Langfristige ökonomische Veränderungen und ihre gesellschaftlichen Wirkungen: Zur Markierung wohlfahrtsstaatlicher Perspektiven in fortgeschrittenen Industriegesellschaften [1 ed.] 9783428508341, 9783428108343

Erstaunlicherweise wurden bislang die Theorien der langfristigen Wirtschaftsentwicklung kaum systematisch für die Analys

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Langfristige ökonomische Veränderungen und ihre gesellschaftlichen Wirkungen: Zur Markierung wohlfahrtsstaatlicher Perspektiven in fortgeschrittenen Industriegesellschaften [1 ed.]
 9783428508341, 9783428108343

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ANDREAS REINERS

Langfristige ökonomische Veränderungen und ihre gesellschaftlichen Wirkungen

Sozialpolitische Schriften Heft 86

Langfristige ökonomische Veränderungen und ihre gesellschaftlichen Wirkungen Zur Markierung wohlfahrtsstaatlicher Perspektiven in fortgeschrittenen Industriegesellschaften

Von Andreas Reiners

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Reiners, Andreas:

Langfristige ökonomische Veränderungen und ihre gesellschaftlichen Wirkungen : zur Markierung wohlfahrtsstaatlicher Perspektiven in fortgeschrittenen Industriegesellschaften I von Andreas Reiners. Berlin : Duncker und Humblot, 2002 (Sozialpolitische Schriften ; H. 86) Zug!.: Aachen, Techn. Hochsch., Diss., 2001 ISBN 3-428-10834-5

Alle Rechte vorbehalten

© 2002 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0584-5998 ISBN 3-428-10834-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706@

Vorwort Wir leben in einer Gesellschaft, deren Wohlstand noch vor einhundert Jahren kaum denkbar gewesen wäre, in der Demokratie und Partizipation sich als Leitbilder politischer Organisation weitgehend durchgesetzt haben, in der das Bildungsniveau, die Gesundheitsversorgung sowie die durchschnittliche Lebenserwartung der Menschen höher liegen als je zuvor. Zu dieser positiven Entwicklung hat wesentlich der Industrialisierungsprozess in Verbindung mit dem Wohlfahrtsstaat beigetragen. Und doch leben wir auch in einer Gesellschaft, in der die Arbeitslosigkeitin Deutschland wie in anderen Industrieländern - anhaltend hoch liegt und trendmäßig weiter steigt, in der Armut und Einkommensunterschiede wieder zunehmen und eine wachsende soziale Ungleichheit konstatiert wird. Vor diesem Hintergrund ist auch der Wohlfahrtsstaat nicht nur finanziell, auch ideell in eine Krise geraten. Mit dem Begriff Wohlfahrtsstaat werden - wie in der Fachliteratur inzwischen üblich - allgemein Länder gekennzeichnet, in denen der Staat eine aktive Rolle in der Steuerung wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Abläufe übernimmt. In den vergangeneu Jahren ist eine Vielzahl von Veröffentlichungen zur Zukunft der Arbeit, der Ökonomie und des Wohlfahrtsstaates erschienen, aber Arbeit, Ökonomie und Wohlfahrtsstaat wurden kaum vor dem Hintergrund der veränderten ökonomischen Wachstumsgrundlagen hochentwickelter Volkswirtschaften untersucht, wie sie aus verschiedenen ökonomischen Langfristtheorien seit langem bekannt sind. Diese Theorien bilden den Anknüpfungspunkt der vorliegenden Studie. Sie befasst sich mit der Frage nach wohlfahrtsstaatliehen Perspektiven fortgeschrittener Industriegesellschaften unter besonderer Berücksichtigung langfristiger sozioökonomischer Entwicklungen und deren gesellschaftlichen Folgen. Auf der Grundlage einer Analyse der Zusammenhänge zwischen langfristigen volkswirtschaftlichen Entwicklungen und dem sozioökonomischen Wandel werden Grundlinien wohlfahrtsstaatlicher Politik hochentwickelter Länder untersucht. Ein zentrales Problem betrifft dabei die gesellschaftlichen Beteiligungs- und Integrationsmöglichkeiten angesichts veränderter volkswirtschaftlicher Wachstumsgrundlagen. Bedanken möchte ich mich für die anregenden Diskussionen und vielen interdisziplinären Gespräche während der Entstehungsphase der Arbeit, vor allem bei Prof. Dr. Barbara Krause, Dr. Manfred Sicking, Dip!. Kfm. Ralf Weiter sowie den Studentinnen und Studenten der Katholischen Fachhochschule NW für Sozialwesen in Aachen. Ein ganz herzlicher Dank gilt vor allem meinen beiden akademischen Lehrern und Gutachtern Prof. Dr. Kurt Hammerich und Prof. Dr. Kar! Georg Zinn.

Vorwort

6

Mein Dank gilt weiter dem Bistum Aachen und hier besonders Dr. H.-Georg Hilfrieb für die Möglichkeit, das Studium neben meiner Berufstätigkeit zu absolvieren, sowie den anderen Freunden, Kolleginnen und Kollegen für Zu- und Widerspruch, praxisnahe Anregungen und Hilfe, hier vor allem von Heijo Eck, Anni Bertram und Marianne Schreyer. Ein besonders Anliegen ist mir, mich bei meiner Frau Dagmar Reiners zu bedanken. Ohne ihre Unterstützung wäre das gesamte Vorhaben von Beginn an zum Scheitern verurteilt gewesen. Nicht zu übersehen sind schließlich Matthias, Sirnon und Bastian, die gelegentlich auf ihren Vater verzichten mussten. Aachen, im Januar 2002

Andreas Reiners

Inhaltsverzeichnis

Einleitung: Problemstellung und Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15

A. Wohlfahrtsstaat: Entwicklung, Vergleiche und Rollenwandel....................

18

I. Begriffe, Prinzipien und Arrangements .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. ..

18

1. Begriffe und Konzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

18

2. Merkmale und Prinzipien . . .. . . . . .. . . . . . . . . . .. . . . . . .. .. . . . . . .. . . .. .. . .. . . . .

25

II. Entwicklung des Wohlfahrtsstaates und der Sozialleistungsquote . . . . . . . . . . . . . .

26

1. Zur geschichtlichen Entwicklung . .. . . . . . . .. . . . .. . .. . . .. .. . . .. . .. . . . . .. . . . ..

26

2. Zur Entwicklung der Sozialleistungsquote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

28

III. Vergleich Europäischer Wohlfahrtsstaatlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

32

1. Empirischer Vergleich der sozialen Sicherheit in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33

2. Vergleich wohlfahrtsstaatlicher Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35

3. Erklärungsversuch der Entwicklungsunterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37

IV. Wirkungen und Wert des Wohlfahrtsstaates . .. . .. . . . . . .. . .. . . . .. . . . . . .. . . .. . . . .

39

1. Zum sozialwissenschaftliehen Wohlfahrtsstaatsdiskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39

2. Wirtschaftliche, politische und soziokulturelle Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

42

a) Der ökonomische Nutzen des Wohlfahrtsstaates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

42

b) Der politische Wert des Wohlfahrtsstaates .. .. .. .. .. .. .. .. . .. . .. . .. .. .. ..

48

c) Die soziokulturelle Wirkung des Wohlfahrtsstaates........... . . .. .. . .. ..

53

V. Rollenwechsel: Vom reaktiven zum gestaltenden Wohlfahrtsstaat . . . . . . . . . . . . . .

60

B. Langfristige volkswirtschaftliche Entwicklungsprozesse und ihre gesellschaftlichen Folgen in hochentwickelten Industriegesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

62

8

Inhaltsverzeichnis I. Langfristige ökonomische Entwicklung marktwirtschaftlich organisierter Industriegesellschaften - Ökonomische Theorien und Analysen . . . . . . . . . . . . . . . . . .

63

I. Industriegesellschaft: Definitionen, Erwartungen und Entwicklung . . . . . . . . .

64

2. Arbeitsmarkt- und Beschäftigungstheorien im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67

3. Theorien langfristiger ökonomischer Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

71

a) Die langfristige Perspektive der Keynesschen Wirtschaftstheorie . . . . . . . .

71

b) Die Fourastiesche Tertiarisierungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

76

c) Die Entwicklungstheorie von Kondratieff und Schumpeter: Lange-Wellen-Hypothese und Innovationstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

81

4. Empirische Überprüfung: Die wirtschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

84

a) Wachstumserwartungen und Entwicklung der Arbeitslosigkeit . . . . . . . . . .

84

b) Wachstumsrealität, Produktivitätsentwicklung und Erwerbsarbeitsvolumen . . .. . .. .. .... .... . . . . ... . . .. . .. . . . ... .. . .. . . . .. .. .... . .. ... . . . . . . . . .

86

5. Zwischenfazit und erste These . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

88

II. Sozioökonomische Folgen der langfristigen wirtschaftlichen Entwicklungstrends - Sozioökonomische Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

89

I. Arbeitsmarktprozesse hochentwickelter Industriegesellschaften . . . . . . . . . . . .

90

a) Entwicklung der Arbeitslosigkeit und die Herausbildung am Arbeitsmarkt benachteiligter Gruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

90

b) Ausdifferenzierung der Erwerbsformen in der langfristigen Entwicklung

95

c) Niedriglöhne und Einkommensdifferenzierung in der langfristigen Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 2. Die sozioökonomische Lage vor dem Hintergrund unzulänglicher Wirtschafts- und sozialpolitischer Konzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 a) Neoliberale Politik in hochentwickelten Volkswirtschaften . . . . . . . . . . . . . . 105 b) Zur sozialen Sicherung vor dem Hintergrund der Veränderungen am Arbeitsmarkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 3. Entwicklung der Einkommens- und Vermögensverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 a) Zu Methodik und Datenquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 b) Entwicklung der Äquivalenzeinkommensverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 c) Armuts- und Reichtumsquoten ausgewählter Bevölkerungsgruppen . . . . . 120 d) Zum Vermögen und dessen Verteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 4. Zwischenfazit und zweite These . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128

Inhaltsverzeichnis

9

III. Soziale Ungleichheit und moderne Zeitstrukturen hochentwickelter Industriegesellschaften - Soziologische und Sozialstrukturelle Perspektive . . . . . . . . . . . . . . 129 1. Zur Sozialstrukturanalyse der Industriegesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 a) Kontroversen zur Analyse und Entwicklung der Sozialstruktur . . . . . . . . . . 133 b) Abschied der deutschen Ungleichheitsforschung von Klassen und Schichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 c) Zur vertikalen Ungleichheit entwickelter Industriegesellschaften: Kritik der gängigen deutschen Sozialstrukturanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 2. "Soziale Ausgrenzung" und "Underclass": Neue Formen gesellschaftlicher Spaltung hochentwickelter Länder? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 a) Zum Konzept der "Underclass" in USA und Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 b) Mechanismen sozialer Ausgrenzung in der Industriegesellschaft . . . . . . . . 149 c) Herausbildung einer Unterklasse in Deutschland? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 3. Zwischenfazit und dritte These .. . .. . .. . .. . . .. . .. . .. .. . . .. .. . .. .. .. .. .. .. . .. 155 4. Zeitstrukturen und "Zeitgewinne" hochproduktiver Industriegesellschaften im Licht sozialer Ungleichheit . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . 156 a) "Zeitgewinne" hochproduktiver Industriegesellschaften? . . . . . . . . . . . . . . . . 158 b) Moderne Zeitstrukturen und soziale Ungleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 c) Zeitstrukturen und arbeitsteilig konzipierte Geschlechterrollen . . . . . . . . . . 167 5. Zwischenfazit und vierte These . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 IV. Arbeit und Arbeitsgesellschaft in langfristiger Perspektive - Sozialphilosophische und beteiligungsorientierte Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 1. Zur Evolution der Arbeit: Was Arbeit ist und was sie sein könnte . . . . . . . . . . . 171 2. Zu den ideellen Konzepten der Erwerbsarbeit: Wie die Arbeit wurde, was sie ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 3. Erwerbsarbeit als Vergesellschaftungsinstanz hochentwickelter Industriegesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 a) Prämissen und Empirie der Vergesellschaftungsinstanz Erwerbsarbeit . . . 181 b) Rahmenbedingungen des dominierenden Vergesellschaftungsfaktors . . . . 182 c) Zur Kritik der Vergesellschaftung über die bezahlte Arbeit . . . . . . . . . . . . . . 184 4. Beteiligungsorientierte und gesellschaftsethische Überlegungen im Umbruch der Arbeitsgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 a) Zur Ablösung gesellschaftsethischer "Abhängigkeit" vom arbeitsgesellschaftlichen Beteiligungsmodell . .. . .. .. . . . .. . .. .. . .. . .. .. .. .. . .. .. .. .. . 186

10

Inhaltsverzeichnis b) "Anrecht auf Arbeit" und "Relativierung der Arbeit"................. .. . 189 5. Zwischenfazit und fünfte These . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191

C. Wohlfahrtsstaatliche Perspektiven: Kritik einschlägiger wohlfahrtsstaatlicher Zukunftsentwürfe und Plädoyer für eine an veränderten Wachstumsgrundlagen orientierte Sozialpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 I. Wohlfahrtsstaatliche Zukunftsmodelle für Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 I. "Untemehmerische Wissensgesellschaft" versus Wohlfahrtsstaat? - Vorstellungen der bayerisch-sächsischen Zukunftskommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195

a) Zur langfristigen Entwicklung aus der Sicht der Kommission . . . . . . . . . . . 196 b) Der Weg zur Unternehmerischen Wissensgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 c) Der Einzelne als Unternehmer seiner Arbeitskraft und Daseinsvorsorge . 199 2. "Marktwirtschaft ja, Marktgesellschaft nein?" -Zum New Labour-Projekt des "Dritten Weges" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 3. "Wirtschaftliche, soziale und ökologische Zukunftsfähigkeit"- Ergebnisse der Zukunftskommission der Friedrich-Ebert-Stiftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 4. Noch einmal: Wachstum als Ausweg? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 5. Hoffnungen jenseits der Erwerbsarbeit - mehr als Teil einer Krise? - Von der Arbeitsgesellschaft zur Bürgergesellschaft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 a) Bürgergesellschaft als Rettung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 b) Bürgerschaftliches Engagement: Reparatur der Arbeitsgesellschaft oder gestalterische Chance? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 c) Kritik der "Bürgerarbeit" und ein Plädoyer zur Förderung einer "Bürgergesellschaft" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 II. Sozialpolitiktheoretische Kritik der gegenwärtigen Sozialstaatsdebatte und Erinnerung an vergessene sozialpolitiktheoretische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 l. Kommodifikation: Sozialpolitischer Beitrag zur Marktgängigkeil der Arbeit 226

2. De-Kommodifikation: Sozialpolitischer Schutz vor der Marktabhängigkeit der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 3. Re-Kommodifizierung: Zurück zum repressiven Moment der Sozialpolitik . 229 III. Resümee und Plädoyer für eine gestaltende und beteiligungsorientierte wohlfahrtsstaatliche Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 I. Resümee: Grundlinien einer wohlfahrtsstaatliehen Politik hochentwickelter Länder ...... . ...... .. . ............. ...... ....... . . . . ... ..... .. ..... .. .. . . . . 231

Inhaltsverzeichnis

11

2. Plädoyer für konkrete und beteiligungsorientierte sozialpolitische Handlungsoptionen hochentwickelter Industrieländer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 a) Einkommens- und Vermögensverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 b) Veränderte Strukturen und Formen der sozialen Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . 240 c) Verteilung der bezahlten und der unbezahlten Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 d) Neugewichtung und Unterstützung unbezahlter Arbeits- und Tatigkeitsformen ..... . ...... . .. . ................ . ... . .... . . . ............. . . .. . .. . 248

Schlussbemerkung und Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 Personen- und Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291

Tabellen-, Übersichten-, und Abbildungsverzeichnis

Tabelle 1:

Sozialleistungsquote von 1950 bis 1998 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29

Tabelle 2:

Verteilung der Erwerbseinkommen nach Einkommensklassen - Westdeutschland ( 1980 bis 1995) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103

Tabelle 3:

Verteilungsmaße zur Entwicklung der Nettoäquivalenzeinkommen (1978 bis 1993)- Bezugseinheit Personen- . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118

Tabelle 4:

Entwicklung der Verteilung auf relative Wohlstandspositionsklassen (1978 bis!988)- Bezugseinheit Personen-.. . ...... . .......... . . . . . . 119

Tabelle 5:

Nettovermögensverteilung in der Bundesrepublik Deutschland ( 1983 und 1988) - Bezugseinheit: Haushaltsebene- . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126

Tabelle 6:

Aufteilung der gesellschaftlichen Zeit (1965/66 und 1991/92) . . . . . . . . 162

Tabelle 7:

Durchschnittliche Zeitverwendung nach der "sozialen Stellung" der Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165

Übersicht I :

Fünf Sektoren der Wohlfahrtsproduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

24

Übersicht 2:

Arbeitsmarkt- und Beschäftigungstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

68

Abbildung I:

Wirtschaftswachsturn und Sozialstaatsentwicklung im internationalen Vergleich (1890 bis 1989) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

45

Abbildung 2:

Anteil der Erwerbstätigen nach Sektoren - Westdeutschland ( 1850 bis 2000) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . .. .. . . . . . . . . . . . .

