufgrund der damit einhergehenden Verschlechterung des Wohnumfelds sowie der fehlenden Reserveflächen für den boomenden Tertiären Sektor verlagerten sich seit den 50er und 60er Jahren zahlreiche Zentrumsfunktionen vor allem in westlich-südwestliche Richtung. Hier entstanden zum Beispiel mit den so genannten jardins hochwertige Wohngebiete. Die ehemals durch Prachtvillen der Kaffeebarone geprägte Avenida Paulista wurde zusehends zur Hochhausschlucht umgewandelt und erfüllt nun Funktionen einer zentralen Achse des Büro- und Finanzsektors. Der Verlagerungsprozess des Dienstleistungsbereichs setzte sich auch in den 70er, 80er und 90er Jahren an der Avenida Brigadeiro Faha Lima und derzeit an der Avenida Engenheiro Luis Carlos Berrini sowie der Marginal Pinheiros bis zum neuen Centro Empresarial fort. Hier entstehen zahlreiche, mit allen modernen Kommunikationsinfrastrukturen ausgestattete Bürohochhäuser, und hier werden heute die höchsten Renditen des Paulistaner Immobilienmarkts erzielt. Inzwischen haben sich in diesem südwestlichen Sektor der Kernstadt zahlreiche Firmen des unternehmensorientierten Dienstleistungsbereichs (u.a. des Finanz- sowie des Informations- und Kommunikationssektors) sowie die Verwaltungsfunktionen zahlreicher in- und ausländischer Industrieunternehmen angesiedelt (vgl. Iglecias 2000). Dieser für die brasilianische Wirtschaftsmetropole beschriebene Prozess findet seine Parallelen in anderen lateinamerikanischen Metropolen mit der Entstehung neuer Standortkonzentrationen des Tertiären Sektors (Bürostädte etc.) außerhalb der Cities, die zunehmend die Funktionen der klassischen Stadtzentren bzw. der Central Business Districts, wie sie sich seit den 30er Jahren in den meisten lateinamerikanischen Metropolen entwickelt hatten, übernehmen (für das Beispiel Bogotá vgl. z.B. Mertins/Müller2000). Die Verlagerung der besser gestellten Wohngebiete aus dem Zentrumsbereich heraus geht mit Veränderungen der Konsumgewohnheiten und -orte einher, die den Einzelhandel im „alten" Zentrum wesentlich beeinflusst haben.

