Laienpotential, Patientenaktivierung und Gesundheitsselbsthilfe [Reprint 2019 ed.] 9783486823363, 9783486517712

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German Pages 310 [316] Year 1983

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Laienpotential, Patientenaktivierung und Gesundheitsselbsthilfe [Reprint 2019 ed.]
 9783486823363, 9783486517712

Table of contents :
Inhalt
A. Einleitung: Perspektiven sozialwissenschaftlicher Gesundheitsforschung
B. Gesundheitsselbsthilfegruppen.
C. Selbsthilfe im Familienhaushalt
D. Gesundheitsvorsorge in der Gemeinde
E. Patientenorientierte Intensivmedizin
F. Herzinfarktrehabilitation und soziale Unterstützung
G. Gesundheitsvorsorge am Arbeitsplatz
H. Laienpotential, Patientenaktivierung und Gesundheitsselbsthilfe. Zur Soziologie des Laien vor den Ansprüchen der Medizin
Literatur
Register

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Soziologie und Sozialpolitik Herausgegeben von Bernhard Badura, Christian von Ferber, Franz-Xaver Kaufmann, Eckart Pankoke, Theo Thiemeyer Band 3

R. Oldenbourg Verlag München Wien 1983

Laienpotential Patientenaktivierung und Gesundheitsselbsthilfe Herausgegeben von Christian von Ferber und Bernhard Badura

R. Oldenbourg Verlag München Wien 1983

CIP-KuratiteUufhahme der Deutschen Bibliothek Laienpotential, Patientenaktivierung und Gesundheitsselbsthilfe / hrsg. von Christian von Ferber u. Bernhard Badura. - München ; Wien : Oldenbourg, 1983. (Soziologie und Sozialpolitik : Bd. 3) ISBN 3-486-51771-6 NE: Ferber, Christian von (Hrsg.): GT © 1983 R. Oldenbourg Verlag GmbH, München Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ähnlichem Wege sowie der Speicherung und Auswertung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben auch bei auszugsweiser Verwertung vorbehalten. Werden mit schriftlicher Einwilligung des Verlages einzelne Vervielfältigungsstücke für gewerbliche Zwecke hergestellt, ist an den Verlag die nach § 54 Abs. 2 Urh. G. zu zahlende Vergütung zu entrichten, über deren Höhe der Verlag Auskunft gibt. Gesamtherstellung: Hofmann-Druck KG, Augsburg

ISBN 3-486-51771-6

Inhalt A. Einleitung: Perspektiven sozialwissenschaftlicher Gesundheitsforschung Bernhard Badura

B. Gesundheitsselbsthilfegruppen Arbeitsweise von Gesundheitsselbsthilfegruppen und Anregungen zu ihrer sozialpolitischen Unterstützung

9

Jörn-Uwe Behrendt, Christiane Deneke, Astrid Estorff, Heide Guderian, Edith Halves, Ralf Itzwerth, Eva-Maria Schorsch, Alf Trojan 1. Forschungsziele und Forschungsfeld 2. Zur Arbeitsweise und den Wirkungen von Selbsthilfegruppen

9 17

3. Zur Förderung von Selbsthilfezusammenschlüssen

27

Lebensalltag und medizinisch-politisches Gesundheitssystem

37

Wilfried Nelles 1. Anpassungsprobleme 2. Leistungsdefizite 3. Sinn- und Identitätsprobleme

39 40 44

C. Selbsthilfe im Familienhaushalt Zum Verhältnis von Selbsthilfe und medizinischer Fremdhilfe

51

Dieter Grunow, Helmut Breitkopf, Vera Grunow-Lutter, Wolfgang Paulus 1. Allgemeine Fragestellungen und Ziele des Projekts 2. Sind Fremdhilfe und Selbsthilfe austauschbar? 3. Zur Bestimmung "selbsthilfearmer" Bevölkerungsgruppen

51 52 70

Zur Selbsthilfe im Gesundheitswesen Anmerkungen zum Projekt: Gesundheits- und Krankheitsbezogene Selbsthilfe im Haushalt

79

Ute Canaris 1. 2. 3. 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6

Zum Untersuchungsziel und -ansatz Zu den gewählten Vorgehensweisen und Methoden Zu den bisher absehbaren Ergebnissen und ihren Verwertungsmöglichkeitftn für die Gesundheitserziehung Formen und Inhalte gesundheitsbezogener Selbsthilfe Die Bedeutung der sozialen Netzwerke Das Verhältnis von professionellem und Laiensystem Aktivierung von Selbsthilfepotentialen Selbsthilfe in der Familie, außerfamiliäre Bezugsgruppen und Selbsthilfeorganisationen Umsetzungsmöglichkeiten

80 81 85 85 86 87 89 90 91

II

Inhalt

D. Gesundheitsvorsorge in der Gemeinde Perspektiven der Gesundheitsvorsorge am Beispiel des Kreises Mettmann

95

Hans Günter Abt, Otto Gieseke 1. Förderung des Gesundheitsverhaltens in der Gemeinde bei Vielfalt der Trägerschaften 2. Die Bedeutung unterschiedlicher Trägerorientierungen für die Forderung des Gesundheitsverhaltens 3. Erste Ergebnisse der Untersuchung im Kreis Mettmann 4. Angebotsqualität: professionelle Sichtweisen und Laienkompetenz 5. Möglichkeiten zur Weiterentwicklung der Gesundheitsvorsorge Können gemeindezentrierte Interventionsstudien zur Verbesserung der Gesundheit beitragen?

95 98 105 113 115

119

Jürgen von Troschke 1. 2. 3. 4.

Einleitung Merkmale gemeindezentrierter Interventionsstudien Vorteile des gemeindebezogenen Interventionsansatzes Nutzung der Vorteile des gemeindebezogenen Interventionsansatzes durch die 'Aktion Gesundheit' der AOK Mettinann 5. Anwendungsorientierte Empfehlungen 6. Zusammenfassung

119 121 123 129 130 137

E. Patientenorientierte Intensivmedizin Einige strukturelle und interaktionelle Bestimmungselemente für ihre Realisierung

141

Claudia von Grote, Anne Sprenger, Elmar Weingarten, Hans-Peter Schuster 1. 2.

3. 4. 4.1 4.2 4.3 44

Einleitung: Fragestellung ünd Ziel des Projekts Rahmenbedingungen für die Konstituierung eines therapeutischen Milieus: Räumliche Anordnung und Pflegeorganisation Der Umgang mit Patientenbedürfnissen im Verlauf einer technischen Maßnahme Überlegungen zu einer patientenorientierten Intensivmedizin aus ärztlicher Sicht (H. P. Schuster) Das Raumproblem Das Personalproblem Die Interaktion von Ärzten, Schwestern und Pflegern Verhalten bei der Indikationsstellung zur Intensivtherapie

141

145 173 183 183 186 187 188

F. Herzinfarktrehabilitation und soziale Unterstützung Erste Ergebnisse der Oldenburger LongitudinalStudie Bernhard Badura, Josef Bauer, Gary Kaufhold, Harald Lehmann, Miliard Waltz

191

Inhalt

1. 2. 3. 4. 5. 6.

Vorbemerkungen Anlage der Untersuchung Stichprobenbeschreibung Zur stationären Behandlung von Infarktpatienten Zur Aufnahme in die stationäre Rehabilitation Die Bedeutung des Laiensystems für den Rehabilitationsverlauf 7. Auswirkungen ärztlicher Information und Beratung 8. Optionen der Rehabilitationsorganisation 9. Stärkung des Laiensystems durch Netzwerkförderung

III

191 193 195 199 204 205 213 214 219

Patienten-Aktivierung und soziale Selbsthilfe bei chronischer Krankheit und Behinderung Anmerkungen zur Oldenburger Longitudinalstudie

221

Ernst-Otto Krasemann 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Vorbemerkungen Genesungserfolg Lebensqualität Ambulante Rehabilitation Kritikpunkte der Untersuchungen der Arbeitsgruppe Badura Empfehlungen zur organisatorischen Verbesserung und 2u Änderungen der Therapiestraße

221 223 227 231 232 234

G. Gesundheitsvorsorge am Arbeitsplatz Gesundheitsgerechte Arbeitsgestaltung Sozialepidemiologische Untersuchung in einem Stahlwerk

237

Liselotte von Ferber, Wolfgang Siesina, Andreas Renner, Alfons Schröer 1. Gesundheitsgerechte Arbeitsgestaltung 2. Das integrierte Verfahren zur Analyse arbeitsbedingter Krankhe iten 3. Arbeitsbelastung und Krankheit - Die Mikroepidemiologie des Betriebes

Bedingungen und Grenzen der Umsetzung mikroepidemiologischer Forschungsergebnisse in die Gesundheitsvorsorge am Arbeitsplatz

237 243 246

255

Willi Pöhler 1. Problembestimmung: Worum geht es? 2. Der mikroepidemiologische Ansatz und seine Bedeutung für die Gesundheitsvorsorge am Arbeitsplatz 3. Das Problem der Umsetzung von Ergebnissen 4. Thesen der Umsetzung 5. Konsequenzen: Zum Verhältnis von Forschern und Betroffenen

257 259 260 262

H. Laienpotential, Patientenaktivierung und Gesundheitsselbsthilfe. Zur Soziologie des Laien vor den Ansprüchen der Medizin

265

Christian von Ferber

255

IV

Inhalt

1. Ist es ein soziologisches Problem? 2. Interaktion zwischen Laien und Professionellen 3. Zivilisationstheoretische Perspektive

265 270 282

Literatur

295

Register

304

A. Einleitung: Perspektiven sozialwissenschaftlicher Gesundheitsforschung Bernhard Badura

Als die an diesem Band beteiligten Wissenschaftler vor nunmehr 1)

vier Jahren ihre gemeinsame Arbeit aufnahmen, taten sie dies in der Uberzeugung, vermehrte Anstrengungen im Bereich sozialwissenschaftlicher Gesundheitsforschung könnten zur Leistungsfähigkeit und zur Humanisierung unseres Gesundheitswesens beitragen. Wieweit diese Annahme zutrifft, hängt jetzt nicht nur ab von der Qualität und Relevanz der im folgenden in Form einer Zwischenbilanz vorgelegten Forschungsarbeiten. Es hängt auch ab von der Bereitschaft jener, die durch ihr praktisches Handeln auf den Gesundheitszustand unserer Gesellschaft einwirken - und das sind letztlich wir alle, Laien wie Experten -, diese Forschungsarbeit zur Kenntnis zu nehmen und in ihrer Alltagspraxis zu verwerten. Der vorliegende Band wendet sich darüber hinaus auch an unsere sozialwissenschaftlichen Fachkollegen, und lädt sie ein zu einer kritischen Würdigung der von uns aufgeworfenen Fragestellungen, unserer Perspektiven, Methoden und empirischen Befunde. Um dem Leser den Zugang zu den einzelnen Beiträgen zu erleichtern, sollen im folgenden einige Prämissen und Leitvorstellungen unserer gemeinsamen Forschungsanstrengungen und erste Einschätzungen von seiten der gesundheitspolitischen Praxis kurz dargelegt werden. Ohne den je spezifischen Fragestellungen und Zielsetzungen der beteiligten Forschungsgruppen Gewalt anzutun, kreisen unser aller Bemühungen stets um zwei u.E. für das Verständnis moderner Gesundheitsversorgung zentrale Problemfelder: zum einen um den Beitrag der Bürger, Laien, Konsumenten zur Gesundheitsförderung, m.a.W. um die mittlerweile in aller Munde geführte Selbsthilfe außerhalb oder innerhalb der medizinischen Versorgung; zum zweiten um die psychosoziale Problematik unserer Gesellschaft, genauer, um die durch die gesellschaftliche Entwicklung hervorgerufenen psychosozialen Belastungen und die dadurch mitbedingte Erosion soziokultureller Bindungen und psychosozialer Ressourcen.

2

. A. Einleitung

1. Der unterschätzte Laie Das Spektrum gesundheitsbezogener Selbsthilfeaktivitäten reicht von individueller Gesundheitsvorsorge etwa durch angemessenes Verhalten im Straßenverkehr oder durch regelmäßiges Zähneputzen über gegenseitige Hilfe in der Familie, etwa bei der Versorgung chronisch kranker Angehöriger, der Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe bis zur Nutzung medizinischer Dienste. Das Spektrum reicht also bis hin zu der Situation, in der der zum Patienten gewordene Bürger - bei gegebenen Voraussetzungen - trotz Abhängigkeit vom medizinischen Rat und von medizinischer Tat, meist erheblich, wenn nicht maßgeblich an seiner Wiedergenesung mitzuwirken vermag. Wir glauben, daß die Rolle, die dem Gesundheitsverhalten der Bürger für den Erhalt der Volksgesundheit insgesamt zukommt, bisher weit unterschätzt und die Möglichkeiten medizinischer Intervention umgekehrt weit überschätzt wurden. Unsere Ergebnisse zeigen, daß Selbsthilfe und Laienaktivitäten eine in der Regel verläßliche, leistungsfähige und jedermann zugängliche Gesundheitsressource bilden. Gesundheitsselbsthilfe in der Familie beispielsweise ist die älteste und sie ist die heute - trotz der ungeheuren Expansion bezahlter und hochspezialisierter medizinischer Dienste - immer noch verbreitetste Form der Gesundheitsversorgung. Christian von Ferber spricht deshalb sehr zu Recht von der Familie als "Basis der Laienmedizin"

(1975, S. 143 ff.). Jahrtausendelang gelingt

der Gattung Mensch das Uberleben ohne profesäionalisierte medizinische Versorgungssysteme. Selbst noch im letzten Jahrhundert starben Menschen vorzeitig, weniger weil sie medizinisch unterversorgt, sondern weil sie vor allem schlecht ernährt und unter zum Teil höchst ungesunden Verhältnissen zu wohnen und zu arbeiten gezwungen waren. Dies ist die inzwischen weithin akzeptierte Botschaft des englischen Sozialmediziners und Sozialhistorikers Thomas McKeown. Sein Buch über "Die Bedeutung der Medizin"

(deutsch: 1982) gehört zur Pflichtlektüre jedes

Gesundheitsexperten und jedes Medizinstudenten. Solange wir fälschlicherweise Gesundheitspolitik gleichsetzen mit Standespolitik derer, die als Anbieter medizinischer oder pflegerischer Dienstleistungen tätig sind, solange verstellen wir uns den Blick für die gesellschaftlichen Voraussetzungen von Gesundheit und Wohlbefinden - Voraussetzungen, die uns andererseits oft selbstverständlich sind und die deshalb und weil sie

Perspektiven sozialwissenschaftlicher Gesundheitsforschung

3

bisher zu wenig wissenschaftlich bearbeitet wurden, in der Praxis unserer Versorgungssysteme eine sehr weitgehende Vernachlässigung erfuhren. Amerikanische Autoren sprechen daher mit Blick auf die gesundheitsbezogene Selbsthilfe von einem "versteckten Gesundheitswesen"

(Levin/Idler 1981). Offenbar

weil sie über Jahrzehnte hinweg in eine "medizinische Kultur" (Powles 1973) sozialisiert wurden, neigen die meisten Menschen immer noch, und oft wider besseren Wissens, zu der Annahme, Gesundheitssicherung sei gleichzusetzen mit medizinischen Diensten, und sie neigen zu dem Glauben, der Gang zum Arzt sei das beste Mittel zur Krankheitsverhütung und Gesundheitsbewältigung. Wie die hier zusammengetragenen Erkenntnisse zeigen (vgl. dazu auch Badura/v. Ferber 1981), bildet die Selbsthilfe medizinischer Laien auch in hochindustrialisierten und wohlhabenden Gesellschaften wie der Bundesrepublik

(wir wenden

nahezu ein Drittel unseres Sozialprodukts für soziale Sicherheit und Gesundheitsdienste auf) eine immer noch zentrale Ressource. Selbsthilfeaktivitäten verschiedenster Art sind für unser aller Lebensqualität zu wichtig, um mißachtet oder unterschätzt zu bleiben. Sie sollten vielmehr aktiver gefördert oder zumindest vor Übergriffen durch Markt oder Staat besser geschützt werden. Die Zeit ist reif für eine entmedikalisierte Gesundheitsphilosophie, für eine Gesundheitsphilosophie, die gesundheitsbezogene Entwicklungen auch außerhalb der medizinischen Praxis und gesundheitsbezogene Faktoren auch jenseits des Paradigmas der traditionellen Schulmedizin berücksichtigt. Was in der Familie, in der Schule oder am Arbeitsplatz geschieht, ist für den Gesundheitszustand der Bevölkerung insgesamt von weit größerer Bedeutung als alle noch so verdienstvollen Leistungen und Anstrengungen der modernen Medizin.

2. Die psychosoziale Problematik hochindustrialisierter Gesellschaften Unser Plädoyer für eine entmedikalisierte Gesundheitsphilosophie drängt nicht nur auf eine realitätsgerechtere Einschätzung von Selbsthilfe unter den Bedingungen einer immer stärker expandierenden und technisch hochgerüsteten Medizin; diesem Plädoyer zugrunde liegt zugleich der "Zweifel" an der

4

A. Einleitung

"nur naturwissenschaftlichen Grundlage der Medizin" und "der Wille zu einem Neuaufbau auf breiteren Fundamenten", zu einer "Erweiterung und Verschiebung des Heilzieles" (v. Weizsäcker 1925); diesem Plädoyer zugrunde liegt also eine durch die Psychoanalyse angestoßene und von der frühen Psychosomatik aufgegriffene Idee einer gewandelten Gesundheitstheorie. Diese Idee hat die Forschung der vergangenen Jahrzehnte stark befruchtet und ist dabei, unser Wissen über die gesellschaftlichen Bedingungen von Krankheit und Gesundheit auf eine breitere Grundlage zu stellen. Der Streßforschung, der Sozialepidemiologie und der Medizinsoziologie verdanken wir theoretische Einsichten und empirische Erkenntnisse, die zeigen, welche hohe Bedeutung psychosozialen Faktoren sowohl bei der Entstehung wie auch bei der Bewältigung psychischer und somatischer Massenkrankheiten zukommt (z.B. Henry/Stephens 1977; Medical Care 15/1977; Gerhardt/Friedrich 1982). Und langsam beginnt sich die Auffassung durchzusetzen, daß das psychosoziale Defizit der modernen Medizin nicht nur ein "Schönheitsfehler" ist, sondern "auch die Effektivität der Medizin selbst in Frage stellt", und daß "seelenlose Krankenhäuser mit Hospitalismus und Humanmedizin ohne Humanität mit Kostenexplosionen zusammenhängen"

(v. Uexküll 1981, S. 2). Sowohl von seiner

phylogenetischen wie auch von seiner ontogenetischen Bestimmung her scheint der Mensch angewiesen zu sein auf emotionale Zuwendung und Anerkennung aus seiner sozialen Umwelt, auf soziale Bindungen, auf ein in irgendeiner Form befriedigendes Gruppenleben sowie auf einen gemeinsam akzeptierten und sinnstiftenden soziokulturellen Kanon. All die genannten Bedingungen bilden offenbar zentrale Voraussetzungen für seelisches Gleichgewicht, Selbstwertgefühl und soziale Identität und damit letztlich auch - so müssen wir heute annehmen, auch aufgrund eigener Forschungsresultate - für das psychische und somatische Wohlergehen des einzelnen. Dies zumal unter gesellschaftlichen Bedingungen, die permanente Diskrepanzen zu erzeugen scheinen zwischen den Bedürfnissen, Erwartungen und Fähigkeiten des Menschen auf der einen und den Zwängen, Anforderungen und Optionen der sozialen Umwelt auf der anderen Seite (Badura 1981). Für Gesundheitsforschung, Gesundheitspolitik und für die Praxis unseres Gesundheitswesens ergeben sich aus all dem weitreichende Konsequenzen. Wie ist vermehrte

Perspektiven sozialwissenschaftlicher Gesundheitsforschung

Gesundheitsförderung Wie

lassen

anstelle

sich psychosoziale

von Krankheitsbekämpfung Belastungen reduzieren,

psychosoziale

Widerstandskräfte

und Patienten

für

die Möglichkeiten,

einbeziehenden

sondern Projekte

3.

nur andeutungsweise beantwortet

Zwischenbilanz

im N o v e m b e r

pauschal,

einzelnen

Zwischenbilanz

1982

sehr intensive

Diskussion vor allem

Implikationen.

in d e r S c h l u ß d i s k u s s i o n

For-

auf einer Fachtagung

in eine

Gesamtthematik

die

werden.

und Gesundheitsexperten präsentierten,

der

und

nicht

und aus der Sicht der

Sozial-

politischen

liegen

Schwerwiegende

Fragestellungen und erste Ergebnisse unserer

schungsvorhaben

Laien

individual-

sondern die Arbeitswelt

Zur g e s u n d h e i t s p o l i t i s c h e n

Als wir

lassen sich

Gesundheitssicherung?

F r a g e n w i e d i e s e k ö n n e n in e i n e r

möglich? wie

aktivieren? Wo

wo die Grenzen einer nicht nur

therapeutisch verfahrenden, Gemeinde

stärken? Wie

ihre G e s u n d h e i t s b e l a n g e

5

von

mündete

ihrer

dies

gesundheits-

W i r h a l t e n e s für s i n n v o l l ,

gemachte und u.E.

für d a s

zentrale Äußerungen kurz

einige

Verständnis

zusammenfassend

wiederzugeben. Ein gesundheitspolitischer

Vertreter der Berliner Grünen

w i e s d a r a u f , daß m a n in der B u n d e s r e p u b l i k einer n e u e n Gesundheitsbewegung aber vor körpert

in der w a c h s e n d e n

Zahl v o n

pen und Selbsthilfevereinigungen schen Expertenbewegung" Die

Fehldeutungen.

zwischen der

selbsthilfe handele

es sich vielmehr um

Psychologen", zeigen"

zur

"kriti-

unterscheiden.

abgehaltenen unter

zu tun".

LaienHierbei

"eine Art Selbsthilfebewegung Sozialarbeitern

"eine Gegenperspektive

der Medizin und der Sozialarbeit

im B ü n d n i s d e r e r , d i e a u ß e r h a l b d e s

von

und

aufzu-

"Überwindung der eigenen Berufssituation,

Leistungsinsuffizienz tage". E r s t

"absolut nichts

Krankenschwestern,

um den Versuch,

ein-

ver-

Gesundheitsselbsthilfegrup-

hätten mit dem, was üblicherweise

frustrierten Ärzten,

zugleich

auf der einen u n d der

auf d e r a n d e r e n S e i t e zu

verstanden werde,

von

Zunächst

"Laienselbsthilfe",

in B e r l i n u n d H a m b u r g m i t g r o ß e m W i d e r h a l l

Gesundheitstage

ver-

zu R e c h t

sprechen dürfe, warnte

einer Reihe verbreiteter

m a l g e l t e es, d e u t l i c h

zwar

der heutzu-

Medizinsystems

zur S e l b s t h i l f e g r e i f e n u n d der B e w e g u n g , d i e a u s d e m

Medizin-

6

A. Einleitung

system heraus erwächst, liege das "innovative Potential" veränderter Gesundheitsarbeit. Im übrigen müsse man (in Perlin) davon ausgehen, daß eine von den Experten unabhängige Selbsthilfe gar nicht stattfinde. "Die Regel ist die Kooperation zwischen kritischen Experten und emanzipationswilligen und Selbstbestimmung fordernden Laien." Eine Vertreterin der Weltgesundheitsorganisation aus Kopenhagen verwies darauf, daß die WHO ihr in Alma Ata verabschiedetes Konzept "basisorientierter Gesundheitsdienste"

inzwischen

modifiziert habe. Während anfangs im Mittelpunkt dieses Konzeptes noch eine basisorientierte medizinische Versorgung stand, werde heute das Laiensystem "dezidiert miteinbezogen". Im übrigen habe sie gestört, daß auf der Tagung so wenig über das Problem der Machtverteilung im Gesundheitswesen gesprochen worden sei. Schließlich dürfe man ja nicht übersehen, daß der Konsument hier einem System gegenüberstehe, in dem jeder Arzt und jede Krankenschwester durch mächtige Organisationen vertreten werde, nur er selber nicht. Auch solle man bei derartig weitgespannten Forschungsvorhaben mehr Mut zur Utopie zeigen. Sie forderte die Wissenschaftler auf, über alternative Szenarien zur Entwicklung des Gesundheitswesens nachzudenken, z.B. über die Frage, "Was heißt öffentliches Gesundheitswesen und öffentliche Gesundheitsverpflichtung in den achtziger Jahren?"; und: "Auf welche Art und Weise muß die Partizipation der Bevölkerung auf den verschiedenen Ebenen gesundheitspolitischer Entscheidungsfindung gewährleistet sein?". Sie warnt im übrigen bei Überlegungen zur Selbsthilfe vor der Uberbetonung der Selbsthilfegruppen; auch solle man das Gesundheitspotential anderer sozialer Bewegungen wie z.B. der Umweltbewegung nicht unterschätzen. Am Ende ihrer Ausführungen schlug sie vor, die Erkenntnisse und Erfahrungen in den verschiedenen Forschungsgebieten in konkreten Modellversuchen zu erproben. Solange sich die Kritiker des Gesundheitswesens nicht auf eine gemeinsame gesundheitspolitische Strategie verständigen könnten - so ein Vertreter des DGB -»dürfe auch nicht mit einer Beseitigung vorhandener Mängel und Defizite gerechnet werden. Hauptziel einer solchen Strategie muß die "Rückgewinnung der Kompetenz" auf Seiten der Laien und der Krankenkassen sein. Der

Perspektiven sozialwissenschaftlicher Gesundheitsforschung

7

"Dominanz der Anbieter" könne nur durch gemeinsame Aktionen der Selbsthilfebewegung und kritischer Potentiale in den bestehenden Institutionen begegnet werden. Neben diesen Grundsatzfragen kamen auch eine Reihe Einzelprobleme zur Sprache. Ein Vertreter des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes verdeutlichte am Beispiel der Altenhilfe, daß bestehende Regelungen im Bereich des BSHG "letzte Möglichkeiten der Gestaltung der Selbsthilfe" für alleinlebende alte Menschen bedrohen; wenn etwa der Gang ins Heim die einzige Möglichkeit bleibt, in den Genuß, wenn auch noch so kleiner Freibeträge zu kommen. Der gleiche Redner betonte die "Mangelsituation, daß das Gesundheitswesen auf den Übergang von der akuten medizinischen Behandlungsphase zum alltäglichen Leben wirklich nur unzureichend vorbereitet und ihn nur unzureichend begleitet". Mit der Entstehung von Selbsthilfegruppen habe hier sicherlich ein wünschenswerter Entwicklungsprozeß stattgefunden, der "aus Behandelten auch Handelnde" gemacht habe. Er forderte eine partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen Anbietern und Konsumenten von Gesundheitsleistungen; und darüber, wie er sich eine solche partnerschaftliche Beziehung vorstellte, sagte er: "Partner sind nicht notwendigerweise gleich. Sie sind auch nicht notwendigerweise gleichberechtigt, aber sie sind vielleicht gleichwertig, gleichrangig und ebenbürtig." Er betonte jedoch ausdrücklich, Selbsthilfe müsse "von Betroffenen geleistet, gestaltet und geleitet werden" und sie "müsse sich auch wieder auflösen" oder "sich zurückziehen" können. Im übrigen dürfe man nicht glauben, Selbsthilfe sei stets ein billiges Mittel zur Beseitigung von Versorgungslücken: "Selbsthilfe könne durchaus teuer sein". Ein Vertreter der Betriebskrankenkassen verwies auf einen weiteren ökonomisch relevanten Effekt der Selbsthilfe, wenn etwa der Patient

"in einer Art individueller Negativ-Selbstmedi-

kation" dazu übergehe, ein Medikament, von dem er annehme, daß es ihm nicht geholfen habe, in eigener Entscheidung abzusetzen. Am Ende der Diskussion vertrat ein Vertreter der Medizinsoziologie die Auffassung, bei der Behandlung psychosozialer Folgen von Krankheit komme es letztlich darauf an, dem Betroffenen "die Sinnhaftigkeit eines Lebens mit der Krankheit" zu vermitteln. Was den Anwendungsbezug der vorgetragenen Ergebnisse

8

A. Einleitung

betrifft, äußerte er sich eher skeptisch. Seiner Meinung nach verfügten die Sozialwissenschaften "über sehr wenig Erfahrung im Bereich der experimentellen Verwirklichung" ihrer eigenen Erkenntnisse. "Ich glaube, wir werden Erfahrungen sammeln müssen, wie die Naturwissenschaftler, wie die Mediziner auch, denen man immer viel Zeit einräumt, um von einer Grundlagenidee in die Entwicklung, in die technologische Umsetzung, in die Praxis zu gelangen. Sozialwissenschaftler geraten oft unter den Druck von vorschnellen, kurzfristigen, zeitbezogenen Modellen und Problemdefinitionen", wodurch beide, die Grundideen und ihre Verwirklichung zu Schaden kämen.

Dieser Band zieht eine Zwischenbilanz der Forschungsergebnisse aus sechs Projekten, die in dem Verbund "Laienpotential, Patientenaktivierung und Gesundheitsselbsthilfe" zusammenarbeiten. Der Verbund wird vom Bundesministerium für Forschung und Technologie im Programm "Forschung und Entwicklung im Dienste der Gesundheit" gefördert.

B. Gesundheitsselbsthilfegruppen Arbeitsweise von Gesundheitsselbsthilfegruppen und Anregungen zu ihrer sozialpolitischen Unterstützung Jörn-Uwe Behrendt, Christiane Deneke, Astrid Estorff, Heide Guderian, Edith Halves, Ralf Itzwerth, Eva-Maria Schorsch, Alf Trojan

1. FORSCHUNGSZIELE UND FORSCHUNGSFELD 1.1 Allgemeine Fragestellungen und Ziele des Projekts Im Hamburger Projekt des Forschungsverbundes

"Laienpotential,

Patientenaktivieruhg und Gesundheitsselbsthilfe" werden die Entstehung, Arbeitsweise, Verläufe und Erfolge von Gesundheitsselbsthilfegruppen erforscht. Das aus verschiedenen qualitativen und quantitativen Teilstudien bestehende Forschungsvorhaben hat einen noch weitgehend explorativen Charakter. Sein Ziel ist zunächst, deskriptive Grundkenntnisse zu erarbeiten über: a) die quantitative Verbreitung von Gesundheitsselbsthilfegruppen (exemplarisch für den Hamburger Raum) b) die Problembereiche, die in Gesundheitsselbsthilfegruppen (im folgenden meist verkürzt: "Selbsthilfegruppen") repräsentiert sind c) relevante Kriterien einer Typologisierung von Selbsthilfegruppen d) die Motive, Beitrittswege und Sozialdaten der Mitglieder e) verschiedene Arbeitsweisen der Gruppen f) die Aktivitäten und Wirkungen von Selbsthilfegruppen g) die Beurteilung der Wirkungen von Selbsthilfegruppen Mitglieder und Professionelle)

(durch

h) Entwicklungsprozesse in den Gruppen i) Art und Umfang der Mitwirkung von Professionellen in den Gruppen k) Einstellungen von Professionellen zu Selbsthilfegruppen und ggf. ihre Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit Selbsthilfegruppen 1) das Verhältnis zwischen den Gruppen und dem System professioneller Versorgung *) Wir danken den weiteren Mitarbeitern des Projektes, die in verschiedenen Phasen zum Fortgang unserer Arbeit beigetragen haben.

10

B. Gesundheitsselbsthilfegruppen

Die weitergehende Analyse der grundlegenden Informationen konzentriert sich auf die Beantwortung folgender forschungsleitender Fragestellungen: 1. Welchen (quantitativen und qualitativen) Beitrag leisten die verschiedenen Typen von Gesundheitsselbsthilfegruppen für die Verhütung und Bewältigung gesundheitlicher Probleme? (vgl. a - c) . 2. Welche Zusammenhänge gibt es zwischen.Merkmalen der Mitglieder und der Gruppen einerseits und den Wirkungen (Erfolgen/Mißerfolgen) der Selbsthilfegruppenteilnahme andererseits? (vgl. d - h) . 3. Welche Forderungen ergeben sich für die allgemeine Förderung von gesundheitsrelevanten Selbsthilfezusammenschlüssen und die Zusammenarbeit zwischen Gesundheitsselbsthilfegruppen und dem System professioneller Versorgung? Hierzu beziehen wir auch im folgenden Beitrag aufgrund der bisherigen, vor allem qualitativen Forschungsergebnisse aus Intensivinterviews und teilnehmender Beobachtung Stellung: im 1. Abschnitt zur Strukturierung des vielfältigen Bereichs gesundheitlicher Selbsthilfe, in Abschnitt 2 zu qualitativen Leistungen (Arbeitsweise•und Wirkungen) von Selbsthilfegruppen und in Abschnitt 3 zur Förderung von Selbsthilfegruppen^'.