78

Abbildung

3: Wachsturnsraten des realen Bruttoinlandsprodukts - Westdeutschland (1950 bis 2000) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

85

Abbildung

4: Entwicklung der registrierten Arbeitslosigkeit und der offenen Stellen - Westdeutschland (1950 bis 2000) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

86

Abbildung

5: Tatsächliche und erwartete Entwicklung des realen Bruttoinlandsprodukts- Westdeutschland (1950 bis 2000) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

87

Arbeitsvolumen und Bruttoinlandsprodukt - Westdeutschland (1950 bis 2000) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

88

Abbildung

7: Standardisierte Arbeitslosenanteile - OECD, EU und Deutschland (1965 bis 2000) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

92

Abbildung

8:

Entwicklung der Erwerbspersonen und Erwerbstätigen - Westdeutschland (1960 bis 1996) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

94

Abbildung 6:

Tabellen-, Übersichten-, und Abbildungsverzeichnis Abbildung 9: Abhängig Beschäftigte in Normal- und Nicht-Normalarbeitsverhältnissen- Westdeutschland (1970 bis 1995) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13 98

Abbildung 10: Entwicklung der Sozialhilfeempfängerzahlen - Westdeutschland (1962 bis 2000) .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 Abbildung 11: Personelle Verteilung nach relativen Wohlstandspositionsklassen Westdeutschland (1978 und 1993) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 Abbildung 12: Gruppenspezifische Armutsquoten nach sozialer Stellung im Erwerbsleben- Westdeutschland (1983 und 1993) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Abbildung 13: Gruppenspezifische Reichtumsquoten nach sozialer Stellung im Erwerbsleben - Westdeutschland (1983 und 1993) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Abbildung 14: Gruppenspezifische Armutsquoten nach ausgewählten Haushaltstypen - Westdeutschland (1978 und 1993) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 Abbildung 15: Gruppenspezifische Reichtumsquoten nach ausgewählten Haushaltstypen- Westdeutschland (1978 und 1993) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125

Zum Zukunftswissen gehört maßgeblich das Wissen um Auswege, um zivilisatorische Briiche, die eine nicht nur überlebensfähi~e, sondern auch eine humane und nachhaltige Zukunft, eine Okonomie und Gesellschaft auch noch für unsere Urenkel (und deren Urenkel) ermöglicht. Kar! Georg Zinn, 2002

Einleitung: Problernstellung und Gang der Untersuchung Angesichts von mehr als 30 Millionen registrierten Arbeitslosen in den OECDLändern 1, 14 Millionen in der Europäischen Union2 und nahezu vier Millionen registrierten Arbeitslosen allein in Deutschland3 geraten die Wohlfahrtsstaaten unter Druck. Und doch kann von einer Krise der Wirtschaft im herkömmlichen Sinne nicht gesprochen werden. Das Sozialprodukt wächst - wenn auch moderater nahezu überall auf der Welt, das Welthandelsvolumen nimmt zu, Unternehmensgewinne weisen tendenziell nach oben, der Aktienindex steigt trotz erheblicher Schwankungen langfristig weiter an. Die Volkswirtschaften der Europäischen Union erzielen-zumal die deutsche- Jahr für Jahr steigende Exporte. Auch wenn die wirtschaftliche Lage in Asien, Russland oder Lateinamerika derzeit schlecht ist, kann dies nicht als Ursache für die seit Mitte der siebziger Jahre kontinuierlich zunehmende Zahl der Arbeitslosen gelten. In Westeuropa und Nordamerika war über viele Jahre von einer Wirtschaftskrise wenig zu erkennen. Gleichzeitig stieg paradoxerweise auch die Arbeitslosigkeit und mit ihr die soziale Ungleichheit weiter an. Wahrend Arbeitslosigkeit und gesellschaftliche Ungleichheit aber noch vor nicht allzu langer Zeit als sicheres Merkmal für die wirtschaftliche Unterentwicklung eines Landes galten oder für ein voriibergehendes Phänomen konjunktureller Abschwächung gehalten wurden, haben hohe Massenarbeitslosigkeit und wachsende soziale Ungleichheit inzwischen in den hochentwickelten Volkswirtschaften dauerhaft Einzug gehalten. 4 Im ökonomischen Entwicklungsprozess der Industriegesellschaften vollzieht sich offenkundig ein grundlegender Wandel, der für viele unerwartet kommt und die hochentwickelten Länder weitgehend unvorbereitet trifft.

I Vgl. OECD Wirtschaftsausblick (2000): Volkswirtschaft, Nr. 68/00, Dezember 2000, Table 23. Labour force, employment and unemployment. 2 Vgl. Eurostat (2001): Euro-Indikatoren, Nr. 1/2001, vom 3. Januar 2001. Die Zahl von 14 Millionen bezieht sich auf die EUIS. 3 Vgl. Bundesanstalt.fiir Arbeit (2001): Presseinformation 2/ 2001 vom 9. 1. 2001. 4 Vgl. Strasser; Johanno (1999): Wenn der Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgeht, Zürich/ München, S. 23 f.

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Einleitung: Problemstellung und Gang der Untersuchung

In der öffentlichen Diskussion spielen sozioökonomische Entwicklungen wie etwa die Veränderungen im Gefüge sozialer Ungleichheit eine untergeordnete Rolle, und das Thema Arbeitslosigkeit hat allenfalls periodisch Konjunktur. Steigende Arbeitslosenzahlen setzen es für eine Weile auf die Tagesordnung von Politik, Medien und Wissenschaft. Sobald sich die Zahlen stabilisieren oder vorübergehend zurückgehen, lässt das Interesse nach oder erlischt völlig. Ein Überblick über die Gesamtsituation und erst recht ein Zusammenhang zum hohen Entwicklungsstand der Volkswirtschaft bleibt außerhalb dieser zyklischen und tagespolitischen Aufmerksamkeit. Nicht nur in der öffentlichen Diskussion, auch in den wissenschaftlichen Fachdebatten herrschen vorzugsweise eher punktuelle Erklärungs- und Handlungsansätze vor. Sie können bestimmte Sachverhalte durchaus zutreffend erklären, verlieren dabei jedoch häufig die langfristigen Entwicklungen aus den Augen. In den vergangenen Jahren ist eine Vielzahl von Veröffentlichungen zur Zukunft der Arbeit, der Ökonomie und des Wohlfahrtsstaates erschienen. Um so erstaunlicher ist es, dass die Perspektiven von Arbeit, Ökonomie und Wohlfahrtsstaat bislang kaum auf dem Hintergrund veränderter ökonomischer Wachstumsgrundlagen hochentwickelter Volkswirtschaften, wie sie aus verschiedenen ökonomischen Langfristtheorien seit langem bekannt sind, untersucht wurden. Gegenstand der vorliegenden Studie ist die Frage nach wohlfahrtsstaatliehen Perspektiven fortgeschrittener Industriegesellschaften unter besonderer Berücksichtigung langfristiger ökonomischer Veränderungen und deren gesellschaftlichen Folgewirkungen. Auf der Grundlage einer Analyse der Zusammenhänge von langfristigen volkswirtschaftlichen Prozessen und sozioökonomischen Veränderungen werden Grundlinien wohlfahrtsstaatlicher Politik hochentwickelter Länder herausgearbeitet. Sie zielen darauf, gesellschaftliche Beteiligungs- und Integrationsmöglichkeiten angesichts veränderter volkswirtschaftlicher Wachstumsgrundlagen zu erhalten bzw. zu vergrößern. Mit dem Begriff Wohlfahrtsstaat werden - wie in der Fachliteratur heute üblich - allgemein Länder gekennzeichnet, in denen der Staat eine aktive Rolle in der Steuerung wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Abläufe übernimmt und der Forderung nach größerer Gleichheit der Lebenschancen in den Dimensionen Einkommenssicherung, Gesundheit, Wohnen und Bildung nachkommt. Die vorliegende zwischen Wirtschaftswissenschaft, Soziologie und Politikwissenschaft angelegte Untersuchung ist in drei große Abschnitte gegliedert. Teil A dient einem vertieften Verständnis dessen, was unter "Wohlfahrtsstaat" zu verstehen ist (I.), wie er sich entwickelt hat (II.) und wie sich Wohlfahrtsstaatlichkeit derzeit international, vor allem mit Blick auf Europa darstellt (III.). Diese wohlfahrtsstaatliche Grundlegung zu Beginn der Untersuchung will vor allem auf die wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Wirkung des Wohlfahrtsstaates (IV.) sowie auf dessen Rollenwechsel und Funktionserweiterung (V.) im Verlauf der historischen Entwicklung hinweisen. Die Ausführungen im Teil B. fragen nach den typischen ökonomischen Veränderungsprozessen hochentwickelter Volkswirtschaften sowie ihren Auswirkungen auf

Einleitung: Problemstellung und Gang der Untersuchung

17

die gesellschaftliche Entwicklung der Industrieländer: Im ersten Kapitel (I.) dieses Teils wird zunächst eine ökonomische Analyse der Langfristentwicklung marktwirtschaftlich organisierter Industriegesellschaften gegeben, die ökonomischen Langfristtheorien und ihre empirischen Belege werden dargestellt. Auf dieser Grundlage werden die sozioökonomischen Auswirkungen (II.) einer solchen Entwicklung untersucht. Dies geschieht unter besonderer Beriicksichtigung der in allen hochentwickelten Industrieländern häufig ähnlich verlaufenden Arbeitsmarkt-, Einkommens- und Vermögensverteilungsprozesse sowie der zugrundeliegenden Politikkonzepte. Das Kapitel III. fragt nach den Wirkungen dieser sozioökonomischen Entwicklungen auf das Gefüge sozialer Ungleichheit und verbindet dies mit der Analyse moderner Zeitstrukturen hochproduktiver Ökonomien. Schließlich fragt das letzte Kapitel (IV.) dieses Teils nach einem Bedeutungswandel der bezahlten Arbeit angesichts der weitreichenden Veränderungsprozesse sowie nach neuen Lebens- und Beteiligungschancen im Zuge der langfristigen volkswirtschaftlichen Entwicklung. Auf der Grundlage dieser Untersuchung kristallisieren sich verschiedene Perspektiven wohlfahrtsstaatlicher Politik in hochentwickelten Industrieländern heraus, die jeweils am Ende eines Kapitels zu einer These zusammengefasst werden. Der Teil C. ist der Konkretisierung dieser wohlfahrtsstaatliehen Perspektiven gewidmet und diskutiert zunächst einschlägige sozialpolitische Zukunftsentwürfe der vergangenen Jahre (I.), so den Bericht der bayrisch-sächsischen Zukunftskommission, das Dritte-Weg-Konzept des New Labour-Projektes sowie den Bericht der Zukunftskommission der Friedrich-Ebert-Stiftung, und befragt sie auf dem Hintergrund der zuvor herausgearbeiteten wohlfahrtsstaatliehen Eckpunkte hochentwickelter Länder. In Erinnerung an sozialpolitiktheoretische Grundlagen knüpft hieran eine Kritik der gegenwärtig dominierenden Sozialstaatsdebatte an (II.), um abschließend zu den herausgearbeiteten Grundlinien wohlfahrtsstaatlicher Politik konkrete Handlungsmöglichkeiten und sozialpolitische Maßnahmen vorzuschlagen und zur Diskussion zu stellen (III.).

2 Reiners

A. Wohlfahrtsstaat: Entwicklung, Vergleiche und Rollenwandel I. Begriffe, Prinzipien und Arrangements Die Frage nach den wohlfahrtsstaatliehen Perspektiven entwickelter Industriegesellschaften setzt zunächst ein vertieftes Verständnis dessen voraus, was unter "Wohlfahrtsstaat" zu verstehen ist, wie er sich entwickelt hat, was seinen bisherigen Erfolg und die aktuellen Schwierigkeiten ausmacht. Die folgende Analyse dient, zusammen mit einem Vergleich europäischer Wohlfahrtsstaatlichkeit, dieser Grundlegung. Zudem soll hier anband der wirtschaftlichen, politischen und soziokulturellen Wirkungen des Wohlfahrtsstaates auf dessen Wert und Funktionserweiterung im Verlauf der historischen Entwicklung hingewiesen werden. 1. Begriffe und Konzept

In der aktuellen sozialwissenschaftliehen Debatte etabliert sich zunehmend der Begriff Wohlfahrtsstaat als deskriptives Konzept zur Kennzeichnung eines bestimmten Typus der Staatstätigkeit 1 Dies geschieht vor allem in der Absicht, unterschiedliche Regimes international zu vergleichen. Als Wohlfahrtsstaaten werden dabei Länder gekennzeichnet, "in denen der Staat eine aktive Rolle in der Steuerung wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Abläufe übernimmt und einen beträchtlichen Teil seiner Ressourcen sozialpolitischen Zwecken widmet, die der Forderung nach einer größeren Gleichheit der Lebenschancen in den Dimensionen Einkommenssicherung, Gesundheit, Wohnen und Bildung nachkommen. In diesem international gebräuchlichen Konzept schwingt eine Verpflichtung des Staates auf eine umfassende Politik des Ausbaus sozialer Staatsbürgerrechte mit, die sich nicht mit der Sicherung von Konsumchancen begnügt, sondern auch die Förderung von

I Vgl. Alber, Jens!Nübel, Christina/Schälkopf Martin (1998): Sozialstaat/Soziale Sicherung, in: Schäfers, B.!Zapf W. (Hrsg.): Handwörterbuch zur Gesellschaft Deutschlands, Opladen, S. 622, vgl. auch Heinze, RolfG.!Schmid, Josef/Strünk, Christof(l999): Vorn Wohlfahrtsstaat zum Wettbewerbsstaat Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik in den 90er Jahren, Opladen, S. 15 und Kaufmann, Franz-Xaver (l997a): Herausforderungen des Sozialstaates, Frankfurt arn Main, S. 21 sowie Schmid. Josef (1996): Wohlfahrtsstaaten im Vergleich. Soziale Sicherungssysteme in Europa: Organisation, Finanzierung, Leistungen und Probleme, Opladen, S. 21 auch Schulte, Bemd (1991): Die Folgen der EG-Integration für die wohlfahrtsstaatliehen Regimes, in: Zeitschrift für Sozialreforrn, 37, S. 548 - 579.