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Säo Paulo nahm seit Mitte der 60er Jahre als erste brasilianische und lateinamerikanische Metropole das nordamerikanische Vorbild der Shopping Centers auf, die sehr bald insbesondere in den südwestlichen Expansionsgebieten der Stadtentwicklung Funktionen der Zentrenbiidung erfüllten. Ende der 90er Jahre existierten allein im Munizip Säo Paulo 50 Shopping Centers. Die größten unter ihnen verfügen über mehr als 400 Geschäfte. Insbesondere in den 80er und 90er Jahren sind zahlreiche neue Shoppings auch in zentrumsferneren Gebieten entstanden, wobei neben den Zentren mit hochwertigem Geschäftsangebot nun auch zunehmend solche gebaut werden, die sich an ein weniger kaufkräftiges Publikum in ihrem Einzugsbereich richten. Neben der reinen Geschäftsfunktion übernehmen die Shopping Centers heutzutage Kommunikations- und Freizeitfunktionen, die früher eher im Stadtzentrum lokalisiert waren (z.B. Kinos, Restaurants). Dies entspricht insofern einer zunehmenden Tendenz der sozialen Fragmentierung von städtischer Gesellschaft und städtischem Raum, als der privatkapitalistisch produzierte und kontrollierte Raum des Shoppings nun in sozialräumlicher Hinsicht die Funktionen übernimmt, die zu früheren Zeitpunkten weitgehend den öffentlichen Raum charakterisierten (vgl. Frügoli Jr. 1995). Die aktuellen Probleme des Stadtzentrums von Säo Paulo sind vor dem Hintergrund der beschriebenen Funktionsverlagerungen während der letzten Jahrzehnte zu sehen. Neben den im Wohnbereich festzustellenden Degradierungsprozessen und den Auslagerungstendenzen im Bereich der hochrangigen Dienstleistungen wird allgemein die Besetzung des öffentlichen Raums sowohl im centro velho als auch im centro novo durch informelle Tätigkeiten, insbesondere durch den informellen Straßenhandel (die so genannten camelös) als Indiz für den Wandel des Stadtzentrums angeführt. Die deutliche Zunahme der Zahl der Straßenhändler seit Ende der 80er Jahre entspricht dem Bedeutungsgewinn informeller Aktivitäten in der brasilianischen Gesamtwirtschaft und in der Paulistaner Stadtökonomie. Nach Angaben von Maricato (1996: 49 f.) hat sich in Säo Paulo zwischen 1982 und 1992 der Anteil der informell Tätigen an der Erwerbsbevölkerung der Stadt ungefähr vervierfacht. Der informelle Straßenhandel steht seit Jahren im Mittelpunkt politischer und sozialer Konflikte um die Entwicklung des Stadtzentrums. In verschiedenen großangelegten Polizeiaktionen wurde in den 90er Jahren versucht, den Straßenhandel einzudämmen. Gleichzeitig wurden die camelös mit der widerrechtlichen Erhebung von „Schutzgebühren" zu Opfern eines der größten Korruptionsskandale in der Paulistaner Stadtverwaltung (vgl. Frügoli Jr. 1999). Ein weiterer Aspekt, der in der Diskussion um die Degradierung des Stadtzentrums eine große Rolle spielt, ist die Zunahme von Prostitution und Gewalt (Diebstahl, Raub etc.), wodurch viele Teilräume des Zentrums in der Wahrnehmung der Stadtbevölkerung zu Gefahrenzonen geworden sind. Insgesamt zeigen die am Beispiel Säo Paulos dargestellten Probleme und Prozesse, wie sich die Funktionen der lateinamerikanischen Stadtzentren als soziale Räume während der letzten Jahrzehnte grundlegend gewandelt ha-

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ben. Auch wenn trotz der beschriebenen Verlagerungstendenzen viele der typischen Zentrenfunktionen immer noch in den Innenstädten zu finden sind, so haben sich die Bessergestellten als Nutzergruppen weitgehend in die neuen „Wohlstandsenklaven" außerhalb des Stadtzentrums zurückgezogen. Zurück bleiben die sozial Schwächeren und Armen, für die das Stadtzentrum ein nach wie vor wichtiger Aktions- und Überlebensraum ist. 3.1 Ansätze zur Erhaltung und Erneuerung des Stadtzentrums von Säo Paulo Angesichts der in vielen lateinamerikanischen Städten feststellbaren Degradierungstendenzen in den Stadtzentren erhalten Altstadtsanierung und Innenstadterneuerung als wichtige stadtpolitische Handlungsbereiche in den letzten Jahren einen hohen Stellenwert. Gemeinsames Ziel von Sanierungsprogrammen historischer Altstädte und der Innenstadtrevitalisierung ist es, zum einen das lokale historische Erbe (Bausubstanz, öffentliche Räume usw.) zu bewahren sowie die Urbane Attraktivität der Innenstadtbereiche zu steigern, zum anderen die infrastrukturellen Rahmenbedingungen zur Verbesserung von Innenstadtstandorten (sowohl Gewerbe- als auch Wohnfunktion) zu schaffen. In vielen Fällen ist mit einer Revitalisierung der Innenstadt jedoch die Gefahr verbunden, dass sozial schwächere Bewohnergruppen und andere Akteure (insbesondere der informelle Straßenhandel) aus den Innenstadtbereichen verdrängt werden und eine Gentrifizierungstendenz - bewusst oder unbewusst - eingeleitet wird. Als Beispiel eines vorrangig auf die Interessen der Bessergestellten ausgerichteten Sanierungsvorhabens kann die an europäischen und nordamerikanischen Vorbildern ausgerichtete Konversion des ehemaligen Hafengeländes Puerto Madero in Buenos Aires zu einem luxuriösen WaterfrontProjekt mit hochrangigen Wohn-, Geschäfts- und Gastronomiestandorten, Yachthafen etc. angesehen werden. Ebenso ist als Folge mancher Sanierungsprojekte zu beobachten, dass anstelle eines organischen und vitalen Innenstadtlebens einer eher sterilen „Musealisierung" insbesondere der Altstadtbereiche Vorschub geleistet wird, von der allenfalls der Tourismus profitieren kann. Als Beispiel für diese Tendenz wird in Brasilien die Erneuerung des Pelourinho in Salvador angeführt (vgl. Augel 1998). Ähnliche Tendenzen lassen sich im Altstadtviertel Praia Grande von Säo Luis do Maranhäo beobachten. Auch in der größten Stadt Brasiliens lassen sich in den 90er Jahren Bemühungen um eine Attraktivitätssteigerung und Revitalisierung der Innenstadt feststellen (vgl. Simöes Jr. 1994: 37 ff.). So hat auch die neue Stadtregierung der PT-Bürgermeisterin Martha Suplicy die Revitalisierung des Paulistaner Stadtzentrums zu einem prioritären Handlungsfeld erklärt. Am Anfang einer Politik der Innenstadterneuerung standen in Säo Paulo seit Ende der 80er Jahre Maßnahmen zur Verkehrsberuhigung des Zentrums und zur Verbesserung der Qualität des öffentlichen Raums. So wurden beispielsweise zahlreiche Straßen des centro velho und des centro novo in Fußgängerzonen umgewandelt, deren Länge sich inzwischen auf ca. 10 km beläuft. Ein Großprojekt 23