1.2 Zur Strukturierung des Bereichs "gesundheitlicher Selbsthilfe" Unter "gesundheitlicher Selbsthilfe" als Oberbegriff müssen alle Individuellen und kollektiven Handlungsformen verstanden werden, die der Vorbeugung und besseren Bewältigung von Befindlichkeitsstörungen und Krankheiten ohne Inanspruchnahme professioneller Dienste durch die Betroffenen selbst dienen. Dieses weite Verständnis entspricht auch dem "Self-Help"-Konzept D. Robinsons, der 1982 im Auftrag der WHO einen ersten Vorschlag für eine international brauchbare Terminologie für diesen Bereich unterbreitet hat. Thema unserer weiteren Diskussion werden vor allem "Selbsthilfegruppen" , d.h. eine spezielle Form kollektiver Selbsthilfe, sein. Für den Bereich der individuellen Selbsthilfe und der familiären Selbsthilfe verweisen wir insbesondere auf das Bielefelder Projekt unseres Verbundes. Als Oberbegriff für kollektive Selbsthilfe (außerhalb der Familie) benutzen wir im Hamburger Projekt den Ausdruck "Selbsthilfezusammenschlüsse" . Die 5 wichtigsten allgemeinen Definitions-

Arbeitsweise und Anregungen zu ihrer Unterstützung

11

merkmale für Selbsthilfezusammenschlüsse sind: - Betroffenheit der Mitglieder durch ein gemeinsames Problem -

keine oder geringe Mitwirkung professioneller Helfer keine Gewinnorientierung gemeinsames Ziel: Selbst- und/oder soziale Veränderung Arbeitsweise: Betonung gleichberechtigter Zusammenarbeit und gegenseitiger Hilfe.

Als Selbsthilfeorganisationen bzw. -verbände bezeichnen wir Zusammenschlüsse, die mehr als eine Gruppe (bzw. als einen Landesverband) umfassen und/oder deren Arbeitsweise nicht durch eine kontinuierliche Gruppenarbeit gekennzeichnet ist (d.h. deren Treffen seltener als ca. einmal monatlich stattfinden) . Selbsthilfegruppen unterscheiden sich von Selbsthilfeorganisationen durch die Kontinuität ihrer gemeinsamen Arbeit, die meist wöchentliche, in der Regel aber mindestens monatliche Treffen 2) erfordert Unsere definitorischen Festlegungen sind dadurch legitimiert, daß sie sowohl mit dem sozialpsychologischen als auch mit dem Alltagsverständnis der Begriffe "Gruppe" und "Organisation" korrespondieren. Mißverständnisse können sich jedoch dadurch ergeben, daß wiederum in Wissenschaft und Alltag - die Begriffe "Gruppe" und "Organisation" ganz unterschiedlich weit ausgelegt und verstanden werden. Diese Feststellung gilt insbesondere für den Begriff "Selbsthilfegruppen". Ein enges Verständnis begreift Selbsthilfegruppen nur als Gesprächsgruppen, in denen gegenseitige Hilfe geboten wird. Oft wird der Begriff sehr viel weiter, d.h. für alle Selbsthilfezusammenschlüsse, nämlich Gruppen und Organisationen, benutzt, so offenbar auch von der "Gesundheitsministerkonferenz", die sich auf ihrer 5o. Tagung im Dezember 1982 mit diesem Thema befaßt und eine positive Stellungnahme verabschiedet hat. Das weiteste Verständnis offenbart sich in einer großen Anfrage der CDU im Berliner Abgeordnetenhaus (DS 9/349 v. 8.2.82). Die Anfrage bezieht sich auf "Alternatives Leben" und verwendet den Ausdruck "Selbsthilfegruppen" für alle Zusammenschlüsse der "Alternativ-Szene". Die folgende Übersicht geht von dem weitesten Verständnis aus und versucht eine Zusammenschau zu geben des gesamten Bereichs der auch in der Presse immer häufiger als "Selbsthilfegruppen" bezeichneten Zusammenschlüsse. In der Wissenschaft scheint sich

12

B. Gesundheitsselbsthilfegruppen

für d i e s e n 3) setzen

B e r e i c h d e r Begriff " S e l b s t o r g a n i s a t i o n e n "

, im Alltagssprachgebrauch wird häufig der

"Selbsthilfeinitiativen" Laien-

für a l l e F o r m e n

und P r o f e s s i o n e l l e n - G r u p p e n

Übersicht:

zipativen

"Selbsthilfeinitiativen")

Z u s a m m e n s c h l ü s s e m i t den

von "Bedarfsorientierung

Ausdruck

selbstorganisierter

verwendet.

"Selbstorganisationen"(bzw.

(= s e l b s t o r g a n i s i e r t e

durchzu-

als d o m i n a n t e m

Hauptkennzeichen

Ziel" u n d e i n e r

"parti-

Entscheidungsstruktur")

Selbstorganisationen: Teilbereich des "autonomen" (="dritten" ="voluntary non-profit") Bereiches neben staatlichem und privatwirtschaftlichem Bereich

0

selbstorganisierte FremdhilfeZusammenschlüsse

SelbsthilfeZusammenschlüsse

1. Selbsthilfe-

o

i

2. Selbsthilfeorganisationen

O

| 4. LaienI helfer1 gruppen J

5. wohl-

(Selbsthilfe-u .Fremdhilfeprinzips vermischen sich)

i

finanz.staatl. Förderung

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3. Alternative (Selbsthilfe-) Projekte Uberwiegen des SelbsthilfePrinzipsfin: - Projekten des primären Sektors (Landwirtschaft) - Projekten des sekundären Sektors (Güterproduktion)

Gleichrangigkeit oder Über| wiegen des Fremdhilfe-Prinzips , in: Projekten des tertiären Sektors (Erbringung von Dienstleistungen)

Arbeitsweise und Anregungen zu ihrer Unterstützung

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Die Merkmale, die "Selbstorganisationen" grundsätzlich von anderen "Unternehmen" unterscheiden, sind nach Badelt (198o) die Priorität des Ziels "Bedarfsdeckung" gegenüber anderen Zielen wie besonders "Gewinnerzielung" sowie ihre partizipative Entscheidungsstruktur. Selbstorganisationen sind dem mit vielfältigen Namen belegten "dritten" Bereich neben staatlichen und marktwirtschaftlichen Unternehmen zuzuordnen. Dieser autonome ("voluntary non-profit") Sektor umfaßt jedoch noch weitere,hier nicht genannte Bereiche außerstaatlicher, nichtmarktwirtschaftlicher Zusammenschlüsse (vgl. Badelt, 198o, S. 4o). Für die Strukturierung des uns interessierenden Bereichs ist die wichtigste Unterscheidung diejenige zwischen Selbsthilfe-Zusammenschlüssen und selbstorganisierten Fremdhilfe-Zusammenschlüssen (symbolisiert durch die senkrecht gestrichelt gezeichnete Mittellinie) . Im folgenden sollen die einzelnen Elemente des Schemas kurz charakterisiert werden. 1. Selbsthilfegruppen Als relevante Unterscheidungsmerkmale zu Selbsthilfeorganisationen hatten wir weiter oben schon den Komplexitätsgrad der Zusammenschlüsse und die Kontinuität der Gruppenarbeit genannt. Die Rechtsform erweist sich manchmal als irreführendes Merkmali die Anonymen Alkoholiker sind z.B. eine relativ komplexe internationale Organisation, haben jedoch nicht die Rechtsform eines eingetragenen Vereins. Im allgemeinen gilt jedoch: je komplexer der Zusammenschluß, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß er eine besondere Rechtsform angenommen hat. Mit Etablierung einer Selbsthilfegruppe als eingetragenem Verein geht häufig eine funktionelle Ausdifferenzierung einher und eine Aufspaltung' in einzelne Untergruppen. Man kann geradezu einen Zwischentypus im Grenzbereich zwischen Gruppe und Organisation ausmachen. Dabei handelt es sich entweder um lokale Gruppen einer überregionalen Organisation (z.B. Ilco, Selbsthilfe nach Krebs) oder eine lokale Gruppe, die sich, wie eben beschrieben, in Untergruppen mit verschiedenen Funktionen aufgeteilt hat und meistens "laienhafte" 4) Dienstleistungen anbietet . Der Bedarf an finanzieller Unterstützung (z.B. Räume für eine Beratungsstelle, Telefonkosten) wächst meistens, ebenso das Selbstverständnis als Interessenvertretung aller vom jeweiligen Problem Betroffenen. Als Beispiele in Hamburg können der "Aktionskreis 71, Verein für Sozialpsychiatrie", der "Elternkreis Drogenabhängiger" oder die "Grauen Panther" gelten.

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B. Gesundheitsselbsthilfegruppen

2. Selbsthilfeorganisationen Als wichtigste allgemeine Unterscheidungsmerkmale der meisten Selbsthilfeorganisationen gegenüber den Selbsthilfegruppen zeigen sich: überregionale z.T. bundesweite Vertretung, größere Mitgliederzahlen, formalisierte Arbeits- und Verwaltungsabläufe, stärkere Kontakte zum staatlich/professionellen System. Inhaltlich tritt aus Gründen des strukturellen Aufbaus und nicht zuletzt wegen des Selbstverständnisses in den Organisationen das Moment der solidarischen, persönlichen und flexiblen Problembehandlung auf der Basis gegenseitiger Hilfe in den Hintergrund gegenüber nach außen gerichteter Interessenvertretung. Hinsichtlich der von ihnen erbrachten Dienstleistungen kann man idealtypisch zwei Grundformen unterscheiden: Träger organisierter Laienhilfe und Träger professioneller Dienste. 2a Selbsthilfeorganisationen als Träger von Laienhilfe Faktisch bieten die meisten Selbsthilfeorganisationen für chronisch Kranke mehr Laien-(Fremd-)Hilfe als Selbsthilfe (im Sinne gegenseitiger Hilfe) an. Man kann jedoch sagen, daß potentiell jeder Kontakt eines Helfers und Beraters zu Gleichbetroffenen sich leicht wieder in eine Situation gegenseitiger Hilfe verwandeln kann. In welchem Maße dies geschieht, ist eine empirisch offene Frage. Der Anteil selbstorganisierter Professionellenhilfe ist in diesem Typ von Selbsthilfeorganisationen jedoch gering. 2b Selbsthilfeorganisationen als Träger professioneller Dienste Nach dem Zeitpunkt ihres Entstehens kann man grob drei "Generationen" von Selbsthilfeorganisationen unterscheiden: - eine erste Generation, entstanden vor 196o: vor allem der Deutsche Blindenverband, die Deutsche Gesellschaft für HörSprach-Geschädigte (ein Dachverband), die Multiple-SkleroseGesellschaft, einige Alkoholiker-Verbände, die Bundesvereinigung Lebenshilfe für geistig Behinderte, der Bundesverband für spastisch Gelähmte und andere Körperbehinderte, Freundeskreis Camphill, Sozialhilfe-Selbsthilfe Körperbehinderter/Krautheim sowie die Deutsche Hämophilie-Gesellschaft; - eine zweite Generation, entstanden 196o bis ca. 197o: hierbei handelt es sich fast ausschließlich um Elternzusammenschlüsse (ca. 1o); - eine dritte Generation, entstanden nach 197o: hierbei handelt es sich fast ausschließlich um Zusammenschlüsse von chronisch Kranken bzw. Operierten (ca. 1o - 15).

Arbeitsweise und Anregungen zu ihrer Unterstützung

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Die Selbsthilfeorganisationen der zweiten und dritten Generation organisieren fast durchgängig lediglich Selbsthilfe und Laienhilfe. Nur die Selbsthilfeorganisationen der ersten Generation, unter denen sich sowohl Zusammenschlüsse direkt Betroffener als auch indirekt Betroffener (d.h. Eltern) u.a. Angehöriger befinden, sind Träger professioneller Dienste und Einrichtungen geworden. (Die Angaben Uber Entstehungsjahre, Leistungen und Trägerschaften beruhen auf Veröffentlichungen der Bundesarbeitsgemeinschaft "Hilfe für Behinderte", einem Zusammenschluß von inzwischen 37 Selbsthilfeorganisationen).Die Trägerschaft von Einrichtungen hat manchmal negative Konsequenzen wie Bürokratisierungstendenzen, finanzielle Abhängigkeit, Anwerbung professioneller Kräfte, Übernahme eines offiziellen Versorgungsauftrages und Veränderung ursprünglicher Zielsetzungen (für den Alkoholbereich vgl. dazu Borchert 1978, für den Behindertenbereich z.B. Itzwerth 1979). Daß durch solche Einrichtungen Lücken der staatlichen bzw. professionellen Versorgung gefüllt werden, ist zunächst als positive Konsequenz zu verbuchen. 3. Alternative (Selbsthilfe-) Projekte des primären und sekundären Sektors Eine in Einzelheiten gehende Auseinandersetzung mit diesem Bereich und den vorliegenden Systematisierungsversuchen kann und soll nicht geleistet werden; in unserem Diskussionszusammenhang genügen einige Hinweise zum Selbsthilfecharakter solcher Projekte In einer älteren Arbeit nennen Nelles und Beywl (1979) neben den vorwiegend selbsttätigen und den interessenVertretenden Organisationen als dritten Typ die integrierten Lebensgemeinschaften (Landkoiranunen, Wohngemeinschaften, Arbeitskollektive). Hierbei sind Überlappungen mit Selbsthilfegruppen am deutlichsten, da es sich manchmal um Lebensgemeinschaften von bestimmten benachteiligten Gruppen handelt, z.B. bei der "Sozialistischen Selbsthilfe Köln" oder der "Arbeiterinnen- und Arbeiter-Selbsthilfe Stuttgart". Es gibt jedoch kaum Alternativprojekte, egal, wovon sie leben oder welches ihre Hauptziele sind, in denen nicht explizit gesundheitliche Handlungsmotive eine wichtige Rolle für die gesamte Lebensweise spielen. Geht man vom weiten Gesundheitsbegriff der WHO aus, muß man die alternativen Lebensgemeinschaften als konsequentesten und umfassendsten Ansatz der Gesundheitsselbsthilfe verstehen. 4. Lalenhelfergruppen Die Unterscheidung zwischen Laien-Fremdhilfe und Selbsthilfe

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B. Gesundheitsselbsthilfegruppen

ist bei genauerem Hinsehen künstlich: in Selbsthilfegruppen befinden sich oft Personen, die anderen gleichartig Betroffenen helfen wollen und sich selbst gar nicht als hilfsbedürftig erleben^'; in Laienhelfergruppen wird oft eingestanden, daß die Betreuung anderer aus dem Motiv der Selbsthilfe erfolgt, z.B. um die eigene Isolation aufzuheben, seinem Leben einen neuen Sinn zu geben und ähnlichem. 5. Wohlfahrtsverbände Diese sind - wie die Selbsthilfeorganisationen der ersten Generation - primär Träger professioneller Dienste und Einrichtungen. Von der Zusammensetzung her ist der DPWV (Deutscher paritätischer Wohlfahrtsverband) der pluralistischste Wohlfahrtsverband. In ihm sind auch viele Selbsthilfeorganisationen und lokale Zusammenschlüsse im Ubergangsbereich zwischen Gruppen und Organisationen Mitglieder. Für die Förderung von Selbst- und Laienhilfe haben die Wohlfahrtsverbände eine Schlüsselstellung. 6. Alternative (Selbsthilfe-) Projekte des tertiären Sektors Diese sind für unsere Diskussion besonders wichtig, wenn sie personenbezogene gesundheitliche Dienstleistungen erbringen. Meistens treten in solchen Projekten unbezahlte Eigenarbeit und mischfinanzierte Erwerbsarbeit wie auch Laienhilfe und professionelle Hilfe nebeneinander auf. Die geleistete Arbeit ist (anders als bei den Wohlfahrtsverbänden) oft untertariflich bezahlt; eine Absicherung z.B. über Sozialversicherungsbeiträge besteht für viele Mitarbeiter gar nicht. Wegen dieser Arbeitsbedingungen wird der Begriff "Zweite Kultur" für die Alternativszene zu einem beschönigenden Ausdruck der "Ersten Kultur", der letztlich bedeuteti Ausgrenzung, Stigmatisierung und eine Spaltung der Wirtschaft in einen abgesicherten Wohlstandsbereich mit "guten Jobs" einerseits und einen sozial ungesicherten Armutsbereich andererseits (vgl. z.B. Evers, 1981). Die Bezüge zu und Überschneidungen mit anderen Selbsthilfezusammenschlüssen sind häufig; das Spektrum der Erscheinungsformen ist außerordentlich vielfältig (vgl. für Beispiele: Schnetz, 1976 über "Bürgerinitiativen im sozialen Raum" und "Der große Wie-lebst-Du-denn. Das Buch für Selbsthilfe, Selbsthilfeoranisation und Patientenrecht", 1982). Der vorangegangene Uberblick über das gesamte Feld gesundheitsrelevanter Selbstorganisationen ist vor allem wichtig für unseren letzten Abschnitt über die Förderung von Selbsthilfe. Mit dem letzten Abschnitt möchten wir eigene Erfahrungen und Forde-

Arbeitsweise und Anregungen zu ihrer Unterstützung

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rungen zur sozialpolitischen Diskussion über Selbsthilfe bei6) tragen Zunächst folgt jedoch ein Abschnitt, in dem wir unsere empirischen Ergebnisse über die Arbeitsweise und die Wirkungen von Selbsthilfegruppen vorstellen ''. Dabei geht es uns um ein vertieftes Verständnis dessen, was das "Wesen" der Selbsthilfegruppen ausmacht ("Selbsthilfegruppen" hier wieder im enaeren Sinne der gering organisierten und überwiegend aus "Laien" bestehenden Kleingruppen verstanden).

2. ZUR ARBEITSWEISE UND DEN WIRKUNGEN VON SELBSTHILFEGRUPPEN

In der sozialpolitischen Diskussion wird der Begriff der "Dienstleistung" verwendet, wenn man die Hilfen des professionell/staatlichen Systems in allgemeiner Weise bezeichnen will. Dieser Begriff ist jedoch vieldeutig; wie auch der Begriff der Hilfe

hat

er sowohl einen Handlungs- wie einen Wirkungsaspekt. Die analytische Trennung von Ziel, Handlung und Wirkung ist jedoch nicht immer möglich

(und auch nicht immer sinnvoll). Wir müssen unter-

scheiden zwischen einer funktionalen zwischenmenschlichen Beziehung mit entsprechendem Objekt- bzw. funktionsbezogenem Handeln und einer mehr "kommunikativen" Beziehung, die gekennzeichnet ist durch komplexe Wechselwirkungsprozesse der Beteiligten im Erleben und Handeln. Nur bei der funktionalen Beziehung ist eine sinnvolle Trennung zwischen Handlungs- und Wirkungsaspekt möglich. Im Teil 2.1 "Gruppengeschehen" werden sowohl Leistungsqualitäten angesprochen, die einen eher funktionalen Charakter haben wie auch solche, bei denen das kommunikative Geschehen von Bedeutung ist, d.h., wo Handlungs- und Wirkungsaspekt nicht voneinander zu trennen sind. In Teil 2.2 erörtern wir Wirkungen des Gruppengeschehens auf ausgewählte wichtige Bereiche hin. Dabei muß schon vorab gesagt werden, daß die Annahme, jede Gruppe könne alles leisten, einen Allmachtsglauben auf die Gruppen projiziert, der zwangsläufig enttäuscht werden muß. In Teil 2.3 nehmen wir kurz zur Frage Stellung, wie sich die Leistungen von Selbsthilfegruppen im Vergleich mit anderen Leistungssystemen darstellen.

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B. Gesundheitsselbsthilfegruppen

2.1 Gruppengeschehen Information, Beratung, Erfahrungsaustausch Besonders im Krankheitsbereich - seien es Angehörige von Kranken oder Kranke selbst - führt der Wunsch nach umfassender Information, Beratung und nach Erfahrungsaustausch zum Beitritt in eine Selbsthilfegruppe. Meistens kann jedes Mitglied aus eigener Erfahrung wesentliche Informationen beisteuern. Auf der Basis der Gegenseitigkeit wird also die Kompetenz jedes Teilnehmers erhöht, seine krankheitsbedingten Probleme besser zu bewältigen. Oft eignet sich auch eine Kerngruppe Wissen an und stellt es für andere Betroffene zur Verfügung - die Treffen dieser Gruppen sind für Neue jederzeit offen. Die Leistungen beziehen sich nicht nur auf die Krankheit bzw. das Problem direkt, sondern auch auf das institutionalisierte Versorgungssystem - d.h. daß beratungsrelevante Informationen über Ärzte, Gruppen, Institutionen, mit denen man positive oder negative Erfahrungen gemacht hat, systematisch gesammelt werden und daß Erfahrungen über den Umgang mit Behörden über Medikamenteneinnahme, Krankenhäuser, Operationen etc. ausgetauscht werden. Informationen werden nicht nur von Betroffenen vermittelt, sondern auch von eingeladenen Professionellen. Einige Zusammenschlüsse haben Untergruppen für Information und Beratung eingerichtet. Die Erscheinungsform einer aktiven Kerngruppe und einer Vielzahl von eher passiven Mitgliedern wird unterschiedlich, z.T. sehr kritisch beurteilt. Die Mitglieder der Kerngruppe beklagen häufig die geringe Aktivität der übrigen Betroffenen, während (andererseits) diese Kerngruppe gelegentlich als unnahbarer Block erlebt wird. Psychische Belastungen, die sich aus einer Krankheit oder einem Problem ergeben, werden bei den Sitzungen dieser Gruppen nur sehr vorsichtig oder gar nicht angesprochen. Bei den Gruppen, die sich gebildet haben, um sich gegenseitig eher im Sinne von Gesprächsgruppen zu helfen, spielen Beratung und Information hinsichtlich pragmatisch-technischem Umgang mit dem Problem eine sekundäre oder gar keine Rolle. Praktische Unterstützung Praktische! Unterstützung im Sinne konkreter Dienstleistungen haben nur in einigen Problembereichen eine nennenswerte Bedeutung, z.B. besuchen sich alte Menschen gegenseitig in Kliniken und Heimen, im Krankheitsfall wird eingekauft u.ä. Obwohl diese Aktivitäten

Arbeitsweise und Anregungen zu ihrer Unterstützung

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oft außerhalb der Gruppensitzungen zustande kommen, sind sie doch Ergebnis der Zugehörigkeit zur Selbsthilfegruppe. Allerdings sind uns keine Beispiele bekannt, in denen solche Dienstleistungen für die längerdauernde Versorgung einzelner Personen organisiert sind. Die Grauen Panther betonen deutlich, daß dies von ihnen weder geleistet werden kann noch als Aufgabe angestrebt wird. Kontakt und Geselligkeit In den Interviews mit Professionellen wurde einmal geäußert, eine Selbsthilfegruppe sei kaum mehr als ein "Kaffeeklatsch". In dieser Bewertung spiegelt sich die zu geringe Wertschätzung von nicht problemgerichteter Interaktion in Selbsthilfegruppen wider. Ein "Kaffeeklatsch" unter Gleichbetroffenen kann aber ein Stück Normalität bieten, das gerade denen wichtig ist, die aufgrund ihres Problems stigmatisiert werden und von "normalen" Geselligkeiten ausgeschlossen sind oder sich ausgeschlossen fühlen. Schon das Zusammensein und die Möglichkeit, über alles sprechen zu können, werden als hilfreich empfunden - auch wenn nicht immer über konkrete Probleme geredet wird. Die nicht problemgerichteten Aktivitäten von Selbsthilfegruppen umfassen fast alles, was Menschen in ihrer Freizeit machen: "Klönen", Sport treiben. Schwimmen, Malen, Töpfern, Ausflüge machen, sich gegenseitig besuchen, persönliche Kontakte anknüpfen bzw. Freunde/Freundinnen finden. Auf Einflußnahme gerichtete Außenaktivitäten Eine große Zahl von Selbsthilfegruppen hat als Zielsetzung nicht nur Selbst- sondern auch Sozialveränderung. Ihre Ziele sind nicht nur persönlich, sondern auch explizit politisch (z.B. 4o % der 39 Gruppenkontaktpersonen aus der Pilotstudie, die überhaupt gemeinsame Ziele aufführten). Im Rahmen dieser Außenaktivitäten werden Veränderungen in Institutionen, z.B. Krankenhäusern, angestrebt und wird Öffentlichkeitsarbeit gemacht (z.B. Teilnahme an Talkshows und Kongressen, Herausgabe von Broschüren u.a.). Einzelne Gruppen nehmen Kontakt zu anderen Selbsthilfegruppen und Selbsthilfeorganisationen auf und entwickeln ein überregionales Netz wie die Grauen Panther, Epilepsiegruppen oder kürzlich die Arbeitsloseninitiativen. Gespräche zur emotionalen Unterstützung Ober die Krankheit bzw. über das Problem und die problemspezifi-

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B. Gesundheitsselbsthilfegruppen

sehen Belastungen zu sprechen, ist für Selbsthilfegruppenmitglieder in der Regel sehr wichtig, erhält aber je nach Gruppenstruktur und Zielsetzung einen unterschiedlichen Stellenwert. Es erscheint einerseits ein großes Bedürfnis nach persönlichem Austausch zu bestehen, andererseits aber auch häufig Scheu und auch Abwehr, über die eigenen Ängste und Gefühle zu reden. In diesem Zusammenhang spielen die folgenden Aspekte eine wichtige Rolle: - mit anderen Leuten, die das gleiche oder ähnliche Problem haben, reden zu können und Erfahrungen bzw. Ängste zu teilen; - aus der Isolation herauszukommen; - gegenseitige Hilfe und Unterstützung durch Ermutigung, Zuspruch, Lob, Beruhigung und Trost. Eine wichtige Bedeutung in diesem Kontext erhalten Gruppenklima und das Beziehungsverhalten der Mitglieder. Hierfür sind im Verständnis der Betroffenen zentral: die Gleichverantwortlichkeit für das Gruppengeschehen (damit hängen Verbindlichkeit, Kontinuität und als deren Ergebnis Vertrauen zusammen); Gleichberechtigung in der Zusammenarbeit, solidarisches Verhalten wie Zuwendung, Offensein für den anderen, Akzeptieren, Verständnis, behutsames Zuhören, liebevoller Umgang und das Vermitteln von Geborgenheit. Betrachten wir das reale Geschehen in den Gruppen, so zeigen sich eine Reihe von Übereinstimmungen, aber auch manche Unstimmigkeiten zwischen den Zielvorstellungen und dem tatsächlichen Gruppengeschehen. Im allgemeinen gibt es dort, wo das persönliche Gespräch im Vordergrund steht, eher Schwierigkeiten, die z.T. nicht lösbar erscheinen. So erweist sich die Erwartung, daß sich jeder gleichverantwortlich fühlt, oft als Utopie. Stattdessen verhalten sich viele Mitglieder passiv und z.T. fordernd dem Gruppengründer gegenüber. Faktoren für das Auseinanderfallen von Anspruch und Wirklichkeit sind u.a. Dominanz einzelner Personen, Konsumverhalten, unklare Zielvorstellungen sowie Normen- und Rollenkonflikte. Die Befriedigung der Bedürfnisse, sich offen mitzuteilen, seine Erfahrungen auszutauschen, Hilfe und Unterstützung in seinen Schwierigkeiten zu erhalten, und auch das Austragen von Konflikten können am mangelnden positiven Klima sowie an starken Interessenwidersprüchen in der Gruppe scheitern. Veränderungshilfe Veränderungshilfe in Selbsthilfegruppen kann neben Selbsterfahrung oder Aufarbeitung persönlicher Probleme auch bewußtes Einüben neuer Verhaltensweisen einschließen. In einigen Gruppen werden mögliche neue Verhaltensweisen nicht nur. besprochen, sondern direkt erprobt und sogar systematisch geübt. Dies gilt

Arbeitsweise und Anregungen zu ihrer Unterstützung

z.B. bei Suchtproblemen

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(Ubergewichtige, Alkoholabhängige) oder

auch bei Elterngruppen, die sich um einen veränderten Umgang mit ihren Kindern bemühen. Zu lernen, sich in Gruppen mitzuteilen und auseinanderzusetzen, ist in der Regel ein implizites Ergebnis des Gruppengeschehens und steht nicht nur in engem Zusammenhang mit allen übrigen bisher angesprochenen Leistungsqualitäten der Gruppen, sondern scheint zentrale Funktion hinsichtlich des gesamten Geschehens zu haben. Die Ausnahme davon bilden solche Selbsthilfegruppen, die in Übereinstimmung mit allen Mitgliedern überwiegend technisch-pragmatisch, bezogen auf ein bestimmtes Symptom, vorgehen. "Gruppenfähigkeit" muß in bestimmtem Ausmaß vorhanden sein, damit ein konstruktiver Gruppenprozeß im Sinne der Zielvorstellung deri Mitglieder laufen kann. Der Mangel an Gruppenfähigkeit der Mitglieder kann zu schweren Störungen in der Gruppe oder sogar zu deren Auflösung führen,. In den von uns interviewten oder beobachteten Selbsthilfegruppen sind diese Fähigkeiten manchmal schon in ausreichendem Maß bei den Gruppenmitgliedern ausgebildet oder werden erst mühsam gelernt über Irrtümer, Ausstieg aus einer Gruppe oder sogar den Zerfall von Gruppen.

2.2 Wirkungen des Gruppengeschehens Die oben aufgeführten Leistungsqualitäten wollen wir im folgenden betrachten hinsichtlich ihrer Wirkung auf das Symptom, die psychosoziale Befindlichkeit, das Nutzungsverhalten, auf andere Betroffene und auf die professionellen Helfer. Wirkungen auf das Symptom Nicht alle Selbsthilfegruppen wollen überhaupt das "Symptom" (im weitesten Sinne: das definierte Problem), aufgrund dessen sie sich zusammengefunden haben, beseitigen. Entweder, weil es nicht zu beseitigen ist (z.B. Behinderungen) oder weil sie gar nicht das Symptom, sondern die mit dem "Symptom" verbundene Stigmatisierung aufheben wollen. Auch in den Fällen, in denen eine Symptomverbesserung nahe zu liegen, scheint (Ubergewicht), muß sie nicht unbedingt vorrangiges Ziel der Gruppenarbeit sein oder bleiben. Eine offensichtliche Wirkung der gemeinsamen Arbeit (hier meist problemspezifische Kommunikation) ist häufig die Re-Definition des Problems, z.T. weg von der traditionell im professionellen System

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B. Gesundheitsselbsthilfegruppen

üblichen. Dies kann manchmal auch die bewußte Entscheidung gegen die Symptomverbesserung einschließen (z.B. entscheiden sich manche Mitglieder von Diabetiker-Selbsthilfegruppen für das aktuelle persönliche Wohlbefinden und gegen rigide"Normalisierung" des Zuckerspiegelwertes). Auch kann die Arbeit der Gruppen dazu führen, daß die "Symptomdefinition" ausgeweitet wird: nicht nur das krebskranke Kind ist krank, sondern mit ihm die ganze Familie. Das Versorgungssystem wird hierdurch mit neuen Erwartungen konfrontiert, z.B. Mitaufnahme eines Elternteils in Kinderkliniken oder eine gemeinsame Kur für die ganze Familie. Neben der bewußten Entscheidung gegen eine Symptomverbesserung sind uns aber auch einzelne Fälle bekannt, bei denen nach Aussagen der Interviewpartner sich durch die Gruppenarbeit das Symptom verstärkt habe (z.B. bei Anorexie). Vorübergehende Symptomverstärkung wird allerdings auch in professioneller Therapie beobachtet. Wirkungen auf die psycho-soziale Situation und Befindlichkeit Immer wieder wurde genannt: "Das Wichtigste: ich bin mit meinem Problem nicht allein". Die bloße Existenz und Verfügbarkeit der Gruppe werden als entlastend dargestellt. Den Hintergrund bildet möglicherweise im Zusammenhang mit den sich lösenden traditionellen Lebensgemeinschaften und dem Wertewandel ein immer weiter um sich greifendes Bedürfnis, sich für jeweils anstehende Lebensphasen bzw. Entwicklungsschritte Gleichgesinnte bzw. Gleichbetroffene zu suchen. Dieses Bedürfnis ist als erster Schritt zu mehr Selbstverantwortlichkeit, Selbständigkeit und Mündigkeit zu sehen. Allerdings sind die weiteren Schritte oft mühsam. In unseren Untersuchungen finden wir das ganze Wirkungsspektrum von "Mißerfolg" (gehäuftes Aussteigen von Teilnehmern, frühzeitiger Gruppenzerfall) bis zur erfolgreichen Neugestaltung bisher unbefriedigender Lebensverhältnisse. Die Verminderung von Isolation ist die direkteste, problemunspezifische Wirkung von Selbsthilfegruppen, die aber für die Betroffenen von großer Bedeutung ist. In den meisten Gruppen (94% der Pilotstudie) sind durch die Gruppe private Kontakte über die offiziellen Treffen hinaus entstanden. Die Verminderung von sozialer Isolation durch Selbsthilfegruppen liegt unmittelbar auf der Hand. Die soziale Unterstützung, die hierin liegt, kommt häufig erst außerhalb der eigentlichen Gruppenarbeit durch zusätzliche Treffen und Telefonkontakte einzelner Mitglieder zustande.