I. Begriffe, Prinzipien und Arrangements

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Wirtschaftswachstum und Vollbeschäftigung anstrebt und den Abbau ungleicher Teilnahmechancen am gesellschaftlichen und politischen Leben zum Ziel erhebt". 2 In Deutschland wird nach wie vor häufig der Begriff Sozialstaat verwendet, während international der Begriff Wohlfahrtsstaat bereits gebräuchlich ist. Die Unterscheidung zwischen Sozialstaat und Wohlfahrtsstaat bezieht sich häufig darauf, dass "Sozialstaaten" nach dem Versicherungsprinzip organisiert sind, wogegen "Wohlfahrtsstaaten" vornehmlich auf der steuerlichen Umverteilung beruhen. Andere Unterscheidungen betonen vor allem die normative Funktion des Begriff "Sozialstaat" im politischen und juristischen Diskurs etwa in Deutschland, wogegen dem Begriff "Wohlfahrtsstaat" eine beschreibende Funktion im sozialwissenschaftliehen Diskurs und internationalen Vergleich zukomme. 3 Im deutschen Sprachgebrauch ist der Ausdruck Wohlfahrtsstaat lange Zeit als polemischer Begriff zur Abgrenzung des eigenen Modells der Sozialen Marktwirtschaft vom skandinavischen Modell verwendet worden. In dieser Lesart wird der Wohlfahrtsstaat mit einem überbordenden und die Freiheitsrechte einschränkenden "Versorgungsstaat" gleichgesetzt. In der deutschen Diskussion ist deshalb, um Missverständnissen vorzubeugen, zu berücksichtigen, dass der Begriff Sozialstaat hier - anders als im Ausland - nicht nur als eine spezifische Ausprägung des als Oberbegriff verstandenen Wohlfahrtsstaates gesehen wurden, sondern auch als Abgrenzung zum Wohlfahrtsstaat, vor allem skandinavischer Prägung.4 Im Folgenden werden die Begriffe Sozialstaat, Wohlfahrtsstaat und Sozialpolitik, wie in der deutschsprachigen Sozialstaatsliteratur inzwischen üblich, synonym verwendet. 5 Aus international vergleichender Perspektive handelt es sich bei der Unterscheidung zwischen Sozial- und Wohlfahrtsstaat also lediglich um verschiedene nationale Varianten des gleichen Typus gesellschaftlicher Entwicklung, die Franz-Xaver Kaufmann so zusammenfasst: "Von der liberalen Trennung eines auf Fragen von Sicherheit und Ordnung begrenzten Rechtsstaates einerseits und einer auf der freien Entfaltung der Konkurrenz beruhenden privatkapitalistischen Wirtschaft andererseits zu einem komplexeren Verständnis von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft, im Rahmen dessen bei grundsätzlicher Wahrung struktureller Grenzen zwischen 2 Alber, Jens /Schölkopf Martin (1998): Sozialstaat/Wohlfahrtsstaat, in: Nohlen, D. (Hrsg.): Wörterbuch Staat und Politik, München, S. 705-713. 3 Vgl. Schulte, Bemd (1991), S. 562. 4 Alber, Jens/Nübel, Cristina/Schölkopf Manin (1998), S. 623, vgl. auch Schmid, Josef (1996), S. 21 und Heinze, RolfG.!Schmid, Josef!Strünk, Christof(l999), S. 17. s Beide Begriffe - "Sozialstaat" wie "Wohlfahrtsstaat" - finden in der Fachdebatte seit langem Verwendung. Vom "sozialen Staat" spricht erstmals Lorenz v. Stein 1854, wobei Adolf Wagner bereits 1876 den Begriff "Wohlfahrtsstaat" bevorzugte, vgl. hierzu Kaufmann, Franz-Xaver (1996): Modemisierungsschübe, Familie und Sozialstaat, München, S. 31. Gegen die neuerliche synonyme Verwendung von Wohlfahrtsstaat und Sozialstaat spricht sich beispielsweise Claus Koch aus, vgl. Koch, Claus (1995): Sozialstaat und Wohlfahrtsstaat, in: ders.: Die Gier des Marktes. Die Ohnmacht des Staates im Kampf der Weltwirtschaft, München und Wien, S. 41-53. Vgl. aber auch Huf Stefan (1998): Sozialstaat und Modeme. Modemisierungseffekte staatlicher Sozialpolitik, Berlin, S. 15.

2*

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A. Wohlfahrtsstaat: Entwicklung, Vergleiche und Rollenwandel

Staat und Wirtschaft auch die Belange der privaten Wohlfahrt zum Gegenstand politischer Verantwortung werden".6 Die Komplexität des Verständnisses von Wohlfahrtsstaatlichkeit wird auch in den entsprechenden Formulierungen des deutschen Grundgesetzes erkennbar. In der sogenannten Sozialstaatsklausel des Art. 20 Abs. 1 des Grundgesetzes heißt es: "Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat". Im Art. 28 Abs. 1 findet dies seinen Widerhall, wenn die verfassungsmäßige Ordnung in den Bundesländern "den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes" entsprechen muss. Diese Formulierung macht darauf aufmerksam, dass es keinen isolierten Sozial- oder Wohlfahrtsstaat als eigenständige Institution geben kann. 7 Zwar deutet die Sozialstaatsliteratur seit der Verfassungsgesetzgebung von 1949 den Sozialstaat - aus gutem Grund- als konstitutiv und normativ, gleichwohl meint der Terminus "demokratischer und sozialer Bundesstaat" des Grundgesetzes gerade keine exklusive einmal erreichbare "Sozialstaatlichkeit". Er betrifft vielmehr das, was Carlo Schmid schon am 8. Mai 1949 bei der Verabschiedung des Grundgesetzes als "die soziale Konsequenz, die sich aus den Postulaten der Demokratie" ergibt, gekennzeichnet hat8 : Nur durch den demokratischen Mehrheitswillen und seine Wirksamkeit in der Demokratie kann der Sozialstaat existieren. 9 Der Ausgangspunkt des Sozialstaates ist die Demokratie, nicht die Verfassungsnorm. 10 Auf diesen grundlegenden Zusammenhang von Wohlfahrtsstaatlichkeit und Demokratie wird in den folgenden Überlegungen noch ausführlicher einzugehen sein. Wie "Wohlfahrtsstaatlichkeit" konkret verwirklicht wird, das ist letztlich eine Frage der "sozialpolitischen" Maßnahmen, der politischen Mehrheiten und der Entscheidungsprozesse des politischen Systems; sie betreiben Sozialpolitik. Sozialpolitik zielt nach einer ersten knappen Definition von Manfred G. Schmidt "auf Schutz vor Not, auf Sicherung gegen die Wechselfälle des Lebens und - im fortgeschrittenen Stadium -darauf, soziale Ungleichheit zu kontrollieren und einzudämmen".11 Im Einzelnen werden zu diesen Zielvorstellungen wesentlich die Hilfe ge6 Kaufmann, Franz-Xaver (1997a), S. 21, vgl. auch ders. (1994): Staat und Wohlfahrtsproduktion, in: Derlien, H.-U./Gerhardt, U./Scharf, F.W. (Hrsg.): Systemrationalität und Partialinteresse. Festschrift für Renate Mayntz, Baden-Baden, S. 357-380. 7 Vgl. auch Kaufmann, Franz-Xaver(l997a), S. 22. 8 Carlo Schmid, zit. nach: Hartwich, H.-Hermann (1996): Der Sozialstaat und die Krise der .,Arbeitsgesellschaft", in: Gegenwartskunde 1/96, S. 12. 9 Vgl. auch Zinn, Kar/ Georg (1999a): Sozialstaat in der Krise. Zur Rettung eines Jahrhundertprojektes, Berlin, S. 27 sowie Grimm, Dieter (Hrsg.) (1994): Staatsaufgaben, BadenBaden. IO Vgl. Hartwich, H.-Hermann (1996), S. 12 auch Zacher. Hans F. (1993): Abhandlungen zum Sozialrecht, hrsg. v. Maydell, B. I Eichenhofer. E., Heidelberg, S. 3-72 sowie ders. (1987): Das Staatsziel, in: lsensee, 1./Kirchhof, P.: Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, Heidelberg, S. 1045-1111. II Schmidt, Manfred G. (1998): Sozialpolitik in Deutschland. Historische Entwicklung und internationaler Vergleich, Opladen, S. 3.

I. Begriffe, Prinzipien und Arrangements

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gen Armut, der Schutz gegen Risiken infolge von Alter, Krankheit, Arbeitslosigkeit, Tod des "Ernährers", Pflegebedürftigkeit oder Mutterschaft sowie soziale Gerechtigkeit, Verminderung von Ungleichheit, Kontrolle von Abhängigkeitsverhältnissen, Unterstützung der Selbsthilfefähigkeit oder das Streben nach Vollbeschäftigung genannt. Die Ziele konkretisieren sich im Wesentlichen in der Arbeitnehmerschutzpolitik, der Arbeitsmarktpolitik, der Ausgestaltung der Betriebs- und Untemehmensverfassung, den Sozialversicherungen, der Sozialhilfepolitik, der Wohnungs-, Familien- und Bildungspolitik, der Politik der Einkommens- und Vermögensverteilung, der Jugend- und Altenhilfepolitik. 12 Engere Definitionen von Sozialpolitik konzentrieren sich auf den Schutz gegen die Risiken der arbeitsteiligen Gesellschaft und stellen die Sicherung der Existenz bei fehlenden Möglichkeiten zum eigenständigen Erwerb ausreichender Arbeitseinkommen in den Vordergrund, d. h. im wesentlichen die Sozialversicherungen (Kranken-, Pflege-, Unfall-, Renten- und Arbeitslosenversicherung). Auch die weiter gefassten Definitionen von Sozialpolitik konstatieren, dass die Sozialversicherungen - gemessen am Gewicht der Einkommensleistungen - den weitaus größten und von ihrer Aufgabe her einen zentralen Bereich der deutschen Sozialpolitik bzw. der "sozialen Sicherung" 13 darstellen. Dies gilt insbesondere für das deutsche Modell des Wohlfahrtsstaates, wie in der Darstellung der verschiedenen wohlfahrtsstaatliehen Modelle weiter unten noch ausgeführt wird. Heinz Lampert weist darauf hin, dass trotz zahlreicher, intensiver, seit Jahrzehnten anhaltender Bemühungen um eine Definition der praktischen Sozialpolitik und der Sozialpolitik als wissenschaftlicher Disziplin, der Begriff gleichwohl umstritten geblieben ist. Dies sei sowohl Folge der Geschichtsgebundenheit des Begriffes - der Sozialpolitikbegriff unterliegt dem historischen Wandel der sozialen Zustände - als auch Ausdruck der nonnativen Wirkung seiner Definition. Lampert schlägt angesichts dessen eine Definition vor, die von konkreten Zielen, Grundsätzen, Mitteln und Trägem abstrahiert. Sie kann hinsichtlich der Zielrichtung praktischer Sozialpolitik als konsensfahig gelten und bildet wohl den aktuellen Stand der Sozialpolitiklehre ab: "In diesem Sinne lässt sich praktische Sozialpolitik definie12 Vgl. ebenda, S. 17 sowie Lampert, Heinz (1998): Lehrbuch der Sozialpolitik, Berlin I Heidelberg/New York, S. 3. Das Lehrbuch stellt die einzelnen Bereiche der Sozialpolitik ausführlich dar. Eine differenzierte Übersicht zu den Bereichen der Sozialpolitik findet sich bei Lampert aufS. 159. 13 Der Begriff der "sozialen Sicherung" ist eine von F. D. Roosevelt (social security) eingeführte Zielformulierung der Sozialpolitik. Im deutschen Sprachgebrauch umfasst er vor allem die Sozialversicherungen. Zunehmend wird der Begriff soziale Sicherung auf alle im Sozialbudget ausgewiesenen Sozialleistungen ausgedehnt (Sozialhilfeleistungen, Kriegsopferversorgung, Sozialtransfers im Rahmen der Wohnungsbaupolitik, Ausbildungsförderung oder Familienpolitik u. a.), vgl. hierzu Kaufmann, Franz-Xaver (1995): Soziale Sicherung, in: Fuchs-Heinritz, W. I Lautennann, R. I Rammstedt, 0./Wienold, H. (Hrsg.): Lexikon zur Soziologie, Opladen, S. 601 und Lampert, Heinz (1998), S. 224 ff. sowie Michalsky, Helga (1998): Sozialversicherungen/Soziale Sicherheit, in: Nahten, D. (Hrsg.): Wörterbuch Staat und Politik, München/Zürich, S. 720-722.

22

A. Wohlfahrtsstaat: Entwicklung, Vergleiche und Rollenwandel

ren als jenes politische Handeln, das darauf abzielt, erstens die wirtschaftliche und soziale Stellung von wirtschaftlichen und I oder sozial absolut oder relativ schwachen Personenmehrheiten durch den Einsatz geeignet erscheinender Mittel im Sinne der in einer Gesellschaft verfolgten gesellschaftlichen und sozialen Grundziele (freie Entfaltung der Persönlichkeit, soziale Sicherheit, soziale Gerechtigkeit, Gleichbehandlung) zu verbessern und zweitens den Eintritt wirtschaftlicher und I oder sozialer Schwäche im Zusammenhang mit dem Auftreten existenzgefährdender Risiken zu verhindern". 14 Grundlegend für die Sozialpolitik ist in dieser Perspektive der Bezug auf wirtschaftlich und I oder sozial schwache Gruppen und das Ziel der positiven Beeinflussung defizitärer Lebenslagen. Wohlfahrtsstaatlichkeit ergibt sich nach diesem verbreiteten Verständnis aus der Notwendigkeit, bei Versorgungsmängeln sozialpolitisch zu reagieren und kompensatorisch tätig zu werden.15 In dieser dominierenden Sichtweise auf den Wohlfahrtsstaat kommen jedoch die weitreichenden gesellschaftsgestaltenden Wirkungen der Sozialpolitik kaum ins Blickfeld und werden somit nicht Gegenstand der wohlfahrtsstaatliehen Betrachtung. In den folgenden Überlegungen soll deshalb die häufig vernachlässigte konstitutive und gestalterische Wirkung des Wohlfahrtsstaates besondere Beachtung finden. Der Wohlfahrtsstaat bezieht sich nicht auf den Staat allein. Vielmehr sind die Institutionen des Wohlfahrtsstaates - so die Sozialversicherungen, die Träger der Arbeitsmarktpolitik, die Behörden des Arbeitsschutzes, das Gesundheits- und Bildungswesen oder die Vielzahl sozialer Einrichtungen - als selbstständige Körperschaften des öffentlichen Rechts, gemeinnützige Einrichtungen oder als Sonderbehörden organisiert. Dieser institutionelle Komplex des Wohlfahrtsstaates lässt sich unter dem Sammelbegriff "Sozial- und Wohlfahrtssektor" zusammenfassen. 16 Der Sozial- und Wohlfahrtssektor ist im Falle der Bundesrepublik deutlich als separater Bereich neben dem staatlich verfassten politischen System und der privatrechtlich verfassten Marktwirtschaft erkennbar. Für Kaufmann ist diese institutionelle Verknüpfung respektive das Arrangement von privatkapitalistischem Wirtschaftssystem, demokratischem Staat und dem staatlich regulierten Wohlfahrtssektor charakteristisch für eine wohlfahrtsstaatliche Gesellschaft. 17 Die Einrichtungen des Arbeitsrechts, der sozialen Sicherung, des Bildungs- und Sozialwesens usw. bilden eine für den Wohlfahrtsstaat typische "Zwischensphäre" zwischen Unternehmen, Lampert, Heinz (1998), S. 4. Vgl. Huf, Stefan (1998): Sozialpolitik und Modeme. Modemisierungseffekte staatlicher Sozialpolitik, Berlin, S. 23. 16 Vgl. Kaufmann, Franz-Xaver (1997a), S. 23, vgl. Schmidt, Manfred G. (1998), S. 147 ff. Zur Inkorporation der Verbände und zur "Selbstverwaltung" vgl. u. a. Krause, Peter (1994): Selbstverwaltung, in: Maydell, 8. v. (Hrsg.): Lexikon des Rechts-Sozialrecht, Neuwied, s. 364-370. 17 Bereits Oswald von Nell-Breuning hatte auf diese institutionellen Verknüpfungen des Wohlfahrtsstaates hingewiesen, und darauf, dass sie dem Prinzip der "Solidarität" wie dem der "Subsidiarität" verpflichtet sein sollen, vgl. Nell-Breuning, Oswald von (1968): Baugesetze der Gesellschaft, Freiburg i. B. 14

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I. Begriffe, Prinzipien und Arrangements