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von besonderer Bedeutung war die gelungene Umgestaltung des Vale do Anhangabaü von einer lärmenden Verkehrsader zu einem öffentlichen Raum mit hoher Aufenthaltsqualität. Hinzu kommt die Sanierung und Umnutzung von wichtigen Gebäuden: beispielsweise die Sanierung eines der ältesten Hochhäuser der Stadt, des Edificio Martineiii, in dem heute verschiedene Dezernate der Stadtverwaltung untergebracht sind, die Erneuerung eines der zentralen Bahnhöfe (Esta^äo Jülio Prestes) und seine teilweise Umwandlung in einen riesigen Konzertsaal (Sala Säo Paulo), die Erhaltung des alten Verwaltungsgebäudes der Elektrizitätsgesellschaft Light und seine Konversion in ein Shopping Center, die Umwandlung der ehemaligen Zentralpost in ein Kulturzentrum und viele andere Vorhaben mehr (zu den unterschiedlichen Revitalisierungsprojekten vgl. Abb. 6). Die Stadtverwaltung ist seit einigen Jahren allerdings mit wechselndem Erfolg - bemüht, die zahlreichen Einzelprojekte durch ein Rahmenprogramm, das den Namen PROCENTRO führt und an dem zahlreiche Regierungs- und Nichtregierungsinstitutionen beteiligt sind, zu koordinieren und zu unterstützen. Ebenso sollen in einem Spezialprogramm (dem so genannten Operagäo Urbana Centro) mit angepassten baugesetzlichen Regeln und Anreizsystemen die Rahmenbedingungen für die erhaltende Erneuerung des Zentrums geschaffen werden. Insbesondere die im Zentrum ansässigen Firmen haben großes Interesse an den Revitalisierungsmaßnahmen. Dies lässt sich auch daran erkennen, dass mit zahlreichen public-privatepartnerships die Privatinitiative bei der Realisierung der Projekte zunehmende Bedeutung erlangt (vgl. Abb. 6). Einen besonderen Stellenwert hat bei den Bemühungen um eine Revitalisierung des Stadtzentrums von Säo Paulo die Nichtregierungsorganisation (NGO) Viva o Centro, die 1991 unter maßgeblicher Beteiligung der im centro velho lokalisierten brasilianischen Niederlassung der Bank of Boston gegründet wurde. An der relativ ungewöhnlich zusammengesetzten NGO beteiligen sich unterstützend zahlreiche weitere Firmen aus dem Finanzsektor sowie verschiedene Interessengruppen und Berufsorganisationen der im Zentrum vertretenen Gewerbe (als kritische Analyse der Aktivitäten von Viva o Centro vgl. Oliveira 1999). Auf dieser Grundlage entwickelte sich eine professionell arbeitende Organisation, die den Gedanken der Innenstadt-Revitalisierung sowohl mit planerischer Kompetenz und wissenschaftlichem Anspruch als auch mit öffentlichkeitswirksamem Marketing vertritt. Ebenso betreibt Viva o Centro seit Jahren eine geschickte Lobbyarbeit, mit der die Stadtverwaltung erfolgreich zur Formulierung und zumindest ansatzweise praktischen Umsetzung einer konkreten Zentrumspolitik gezwungen wurde. Inzwischen unterstützt Viva o Centro in einem speziellen Programm zahlreiche private Initiativen von Gewerbetreibenden und Bewohnern in den unterschiedlichsten Teilen des Stadtzentrums, deren Ziel es ist, nicht nur auf Missstände im engeren Umfeld hinzuweisen, sondern auch selbstverantwortlich und selbstverwaltet Sanierungsmaßnahmen durchzuführen.