Arbeitsweise und Anregungen zu ihrer Unterstützung

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Wirkungen auf die Nutzung professioneller Dienste Vermehrtes oder verändertes Wissen über die Krankheit oder das Problem und die Erfahrungen anderer mit der professionellen Versorgung haben Konsequenzen für das eigene Nutzungsverhalten. Bei mehreren der interviewten und teilnehmend beobachteten Selbsthilfegruppen läßt sich eine Zunahme des Selbstbewußtseins im Umgang mit Professionellen deutlich erkennen; insbesondere der Leiter oder Außenrepräsentant verhandelt gleichberechtigt mit Professionellen oder Behördenvertretern. Einige Gruppen nutzen Möglichkeiten insbesondere auf dem "Markt" für psychotherapeutische Hilfen in erheblichem Umfang. Sie nennen und vermitteln einander Therapien, die von der Schulmedizin bisher kaum oder gar nicht beachtet wurden (Homöopathie, Bioenergetik, Massage, Yoga, Meditation etc.) und laden solche und andere Professionelle in die Gruppe ein. Daß die Nutzung des professionellen Systems geplanter und zielgerichteter erfolgt, läßt sich aus den bisherigen Interviews entnehmen. Ob eine verringerte oder vermehrte Inanspruchnahme erfolgt, jedoch nicht. Direkte und indirekte Wirkungen auf andere Betroffene Einige Selbsthilfegruppen setzen sich das Ziel, auch für andere, nicht in der Selbsthilfegruppe organisierte Betroffene, etwas zu erreichen. Diejenigen, die gezielt Information und Beratung anbieten, tun dies normalerweise nicht nur für die eigenen Mitglieder, sondern für alle Betroffenen bzw. Interessierten. Gut 3o % der in der Pilotstudie befragten Kontaktpersonen meinen, daß andere Betroffene auch "Nutznießer" der Selbsthilfegruppen-Arbeit seien. Die breite Darstellung der Arbeit von Selbsthilfegruppen in den Massenmedien macht ihre Erfahrungen weit über ihren Einzugsbereich hinaus zugänglich. Einige öffentlichkeitswirksame Aktionen von Selbsthilfegruppen (z.B. den Grauen Panthern) haben neben der Wirkung für eine kleine Gruppe von direkt Betroffenen (Bewohnern eines Heimes) möglicherweise einen direkten Einfluß auf die öffentliche Meinung zur angemessenen Beteiligung von Betroffenen an Entscheidungen. Wirkungen auf professionelle Helfer Aus der qualitativen Befragung von (19) Professionellen, die persönlich mit Selbsthilfegruppen zusammenarbeiten, ergeben sich beim jetzigen vorläufigen Stand der Auswertung einige Hinweise zur Auswirkung dieses Engagements auf die eigene berufliche und persönliche Situation.

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B. Gesundheitsselbsthilfegruppen

Bei den meisten der befragten Professionellen war die Entscheidung zur Zusammenarbeit im Rahmen der eigenen beruflichen Arbeit ein sehr persönlicher und auch als unkonventionell empfundener Entschluß. Das Erlebnis therapeutischer Ohnmacht gegenüber bestimmten Krankheitsgruppen und/oder eine generell kritische Position zur Versorgungslage motivierten zum Interesse an Selbsthilfegruppen - dies beeinflußt sicherlich die jeweiliqe Auswirkung der Zusammenarbeitserfahrung. Übereinstimmend werden Selbsthilfegruppen aus der Erfahrung als eine wertvolle Nachsorgemöglichkeit empfunden. Zwar ergibt sich einerseits eine organisatorische Mehrbelastung, soweit Gruppen selbst initiiert werden, andererseits aber auch ein Entlastungsgefühl angesichts der Beobachtung, wieviel die Patienten doch füreinander unterstützend tun können. Das Engagement für die Initiierung, Beratung und Begleitung der "eigenen" Selbsthilfegruppen scheint fast zwangsläufig in den Konflikt zwischen der Angst um den Bestand der Gruppe, wenn man ihre Selbstverantwortung fordert,und der Kränkung zu führen, sobald die Gruppe sich tatsächlich von dem "Experten" unabhängig macht. Diese Auseinandersetzung bietet allerdings die Chance für eine "Normalisierung" der Einstellung, also für die Lösung aus der eigenen menschlichen Befangenheit gegenüber den Patienten mit schweren Krankheitsbildern (z.B. Krebs, MS). Auf längere Sicht nahmen einzelne Professionelle den Beginn der Zusammenarbeit mit einer Selbsthilfegruppe zum Anstoß für die Entwicklung eines systematischen Nachsorgeprogramms (für einzelne Diagnosengruppen wie z.B. Darmkrebs) oder eines Konzeptes zur Vermittlung von Selbsthilfegruppen für weitere Problemanlässe im eigenen Tätigkeitsbereich (psychosozialer Versorgungsdienst).

2.3 Selbsthilfegruppen und andere Leistungssysteme Eine wichtige, in Ergebnissen des Bielefelder Projekts tendenziell bestätigte These sieht Selbsthilfegruppen überwiegend als Ersatz für unzulängliche primäre soziale Netzwerke, insbesondere der Familie• Die Erfüllung der wichtigsten psycho-sozialen Grundbedürfnisse könnte theoretisch zwar in der Familie geleistet werden, faktisch ist es aber häufig nicht möglich, sei es, daß gar keine Familie existiert, sei es, daß sie gestört ist, sei es, "daß auch die

Arbeitsweise und Anregungen zu ihrer Unterstützung

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beste Familie nicht wie ein selbst Betroffener nachfühlen kann, was es heißt, an einer tödlichen Krankheit zu leiden" (eine Krebskranke im Interview). Ohne daß wir dieses Ergebnis bisher exakt quantifizieren können, genügt es zunächst festzuhalten, daß Selbsthilfegruppen im Vergleich zur Familie einerseits prinzipiell gleichartige "Leistungen erbringen", andererseits aber darüber hinaus Qualitäten zu bieten haben,die primäre soziale Netzwerke nicht haben können. D e s i _ _sind in erster Linie das Erfahrungswissen und die Tiefe des Verständnisses, die nur bei gleichermaßen Betroffenen zu finden sind. Ähnlich stellt sich die Situation beim Vergleich der Selbsthilfegruppen mit dem professionellen System dar: Es ist kaum möglich, bestimmte "ureigene" Leistungen von Selbsthilfegruppen zu benennen, die dem Anspruch nach nicht auch vom professionellen System erbracht werden sollen. Dies1 gilt sowohl für innenorientierte Leistungen) Besserung von Symptomen und psychosozialen Befindlichkeitsstörungen) wie auch für außenorientierte Leistungen (Beratungsdienste, Vertretung von Patienteninteressen, praktische Hilfen u.a.). Tatsächlich wird das professionelle System jedoch den eigenen Ansprüchen oft nicht gerecht. Zugespitzt kann man sagen: Selbsthilfegruppen entstehen besonders dort, wo Menschen mit chronischen Krankheiten oder psychosozialen Problemen sowohl von den primärsozialen Netzen (wie Familie und Nachbarschaft) als auch vom professionellen Versorgungssystem alleingelassen werden. Die Arbeit von Selbsthilfegruppen läßt sich zusammenfassend als Kombination folgender Elemente charakterisieren: - kommunikative, aber auch praktische Leistungen, die vom professionellen System (entgegen seinem Anspruch) nicht oder nur unvollständig erbracht werden - Erfüllung psycho-sozialer Grundbedürfnisse, vor allem Isolationsaufhebung, Kommunikation und Geborgenheit, d.h. affektiver Leistungen, die als Funktion primärer sozialer Netzwerke, insbesondere der Familie, angesehen werden - Herstellung einer Gemeinschaft, in der tiefgehendes Verständnis und problembezogenes Erfahrungswissen in einem Maße gefunden werden, wie es nur unter gleichermaßen Betroffenen möglich ist - authentische Bedürfnisartikulation und Interessenvertretung nach außen, wie sie nur durch selbst Betroffene möglich ist. Diese Elemente sind je nach Gruppe, Person und Situation in verschiedenen Variationen vorfindbar. Jenseits aller Probleme der individiumsbezogenen Evaluation der

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B. Gesundheitsselbsthilfegruppen

Effektivität von Selbsthilfegruppen (vgl. Zwischenbericht 1981) muß zweifellos ein bedeutsamer gesellschaftlicher Nutzen der Selbsthilfegruppen aus unseren bisherigen Befragungsergebnissen angenommen werden. Dieser läßt sich wie folgt zusammenfassen: - Selbsthilfegruppen erfüllen vielfach eine ergänzende Funktion für die institutionalisierte professionelle Versorgung. Sie wirken hierdurch u.a. auch dem weiteren Anstieg der professionellen Leistungen entgegen (z.B. in der Nachsorge und beim Umgang mit Lebensproblemen), - Selbsthilfegruppen verändern die professionellen Helfer, mit denen sie zusammenarbeiten und werden auf diese Weise weit über den Kreis der eigentlichen Gruppenmitglieder1 wirksam. - Selbsthilfegruppen "diagnostizieren" Mängel des professionellen Systems, indem sie es kritisieren und stellen eine authentische Interessenvertretung für alle von dem jeweiligen Gesundheitsproblem Betroffenen dar. Erfolgreiche Interessenvertretung der Betroffenen bedeutet ein Gegengewicht zu der bisher überwiegend anbietergesteuerten Ausdehnung von Gesundheitsleistungen, die leicht an den Bedürfnissen der Betroffenen vorbeigeht. - Selbsthilfegruppen erfüllen zugleich psycho-soziale Grundbedürfnisse z.B. nach Kommunikation, Zuwendung, Isolationsaufhebung u.ä., die außerhalb des Versorgungsanspruchs der professionellen sozialen Dienste liegen. Eine davon ausgehende unspezifische krankheitsverhütende Wirkung ist sehr wahrscheinlich, dürfte jedoch nur außerordentlich schwer evaluierbar sein. Bei der Hervorhebung(des gesellschaftlichen Nutzens darf nicht außer acht gelassen werden, daß besonders die nach außen gerichteten Aktivitäten (unbezahlte) Arbeit darstellen und vor allem für Beratungsgruppen und Kontaktpersonen oft eine erhebliche Belastung mit sich bringen.

Arbeitsweise und Anregungen zu ihrer Unterstützung

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3. ZUR FÖRDERUNG VON SELBSTHILFEZUSAMMENSCHLÜSSEN

3.1 Gründe für die aktive Förderung von Selbsthilfegruppen Der individuelle und gesellschaftliche Nutzen der Selbsthilfegruppen, den wir im vorangegangenen Abschnitt verdeutlicht haben, begründet - für sich allein genommen - nicht notwendigerweise eine aktive sozialpolitische Unterstützung. Von verschiedenen Seiten wird dies sogar ausdrücklich abgelehnt: teils aus rein ökonomischen Gründen, teils aus echter Besorgnis um die Autonomie der Selbsthilfegruppen. Es gibt überzeugende Gründe, die Entstehung und die Arbeit von Selbsthilfegruppen aktiv zu fördern: - Aus der Repräsentativbefragung des Bielefelder Verbundprojekts ergibt sich, daß nur ca. 1 % der Bevölkerung "sehr häufig an einer Selbsthilfegruppe teilnehmen", daß jedoch ca. 1/3 der Bevölkerung potentiell dazu bereit wäre. - Der Anteil der von einem bestimmten Problem Betroffenen, der sich einer Selbsthilfegruppe anschließt, ist bisher äußerst gering. Selbst in den Bereichen, wo Selbsthilfegruppen relativ stark verbreitet sind, liegt er nur zwischen ca. 2 % und 4 % aller Betroffenen. Dies ergibt sich aus den verfügbaren Zahlen über Alkoholiker (Rienhoff 1979), Frauen mit Krebs und ZöliakiePatienten. - Die Anzahl neuer Gruppen ist in den letzten Jahren nur scheinbar gestiegen: in Forschungs- und Medienberichten handelt es sich mehr um Neuentdeckungen oder Umdefinition schon vorhandener Gruppen als um einen tatsächlichen Zuwachs an Gruppen durch Neuentstehung. Fast alle neu entstandenen Gruppen entstehen mit irgendwelchen Starthilfen von außen. - Aus lokalen Kontaktstellen, regionalen Arbeitsgemeinschaften wie auch aus zahlreichen Äußerungen von Selbsthilfegruppen ist bekannt, daß professionelle und staatliche Unterstützung ausdrücklich gewünscht wird.

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B. Gesundheitsselbsthilfegruppen

3.2 Derzeitige Förderungsaktivitäten Die derzeitige Situation öffentlicher Unterstützungsmaßnahmen läßt sich mit wenigen Sätzen relativ eindeutig beschreiben 8): - Finanzierungshilfen der öffentlichen Hand hat es bisher nur problemspezifisch, d.h. für bestimmte Selbsthilfeorganisationen gegeben. Bevorzugt werden ältere, etablierte große Verbände, die eng mit dem professionellen System zusammenarbeiten, z.T. Professionelle in ihren Vorständen haben (z.B. Rheumaliga). - Es besteht manchmal eine Tendenz, den Begriff der Selbsthilfegruppen extrem weit zu verstehen und auf diese Weise den Anschein großer Ausgaben für die Förderung von Selbsthilfegruppen zu erwecken. Eine Uberdehnung des Konzepts der "Selbsthilf ezusammenschlüsse" liegt beispielsweise vor, wenn Werkstätten für Behinderte, Pro Familia, Beratungs- und Behandlungszentren, Telefonseelsorge, Verbände zur Krankheitsbekämpfung oder Forschungsförderung und ähnliche Gruppierungen in Auflistungen der Förderung von Selbsthilfeverbänden enthalten sind. - Die Förderung von Alternativen (Selbsthilfe-) Projekten ist vor allem in Berlin ein Thema. Durch den Verteilungsmodus des Geldes über die etablierten Wohlfahrtsverbände kann bisher anscheinend nicht gewährleistet werden, ob das Geld wirklich dorthin gelangt, wo es hin soll, oder ob es sich hierbei zumindest teilweise um ein "verstecktes Sonderprogramm" für die Wohlfahrtsverbände handelt (vgl. Zeit Nr. 36 v. 3.9.82: "Staatsknete - ja bitte!"). - Eine allgemeine Förderung1^) von Selbsthilfegruppen, d.h. von vielfältigen lokalen, nicht formal organisierten Gruppen, wird bisher nicht durch die öffentliche Hand finanziert.

3.3 Unterstützung von Selbsthilfegruppen durch lokale Kontaktund Ressourcenstellen Aus der Beschreibung der Ausgangssituation ergibt sich als sozialpolitische Grundsatzempfehlung: Die bisher einseitige Politik der problemspezifischen Förderung von Selbsthilfeorganisationen sollte erweitert werden um eine generelle Förderung von

Arbeitsweise und Anregungen zu ihrer Unterstützung

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Selbsthilfegruppen durch lokale Kontakt- und Ressourcenstellen! (Der Ausdruck "Ressourcen" bezieht sich vor allem darauf, Raumund Gerätenutzung und andere materielle Hilfen zur Verfügung zu stellen). Für die Masse der kleinen Gruppen und für Selbsthilfe-Interessenten ist eine generelle Unterstützung am besten durch die Förderung unabhängiger lokaler Kontakt-, Informations- und Ressourcenstellen zu gewährleisten. In entsprechenden Kontaktstellen könnten die beteiligten Gruppen selber entscheiden, wie im gegebenen Rahmen die vorhandenen Mittel zu verteilen sind. Die Trägerschaft solcher Kontaktstellen sollte behördenunabhängig sein. In England und Frankreich gibt es verschiedene Beispiele der Trägerschaft durch (eingetragene) Vereine zur allgemeinen Förderung von Selbst- und Nachbarschaftshilfe, vereinsmäßig organisierte Zusammenschlüsse unterschiedlicher lokaler Selbstorganisationen und ähnliche Formen der Trägerschaft. Die bisherigen positiven Erfahrungen hiermit haben kürzlich auf einer Tagung der WHO zum Thema "Möglichkeiten der praktischen und politischen Unterstützung von Selbsthilfegruppen" zur Empfehlung geführt, entsprechende Modelle auch in anderen Ländern je nach lokalen Gegebenheiten einzurichten und durch gegenseitigen Erfahrungsaustausch oder Begleitforschung weiterzuentwickeln. In der Bundesrepublik könnte dies in Zusammenarbeit mit der "Deutschen Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen" geschehen, in der sich verschiedene lokale und regionale Ansätze für solche Kontaktstellen zusammengeschlossen haben. Im Rahmen unseres Projekts wird eine solche Kontaktstelle modellhaft erprobt, über Ziele, Arbeitsweise und erste Erfahrungen der Hamburger "Kontakt- und Informationsstelle für Selbsthilfegruppen" wollen wir nachfolgend berichten. Dies geschieht, um einen Eindruck davon zu vermitteln, was die Forderung nach Einrichtung lokaler Kontakt- und Ressourcenstellen konkret bedeutet. Adressaten der Kontaktstelle Selbsthilfegruppen-Interessenten: Dieser Personenkreis wird an bestehende Gruppen weiterverwiesen. Falls noch keine Gruppe im nachgefragten Bereich besteht, werden Interessenten - wenn möglich - mit anderen zum gleichen Thema nachfragenden Personen "verknüpft". Bei Bereitschaft, eine eigene Gruppe zu gründen, geben wir Informationen und - falls gewünscht - Unterstützung.

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B. Gesundheitsselbsthilfegruppen

Bereits bestehende Gruppen: Für bestehende Gruppen haben wir sogenannte "Gesamttreffen" organisiert. Dies sind Treffen mehrerer Gruppen eines Problemkreises mit dem Ziel des Austauschs untereinander und mit professionellen Helfern. Solche Treffen gibt es im Bereich Gesprächsgruppen und für die Gruppen Übergewichtiger. Gruppen im Aufbau: Wir versuchen mit Gruppen, die durch selbständige Initiativen von Betroffenen zustandegekommen sind, Kontakt aufzunehmen, um unsere Vermittlungskartei zu verbessern. Wir geben Hilfestellung bei der Initiierung, z.B. indem wir bei der Raumsuche für das erste Treffen behilflich sind. Falls gewünscht, ist ein Projektmitglied bei diesem ersten Treffen anwesend. Für Interessenten aus dem Bereich psychosozialer Probleme veranstalten wir seit Oktober 1981 monatlich ein sogenanntes "Neuentreffen"• Professionelles Versorgungssystem: Wir stehen in Kontakt mit Institutionen, die bereits mit Selbsthilfegruppen zusammenarbeiten , um uns über deren Erfahrungen zu informieren und diese weiterzugeben. Das Ziel weiterer Kontakte zu Institutionen des Gesundheitswesens wie z.B. Freien Trägern, Krankenkassen, ist es, Informationen Uber die jeweiligen Haltungen zur Selbsthilfe bzw. geplante Aktivitäten in diesem Bereich zu erhalten und die eigenen Erfahrungen weiterzugeben. Aus ähnlichen Gründen haben wir auch die "Regionale Arbeitsgemeinschaft" organisiert. Diese besteht aus Mitgliedern von Gruppen, die bereits selbst Vermittlungs- und Beratungsaktivitäten für ihren Bereich übernommen haben sowie Vertretern von Wohlfahrtsverbänden und Behörden. Sie trifft sich in mehrmonatigen Abständen. Andere Forschungsprojekte, die im Bereich Selbsthilfe aktiv sind oder werden wollen, werden von uns durch Informationen unterstützt. So z.B. ein Projekt am Psychologischen Institut der Universität Hamburg, das z.Zt. Gruppen über einen festgelegten Zeitraum begleitet, um sie nach einigen gemeinsamen Sitzungen allein weiterarbeiten zu lassen. Weiterhin haben wir unsere Erfahrungen bei der Gründung von Selbsthilfegruppen Obergewichtiger an das Projekt "Interdisziplinäre Therapie der Adipositas" weitergegeben, da dieses Projekt plant, im Anschluß an die Therapie Selbsthilfegruppen zu bilden.

Arbeitsweise und Anregungen zu ihrer Unterstützung

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Beschreibung der Selbsthilfe-Interessenten Sozialdemographische Merkmale: Selbsthilfe-Interessenten kommen bei uns vorwiegend aus der "unteren Mittelschicht". Für die Frage einer gewissen "Gruppenfähigkeit" scheint jedoch relevanter zu sein, daß der Personenkreis, der mit uns Kontakt aufnimmt, in der Regel weder Gruppenerfahrung hat noch Informationen über Gruppenprozesse allgemein. Der Altersschwerpunkt liegt zwischen 4o und 60 Jahren. Das bedeutet für den psychosozialen Bereich, daß es sich um einen Personenkreis handelt, der in der Regel - selbst bei schweren Störungen - keinen Zugang zu professioneller Psychotherapie bekommt. Bereiche, zu denen nach Gruppen gefragt wird: 75 % der Anfragen (bei 4o bis 60 Anfragen pro Monat) kommen aus dem psycho-sozialen Bereich. Es handelt sich dabei zum großen Teil um einen Personenkreis mit erheblichen Vorbelastungen wie Suizidversuchen, stationären Aufenthalten in psychiatrischen Einrichtungen, ständiger nervenärztlicher Behandlung. Die restlichen 25 % sind Anfragen zu Gruppen im somatischen Krankiieitsbereich. Zugang zur Kontaktstelle : In den ersten beiden Jahren der Projektaktivitäten kamen 5o - 75 % der Anfragen durch Radio- und Fernsehsendungen über Selbsthilfegruppen zustande. Seit 1981 bis heute gaben ca. 60 % der Anrufer an, unsere Adresse über das professionelle System erhalten zu haben, vor allem durch die Projektstudie "Professionellenbefragung". Dies bedingt eine Entwicklung zu immer mehr hilfebedürftigen (statt selbsthilfejnotivierten) Anrufern. Zur Einschätzung der Arbeit einer Kontaktstelle Die Kontaktstelle erfüllt die wahrscheinlich unstrittig sinnvolle Aufgabe der Informationgsammlung, -aufbereitung und -weitergäbe an Selbsthilfe-Interessenten und Professionelle. Die erste Phase war geprägt durch Auf- und Ausbau von Adressenkarteien und Anknüpfen .von Kontakten, eine zweite Phase durch Erfahrungen mit der Gruppenentstehung (Anwesenheit bei ca. 5o Gründungsversuchen). Die gegenwärtige Phase ist gekennzeichnet durch überregionalen Austausch mit anderen Kontaktstellen und -personen. In der Endphase des Projekts sollen die eigenen Erkenntnisse und Erfahrungen mit denen anderer verglichen und zusammenfassend dargestellt werden. Abschließend zu dieser Darstellung wollen wir jedoch schon auf einige besonders auffällige Eindrücke hinweisen:

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B. Gesundheitsselbsthilfegruppen

Die Vermittlung im Bereich somatischer Krankheit macht uns weniger Kopfzerbrechen. Dort kann auf bestehende Gruppen hingewiesen werden, die in der Regel längerlebig sind und z.T. auch selbst Informations- und Beratungsaufgaben übernommen haben. Falls noch keine Gruppe bestand, konnte schon 5 - 6 Mal erfolgreich Hilfe bei der Gründung geleistet werden. Dies gilt auch für fast 3o Gruppen von übergewichtigen. Die Vermittlung im psycho-sozialen Bereich finden wir wesentlich schwieriger. Wir befinden uns hier mit unseren Aktivitäten z.T. in einem Grenzbereich zwischen Hilfe- und Selbsthilfe-Vermittlung, d.h. ein Teil des anrufenden Personenkreises sucht eigentlich Hilfe.und ist nicht primär für Selbsthilfe motiviert. Die Ursachen hierfür sehen wir vor allem in der hohen Rate der von Professionellen "überwiesenen" Anrufer sowie unserer Ansiedlung im Rahmen eines Universitätskrankenhauses. Wir beabsichtigen dieser Entwicklung gegenzusteuern, um nicht zu einer psychologischen Beratungsstelle zu werden. Für die Weiterentwicklung der modellhaften Förderung von Selbsthilfegruppen wollen wir uns in Zukunft an ausländischen Beispielen (Ressource-Centers, Centres de Services pour les Associations; vgl. WHO 1982) orientieren.

3.4 Andere Förderungsstrategien Wir denken hierbei besonders an folgende Ansätze: - problemspezifische Unterstützung spezieller Selbsthilfezusammenschlüsse (was teilweise schon auf Landes- oder Bundesebene geschieht), - eine breite Unterstützung gesundheitsrelevanter AlternativProjekte (wofür in Berlin schon mehrere Millionen Mark eingeplant sind), - Information und Aufklärung für Professionelle, um sie als Mediatoren für eine direkte Unterstützung von Selbsthilfegruppen zu gewinnen, - Aufhebung rechtlicher, bürokratischer und anderer Restriktionen, die den Entfaltungsspielraum von Selbsthilfegruppen einengen, - Einräumung institutionalisierter Mitwirkungsrechte bei der Planung und Durchführung der gesundheitlichen Versorgung.

Arbeitsweise und Anregungen zu ihrer Unterstützung

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Auf diese Förderungsstrategien werden wir im vorliegenden Beitrag nicht intensiver eingehen. Dafür gibt es vor allem zwei Gründe: Mit der Einrichtung lokaler Kontakt- und Ressourcenstellen würde eine infrastrukturelle Voraussetzung geschaffen, die die Stimulation, Erprobung und Weiterentwicklung, aller anderen Förderungsansätze erlaubt. Von daher muß der Einrichtung solcher Stellen eine zentrale Bedeutung für jedes Förderungskonzept beigemessen werden. Der zweite Grund hängt damit zusammen, daß dieser Beitrag nur eine Zwischenbilanz darstellt. Eine quantitative Befragung von Mitgliedern von Selbsthilfegruppen und die teilnehmende Beobachtung in 12 Selbsthilfegruppen sind derzeit noch nicht abgeschlossen. Im Endbericht unseres Forschungsberichts werden wir auch zu anderen Förderungsstrategien empirisch begründete Aussagen machen können.

34

B. Gesundheitsselbsthilfegruppen

Anmerkungen

Unser Beitrag stellt eine Zusammenfassung zweier Papiere dar, die für eine erste öffentliche Präsentation von Zwischenergebnissen des gesamten Projektverbundes im November 1982 entstanden sind. Die stärkere Einbindung unseres Projektes in einen umfassenderen gesellschaftspolitischen Diskussionszusammenhang erfolgt im anschließenden Coreferat von W. Nelles. Zusätzliche Ergebnisse und Versuche der sozialpolitischen Einordnung von Gesundheitsselbsthilfegruppen finden sich in folgenden Projektveröffentlichungen: Behrendt (1982), Behrendt u.a. (1981 a u . b), Deneke (1981 u. 1983), Itzwerth (1983), Itzwerth/Halves (1982), Itzwerth/Winkelvoss (198o), Kickbusch/Trojan, Hg. (1981), Trojan (198o a u. b, 1981, 1982, 1983), Trojan/Behrendt (198o), Trojan/Deneke (1983), Trojan/Döhner (1981), Trojan/ltzwerth (1982).

2)

Wir lassen hier unberücksichtigt, daß es Sonderformen von SelbsthilfeZusammenschlüssen gibt, die weder als Gruppe noch als Organisation bezeichnet werden können, wie z.B. Telefonketten.

Vgl. hierzu besonders Badelt 198o, Beywl/Brombach 1982, Nelles 1982. Hegner (1981), der die systematischsten und detailliertesten Überlegungen zur Systematisierung nichtprofessioneller Sozialsysteme vorgelegt hat, benutzt den Begriff "soziale Aktionen" für alle nach dem Mischprinzip organisierten Hilfesysteme. In einem älteren Aufsatz (198o) charakterisiert derselbe Autor die Leitidee der "sozialen Aktion" als "eine stärkere Betonung des ökonomischen Prinzips der genossenschaftlichen Selbstversorgung, des psychosozialen Prinzips der Selbsthilfe und des sozialen Prinzips der Selbstorganisation durch die Risiko- oder Schadensbetroffenen". Becher und Pankoke (1981) benutzen den Ausdruck "selbstaktive Felder", Schnetz (1976) "Bürgerinitiativen im sozialen Raum", wieder andere Autoren (z.B. Heinze/Olk, 1982) verzichten auf einen Oberbegriff bzw. sprechen noch allgemeiner vom "informellen Sektor". Mit der Übernahme des Begriffs "Selbstorganisation" i.S. von Badelt, Nelles u.a. weichen'wir ab von einem Beitrag von Franzkowiak u.a. (1982), die Selbsthilfe als mehr kuratives Handeln, Selbstorganisation als mehr präventives Handeln verstanden wissen wollen. Alle Autoren beklagen sich über die immensen Schwierigkeiten einer halbwegs systematischen, empirisch tatsächlich greifenden Strukturierung dieses Gegenstandsbereichs .

4)

Die Verwendung der Begriffe "Laie" und "laienhaft" hat in unserem Text nicht den negativ wertenden Beiklang wie im Alltagssprachgebrauch, sondern steht als Gegensatz zu bezahlten, hauptberuflichen Helfern bzw. Dienstleistungen .

Vgl. 3. Zwischenbericht des Projektverbundes 1982, S. 94. Zu einigen zusammenfassenden quantitativen Angaben über Anzahl und Zeitaufwand ehren-

Arbeitsweise und Anregungen zu ihrer Unterstützung

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amtlich tätiger Personen in verschiedenen Bereichen des "Dritten Sektors" vgl. Kirberger, 1978 ( s . 25o/51).

Vgl. hierzu das Programm der CDU-Sozialausschüsse, die SPD-Leitlinien zur Kommunalpolitik und die Grundwerte-Diskussion der SPD sowie sozialpolitische Tagungen von FDP und Grünen und einige parlamentarische Diskussionen über Jugendbewegung und Alternativkultur.

Die folgenden Ergebnisse stützen sich auf qualitative Teilstudien unserer Projektgruppe, insbesondere auf 12 Tiefeninterviews mit Gründern von Selbsthilfegruppen, je 8 Tiefeninterviews mit Mitgliedern und ehemaligen Mitgliedern von Selbsthilfegruppen sowie auf die teilnehmende Beobachtung in 12 (anfangs 13) Selbsthilfegruppen. Die befragten und beobachteten Gruppen bearbeiten sowohl psychosoziale als auch krankheitsbezogene Problemlagen.

Die folgenden Angaben stützen sich im wesentlichen auf unveröffentlichte Umfragen in den Bundesländern.

9)

Die unter förderungsstrategischen Gesichtspunkten sehr bedeutsame Unterscheidung zwischen allgemeiner und problemspezifischer Unterstützung von Selbsthilfezusammenschlüssen ("generalist and specialist support systems" stammt von St. Hatch, 1981).