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Haushalten und Staat. Der Begriff des Sozial- oder Wohlfahrtssektors ist damit nicht mit dem des Dritten Sektors identisch oder zu verwechseln, welcher sich in den letzten Jahren als Sammelbezeichnung für Weder-Markt-Noch-Staat-Organisationen etabliert hat. Diese Unterscheidung ist für die weiteren Ausführungen von Interesse: Der Begriff des Sozial- oder Wohlfahrtssektor ist einerseits weiter als der des "Dritten Sektors", da er auch staatliche Formen der Dienstleistungsproduktion- wie die Arbeitsverwaltung oder das Bildungswesen- umfasst, er ist andererseits enger, insofern er nur diejenigen nicht gewinnorientierten Tätigkeiten und Organisationen erfasst, die unter einem spezifisch regulierten staatlichen Einfluss stehen. Nicht zuletzt umfasst der Wohlfahrtssektor auch gewinnorientierte Unternehmen (z. B. private Pflegedienste, Privatkliniken), wenn sie in dem staatlich regulierten sozialen Dienstleistungsbereich tätig sind. 18 Selbstverständlich trägt zur Wohlfahrt der Gesellschaft nicht nur der "Wohlfahrtssektor" bei. Angesichts dieser Tatsache, die in der Wohlfahrtsstaatsdebatte zunehmend Beachtung findet, haben sich in der Literatur inzwischen Begriffe wie Wohlfahrtspluralismus oder Wohlfahrtsgesellschaft eingebürgert. 19 Die in ihrem Zusammenhang verwendeten Stichworte wie neue Subsidiarität, Intermediarität, Zivilgesellschaft oder Selbsthilfe lassen die Vielschichtigkeit des Gegenstandes erahnen. Im Kern wird mit dem Begriff Wohlfahrtsgesellschaft auf die Tatsache hingewiesen, dass in modernen Gesellschaften mehrere Sektoren an der Wohlfahrtsproduktion beteiligt sind?0 Neben dem Markt, dem Staat und den Haushalten existiert eine Vielzahl von sozialen Initiativen, Selbsthilfegruppen und ehrenamtlichem Engagement. Adalbert Evers und Thomas Olk konstatieren vier Sektoren der Wohlfahrtsproduktion: neben "Markt", "Staat" und dem "informellen Sektor" der durch Familienhaushalte, Nachbarschaften, Verwandtschaftsgruppen oder Selbsthilfegruppen repräsentiert wird - auch den Bereich der ,,Zivilgesellschaft". Hier stellen freiwillige bürgerliche Zusammenschlüsse wie Vereine, Initiativen oder Verbände die zentralen Akteure dar. 21 Unter Beriicksichtigung der oben dargelegten Überlegungen zum staatlich reglementierten "Wohlfahrtsektor"22 im Sinne Kaufmanns könnten fünf Sektoren der Wohlfahrtsproduktion unterschieden werden, wie die folgende Übersicht veran18 Vgl. v.a. Kaufmann, Franz-Xaver (1997a), S. 24 sowie Rieger, Elmar (1992): Die lnstitutionalisierung des Wohlfahrtsstaates, Opladen. 19 Vgl. u. a. Evers, AdalbertiOlk, Thomas (Hrsg.)(l996): Wohlfahrtspluralismus. Vom Wohlfahrtsstaat zur Wohlfahrtsgesellschaft, Opladen. 20 Vgl. Zapf, Wolfgang (1981): Wohlfahrtsstaat und Wohlfahrtsproduktion, in: Albertin, L./Link, W. (Hrsg.): Politische Parteien auf dem Weg zur parlamentarischen Demokratie in Deutschland, Düsseldorf, S. 379-400 sowie Kaufmann, Franz-Xaver (1994): Staat und Wohlfahrtsproduktion, in: Derlien, H.-U./Gerhardt, V. I Scharf, F.W. (Hrsg.): Systemrationalität und Partialinteresse. Festschrift für Renate Mayntz, Baden-Baden, S. 357-380 und Heinze, Rolf G./ Schmid, JosefI Strünk, Christo! (1999) sowie Evers, Adalbert I Olk, Thomas (Hrsg.)(l996), S. 9 - 60. 21 Vgl. Evers, AdalbertiOlk, Thomas (Hrsg.)(l996), S. 22-27. 22 Vgl. Kaufmann, Franz-Xaver (1997a), S. 23.

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A. Wohlfahrtsstaat: Entwicklung, Vergleiche und Rollenwandel

schaulicht Hier wird erkennbar, dass der "Wohlfahrtssektor" als Schnittmenge der anderen vier Sektoren entsteht und sich deutlich vom "Dritten Sektor" unterscheiden. Eine Unterscheidung, die in der Debatte um die Zukunft des Wohlfahrtsstaates häufig nicht klar gezogen wird - woraus zumeist überzogene Erwartungen an den "Dritten Sektor" resultieren. Diese Klärung ist deshalb für die weiter Überlegungen wichtig. Übersicht 1

Fünf Sektoren der Wohlfahrtsproduktion Institution Sektoren der WohlfahrtsI produktion Akteure

Markt Markt-Sektor

Staat Staats-Sektor

Zivilgesellschaft Nonprofit-Sektor/ "Dritter Sektor"

Gemeinschaft Informeller Sektor

privatwirtschaftl. Unternehmen

öffentliche Verwaltung

Verbände,

Familien, Nachbarschaften, Freundschaftsbeziehungen

Vereine,

Institutionen

Sozial- oder Wohlfahrtssektor Staatliche und staatlich reglementierte Dienstleistungsproduktion

* U.a. Sozialversicherungen, Gesundheitswesen, Organisationen und Einrichtungen für sozialgefahrdete oder benachteiligte Gruppen, Behörden des Arbeitsschutzes und der Arbeitsmarktpolitik, Bildungswesen, Nonprofit-Unternehmen und gewinnorientierte Unternehmen, wenn sie einem staatlich reglementierten Einfluss unterliegen z. B. Privatkliniken, private Pflegedienste. Den Protagonisten der Debatte um die "Wohlfahrtsgesellschaft", wie Warnfried Dettling, geht es vor diesem Hintergrund um neue Möglichkeiten der wechselseitigen Ergänzung der verschiedenen Sektoren. Angesichts einer pluralisierten Gesellschaft seien standardisierte und formalisierte Wohlfahrtskonzepte in Richtung größerer Vielfalt und Selbstbestimmung weiterzuentwickeln, weshalb eine Entwicklung vom "Wohlfahrtsstaat" zur "Wohlfahrtsgesellschaft" geboten sei. 23 Unter dem Stichwort der "Bürgergesellschaft" werden solche Überlegungen weiter unten wieder aufgegriffen und diskutiert. 23 Dettling, Warnfried (1995): Politik und Lebenswelt. Vom Wohlfahrtsstaat zur Wohlfahrtsgesellschaft, Gütersloh, S. 190 f. ; vgl. auch ders. (1998): Wirtschaftskummerland? Wege aus der G1obalisierungsfalle, München, vgl. auch Heinze, Rolf G. I Schmid, JosefI Strünk, Christof(1999), S. 183 ff.

I. Begriffe, Prinzipien und Arrangements

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2. Merkmale und Prinzipien

Wie die international vergleichende Wohlfahrtsforschung zeigt, weisen Wohlfahrtsstaaten in ihrer institutionellen Ausgestaltung große Unterschiede auf. Diese Unterschiedlichkeit ist vor allem Ausdruck verschiedener kulturell begründeter Auffassungen und unterschiedlicher politischer Kräfteverhältnisse im Verlauf ihrer historischen Entwicklung. Im Folgenden wird dagegen zunächst der Frage nachgegangen, ob sich - über alle Unterschiedlichkeit hinweg - gemeinsame Merkmale finden lassen, charakteristische wohlfahrtsstaatliche Prinzipien, die sich als wohlfahrtsstaatlicher Typus gesellschaftlicher Entwicklung charakterisieren lassen. Kaufmann, der den Versuch unternimmt, solche Merkmale herauszuarbeiten, hebt zunächst drei typische Gesichtspunkte des wohlfahrtsstaatliehen Arrangements hervor: Erstens bleiben in der Produktionssphäre von Wohlfahrtsstaaten das Produktionseigentum und die Unternehmerische Dispositionsfreiheit grundsätzlich unberührt, bewegen sich jedoch in einem eingeschränkten Rahmen, der vor allem darauf zielt, den Machtunterschied zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern sowie außerhalb der betrieblichen Kosten anfallende "soziale Kosten" zu reduzieren. Zweitens wird in der Verteilungssphäre die an marktwirtschaftliehen Prinzipien orientierte primäre Einkommensverteilung korrigiert. Dies geschieht durch eine staatlich organisierte sekundäre Einkommensverteilung, die das Einkommen der nicht Erwerbstätigen bzw. Niedrigverdienenden und nichtvermögenden Bevölkerungsgruppen sichern soll. Drittens werden charakteristischerweise in der Reproduktionssphäre die Leistungen der privaten Haushalte durch öffentlich subventionierte oder vollständig finanzierte Dienstleistungen im Bildungs-, Gesundheitsund Sozialwesen ergänzt oder unterstützt. 24 Damit unterscheidet sich der wohlfahrtsstaatliche Gesellschaftstypus vom liberalrechtsstaatlich-marktwirtschaftlichen, wie er etwa in den Vereinigten Staaten oder einigen Schwellenländern vorkommt. Die gesellschaftlichen Verhältnisse der Wohlfahrtsstaaten werden nicht ohne den Staat gedacht, vielmehr wird dem Staat die Kompetenz zur wohlfahrtssteigernden Intervention zugesprochen. Gesellschaftstheoretisch wird der zugrundeliegende Gedanke gleichzeitiger Staatsintervention und gesellschaftlicher Selbststeuerung auf der Basis der Funktionsdifferenzierung im Sinne von Niklas Luhmann verständlich. 25 Demnach entwickeln moderne Gesellschaften verschiedene funktionsorientierte Teilsysteme, die sich in ihrer effizienten Einseitigkeit wechselseitig ergänzen und in Schranken Vgl. Kaufmann, Franz-Xaver(l997a), S. 27-33. Vgl. u. a. Luhmann, Niklas (1970): Funktion und Kausalität, in: ders.: Soziologische Aufklärung 1. Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme, Opladen, S. 9-30. Einen Überblick über die zugrundeliegende Gedankentradition gibt Mayntz, Renate ( 1988): Funktionelle Teilsysteme in der Theorie sozialer Differenzierung, in: dies.: Differenzierung und Verselbständigung. Zur Entwicklung gesellschaftlicher Teilsysteme, Frankfurt/New York, S. 11 ff. sowie Mayntz, Renate/Scharpj. Fritz W (Hrsg.)(1995): Gesellschaftliche Selbstregelung und politische Steuerung, Frankfurt/New York. 24 25

26

A. Wohlfahrtsstaat: Entwicklung, Vergleiche und Rollenwandel

halten. Wohlfahrtsstaatliche Arrangements sind somit ein wesentliches Element der Lösung von Folgeproblemen einer Verselbstständigung etwa von Ökonomie und Politik. Vor dem Hintergrund dieser den Wohlfahrtsstaat kennzeichnenden Balance verschiedener gesellschaftlicher Teilsysteme beziehen sich die Wirkungen einer erfolgreichen sozialpolitischen Intervention nicht auf ein gesellschaftliches Teilsystem allein, sondern "sie wirken mit Bezug auf die Funktionsdifferenzierungen moderner Gesellschaften multifunktional. .. ".26 So ist es plausibel, dass wohlfahrtsstaatliche Entwicklungen nicht der einheitlichen Logik nur eines Teilsystems folgen, sondern vielmehr auf eine Synthese unterschiedlicher - wirtschaftlicher, politischer, kultureller und sozialer - "Logiken" zielen. Deshalb stellt Kaufmann zu Recht fest, dass es sich bei der wohlfahrtsstaatliehen Entwicklung typischerweise um einen interdisziplinären Gegenstand handelt, der sich weder aus ökonomischer noch aus politikwissenschaftlicher oder juristischer noch aus soziologischer Perspektive allein verstehen lässt?7 Dieser Tatsache will der interdisziplinäre Ansatz der vorliegenden Untersuchung Rechnung tragen. II. Entwicklung des Wohlfahrtsstaates und der Sozialleistungsquote 1. Zur geschichtlichen Entwicklung

Die Ausbreitungstendenzen staatlich vermittelten sozialen Schutzes bis hin zur Gewährleistung sozialer Rechte für jede Bürgerin und jeden Bürger gehören zu den typischen Merkmalen, gleichsam zur Definition wohlfahrtsstaatlicher Entwicklung. Von "wohlfahrtsstaatlicher Entwicklung" sollte- folgt man Kaufmannerst gesprochen werden, insoweit soziale Sicherungssysteme und soziale Dienstleistungen immer weitere Bevölkerungskreise und tendenziell die Gesamtbevölkerung erfassen und insoweit Arbeitnehmer staatlich gewährleistete Rechte im Arbeitsverhältnis geltend machen können. Die Hauptwirkung der staatlichen Gewährleistung sozialer Rechte besteht in der Einbeziehung breiter Bevölkerungskreise in alle wesentlichen Leistungssysteme, so dass als ein zentrales Merkmal wohlfahrtsstaatlicher Entwicklung die Generalisierung des Anspruches auf Teilhabe an den Lebenschancen einer Gesellschaft gelten kann. 28 Ein hohes Maß an Ausgaben für die Sozialpolitik zählt mit der demokratischen Staatsverfassung und der Marktwirtschaft zu den Hauptmerkmalen der wirtschaftlich entwickelten westlichen Länder in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Vor gut hundert Jahren hat die Entwicklung des modernen Wohlfahrtsstaates ihren 26 Kaufmann, Franz-Xaver (1997b): Geht es mit der Integrationsfunktion des Sozialstaates zu Ende?, in: Hradil, St. (Hrsg.): Differenz und Integration. Die Zukunft moderner Gesellschaften. Verhandlungen des 28. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Dresden, Frankfurt/New York, S. 147 sowie ders. (1997a), S. 30. 27 V gl. ebenda. 28 Vgl. Kaufmann, Franz-Xaver (1997a), S. 31 und 34.

II. Entwicklung des Wohlfahrtsstaates und der Sozialleistungsquote

27

Anfang genommen, als in mehreren europäischen Staaten Sicherungssysteme gegen das Risiko des Einkommensverlustes eingerichtet wurden. Gegenüber den Prinzipien der in Europa schon seit dem 16. Jahrhundert verbreiteten staatlichen Armutspflege bedeutete diese Einrichtung von Sicherungssystemen eine völlige Umkehrung: Die mittelalterliche Armenhilfe ging von einem individuellen Verschulden der Hilfebedürftigkeit und einem kollektiven Wohl durch die Wahrung öffentlicher Ordnung aus. Die Einrichtung der Sozialversicherung dagegen stellt umgekehrt die kollektiven Ursachen von Notlagen und die individuelle Wohlfahrt als ein rechtlich abzusicherndes Ziel in den Vordergrund. Die Garantie eines Rechtsanspruches auf staatliche Sozialleistungen markiert einen wichtigen Punkt gesellschaftlicher Entwicklung, dessen Ursachen im Zusammenhang mit anderen weitgehenden Strukturveränderungen der europäischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts liegen. Hierzu gehören vor allem die Verschärfung sozialer Notlagen in Folge kapitalistischer Industrialisierung, ein beschleunigtes Bevölkerungswachstum und die rasche Verstädterung, die Politisierung sozialer Probleme durch die Demokratisierung des Wahlrechts, die gewerkschaftliche und politische Mobilisierung der Arbeiter sowie - nicht zuletzt - die zunehmenden Möglichkeiten als Folge eines beschleunigten wirtschaftlichen Wachstums. Demokratisierung und Wirtschaftswachstum können als wesentliche Antriebskräfte wohlfahrtsstaatlicher Entwicklung angesehen werden?9 Deutschland reagierte unter Bismarck als erstes Land auf die neuen Bedingungen. Es führte in rascher Folge Pflichtversicherungen ein: gegen Krankheit (1883), Arbeitsunfälle (1884 mit einem Vorläufer von 1871) sowie gegen Invalidität und Alter (1889). 30 Viele westeuropäische Staaten folgten bald mit eigenen Gesetzgebungen. Der Mitgliederkreis der sozialen Sicherungssysteme wuchs seither nach einem Ausdehnungsmuster, das entgegengesetzt zur Entwicklung des Wahlrechts verlief. "Während das Wahlrecht allmählich von oben nach unten auf die ökonomisch Schwächeren erweitert wurde, wanderte die Sozialversicherung in der Regel von unten nach oben durch die Sozialstruktur". 31 Die Leitidee der staatlichen Sozialpolitik in Deutschland bestand zunächst darin, eine Versicherungsgemeinschaft schutzbedürftiger Arbeiter zu schaffen. Sie wurde sukzessive zum Konzept der Arbeitnehmerversicherung und dann zur Versicherung aller Arbeitnehmer und ihrer Familien erweitert. Vor dem Ersten Weltkrieg noch weitgehend auf die Industriearbeiter und kleinen Angestellten bezogen, wurde die Pflichtversicherung in der Zwischenkriegszeit zunächst auf die besser verdienenden abhängigen Erwerbstätigen und nach dem Zweiten Weltkrieg als freiwillige Versicherung auch auf Selbstständige ausgedehnt. Nach wie vor sind die Kernsysteme der sozialen Sicherung 29 Vgl. Alber, Jens/Schölkopj. Martin (1998), S. 707, siehe auch ergänzend Esping-Andersen, Gosta (1998): Die drei Welten des Wohlfahrtskapitalismus. Zur Politischen Ökonomie des Wohlfahrtsstaates, in: Lessenich, St./Ostner, I. (Hrsg.): Welten des Wohlfahrtskapitalismus. Der Sozialstaat in vergleichender Perspektive, Frankfurt a.M., S. 47. 30 Die Arbeitslosenversicherung wurde in Deutschland erst 1927 eingeführt. 31 Alber, Jens/Schölkopj. Martin (1998), S. 709.