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Abbildung 6: Aktuelle Projekte der Innenstadterneuerung in Säo Paulo

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CENTRO

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Wichtige Einzelprojekte: Public-private-partnership

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Konversion ehem. Bahnanlagen und Lagerflächen Kulturelle Einrichtungen

Öffentliche Projekte

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Erneuerung öffentl. Räume Wohnraumverbesserung "slum-upgrading"

Shopping Center "Light" und "Liberdade" Widerherstellung von Parks, , öffentl- Plätzen und hist. Gebäuden

Projektgebiet Procentro ^^

Hauptinterventionsgebiete

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Parkanlagen

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Fußgängerzone

Eigene Zusammenstellung nach Unterlagen PMSP/SEHAB 2000

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Im Vordergrund steht jedoch insgesamt das Eigeninteresse der beteiligten Wirtschaftskreise, die in der oben beschriebenen Degradierungs- und Verlagerungstendenz auf längere Sicht eine Gefährdung des Standortimages sehen, von dem dann auch die im Zentrum verbliebenen Firmen betroffen wären. Insgesamt ähneln das Gesamtkonzept der Paulistaner Innenstadterneuerung und die meisten Einzelmaßnahmen allerdings auffällig dem, was aus europäischen und nordamerikanischen Städten bekannt ist: Konversion von Brachflächen, Umwandlung von Bahnhöfen und historischen Gebäuden in Kulturhäuser und Einkaufszentren, Wiederherstellung und Möblierung öffentlicher Räume. Die Frage ist, wem diese Maßnahmen letztendlich nutzen werden. Zwar werden Betroffenenbeteiligung und Wohnraumverbesserungsmaßnahmen betont, allerdings ist schon jetzt abzusehen, dass die meisten Revitalisierungsmaßnahmen neue „Inseln" für die Privilegierten in einer durch Armut und Informalität geprägten Umgebung schaffen werden und somit die beschriebenen Fragmentierungstendenzen keineswegs abzubauen helfen, sondern eher noch verstärken.

4.

Die fragmentierte Stadt: Neue Priviiegiertenviertel in lateinamerikanischen Großstädten - das Beispiel Buenos Aires