Lebensalltag und medizinisch-politisches Gesundheitssystem Anmerkungen zur Diskussion um heits-Selbsthilfegruppen

1

Laienaktivierung' und Gesund-

Wilfried Nelles

In diesem Forschungsverbund geht es um die Frage, welchen Beitrag das sogenannte "Laiensystem" zur Bewältigung von Krankheit bzw. zur Gesundheit leisten kann. Mir scheint, nebenbei bemerkt, der Begriff "Laiensystem" nicht ganz angemessen, weshalb ich ihn auch im folgenden nicht weiter verwenden möchte. Nicht angemessen deshalb, weil es sich bei dem hier gemeinten Handlungsbereich meines Erachtens nicht um ein "System" im soziologischen Wortsinne handelt. Im Gegenteil: Die Alltagshandlungen und deren lebensweltliche Hintergründe, die hier gemeint sind, könnte man gerade dadurch vom Medizinsystem unterscheiden, daß sie nicht "System" sind, sondern auf anderen, nicht systemischen Regelungsmechanismen basieren. Ich werde daher im folgenden in Anlehnung an die Begrifflichkeit von Habermas (1981) anstelle von "Laiensystem" von 'Lebenswelt" sprechen oder das Gemeinte umschreiben. ^' Die Erkenntnis, daß die Laien, daß die Ilenschen in ihrem ganz normalen Alltagsverhalten einen wesentlichen Beitrag zur Gesundheit leisten können, ist nun keineswegs eine neue Entdeckung. Da ist zunächst einmal der breite und kaum abgrenzbare Bereich einer gesundheitsbewußten Lebensführung, der wohl die größte gesundheitspolitische Bedeutung haben dürfte. Sodann liegt es auf der Hand, daß die Heilungswirkungen der Medizin in hohem Maße abhängig sind von der Mitwirkung der Patienten öder der Laien allgemein. Ein allseits bekanntes Beispiel hierfür sind die Schwierigkeiten der Einführung medizinischer Versorgung in den Entwicklungsländern, die unter anderem darin bestehen, daß die dortige Bevölkerung mit der medizinischen Problemsicht und den Behandlungsmethoden vertraut gemacht werden muß, daß sie beispielsweise die Einnahme von und den selbständigen Umgang mit Medikamenten lernen muß. Es ist daher zunächst einmal zu fragen, worin die besondere Problematik

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B. Gesundheitsselbsthilfegruppen

im Hinblick auf eine Aktivierung von Laien in hochentwickelten Gesellschaften liegt, welches der spezifische Beitrag lebensweltlicher Handlungen zur Krankheitsbewältigung sein soll, und welche Rolle dabei möglicherweise den Selbsthilfegruppen zufällt. Ich möchte zu dieser Frage einige allgemeine Überlegungen anstellen, die vielleicht einige Anregungen für die weiteren Arbeiten in dem Hamburger Projekt liefern können. "Aktivierung von Laien" kann immer zweierlei bedeuten: Einmal eine Anpassung der Laien, ihrer Vorstellungen, ihrer allgemeinen Lebensweise und ihrer krankheitsbezogenen Handlungen an das professionelle fledizinsystem, zum anderen eine Aktivierung und Stärkung der Lebenswelt und ihrer Institutionen, des alltäglichen, vormedizinischen Handlungswissens. Dies sind jedoch nicht nur zwei Möglichkeiten, die "sowohl - als auch" verfolgt werden können, sondern sie stehen teilweise in krassem Widerspruch zueinander. Dies gilt auch für den speziellen Fall der Förderung von Selbsthilfegruppen, die einerseits unter dem strategischen Aspekt einer Entlastung des Medizinsvstems durch die Übernahme, Verbreitung und (laienhafte) praktische Anwendung medizinischer Problemsichten und Handlungsorientierungen, andererseits mit dem Ziel einer Stärkung sogenannter "autonomer" Entwicklungen erfolgen kann. Welcher dieser beiden Strategien der Vorzug gegeben wird, hängt - sieht man einmal von der materiellen Interessenlage der unmittelbar Beteiligten ab - vor allem von der Einschätzung der Probleme ab, die für das heutige Verhältnis von Medizinsystem und Lebenswelt seiner Adressaten kennzeichnend sind. Ich möchte drei Problemlagen unterscheiden, die zunächst einmal sehr unterschiedlicher Natur sind und daher auch unterschiedliche Reaktionen erfordern bzw. von sich aus hervorbringen, und zwar: 1) Probleme der Anpassung der Lebenswelt an das Medizinsystem 2) Leistungsdefizite des Medizinsystems 3) Sinn- und Identitätsprobleme Diese Problemlagen treten im Zuge der historischen Entwicklung systemischer Regelungsprozesse, hier also der Entwicklung, Etablierung und Ausbreitung des Medizinsystems

(Differenzierung

und Spezialisierung) nacheinander und kumulativ auf, wobei die jeweils nachfolgende Problemebene die vorangegangene inhaltlich beeinflußt und ihre Lösung erschwert. Heute haben wir es mit

Lebensalltag und medizinisch-politisches Gesundheitssystem

3g

Störungen auf allen drei Ebenen zu tun, und eine Problemlösung der ersten beiden Problemlagen ist nicht möglich ohne Berücksichtigung der dritten. Was ist nun mit diesen Ebenen konkret gemeint? ad 1) Anpassungsprobleme Die erstgenannte Problemebene, die Anpassung der Lebenswelt an das Medizinsystem, möchte ich in ihrer ursprünglichen Form dadurch erläutern, daß ich das vorhin erwähnte

Entwicklungsländer-

beispiel nochmals aufgreife und kurz auf seinen allgemeinen soziologischen Hintergrund eingehe. Die Herausbildung eines professionellen Medizinsystems ist ein Resultat funktionaler gesellschaftlicher Differenzierung und Rationalisierung. Auf früheren Stufen gesellschaftlicher Entwicklung gab es zwar auch Heilkundige, doch vollzog sich deren Tätigkeit nicht im Rahmen eines ausdifferenzierten

Subsystems,

sondern integriert in das gesellschaftliche Ganze, in die Lebensweise des Alltags, in das gesellschaftliche Normgefüge und in die sakralen Deutungsmuster. Insbesondere mit letzteren bestand eine enge Verbindung, wie sie sich z.B. an der asiatischen Heilkunst oder dem indianischen Schamanentun ablesen läßt. Die Einführung der an den Naturwissenschaften orientierten Medizin stand daher

(und steht in vielen Ländern auch heute noch) vor

dem Problem, auf eine Weltsicht und daraus abgeleitete Definitionen von und ümgangsweisen mit Krankheit zu treffen, die ihrer eigenen Problemsicht entgegengesetzt war. Die Einrichtung eines professionellen Medizinsysteras bringt daher eine Trennung zwischen dem alten Glauben, der alten Lebensweise, und der professionellen Problemsicht mit sich. In dieser Situation nützt ein vorzügliches Medizinsystem wenig, wenn es nicht gelingt, dessen Problemsichten von Krankheit und Gesundung in der Bevölkerung, in der Lebenswelt der Menschen zu verankern. Daher erhält die Aktivierung der Lebenswelt, die Aktivierung des Laienpotentials eine zentrale Bedeutung. Es ist aber auch offensichtlich, daß dabei nicht die Lebenswelt in ihrer vorhandenen Form aktiviert werden soll, es geht vielmehr um ihre Anpassung an die Problemsichten und Anforderungen des Medizinsystems. Nicht das vorhandene Alltagswissen Uber Heilung und Krankheit soll gestärkt werden, sondern an seine Stelle sollen die aus der Sicht des Medizinsystems notwendigen Einstellungen und Handlungsweisen treten. Soweit es sich um einander ausschliessende Problemsichten handelt, ist letzteres nur möglich, wenn die

40

B. Gesundheitsselbsthilfegruppen

bis dahin herrschenden Sichtweisen bekämpft werden, beispielsweise als "Aberglaube" oder "Scharlatanerie". Wir können also zunächst einmal festhalten, daß auf dieser Entwicklungsstufe "Aktivierung des Laienpotentials" bedeutet, daß die vorherrschenden lebensweltlichen Sichtweisen und Handlungsweisen bekämpft und durch die Sichtweisen der professionellen Medizin ersetzt werden sollen. Es besteht eine Anfaasungslücke zwischen einer noch traditionellen Lebenswelt und einem modernen, auf naturwissenschaftlichen Erkenntnissen basierenden Medizinsystem, das andere Verhaltensweisen erfordert. Eine ähnliche Anpassungsproblematik besteht, jedenfalls aus der Sicht des Medizinsystems, auch heute noch. Sie bezieht sich allerdings nicht mehr auf die grundlegende Verankerung von dessen Sichtweise in der Lebenswelt - diese ist durchaus erfolgreich gelungen - sondern auf Anpassungserfordernisse an die fortschreitende Differenzierung und Spezialisierung des Medizinsystems. Ich möchte, ohne hierauf näher einzugehen, nur die Bereiche "Vorsorge - Medizin" und "gesundheitsgemäße Lebensführung" erwähnen. Hier scheint es darum zu gehen, das Laienverhalten stärker den medizinisch für notwendig erachteten Erfordernissen anzupassen, und eine Unterstützung dieses Bemühens durch Laienhelfer oder Selbsthilfegruppen ist eine sehr viel andere Aktivität als etwa diejenige, die sich im Rahmen der Gesundheitsläden entwickelt. Letzterer geht es darum, mehr Autonomie über den eigenen Körper, die eigene Lebensweise und den Umgang mit Krankheiten zu gewinnen, die Anpassung in umgekehrter Richtung herbeizuführen. Hier wird die Kompetenz der Lebenswelt gegenüber systemischen Sichtweisen, Definitionen und Handlungen betont und zur Geltung zu bringen versucht. Diese lebensweltliche Kompetenz wurzelt allerdings nicht mehr in religiös-kulturellen Heilungs- und Deutungstraditionen. Da die Lebenswelt selbst sich von diesen Traditionen gelöst hat und rationalisiert ist, sind die Kriterien lebensweltlichen Handelns offen und müssen von den Teilnehmern neu definiert werden. Daraus folgt die Notwendigkeit einer offenen, kommunikativen Gruppenstruktur. ad 2) Leistungsdefizite Die allgemeine Durchsetzung der Medizin geht einher mit steigenden Erwartungen an deren Leistungen, an ihre Heilunsmöglichkeiten. Dies ist ein notwendiger Prozeß, den das Medizinsystem

Lebensalltag und medizinisch-politisches Gesundheitssystem

41

selbst bewirkt. Um die traditionellen Heilverfahren etc. zu verdrängen, muß es nämlich seine überlegene Leistungsfähigkeit behaupten und nachweisen, und dies bringt entsprechende Erwartungen mit sich. Eine zentrale Problemebene liegt heute darin, daß das Medizinsystem diese Erwartungen nicht hinreichend erfüllen kann, daß also aus Sicht der Betroffenen Leistungsdefizite bestehen. Eine wesentliche Ursache für diese Leistungsdefizite liegt darin,daß eine Krankheit aus der Sicht des Medizinsystems und der Sicht des Betroffenen jeweils unterschiedlich gesehen wird. Während der einzelne Betroffene Krankheit als Ganzes erfährt mitsamt ihren psychosozialen Aspekten, wird sie von dem Medizinsystem parzelliert und nach der je vorherrschenden professionellen Sichtweise definiert und behandelt. Wir haben es hier mit einem Problem zu tun, das generell mit dem Phänomen der spezialisiert-systemischen

Problembearbeitung

zusammenhängt und für die allgemeine Wiederbelebung des Selbsthilf egedankens eine wesentliche Rolle spielt. So führt z.B. Hegner die Entstehung von Bürgerinitiativen und Selbsthilfegruppen wesentlich darauf zurück, daß bürokratisch organisierte und professionelle Dienstleistungen dazu tendieren, "den Bürger auf genau diejenigen funktionalen Aspekte seiner Persönlichkeit zu reduzieren, die im Rahmen und mit Hilfe der gegebenen administrativen Programme und Organisationsstrukturen bearbeitbar sind"

(Hegner,1977,183). Und Halfmann/Japp bemerken, daß die

Spezialisierung dazu führen kann, "daß z.B. ein Sozialarbeiter, ein Erziehungsberater und ein klinischer Psychologe jeweils ihrer professionellen Sichtweise entsprechende Problemdeutungen gegenüber einem Klienten durchsetzen, der in Folge dessen erleben muß, daß sein Problem nicht gelöst wird."

(Halfmann/Japp

1981, 294). Diese Problematik scheint besonders bei Krankheiten aufzutauchen, die unheilbar bzw. vom Medizinsystem aufgrund bestimmter Strukturmerkmale nur begrenzt bearbeitbar sind, also beispielsweise nicht heilbare Krankheiten, die zum Tode führen, chronische Krankheiten, Behinderungen (die ggbnfls. als Folge einer Krankheit bzw. einer Behandlung auftreten), psychische Krankheiten und Suchtkrankheiten. Bei allen diesen Krankheiten läßt das Medizinsystem den Kranken mit einem erheblichen Teil seines Leidens allein. Für die vom Medizinsystem nicht erbrachten Leistungen, die eine Bewältigung der oder einen Umgang mit der Krankheit ermöglichen sollen, gibt es zwei Arten von Institutionen: Erstens formelle Hilfseinrichtungen

(beispielsweise

42

B. Gesundheitsselbsthilfegruppen

Sozialstationen, Wohlfahrtsorganisationen), zweitens informelle Sozialeinheiten

(Familie, Nachbarschaft, Selbsthifegruppe).

Erstere weig=n jedoch wiederum ähnliche Probleme auf wie das Medizinsystem: Da sie nach systemischen Regelungen funktionieren und mehr oder weniger bürokratisch organisiert sind, sind sie nur beschränkt tauglich zur Bearbeitung der Probleme, die insbesondere bei den erwähnten Krankheitsfällen auftauchen. Hinzu kommt die Kostenproblematik: Abgesehen von kurz- und mittelfristigen haushaltspolitischen Überlegungen liegt deren grundsätzliche Problematik darin, daß personenbezogene Dienstleistungen strukturbedingt einen unter dem gesellschaftlichen Durchschnitt liegenden Produktivitätsfortschritt haben, was eine stetige Verteurung dieser Dienstleistungen zur Folge hat. Dies gilt umso mehr, je kommunikationsintensiver diese Arbeit ist, also auch und im besonderen Maße bei den hier interessierenden Problemlagen. Daher ist die erhöhte Aufmerksamkeit, die inzwischen dem informellen Bereich zugewendet wird, eine konsequente Reaktion auf diese Problemstellung. Hier erhalten nun Selbsthilfegruppen eine besondere Bedeutung. Die Problemstellung, von der eben die Rede war, ist ja an sich nicht neu. Neu ist lediglich, daß einmal die Grenzen der Leistungsfähigkeit formeller Hilfseinrichtungen deutlicher erkannt sind und vor allem, daß die Leistungsfähigkeit der traditionellen Einheiten informeller Leistungserstellung, der Familien und der Nachbarschaft, immer mehr zurückgeht. Zur Betreuung und Stabilisierung von Todkranken, psychisch Kranken oder Süchtigen, um nur einige Beispiele zu nennen, ist die heutige Familie in der Regel nicht mehr in der Lage, und auch dort, wo es versucht wird, sind die einzelnen Familienmitglieder meist damit völlig überfordert, wie aus einigen Berichten der Hamburger Gruppe hervorgeht. Es scheint also lediglich die Hoffnung zu bleiben, daß Selbsthilfegruppen die Lücke zwischen tendenziell ineffizient und zu teuer werdenden professionellen Hilfseinrichtungen und den zerfallenden traditionellen Institutionen füllen können. Diese funktionelle Betrachtung, die der öffentlichen Aufmerksamkeit und Sympathie für Selbsthilfegruppen weitgehend zugrunde liegt, greift jedoch zu kurz. Bevor ich auf diesen Punkt näher eingehe, möchte ich zunächst einmal ein Zwischenresümee ziehen. Aus dem bisher Gesagten läßt sich zur heutigen Problematik der Bedeutung des Laienpotentials und von Selbsthilfegruppen folgendes zusammenfassen und schließen:

Lebensalltag und medizinisch-politisches Gesundheitssystem

43

Im Unterschied zu den Problemen, die mit der Einführung bzw. Ausweitung eines modernen Medizinsysteins in traditionellen Ge-; sellschaften einhergehen, liegen die heutigen Probleme nicht in einem Kultur- und Rationalitätsgefälle zwischen Medizinsystem und Lebenswelt. Vielmehr reagieren die Selbsthilfegruppen und die Kritiker des Medizinsystems auf Probiene, die dieses selber mit erzeugt hat. Ging es im ersten Fall darum, eine Anpassung der noch auf traditionaler Basis funktionierenden lebensweltlichen Sozialzusammenhänge und Handlungsorient.ierunqen an die durch das Medizinsystem eingeführten neuen Krankheitsdefinitionen, neuen Behandlungsmethoden etc. herbeizuführen, so ist dies heute in dem hier behandelten Kontext nicht das zentrale Problem. Auch bei der Diskussion um Gesundheitsvorsorge und eine gesundheitsgemäßere Lebensführung, bei der die Frage eine wesentliche Rolle spielt, inwieweit das Medizinsystem die Inhalte und Kriterien hierfür abgibt und inwieweit damit eine Anpassung der Lebensführung an Anforderungen des Medizinsystems bewirkt werden soll, speist sich der Widerstand gegen eine Ausweitung medizinisch-bürokratischer Vorsorge weniger aus traditionsgebundenen Vorbehalten als aus Erfahrungen über medizinische Mißerfolge oder persönliche Entmündigung durch die Auslieferung an großtechnisch-bürokratische Systeme bzw. an Experten. Laienaktivierung bedeutet heutzutage vor allem auch Stabilisierung von alten bzw. Unterstützung von neuen Sozialzusammenhängen, die in der Lage sind, die vom Medizinsystem nicht bearbeiteten und teilweise mitverursachten Krankheitskomplexe zu bearbeiten. Um es ganz verkürzt zu sagen: Früher waren die Sozial- und Sinnzusammenhänge vorhanden, die eine (vor allem psycho-soziale) Bewältigung der Krankheitskomplexe und -aspekte ermöglichten, die heute zu Selbsthilfegruppen führen bzw. eine Stärkung des Laienpotentials ganz allgemein notwendig machen; es fehlte jedoch an rationalen Handlungsorientierungen, um das Medizinsystem und seine Problemsichten in der Lebenswelt zu verankern und damit komplementäres Verhalten sicherzustellen. Heute sind die Handlungsorientierungen weitgehend rationalisiert und die naturwissenschaftlich-medizinische

Problemsicht

ist weitgehend in der Bevölkerung verankert, aber die Sozialund Sinnzusammenhänge, deren das Medizinsystem zur AbStützung seiner Handlungen bedarf, sind zerstört oder in einem Auflösungs-

44

B. Gesundheitsselbsthilfegruppen

prozeß begriffen, und zwar aufgrund einer Rationalisierung der Lebenswelt, zu der auch das Medizinsystem erheblich beigetragen hat. Die bisherigen Ausführungen decken jedoch nur einen Teilaspekt der neuen Problemlagen ab, auf die Selbsthilfegruppen reagieren. Die bisher zugrundeliegende Basisannahme kann man allgemein als "Mangelhypothese" oder auch als "Defizithypothese" bezeichnen (vgl. auch Badura et al. 1981), eine Annahme, die auch den Arbeiten dieses Verbundes zugrundezuliegen scheint. Als Defizite oder als Mangel werden dabei Versorgungsmängel angesehen, was die Annahme impliziert, daß die Defizite auf dem Wege einer Verbesserung oder alternativen Gestaltung von Versorgungsleistungen behoben werden können. Dabei hat die Mangelhypothese eine doppelte Ausrichtung: Erstens ist sie analytisch gewendet, d.h., sie gilt als zentrale Erklärungsgröße für das Auftreten von Selbsthilfegruppen bzw. für ein darüberhinaus verbreitetes Unbehagen am Medizinsystem. Zweitens beinhaltet sie gleichzeitig eine praktisch-politische Stoßrichtung, indem sie die Aufmerksamkeit zur Behebung der Störungen zwischen Medizinsystem und Laien (infolge von deren Einordnung als Versorgungsdefizit) auf die Ebene einer besseren Versorgung lenkt. Mir scheinen indessen gewichtige Gründe dafür zu sprechen, daß der Interpretationsrahmen für die Entstehung von Selbsthilfegruppen (und demzufolge auch die daraus zu ziehende Praktisch-politische Konsequenz) über die Defizithypothese hinaus ausgeweitet werden muß. ad 3) Sinn- und Identitätsprobleme Ralf Itzwerth und Edith Halves aus dem Hamburger Projekt haben kürzlich an anderer Stelle über erste Ergebnisse ihrer teilnehmenden Beobachtung in Gesundheitsselbsthilfegruppen berichtet (Itzwerth/Halves 1982). Den meisten Raum widmen sie dabei dem Bericht über eine Selbsthilfegruppe von Eltern krebskranker Kin2) der. Dabei wird deutlich, daß die Selbsthilfegruppe zu großen Teilen, wenn nicht in erster Linie, eine Hilfe zur Lebensbewältigung darstellt. Es geht nicht so sehr um die Krankheit

und

deren potentielle Heilung als vielmehr darum, wie man mit der Krankheit

(der eigenen oder der von nahen Angehörigen), mit ei-

ner lebenslangen Behinderung oder gar mit der sicheren Erwartung eines nahenden Todes (vor allem psychisch) fertigwerden und weiterleben soll.

Lebensalltag und medizinisch-politisches Gesundheitssystem

45

Hier liegt ein Problem, das über alle Versorgungsaspekte weit hinausreicht. Es weist letztlich zurück auf die Zerstörung von religiös verankerten Lebenswelten, in denen Krankheit und Tod als notwendige Bestandteile des Lebens akzeptiert waren , in denen ihnen sogar teilweise ein positiver Sinn verliehen wurde. Demgegenüber huldigt das moderne Weltbild dem Mythos der Machbarkeit. Das erscheint als Problem, das gelöst Vierden muß (und kann). Krankheit und Tod müssen bekämpft werden, und es wird suggeriert, daß sie auch erfolgreich bekämpft werden können, wobei das Wissen um die Unausweichlichkeit des Todes verdrängt wird. Die Erfahrung definitiver Grenzen der Machbarkeit, die in der Konfrontation mit unheilbaren Krankheiten und dem Tod (und zwar der persönlichen, nicht der abstrakten, massenmedial vermittelten Erfahrung) am deutlichsten wird und sich bei längeren Leiden, anders als bei plötzlichen Sterbefällen, auch nicht schnell wieder verdrängen läßt, führt daher unausweichlich zu einer grundlegenden Lebenskrise. Der verbreitete Ausweichmechanismus, der einen nach dem Motto: "Das Leben muß halt weitergehen" nach kurzer Zeit so tun läßt, als ob nichts gewesen wäre, kann hier nicht greifen, weil die Krankheit sich - womöglich über einen langen Zeitraum - selbst immer wieder dem Alltagsleben aufdrängt. Das Leben kann zwar weitergehen, aber eben nicht so wie bisher. Die Bewältigung dieser Lebenskrise, der Versuch, durch gegenseitige praktische und emotionale Hilfe den Absturz in die totale Hoffnungslosigkeit (oder, wo keine Hoffnung mehr ist, in die totale Sinnlosigkeit) zu verhindern und dem Leben trotz und mit der Behinderung oder gar Todesnähe einen Sinn zu verleihen, sich als Kranke oder Behinderte eine neue, eigene Identität aufzubauen, scheint mir der tiefere Hintergrund und Inhalt vieler Selbsthilfegruppen zu sein. Dies impliziert jedoch eine kritische oder distanzierte, in manchen Fällen auch ablehnende Haltung gegenüber der für den jeweiligen Handlungszusammenhang relevanten Umwelt, hier also vor allem gegenüber dem Medizinsystem, gegebenenfalls auch gegenüber den zuständigen staatlichen Behörden und Wohlfahrtsorganisationen. Eine eigene, neue Identität läßt sich nur durch Abstreifen der alten, d.h. durch eine aktive Auseinandersetzung mit oder eine Abgrenzung von jener entwickeln. Sie läßt sich nicht realisieren, wenn sie von außen angeleitet werden soll, also nach dem Muster einer Anpassunq an Krankheitsdefinitioner und Verhaltensanleitungen, die vom Medizinsystem oder von Gesund-

46

B. Gesundheitsselbsthilfegruppen

heitsbehörden vorgegeben sind.

Dieser Prozeß erfordert es viel-

mehr, daß die Gruppen eine eigenständige Re-Definition ihrer Krankheit vornehmen und im Zusammenhang damit auch eigene Kriterien einer angemessenen Lebensweise entwickeln. Eine gesundheitspolitische Aktivierung dieses Laienpotentials würde es m.E. erfordern, daß Medizinsystem und Gesundheitsbehörden sich diesen Gruppen gegenüber eher passiv verhalten, d.h., daß sie ihnen (im rechtlichen, politischen, räumlichen und auch ökonomischen Sinne) Raum zur Entwicklung geben und Unterstützung für den Fall bereitstellen, daß sie nachgefragt wird. Diese dritte Problemebene spielt in vielen Fällen auch dort eine Rolle, wo es vordergründig nur um Leistungsdefizite oder um Anpassungsprobleme zu gehen scheint. Wenn ich das richtig sehe, haben Alf Trojan und seine Mitarbeiter sich in ihren Untersuchungen ja vor allen Dingen auf solche Gruppen konzentriert, die in ihrem Selbstverständnis das Krankheitsproblem in den Mittelpunkt stellen. Wenn sie dennoch in diesen auf den ersten Blick in einem engeren Sinne eher "sachbezogenen" Gruppen die große Bedeutung von Identitätsproblemen aufzeigen können, so ist dies ein besonders deutlicher Hinweis auf deren Relevanz für die neue Selbsthilfebewegung insgesamt. Diese These, daß es in den Gruppen im Grunde um Identitäsprobleme geht, um die Bewältigung von Lebenskrisen, um die Suche nach neuen Orientierungsmaßstäben, die man sich nicht von anderen vorschreiben lassen will, trifft sich auch mit Beobachtungen und Befunden in anderen gesellschaftlichen Bereichen und ist beispielsweise auch eines der wesentlichen Ergebnisse unserer eigenen Untersuchung über neue Verbraucherselbstorganisationen

und

neue soziale Bewegungen (Nelles 1983). Selbsthilfe ist ja ein Stichwort, das die gesamte gesellschaftspolitische Diskussion seit einiger Zeit bewegt, ebenso wie die Protestaktivitäten selbstorganisierter, autonomer Gruppen in den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen. Der Selbsthilfegedanke ist eines der tragenden Elemente der sogenannten neuen sozialen Bewegungen, sei es im Wohnbereich von der Mieterselbsthilfe bis zur Hausbesetzung, sei es im Ökologiebereich vom Öko-Bauern bis zu den Hüttendörfern auf besetztem Baugelände, sei es in der Frauenbewegung, im Kulturbereich oder wo auch irainer, sei es auch in Gesundheit sselbsthilfegruppen.

Lebensalltag und medizinisch-politisches Gesundheitssystem

47

Dabei ist fast überall klar, auch den Aktiven selbst, daß die Professionellen in technischer Hinsicht effizienter arbeiten. Wenn man trotzdem darauf besteht, das meiste selbst zu machen, dann deshalb, weil man sich die eigene Handlungskompetenz in einem umfassenden Sinne, die Möglichkeit der Zielbestimmung nicht wegnehmen lassen will. Verfügung über den eigenen Körper, den eigenen Lebensraum, sind Stichworte hierfür. Es geht um Autonomie, nicht um effizientere Aufgabenerledigung, und Autonomie heißt zunächst einmal, die geliehene Identität abzustreifen und eine neue zu suchen, und hierbei soll die Gruppe helfen. Geliehene Identität, das ist z.B. das angepaßte Rollenverhalten von Männern und Frauen, das sind die internalisierten Konsumansprüche und Konsumstile, die vom System vorgezeichneten Vorstellungen von Wohnen, Arbeiten und Leben etc., eben auch die Vorstellungen von Krankheit und Gesundheit, wie sie von Medizinsystem übernommen werden. Den Anstoß zur Selbsthilfe oder zum Protest geben dabei meist ganz konkrete Erfahrungen, und erst in der Konfrontation mit diesen Erfahrungen, in der Entwicklung der Gruppe wird meist das Identitätsproblem bewußt. Vielfach wird es auch verdrängt, weil es viel höhere Ansprüche an den einzelnen stellt, als wenn die Gruppe sich auf die Erledigung von bestimmten, eingegrenzten Sachaufgaben beschränkt. Aber trotz dieser engen Bindung an die konkreten Sachprobleme ist festzuhalten: Der Frauenbewegung geht es nicht nur um die Gleichberechtigung der Geschlechter, den Hausbesetzern geht es nicht in erster Linie um eine bessere Wohnungsversorgung, der Ökologiebewegung geht es nicht nur um besseren Umweltschutz und den Gesundheitsselbsthilfegruppen geht es, so scheint mir, nicht nur um ein virhpi^prfoc Medizinsystem und eine bessere Gesundheitspolitik im versorgungstechnischen Sinne. Überall geht es zwar auch darum, aber die tieferen Beweggründe gehen darüber hinaus. Sie gelten der Suche nach etwas, das einstmals wie selbstverständlich da war, worin das Leben des einzelnen fest eingebettet war, einem mehr oder weniger unverbrüchlichen Lebenssinn. Unter Bedingungen einer rationalisierten Lebenswelt müssen sich die einzelnen ihren Lebenssinn und ihre Identität, sofern sie

sich nicht einfach an syste-

mische Vorgaben anpassen wollen oder können, selbst suchen und im Krisenfalle neu definieren. Die Betroffenheit von bestimmten Entwicklungen gibt dazu häufig den Anstoß, ist aber keine notwendige Bedingung, weil in diesem

48

B. Gesundheitsselbsthilfegruppen

allgemeinen Sinne jeder betroffen ist. Inwieweit diese allgemeine Betroffenheit vom einzelnen wahrgenommen wird, ohne daß es einer harten persönlichen Krise bzw. Betroffenheit bedarf, oder inwieweit ein solcher Anstoß notwendig ist,.ist nicht zuletzt eine Frage der Sensibilität. Es ging mir in diesem Beitrag darum zu zeigen, daß das Thema "Gesundheitsselbsthilfegruppen"

in dem größeren Zusammenhang

von Selbsthilfe- und Protestbewegungen, Identitätskrise und Systementwicklung in weiten gesellschaftlichen Bereichen gesehen werden muß. Es handelt sich auch, aber bei weitem nicht nur um eine medizinsoziologische oder gesundheitspolitische Problematik. Dies zu betonen ist wichtig, weil die Diskussion um praktische politische und gesellschaftliche Konsequenzen immer wieder auf die Versorgungsdimension

(oder auf symbolische politische Akte)

reduziert wird, wenn auch verbal die größere Dimension des Problems selten negiert wird. Dies gilt auch für diejenigen, die der Selbsthilfebewegung wohlwollend finanzielle Förderung angedeihen lassen v/ollen. Sofern damit im Sinne einer allgemeinen gesundheits- oder sozialpolitischen Strategie Versorgungslücken gefüllt werden sollen, sollte man daran keine allzu großen Erwartungen knüpfen. Damit spreche ich mich nicht gegen eine Förderung von Gruppen aus. Vielmehr erscheint mir ein Abbau von Hindernissen, die kollektiver Selbsthilfe im Wege stehen, sowohl in finanzieller als auch in rechtlicher und verwaltungstechnischer Hinsicht dringend geboten, wenn er in etwa den diesbezüglichen Empfehlungen des Hamburger Projektes folgt. Gegenüber solchen unmittelbar anwendungsorientierten Vorschlägen sollten die Projekte m.E. aber nicht die gesellschaftstheoretische und gesellschaftspolitische Dimension des Problems vernachlässigen. Denn sonst bedürfte es kaum solch breit angelegter Verbundforschung. Auch und gerade anwendungsorientierte Grundlagenforschung sollte sich den ressortspezifischen und ökonomistischen Reduktionismus, der die praktische Diskussion um Selbsthilfe bei den etablierten Institutionen und Organisationen weithin kennzeichnet, nicht zu eigen machen, sondern auch die Frage gesellschaftspolitscher Konsequenzen thematisieren.

Lebensalltag und medizinisch-politisches Gesundheitssystem

49

Anmerkungen 1) Mit "Lebenswelt bezeichnet Habermas einen Bereich und einen Modus sozialer Beziehungen, der dem "System" entgegengesetzt ist. Er benutzt den Begriff "für solche Arten sozialer Interaktion, die "formal organisiert" sind, in denen "der für soziale Integration wesentliche Mechanismus der sprachlichen Verständigung (...) partiell außer Kraft gesetzt und durch Steuerunosmedien ersetzt (wird)" (Habermas 19P1, 45P). Im Gegensatz dazu bezeichnet "Lebenswelt" einen Handlungsbereich, in dem soziales Handeln auf der Grundlage kommunikativer Verständigung stattfindet. Diese kann auf den Handelnden gemeinsamen traditionellen Weltbildern, Nonnen etc. oder auf "aufgeklärter, rationaler Verständigung ('tationalisierte Lebenswelt") basieren. 2) Ganz am Rande möchte ich hierbei banerken, dafi die Einordnung dieser Gruppe in die Rubrik "Krankheitsbezogene Selbsthilfegruppen" ebenso wie für die Gruppe von Eltern Drogenabhängiger nicht zutrifft, da die Gruppenrnitglieder nicht selbst krank sind, sondern ihr Problem darin besteht, wie sie mit der Krankheit ihrer Kinder fertig werden. Die Gruppen müßten daher wohl der Kategorie "lebensDroblembezogene Selbsthilf egruppen" zugeordnet werden. Wichtiger als diese Zuordnungsfrage ist jedoch die klare Herausbildung der Inhalte, um die es in diesen Gruppen aeht.