28

A. Wohlfahrtsstaat: Entwicklung, Vergleiche und Rollenwandel

jedoch an die Erwerbsarbeit der Versicherten gebunden und nur zögerlich entwickelte sich die Integration der hauswirtschaftliehen Tätigkeit, insbesondere der Hausfrauen, in die Sozialversicherung. Alle westeuropäischen Staaten nähern sich dieser umfassenden Sicherung der gesamten Bevölkerung an.

2. Zur Entwicklung der Sozialleistungsquote

Den skizzierten wohlfahrtsstaatliehen Entwicklungsprozess fasst Manfred G. Schmidt so zusammen: "Aus der Sozialpolitik für Wenige ist - vor allem im 20. Jahrhundert- eine Sozialpolitik für Viele geworden". 32 Das Ergebnis lässt sich an den Zahlen der Sozialtransferempfänger und der Sozialleistungsquote33 veranschaulichen. Im Jahr 1995 wurden 13.289.000 Altersrenten gezahlt, zudem 1.938.000 Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrenten, 5.442.000 Millionen Hinterbliebenenrenten, 1.117.000 Unfallversicherungsrenten, 2.663.000 Personen hatten Anspruch auf Arbeitslosengeld und -hilfe, 1.250.000 Personen auf Kriegsopferversorgung, für 13.066.000 Kinder wurde Kindergeld gezahlt, es gab 1.061.000 Pflegeversicherungsfälle und 2.744.000 Wohngeldempfänger.34 Die Zahl der Menschen, die 1995 auf Sozialhilfe angewiesen waren, betrug 2.520.000. 35 Nicht nur das Ausmaß, auch die Struktur der Sozialtransferempfängerzahlen dokumentiert die Veränderung des Sozialstaates in Deutschland und die zunehmende Distanz zum Typus der Arbeiterversicherung. So sind inzwischen mehr als 80 Prozent aller Erwerbspersonen, d. h. aller abhängig Beschäftigten, Selbstständigen und Arbeitslosen, Mitglied der Altersrentenversicherung. Hinzu kommen die Staatsbeamten, die Anspruch auf eine beamtenrechtliche Versorgung haben, und die Hinterbliebenenrenten. In der Kranken-, Unfall- und Pflegeversicherung ist der Versichertenkreis noch größer und faktisch zur Staatsbürgerversicherung geworden.36 Untersuchungen der Leistungen und Belastungen durch öffentliche Einkommensübertragungen (Transfers) zeigen, dass positive und negative Transfers in beinahe allen Haushalten anfallen. 37 32 Schmidt, Manfred G. (1998), S. 13 siehe dort auch Kap. 1.7: ,.Struktur, Trends und Determinanten der Sozialpolitik in Deutschland von 1883 bis zum Ende des 20. Jahrhunderts", s. 147- 173. 33 Die Sozialleistungsquote (= Soziallastquote, Sozialquote) wird nicht immer gleich definiert. Beruhen die Daten der Zeitreihen auf einer unveränderten Definition der jeweiligen Ausgangsaggregate, lassen sich jedoch deutliche Entwicklungstrends erkennen. 34 Vgl. Schmidt, Manfred G. (1998), S. 152, vgl. auch Bundesministeriumfür Arbeit und Sozialordnung (1998): Statistisches Taschenbuch 1998. Arbeits- und Sozialstatistik, Bonn. 35 Vgl. Wirtschaft und Statistik (1997): Sozialhilfeempfänger und Empfänger von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz 1995, Sonderdruck 10/1997, S. 721. 36 Vgl. auch Schmidt, Manfred G. (1998), S. 14; vgl. Alber, Jens/Bernardi-Schenkluhn, B. (1992): Westeuropäische Gesundheitswesen im Vergleich: Bundesrepublik Deutschland, Schweiz, Frankreich, Italien, Großbritannien, Frankfurt a.M. 37 Vgl. Schmidt, Manfred G. (1998), S. 158.

II. Entwicklung des Wohlfahrtsstaates und der Sozialleistungsquote

29

Dieser Trend von der sozialen Sicherung für Wenige zur Sozialpolitik für Viele spiegelt sich ebenso in der Entwicklung der Sozialleistungsquote wider. Im Verlauf des vergangeneo Jahrhunderts ist die Sozialleistungsquote, definiert als Anteil der Sozialtransfers und der Sachleistungen des Systems sozialer Sicherung am Sozialprodukt, von etwa 1 Prozent in den Jahren 1871 bis 1874 auf rund 35 Prozent im Jahre 1996 gestiegen. Mit 1.223 Mrd. DM hat das Sozialbudget im vereinigten Deutschland im Jahre 1996 ein Volumen erreicht, das- wie die Tabelle 1 zeigtgrößer war als das gesamte Bruttosozialprodukt der Bundesrepublik des Jahres 1976 von l.l23 Mrd. DM. 38 Tabelle 1

Sozialleistungsquote von 1950 bis 1998 Jahr

1950

Bruttosozialprodukt inMio. DM 98600

Sozialleistungen inMio.DM

Sozialleistungsquote

16754

17,1

1955

180500

29498

16,3

1960

286000

68943

21,7

1965

458200

114603

24,0

1970

675700

180144

26,6

1975

1027700

346600

33,9

1980

1477400

478712

32,6

1985

1834500

576067

31,7

1990

2448600

716400

29,2

1991 *

2882100

894100

31,2

1993

3164500

1063510

33,7

1995

3444800

1179290

34,1

1996

3506800

1223870

34,9

1997

3666600

1246900

33,9

1998

3784200

1272100

33,4

* Wert ab 1991 für Gesamtdeutschland Quelle: Vgl. Lampert, Heinz ( 1998), ab 1997 Institut der deutschen Wirtschaft (2000).

Wie ist diese Entwicklung der Sozialleistungsquote zu erklären? Die Expansion des Wohlfahrtsstaates ist eng verknüpft mit der wirtschaftlichen Entwicklung. Das Wachstum der Wirtschaft verändert - wie bereits das Wagnersehe Gesetz39 konsta38

Vgl. Lampert, Heinz (1998), S. 292.

30

A. Wohlfahrtsstaat: Entwicklung, Vergleiche und Rollenwandel

tiert - grundlegend die Funktion der Staatstätigkeit Der deutsche Finanzwissenschaftler Adolph Wagner (1835 bis 1917) hatte bereits die Hypothese aufgestellt, dass es einen langfristigen Trend zur Ausweitung der Staatstätigkeit gibt und zudem eine grundlegende Veränderung ihrer Funktion, weg von den ordnungs- und rechtsstaatliehen Funktionen, hin zum weiteren Ausbau der kultur- und sozialstaatliehen Institutionen. Für Wagner hing der zivilisatorische Fortschritt wesentlich von der Staatstätigkeit ab, weshalb sich der Staat nicht mehr auf den traditionellen Macht- und Rechtszweck beschränken könne. Zunehmend rückten- so WagnerKulturaufgaben und Wohlfahrtsaufgaben in den Vordergrund und beanspruchten einen wachsenden Teil der Staatsausgaben. Weitsichtig hat er damit den heranwachsenden Industriegesellschaften eine Entwicklung zum "Cultur- und Wohlfahrtsstaat" prognostiziert: Der "Staat fortschreitender kulturfähiger Völker, so namentlich der modernen, hört immer mehr auf, einseitig Rechtsstaat, im Sinne der möglichst alleinigen Verwirklichung des Rechts- und Machtzweckes zu sein und wird immer mehr Cultur- und Wohlfahrtszweck in dem Sinne, dass gerade seine Leistungen auf dem Gebiete des Cultur- und Wohlfahrtszweckes sich beständig mehr ausdehnen und mannigfachen Inhalt gewinnen".40 Diese Prognose einer qualitativen und quantitativen Expansion der Staatstätigkeit erntete sowohl bezüglich ihrer empirischen Belege wie auch ihres normativen Gehaltes Widerspruch. Über das vergangene Jahrhundert hinweg betrachtet, kann es gleichwohl keinen Zweifel daran geben, dass die staatlichen Sozial- und Kulturetats sowohl absolut als auch relativ zum Sozialprodukt gestiegen sind.41 Dies gilt nicht nur- wie gezeigt - für Deutschland, die Sozialleistungsquoten sind in allen entwickelten Volkswirtschaften langfristig gewachsen42 Dabei hat sich die Sozialleistungsquote seit den 50er Jahren - wie die Tabelle 1 für die Bundesrepublik zeigt - nicht gradlinig entwickelt. Sie hat sich von 17,1 Prozent (1950) über 21,7 (1960) und 26,6 (1970) auf 33,9 Prozent (1975) erhöht und ist dann über die 80er Jahre hinweg bis auf 29,2 (1990) gesunken. Erst nach der Wiedervereinigung von 1990 stieg sie bis auf34,9 Prozent (1996) an. Für 1998 zeigt sich wieder ein leichter Rückgang auf 33,4 Prozent. 43 Kar! Georg Zinn skizziert vor dem Hintergrund drei wirtschaftliche und politische Entwicklungsphasen bundesdeutscher Sozialpolitik bis 1990. Die erste Phase bis Anfang der 70er Jahre ist demnach durch die Rückkehr zur Vollbeschäftigung und einen der bedeutendsten 39 Vgl. Wagner; Adolph (1893): Grundlegung der Politischen Ökonomie, Teil 1: Grundlagen der Volkswirtschaft, Leipzig und ders. (1911): Staat (in nationalökonomischer Hinsicht), in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Jena, S. 727-739. 40 Wagner; Adolph (1893), S. 888. 41 Vgl. Zinn, Karl Georg (1999a), S. 33. 42 Vgl. hierzu Maddison, Angus (1995): Monitaring the World Economy, Paris und ILO (1996): The Cost of Social Security. Fourteenth International Inquiry, Genf. Vgl. für die Entwicklung in Europa den folgenden Abschnitt A. 111. 43 Vgl. BMAS (1998): Statistisches Taschenbuch 1997. Arbeits- und Sozialstatistik, Tab. 7.2, Bonn.

II. Entwicklung des Wohlfahrtsstaates und der Sozialleistungsquote

31

sozialpolitischen Fortschritte -die Rentenreform von 1957 -gekennzeichnet. In der folgenden Phase, der Zeit der sozialliberalen Koalition, stieg die Sozialleistungsquote unter dem Einfluss der Wirtschaftskrise und steigender Arbeitslosigkeit an. Der krisenhafte Anstieg der Sozialleistungsquote und die Verschuldung öffentlicher Haushalte sei in der Erwartung einer Rückkehr zur Vollbeschäftigung - mit Hilfe traditioneller konjunkturpolitischer Mittel- hingenommen worden. Zinn sieht hierin eine falsche wirtschaftspolitische Weichenstellung, der vor allem eine unzutreffende Krisendiagnose entwickelter Volkswirtschaften zugrunde lag. Die dritte Phase seit Anfang der 80er Jahre war vor allem durch angebots- bzw. investitionspolitische Begünstigung der Besitzeinkommen gekennzeichnet. Durch das Ausbleiben der mit dieser Politik erwarteten Beschäftigungserfolge sei es schließlich zu sozialpolitischen Einschränkungen und dem Absinken der Sozialleistungsquote gekommen. 44 Der Wiederanstieg der Sozialleistungsquote seit 1990 wurde in der Bundesrepublik vor allem von der deutschen Vereinigung ausgelöst, da den Sozialversicherungen die Kosten für die soziale Sicherung in den neuen Bundesländern auferlegt wurde. 45 Die Kehrseite des tendenziellen Anstiegs der Sozialleistungsquote ist die Zunahme der öffentlichen Abgaben. Vor allem wird dies häufig für ein Problem der internationalen Konkurrenzfähigkeit der deutschen Wirtschaft gehalten. Hier ist ein kurzer Blick auf die Struktur der öffentlichen Abgaben hilfreich. 46 Innerhalb der öffentlichen Abgabenquote sind die Sozialabgaben stärker gewachsen als die Steuern. Die gesamtwirtschaftliche Steuerquote - der Anteil des Steueraufkommens am Bruttoinlandsprodukt - ist in den vergangeneo 40 Jahren praktisch konstant geblieben, während die Sozialabgabenquote deutlich zunahm. Sollte sich dieser Trend der letzten 30 Jahre fortsetzen, dann dominieren in absehbarer Zeit innerhalb der öffentlichen Ausgaben die Sozialabgaben in qualitativer Hinsicht die Steuern,47 was vor dem Hintergrund eines - wie noch zu zeigen ist - in entwickelten Volkswirtschaften langfristig sinkenden Erwerbsarbeitsvolumens ein erhebliches Problem für die Einnahmeseite des Wohlfahrtsstaates darstellt. Hinsichtlich der internationalen Wettbewerbsfähigkeit eines Landes ist jedoch zu konstatieren, dass Vgl. Zinn, Karl Georg (1999a), S. 41 f. Schätzungen gehen davon aus, dass die Sozialabgaben ohne die vereinigungsbedingten Lasten bis zu acht Prozent niedriger ausfallen könnten, vgl. hierzu Kaufmann, Franz-Xaver (1997), S. 15 f. : Das Gegenargument, eine Steuerfinanzierung der sozialen Sicherung in den neuen Bundesländern vennindert den Gesamtaufwand nicht, sondern belastet die gesamtwirtschaftliche Wertschöpfung ebenso, lässt jedoch außer acht, dass etwa Beamte und Selbstständige bei der Finanzierung über die Sozialversicherungen vom Mittragen der Kosten entlastet werden. 46 Öffentliche Abgaben werden von Unternehmen und privaten Haushalten aufgebracht und setzen sich im wesentlichen aus Sozialversicherungsbeiträgen und Steuern zusammen. Vgl. ausführlich Wille, Eberhard (1999): Einführung. Die Sozialabgaben als wirtschaftliches Problem, in: ders. (Hrsg.): Entwicklung und Perspektiven der Sozialversicherungen, BadenBaden, S. 7-19. 47 Wille, Eberhard (1999), S. 8. 44 45

32

A. Wohlfahrtsstaat: Entwicklung, Vergleiche und Rollenwandel

sie sich durch wachsende öffentliche Abgaben nur dann verschlechtert, wenn die Entwicklung in anderen Ländern günstiger verläuft. Während die Abgabenquote die Summe aus Steuern und Sozialabgaben im Verhältnis zum Bruttoinlandprodukt -im OECD- und EU-Durchschnitt von 1965 bis 1990 deutlich zunahm, stagniert die deutsche Abgabenquote mit geringen Schwankungen von 1975 bis 1990. In dieser Phase kam es zu einer Annäherung bzw. Unterschreitung der deutschen Abgabenquote im Vergleich zu diesen internationalen Mittelwerten. Die deutsche Abgabenquote unterschritt das EU-Niveau bereits 1981 und erreichte 1990 selbst den OECD-Durchschnitt, den sie danach nur leicht überstiegt. Trotz dieses vereinigungsbedingten Anstiegs blieb die deutsche Abgabenquote seit 1981 unter dem EU-Mittelwert. 48 Nun könnte die um 10 Prozent niedrigere Abgabenquote in Japan und den USA Anlass zu entsprechenden Bedenken geben. Zum einen ist jedoch zu berücksichtigen, dass die Quote nicht über direkte Transfers und Subventionen informiert, die zu einer letztlich geringeren Steuer- und Abgabenquote führen, zum anderen wird häufig übersehen, dass die Quoten keine Hinweise auf die öffentlichen Leistungen und deren Nutzen für die Unternehmen geben, die beispielsweise im Bereich der Infrastruktur, Forschung oder Qualifizierung der Beschäftigten im internationalen Wettbewerb von großer Bedeutung sind. Auch die unmittelbare Nachfragewirkung - beispielsweise der arbeitsintensiven und wohlfahrtsstaatlich geförderten Wachstumsmärkte der Gesundheits- und Pflegeleistungen - gerät über die reine Soziaileistungsquote nicht in das Blickfeld.49 Auf diese vernachlässigte Perspektive wird der Abschnitt "Wirkungen und Wert des Wohlfahrtsstaates" näher eingehen. Zuvor aber sollen die verschiedenen Modelle europäischer Wohlfahrtsstaatlichkeit kurz dargelegt und verglichen werden.