Spätestens seit den 80er Jahren sind in allen lateinamerikanischen Metropolen neue Präferenzen der privilegierten Stadtbewohner hinsichtlich Wohnformen und Wohnstandorten zu beobachten. Ganzheitlich geplante, abgeschlossene Wohnviertel mit aufwendigen Sicherheitsvorkehrungen werden in immer größerer Zahl auf dem Immobilienmarkt mit großem Erfolg als neue Produkte angeboten (für das Beispiel Santiago de Chile vgl. Borsdorf 2000 sowie Meyer/Bähr 2001). Diese im spanischsprachigen Raum als barrios cerrados und in Brasilien als condominios fechados bezeichneten neuen Privilegierten-Viertel orientieren sich eindeutig an nordamerikanischen Vorbildern und entsprechen den dortigen gated communities (vgl. Blakely/Snyder 1999), übertreffen sie allerdings hinsichtlich des Abschottungsgrades wohl in den meisten Fällen. Insgesamt sind die gated communities Ausdruck der immer stärker auseinanderdriftenden Lebensstile der städtischen Gesellschaft und der sich in kleinräumigem Maßstab dokumentierenden Fragmentierung der lateinamerikanischen Stadt. Der Erfolg der abgeschotteten Wohnviertel erklärt sich in erster Linie aus einer konkret begründeten, oftmals auch psychoseartig übersteigerten Angst der Gutsituierten vor der anwachsenden Kriminalität (am Beispiel Säo Paulo vgl. hierzu Caldeira 2000 sowie Coy/Pöhler 2001). Die Realisierung einer „privaten Idylle" erscheint angesichts der sich verschärfenden sozialen Konflikte nur noch „unter Seinesgleichen" möglich. Dies bringt einen immer deutlicheren Trend zur selbstgewählten Segregation mit sich. Die argentinische Metropole Buenos Aires ist heute mit über 13 Millionen Einwohnern die drittgrößte Megastadt Lateinamerikas. Nach dem Bevölkerungszensus von 1991 lebten allerdings nur ca. drei Millionen Menschen in der 26

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eigentlichen Kernstadt, während das in drei Wachstumsringe unterteilte Umland zehn Millionen Einwohner beherbergte. Dabei konzentrierten sich ca. acht Millionen auf die unmittelbar an die Kernstadt anschließenden Gemeinden des ersten Wachstumsrings. Den derzeit relativ höchsten Zuwachs weisen jedoch die Gemeinden des zweiten und dritten suburbanen Gürtels auf. In diesem äußeren suburbanen Raum finden sich auch die meisten der in den letzten Jahren entstandenen gated communities (vgl. Keeling 1996). Von jeher sind in Buenos Aires die nördlichen Stadtviertel die bevorzugten Wohngebiete der Privilegierten (z.B. die Stadtviertel Belgrano und Palermo). Entsprechend konzentrieren sich auch auf den nördlichen und nordwestlichen suburbanen Raum zahlreiche abgeschlossene Wohnviertel unterschiedlicher Größenordnung (vgl. Abb. 7). Vereinfacht sind demgegenüber die südlichen und südwestlichen Stadtviertel und Vororte eher als die traditionellen Wohngebiete ärmerer Sozialgruppen und als Industriestandorte zu charakterisieren. Jedoch entstehen neuerdings auch hier in verkehrsgünstigen Lagen gated communities (vgl. Abb. 7). Den Hintergrund für die boomartige Entwicklung des Immobilienmarkts bilden die wirtschaftlichen und wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen in Argentinien während der 90er Jahre. Mit Amtsantritt der Regierung Menem im Jahr 1989 setzte sich ein neoliberaler Politikstil durch, dessen Hauptziele die inzwischen bekanntlich gescheiterte - Währungsstabilisierung, der Abbau des staatlichen Haushaltsdefizits, eine umfangreiche Privatisierung u.a. im infrastrukturellen Bereich (beispielsweise Autobahnen, Eisenbahnen und Metro) sowie weitere Maßnahmen der Deregulierung und Flexibilisierung waren. Als Folgen sind einerseits eine deutliche Rücknahme staatlicher Investitionen in soziale Infrastrukturen und öffentlichen Wohnungsbau festzustellen, was vor allem zu Lasten ärmerer Bevölkerungsgruppen geht. Andererseits verbesserte sich das „Investitionsklima" für privates - in- und ausländisches - Kapital. Dabei versprachen das Immobiliengeschäft und Investitionen in die Modernisierung des Dienstleistungsbereichs (z.B. Shopping Centers, Hotels mit internationalem Standard, moderne Bürozentren etc.), dort, wo ein erheblicher Nachholbedarf bestand, besonders günstige Gewinnchancen. Entsprechend konzentriert sich ein Großteil der in den 90er Jahren im Großraum Buenos Aires getätigten privaten Investitionen auf diese Bereiche (vgl. Ciccolella 1999). Räumlich gesehen profitierten vor allem Teile der Kernstadt, insbesondere einzelne Sektoren der City (Hochhauskomplex Catalinas Norte und Hafenrevitalisierungsprojekt Puerto Madero) und einige nördliche Stadtteile (u.a. Appartementkomplexe im Stadtteil Palermo), sowie die nördlichen Vororte entlang der genannten großen Ausfallstraßen von der privaten Investitionstätigkeit. So breiteten sich in den 90er Jahren beispielsweise großenteils durch ausländische Firmen (u.a. Wal-Mart, Carrefour) eingerichtete Hypermärkte boomartig aus. Dabei wurden allein zwischen 1992 und 1997 von 16 Hypermärkten 14 im suburbanen Raum, zumeist in der Nähe kaufkräftiger Bevölkerungsgruppen, eröffnet (vgl. Capron 2000).