C. Selbsthilfe im Familienhaushalt Zum Verhältnis von Selbsthilfe und medizinischer Fremdhilfe Dieter Grunow, Helmut Breitkopf, Vera Grunow-Lutter,

Wolfgang Paulus

1. Allgemeine Fragestellungen und Ziele des Projektes

Ausgangspunkt dieses Forschungsvorhabens ist die Feststellung, daß die von der Bevölkerung getragenen gesundheitsund krankheitsbezogenen (Laien-)Aktivitäten sowohl objektiv als auch in der subjektiven Wahrnehmung der Beteiligten und Betroffenen ein größeres Gewicht besitzen als die Inanspruchnahme des professionellen Medizinsystems. Gleichwohl haben diese Selbsthilfeaktivitäten bisher - vor allem in der Bundesrepublik - nur geringe wissenschaftliche und praktische Beachtung gefunden. Nach vorliegenden Schätzungen werden zwei Drittel bis drei Viertel aller Krankheitsepisoden im Familien-, Bekanntenund Freundeskreis oder in der Nachbarschaft "behandelt" oder "bewältigt". Noch größer dürfte der Anteil der konkreten Maßnahmen zur Gesunderhaltung sein. Dies macht u.E. einen Forschungsansatz notwendig, der das Selbsthilfeverhalten aus der Sicht sozialer Alltäglichkeit, d.h. alltäglicher Handlungsmuster und mikrosozialer Lebensbedingungen - wie sie z.B. durch die Struktur von Familie, Nachbarschaft und Freundeskreis gegeben sind - analysiert und nicht aus der Sicht des medizinischen Versorgungssystems und seiner Vorstellung vom angepaßten Patienten. Das Forschungsvorhaben konzentriert sich dementsprechend auf die empirische Untersuchung von Laienaktivitäten und Selbsthilfe als dominierende alltägliche Praxis des gesundheitsbezogenen und krankheitsbewältigenden Verhaltens, ihre Auswirkungen auf die physischen, psychischen und sozialen Lebensumstände der Bevölkerung sowie ihre Verknüpfbarkeit mit dem Leistungsangebot des medizinischen Versorgungssystems. Durch die empirische Erfassung verschiedener, in der Bevölkerung praktizierter Formen der Bewältigung von Krankheiten und ihren sozialen Begleitumständen werden Grundlagen für die Erweiterung der Handlungsspielräume innerhalb von Familie und Haushalt erarbeitet, die sich sowohl auf die eigene

52

C . Selbsthilfe im Familienhaushalt

Bewältigung von Krankheitsproblemen und Anforderungen der Gesunderhaltung beziehen als auch auf die kompetente und selbstbewußte Nutzung medizinischer und quasi-medizinischer Dienstleistungen. Zur Erklärung unterschiedlicher Aktivitätsniveaus und -potentiale im Hinblick auf die gesundheits- und krankheitsbezogenen Probleme wird vor allem ein mikrosozialer Ansatz gewählt: Die Einbindung einzelner Personen in verschiedene primärsoziale Netzwerke (Haushalt, Familie im weiteren Sinne, Nachbarschaft, Freundeskreis u.a.m.) wird als entscheidender Parameter unterstellt, der die Möglichkeiten und Grenzen individueller und sozialer Selbsthilfe maßgeblich beeinflußt. In theoretischer Hinsicht werden die zentralen Fragestellungen des Projektes in einem Konzept entwickelt, das Selbsthilfe als Form sozialer Alltäglichkeit darstellt. Der Kernbegriff in diesem Konzept ist die gesundheits- bzw. krankheitsbezogene Figuration, d.h. der primär-soziale Handlungszusammenhang, der auf Gesundheitsprobleme gerichtet ist und an dem i.d.R. mehrere Personen teilnehmen. Dieser theoretische Ansatz erlaubt jedoch auch die Analyse der alltagsüberschreitenden Figurationen, die hier insbes. als Benutzung sekundärer, insbes. professioneller Hilfesysteme berücksichtigt werden. Gefragt wird sodann nach den mikrosozialen (haushaltsstrukturellen), auf den Familienzyklus bezogenen Rahmenbedingungen für die Entwicklung und situationsangemessene Aktivierung solcher Figurationen.

2. Sind Fremdhilfe und Selbsthilfe austauschbar?

2.1 Inhalte der Substitutionsthese Das WechselVerhältnis zwischen Selbsthilfe und Fremdhilfe im Gesundheitswesen ist vielfach Gegenstand von praktisch-politischen, aber auch von wissenschaftlichen Behauptungen gewesen, die je nach der Perspektive und der Interessenposition sehr unterschiedlich sein können /5/: a) Eine diesbezügliche These besagt, daß die Aktivierung von Selbsthilfe dazu führt, daß das professionelle Medizinsystem in geringerem Maße als sonst üblich in Anspruch genommen wird. Diese Behauptung wird einerseits vor allem von Kritikern der Selbsthilfebewegung formuliert, die die

Zum Verhältnis von Selbsthilfe und medizinischer Fremdhilfe

Selbsthilfeakvititäten in der Nähe der "Scharlatanerie" oder der "Kurpfuscherei" rücken. Dabei haben sie z.T. eine sehr einseitige Vorstellung von der gesundheits- und krankheitsbezogenen Selbsthilfe (z.B. i.S. sogen, exotischer Behandlungsmethoden), oder sie orientieren sich an spektakulären, von den Massenmedien hochgespielten Einzelfällen. Zu den Einseitigkeiten dieser Problemanalyse gehört vielfach auch die Tatsache, daß einseitig die Gesundheitsselbsthilfegruppen im Mittelpunkt der Überlegung stehen, obwohl diese nur einen sehr geringen Anteil an individueller und sozialer Selbsthilfe repräsentieren. b) Die Richtung der Substitution kann jedoch auch umgekehrt sein: Die bisher vorhandenen Felder des Laienhandelns werden noch stärker als bisher von hauptberuflichen und professionell ausgebildeten Kräften besetzt. Dies kann sowohl durch das Medizinsystem (z.B. in Form ambulanter Krankenpflegedienste der Sozialstationen) als auch durch Institutionen bzw. das Personal der Sozialberatung u.ä. geschehen (vgl. hierzu die Überlegungen im Koreferat zu diesem Projekt). Bevor man dazu in der Lage ist, solch unterschiedliche Erwartungen oder Behauptungen durch eine empirische Analyse zu überprüfen, muß der Begriff "Selbsthilfe" näher bestimmt werden. Die Schwierigkeiten in der öffentlichen und wissenschaftlichen Diskussion lassen sich zumindest teilweise darauf zurückführen, daß der Begriff gar nicht, sehr diffus oder sehr unterschiedlich definiert wird. Der in diesem Projekt verwandte Begriff von "Selbsthilfe"

(SH) steht als Kür-

zel für "laienhaft, nicht erwerbsmäßig und informell im Rahmen sozialer Gruppen erbrachte Eigenleistungen und gegenseitige Unterstützungen", und zwar in bezug auf primäre Prävention (allgemeine Maßnahmen zur gesunden Lebensführung), sekundäre Prävention (Früherkennung) sowie in bezug auf kurative und rehabilitative Aktivitäten bei Krankheiten und Beschwerden. Mit dieser Definition läßt sich SH besonders deutlich abgrenzen gegenüber professioneller, erwerbsmäßiger und formal organisierter Fremdhilfe

(insbes. durch das Medi-

zinsystem) . Ausgehend von dieser Begriffsdefinition zeigt sich sehr schnell, daß nur in einem Teilbereich aller gesundheits- und krankheitsbezogener Aktivitäten im Haushalt eine "Konkurrenz" zwischen Laien und Professionellen vorhanden ist und daher nur begrenzt eine wechselseitige Substitution möglich ist. Zwischen drei Konstellationen der SH (im Vergleich zur professionellen Fremdhilfe) kann dabei unterschieden werden: 1. SH, die i.d.R. ohne Konkurrenz zum professionellen Medi-

53

54

C. Selbsthilfe im F a m i l i e n h a u s h a l t

zinsystem ist, 2. SH, die vielfach in Ergänzung zu den Dienstleistungen des professionellen Medizinsystems aktiviert wird, und 3. SH, die in Substitutions-Konkurrenz zu dem professionellen Medizinsystem steht (der 4. Bereich, wo das Medizinsystem "konkurrenzlos" agiert, bleibt hier außer Betracht). Hierzu folgende inhaltliche Erläuterungen /6/:

2.1.1 Formen und Inhalte der SH, die i.d.R. ohne Konkurrenz zum professionellen Medizinsystem sind Betrachtet man hierzu zunächst die besonderen Formen und Qualitäten der Kommunikationen und Interaktionen, die sich auf Gesunderhaltung und Krankheitsbewältigung beziehen, so kann eine Reihe spezifischer SH-Merkmale festgestellt werden. Von herausragender Bedeutung ist u.E. das Prinzip der Reziprozität: Die Hilfeleistungen im Rahmen der primär-sozialen Bezugsgruppen beruhen auf der Tatsache, daß man im Grundsatz Gleiches mit Gleichem vergelten kann, daß also die Hilfebereitschaft anderer durch die gleiche Hilfebereitschaft ihnen gegenüber vergolten werden kann. Von besonderer Bedeutung ist dabei derjenige Interaktionsprozeß, bei dem Personen Erfahrungen austauschen können, die von den gleichen Problemen (Beschwerden, Krankheiten usw.) betroffen sind. Dies ist im besonderen das Konstitutionsprinzip vieler Selbsthilfegruppen. Ein weiteres wichtiges Moment der SH in dem hier untersuchten Bereich ist die persönliche Zuwendung der Helfenden; dies wird i.d.R. als wichtige Voraussetzung zur positiven Beeinflussung des Bezugsproblems angesehen. Für den Fall, daß Beschwerden und Krankheiten chronisch verlaufen, ist vor allem die Einbindung gesundheitsbezogener und krankheitsbezogener Aktivitäten in den alltäglichen Tagesablauf besonders wichtig, wobei sogar die Verknüpfung von gesundheitsbezogenem Handeln und geselligen Freizeitaktivitäten besondere Beachtung verdient. In diesem Zusammenhang konstituieren die primär-sozialen Bezugsgruppen in ganz zentraler Weise die Zukunftsperspektiven des von Beschwerden oder Krankheiten betroffenen Menschen. Interaktionen mit diesen Personengruppen signalisieren die Möglichkeit einer Rückkehr in das Alltagsleben, in die Kontinuität des eigenen Lebenslaufes

(wo-

hingegen die medizinischen Dienstleistungen hauptsächlich oder ausschließlich die zukünftige physische Funktionsfähig-

Zum Verhältnis von Selbsthilfe und medizinischer Fremdhilfe

keit des Betroffenen "garantieren"). Betrachtet man nun die gesundheits- und krankheitsbezogenen Problemsituationen, in denen die SH i.d.R. ohne Konkurrenz ihre Wirksamkeit nachweist, so steht u.E. die primäre Prävention (d.h. die Figurationen zur Gesunderhaltung) an erster Stelle; wie sich in den letzten 1o-15 Jahren immer wieder gezeigt hat, läßt sich die primäre Prävention nicht systematisch und professionell organisieren. Sie ist ein Bestandteil des Lebensalltags der Bevölkerung und wird erst durch die Einbindung in die üblichen Tagesabläufe dauerhaft gesichert. Ähnliches trifft auch für die Bewältigung chronischer Beschwerden und Krankheiten zu, die kaum noch von professionellen Interventionen beeinflußt werden und deren alltägliche Bewältigung in der "Normalisierung" besteht: Die aus der Krankheit oder aus den Beschwerden resultierenden Anforderungen werden so in den alltäglichen Tagesablauf nicht nur der betroffenen Person, sondern auch ihrer Angehörigen integriert, daß sie als besondere Maßnahmen, Interventionen oder Kampagnen nicht mehr zutage treten. Durch chronische Erkrankungen bedingte Anforderungen werden ebenso "selbstverständlich" wie die tägliche Hygiene, das Essen oder das Schlafen angesehen. Ähnlich konkurrenzlos im Verhältnis zu den medizinischen Dienstleistungen ist auch die Bewältigung von psychischen und sozialen Begleitumständen,

(auch) somatischer

Erkrankungen und Behinderungen. Dies hängt zweifellos mit den besonderen Interaktions- und Kommunikationsformen zusammen, die im Rahmen der SH praktiziert werden (können). Die persönliche Zuwendung, die Entwicklung von Zukunftsperspektiven usw. mögen zwar nicht direkt auf die organische Gesundung einwirken (wenngleich auch dies möglich ist!), verbessern aber die psychische und seelische Befindlichkeit der Betroffenen.

2.1.2 Formen und Inhalte der SH, die vielfach in Ergänzung zu den Dienstleistungen des professionellen Medizinsystems aktiviert werden

(können)

Betrachtet man auch hier zunächst wieder den Interaktionsprozeß im Kontext der SH, so lassen sich bedeutsame Funktionen auch dann feststellen, wenn diese nur in Ergänzung, also kom-

55

56

C. Selbsthilfe im Familienhaushalt

pleraentär zum medizinischen Dienstleistungsangebot, aktiviert werden. So ist es beispielsweise von besonderer Bedeutung, wenn durch die primär-sozialen Bezugsgruppen die ständige Erreichbarkeit einer Unterstützungsleistung signalisiert wird; dies erst ergibt die notwendige Sicherheit, die von den Vertretern des Medizinsystems selbst dann nicht gewährleistet werden kann, wenn sie bereit sind, Hausbesuche u.a. durchzuführen. Zudem ist es notwendig, daß Angehörige, Freunde oder Nachbarn der Betroffenen teilweise Therapeutenrollen oder auch Kontrolleursrollen im Kontext der Krankheitsbewältigung und Gesunderhaltung übernehmen. Da sie in besonderer Weise in der Lage sind, diese Rolle gleichzeitig mit derjenigen von primär-sozialen Bezugspersonen zu kombinieren, hat ihr Interaktionsbezug zu den betroffenen Personen eine andere Qualität, als wenn dies von Personen durchgeführt würde, die ausschließlich in der Therapeuten- oder Kontrolleursrolle den betreffenden Personen gegenüberstehen. Im Hinblick auf die durch SH zu beeinflussenden Problembereiche, die gleichzeitig auch von dem professionellen Medizinsystem "bearbeitet" werden, lassen sich am ehesten Beispiele aus der sekundären Prävention finden (Figurationen zur Risikovermeidung und Durchführung von Vorsorgeuntersuchungen etc.). Solche Aktivitäten sind i.d.R. nicht ohne (zumindest erstmalige) Anleitung und/oder punktuelle Überprüfung durch einen Professionellen durchführbar. Hier kommt es in besonderer Weise darauf an, die jeweiligen Beiträge zur Problembeeinflussung aufeinander abzustimmen. Neben der bewußten Vermeidung von risikoreichem Verhalten können in diesem Zusammenhang auch die Beeinflussung von (gesundheitsschädigenden) Umweltfaktoren sowie die Bewältigung von psycho-sozialen Problemen genannt werden. Gerade bei letzteren ist eine abgestimmte Intervention durch SH und Fremdhilfe notwendig, weil diesbezügliche Probleme vielfach durch die primär-sozialen Einbindungen der betroffenen Individuen mitproduziert werden, so daß sich Problemlösungen nicht ausschließlich durch eine direkte Konfrontation zwischen den Professionellen und dem Klienten entwickeln lassen, sondern die Mitwirkung der primär-sozialen Gruppen notwendig machen.

57

Zum Verhältnis von Selbsthilfe und medizinischer Fremdhilfe

2.1.3 Formen und Inhalte der SH, die in Substitutionskonkurrenz mit dem professionellen Medizinsystem stehen

(kön-

nen ) Felder der "Domänekonkurrenz" zwischen SH und Fremdhilfe stehen zwar in der öffentlichen Diskussion meist im Vordergrund, sie machen jedoch faktisch nur einen kleinen Teil des Gesamtspektrums von SH-Aktivitäten und ihrer Leistungsfähigkeit aus. Zugleich muß hier betont werden, daß das Konkurrenzverhältnis ein wechselseitiges ist: Einerseits kann SH professionelle Fremdhilfe ersetzen; andererseits kann professionelle Fremdhilfe SH ersetzen. Im Hinblick auf den Interaktionsprozeß und die Kontaktformen zwischen den Helfern und denjenigen, die Hilfe in Anspruch nehmen, sind u.E. diejenigen typischen Probleme aufzuzeigen, die vielfach Gegenstand der Kritik

(am Medizinsystem) sind. Dazu gehören ins-

besondere die Form und die Inhalte der Kontakte zwischen Professionellen und Laien: die UnVerständlichkeit der Terminologie, die fehlende Zeit für die Interaktion und die Vermutung vieler Klienten, von ihrem professionellen Gesprächspartner nicht ernstgenommen zu werden. All dies sind interaktionsbezogene Pläne, die sowohl durch professionelle Fremdhilfe als auch durch soziale SH gegeben sein können oder eben auch fehlen können. Was die Inhalte der Kommunikationen angeht, ist außerdem zwischen erfahrungsbezogenen und formal erlernten Handlungskompetenzen zu unterscheiden; bei den erstgenannten sind SH-Aktivitäten u.U. von Vorteil. Nur sehr selten hat man bisher davon gehört, daß Professionelle sich bestimmten Gefährdungen oder Belastungen aussetzen, um besser die Situation ihrer Klienten nachvollziehen zu können. Auf den ersten Blick erscheint die Konkurrenz zwischen SH und Fremdhilfe im Hinblick auf die wirksame Problembeeinflussung (Krankheitsbewältigung und Gesundheitserhaltung) als besonders fragwürdig. Allerdings zeigen Ergebnisse aus dem internationalen Vergleich, daß es kulturell sehr unterschiedliche Normen und gruppenspezifische Schwellenwerte für die Inanspruchnahme professioneller Fremdhilfe gibt. Dies bedeutet keinesfalls, daß die entsprechenden Probleme nicht existieren; sie werden vielmehr im Rahmen der alltäglichen SH, ohne Unterstützung durch das Medizinsystem, bewältigt. Zu den konkurrierenden Bereichen der SH und Fremdhilfe gehö-

58

C. Selbsthilfe im Familienhaushalt

ren u.E. vor allem die Behandlung von Bagatellerkrankungen und Verletzungen, wo Selbstmedikation und nicht-medikamentöse Selbstbehandlung eine wichtige Rolle spielen. Auch bei der dauerhaften Krankenpflege gibt es entsprechende professionelle und selbsthilfebezogene Lösungen. Großes Gewicht haben in diesem Bereich auch die Verweisfunktionen im Hinblick auf die Inanspruchnahme von grundsätzlich verfügbaren Dienstleistungen. Auch hier geht es nicht nur um Kompetenz, sondern ebenso um Vertrauen in die Person des Informanten: Personen, die bestimmte Einrichtungen schon kennengelernt haben oder bestimmte Dienstleistungen schon in Anspruch genommen haben, sind in diesem Sinne besonders glaubwürdige Informanten, da sie - im Kontrast zu dem beratenden Arzt - sehr praktische Einzelprobleme und Einzelfragen des interessierten Gesprächspartners beantworten können. Schließlich müßten in diesem Kontext auch diejenigen Behandlungsformen mit einbezogen werden, die im Rahmen des etablierten Medizinsystems verpönt oder ignoriert werden, also all diejenigen Bereiche, die im allgemeinen unter dem Stichwort "alternative Medizin" praktiziert werden. Die hier vorgenommenen Zuordnungen sind in verschiedenen Hinsichten noch vorläufig und bedürfen einer empirischen Bestätigung. Auch durch andere Definitionen von Selbsthilfe könnten sich davon abweichende Akzentsetzungen ergeben. Gleichwohl bleibt die Notwendigkeit bestehen, die substitutionsfähigen alltäglichen Aktivitäten der Bevölkerung (mit Gesundheits- und/oder Krankheitsbezug) als einen nur kleinen Anteil am Gesamtbestand diesbezüglicher Laienaktivitäten anzusehen. Graphisch ließe sich das so darstellen (vgl. hierzu auch Fry 1 978, 38ff . ) :

SH in Substitutionskonkurrenz zu professioneller Fremdhilfe SH in Ergänzung zur (Professionellen Fremdhilfe SH ohne Konkurrenz

Zum Verhältnis von Selbsthilfe und medizinischer Fremdhilfe

Um die Inhalte der alltäglichen SH in qualitativer und quantitativer Hinsicht besser einschätzen zu können, was als Voraussetzung zur konkreteren Klärung der Substitutionsfrage anzusehen ist, werden im folgenden einige Ergebnisübersichten aus der Haushaltsbefragung dargestellt.

2.2 Die Bedeutung verschiedener primär-sozialer Bezuqsgruppen für die Breite und Intensität der Selbsthilfe-Erfahrung in der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland

2.2.1 Die Befragten in der Rolle von "Hilfesuchenden" Untersucht man die SH-Erfahrungen zunächst im Hinblick auf die individuelle Problembewältigung

(Hilfe für sich selbst)

und im Hinblick auf die "Inanspruchnahme" von Hilfen aus den primär-sozialen Bezugsgruppen der Bevölkerung, so zeigt sich, daß die Aktivierung von Selbsthilfe, um mit eigenen Krankheits- und Gesundheitsproblemen fertig zu werden, zu den kulturellen Selbstverständlichkeiten in der Bundesrepublik Deutschland gehört. Nur 8% der befragten Personen sagen aus, daß sie keine der in der Frage aufgeführten Unterstützungsleistungen (i.S. individueller und sozialer Selbsthilfe) für sich in Anspruch genommen haben. Dagegen haben 92% der Bevölkerung zumindest in der einen oder anderen Hinsicht schon individuelle oder soziale Selbsthilfe zur Bewältigung der eigenen Probleme aktiviert. Allerdings geschieht dies in quantitativ recht unterschiedlicher Weise, wie die folgenden Einzelergebnisse zeigen: - Ich helfe mir selbst, indem ich Maßnahmen ergreife, die mir helfen, gesund zu werden, z.B. Einnahme von Medikamenten oder Veränderung von Lebensgewohnheiten oder häufige Bettruhe usw.: 26% haben dies sehr häufig gemacht, 51% haben dies gelegentlich schon gemacht. - Ich hole mir Informationen und Rat von Familien- bzw. Haushaltsmitgliedern: 16% haben dies schon sehr häufig gemacht, 47% haben dies gelegentlich schon gemacht. - Ich lasse mich von Familienmitgliedern durch praktische Hilfen unterstützen, z.B. Verbandwechsel oder Hilfestellung beim Waschen und Anziehen usw.: 12% haben dies schon sehr häufig gemacht, 37% haben dies gelegentlich schon gemacht. - Ich frage Freunde und Bekannte, wie sie meine Gesundheitssituation beurteilen und was ich am besten tun soll: 3%

59

60

C. Selbsthilfe im Familienhaushalt

haben dies schon sehr häufig gemacht, 23% haben dies gelegentlich schon gemacht. - Ich bitte Nachbarn um Unterstützung bei der alltäglichen Lebensbewältigung: 1% hat dies schon sehr häufig, 8% haben dies gelegentlich schon gemacht. - Ich bitte Arbeitskollegen um besondere Unterstützung am Arbeitsplatz: 1% hat dies sehr häufig, 8% haben dies schon gelegentlich gemacht. - Ich nehme an einer Selbsthilfegruppe teil, wo ich Leute treffe, die die gleichen Schwierigkeiten und Beschwerden haben wie ich: 1% hat dies schon sehr häufig gemacht, 2% haben dies gelegentlich schon gemacht.

2.2.2 Die Befragten in der Rolle der "Hilfegewährenden" Wichtigste Voraussetzung für die Möglichkeit, Unterstützung durch die verschiedensten sozialen Bezugsgruppen der befragten Personen zu aktivieren, ist die Bereitschaft der Bevölkerung, anderen Personen Hilfe bei Krankheits- und Gesundheitsproblemen anzubieten. Immerhin 22% der Befragten geben hier an, in keiner der sechs u.a. Formen der Hilfegewährung bisher aktiv gewesen zu sein. Dennoch zeigt die folgende Auflistung der einzelnen Aktivitäten, daß bis zu zwei Drittel der Bevölkerung die eine oder andere Form der gesundheitsoder krankheitsbezogenen Hilfestellung an andere schon gegeben haben: - Ich helfe kranken Familienmitgliedern konkret und praktisch bei der Krankheitsbewältigung, z.B. durch Verbandswechsel oder Hilfestellung beim Waschen und Anziehen: 23% haben es schon sehr häufig gemacht, 41% schon gelegentlich. - Ich übernehme auch dauerhafte Pflegetätigkeiten in der Familie oder bei Verwandten, falls damit z.B. ein längerer Krankenhausaufenthalt o.ä. vermieden werden kann: 6% haben dies schon sehr häufig gemacht, 14% gelegentlich schon einmal . - Ich unterstütze Freunde bzw. gute Bekannte mit Informationen und Ratschlägen in schwierigen krankheitsbedingten Situationen: 8% haben dies schon sehr häufig, 35% gelegentlich schon einmal gemacht. - Ich nehme Einfluß auf das gesundheitsschädigende Verhalten von Freunden und Bekannten, z.B. bei zu starkem Rauchen oder bei Arbeitsüberlastung oder Alkoholmißbrauch usw.: 6% haben dies schon sehr häufig gemacht, 29% haben es gelegentlich schon gemacht. - Ich unterstütze auch Nachbarn, mit denen ich keinen engeren Kontakt habe, bei krankheitsbedingten Schwierigkeiten im Alltag: 2% haben dies schon sehr häufig gemacht, 11% schon gelegentlich.

Zum Verhältnis von Selbsthilfe und medizinischer Fremdhilfe

- Ich unterstütze Arbeitskollegen bei krankheitsbedingten Schwierigkeiten am Arbeitsplatz: 2% haben dies schon sehr häufig gemacht, 14% gelegentlich schon.

2.2.3 Die soziale Selektivität in der Selbsthilfe-Praxis Diese Ergebnisse zeigen - in ähnlicher Weise wie die vorangegangenen -, daß die Häufigkeit der bereits geleisteten Hilfe in besonderem Maße davon abhängt, wem diese Hilfeunterstützung gewährt wird. Angesichts dieser Zahlen muß man - ungeachtet der insgesamt breiten SH-Erfahrung der Bevölkerung von einer "sozialen Selektivität" gesundheits- und krankheitsbezogener Hilfegewährung sprechen. Darüber hinaus wird auch deutlich, daß im Vergleich zu dem Umfang der Hilfeinanspruchnahme die Hilfeleistungen für andere Personen durchweg häufiger durchgeführt worden sind. Soweit dies auf einem solch allgemeinen Niveau der Argumentation möglich ist, kann man von der Asymmetrie des Helfens und des Geholfenwerdens sprechen. Solche asymmetrischen oder nur teilweise reziproken Beziehungen zwischen der Rolle des Helfers und der des Hilfeinanspruchnehmenden kommt auch innerhalb einzelner sozialer Bezugsrahmen zum Ausdruck. Im Hinblick auf den Haushalt bzw. die Familie ist im einzelnen nachgefragt worden, wen man am ehesten aus dem Familien-, Verwandten- und Freundeskreis um Informationen darüber bitten würde, wie man ein möglichst gesundes Leben führt. Die Antworten auf diese Frage zeigen, daß die Mütter und Ehefrauen mit 64% der ersten Wahlen (gegenüber dem Vater und Ehemann mit 21% der ersten Wahlen) eine ganz dominierende Rolle in der gesundheits- und krankheitsbezogenen Unterstützung anderer Haushaltspersonen spielen. Alle anderen Personen werden erheblich seltener gewählt (Sohn 2%, Tochter 2%; alle anderen unter 1%). Ein sehr ähnliches Bild ergibt sich auch dann, wenn nicht nach Informationen über eine gesunde Lebensführung gefragt wird, sondern wenn es um praktische, tatkräftige Hilfe geht, die von anderen zu erbitten ist. Auch hier spielt die Mutter bzw. Ehefrau (mit 62%) die dominante Rolle. Bereits auf diesem allgemeinen Niveau der Analyse zeigen sich deutliche Formen der Arbeitsteilung im Haushalt und im Familienkreis, die ihrerseits Rückbezüge auf die Substitutionsproblematik erforderlich macht. Die alltägliche Bewälti-

61

62

C . Selbsthilfe im Familienhaushalt

gung von Gesundheits- und Krankheitsproblemen weist sehr nuancierte personelle, situative und mikrostrukturelle Rahmenbedingungen auf (besondere Eigenerfahrungen, soziale und räumliche Nähe der Helfenden u.v.a.m.), über deren Ersetzbarkeit Punkt für Punkt Rechenschaft abgelegt werden muß. Ebenso wichtig (für die Prüfung der Substitutionsthese) wie die Verfaßtheit des sozialen Netzes ist die detaillierte Beschreibung der konkreten Aktivitäten, die zur Gesunderhaltung und Krankheitsbewältigung durchgeführt werden. Auch hierzu muß im einzelnen gefragt werden, ob und in welcher Breite und/oder Intensität hierfür Alternativen zur Verfügung stehen, die nicht auf dem Prinzip der SH basieren.

2.3 Anlaß- und Aktivitätsschwerpunkte der alltäglichen Selbsthilfe im Haushalt Hinter den o.a. allgemeinen Formen von SH verbergen sich sehr viele unterschiedliche Selbsthilfeaktivitäten (z.B. Puls fühlen, Bewegungsübungen), d.h. Handlungen, die sowohl als Reaktionen auf Krankheiten und Beschwerden durchgeführt werden als auch im Kontext der alltäglichen "gesunden Lebensführung" stehen (z.B. ausgewogene Ernährung). Wie die Tabelle auf den folgenden Seiten zeigt, wurde versucht, möglichst deutlich abgrenzbare, aber relativ verhaltensnahe Typen gezielt vorsorgenden Verhaltens einerseits und auf die Bewältigung von Krankheiten und ihre Folgen gerichteten Verhaltens andererseits zu formulieren /7/. Die Ergebnisse zeigen, daß die ausgewählten konkreten Inhalte der SH keinesfalls trivial oder selbstverständlich sind. Im Hinblick auf die zehn Items zur präventiven SH läßt sich zunächst feststellen, daß 87% der Befragten die Hälfte der Items oder weniger angekreuzt haben; nur 13% der Befragten haben also mehr als die Hälfte dieser zehn aufgeführten Aktivitäten schon selber durchgeführt. Besonders häufig erwähnt wurden: gezielte Maßnahmen zur Verhütung von Unfällen im Haushalt (52%); gezielte Einführung besonderer Ernährungs- und Eßgewohnheiten (50%) und im Haushalt durchgeführte Selbstuntersuchungen (43%). Besonders selten genannt wurden die folgenden präventiven Aktivitäten: Einführung besonderer hygienischer Maßnahmen zur Vermeidung spezifischer Krankheiten (31%); im Haushalt durchgeführte

Zum Verhältnis von Selbsthilfe und medizinischer Fremdhilfe

Tabelle:

Produzierte

737

Formen f a m i l i ä r e r

Haben Sie oder andere M i t g l i e d e r in Ihrsn Haushalt schon einmal folgende A k t i v i t ä t e n durchgeführt?

Selbsthilfe

Ja, auch i n 198o %

63

(N= 2 o 3 7 )

Nicht i n 198o, aber früher %

Nein, noch nicht %

a) g e z i e l t e Maßnahmen zur Verhütung von Unf ä l l e n im Haushalt: z.B. Steckdosensicherung oder Verschluß von schädlichen Putzmitteln usw.

25,7

26,o

48,1

b) g e z i e l t e Sportaktivitäten entwickeln, um bestürmte Krankheiten - wie z.B. Herzinf a r k t - zu vermeiden

33,6

4,4

62,o

c ) Einführung besonderer hygien. Maßnahmen zur Vermeidung s p e z i f . Krankheiten

14,9

5,7

79,2

d) g e z i e l t e Einführung besonderer Ernährg.urd Eßgewchnheiten: z.B. im s p e z i f . Krankheiten zu vermeiden oder um das Gewicht zu halten usw.

44,4

5,2

5o,3

e ) Verzicht oder begrenzter Genuß von Tabak oder Alkohol aus Angst vor Lungenkrebs oder Leberschäden usw.

25,8

6,8

67,2

f ) im Haushalt durchgeführte Selbstuntersuchungen, um krankhafte Veränderungen an sich oder b e i anderen Familienmitgliedern f e s t s t e l l e n zu können: z.B. Abtasten der Brust auf Knotenbildung oder Gewichtskontrolle des Partners usw.

36,3

6,3

57,2

g) im Haushalt durchgeführte Kontrolle bzw. Überprüfung zentraler Körperfunktionen: z.B. Puls fühlen o . Blutdruck messen

18,1

7,o

74,4

h) b&iußte Vermeidung V.Situationen pers. oder p r i v . K o n f l i k t e , d i e zu besond. psychischen Belastungen führen, und Bemühungen um e i n harmonisches Miteinander

23,1

8,2

67,9

i ) Gespräche im HH über gesundheitsschädigende Verhaltensweisen mit dem Z i e l , d i e s e p o s i t i v zu verändern: z.B. Gespräche über übermäßigen Alkoholkonsum o . über riskantes Fahrverhalten o . über z u v i e l A r b e i t im Beruf usw.

3o,8

9,o

59,3

k) g e g e n s e i t i g e emotionale H i l f e s t e l l u n g u. Unterstützung bei besonderer p6ych. Belastung einzelner HH-Mitglieder

2o,6

9,o

69,4

64

C. Selbsthilfe im Familienhaushalt

Tabelle:

Fortsetzung ja, auch i n 198o

nicht i n 198o, aber früher

nein, noch nicht

1) Einnahme von Medikamenten, d i e nicht v . A r z t verschrieben wurden

34,o

9,7

56,1

m) Einnahme v . Naturheilmitteln oder von Heilkräutern

29,4

8,2

62,2

o ) beten, daß d.Krankheit vorüber geht

16,8

1o,o

73,o

p) nicht-medikamentöse Selbstbehandlung: z.B. Anlegen V.Verbänden o. Säuberung v.Wunden o. Selbstmassage usw.

36,9

19,7

43,2

q) Beweg.Training, gymn.Übungen o . autogenes Training

33,4

6,7

59,7

r ) einschneidende Verändg. v . Lebensgewohnheiten, um d.Genesung zu beschleunigen

9,8

8,5

81,3

s) prakt. g e g e n s e i t i g e H i l f e im Rahmen des HH: z.B. Grundpflegetätigkeiten bei b e t t l . Kranken oder Verabreichen v . Medikamenten o. Blutdruckmessen o. Verbandswechsel usw.