111. Vergleich Europäischer Wohlfahrtsstaatlichkeil Wohlfahrtsstaatliche Entwicklungen sind in allen demokratischen Verfassungsstaaten und entwickelten Industriegesellschaften deutlich erkennbar, wenngleich in unterschiedlicher Stärke. Neben den Unterschieden in der Quantität sind Ausgangsbasis, Richtung, Tempo und damit die jeweiligen Ergebnisse hinsichtlich des Ausdehnungsgrades, der Leistungshöhe, der Finanzierungsweise oder Umverteilungswirkung der Wohlfahrtsstaaten von Land zu Land verschieden. 48 Die früher eingenommene Pionierrolle hat die Bundesrepublik Deutschland seit langem eingebüßt. Wahrend sich in den sechziger Jahren im Vergleich von EU- und OECD-Ländern noch eine Spitzenstellung oder vorderen Rang einnahm, ist sie zunehmend zurückgefallen und besetzt nun meist mittlere Rangplätze, vgl. ausführlich Alber; Jens/Nübel, Christina/ Schö/kopf, Martin (1998), S. 626 f. "Die Vorstellung eines mittleren Weges kennzeichnet ( ... ) das Niveau des deutschen Sozialstaats im internationalen Vergleich viel treffender als die in Politik und Medien oft vorherrschende Legendenbildung einer herausragenden Spitzenstellung", Ebenda, S. 627. 49 Vgl. Wille, Eberhard, S. 11.

III. Vergleich Europäischer Wohlfahrtsstaatlichkeil

33

1. Empirischer Vergleich der sozialen Sicherheit in Europa

Zwischen den einzelnen EU-Ländern unterscheidet sich zunächst die Höhe der Sozialleistungsquoten ganz erheblich. Im Durchschnitt beliefen sich die Ausgaben für die "soziale Sicherheit"50 1995 auf 28,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes der Europäischen Union. Sie reichten in den einzelnen Mitgliedsstaaten von 19,9 Prozent in Irland bis zu 35,6 Prozent in Schweden.51 Insgesamt sind im Norden der Union die Ausgaben für die soziale Sicherheit sehr viel höher als im Süden, was sowohl auf die unterschiedliche Wirtschaftskraft, als auch auf die in den südlichen Ländern - vor allem Griechenland und Portugal - wenig entwickelten Sicherungssysteme zuriickzuführen ist. Hier bestätigt sich wiederum der oben genannte Zusammenhang von wirtschaftlicher und wohlfahrtsstaatlicher Entwicklung eines Landes. Wie in der Bundesrepublik zeigt auch die Entwicklung der Sozialleistungsquote der EU-Staaten eine besonders rasche Zunahme in den sechziger und siebziger Jahren sowie zu Beginn der neunziger Jahre, während sich die Quote in den achtziger Jahren nur verhalten entwickelte. Damit fiel auch in den anderen europäischen Ländern ein bedeutender Teil der Expansion der Sozialpolitik in die Prosperitätsperiode nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Insgesamt nahmen die Ausgaben für die soziale Sicherheit in den Ländern der Union fast so zu, "wie es das sogenannte Wagnersehe Gesetz der wachsenden Staatstätigkeit und der wachsenden Staatsausgaben vorhergesagt hatte". 52 Da der Anstieg der Sozialleistungsquote in den achtziger Jahren insgesamt nur etwa ein Prozent ausmachte, ist vor allem ihr deutlicher Wiederanstieg in den neunziger Jahren von 25,9 Prozent 1990 auf 28,4 Prozent 1995 erklärungsbedürftig. Verständlich wird diese Expansion durch die Rezession Anfang der neunziger Jahre, wodurch neben der realen Steigerung der Sozialausgaben auch eine deutliche Verlangsamung des Sozialproduktwachstums zu verzeichnen war (Nennereffekt). Im Verhältnis zum geringeren BIP-Wachstum fiel der Anstieg der Sozialausgaben überdurchschnittlich hoch aus. Außerdem sind 50 Unter "sozialer Sicherheit" werden hier- entsprechend dem EU-Sprachgebrauch und der EU-Definition Transfers in Form von Geld- und Sachleistungen für soziale Zwecke und die gesundheitliche Betreuung verstanden, vgl. Europäische Kommission (1998): Soziale Sicherung in Europa 1997, Luxemburg, S. 14. 51 Vgl. Europäische Kommission (1998), S. 65. Zwischen diesen beiden Extremwerten lassen sich die Länder der Union in drei Gruppen unterteilen, in eine untere Gruppe mit Irland (19,9 Prozent), Griechenland (21 Prozent, wobei dieser Wertjedoch als unsicher gilt, da keine Aufschlüsselung nach Leistungsarten vorliegt), Portugal (20,7) und Spanien (21,8) sowie eine mittlere mit Frankreich (30,6), Belgien und Österreichjeweils (29,7) und Deutschland (29,4). Etwas niedriger, aber ebenfalls noch in einem mittleren Bereich befanden sich die Sozialleistungsquoten von Großbritannien (27,3), Luxemburg (25,3) und Italien (24,6). In eine obere Gruppe lassen sich Schweden (35,6), Dänemark (34,3), Finnland (32,8) und die Niederlande (31,6) zusammenfassen. Vgl. ebenda sowie Hanesch, Walter (1998): Soziale Sicherung im europäischen Vergleich, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B34 - 35/98, S. 17. 52 Schmidt, Manfred G. (1998), S. 199. 3 Reiners

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A. Wohlfahrtsstaat: Entwicklung, Vergleiche und Rollenwandel

neben den Aufwendungen für die Arbeitslosenunterstützung in diesem Zeitraum die größten Kostenanstiege für Alter und Gesundheitspflege zu verzeichnen.53 Auch in der Ausgabenstruktur unterscheiden sich die Länder der Union ganz erheblich. Dies ist auf unterschiedliche Bedingungen und Bedürfnisse, etwa aufgrund der Arbeitslosenquote oder der Altersstruktur der Bevölkerung, sowie auf unterschiedliche Prioritäten zurückzuführen. Gleichwohl lassen sich zwischen den Ländern auch Übereinstimmungen feststellen. 54 Die Altersversorgung stellt den mit Abstand größten Posten der Sozialausgaben der Europäischen Union dar. Die "Leistungen für Alter und Hinterbliebene" liegen im EU-Durchschnitt bei 42,5 Prozent der Gesamtaufwendungen für die soziale Sicherheit bzw. bei 12 Prozent des BIP der Gemeinschaft. Dabei schwankt der Anteil dieser Ausgaben am jeweiligen BIP zwischen 5,0 Prozent in Irland und 15,4 Prozent in Italien. Für die Bundesrepublik erreicht dieser Bereich mit 40,8 Prozent an den Gesamtaufwendungen und 12,0 Prozent am BIP einen leicht unterdurchschnittlichen Wert.55 Den zweitgrößten Posten bilden die Leistungen der Gesundheitsfürsorge. Im EU-Durchschnitt belaufen sie sich auf 26,2 Prozent der Sozialausgaben bzw. 7,5 Prozent des BIP der Union. Der BIP-Anteil schwankt dabei zwischen 5,0 Prozent in Italien und 8,7 Prozent in Deutschland. Im Vergleich zu den anderen EU-Mitgliedsstaaten erreicht Deutschland im Gesundheitsbereich sowohl als Anteil an den Gesamtaufwendungen als auch am BIP den höchsten Wert. 56 Ein finanzielles Gewicht mittlerer Größenordnung erreichen jeweils die drei Leistungsbereiche: Leistungen bei Arbeitslosigkeit und zur Arbeitsmarktintegration (8, 1 Prozent der Gesamtausgaben und 2,3 Prozent des BIP), die Leistungen bei Erwerbsunfähigkeit und Behinderung (8,0 Prozent der Gesamtausgaben und 2,3 Prozent des BIP) sowie die Leistungen an Familien und Kinder (7,3 Prozent der Gesamtausgaben und 2,1 Prozent des BIP). Besonders stark schwanken die jeweiligen BIP-Anteile bei den ,,Leistungen zur Arbeitslosigkeit" zwischen Italien (0,5) und Dänemark (4,9), den "Leistungen bei Erwerbsunfähigkeit" zwischen Irland (0,9) und den Niederlanden bzw. Finnland (4,7) sowie bei den "Leistungen an Familien und Kinder" zwischen Spanien (0,4) und Finnland (4,2). Die Werte für 53 Vgl. zum Anstieg der Sozialausgaben Anfang der 90er Jahre auch Europäische Kommission (1998), S. 16 und S. 66 f. 54 Vgl. Europäische Kommission ( 1998), S. 64 sowie Hanesch, Walter ( 1998), 19 ff. 55 Die Europäische Kommission bemerkt: ,.In Deutschland dagegen, wo die Rentenausgaben bezogen auf das BIP von 1980 bis 1993 zurückgingen, nahm die Bevölkerung im Rentenalter zu, und entsprechend fiel die durchschnittliche Rente im Verhältnis zum BIP pro Kopf deutlicher als im Rest der Europäischen Unionab-von 65 Prozent auf 52 Prozent". Europäische Kommission (1996): Soziale Sicherung in Europa 1995, Brüssel Luxemburg. S. 69. 56 Die EU-Kommission stellt zu den Leistungen bei Krankheit und für die Gesundheitsfürsorge fest: ,.Die Ausgaben sind im letzten Jahrzehnt nicht in der gesamten Europäischen Union angestiegen. In Dänemark, Deutschland und Irland waren die Ausgaben im Verhältnis zum BIP 1993 niedriger als 1980". Ebenda, S. 74.

III. Vergleich Europäischer Wohlfahrtsstaatlichkeit

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die Bundesrepublik lagen jeweils in einem mittleren Bereich. 57 Anders als gemeinhin angenommen ist nicht die hohe Arbeitslosigkeit die Hauptursache für hohe Sozialtransfers. Die direkt verursachten Ausgaben betragen hier 2,3 Prozent des BIP, während für die Altersversorgung 12 Prozent aufgewandt wurden. Allerdings sind die Ausgaben als Gradmesser für die Belastungen durch die Arbeitslosigkeit kaum aussagefähig. Da infolge der Arbeitslosigkeit das Steuer- und Abgabeaufkommen verringert wird und höhere Ausgaben in anderen Bereichen anfallen, sind die Belastungen wohl deutlich höher anzusetzen. 58 Die Finanzierung der Sozialausgaben erfolgt in allen Mitgliedsstaaten zum einen über Sozialbeiträge, die auf das Erwerbseinkommen erhoben und von Arbeitgebern und Versicherten gemeinsam getragen werden, und zum anderen über das allgemeine Steueraufkommen. Die Ausgaben für die soziale Sicherheit in Europa wurden 1995 insgesamt zu knapp 40 Prozent aus Arbeitgeberbeiträgen, knapp 24 Prozent aus Versichertenbeiträgen und zu rund 30 Prozent aus allgemeinen Steuermitteln finanziert. Seit den achtziger Jahren ist in der gesamten Europäischen Union jedoch eine Veränderung des Verteilungsmusters erkennbar. Die Arbeitgeberbeiträge sind seit einigen Jahren - im Einklang mit den erklärten politischen Zielen einer Umstrukturierung der Finanzierungsquellen - rückläufig: "Von 1990 bis 1995 ging in der Europäischen Union insgesamt der Anteil der Arbeitgeberbeiträge an der Gesamtfinanzierung von 42 Prozent auf 39,5 Prozent zurück. Gleichzeitig stieg der Anteil der Beiträge von Arbeitnehmern und anderen versicherten Personen von knapp über 22 Prozent auf 23,5 Prozent ( ... )". 59 Ein wesentlicher Unterschied in der Finanzierung der sozialen Sicherheit besteht zwischen den Wohlfahrtsstaaten darin, ob die Sozialausgaben im Wesentlichen über Steuern oder über Beiträge erfolgt. Entsprechend der wohlfahrtsstaatliehen Tradition der Mitgliedsstaaten kamen die Mittel 1995 in den Benelux-Ländern, Deutschland, Frankreich und Österreich zu mehr als zwei Dritteln - in Frankreich sogar zu 77 Prozent - aus Sozialversicherungsbeiträgen. Nicht so hoch liegen die Beitragsquoten in den südeuropäischen Ländern. In den skandinavischen Ländern wie auch in Großbritannien und Irland sind Sozialbeiträge umgekehrt zu weniger als der Hälfte - in Dänemark nur zu 23,5 Prozent - an der Finanzierung sozialer Sicherheit beteiligt. 2. Vergleich wohlfahrtsstaatlicher Modelle

Von außen betrachtet- etwa im Vergleich zu den USA oder Japan- weisen alle westeuropäischen Staaten trotz der dargelegten Unterschiede große Ähnlichkeiten 57 Zu den Leistungen bei Arbeitslosigkeit bemerkt die Kommission jedoch: "Deutschland und Schweden waren zwei der wenigen Länder, in denen in der jüngsten Vergangenheit Leistungen direkt gekürzt wurden", ebenda, S. 48. 58 Vgl. Hanesch, Walter (1998), S. 17. 59 Europäische Kommission (1998), S. 17 vgl. auch S. 74. 3*

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A. Wohlfahrtsstaat: Entwicklung, Vergleiche und Rollenwandel

in den sozialpolitischen Zielsetzungen auf. Dennoch ist innerhalb Westeuropas die Vielfalt der wohlfahrtsstaatliehen Gestaltungsformen nicht zu übersehen. Versuche diese Vielfalt zu ordnen, haben in der vergleichenden Forschung eine lange Tradition. So wurde von Bismarck- und Beveridge-Ländern gesprochen, universelle und berufsbezogene Systeme gegenübergestellt oder Versorgungs-, Versicherungs- und Fürsorgeprinzipien abgegrenzt. 60 Mit Blick auf die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union werden inzwischen zumeist vier wohlfahrtsstaatliche Modelltypen unterschieden. 61 Das sogenannte skandinavische Modell umfasst die Länder Dänemark, Finnland und Schweden. Charakteristisch sind universelle und egalitäre Sicherungseinrichtungen mit relativ großzügigen Transferzahlungen und einem umfassend ausgebauten sozialen Dienstleistungssystem. Die Finanzierung erfolgt weitgehend aus allgemeinen Steuermitteln. Kennzeichnend ist zudem, dass in diesen Ländern die soziale Sicherung als Bürgerrecht legitimiert ist. Jeder Bürger und jede Bürgerin hat bei Eintritt eines Risikos einen Anspruch auf denselben Grundbetrag. Dies gilt auch dann, wenn sie als Erwerbstätige über obligatorische betriebliche Systeme zusätzliche Leistungen beziehen. Mit einem gewissen Abstand vom staatlichen Kern der sozialen Sicherheit ist die schwedische Arbeitslosenversicherung organisiert. Sie beruht auf Freiwilligkeit, wird von den Gewerkschaften verwaltet und vom Staat stark subventioniert. 62 Das in Großbritannien und Irland praktizierte angelsächsische Modell wurde ursprünglich von Lord Beveridge konzipiert und ist - wie das skandinavische - ein universelles und egalitäres Sicherungssystem, das aus allgemeinen Steuermitteln finanziert wird. Der gravierende Unterschied zum skandinavischen Modell besteht jedoch in den erheblich knapper bemessenen Leistungen. Sie zielen im Unterschied zum skandinavischen Ansatz primär lediglich auf die Vermeidung von Armut. Das angelsächsische Modell ist stark bedürftigkeitsorientiert, d. h. vor allem Leistungsaufstockungen sind an Bedürftigkeitsprüfungen gebunden. Auch die Vgl. u. a. Alber; Jens / Schölkopf, Martin (1998), S. 705 f. Typologien vereinfachen notwendigerweise. Sie konzentrieren sich hier wesentlich auf die Kernbereiche der sozialen Sicherung, vgl. Europäische Kommission (1996): Soziale Sicherung in Europa 1995, Luxemburg, S. 9 f. und S. 33 f. Vgl. auch Alber; Jens/Schölkopf, Martin (1998), S. 705-713 und Hanesch, Walter (1998), S. 15-26. In England wies Richard Titmuss bereits 1974 auf drei Modelle des Wohlfahrtsstaates in den westlichen Ländern hin, die er als ,,residual", "industrial achievement" und "institutiona1" bezeichnete, vgl. Titmuss, Richard (1974): Social Policy. An Introduction, London. Vgl. auch Lessenich, Stephan (2001): Wohlfahrtsstaatliche Traditionen im "Europäischen Sozialmodell", in: Krause, B. I Krockauer, R. I Reiners, A. (Hrsg.): Soziales und Gerechtes Europa. Von der Wirtschafts- zur Sozialunion?, Freiburg, S. 14-25. 62 Zinn erklärt die abgetrennte Stellung der schwedischen Arbeitslosenversicherung mit der skandinavischen Vollbeschäftigungspolitik, wonach das "Schwedische Modell" von Beginn an (Anfang der dreißiger Jahre) darauf ausgelegt war, aus öffentlichen Mitteln keine konsumtive Arbeitslosenhilfe zu finanzieren, sondern Arbeitsbeschaffung, vgl. Zinn, Kar/ Georg (1999a), S. 51. 60 61