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Der Rückzug des Staates und die Bedeutungszunahme des privaten Kapitals trugen - ähnlich wie in anderen lateinamerikanischen Metropolen auch - in Buenos Aires zu einer weiteren Vertiefung der sozialen Fragmentierung und zu einer Verschärfung des sozialen Konfliktpotentials bei. Schon seit längerer Zeit hatten aus der Sicht der Gutsituierten anhaltende Verdichtung, Verkehrsbelastung und Umweltprobleme in der Kernstadt die Degradierung des innerstädtischen Wohnumfelds und den Verlust von Lebensqualität zur Folge. Parallel hierzu traten nun Angst vor Kriminalität und die Suche nach sicheren Wohnformen außerhalb der sozialen Brennpunkte in der Stadt in den Vordergrund der Wohnungsnachfrage. Bereits in den 70er und 80er Jahren waren in den Gemeinden des zweiten und dritten suburbanen Rings zahlreiche Immobilienprojekte entstanden, die als so genannte country clubs mit unterschiedlicher Ausstattung an Freizeitinfrastrukturen vorrangig als Wochenendsiedlungen der Reichen dienten. Die bessere Verkehrsanbindung der Umlandgemeinden machte in den 90er Jahren den Traum vieler Mittel- und Oberschichtfamilien von einem „ruhigeren Leben auf dem Lande" nach dem Vorbild nordamerikanischer suburbs realisierbar, wobei die Aussicht auf tägliches Naturerlebnis und sportliche Betätigungsmöglichkeiten als wichtige Aspekte eines „argentinischen" Lebensstils hohe Attraktivität ausübten. Dies machten sich zahlreiche Immobilienfirmen zunutze, die die bereits bestehenden Wochenendsiedlungen in Dauerwohnstätten umbauten bzw. zunehmend neue, komplett mit Infrastrukturen ausgestattete Projekte so genannter barrios privados (Privatviertel) unterschiedlicher Größenordnung auf den Markt brachten. Bei allen Projekttypen stehen Rund-um-die-Uhr-Sicherheit, Privatheit, Ruhe, Naturerlebnis, Wohnkomfort, Infrastrukturqualität (vor allem bilinguale Schulen) und gute Erreichbarkeit der Kernstadt Buenos Aires im Vordergrund des Marketings. Je nach Quelle sollen im Großraum Buenos Aires im Jahr 2000 zwischen 360 (La Nation, 15.4.2000) und 400 (Clarin, 15.4.2000) gated communities unterschiedlicher Typen und unterschiedlicher Größe entstanden bzw. in Planung gewesen sein. Ca. 85% aller Projekte sind im nördlichen und westlichen Umland lokalisiert (vgl. Abb. 7). Die Entfernungen zur Kernstadt können dabei 60 km und mehr betragen. Allein in den drei Gemeinden Pilar (95 Projekte), Escobar (36 Projekte) und Tigre (49 Projekte) liegen über die Hälfte der gated communities des Großraums. Der derzeitige Bevölkerungszuwachs der Gemeinde Pilar von ca. 140.000 Einwohnern beim Zensus 1991 auf heute schätzungsweise 270.000 dürfte weitgehend auf die Expansion der neuen Wohnformen zurückzuführen sein. Die neueste Tendenz im Großraum Buenos Aires ist in der Entwicklung von Großprojekten mit kleinstädtischen Ausmaßen durch große Immobilienkonsortien zu sehen, die als „Grüne Städte", „Gartenstädte" oder „Privatstädte" vermarktet werden. Allein in der Region Tigre/Pilar/Escobar entstehen derzeit mit Nordeita, Esmeralda de Pilar und Pilar del Este drei solcher Großprojekte. Ein weiteres Megaprojekt, Puerto Trinidad, wird derzeit südlich von Buenos Aires an der Autobahn nach La Plata eingerichtet. Bei der