17,9

24,3

57,5

t ) Besuche v.kranken HH-Angeh. im Krhs.

19,9

4o, 3

39,4

u) besond.eiiDtionale Zuwendg. u. Verständnis f . d . im HH erkrankten Personen: z.B. häufiger miteinander sprechen o. mehr Z e i t f . d . Kranken haben usw.

2o,9

27,4

51,3

v ) Austausch V.Ratschlägen, wo e i n krankes HH-Mitglied kompetente H i l f e f i n d e t : zB. Eltpfehlg.v.Ärzten o . Krhs. o . B e r a t . S t e l .

13,5

22,9

63,0

w) Entlastg.Kranker V.Anforderungen d . t ä g l . Lebens: zB. Umorganisation v.HH-Aktiv. o . Neuverteilung d. Hausarbeit usw.

11,4

19,2

69,3

x) Rücksichtn. d.ganzen Familie bei d.Erkrankg.eines Angehörigen: zB. Vermeidg. v.Lärm o.Konsumverzicht, um d.Kranken d.Nichtrauchen o.Diätessen z . e r l e i c h t e r n

15,6

25,3

59,1

y ) Verändg.d.häusl. Umgebung bei bestimmten Symptanen: zB. Zirrmerluft befeuchten o. Wohnräume bes. warm o . k a l t halten o. Wohnortwechsel usw.

12,6

15,0

72,3

z ) zukunftssichernde Maßnahmen f.Kranke u. Behinderte e r g r e i f e n : zB. sich um einen geeign. A r b e i t s p l a t z f . e i n behindertes HH-Mitglied bemühen o. finanz. H i l f e n zur Verfügung s t e l l e n usw.

1,7

6,5

91,7

Z u m V e r h ä l t n i s v o n Selbsthilfe u n d m e d i z i n i s c h e r Fremdhilfe

Kontrollen zentraler Körperfunktionen

65

(26%) und gegenseitige

emotionale Hilfestellung und Unterstützung Im Hinblick auf die krankheitsbezogenen

(31%).

Selbsthilfeaktivitä-

ten sind erwartungsgemäß die diesbezüglichen Erfahrungen noch punktueller in der Bevölkerung verteilt, weil sie im Einzelfall vom Vorhandensein spezifischer Krankheitsbelastungen abhängen. So zeigt sich z.B., daß 94% der Befragten nur die Hälfte der Items oder sogar weniger ankreuzen, also nur in 6% der bundesdeutschen Haushalte mehr als die Hälfte dieser Aktivitäten schon realisiert wurden. Besonders häufig liegen Erfahrungen mit folgenden krankheitsbezogenen SH-Aktivitäten vor: Besuche von kranken Haushaltsangehörigen im Krankenhaus (61%); nicht-medikamentöse Selbstbehandlung

(57%) und beson-

dere emotionale Zuwendung und Verständnis für die im Haushalt erkrankten Personen (49%). Besonders selten werden dagegen angegeben: beten, daß die Krankheit vorübergeht (27%); einschneidende Veränderung von Lebensgewohnheiten, um die Genesung zu beschleunigen

(19%) und zukunftssichernde Maßnah-

men für Kranke und Behinderte ergreifen (8%). Dieses Gesamtbild der recht unterschiedlichen Erfahrungen der Bundesbürger mit den verschiedenen SH-Aktivitäten, seien sie primär vorsorgender oder primär krankheitsbewältigender Natur, wird in der Tendenz noch komplexer, wenn die konkreten einzelnen Handlungen und ihre Anlässe berücksichtigt werden, die von den Befragten als ergänzende Erläuterungen formuliert wurden. Im folgenden wird lediglich ein Überblick über die häufigsten konkreten Anlässe gegeben, die 198o zu SH-Aktivitäten in den Haushalten geführt haben (vgl. Tabelle auf der nächsten Seite). Dabei beschränken wir uns auf jene Anlässe, die in über 5% der Haushalte, die SH-Aktivitäten durchgeführt haben, genannt wurden. Aus der Tabelle geht hervor, daß in über 50% der Haushalte ganz unspezifisch gesagt wird, daß für die Durchführung bestimmter SH-Aktivitäten "irgendwelche" Krankheiten der Anlaß waren. Auf den routinehaften Charakter vieler Aktivitäten verweist besonders deutlich die Antwort "ohne bestimmten Anlaß, nur so", die von 23% der Haushalte formuliert wurde /9/. In fast 40% aller Haushalte wird die Erhaltung oder Erreichung eines bestimmten Körpergewichts als Ziel der SH-Aktivitäten genannt. Aber auch andere präventive Überlegungen

66

C. Selbsthilfe im Familienhaushalt

Tabelle: Die häufigsten konkreten Anlässe, die 198o zu Selbsthilfe-Aktivitäten im Haushalt geführt haben

Anlaß für Selbsthilfe-Aktivitäten 1 . Krankheit allgem.

(ohne Spezifikation)

der Haushalte 54 3

2 . Probleme mit Körpergewicht

39 8

3. Vorsorge ohne Spezifikation

29 2

4 . kleine Unfälle

23 3

5. ohne bestimmten Anlaß

23 o

6. Begründung zur Erhaltung der Gesundheit

22 9

7 . Halsschmerzen/Erkältung

21 6

8. verbesserte Fitness

21 3

9. Vermeidung/Kontrolle spez. Krankheiten

2o 9

1o

Vorsorge für Kinder

1 1 Herz-/Kreislauferkrankung 12

Kopfschmerzen

17 6 156 1 52

1 3 allgemeiner Krankenhausaufenthalt

1 18

1 4 Vermeidung von häuslichen/persönlichen Belastungen

11 6

1 5 Krankheiten der oberen Luftwege

11 5

1 6 Unfall/Gift/Gewalt

1o 9

1 7 Berufsprobleme

9 3

18

Krankheiten des Skeletts/der Muskeln

19

Verbesserung/Erhaltung des Wohlbefindens

8 9

2o

Kreislaufbeschwerden

7 8

21

Beschwerden ohne Spezifikation

7 5

22

Beschreibung eines negativen Zustandes, der geändert werden soll

7 1

23

Rücken-/Gliederschmerzen

6 o

24

Probleme mit Nikotinkonsum

5 6

25

Leberkrankheiten

5 6

26

Probleme mit Alkoholkonsum

5 6

•t

8 9

Prozentuierungsbasis sind für jede Zeile die 1845 Haushalte, die Anlässe für die Durchführung von Selbsthilfe-Aktivitäten angegeben haben.

Zum Verhältnis von Selbsthilfe und medizinischer Fremdhilfe

sind von erheblicher Bedeutung. So wird in fast einem Drittel aller Haushalte eine allgemeine Krankheitsvorsorge als Motiv für die Durchführung von Gesundheitsmaßnahmen genannt. Anlässe, die im psychisch-emotionalen Bereich liegen, sind von relativ geringerem Belang. Die häufigsten Einzelkrankheiten, die zu SH-Maßnahmen im Haushalt führen, sind Unfälle, Krankheiten der oberen Luftwege und Krankheiten des Skeletts und der Muskeln. Bei den Krankheitssymptomen sind Halsschmerzen (Erkältung), Kopfschmerzen und Kreislaufbeschwerden die häufigsten Auslöser von SH-Aktivitäten.

2.4 Wege zur empirischen Überprüfung der Substitutionsthese Nach der Beschreibung wichtiger SH-Aktivitäten, ihrer Anlässe und der an ihnen beteiligten sozialen Netze, die zunächst nur den Gegenstandsbereich der Substitutionsdiskussion präzisiert hat, können wir nun auf die These selbst zurückkommen. Wie einleitend erläutert, wird durch sie die Frage aufgeworfen, ob und in welchen Hinsichten professionelle Dienstleistungen (im Umfeld von Gesundheit und Krankheit /1o/) durch SH ersetzt werden können und umgekehrt, ob die auf praktische Erfahrung aufbauende SH durch professionelle Dienstleistungen verdrängt wird (werden kann). Um die in der öffentlichen Diskussion meist überwiegenden "Spekulationen" hierüber zu überwinden, gibt es zwei Überprüfungsstrategien: Die eine besteht im experimentellen Nachweis vorhandener Substitutionsmöglichkeiten

(z.B. in Modellvorhaben); die

zweite besteht im empirischen Nachweis bereits vorhandener Substitutionskonkurrenz. Zu letztgenannter Strategie erlauben unsere empirischen Ergebnisse einige Schlußfolgerungen, weil wir neben den SH-Aktivitäten und -Erfahrungen der Bevölkerung auch die Inanspruchnahme professioneller Dienstleistungen (seien sie ärztlicher, krankenpflegerischer oder sozial-beratender Natur) quantitativ erfaßt haben. Damit können wir u.a. zwei Typen von Prüffragen zur Substitutionsthese beantworten /II/: a) Weisen Haushalte mit großem (faktischen) SH-Engagement eine unterdurchschnittliche Inanspruchnahme professioneller Dienstleistungen auf? b) Weisen Haushalte mit besonders kritischer Einstellung zum Medizinsystem eine unterdurchschnittliche Inanspruchnahme

67

68

C . Selbsthilfe im Familienhaushalt

professioneller Dienstleistungen auf? Die Operationalisierung der Fragen kann dabei jeweils auf sehr unterschiedlichen Aggregationsniveaus erfolgen (SH-Niveau vs. Inanspruchnahme-Niveau; einzelne SH-Inhalte vs. einzelne Inanspruchnahme-Inhalte; einzelne SH-Anlässe vs. einzelne Inanspruchnahme-Anlässe u.a.m.). Hierzu einige Ergebnisse: Zunächst wurde geprüft, ob diejenigen Personen, die sehr viele verschiedene SH-Aktivitäten praktizieren, seltener Zahnärzte, Ärzte, Krankenhäuser in Anspruch nehmen oder vom Arzt verwendete Medikamente einnehmen. Keiner dieser untersuchten vier Korrelationszusammenhänge zeigt eine solche Tendenz an; im Gegenteil: jede dieser Korrelationsbeziehungen

(Selbsthilfeintensität vs. Nutzungs-

intensität) ist signifikant (S = o.ool) und weist eine positive Beziehung dergestalt auf, daß mit einer größeren Anzahl von SH-Aktivitäten auch eine stärkere Inanspruchnahme von Zahnärzten, Srzten etc. verbunden ist. Betrachtet man nun das Verhältnis von einzelnen Aktivitäten der SH zu der o.a. Inanspruchnahme von Srzten etc., so ergibt sich überwiegend das gleiche Bild; besonders intensiv hängt die individuelle Selbsthilfe mit der Inanspruchnahme des Medizinsystems zusammen (hier werden die höchsten Korrelationswerte erzielt). Ausnahmen von diesem Prinzip, daß nämlich mit verstärkter SH auch eine verstärkte Inanspruchnahme von Ärzten, Medikamenten und Krankenhäusern betrieben wird, bilden nur solche Personen, die überproportional häufig Unterstützungsleistungen von Arbeitskollegen erhalten - und zwar besonders von solchen, die selbst mit dem Medizinsystem (i.w.S.) zu tun haben. Wie die detaillierte Analyse belegt, wird damit die Tendenz angezeigt, daß die Bekannten oder Freunde von Personen mit gesundheitsbezogenen Berufen am deutlichsten anstelle der Inanspruchnahme von Ärzten, Zahnärzten und Krankenhäusern etc. Selbsthilfe praktizieren/aktivieren /1 2 / . Ein vom generellen Trend abweichendes Bild zeigt auch diejenige Gruppe der Befragten, die selber Erfahrungen mit Selbsthilfegruppen haben bzw. solche Erfahrungen durchaus für wünschenswert halten: Dies gilt vor allem für die Inanspruchnahme von Ärzten und verschriebenen Medikamenten; jedoch ist dies nicht signifikant. Die Teilnahme an Selbsthilfegruppen bzw. die Bereitschaft zu einer solchen Teilnahme führt also

Zum Verhältnis von Selbsthilfe und medizinischer Fremdhilfe

weder zu einer über- noch zu einer unterproportionalen Inanspruchnahme von Ärzten, Krankenhäusern und Medikamenten. Sieht man einmal von den faktischen Nutzungsintensitäten von Selbsthilfe und professioneller Fremdhilfe ab, so wird im Hinblick auf die Substitutionshypothese vielfach auch behauptet, daß Personen, die sich für die Selbsthilfegruppen engagieren, besonders kritisch gegenüber dem Medizinsystem eingestellt sind. Diese Vermutung wird insbes. durch die verschiedenen Aktionen der Selbsthilfebewegung

(z.B. Gesund-

heitsläden und der Gesundheitstag) nahegelegt. Solche Vermutungen werden von unseren Daten - die allerdings nur einige wenige diesbezügliche Einstellungsitems enthalten - nicht bestätigt. Von besonderer Bedeutung sind dabei jene Items, die direkt auf alternative Formen der Krankheitsbewältigung abheben: Es ist besser, man holt sich Rat bei Personen, die selbst von einer gleichen Krankheit oder Behinderung betroffen sind (dem stimmen nur 23% der Befragten zu); es ist besser, mit natürlichen Heilmethoden und Heilkräutern behandelt zu werden als mit Tabletten und großem medizinischen Gerät (nur 32% der Befragten stimmen diesem Item zu). Die überwiegende Mehrheit der befragten Personen verhält sich also durchaus konform mit der allgemeinen Behauptung der Leistungsfähigkeit des Medizinsystems - obwohl sie alle nachweislich vielfältige individuelle und soziale Selbsthilfemöglichkeiten aktivieren. Betrachtet man nun spezieller diejenigen Zusammenhänge, die in der Substitutionshypothese unterstellt werden, so werden diese Grundtendenzen erneut bestätigt. Insgesamt läßt sich sagen, daß mit zunehmender Selbsthilfeaktivität in den traditionellen Bereichen

(individuelle Selbsthilfe; Selbsthilfe

im Haushalt, im Familien- und Freundeskreis) eine eher positive Einstellung zur Inanspruchnahme des Medizinsystems besteht. Keine Zusammenhänge ergeben sich im Hinblick auf diejenigen Personengruppen, die Arbeitskollegen stärker in die Selbsthilfeaktivitäten einbeziehen, die Selbsthilfegruppen und Selbsthilfeorganisationen unterstützen sowie Paraprofessionelle in Anspruch nehmen oder auch das alternative Medizinsystem (Gesundbeter o.ä.) aufsuchen würden. Zusammenfassend wird man also auch in bezug auf die Einstellungen der Befragten sagen können, daß nur sehr geringe An-

69

70

C. Selbsthilfe im Familienhaushalt

satzpunkte für die Implikationen der Substitutionshypothese existieren. Für die traditionellen Formen der individuellen und sozialen SH gilt, daß damit überproportional positive Einstellungen zum Medizinsystem verbunden sind, während für die Befürworter von Selbsthilfegruppen und alternativer Medizin eine leichte Tendenz dahingehend besteht, die Inanspruchnahme des Medizinsystems kritischer zu beurteilen und auf diesbezügliche Dienstleistungen eher zu verzichten. Andererseits haben jedoch die Ergebnisse bzgl. der Inanspruchnahme der verschiedenen Angebote medizinischer Dienstleistungen gezeigt, daß sich auf der Verhaltensebene solche Einstellungsnuancen (zumindest bisher) nicht erkennbar auswirken.

з. Zur Bestimmung "selbsthilfearmer" Bevölkerungsgruppen

Soweit dies auf der Grundlage der uns zur Verfügung stehenden empirischen Befunde möglich ist, zeigt die Bevölkerung anstelle des substituierenden eher ein kumulierendes Verhalten im Verhältnis von SH-Aktivierung und Inanspruchnahme professioneller Dienstleistungen. Mit Blick auf die oben (2.1) skizzierten Relationsformen bedeutet dies, daß der Anteil der sich ergänzenden Vorgehensweisen (zu Lasten der konkurrierenden) vergrößert würde. Damit lassen sich Hoffnungen, Vermutungen oder Behauptungen nicht stützen, a) die eine deutliche Kostenentlastung (im Gesundheitssystem) durch SH erwarten; b) die eine Wendung zur "alternativen Medizin" erwarten; c) die eine Ausdehnung der "Expertenherrschaft" auf die verbliebenen Bereiche von Laienhandeln und Laienkompetenz für leicht zu verwirklichen halten. Für die Fragestellungen unseres Projektes wird damit die Notwendigkeit unterstrichen, die alltägliche SH zur Gesunderhaltung und Krankheitsbewältigung als notwendigen und größtenteils nicht durch professionelle Dienstleistungen ersetzbaren Faktor i[n Gesundheitswesen anzusehen. Die daraus ableitbaren (praktisch-politischen) Zielvorstellungen lauten и.E. deshalb: Wie läßt sich ggfs. die Qualität der SH verbessern? Und: Wie lassen sich diejenigen gesellschaftlichen Gruppen auffinden, die aufgrund ihrer mangelnden SH-Erfahrungen und Ressourcen als "selbsthilfebezogene Risikogruppen" bezeichnet werden könnten? Zum letztgenannten Gesichtspunkt werden im folgenden einige empirische Ergebnisse beschrieben und erörtert.

Zum Verhältnis von Selbsthille und medizinischer Fremdhilfe

Bei der Erfassung der SH-Erfahrungen der Bevölkerung war für die Befragten auch die Möglichkeit gegeben, darauf hinzuweisen, daß sie einzelne Formen von primär-sozialer SH nicht aktivieren können oder aktivieren wollen: - Ich helfe mir selbst, indem ich Maßnahmen ergreife, die mir helfen, gesund zu werden etc.: 6% würden es grundsätzlich nicht tun. - Ich hole mir Informationen und Rat von Familien- bzw. Haushaltsmitgliedern: 15% würden es grundsätzlich nicht tun. - Ich lasse mich von Haus- und Familienmitgliedern in praktischen Hilfen unterstützen etc.: 14% würden es grundsätzlich nicht tun. - Ich frage Freunde und Bekannte, wie sie meine Gesundheitssituation beurteilen, was ich am besten tun soll: 42% (!) würden es grundsätzlich nicht tun. - Ich bitte Nachbarn um Unterstützung bei der alltäglichen Lebensbewältigung: 59% (!) würden es grundsätzlich nicht tun. - Ich bitte Arbeitskollegen um besondere Unterstützung am Arbeitsplatz: 59% (!) würden es grundsätzlich nicht tun. - Ich nehme an einer Selbsthilfegruppe teil, wo ich Leute treffe, die die gleichen Schwierigkeiten und Beschwerden haben wie ich: 61% (!) würden es grundsätzlich nicht tun. Die Größe des Personenkreises der Befragten, die im Hinblick auf die verschiedenen Selbsthilfe-Ressourcen keine Möglichkeit der Inanspruchnahme oder Aktivierung sehen, ist z.T. beachtlich. Im Hinblick auf die Nachbarschaftshilfe, die Hilfe unter Arbeitskollegen und die Teilnahme an Selbsthilfegruppen sind es immerhin etwa zwei Drittel der Bevölkerung. Aber selbst bei der individuellen SH sind es 6%, bei den Unterstützungen im Haushalt immerhin auch 15% der Befragten, die eine solche Unterstützung durch primär-soziale Gruppen entweder nicht zur Verfügung haben oder aus bestimmten Gründen nicht in Anspruch nehmen würden. Grundsätzlich müssen diese Gruppen der Bevölkerung insofern als "Risikogruppen" angesehen werden, als sie u.U. für die alltägliche Bewältigung von Problemen der Gesunderhaltung und Krankheitsbewältigung keinen ausreichenden sozialen Unterstützungsrahmen besitzen. Zur näheren Analyse dieses Problems wurden von uns zwei Personengruppen gebildet (Risikogruppen), die durch folgende Merkmale charakterisiert sind: In der Risikogruppe 1 fassen wir die Personen zusammen, die sich auch dann nicht durch Familienmitglieder kommunikativ

71

72

C. Selbsthilfe im Familienhaushalt

und praktisch unterstützen lassen würden/können, wenn sie in einer entsprechenden Situation

(der Unterstützungsbedürftig-

keit) wären. Individuelle SH wird von diesen Personen nicht abgelehnt. Zu dieser Gruppe gehören 2o1 Personen

(5,4%).

Zur Risikogruppe 2 fassen wir diejenigen Befragten zusammen, die weder individuelle noch haushaltsinterne SH aktivieren. Zu diesem Personenkreis gehören 73 Personen

(2% der Bevölke-

rung) . Durch die Bildung dieser Risikogruppen ist zwar auch nichts über die Inanspruchnahme primär-sozialer Netze außerhalb des Haushalts gesagt, die möglicherweise zumindest teilweise einen Ersatz für nicht gewollte oder nicht mögliche SH im Haushalt darstellen können. Allerdings zeichnen sich haushaltsexterne Netze durch sehr selektive Aktivitätsschwerpunkte aus, die die Leistungen von Haushaltsmitgliedern nicht ersetzen. Auch zeigen die Korrelationskoeffizienten unserer Analyse, daß mit steigender Ablehnung/Nichtaktivierung von sozialer SH im Haushalt auch die Ablehnung von Hilfen durch andere primär-soziale Netze steigt (Inanspruchnahme von Freunden/Bekannten: r = o.18; von Nachbarn: r = o.14; von Arbeitskollegen: r = o.12). Durch diese Feststellung findet die Definition dieser Personengruppen als Risikogruppen eine weitere Bestätigung: Fehlende haushaltsinterne Unterstützung kann nur selten und punktuell durch andere Selbsthilfeformen ersetzt werden. Bei dem Versuch, die beiden Risikogruppen näher zu beschreiben, zeigt sich zunächst, daß die Personen der Risikogruppe 2 sich einer ausgezeichneten Gesundheit erfreuen. Alle von uns geprüften 14 Variablen und Indizes, die die Inanspruchnahme des Medizinsystems, die Einschätzung des eigenen Gesundheitszustandes und die Beurteilung der eigenen Krankheits-/Beschwerdebelastung beschreiben, zeigen deutliche Prozentsatzdifferenzen zur Risikogruppe 1 und zum Rest der Befragten /13/. Wesentlich krankheitsbelasteter sind dagegen Personen, die der Risikogruppe 1 zuzurechnen sind. Die fehlende haushaltsinterne SH wird z.T. durch überdurchschnittliche Arztkontakte und häufigeren Krankenhausaufenthalt kompensiert. Ähnlich sind sich die Risikogruppe 1 und 2 hinsichtlich ihrer Einstellungen gegenüber der Inanspruchnahme und Beurteilung me-

Z u m Verhältnis von Selbsthilfe und medizinischer Fremdhilfe

73

dizinischer Berufsgruppen und Institutionen. Beide Gruppen beurteilen das etablierte Medizinsystem insgesamt etwas positiver und sind weniger kritisch als andere Bevölkerungsteile einstellt. Besonders ausgeprägt ist dabei aber nur die Risikogruppe 2, die in dieser Hinsicht um 20 Prozentpunkte vom Durchschnitt der Bevölkerung abweicht. Es überrascht in diesem Zusammenhang nicht, daß die Bewertung der Qualität von SH-Aktivitäten bei unseren Risikogruppen deutlich negativer ausfällt. Insbesondere Personen der Risikogruppe 2 sind nicht der Meinung, daß die Inanspruchnahme medizinischer

Dienstlei-

stungen durch Hilfen von Personen aus primär-sozialen Kontexten ersetzt werden können bzw. sogar die bessere Alternative wären. Dies hängt u.a. damit zusammen, daß auch diese beiden Gruppen

(wie schon oben festgestellt) sich in ihren Familien

und ihrer Verwandtschaft wenig anerkannt und unterstützt fühlen

(r = o.2).

Ein bedeutsamer Erklärungsfaktor für die Ablehnung/Nichtaktivierung von SH im Haushalt ist die Haushaltsgröße.

Fast 50%

der Personen, die keine Hilfen durch Haushaltsmitglieder aktivieren würden

(Risikogruppe 1), leben z.Zt. allein. Sie ge-

ben aber gleichzeitig an, auch früher

(also als Mitglieder

von Mehrpersonenhaushalten) noch nie Hilfen durch Haushaltsmitglieder in Anspruch genommen zu haben. Die konsequenten SH-Ablehner der Risikogruppe 1 unterscheiden sich demgegenüber kaum von anderen Bevölkerungsteilen, wenn man die Haushaltsgröße als Bezugspunkt nimmt. Hinsichtlich der Quantität und Qualität der Kontakte mit Personen primär-sozialer Netze außerhalb des Haushalts läßt sich feststellen, daß mit zunehmender SH-Ablehnung seltener guter Kontakt zu Nachbarn besteht 0.08)

(r = o.o7), die Größe des Freundeskreises abnimmt und seltener mit dem Partner

Haushaltsangehörigen

(r = - 0 . 0 8 )

(r =

und anderen

(r = -o.1o) gemeinsam die Freizeit ge-

staltet wird. Fehlende Haushalts-Integration geht also hier in beachtlichem Maße mit einem Mangel an sonstiger Einbindung in soziale Bezugsgruppen einher. Die geringen Aktivitäten mit Haushaltsangehörigen erklären sich für die Risikogruppe 1 dadurch, daß hier viel seltener verheiratete Personen

(37% gegenüber 63% in anderen Bevölke-

rungsteilen) und häufiger geschiedene Personen

(27% : 8%) zu

finden sind. Zudem handelt es sich bei diesen Personen eher um Frauen und ältere Menschen.

74

C. Selbsthilfe im Familienhaushalt

Zusammenfassend kann gesagt werden, daß die von uns analysierten beiden Risikogruppen sich in vielerlei Hinsicht unterscheiden. Radikale SH-Ablehner, also Personen, die auch zu individueller SH im Krankheitsfall nicht bereit sind und auch in der Vergangenheit nicht dazu bereit waren, verfügen über eine recht stabile Gesundheit. Soweit sie sich überhaupt vorstellen können, wegen Gesundheitsproblemen Hilfen in Anspruch nehmen zu müssen, bevorzugen sie eindeutig medizinische Institutionen und Berufsgruppen als Unterstützungsinstanzen. Die Inanspruchnahme primär-sozialer Netze außerhalb der Haushalte wird von ihnen weitgehend abgelehnt. Hinsichtlich haushaltsinterner und individueller Merkmale unterscheiden sich diese Menschen kaum von anderen Bevölkerungsteilen. Ihre psychische Stabilität ist eher überdurchschnittlich gut; allerdings haben sie einen verstärkten Hang zu einer fatalistischen Lebenseinstellung. Wir können diese Personengruppe, von der es in der Bundesrepublik immerhin über eine Mio. Menschen geben dürfte, als medizingläubige Selbsthilfeignoranten bezeichnen. Trotz ihrer augenblicklich robusten Gesundheit müssen sie als Risikogruppe gelten. Zwar kann man annehmen, daß mögliche zukünftige Krankheitsbelastungen Einstellungen verändern und die Bereitschaft zu SH-Aktivitäten fördern. Auch wenn man einen derartigen Wandel in der Auffassung unterstellt, wird die Verwirklichung der notwendigen SH-Aktivierung - die gemäß den o.a. Ergebnissen und Überlegungen allenfalls teilweise durch professionelle Dienstleistungen substituiert werden kann - diesen Personen Schwierigkeiten bereiten. Sie verfügen weder über eigene Erfahrungen hinsichtlich individueller SH, noch haben sie - was noch schwerwiegender sein dürfte - ausreichende qualitative und quantitative Kontakte in und außerhalb der Familie. Personen, die zwar individuelle SH betreiben, aber bisher noch keine Hilfen durch Haushaltsmitglieder in Anspruch genommen haben und auch nicht dazu bereit/in der Lage sind (Risikogruppe 1), gehören anderen Bevölkerungsgruppen an. Ihre Krankheits- und Beschwerdebelastung ist deutlich höher als beim Durchschnitt der Bevölkerung. Individuelle SH-Bemühungen reichen für diese Menschen bei weitem nicht aus und machen verstärkte Arztkontakte und Krankenhausaufenthalte erforderlich. Für fast 50% der Personen dieser Gruppe bestehen z.Zt. auch keine Möglichkeiten, Hilfen durch Haus-

Zum Verhältnis von Selbsthilfe und medizinischer Fremdhilfe

haltsmitglieder in Anspruch zu nehmen, da es sich überdurchschnittlich häufig um nicht verheiratete und geschiedene Personen handelt, die primär in Einpersonenhaushalten leben. Da diese Personen aber auch in der Vergangenheit (also als sie noch nicht alleine lebten) die Inanspruchnahme von Hilfen durch Haushaltsmitglieder abgelehnt haben, kann man annehmen, daß negative Familienerfahrungen die heutige Einstellung mitbestimmen. Wir können davon ausgehen, daß es sich bei Menschen dieser Gruppe weniger um explizite Gegner von SH-Aktivitäten handelt (z.B. im Vergleich zu den Personen, die wir als Risikogruppe 2 beschrieben haben). Es handelt sich vielmehr um Personen, die häufig in ungünstigen Familienumwelten lebten, durch Krankheit, Einsamkeit und Alter gezeichnet, bisher ohne Blick und Phantasie für die Möglichkeiten alltäglicher SH sind. Entgegen unserer ursprünglichen Annahme müssen Personen in der Risikogruppe 1 zumindest aktuell als stärker gefährdet angesehen werden als in der Risikogruppe 2. Aktivierbare Hilfepotentiale für diese besonders selbsthilfebedürftigen Bevölkerungsteile liegen am ehesten noch in der Aktivierung von Freunden/Bekannten und Nachbarn, da - wie unsere Daten zeigen - die Aufgeschlossenheit gegenüber diesen sozialen Gruppen dem Durchschnitt der Bevölkerung entspricht . Bei den weiteren Überlegungen zur Anwendung oder Umsetzung der in diesem Projekt gewonnenen Ergebnisse /14/, d.h. bei dem Bemühen um die Erweiterung der (größtenteils unersetzbaren!) Kompetenz der Bevölkerung im alltäglichen Umgang mit Gesundheits- und Krankheitsproblemen, ist besonders dieser Bevölkerungsgruppe besondere (gesundheitspolitische) Aufmerksamkeit zu widmen.

75

76

C. Selbsthilfe im Familienhaushalt

Anmerkungen /1 /

Das Projekt "Selbsthilfe im Gesundheitswesen" wird von der Projektgruppe Verwaltung und Publikum in Bielefeld durchgeführt. Die Projektleituna liegt bei Dieter Grunow.

/2/

Mit dieser thematischen Akzentsetzung wird nur ein kleiner Ausschnitt aus dem Gesamtvorhaben berücksichtigt. Eine ausführliche Darstellung des Gesamtvorhabens sowie eine Bestandsaufnahme des wissenschaftlichen Diskussionsstandes wurden in Breitkopf u.a. (198o) veröffentlicht. Das theoretische Konzept ist bei Grunow (1981) näher erläutert. Ein umfassender Ergebnisbericht liegt für die erste Untersuchungsphase, die repräsentative Haushaltsbefragung, ebenfalls vor (vgl. Grunow u.a. 1983).

/3/

Die Darstellung der Ergebnisse bezieht sich nur auf diese erste Phase des Projekts, in deren Verlauf insgesamt 2.o37 mündliche Interviews (mit der für Gesundheitsund Krankheitsprobleme im Haushalt besonders häufig befaßten Person) und 3.712 schriftliche Interviews (mit allen Haushaltsmitgliedern) durchgeführt wurden. Im Rahmen der sich daran anschließenden Intensivuntersuchung von etwa 8o ausgewählten Haushalten (Subsample der repräsentativen Stichprobe) wurden verschiedene Themen der ersten Untersuchungsphase vertieft und verfeinert. In intensiven Einzelgesprächen und Gruppendiskussionen sowie in Form von Gesundheitstagebüchern wurden Voraussetzungen und Bewertungen der Selbsthilfepraxis detailliert erfaßt. Erst auf dieser Grundlage kann u.E. geklärt werden, unter welchen Bedingungen Selbsthilfepotentiale und die Kompetenz zum kritischen und selbstbewußten Umgang mit dem Medizinsystem systematisch und wirkungsvoll fortentwickelt werden können.

/4/

Die Auswahl dieses (Teil-)Themas für unseren Beitrag ist damit zu begründen, daß Fragen der Ergebnisanwendung oder -Umsetzung nach Möglichkeit Vorrang erhalten sollen. Dies kann u.E. allerdings nicht geschehen, ohne daß Forschungsergebnisse zur Begründung herangezogen werden. Beim Stand unseres Projektes sehen wir z.Zt. die Möglichkeit eines Anwendungsbezuges nur darin, daß wir zur wissenschaftlich begründeten Klärung solcher praktisch-politischen Fragen beitragen, die gegenwärtig zur Entscheidung anstehen. Zum Anwendungsbezug des Projektes siehe auch die Ausführungen im Koreferat.

/5/

Um auf vielfältige "Empfindlichkeiten" Rücksicht zu nehmen, sei hier nur auf die amerikanische Diskussion verwiesen (Kronenfeld 1979; Katz 1979; Lusky/Ingman 1979; Katz/Levin 198o).