III. Vergleich Europäischer Wohlfahrtsstaatlichkeit

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staatliche Gesundheitsfürsorge wird weitgehend über das allgemeine Steueraufkommen finanziert und in Irland - im Unterschied zu Großbritannien - auch nur Bedürftigen gewährt. Die Labour-Regierung (seit 1997) will die traditionellen angelsächsischen Bedürftigkeitsprüfungen nicht abschaffen, jedoch verstärkt auf Beschäftigungspolitik setzen. Das kontinentaleuropäische Modell in Deutschland, Österreich, Frankreich und den Beneluxländern folgt der von Bismarck begründeten Tradition. Es ist gekennzeichnet durch umfassende, jedoch kategoneil getrennte, auf Statussicherung verschiedener Berufsgruppen abzielende Versicherungen, die ganz überwiegend beitragsfinanziert sind. Die verdienstabhängigen Sozialversicherungen sind bis zu einer bestimmten Einkommensgrenze verpflichtend und schließen die Familienangehörigen mit ein. Sozialversicherungen bilden den Kern dieses Sicherungsmodells. Die sozialen Leistungen sind überwiegend abhängig vom Einkommensstatus des Erwerbstätigen, was auch für die mitversicherten Familienangehörigen gilt. Wo dieses umfassende Sozialversicherungssystem Lücken aufweist, sollen sie durch ein separates letztes Netz von Fürsorgeleistungen geschlossen werden. Dem rudimentären Modell schließlich- zu dem die südeuropäischen Länder Italien, Spanien, Portugal und Griechenland zu rechnen sind - kommt eine gewisse Ausnahmestellung zu. In diesen Ländern vermittelt der institutionelle Aufbau der Sozialsysteme eher ein diffuses Bild. Häufig ist hier erst in den letzten Jahrzehnten im Zuge wirtschaftlicher und soziokultureller Veränderungen der Versuch unternommen worden, allgemein zugängliche Systeme einzurichten. Es bestehen gemischte Versicherungssysteme, die sich aus betrieblichen Systemen und Sozialversicherungen zusammensetzen. Neben verhältnismäßig großzügigen Rentenregelungen - die jedoch erhebliche Lücken aufweisen - ist das Leistungsniveau generell vergleichsweise niedrig. Obwohl die wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen eine ergänzende Absicherung durch die Familie oder die private Wohlfahrt auch in diesen südeuropäischen Ländern zunehmend erschweren, setzen ihre rudimentären Sicherungssysteme nach wie vor die Hilfe primärer Netze voraus.

3. Erklärungsversuch der Entwicklungsunterschiede

Der Versuch, die von Land zu Land verschiedenen institutionellen Ergebnisse wohlfahrtsstaatlicher Entwicklungen zu erklären, setzt bei den unterschiedlichen Kulturen und politischen Machtverhältnissen der einzelnen Länder an. Trotz ähnlicher historischer Bedingungen wie Industrialisierung, Verstädterung, soziale Notlagen, Arbeiterbewegung, Demokratisierung usw., wurden unterschiedliche institutionelle Lösungen entwickelt. Die konkrete Ausgestaltung sozialpolitischer Maßnahmen erfolgte jeweils auf der Grundlage ganz unterschiedlicher weltanschaulicher, politischer und pragmatischer Sichtweisen und unter den Bedingungen unterschiedlicher politischer Machtverhältnisse. Die einmal getroffene Entscheidung hatte dann einen starken Einfluss auf spätere Entscheidungen, weshalb von

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A. Wohlfahrtsstaat: Entwicklung, Vergleiche und Rollenwandel

einer "Pfadabhängigkeit" des einmal eingeschlagenen wohlfahrtsstaatliehen Weges gesprochen wird. 63 Der bekannteste Ansatz, die international voneinander abweichenden sozialpolitischen Maßnahmen und wohlfahrtsstaatliehen Strukturen maßgeblich als Ergebnis unterschiedlicher politischer Strömungen und Kräfteverhältnisse des jeweiligen Landes zu erklären, ist der Ansatz von Gosta Esping-Andersen.64 In seiner viel beachten Untersuchung "Three Worlds of Welfare Capitalism" nimmt er eine Zuordnung der verschiedenen Wohlfahrtsstaatstypen nach den jeweiligen politischen und ideologischen Grundströmungen vor. Er kennzeichnet etwa das angelsächsische Modell als "liberales Wohlfahrtsstaatsregime", das skandinavische Modell als "sozialdemokratisches Regime" und das kontinentaleuropäische als "konservatives oder Bismarck-Regime". Folgt man Esping-Andersen, so sind Wohlfahrtsstaaten nicht nur als Folge sozioökonomischer Entwicklungen zu verstehen, sondern wesentlich das Ergebnis politischer Kräfteverhältnisse und kulturell geprägter Auffassungen, etwa über die Rolle des Staates, über das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit, über Gerechtigkeit, Solidarität und Unabhängigkeit. 65 Mit seiner Sichtweise auf den Wohlfahrtsstaat hat Esping-Andersen zu einer neuen Perspektive in der sozialwissenschaftliehen Wohlfahrtsforschung beigetragen. Aus dieser Sicht interessiert der Wohlfahrtsstaat nicht nur als institutioneller Endpunkt eines Jahrhundertprojektes der Industrialisierung und Demokratisierung, sondern er interessiert zumindest ebenso als selbst gestaltbarer Ausgangspunkt gesellschaftlicher Entwicklung und sozialen Wandels. "Betrachtete die friihere Forschung den Wohlfahrtsstaat vorrangig als ,abhängige Variable' ihrer Untersuchungen, indem sie danach fragte, wie es zur Entstehung wohlfahrtsstaatlicher Strukturen in demokratisch-kapitalistischen Nationen gekommen sei, so dreht Esping-Andersens Studie den Spieß um und setzt den Wohlfahrtsstaat in sein Recht als ,unabhängige Variable'" 66, bemerkt Stephan Lessenich. Aus dieser Perspektive 63 Vgl. Kaufmann, Franz-Xaver (1997), S. 26. Zur "Pfadabhängigkeit" siehe auch Schmidt, Manfred G. (1998), S. 288. 64 Vgl. Esping-Andersen, Gosta (1990): The Three Worlds of Welfare Capitalism, Cambridge sowie ders. (Hrsg.)(1996): Welfare States in Transition. National Adaptions in Global Economies, London. Einschränkend soll jedoch bemerkt werden, dass diese Dreiertypologie den Wohlfahrtsstaat aus dem eingeschränkten Blickwinkel des jeweiligen sozialen Sicherungssystems betrachtet. Die soziale Sicherung bildet zwar das zentrale, aber nicht das einzige Element der umfassenden Konstruktion von Wohlfahrtsstaaten. Sie entfaltet erst im Konzert mit weiteren Elementen, etwa der Arbeits- und Steuerpolitik und den anderen Sektoren der Wohlfahrtsproduktion, ihre Wirkung. Vgl. auch Hanesch, Walter (1998), s. 16 f. 65 Vgl. auch Esping-Andersen, Gosta (1998): Die drei Welten des Wohlfahrtskapitalismus. Zur Politischen Ökonomie des Wohlfahrtsstaates (deutsche Fassung des Artikels "The three political economies of the welfare state", zuerst 1989), in: Lessenich, St. /Ostner, /. (Hrsg.) (1998): Welten des Wohlfahrtskapitalismus. Der Sozialstaat in vergleichender Perspektive, Frankfurt/New York, S. 19-56 sowie Kaufmann, Franz-Xaver (1997), S. 26 und Zinn, Karl Georg.(1999a), S. 54 ff.

IV. Wirkungen und Wert des Wohlfahrtsstaates

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wird erkennbar, dass der moderne Wohlfahrtsstaat kein ausschließlich reaktives Instrument des sozialen Ausgleichs darstellt, sondern vielmehr ein eigenständiges Moment aktiver Gesellschaftsgestaltung ist. Diese Überlegungen sollen im Folgenden weiter vertieft werden. IV. Wirkungen und Wert des Wohlfahrtsstaates 1. Zum sozialwissenschaftliehen Wohlfahrtsstaatsdiskurs

In der öffentlichen Diskussion wie in der Fachdebatte um den Wohlfahrtsstaat überwiegt ein "Defizitdiskurs", wie Georg Vobruba formuliert, 67 in dem nicht die gestalterischen Möglichkeiten der Sozialpolitik, sondern ihre "reaktiv-kompensatorische Funktionen "68 (Stefan Hut) betont werden. Das "sozialstaatliche Lückenbüßer- und Kompensationsarrangement" (Claus Offe)69 reagiert demnach auf defizitäre Lebenslagen im Gefolge von Industrialisierung und Modernisierung durch kompensatorische Leistungen für die Betroffenen. Aufgabe des Wohlfahrtsstaat ist es aus dieser Perspektive vor allem, auf Folgeerscheinungen von Modernisierungsprozessen zu reagieren. Das sozialwissenschaftliche Hauptaugenmerk wird in der Regel rückblickend auf die Soziale Frage des 19. Jahrhunderts gerichtet, und so erscheint die Linderung der negativen externen Folgen wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklungen als zentrale sozialpolitische Aufgabe. "In der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung herrscht Einigkeit darüber, dass der Wohlfahrtsstaat eine Reaktion auf langfristige gesellschaftliche Entwicklungsprozesse darstellt, deren zentrale Elemente die Industrialisierung und die Demokratie sind".70 In diesem Punkt übergreift der sozialwissenschaftliche Konsens selbst die Positionen von Nildas Luhmann und Jürgen Habermas. Bei Luhmann macht das "kompensatorische Prinzip"71 die Logik des Wohlfahrtsstaates aus, "der auf die Folgen der Industrialisierung mit Maßnahmen der sozialen Hilfe reagiert". 72 Und Habermas sieht den Kern des Sozialstaates in den "kompensatorischen Leistungen'm , die die 66 Lessenich, Stephan (1998): "Relations matter". De-Kommodifizierung als Verteilungsproblem, in: Lessenich, St./Ostner; /. (Hrsg.), S. 91, vgl. auch Lessenich, Stepfuln (2001), s. 14-25. 67 Vobruba, Georg (1990b): Sozialpolitik macht Modemisierung möglich, in: Die Mitbestimmung, 2/90, S. 108-112. 68 Vgl. Huf. Stefan (1998): Sozialstaat und Modeme. Modemisierungseffekte staatlicher Sozialpolitik, Berlin, S. 18. 69 Offe, Claus (1986): Sozialstaat und politische Legitimation, in: Randelzhofer; A. /Süß, W (Hrsg.): Konsens und Konflikt. 35 Jahre Grundgesetz, Berlin/New York, S. 127-133. 70 Alber; Jens/Schölkopj. Martin (1998), S. 710. 71 Luhmann, Niklas (1981): Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat, München, S. 8. 72 Ebenda, S. 7. 73 Habermas, Jürgen (1985b): Die Krise des Wohlfahrtsstaates und die Erschöpfung utopischer Energie, in: ders.: Die Neue Unübersichtlichkeit. Kleine Politische Schriften V, Frankfurt, S. 147.

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A. Wohlfahrtsstaat: Entwicklung, Vergleiche und Rollenwandel

Grundrisiken neuzeitlicher Lohnarbeit auffangen sollen. Auch bei Kaufmann erscheint der Wohlfahrtsstaat vor allem als Reflex und Antwort auf den Modemisierungsprozess, als "die politische Verfassung von Gesellschaften des privatkapitalistisch gesteuerten Modemisierungstyps, die die Folgeprobleme ihrer Modemisierung auf der Individualebene mit Hilfe der Einräumung von sozialen Rechten und der Schaffung bzw. Förderung von Einrichtungen zur Gewährleistung dieser Rechte zu lösen versuchen". 74 Andere Autoren wie Christoph Sachße sehen Wohlfahrtsstaat und Sozialpolitik vorherrschend als "Institutionalisierung von Kompensationsmechanismen für die spezifischen Risiken und Diskriminierungen industriellkapitalistischer Produktion"75 , deren Aufgabe darin besteht, "Versorgungsmängel durch das vorherrschende Marktsystem präventiv oder kurativ-kompensatorisch auszugleichen bzw. zu beseitigen" (Walter Hanesch). 76 Sozialpolitik erscheint aus dieser Sicht nicht als gestaltende Politik, sondern lediglich als "Reparaturbetrieb" der Industrialisierung und Modemisierung. 77 Vobruba fragt angesichts dessen zu Recht, warum Deutschland dann als "Modernisierungsnachzügler" hinsichtlich der Sozialpolitik eine Vorreiterrolle eingenommen habe. Denn die reaktiv-kompensatorische Funktionszuschreibung müsste erwarten lassen, dass ökonomisch friihentwickelte Länder wie England oder Frankreich als erste soziale Sicherungssysteme herausgebildet hätten. Deutschland, das im 19. Jahrhundert ein ökonomischer Nachzügler und gleichzeitig sozialpolitischer Vorreiter war, scheint im Widerspruch zum vorherrschenden Sozialpolitikverständnis zu stehen. 78 Aus der veränderten Beobachtungsposition heraus, die zu Teilen bereits an "Klassiker" wie Georg Simmel79, Eduard Heimann 80, Ludwig Preller81 , Hans Achinger82 und Thomas H. Marsha11 83 anknüpfen kann84, sich jedoch nicht eta74 Kaufmann, Franz-Xaver (1983): Steuerungsprobleme im Wohlfahrtsstaat, in: Matthes, J. (Hrsg.): Krise der Arbeitsgesellschaft? Verhandlungen des 21. Deutschen Soziologentages

in S amberg 1982, Frankfurt/New York, S. 474 - 491. 75 Sachße, Christoph (1986): Verrechtlichung und Sozialisation: Über die Grenzen des Wohlfahrtsstaates, in: Leviathan, Jg. 14, S. 530. 76 Hanesch, Walter (1995a): Sozialpolitik und das Armutsproblem, in: ders. (Hrsg.): Sozialpolitische Strategien gegen Armut, Opladen, S. 12. 77 Vgl. zusammenfassend Huf, Stefan (1998), S. 18-20. 78 Vgl. Vobruba, Georg (1991): Jenseits der sozialen Frage, Frankfurt a.M., S. 120. 79 Simmel analysiert beispielsweise die öffentlichen Zwecke des Armutswesens, vgl. Simmel, Georg. (1958): Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Berlin, (zuerst 1908). 80 Heimann beschreibt etwa mit dem "konservativ-revolutionären Doppelwesen" der Sozialpolitik neben der stabilisierenden Wirkung auch ihre verändernde Funktion, vgl. Heimann, Eduard (1980): Soziale Theorie des Kapitalismus. Theorie der Sozialpolitik, Frankfurt a.M. (zuerst 1929) sowie ders. ( 1963): Soziale Theorie der Wirtschaftssysteme, Tübingen. 81 Preller versteht Sozialpolitik bereits explizit auch als gesellschaftsgestaltende Politik, vgl. Preller, Ludwig (1949): Sozialpolitik der Weimarer Republik, Stuttgart sowie ders. ( 1962): Sozialpolitik. Theoretische Ortung, Tübingen I Zürich.