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Entwicklung dieser satellitenstadtartigen Großprojekte spielt ausländisches Kapital (teilweise aus Europa, teilweise auch aus dem Nachbarland Chile) eine zunehmende Rolle. Alle Großprojekte beinhalten die schlüsselfertige Erstellung unterschiedlicher Haustypen durch den Projektentwickler. Die komplette infrastrukturelle Ausstattung, wozu Bildungs- und Freizeiteinrichtungen, KabelTV sowie die komplette Ver- und Entsorgung der neuen Städte gehören, der hohe Sicherheitsstandard (Überwachung des Gesamtprojekts sowie der einzelnen geschlossenen Viertel mit Patrouillen, überwachten Eingangstoren, Bewegungssensoren und ähnlichem) sowie ein hoher Grünflächenanteil (bei Pilar del Este beispielsweise ca. 60% der Gesamtfläche) werden als besondere Pluspunkte in den Megaprojekten hervorgehoben. Die Ausbreitung von gated communities ist in den letzten Jahren zu einem immer wichtigeren Bestandteil des Wandels der lateinamerikanischen Stadt und vor allem ihres Umlands geworden (vgl. zusammenfassend Abb. 8). Die zunehmende räumliche Abschottung der Privilegierten ist die sichtbare Konsequenz der sich nach wie vor vertiefenden sozialen Disparitäten in den lateinamerikanischen Gesellschaften und der damit verbundenen Verstärkung von sozialen Konflikten und Gewalt im Alltag der Städte. Heutzutage konzentrieren sich die alltäglichen Aktionsräume der Privilegierten vorrangig auf zugangskontrollierte Enklaven (Wohn-Ghettos, Shopping Centers, Business Parks). Insofern entsprechen gated communities einem neuen Typ „exterritorialer Räume" in der Stadt, die sich weitgehend der öffentlichen Steuerung und Kontrolle entziehen. Dabei haben die Verwertungsinteressen des privaten Kapitals eindeutigen Vorrang vor dem öffentlichen Interesse. Insofern dokumentieren sich im Erfolg des gated Community-Phänomens veränderte Akteurskonstellationen der Stadtentwicklung, für die Neoliberalismus, Deregulierung und Rückzug des Staates den ordnungspolitischen Rahmen darstellen. Im gated Community-Phänomen schlägt sich vor allem die zunehmende Globalisierung der Lebensstile der Privilegierten in den lateinamerikanischen Städten nieder. Motive, Wertorientierungen und Ziele der Lebensgestaltung, die für den Erfolg der gated communities verantwortlich sind, weisen ebenso wie deren Realisierungsform und interne Struktur deutliche Konvergenzen zu Nordamerika und anderen Weltregionen auf. Unterschiede bestehen allenfalls in regionalspezifischen Stilpräferenzen oder Wünschen zur Freizeitgestaltung. Demgegenüber zeigt beispielsweise die überproportionale Bedeutung neuer Kommunikationsmedien eine bewusste Außenorientierung der gated commun/fy-Bewohner, die sich auf diese Weise im Gegensatz zu ihrer lokalen AutoSegregation einer global Community der Privilegierten zugehörig fühlen. Insgesamt werden die Trennlinien zwischen öffentlichem und privat kontrolliertem Raum zunehmend unüberbrückbar, mit dem Ergebnis, dass die Fragmentierung der lateinamerikanischen Stadt immer sichtbarer wird. Sie entspricht heute mehr denn je dem Bild von den „Inseln der Reichen in Ozeanen der Armen".

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