/6/

Diese Beschreibungen stellen den Versuch dar, bisherige Forschungsergebnisse (auch aus dem eigenen Projekt) und (z.T.) auch normative Zuschreibungen in groben Zügen zusammenzufassen. Damit sollen - wenn auch in manchen Punkten noch etwas spekulativ - die Aufgaben, Inhalte und Handlungserfordernisse bestimmt werden, um die es im Rahmen der Substitutionskonkurrenz geht (oder u.U. auch gar nicht geht). Die Ausführungen sollen auch zeigen, daß die Substitutionsproblematik nur für einen kleinen Teilbereich der alltäglichen Selbsthilfe im Gesund-

Zum Verhältnis von Selbsthilfe und medizinischer Fremdhilfe

heitswesen von Belang ist. (Dies schließt nicht aus, daß diese wenigen Bezugspunkte von großer politischer Brisanz sind.) /7/

Mit Blick auf das Koreferat ist hier besonders zu betonen, daß nicht nur primär-präventives Handeln berücksichtigt wurde, sondern ein viel breiteres Erfahrungsspektrum zu erfassen war, so daß nicht jede wünschenswerte Nuance qua Itemvergabe berücksichtigt werden konnte. Durch die offene Nachfrage "Was haben Sie in dieser Hinsicht konkret gemacht?" lassen sich u.E. aber viele zusätzliche Nuancen in der Auswertung berücksichtigen (vgl. Grunow u.a. 1983, bes. Abschn. 2.1.) .

/8/

Diese Ergebnisse beziehen sich auf die mündliche Haushaltsbefragung; die Aktivitäten/Erfahrungen, die dabei zum Ausdruck gebracht werden, gelten für den Haushalt, nicht für eine oder jede Einzelperson.

/9/

Der hohe Prozentsatz der recht diffusen Anlaßangaben ist zum einen darauf zurückzuführen, daß in unserem Aktivitätskatalog, der den Befragten als Antwortstimuli vorgegeben wurde, oft der Anlaß implizit enthalten ist. Zum anderen können wir davon ausgehen, daß viele SH-Aktivitäten (vor allem die Maßnahmen zur allgemeinen Gesunderhaltung) im Haushalt so selbstverständlich sind, daß sie als unhinterfragter Bestandteil des Alltagslebens angesehen werden können. Für den überwiegenden Teil der Selbsthilfeaktivitäten werden jedoch ganz konkrete Anlässe angegeben.

/1o/ Mit Blick auf das Koreferat ist hierzu anzumerken, daß wir uns bei der empirischen Untersuchung dieser Problematik keineswegs nur auf medizinische Dienstleistungen im engen Sinne beziehen. Es wird auch auf Sozialberatung u.a. Bezug genommen. /II/ Es handelt sich hierbei nur um einen Teil der Prüfmöglichkeiten in unserem Projekt; für eine abschließende Beurteilung der Substitutionsproblematik reichen allerdings auch die insgesamt verfügbaren Daten nicht aus. /12/ Dies bedeutet aber nicht, daß in diesem Fall der "offizielle" Arztbesuch durch einen Kontakt mit einem befreundeten Arzt substituiert wird, sondern daß auch besonders häufig nicht-medizinische oder alternative medizinische Hilfen nachgefragt werden (vgl. hierzu Grunow u.a. 1983, Abschn. 3.3.). /13/ Die Prozentsatzdifferenzen, vor allem zur Risikogruppe 2, betragen oft über 20% und sind bei allen 14 Variablen nicht kleiner als 10%. Die Prozentsatzdifferenzen werden immer dann interpretiert, wenn der Koeffizient aufgrund der Datenstruktur bedeutungslos ist. /14/ Solche Überlegungen erfordern u.E. zunächst auch die Auswertung der Intensivuntersuchung der ausgewählten Haushalte. Vorläufige Ansatzpunkte finden sich aber auch schon in Grunow u.a. (1983, Kap. 4.).

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Zur Selbsthilfe im Gesundheitswesen Anmerkungen zum Projekt: Gesundheits- und krankheitsbezogene Selbsthilfe im Haushalt Ute Canaris

Die folgenden Ausführungen zum Projekt "Selbsthilfepotential in der Gesundheitsversorgung" sind stark an den Nutzungsinteressen meines Arbeitsfeldes, der Gesundheitserziehung und -aufklärung, orientiert. Das Bielefelder Projekt enthält hierzu verwandte Fragestellungen, wichtige Anregungen für die Uberprüfung und Weiterentwicklung meiner Arbeit und auch die Bestätigung von Ansätzen und Konzepten der Gesundheitserziehung, wie sie in der Bundeszentrale verstanden und praktiziert werden. Dies gilt insbes. für den Teil Vorsorgeund Präventionshandeln in der Familie, auf den ich mich im folgenden konzentriere. Zu drei Hauptaspekten des Bielefelder Projekts möchte ich mich - mit dieser Einschränkung - im folgenden äußern: 1. Zum Untersuchungsziel

und -ansatz

2. Zu den gewählten Vorgehensweisen und Methoden 3. Zu den bisher absehbaren Ergebnissen und ihren Verwertungsmöglichkeiten für die Gesundheitserziehung. Dabei wird der 3. Teil den breitesten Raum einnehmen.

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C. Selbsthilfe im Familienhaushalt

1. Zum üntersuchungsziel und -ansatz

Drei Ziele stehen im Mittelpunkt der Interessen einer Gesundheitserziehung, die sich der Stärkung der Eigenkompetenz für Gesundheitshandeln verpflichtet fühlt. a) Die Bedeutung eines spezifischen, alltäglichen, nicht medizinisch-professionellen Gesundheitsverhaltens herauszuarbeiten und - darauf aufbauend - die Eigenkompetenz der Laien durch Sensibilisierung für ihre eigene Leistung zu stärken; ausgehend von der Hypothese, daß sie bereits in erheblichem Umfang vorhanden ist. Dabei ist auch von erheblichem Interesse, ob diese Bedeutung positiv formuliert werden kann in der konkreten Beschreibung des Alltagshandelns, in den Formen, Inhalten, Anlässen und Teilnehmern der Selbsthilfeaktivitäten oder lediglich negativ in Absetzung vom professionellen Handeln - damit aber immer noch auf dieses bezogen - als Anhängsel, Vorstufe oder Negation. b) Den Laien eine ihrer faktischen Bedeutung angemessene Rolle, Stellung und Mitwirkung bei der Gesunderhaltung und Krankheitsbewältigung zu sichern oder wiederzugewinnen. Dies bedeutet, die spezifische eigene, unersetzbare und primäre Qualität des auf den gesamten alltäglichen Lebensprozeß bezogenen Selbsthilfehandelns in seinen es umgebenden Bedingungen zu bestimmen, was im Untersuchungsansatz in einem ersten definitorischen Zugriff als Form sozialer Alltäglichkeit

(Figurationen) versucht wurde. Diese vor-

läufige Begrifflichkeit soll durch die Untersuchung bzgl. Formen, Inhalte und Anlässe konkretisiert werden. Dies ist auch für die Gesundheitserziehung wichtig, weil hierdurch eine zu kommunizierende, motivationale Voraussetzung gegeben wäre, bewußte und eigenverantwortliche Selbsthilfe zu betreiben bzw. betreiben zu können, die wiederum bereits wesentlicher Inhalt präventiven Handelns wäre: nämlich mit Selbstvertrauen Problemsituationen angemessen erkennen und bestehen zu können. c) Möglichkeiten und Grenzen des professionellen medizinischen Systems im Kontinuum von Gesundheit und Krankheit

Zur Selbsthilfe im Gesundheitswesen

genauer beschreiben und beurteilen zu können, insbes. daraufhin, ob seine behauptete Allzuständigkeit aufrechterhalten werden kann. Hier ist nun meinerseits eine Ergebniserwartung zu formulieren: nämlich andere gesellschaftliche Systeme, insbes. im Erziehungs- und psychosozialen Versorgungsbereich, in ihrer Bedeutung für Selbsthilfepotentiale in der Gesundheitsversorgung sichtbar zu machen. Dies würde einen besonderen Akzent in bezug auf das Verhältnis von sozialer Selbsthilfe und professioneller sozialer und medizinischer Fremdhilfe setzen.

2. Zu den gewählten Vorgehensweisen und Methoden

Die gute finanzielle Ausstattung des Forschungsprojektes ermöglicht ein breitgefächertes Forschungsdesign mit quantitativen und qualitativen Anteilen, die aufeinander abgestimmt sind und damit auch vergleichbaren Auswertungsverfahren unterworfen werden können. Die quantitative Untersuchung entspricht dem Forschungsziel, auch die quantitative Bedeutung des gesundheits- und krankheitsbezogenen Alltagshandelns zu belegen und zu beschreiben . Die qualitativen Methoden, die kommunikativ und partizipativ angelegt sind, sind m.E. dem Untersuchungsgegenstand besonders angemessen. Sie erweisen sich auch für die Beurteilung der in der repräsentativen Haushaltsbefragung gewonnenen Anhaltspunkte als wichtig, ebenso wie die Auswertungsverfahren, bei denen ich dem Feedback in die Haushalte einen besonders hohen Stellenwert einräume. Der Forschungsgegenstand wird sich in seiner ganzen Differenziertheit wohl erst durch interpretative Auswertungsverfahren hinreichend erschließen. Dies entspricht dem Ziel, möglichst viel Konkretes und auch Detailliertes über das alltägliche Bewältigungshandeln, seine Formen, Inhalte, Anlässe, Teilnehmer zu erfahren und damit auch die geschlossenen Fragenkataloge der repräsentativen Befragung auf ihre ausreichende Validität zu überprüfen.

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C. Selbsthilfe Im Familienhaushalt

Damit soll die repräsentative Haushaltsbefragung nicht in ihrer Bedeutung herabgesetzt, sondern in das gesamte Forschungsdesign mit einem bestimmten Stellenwert eingeordnet werden. Gerade angesichts der Tatsache, daß die BZgA seit 1974 repräsentative Zwei-Jahresbefragungen durchführt, auf deren methodische Anlage und Ergebnisse im ersten Zwischenbericht ausführlich eingegangen wird, begrüßt sie es ausdrücklich, daß auch eine quantitative repräsentative Haushaltsbefragung durchgeführt wurde, die die Größe und Bedeutung des familienbezogenen Selbsthilfehandelns in ihren Ergebnissen eindrucksvoll belegt. Dies ist in den beiden Jahresbefragungen der BZgA, die im übrigen eine Individuenbefragung ist, bis einschließlich 1978 in dieser Ausführlichkeit nicht erfolgt. Erst ab 198o, also zeitlich fast parallel zu der Haushaltsbefragung der Bielefelder Forschergruppe, wurden das familienbezogene Erziehungs-, Beziehungs- und Kommunikationsverhalten in bezug auf die Gesundheit untersucht. Darüber hinaus wurden durch Arbeits- und Umweltbelastungen subjektiv und objektiv erfahrene Gesundheitsbeeinträchtigungen erfaßt, also durch Rahmenbedingungen gesundheitlicher Verhaltens- und Handlungsmöglichkeiten thematisiert. Die Ergebnisse der BZgA-Untersuchung von 198o, unterstützt durch qualitative Untersuchungen, die zu einzelnen Fragestellungen vorliegen, weisen in diesem Zusammenhang auf Formen des sozialen Alltagshandelns hin, die Anlaß zu einem kritischen Kommentar zum Bielefelder Projekt sind: Es betrifft die sowohl in den quantitativen wie qualitativen Erhebungsinstrumenten vorgenommene Operationalisierung des Vorsorgebzw. Präventivhandelns. Vorgegeben wurde hier eine geschlossene Liste von 1o Aktivitäten, die - davon muß ich ausgehen - die zentralen Dimensionen präventiven Gesundheitshandelns in den Augen der Forschergruppe ausmachen. Betrachtet man sich diese 1o Aktivitäten etwas genauer, so fällt auf, daß sie dem im ersten Zwischenbericht beschriebenen Forschungsansatz insofern widersprechen, als dort kritisiert wurde, daß die bisher in der Forschung untersuchten gesundheitlichen Verhaltensweisen i.d.R. an Standards des Medizinsystems orientiert sind. Die nunmehr zur Operationalisierung von "Vorsorgeaktivitäten" ausgewählten 1o Items sind bis auf 1-2 Ausnahmen sämtlich dem traditionellen Medizinsystem

(Früherkennungs-, Kontroll-

verhalten), insbes. dem Risikofaktorenmodell

(gesundheits-

schädigende Verhaltensweisen), entnommen und treffen damit vor allem ein sekundärpräventives Ziel. Es fällt auf, daß ein überwiegend individueller Verhaltensansatz gewählt wird, der auf kollektive und strukturelle Einwirkungen und Handlungen fast überhaupt nicht, auf kommuni-

Zur Selbsthilfe im Gesundheitswesen

kative, sozial-emotionale Unterstützungshandlungen nur marginal eingeht. Von den Erfahrungen und Konzepten her, die die Arbeit der BZgA leiten, hätten zu diesen 1o Items noch mindestens 4 weitere gehört, die den Zusammenhang von Gesundheitsverhalten, Lebensbedingungen und Alltagshandeln hätten verdeutlichen können und die auf eine mir noch nicht ganz erklärliche Weise in den vorläufigen Ergebnissen der Untersuchungen der Bielefelder Gruppe auch eine Rolle spielen: a) Aktivitäten und Bemühungen im Rahmen des Erziehungsgeschehens mit dem Ziel, Gesundheit als Teil eines gelungenen Sozialisationsvorganges zu begreifen und zu praktizieren. Dieser übt gesundheitsfördernde Verhaltensweisen ein und stabilisiert sie von Anfang an (Vorbildverhalten der Eltern, gemeinsame Aktivitäten mit Kindern). Dem korrespondiert im Ergebnisbereich eine besonders signifikante Beziehung zwischen Aktivitäten und Kinderzahl und die Erkenntnis, daß gelungenes Gesundheitshandeln nicht in isolierten Versatzstücken von Wissen, Einstellungen und Verhalten besteht, sondern in ganzheitlichen Lebenskonzepten. b) Aktivitäten, die es ermöglichen, persönliche Konflikte bewußt, solidarisch und produktiv so auszutragen, daß es möglichst zu Lösungen und nicht zu Verschiebungen oder Kompensationen kommt. Dies ist ein klares Gegenitem zum Harmonierungsitem des Operationalisierungskatalogs, dem daher auch kein Ergebnisbereich entspricht. Wir halten ihn aber für eine wichtige alltagsbezogene Präventionsstrategie, da wir Krankheit in Anlehnung an sozialpsychologische Erklärungsansätze auch für eine Form von Konfliktbewältigung halten und selbstschädigende Verhaltensweisen wesentlich als fehlgeleitete Konfliktlösung oder falsche Anpassungsstrategie verstehen. c) Maßnahmen zum Abbau von individuenunabhängigen Arbeitsund Umweltbelastungen, die gesundheitsschädigend wirken können . Dem korrespondiert im vorläufigen Ergebnisbereich die Erkenntnis, daß ein alltagsweltlicher Ansatz leistungsfähig ist, der nicht beschränkt ist auf im engen Sinne medizinisch-naturwissenschaftliche und individuelle Erklärungsmuster. d) Kommunikative Maßnahmen, die Möglichkeiten und Grenzen sozial vernünftigen präventiven Handelns aufweisen und handhabbar machen und die angesichts von Unsicherheiten über Verursachungsfaktoren (Krebs-/Früherkennungsuntersuchungen) oder angesichts individuell wenig beeinflußbarer Verursa-

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C. Selbsthilfe im Familienhaushalt

chungen (individuelles Ernährungsverhalten/Gift in der Nahrung) dennoch Lebenshilfe bieten. Dem entsprechen im vorläufigen Ergebnisbereich implizite Aussagen zur Selbsthilfefähigkeit in Problemkonstellationen, zur Bemühung um Integration des Gesundheitsverhaltens in alltäglicher Lebensbewältigung unter Berücksichtigung realistischer Möglichkeiten des individuellen Selbsthilfeverhaltens. Sicher hätte die Berücksichtigung dieser 4 Themenbereiche eine Reihe von Überlegungen und vielleicht den Verzicht auf einen ganz geschlossenen Fragenkatalog erfordert. Die BZgA hat in der Weiterentwicklung ihrer Wiederholungsuntersuchungen einen solchen Ansatz der Operationalisierung versucht, der zu wichtigen Ergebnissen für unseren Arbeitsansatz geführt hat: Bestätigt wurde die Relevanz von Lebens-, Umweltund Arbeitsbedingungen und des Sozialisationsprozesses. Sicher ist es richtig, daß die Berücksichtigung dieser Fragestellungen die ohnehin schon sehr komplexe Analyse noch erschwert hätte. Auf der anderen Seite hat aber die Untersuchung auch das Ziel zu prüfen, ob es ein laienspezifisches, erfolgreiches Gesundheitshandeln gibt oder geben kann und das legitimiert, daß die Laien mitarbeiten an der Formulierung und Befriedigung von Interessen und Bedürfnissen in bezug auf die eigene Gesundheit und damit ein Stück Definitionsmacht über Gesundheit und ihre Bedingungsfaktoren zurückgewinnen, das derzeit allein dem professionellen medizinischen System zugestanden wird. Analysemöglichkeiten, die über die vorgegebenen Items hinausgehen, hat sich die Bielefelder Forschergruppe allerdings insofern offengehalten, als offene Nachfragen zu den tatsächlich durchgeführten Aktivitäten und zu den Anlässen für das Ingangsetzen dieser Aktivitäten formuliert wurden und von den Befragten detailliert beantwortet wurden. Diese kritischen Bemerkungen möchte ich daher als Hinweis für weitere Auswertungs- und Forschungsprobleme verstanden wissen, die für die von mir hier vertretene Anwendungspraxis von Bedeutung sind; denn das Konzept der Bundeszentrale richtet sich auf Stärkung der Eigenkompetenzen der Betroffenen und auf ein Angebot von Hilfestellungen für Handlungen, die Interessendurchsetzung am gesunden Leben ermöglichen.

Zur Selbsthilfe im Gesundheitswesen

3. Zu den bisher absehbaren Ergebnissen und ihren Verwertungsmöglichkeiten für die Gesundheitserziehung

Im folgenden sollen Ausführungen über sechs ausgewählte Ergebnisbereiche gemacht werden, über die Aussagen vorliegen oder für die noch Aussagen wünschenswert sind und für die Gesundheitserziehung in der Bundesrepublik von Bedeutung sind. Dazu werden auch noch unveröffentlichte Aussagen der Bielefelder Forschergruppe zum Verhältnis von alltäglichem Vorsorgehandeln im Haushalt und staatlich organisierter Gesundheitserziehung herangezogen.

3.1 Formen und Inhalte gesundheitsbezoqener Selbsthilfe, insbes. die Bedeutung der Kommunikation Die bisherigen Ergebnisse der Erhebungen über Formen und Inhalte von präventiven Selbsthilfeaktivitäten konstatieren zwar weiterhin eine quantitative Dominanz von stark medizin- bzw. risikofaktoren-orientierten Handlungsweisen. Dies trifft vor allem aber für die innerfamiliäre und dort zumeist für die individuelle Selbsthilfe zu. Ferner ist dies auch auf die Operationalisierung des Vorsorgehandelns zurückzuführen, auf die schon kritisch eingegangen wurde. Umso bedeutsamer ist es aber für die Gesundheitserziehung, daß sich sowohl quantitativ als auch insbes. qualitativ die Wichtigkeit der kommunikativen Anteile am Gesundheitsverhalten deutlich herausstellt. Insbesondere in den Sozialbeziehungen mit Freunden, Arbeitskollegen und noch lockereren Kommunikationsformen

(Vereine,

Kirche, Elternversammlungen etc.) spielen Gespräche über Gesundheit, der Austausch von Hinweisen, Ratschlägen, Erfahrungen eine Rolle. Darüber hinaus werden gerade mit Freunden auch gesundheitsbezogene Freizeitaktivitäten, die wegen ihrer Freiwilligkeit eine hohe Akzeptanz besitzen, betrieben. Mit diesem Ergebnisbereich hat sich das ursprüngliche Forschungsinteresse, das zunächst überwiegend auf familiäre Selbsthilfe konzentriert war, auf die sozialen Bezugsgruppen und die gesundheitsbezogenen Kommunikationsformen mit diesen

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C. Selbsthilfe im Familienhaushalt

erweitert. Die Bedeutung der Kommunikation mit zwar außerfamilialen, aber familiennahen Netzwerken für gelungene gesundheitsbezogene Verhaltensweisen ist ersichtlich. Damit wird eine zentrale These der gesundheitserzieherischen Arbeit der BZgA vorläufig bestätigt, die familiennahe Selbsthilfe und Selbsthilfeorganisationen gerade auch deswegen "propagiert", um die Handlungs- und Kommunikationskompetenz der Familie zu stärken. Die sogen. "Familienkampagne" der BZgA ist die praktische Einlösung dieser These. Darüber hinaus stellt die Fähigkeit zur Kommunikation, die Bereitschaft und Fähigkeit, befriedigende Sozialbeziehungen einzugehen, für den Ansatz der BZgA selbst schon eine eigene präventive Qualität im Gesundheitsverhalten dar - denn für eine Reihe von Gesundheitsgefährdungen, insbes. gesundheitsschädigende Verhaltensweisen, ist gerade der Mangel an diesen Fähigkeiten und an "personaler Bedürfnisbefriedigung" nach unseren Erkenntnissen eine der wichtigsten psychosozialen Ursachen.

3.2 Die Bedeutung der sozialen Netzwerke für erfolgreiche präventive Selbsthilfe im Haushalt, von den primären sozialen Bezugsgruppen bis zu Selbsthilfegruppen und professionellen sozialen Dienst- und Hilfeleistungen Quantität und Qualität präventiver familialer Selbsthilfe hängen nach den Untersuchungsergebnissen ab von einer Vielzahl von Faktoren, zu denen neben der Haushaltsgröße,dem Alter der Mitglieder, Bildung und Einkommen, Kenntnissen und Erfahrungen im Gesundheitshandeln vor allem die Unterstützung durch andere soziale Netzwerke bis hin zu Selbsthilf egruppen gehört. Die sozialen Beziehungsfähigkeiten, die kommunikativen Kompetenzen durch die Öffnung der Familie nach außen, erhöhen ganz offensichtlich die innerfamilialen Kompetenzen, stabilisieren sie und machen damit die Familie und ihre Mitglieder offen für die Auseinandersetzung mit neuen Situationen und Handlungsanforderungen.

Zur Selbsthilfe im Gesundheitswesen

Insgesamt wird durch diesen Ergebnisbereich die Arbeitshypothese der BZgA in ihrem Arbeitsfeld

"Gesundheitserziehung

durch die Familie" bestätigt: Auch das familiäre, individuelle Gesundheitshandeln benötigt Unterstützung und Stärkung aus der Möglichkeit der Beteiligung an für sein Leben wichtigen Vorgängen innerhalb der sozialen Nahräume. Aus dieser Erkenntnis hat die BZgA die Einsicht gewonnen, daß es des Aufbaues gemeindebezogener offener Kommunikations- und Kooperationsformen bedarf, um die Selbstorganisation und Selbsthilfe von Familien zu fördern und solidarische Formen gemeinsamen gesundheitsbezogenen Handelns unter Einbeziehung des sozialen Umfeldes zu entwickeln und zu erproben. Hierzu sieht sie in der Zukunft einen weiteren Schwerpunkt ihrer Arbeit, zu dem allerdings auch die professionelle Mitwirkung der lokalen Institutionen und Berufsgruppen gehört, um die erforderlichen und erwünschten Aktivitäten zu koordinieren und zu sichern.

3.3 Das Verhältnis von professionellem und Laiensystem bei Gesundheitsvorsorge und Krankheitsbewältigung Unmittelbar an das Letztgenannte schließen die m.M. nach sehr vorläufigen und weiter auswertungsbedürftigen Ergebnisse zum Verhältnis von Selbsthilfe und professioneller Fremdhilfe an. Fast alle Aussagen in den mir zur Verfügung stehenden Unterlagen bemühen sich lediglich um die Frage der Abgrenzung des Selbsthilfepotentials, vor allem im Präventivbereich, vom medizinisch-professionellen System. So wird es wahrscheinlich nicht gelingen, das eingangs erwähnte Ziel zu erreichen, die Bedeutung des spezifischen alltäglichen Gesundheitsverhaltens und die auf es einwirkenden Sozialsysteme, von denen das professionelle medizinische System nur eines ist, im Rahmen einer soziologischen Alltagstheorie herauszuarbeiten. Das Bielefelder Projekt stellt der familiären Selbsthilfe aber als ausschließlichen professionellen Pol das medizinische System gegenüber. Je mehr aber der Schwerpunkt auf j»rimärpräventive Aktivitäten gelegt wird, umso mehr sind andere gesellschaftliche professionelle Systeme, z.B. Erziehung,

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C. Selbsthilfe im Familienhaushalt

psychosoziale Stütz- und Beratungssysteme, gefragt. Und hier fordern Selbsthilfeaktivitäten, vor allem in Form von Selbsthilfegruppen, eine Veränderung traditionellen Expertenverhaltens i.S.v. Unterstützung, Beratung, Fürsorge geradezu heraus. Dies ist eine wichtige Erfahrung im Rahmen der Entwicklung der Familien-Kampagne der BZgA gewesen, die eher für eine modifizierte Substitutionsthese spricht. Die Frage nach der Substitutions- oder Kumulationsthese ist allerdings wohl erst dann befriedigend im Rahmen des Bielefelder Projekts zu beantworten, wenn die spezifische soziale Selbsthilfe qualitativ bewertet wird. Wenn ein vorläufiges Ergebnis in diesem Bereich darauf hindeutet, daß die Häufigkeit und Intensität individueller, d.h. sehr stark medizinbezogener Selbsthilfe stark korreliert mit der intensiven Nutzung des Medizinsystems, dann muß man wohl auf die Kumulationsthese bauen. Die ursprünglich dominante Verweisung auf das traditionelle öffentliche und private Hilfe- und Beratungssystem, wie sie noch am Beginn der Kampagne deutlich zum Ausdruck kommt, wurde aufgrund eigener Nutzungsuntersuchungen und Studien um die Perspektive der Stärkung des familiären Selbsthilfepotentials ergänzt. Dies führte zu einem neuen Arbeitsfeld "Eltern helfen Eltern". Die Rolle der Professionellen wurde hier nunmehr neu definiert in Richtung auf Motivierung und Ermöglichung der Eigenaktivität von Betroffenen. "Auf Bedarf" stehen die Professionellen mit ihren fachlichen Kompetenzen zur Verfügung. Dies hat Konsequenzen für die Qualifizierung der Professionellen, die sicher auch für die Angehörigen des professionellen medizinischen Systems zu diskutieren wären. Solange das professionelle medizinische System ausschließlich als Gegenpol zur Selbsthilfe gesehen wird, stehen auch die entsprechenden Selbsthilfeaktivifcäten im kurativen und rehabilitativen Bereich im Vordergrund. Die neuen Selbsthilfegruppen der letzten Jahre zeichnen sich jedoch immer mehr durch primärpräventive Ziele aus. Sie wollen noch vor manifester Gesundheitsbeeinträchtigung, wenn möglich vor habitualisiertem Risikoverhalten, zur Stabilisierung oder Erlangung gesundheitsförderlicher Lebensweisen und dazu notwendiger individueller und sozialer Handlungen beitragen. Diese Arbeit unterstützt die BZgA zunehmend durch entsprechende Materialien und Modelle

(Beispiele: Arbeitsmappe

"Eltern helfen Eltern", "Familientrainingsprogramm zum Abbau psychosozialer Belastungen").

Zur Selbsthilfe Im Gesundheitswesen

3.4 Die Anlässe zur Aktivierung von Selbsthilfepotentialen inner- und außerfamiliärer Art, bis hin zu den Motiven für Selbsthilfegruppen Weitgehend unbestritten scheint der Ergebnisteil zu den Anlässen zur Mobilisierung von Selbsthilfepotentialen. Für die überwiegende Mehrzahl ist der tatsächlich existierende Problemdruck, die Betroffenheit von Gesundheitsbeeinträchtigung, der entscheidende Antrieb für die Aktivierung von Eigenaktivitäten. Dies gilt auch entscheidend für die Motivation zur Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe, wo die gemeinsame Betroffenheit und gegenseitige Hilfeerwartung noch dazukommen. Daher findet sich die überwiegende Zahl von Gesundheitsselbsthilfegruppen auch heute noch im tertiär- und sekundärpräventiven Bereich. Für die primärpräventive Gesundheitserziehung, die Gesundheitsförderung, haben diese bekannten Ergebnisse immer schon besondere didaktische und kommunikative Maßnahmen erfordert: Denn sie wird ja bereits dann tätig, wenn noch keine gesundheitlichen Beeinträchtigungen, also kein unmittelbarer Problemdruck, vorliegen. Sie bedient sich dabei folgender Strategien: - Entwicklung von "Sekundärmotivationen" (z.B. "Ich tue etwas für mein Kind": Schwangere, Mütter); - Entwicklung von Transferqualitäten (z.B. "Was einem nahen Angehörigen oder Freund passiert ist, kann auch mir passieren, wenn ich z.B. so weiter arbeite wie bisher"); - Einübung in alltägliche Sozialisationsvorgänge wie spielen und lernen (Gesundheitserziehung im Kindergarten, in Schulen) ; - Förderung von Fähigkeiten zur Wahrnehmung von Interessen für die eigene Gesundheit und Herstellung individueller und kollektiver Betroffenheit von Gesundheitsproblemen im Lebensalltag (Umwelt, Arbeit, Familie); - inhaltliche und handlungsrelevante Verknüpfung von Sekundär- und Primärprävention (z.B. Verknüpfung von Gewichtsreduktionsprogrammen für Erwachsene mit der Aufarbeitung psychosozialer Ursachen der Gewichtsprobleme und Erlangung neuer primärpräventiver Handlungskompetenz für die und mit den Kindern).

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C. Selbsthilfe im Familienhaushalt

3.5 Das Verhältnis sozialer Selbsthilfe in der Familie zur Aktivierung in außerfamiliären Bezugsgruppen und Selbsthilf eorganisationen Als vorläufiges Ergebnis zeichnet sich ab, daß die Offenheit gegenüber und Teilnahme an Selbsthilfegruppen - im Unterschied zu den primären sozialen Bezugsgruppen - von der Wahrnehmung und Beurteilung der Integrationsfähigkeit der Familie abhängen. Unabhängig von der sicher notwendigen weiteren Differenzierung dieses Ergebnisses scheint mir ein weiterer wichtiger Aspekt zu sein, daß die Teilnahme an Selbsthilfegruppen auch von der sozialen Legitimation und der gesellschaftlichen Anerkennung der Selbsthilfeperspektive abhängt. Es reicht allerdings noch nicht aus, wie in den einleitenden Gesamtbemerkungen der Ergänzung zum 3. Zwischenbericht geschehen, nun die Popularisierung des Selbsthilf egedankens , z.B. über Massenkommunikation, zu fordern so wichtig es auch sein mag, Selbsthilfe zum "Thema" der öffentlichen Diskussion zu machen. Dem dient u.a. die jetzt über 4 Jahre laufende Anzeigenkampagne der BZgA zur Stärkung der Kommunikationskompetenz in der Familie: "Familie jeder für jeden". Eine wirksame Strategie für eine solche Öffentlichkeitsarbeit muß sich vieler Widerstände bewußt sein. Ein wichtiger Grund liegt auch in der Auffassung von der "Privatheit" der Familie und der Sprachlosigkeit über eigene Probleme - nicht nur von Laien, sondern auch von Professionellen, die Selbsthilfaaktivitäten als Eingriffe in ihre Domäne betrachten. Um diese Widersprüche abzubauen, muß man sowohl auf sie eingehen als auch positive alternative Erfahrungen als Identifikationsmöglichkeiten anbieten. Weiterhin ist nach meinen Erfahrungen aufgrund einiger weniger von der BZgA geförderten Modellprojekte der Aufbau eines Netzes von regionalen Informations- und Kontaktstellen wichtig. Diese Form der Gesundheitserziehung, die nicht massenkommunikativ ausgerichtet ist, halten wir für essentiell zur Verstärkung der sozialen Legitimation des Selbsthilfegruppenansatzes.