IV. Wirkungen und Wert des Wohlfahrtsstaates

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blieren konnte, erscheint der Wohlfahrtsstaat von Beginn an als "Gestalter" gesellschaftlicher Entwicklung. Aus dieser Sicht reagiert er nicht nur auf den sozialen Wandel, sondern erzeugt diesen Prozess mit und liefert aktive Beiträge dazu. Die Beobachtung der "gestalterischen, konstitutiven Funktion" des Wohlfahrtsstaates, weicht deutlich von der dominierenden sozialwissenschaftliehen Perspektive ab, "die den Sozialstaat als Ergebnis von Modernisierungsprozessen darstellen - als ihr krönender Abschluss, als 'säkulare Errungenschaft' der Moderne". 85 Dagegen werden aus der im Folgenden eingenommenen Perspektive die gestalterischen und konstitutiven Funktionen der Sozialpolitik betont, ohne die reaktiv-kompensatorischen Funktionen zu übersehen. Der Wohlfahrtsstaat erschöpft sich jedoch nicht darin, unerwünschte Resultate der ökonomischen Entwicklung und des sozialen Wandels in Form von individuellen Notlagen, gesellschaftlicher Desintegration oder politischer Instabilität mit "sekundären" Mechanismen zu kompensieren, sondern er stellt einen "primären" Modus gesellschaftlicher Gestaltung dar, wie Stephan Lessenich betont. 86 Damit wird die Sozialpolitik nicht auf die Bearbeitung von Individualfällen sozial schwacher Lebenslagen reduziert, sondern betrifft die Konstituierung hochentwickelter Gesellschaft insgesamt. Der Wohlfahrtsstaat stiftet aus dieser Perspektive nicht nur einen unmittelbaren Nutzen für die Empfänger sozialstaatlicher Leistungen, sondern darüber hinaus einen "gesellschaftlichen Zusatznutzen" (Vobruba) 87 oder einen "kollektiven Nutzen" (Kaufmann)88, der jedoch in der sozialpolitischen Debatte kaum Beachtung findet. Wo dies dagegen geschieht, kommen Wirkungen des Wohlfahrtsstaates in den Blick, die jenseits der gewohnten Themengrenzen der Sozialpolitikforschung liegen. Die Sozialpolitik82 Achinger schließt an Prellers Überlegungen an. Seine Untersuchung "Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik" erscheint erstmals 1958 vgl. Achinger, Hans (1971): Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik. Von der Arbeiterfrage zum Wohlfahrtsstaat, Frankfurt (zuerst 1958). 83 Marshall deutet die Entwicklung von "bürgerlichen Rechten" über .,politische Rechte" hin zu den "sozialen Rechten" im 20. Jahrhundert als konstituierend für den Wohlfahrtsstaat. Die sozialen Bürgerrechte der Wohlfahrtsstaaten lieferten demnach erst die Voraussetzung zur Teihabe aller an der Gestaltung der Gesellschaft, vgl. Marshall, Thomas H. ( 1992): Staatsbürgerrechte und soziale Klassen. Zur Soziologie des Wohlfahrtsstaates, Frankfurt a.M./New York, (zuerst 1949). 84 Einen ausführlichen Überblick über Anknüpfungsmöglichkeiten bei den soziologischen Klassikern, die Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik zu verstehen, bietet Stefan Huf, S. 3655. 85 Huf, Stefan, S. 20. Hervorhebung im Original. Die Formulierung "säkulare Errungenschaft" der Modeme geht auf Wolfgang Zapf zurück, vgl. ZApf, Wolfgang ( 1989): Sozialpolitik in gesellschaftlichen Modemisierungskonzepten, in: Vobruba, G. (Hrsg.): Der wirtschaftliche Wert der Sozialpolitik, Berlin, S. 55. 86 Vgl. Lessenich, Stephan (1995): Wohlfahrtsstaatliche Regulierung und die Strukturierung von Lebensläufen, in: Soziale Welt, Jg. 46, S. 52. 87 Vobruba, Georg (1991): Jenseits der sozialen Frage, Frankfurt a.M., S. 8. 88 Kaufmann, Franz-Xaver (1994): Staat und Wohlfahrtsproduktion, in: Derlin, H. V./ Gerhardt, U./Scharpf, F.W. (Hrsg.): Systemrationalität und Partialinteresse. Festschrift für Renale Mayntz, Baden-Baden, S. 361.

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A. Wohlfahrtsstaat: Entwicklung, Vergleiche und Rollenwandel

lehre wird anschlussfähig für weitreichende Diskurse zur ökonomischen, politischen und kulturellen Entwicklung und Sozialpolitik nicht länger reduziert auf eine nachsorgende "Sozialtechnologie" (Stefan Huf). Sozialpolitik erscheint stattdessen als ein "Kernthema der Gesellschaftstheorie"89 . 2. Wirtschaftliche, politische und soziokulturelle Wirkung

In der Politik, aber auch in der wissenschaftlichen Diskussion wird ausgiebig über die Wirkungen des Wohlfahrtsstaates und der Sozialpolitik gestritten. 90 Häufig ist die Diskussion dabei auf die ökonomischen Wirkungen des Wohlfahrtsstaates reduziert. Rein ökonomische Analysen vermögen jedoch die Bandbreite politischer und soziokultureller Wirkungen der Sozialpolitik nicht zu erfassen. Aus der Sicht neoliberaler Ökonomik ist selbst der ökonomische Nutzen der Sozialpolitik kaum erkennbar. Im Folgenden soll der wirtschaftliche Nutzen, der politische Wert und die soziokulturelle Wirkung der Sozialpolitik dargelegt werden. Dabei findet die häufig vernachlässigte "konstitutiv-gestalterische" Funktion des Wohlfahrtsstaates besondere Beachtung, um die gesamtgesellschaftliche Leistungsfähigkeit der Sozialpolitik zu verdeutlichen. a) Der ökonomische Nutzen des Wohlfahrtsstaates Wenig überraschend ist, dass besonders heftig über den wirtschaftlichen Wert und Unwert des Wohlfahrtsstaates gestritten wird, geht es doch um einen Verteilungskonflikt von beträchtlichem Umfang. 91 Wie dargelegt, wird in Deutschland für Zwecke der sozialen Sicherung etwa einem Drittel des Bruttoinlandsproduktes ausgegeben. 92 Und der internationale Vergleich zeigt, dass die deutsche Sozialleistungsquote von anderen Ländern noch übertroffen wird. Angesichts dessen ist es leicht plausibel, dass der Wohlfahrtsstaat seit seinen Anfängen unter Rechtfertigungsdruck gegenüber seiner Wirtschaftlichkeit seht. Vor allem aus Sicht neoliberaler Ökonomik wurde der Ausbau der sozialen Sicherung stets als Belastung für die Wirtschaft und Beeinträchtigung ihrer Leistungsfähigkeit Vobruba, Georg (1991), S. 8. Siehe auch Schmidt, Manfred G. (1998), Teil III: Politische, soziale und wirtschaftliche Wirkungen der Sozialpolitik, S. 253 - 295 sowie Kaufmann, Franz-Xaver (1997), Kap. 4: Erfolgsbedingungen des wohlfahrtsstaatliehen Arrangements, S. 34- 48 und Lampert, Heinz ( 1998), S. 289 ff. und 431 ff. 91 Vgl. u. a. Vobruba, Georg (Hrsg.)(l989): Der wirtschaftliche Wert der Sozialpolitik, Berlin I New York sowie Ban; Nicholas ( 1993): The Economics of the Welfare State, London auch Dierkes, Meinolf/Zimmermann, Klaus W (Hrsg.)(l996): Sozialstaat in der Krise. Hat die soziale Marktwirtschaft noch eine Chance?, Frankfurt a.M. I Wiesbaden und Zinn, Kar/ G. (1999a): Sozialstaat in der Krise. Zur Rettung eines Jahrhundertprojektes, Berlin. 92 Vgl. Tabelle 1 89

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interpretiert. Dies geschah, ganz gleich, von welchem Niveau aus der Ausbau vorgenommen wurde. In neoliberaler Theorietradition nimmt die Sozialpolitik ordnungswidrige Eingriffe in die Marktwirtschaft vor, schmälert das Wirtschaftswachstum, die optimale Ressourcenallokation und eine positive Beschäftigungsentwicklung ebenso wie sie die internationale Wettbewerbsfähigkeit beeinträchtigt. 93 Vor allem das "konservative" und "sozialdemokratische" Modell des Wohlfahrtsstaates - im Sinne Esping-Andersens - sehen sich dieser Kritik ausgesetzt. Sozialpolitik wird aus dieser dominierenden ökonomischen Perspektive allenfalls in ihrer marktergänzenden Funktion gewürdigt, vorwiegend jedoch als Kostenfaktor wahrgenommen. Als effiziente Wirtschaftsordnung benötige die Marktwirtschaft aus dieser Perspektive gar nicht viel ,Soziales', da sie aus sich selbst heraus soziale Ergebnisse hervorbringt, indem sie das Sozialprodukt und damit das Verteilbare maximiere. Sozialpolitik sei deshalb - wenn überhaupt- nachrangig und marktkonform zu gestalten. Sie wird bestenfalls als notwendiges Übel betrachtet. 94 Zu einfach wäre es jedoch, die Argumente von der Überlastung der Wirtschaft durch den ausgebauten Wohlfahrtsstaat nur seinen "natürlichen Feinden"95 oder ausschließlich den Anhängern liberaler Wirtschaft- und Sozialtheorien zuzuordnen, obwohl sich diese Thesen dort großer Wertschätzung erfreuen. Von Überforderung und Grenzen des Sozialstaates sprechen - wie auch Jürgen Habermas96 Kritiker der verschiedensten Richtungen. Natürlich variieren die Theorien, Begriindungen und bevorzugten Therapien ganz erheblich. 97 Gleichwohl scheint ein rigoroser Abbau des Wohlfahrtsstaates nicht in Sicht, er wäre ohne die Verletzung des komplexen Gesellschaftssystems, ohne Beschädigung der Wirtschaft und ohne 93 Vgl. Dierkes, Meinolf/Zimmermann, Klaus W (1996): Zur Einführung: Marktwirtschaft und Sozialstaat - Versuch einer Antwort auf viele Fragen, in: Dierkes, M. /Zimmermann, K. W (Hrsg.), S. 13-34 sowie Huf, Stefan (1998), S. 25-30 und 147 ff. 94 Vgl. Schulenberg, J.-Matthias Graf v. (1996): Das nötige Maß des Sozialen in der Marktwirtschaft, in: Dierkes, M./Zimmermann, K. W (Hrsg.), S. 71 - 88, Hasse, Ralf H. (1996): Soziale Marktwirtschaft oder soziale Wirtschaft?, in: Dierkes, M./Zimmermann, K. W (Hrsg.), S. 89-124 und Schäfer, Wolf (1996): Die Marktwirtschaft unter dem Übermaß des Sozialen, in: Dierkes, M. /Zimmermann, K. W (Hrsg.), S. 127-144. 95 Flora, Peter (1986): Introduction, in: ders. (Hrsg.): Growth to Limits. The Western European Welfare States Since World War ll, Bd. 1, Berlin/New York, XI-XXXVI. Flora charakterisiert so vor allem diejenigen, die von den Leistungen des Wohlfahrtsstaates ausgeschlossen sind, aber dennoch für sie bezahlen. 96 Vgl. Habermas, Jürgen (1985): Die Krise des Wohlfahrtsstaates und die Erschöpfung utopischer Energie, in: ders. (Hrsg.): Die neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt a.M., S. 149 sowie zusammenfassend Schmidt, Manfred G. (1998), S. 258 f. 97 Während die meisten liberalen Kritiker einen möglichst weitgehenden Rückbau favorisieren, sprechen die Vertreter der Arbeitnehmer hingegen für Beibehaltung und vorsichtigen "sozialverträglichen" Umbau, die Wohlfahrtsverbände sind für eine Grundsicherung ebenso wie die Linksparteien und Teile der Gewerkschaften. Die Organisationen internationaler Sozialpolitik plädieren für soziale Sicherung als Menschenrecht, vgl. Schmidt, Manfred G. (1989), S. 260 sowie Schönig, Wemer/ L'Hoest, Raphael (Hrsg.)(l996): Sozialstaat wohin? Umbau, Abbau oder Ausbau der Sozialen Sicherung, Darmstadt

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A. Wohlfahrtsstaat: Entwicklung, Vergleiche und Rollenwandel

politische Erschütterungen wohl auch nicht vorstellbar. Deshalb ist es durchaus fraglich, ob unter demokratischen Bedingungen einschneidende Strukturreformen nicht schon im Vorfeld an den Hürden der Mehrheitsfindung scheiterten. So bemerkt Offe in diesem Zusammenhang, dass sich westliche Politik - entgegen aller Rhetorik - durch die Abwesenheit einer mächtigen ideologischen und organisierten Strömung zur Überwindung des Wohlfahrtsstaates auszeichne. 98 Diese Einschätzung ist jedoch nahezu zwanzig Jahre alt, und inzwischen hat sich in der Debatte um den Wohlfahrtsstaat gleichwohl einiges verändert. Anlass zur kontroversen Diskussion gibt weniger die Frage "ob", als vielmehr die Frage, "wie viel" Sozialpolitik die Marktwirtschaft verträgt beziehungsweise wie viel sie braucht. Hierzu tragen nicht zuletzt empirische Befunde wie die von Manfred G. Schmidt hinsichtlich eines schwächeren Wirtschaftswachstums entwickelter Wohlfahrtsstaaten bei. Schmidt selbst weist jedoch darauf hin, dass die Ergebnisse nicht eindeutig sind, da neben der Sozialleistungsquote auch andere Faktoren das wirtschaftliche Wachstum beeinflussen. So wird das Wirtschaftswachstum - wie weiter unten noch gezeigt wird - unter anderem durch das in den Wohlfahrtsstaaten inzwischen erreichte hohe Niveau der wirtschaftlichen Entwicklung verlangsamt. Unbestreitbar ist, dass der Wohlfahrtsstaat und die Systeme sozialer Sicherung, wie dargelegt, beträchtliche Kosten verursachen. Der Umkehrschluss jedoch ist nicht möglich, wonach relativ niedrige Sozialleistungsquoten etwa eine Garantie für dynamische Wirtschaftsentwicklung bedeuteten. Die Wirtschaft in der Schweiz zum Beispiel wuchs in den vergangeneo Jahr nur gemächlich, trotz einer relativ geringen Sozialleistungsquote, wogegen in Deutschland, Frankreich, Italien, Österreich, den Benelux-Ländern und skandinavischen Ländern der Ausbau des Wohlfahrtsstaates und der wirtschaftliche Aufstieg miteinander gut verträglich waren. Sie sind reicher geworden, obwohl in ihnen ein starker Wohlfahrtstaat entstand. Dagegen sind viele Dritte-Welt-Länder arm geblieben, obwohl die Sozialpolitik kaum eine Rolle spielte. 99 Empirisch ist nicht zu bestätigen, dass ein gering ausgebauter Wohlfahrtsstaat eine bessere Basis für hohe Wachstums-, Produktivitäts- und Beschäftigungsraten bietet. Es gibt jedoch Indizien dafür, dass sich erhebliche Ungleichheit der Einkommen- und Vermögensverhältnisse, vernachlässigte öffentliche Infrastruktur - etwa für Forschung, Bildung und Verkehr- nachteilig auswirkt auf die Produktivitätsentwicklung. 100 98 Vgl. Offe, Claus (1984c): Zu einigen Widersprüchen des modernen Sozialstaates, in: ders. : "Arbeitsgesellschaft". Strukturprobleme und Zukunftsperspektiven, Frankfurt/New York, S. 330. 99 Vgl. Schmidt, Manfred G. (1998), S. 261 f. sowie ders. (1989): Vom wirtschaftlichen Wert der Sozialpolitik. Die Perspektive der vergleichenden Politikforschung, in: Vobruba, G. (Hrsg.): Der wirtschaftliche Wert der Sozialpolitik, Berlin, S. 153-162 sowie Alber, Jens (1983): Einige Grundlagen und Begleiterscheinungen der Entwicklung der Sozialausgaben in Westeuropa, 1949-1977, in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 12, Heft 2, S. 108 f. IOO Vgl. Schäfer, Claus (1994): Die "Gerechtigkeitslücken" können auch ökonomische Effizienzlücken werden -Zur Entwicklung der Einkommensverteilung 1993 und den Vorjahren, in: WSI-Mitteilungen, 10/94, S. 598 - 623.

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Aussagekräftig ist hinsichtlich der Wirkungen des Wohlfahrtsstaates auf die wirtschaftliche Entwicklung vor allem die langfristige Perspektive. Die Fakten zur wirtschaftlichen und sozialpolitischen Entwicklung über die vergangenen einhundert Jahre hinweg können das Argument von der Überlastung der Volkswirtschaft durch eine ausgebaute Sozialpolitik deutlich entkräften. Wie die langfristige Entwicklung zeigt, konnte die Wirtschaft sich auch dort kräftig entwickeln, wo ein starker Sozialstaat aufgebaut wurde, wie etwa in Deutschland, wenn auch nicht ganz so stark wie etwa in den USA. Dort hat man jedoch infolge einer spärlichen Sozialpolitik mit anderen Problemen zu kämpfen. Zudem zeigt das Beispiel Australien, dass eine kurzgehaltene Sozialpolitik keine Sicherheit für ein hohes Wirtschaftwachstum bietet. Wie Abbildung I veranschaulicht, war die Entwicklung des Wohlfahrtsstaates mit der Expansion der Wirtschaft in vielen Ländern zumindest gut verträglich. 25000-

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