Zur Selbsthilfe im Gesundheitswesen

3.6 Die Umsetzungsmöglichkeiten der Ergebnisse in Strategien für professionelles gesundheitserzieherisches Handeln, insbes. unter den Aspekten der Erreichbarkeit der Zielgruppen, der Risikogruppen und der Glaubwürdigkeit der "Botschaften" Die Aussagen zu diesem Ergebnisbereich bündeln meine bisherigen Kommentare noch einmal unter dem Gesichtspunkt der praktischen Umsetzung in die Gesundheitserziehung und erlauben damit eine abschließende Bewertung. Insgesamt findet sich eine Reihe von Annahmen, die der von der BZgA betriebenen Gesundheitserziehung zugrunde liegen, durch dieses Untersuchungsvorhaben bestätigt. Eine Reihe von zusätzlichen Informationen und Ergebnissen bedeutet auch einen Erkenntniszuwachs und differenzierten Handlungsbedarf für die Gesundheitserziehung. Einige Probleme für die Gesundheitserziehungspraxis, aber auch für das Untersuchungsanliegen der Bielefelder bleiben bestehen, von denen ich hoffe, daß sie bis zum Ende der Projektlaufzeit einer näheren Klärung, vielleicht auch in Form neuer Forschungsfragestellungen, zugeführt werden können. Sie sind bereits alle angesprochen worden. Zwei von ihnen sollen hier noch einmal zusammenfassend dargestellt und kurz kommentiert werden: 1. Noch nicht befriedigend geklärt sind Aussagen über das alltagsweltliche Selbsthilfeverhalten als spezifischen Beitrag zur Gesundheitserhaltung und Krankheitsbewältigung. Dies hängt meiner Meinung nach zusammen mit der Frage nach der Definitionsmacht (und Handlungsmacht) Uber Gesundheit und Krankheit und nach einer Gesundheits- und Krankheitstheorie, die die subjektiven und objektiven Ursachen für Gesundheitschancen befriedigend erklären könnte. Hierzu habe ich in meinen kritischen Anmerkungen zur Operationalisierung von Präventivverhalten Näheres gesagt. In einer anderen, in Vorbereitung befindlichen Publikation haben die Bielefelder sich hierzu dezidierter in bezug auf das hieraus entstehende Dilemma traditioneller, auf das herrschende individualistische Therapiekonzept und auf rein medizinbezogene Gesundheitserziehung geäußert (D.Grunow u.a. 1983). Sie haben hier Gesundheitserziehungsprogramme kritisiert, die Gesundheitsprobleme, ihre Ursachen und damit auch ihre Lösungen vollständig individualisieren. Damit mutet man dem Individuum an Problemlösungs- und Anpassungsfähigkeiten

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C. Selbsthilfe im Familienhaushalt

zuviel zu, auch wenn Gesundheitserziehungsprogramme in diesem Konzept sich als kompensatorische Hilfestellung für gelingende Anpassungsleistungen verstehen. - Sie haben ferner kritisiert, daß Lebens- und Arbeitsbedingungen ebenso wie Lebensweisen nicht ins Blickfeld solcher Gesundheitserziehung geraten, ebenso nicht die Möglichkeiten struktureller Prävention und von Beiträgen der Selbsthilfe und Selbstorganisation . Gesundheitserziehung, wie ich sie verstehe, versucht, diese Aspekte in ein kommunikatives Konzept einzubinden. Dazu gehört m.E. unabdingbar die Thematisierung von gesundheitsfördernden und gesundheitsgefährdenden Bedingungen ebenso wie die individuellen, kollektiven und strukturellen Möglichkeiten ihrer Beeinflussung im Rahmen des Alltagshandelns der Menschen. Dabei spielen Selbsthilfeaktivitäten eine zentrale Rolle. Nur so halte ich - mit der Bielefelder Forschergruppe - Gesundheitserziehung für glaubwürdig und effektiv. 2. Individuelle und familiäre Gesundheitsaktivitäten durch Gesundheitserziehung unmittelbar zu beeinflussen, ist u.a. ein Problem der Erreichbarkeit der Zielgruppen. Zwar ist gerade die Existenz kommunikativer Kompetenz der Familie in bezug auf primäre soziale Bezugsgruppen ein wichtiges Ergebnis der bisherigen Bielefelder Untersuchung; aber ungeklärt bleibt dabei, wodurch diese erworben wird und auf welche Inhalte sie gerichtet ist. Im Sinne funktionierender Selbsthilfe kann man sicher auf die Verarbeitung eigener Erfahrungen, die Uberlieferung von Normen, Einstellungen, Verhaltensweisen und Techniken vertrauen; aber wir alle wissen, daß vielfältige Informationen unterschiedlichster Provenienz auf die Individuen einwirken und sie in ihrem Verhalten, auch in ihrem kommunikativen, beeinflussen. Gesundheitserziehungsprogramme sind nur ein geringer Teil dieser Information, die, wenn sie sich massenmedialer Methoden bedient, in einen Marktmechanismus gerät, den sie schon aufgrund fehlender finanzieller Ressourcen nicht erfolgreich durchstehen kann. Deshalb bedient sich Gesundheitserziehung für die Vermittlung ihrer Botschaften heute überwiegend professioneller und Laien-Multiplikatoren. In einer oder beider dieser Rollen befinden sich jedoch jehr viele Mitglieder von Familien oder primären sozialen Bezugsgruppen. Und - das zeigen die Ergebnisse der Bielefelder Untersuchung - sie nutzen sie, auch für Selbsthilfe im

Zur Selbsthilfe im Gesundheitswesen

sozialen Nahraum. Darüber hinaus sind aber auch Laien insofern Multiplikatoren, als sie glaubwürdige Zeugen für real erlebte und erprobte Selbsthilfe und erfolgreiche Eigenaktivität sind. Von daher haben viele "Endadressatenmedien", die für eine neue Sichtweise in der Gesundheitserziehung "werben" sollen, bei der BZgA den Charakter von "testimonials". Dies sind jedoch bislang nur Versatzstücke zu einem noch zu erarbeitenden Konzept der Erreichbarkeit von Zielgruppen zur Erhöhung des Selbsthilfepotentials in der Bevölkerung. Sie geben bislang nur erste Anhaltspunkte für die in den Untersuchungsergebnissen angesprochenen Risikogruppen, die über keine oder nur geringe Sozialbeziehungen und kommunikative Kompetenzen verfügen. Hier ist die Gesundheitserziehung in besonderer Weise gefordert, aber auch noch in besonderer Weise hilflos und insbesondere angewiesen auf das professionelle System einerseits und Selbsthilfepotentiale andererseits, die als Motivation zur Eigenaktivität den Wunsch nach Hilfeleistung angeben. Diesen kann Gesundheitserziehung wiederum in Form von Arbeitsmaterialien, Fortbildungsangeboten handlungsanleitende Unterstützung bieten. Hierzu erwarte ich mir weitere anwendungsbezogene, die Arbeit der BZgA anregende Ergebnisse der Untersuchung.

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D. Gesundheitsvorsorge in der Gemeinde Perspektiven der Gesundheitsvorsorge am Beispiel des Kreises Mettmann1' Hans Günter Abt, Otto Gieseke

1. Förderung des Gesundheitsverhaltens in der Gemeinde bei Vielfalt der Trägerschaften

Die Situation in der Gesundheitsvorsorge ist derzeit durch ein offensichtliches Mißverständnis zu charakterisieren: Der Erkenntnis, daß ein Großteil der insbesondere chronischdegenerativen Erkrankungen (z.B. Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Erkrankungen des Stütz- und Bewegungsapparats) zu verhüten ist, stehen nur ungenügend entwickelte Konzepte gegenüber, die eine Anleitung für die Praxis dör Gesundheitsvorsorge hergeben könnten. Dem bisher praktizierten Weg der Gesundheitsvorsorge, vornehmlich durch Aufklärung zu wirken, kann kein großer Erfolg bescheinigt werden. Wenn man sich vor Augen führt, daß viele der sogen, riskanten Lebensgewohnheiten durch den sozialen Wandel in unserer Gesellschaft herbeigeführt sind, also durch Veränderungen in der Arbeitswelt, in der Familie, in den Freizeitgewohnheiten, so ist der Einzelne häufig überfordert, diese Veränderungen alleine aufzufangen. In der Gesundheitsvorsorge haben sich verschiedene gemeindliche Träger der Gesundheitserhaltung und -förderunq zugewendet. Den Angeboten liegt die Absicht zugrunde, dem Bürger praktische Hilfen und Orientierungen zu vermitteln. Dabei ist von zentraler Bedeutung, inwieweit die gewährten Unterstützungen die Kompetenz der Bürger fördern bzw. zur Geltung kommen lassen. Denn es kann nicht immer davon ausgegangen werden, daß

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D. Gesundheitsvorsorge in der Gemeinde

die den Angeboten zugrunde liegenden Vorstellungen über Gesundheitsförderung den Erwartungen der Bürger angemessen sind. Und schon gar nicht kann es darum gehen, die Gesundheitsvorsorge in fertige Rezepte einzubringen und den Bürger mit einem starren System von Verhaltensregeln zu konfrontieren. Im folgenden wird versucht, die Qualität der gemeindebezogenen Gesundheitsförderung zu bestimmen, also eine Aussage darüber zu treffen, welche Mängel der Gesundheitsvorsorge von ihrem Ansatz und Vorgehen her anhaften. In einem weiteren Schritt werden Perspektiven einer Verbesserung der Gesundheitsvorsorge aufgezeigt.

1.1 Aktionsrichtungen der Gesundheitsvorsorge Die Erfahrungen, die nicht nur in der Bundesrepublik, sondern auch international mit einer verstärkten Hinwendung zur "vorbeugenden Gesundheitspolitik", mit der "Prävention" oder "Gesundheitsvorsorge" (Begriffe, die gleichbedeutend verwendet werden) gemacht wurden, haben zu einer Differenzierung unserer Vorstellungen geführt. Wenn gegenwärtig von Gesundheitsvorsorge die Rede ist, dann sind zusammenfassend mehrere Aktionsrichtungen gemeint, die man im Rahmen wissenschaftlicher Erörterungen ebenso wie unter praktischer Zielsetzung unterscheiden sollte. Wir können die folgenden Aktionsrichtungen voneinander abheben: a) Das Gesundheitsverhalten in der alltäglichen Lebensführung. Hierunter fallen alle die Aktivitäten, die der einzelne für sich oder zusammen mit den Angehörigen seines crimären Lebenskreises unternimmt, um sich vor Krankheiten zu schützen oder die er schlicht als Bestandteil einer gesunden Lebensführung bezeichnen würde. b) Die Gesundheitserziehung oder -bildung. Sie wird von den Einrichtungen unseres Erziehungs- und Bildungswesens (Kindergärten, Schulen, Volkshochschulen) geleistet, um Kinder, Schüler und Erwachsene für die praktischen Fragen von Krankheit und Gesundheit urteilsfähiger zu machen, ihnen teils wissensmäßige Grundlagen zu vermitteln, teils ihre praktische Kompetenz zu stärken.

Das Beispiel des Kreises Mettmann

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c) Eng verwandt hiermit ist ein Bereich, den wir Förderung des Gesundheitsverhaltens nennen und der Gegenstand der 2) nachfolgenden Ausführungen ist. Bei dem hohen Stellenwert, der unter den derzeitigen Umständen der Gesundheitsvorsorge zukommt, reicht die Gesundheitserziehung und -bildung allein nicht aus, um für das Gesundheitsverhalten der Bürger die nötigen Voraussetzungen zu schaffen. Diese Voraussetzungen betreffen nicht allein die Vermittlung von Wissensgrundlagen oder von praktischen Fertigkeiten (z.B. Abhalten von Kursen), sondern erstrecken sich auf individuelle Beratungen, z.B. Ernährungsberatung, auf Anregungen und Initiativen, z.B. Gesundheitswochen, auf die Förderung und Vermittlung von gemeinsamen Aktivitäten, z.B. Lauftreffs, auf die Bereitstellung von Räumen, Einrichtungen und Anlagen, z.B. Gesundheitszentren, Sportanlagen. d) Neben den genannten Aktionsrichtungen spielen in der Gesundheitsvorsorge eine Rolle die Krankheitsfrüherkennungsuntersuchungen der medizinischen Versorgung und e) die gesundheitsbezogene Umweltgestaltung, wie sie im betrieblichen Arbeitsschutz, in der Gewerbehygiene und in der Umweltmedizin Anwendung finden.

1.2 Förderung des Gesundheitsverhaltens in der Gemeinde Wenn wir vom Gemeindebezug der Gesundheitsvorsorge reden, so beziehen wir uns auf die politische Dimension der Gemeinde, d.h., wir fragen nach der Verantwortung der politisch verfaßten Gemeinde für die Gesundheitsvorsorge. Die Stellung der Gemeinden in der kommunalen Sozialpolitik ist verfassungsrechtlich auf subsidiäre Aufgaben festgeschrieben (vgl. BVerfG, Urteil vom 18.7.67). Den freien Trägern der Wohlfahrtspflege kommt eine Vorrangstellung zu bei der Durchführung öffentlicher Aufgaben und bei der Schaffung entsprechender Einrichtungen. Sie verfügen über einen gesetzlich garantierten Freiraum in der Gestaltung ihrer Arbeit. So wie der Begriff "Gemeinde" im Zusammenhang mit Überlegungen zur Verbesserung der Gesundheitsvorsorge in der Literatur verwendet wird (vgl. z.B. Franzkowiak u.a., 1981), ist er eher zudeckend als aufdeckend hinsichtlich der Bedingungen, unter

98

D. Gesundheitsvorsorge in der Gemeinde

denen eine Verbesserung der Gesundheitsvorsorge erreicht werden kann. Aufgrund der verfassungsrechtlichen Situation können wir nicht von einem durch die Gemeinde geschaffenen Rahmen für die Ausgestaltung der Gesundheitsvorsorge ausgehen, sondern sehen uns einer über einen langen Zeitraum gewachsenen Struktur von Trägern gegenüber, die sich durch Vielfalt in der Aufgabenstellung und -herleitung und Selbständigkeit in der Durchführung kennzeichnen läßt. Von daher ist auch nicht zu erwarten, daß die Angebote der verschiedenen Träger einer gemeinsam geteilten Orientierung wie z.B. Gesundheitsvorsorge verpflichtet sind. Die Ausrichtung der Angebote an jeweils unterschiedlichen Selbstverständnissen (z.B. Sport, Weiterbildung, Krankheitsverhütung) muß notwendigerweise zu Defiziten in der Versorgung führen, weil dadurch ein systematischer Zusammenhang in der Angebotsstruktur nicht hergestellt wird. Wir können folgende Auswirkungen dieser Entwicklung benennen: 1. Die unabhängig voneinander handelnden Träger schaffen für den Bürger Probleme der Orientierung. In der Regel ist keine Ubersicht darüber zu erhalten, welche Träger sich welchen gesundheitlichen Fragen zuwenden. Noch schwieriger ist eine Einschätzung in der Frage, ob die Angebote auf die eigenen Voraussetzungen abgestimmt werden können. 2. Das Angebot ist Ausdruck des Selbstverständnisses der Träger, damit selektiv hinsichtlich seiner Begründung als auch seiner Zusammensetzung. Als Folge stellen sich Defizite in der Versorgung mit Angeboten zur Gesundheitsvorsorge ein. 3. Die Vielfalt der Trägerschaften behindert die gegenseitige Sichtbarkeit. Kein Träger verfügt über eine Ubersicht über das Gesamtangebot in einer Gemeinde. Die unterschiedlichen Orientierungen verhindern ein Interesse an der Abstimmung der Angebote im Sinne einer Verbesserung des Angebots.

2. Die Bedeutung unterschiedlicher Trägerorientierungen für die Förderung des Gesundheitsverhaltens

In der Formulierung "Förderung des Gesundheitsverhaltens"

Das Beispiel des Kreises Mettmann

99

drückt sich die Absicht aus, einen sowohl für Forschungszwecke als auch für Planungsabsichten geeigneten Begriff zu schaffen, der eine Vielzahl von Trägeraktivitäten zusammenfaßt, die ganz unterschiedlichen Orientierungen folgen (z.B. Sporttreiben bei den Vereinen, Krankheitsverhütung bei der Krankenkasse, gesundheitliche Weiterbildung bei den Volkshochschulen). Die Verschiedenartigkeit der Orientierungen hat seinen Hintergrund in dem Umstand, daß in den verschiedenen Einrichtungen zu unterschiedlichen Zeitpunkten Vorstellungen über Gesundheitsvorsorge entwickelt bzw. aufgenommen worden sind. Teilweise sind diese Vorstellungen der Anlaß für die Gründung von Einrichtungen gewesen (z.B. häufig bei den Arbeitersportvereinen), z.T. sind solche Aufgaben später hinzugefügt worden. Uber die Zeit hinweg hat auch ein Wandel stattgefunden: es sind neue Gefährdungen der Gesundheit in Form von Angeboten aufgegriffen worden und auch die Begründungen dafür haben sich damit teilweise verändert. Wir treffen daher heute auf eine Vielzahl von Perspektiven, die z.T. auf eine lange Tradition zurückblicken wie z.B. im Sport oder sich beispielsweise an eine wissenschaftliche Auffassung, die medizinisch-epidemiologische RisikofaktorenTheorie, anlehnen. Der Vielfalt der Perspektiven entspricht, daß jeweils bestimmte Aspekte einer gesundheitsgerechten Lebensweise in den Blickwinkel rücken. Angefangen bei einer Auffassung, die sich einer ausschnitthaften Bearbeitung gesundheitlicher Gefährdungen zuwendet, setzen sich die Perspektiven fort bis hin zu einer selten anzutreffenden, ganzheitlichen Betrachtungsweise, die die gesamte Lebensführung unter dem Gesichtspunkt ihrer gesundheitlichen Auswirkungen problematisiert. Wir haben versucht, die verschiedenen Dimensionen, auf die sich die Förderung des Gesundheitsverhaltens richtet, zum Zwecke der Darstellung in analytische Begriffe zu fassen. Dabei haben wir uns orientiert an den unterschiedlichen Vorverständnissen, die jeweils von den Trägern eingebracht werden. Im Ergebnis sind wir zu 5 "Gesundheitsfunktionen" gelangt, die das Spektrum der Angebote repräsentieren (Tabelle 1). Im Vergleich zu den Gesundheitsfunktionen "Bewegung" und "Ernährung" weisen die Funktionen "Suchtprophylaxe", Streßprophvlaxe" und "Probleme in bestimmten Lebenssituationen" einen

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D. Gesundheitsvorsorge in der Gemeinde

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Das Beispiel des Kreises Mettmann

101

starken inhaltlichen Zusammenhang auf. Die Trennung ist dennoch erfolgt, weil in den Angebotsformen sich jeweils ein spezifischer Zugang ausdrückt. Mit "Suchtprophylaxe" sind Angebote zu den Problemen Drogen, Rauchen, Alkohol und Medikamentengebrauch erfaßt. Mit der Gesundheitsfunktion "Probleme in bestimmten Lebenssituationen" sind eine Reihe von Angeboten zusammengefaßt, die sich der Bewältigung von bestimmten Belastungen (z.B. Probleme des Alleinseins, Erziehungsprobleme, Partnerschaftsschwierigkeiten) zuwenden. Mit "Streßprophylaxe" sind Entspannungskurse und Autogenes Training abgedeckt. Wie aus Tabelle 1 hervorgeht, variiert der Umfang der Angebote sehr stark nach Trägerschaft. Die unterschiedlichen Profile der einzelnen Träger führen insgesamt zu einem Angebot, das offensichtlich Lücken in einigen Gesundheitsfunktionen aufweist (z.B. Ernährung). Im folgenden wollen wir uns näher mit den Orientierungen der Träger beschäftigen, die das Profil der Angebote beeinflussen.

Gesundheitsamt

Das Gesundheitsamt ist in Tabelle 1 nicht aufgeführt, da sein aktueller Beitrag zur Gesundheitsvorsorge in der Krankheitsfrüherkennung besteht (Reihenuntersuchungen bei Kindern und Jugendlichen), nicht jedoch in der Förderung des Gesundheitsverhaltens. Bedenkt man, daß das Gesundheitsamt nach dem "Gesetz über die Vereinheitlichung des Gesundheitswesens" und den dazugehörigen Durchführungsverordnungen einen umfassenden Auftrag zur "Förderung der Volksgesundheit" hat, so sind von daher Aktivitäten zur Förderung des Gesundheitsverhaltens gut begründet 4) Die z. Zt. bestehende Abstinenz in der Förderung des Gesundheitsverhaltens wird mit der Überlastung in anderen Aufgabenbereichen begründet. Allerdings wird auch eingestanden, daß das Gesundheitsamt auf solche Aufgaben nicht eingerichtet ist.

102

D. Gesundheitsvorsorge in der Gemeinde

AOK Mettmann Das Angebot zur Förderung des Gesundheitsverhaltens der AOK Mettmann hat nach eigener Auffassung seihe gesetzliche Grundlage im allgemeinen Teil des Sozialgesetzbuches und im Krankenversicherungsänderungsgesetz . Darüber hinaus kann auf die 3. Verordnung zum Aufbau der Sozialversicherung vom 18.12.34 verwiesen werden Das Programm der AOK zielt auf eine Prävention von Herz-Kreislauf-Krankheiten. Das Angebot ist gerichtet auf die Risikofaktoren Bewegungsmangel, Ubergewicht, Streß und Zigarettenrauchen. Damit wird der sekundären Prävention insoweit der Vorrang eingeräumt, als die Zielpopulation bereits unter dem Gesichtspunkt einer manifesten Krankheitsgefährdung ausgewählt wird. Im Unterschied zu anderen Trägern wie Sportvereinen und Volkshochschulen bezieht sich die AOK auf medizinisch-epidemiologische Vorstellungen. Als Krankenkasse gibt sie einer medizinisch orientierten Sichtweise den Vorzug. Nach herrschender Auffassung '' haben aber auf Krankheitsverhütung angelegte Begründungen der Angebote eine andere Wirkung auf das Inanspruchnahmeverhalten als Angebote, die im Rahmen von Freizeiteinrichtungen erbracht werden. Gegenüber Vorsorgeangeboten, die im Freizeitverhalten der Bevölkerung Tradition haben, haben krankheitsbezogene Angebote nach der Erfahrung einen schweren Stand. Eine Besonderheit der "Aktion Gesundheit" der AOK im Vergleich zu anderen Trägern liegt in der angestrebten Kooperation "mit allen am Gesundheitssystem Beteiligten". Dabei versteht die AOK sich als "Transmissionsriemen für den Bereich der Gesund8) heitssicherung und -förderung" . Demzufolge versucht sie, in verschiedenen Einrichtungen Aktivitäten der Gesundheitsvorsorge zu initiieren, insbesondere da, wo bestimmte Träger (z.B. Gesundheitsamt) ihren Aufgaben nicht nachkommen können. Inwieweit diese Initialfunktion zum Ergebnis hat, die Verantwortlichkeit anderer Träger für die Gesundheitsvorsorge zu stärken, kann noch nicht abschließend beurteilt werden. Wir werden auf Probleme der Kooperation im letzten Abschnitt zurückkommen.

Das Beispiel des Kreises Mettmann

103

Einrichtungen der Weiterbildung Grundlage der Arbeit der kommunalen Weiterbildungseinrichtungen (Volkshochschule) und der freien Träger (Kirchen, WohlQ)

fahrtsverbände) ist das Weiterbildungsgesetz , das die Aufgaben der Weiterbildung festlegt. Angebote zur Förderung des Gesundheitsverhaltens werden mit den Aufgaben "freizeitorientierte und die Kreativität fördernde Bildung", "Eltern- und Familienbildung" und "personenbezogene Bildung" abgedeckt. Ein ausdrücklicher Bezug auf die Gesundheitsvorsorge ist im Gesetz nicht enthalten. Allein die kommunalen Einrichtungen, also die Volkshochschulen, sind verpflichtet, die im Gesetz geregelten Aufgaben der Weiterbildung abzudecken (§ 13 WbG). Einrichtungen in anderer Trägerschaft dagegen brauchen sich nicht an diesen Katalog zu halten (§ 22 WbG), sie sind jedoch gehalten, ihre Kapazitätsplanungen mit den kommunalen Trägern abzustimmen (§ 23 WbG). Der umfassende gesetzliche Auftrag für die Volkshochschulen spiegelt sich auch wider in der Breite des Angebots (vgl. Tabelle 1): Die Volkshochschulen bieten über alle Gesundheitsfunktionen hinweg Kurse an, ihr Angebot ist mit Abstand das umfangreichste. Die freien Träger dagegen decken eine wesentlich geringere Spannbreite ab, z.T. haben sie sich auf nur eine Gesundheitsfunktion spezialisiert. Ihre Bildungswerke fungieren als verlängerter Arm der jeweiligen Sozial- und Beratungsarbeit, wo der Schwerpunkt ihrer Tätigkeit liegt. Allen Angeboten kann dadurch auch nicht mehr eine eindeutige Orientierung auf Prävention hin zuerkannt werden, die Obergänge in den therapeutischen Bereich sind fließend Eine breitere Orientierung über mehrere Gesundheitsfunktionen hinweg wie bei den Volkshochschulen und in abgeschwächter Weise auch bei den kirchlichen Weiterbildungseinrichtungen drückt eine starke Nachfrageorientierung aus, d.h., die Struktur des Angebots ist Ausdruck einer an die Träger gerichteten manifesten Nachfrage und nur in geringerem Maße Ausdruck einer vom Träger sich selbst zugeschriebenen Verantwortlichkeit für die Förderung des Gesundheitsverhaltens. Der vergleichsweise starke Oberhang von Angeboten wie Gymnastik, Autogenes Training und Yoga macht dies deutlich. Dagegen ist die Förderung

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D. Gesundheitsvorsorge in der Gemeinde

des Gesundheitsverhaltens im Ernährungsbereich völlig unterentwickelt (vgl. Tabelle 1), obwohl die Verbreitung ernährungsbedingter Krankheiten bekanntermaßen groß ist (vgl. Ernährungsberichte 1976/1980) . Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß sowohl eine Nachfrageorientierung als auch eine selektive Ausrichtung auf bestimmte Gesundheitsfunktionen auf dem Hintergrund unterschiedlicher Selbstverständnisse zwangsläufig Lücken in der Gesundheitsvorsorge zur Folge haben muß. Bezogen auf die Risikostruktur der Bevölkerung stellt eine auf manifeste Nachfrage abgestellte Gesundheitsvorsorge kein adäquates Angebot dar.

Sportvereine Innerhalb der Gesundheitsfunktion "Bewegung" bestreiten die Sportvereine einen erheblichen Teil des Gesamtangebots. Wenn auch im Sporttreiben unterschiedliche Motive wirksam (gewesen) sind, so ist der Sport seit der Industrialisierung, insbesondere im organisierten Arbeitersport um die Jahrhundertwende, auch Ausgleich gegen Belastungen, die Industrialisierung und Urbanisierung geschaffen haben (H. Eichberg, 1980). Sporttreiben hat mittlerweile einen festen Platz im Freizeitverhalten der Bevölkerung. Es stellt ein Bezugssystem eigener Art dar, das der Legitimation durch den Nachweis der gesundheitlichen Wirkung nicht mehr bedarf. Das Breitensportangebot der Vereine hat sich in den letzten Jahren ausgeweitet, wenn auch die Bereitschaft, Angebote für Nichtmitglieder zu erstellen, bisher nur gering ausgeDrägt ist. Diese Ausweitung ist weitgehend auf eine verstärkte gesundheitlich motivierte Nachfrage zurückzuführen. Insbesondere die Turnvereine haben auf diese Nachfrage reagiert (vgl. Tabellen 3 und 4). Wenn der Einstieg in den Breitensport erfolgt, so geschieht dies nicht immer uneigennützig: Breitensportabteilungen verursachen geringe Kosten und tragen damit zur Unterstützung des Leistungssports bei. Der Wettkampfsport ist nach wie vor die Form der Sportausübung, die am stärksten staatlich gefördert wird und die Orientierung

Das Beispiel des Kreises Mettmann

105

der Vereine dominiert. Er ist für das Ansehen der Sportvereine maßgeblich und bestimmt auch die Darstellung in der Öffentlichkeit. Eine Einbeziehung weiterer Teile der Bevölkerung in den Vereinssport ließe sich vermutlich allein schon dadurch erreichen, daß das Breitensportangebot der Vereine nach außen sichtbarer gemacht wird.

3. Erste Ergebnisse der Untersuchung im Kreis Mettmann

Bei der differenzierten Darstellung der Ergebnisse gehen wir zunächst von der Vorstellung aus, daß eine Verbesserung der Gesundheitsvorsorge die Angebotsstruktur in Deckung bringen muß mit der Risikostruktur in der Bevölkerung. Bei dem gegenwärtigen Stand der medizinischen Epidemiologie lassen sich nur wenige verläßliche Indikatoren für das Gesundheitsrisiko einer Bevölkerung heranziehen. Darüber hinaus sind für ein gezieltes Vorgehen die Bedingungen nur unzureichend bekannt, unter denen "risikoträchtiges Verhalten"

(Erwin Jahn) auf-

tritt. Wir müssen uns daher vorwiegend auf Kriterien beschränken, die die Qualität der Angebote bewerten. Hierunter fallen vor allem inhaltliche und regionale Ungleichgewichte in der Angebotsverteilung oder Beschränkungen auf bestimmte Bevölkerungsgruppen . Der Forscher wie auch der potentielle Planer stößt bei den einzelnen Trägern auf eine sehr unterschiedliche Datenlage über das Angebot. Dokumentationen sind ebenfalls vom Eigeninteresse des Trägers geprägt und daher für eine Gesamtbewertung lückenhaft oder nur bedingt brauchbar. Da sich unsere Angaben auf Sekundäranalysen stützen, sind Aussagen häufig mit Einschränkungen versehen.

3.1 Flächendeckung Mit der "Flächendeckung" greifen«wir ein Kriterium auf, das seit langem für öffentliche Einrichtungen einen generellen Planungsgesichtspunkt darstellt. Im folgenden werden an den bei-

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D. Gesundheitsvorsorge in der Gemeinde

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Das Beispiel des Kreises Mettmann

107

den Gesundheitsfunktionen "Bewegung" und "Ernährung" Differenzen in der Verteilung der Angebote offengelegt.

3.1.1 Regionale Verteilung der Bewegungsangebote Die Sportvereine dominieren traditionell den Bewegungsbereich, nehmen aber in der Außendarstellung eine Differenzierung unter dem Aspekt des Breitensports nicht vor. Wir werden daher bei den Sportvereinen z.T. andere Kriterien anlegen als bei den übrigen Trägern. Zunächst werden in Tabelle 2 die offenen Angebote dargestellt, das sind solche, die nicht die Mitgliedschaft in einer Organisation voraussetzen. Die Anzahl der in den einzelnen Städten stattfindenden Angebote für Nichtmitglieder variiert zwischen 10 und 106. Dieser Unterschied ist wesentlich größer als der Unterschied in der Bevölkerungszahl, der nicht einmal ganz 1:5 beträgt. Ein Vergleich anhand der Bevölkerungszahlen offenbart zudem, daß die Anzahl der Kurse nicht kontinuierlich mit der Zunahme der Bevölkerung wächst. Das positive Ergebnis ist in einem Fall auf die Bereitschaft der Sportvereine zurückzuführen, in Absprache mit der VHS vermehrt Kurse für Nichtmitglieder anzubieten. In einer weiteren Stadt finden wir eine Häufung von Einrichtungen der Weiterbildung, die insgesamt für ein umfangreiches Angebot sorgen. Es sind also Besonderheiten der Angebotserstellung, die eine größere Nachfrage herbeigeführt haben. Dieses Ergebnis ist als Indiz dafür zu werten, daß die Möglichkeiten zur Förderung von Bewegungsverhalten in anderen Städten noch nicht genügend genutzt werden. Die Anzahl der Sportvereine in den Städten des Kreises ist zwar wesentlich größer als die Anzahl der Weiterbildungsträger, doch kann man nicht das gesamte Vereinsangebot ohne weiteres der Gesundheitsvorsorge zuschlagen, da die Sportvereine nach wie vor den Leistungssport favorisieren. Wir haben uns daher besonders dafür interessiert, welche Rolle in den Vereinen das Angebot für besondere Zielgruppen spielt. In einer Stichprobe von circa einem Drittel aller Turnvereine im Kreis fanden wir Angebote für folgende Zielgrupnen vor.

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Das Beispiel des Kreises Mettmann

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Außerdem unterbreiten 69% dieser Vereine Angebote für "Jedermann" als Freizeitsport, die sich wie die Zielgrunpenangebote deutlich vom Leistungssport abheben. Einen Versuch, die Verbreitung solcher Sportangebote in allen Vereinen zu beschreiben, stellt Tabelle 3 dar. Danach sprechen 20% der Vereine besondere Zielgruppen an. Ihre regionale Verteilung weist jedoch auf eine unterschiedliche Versorgung hin. Den Hauptanteil an Zielgruppenangeboten tragen die Turnvereine (vgl. Tabelle 4). Monovereine, die sich nur einer Sportart widmen, bieten nur in Ausnahmefällen Zielgruppenangebote an. Manchmal lassen auch die entsprechenden Anlagen eine andere Nutzung gar nicht zu. Aber auch die Ausübung des Sports in Monovereinen hat häufig durchaus Freizeitcharakter. Wegen der fachverbandsbezogenen Dokumentation in den Vereinen läßt sich jedoch keine Aussage über die Verbreituna des Freizeitsports machen. Bei den Mehrspartenvereinen finden wir Zielgruppenangebote bei jedem zweiten Verein vor. Bemerkenswert an solchen vereinsinternen Angeboten ist ihre geringe Sichtbarkeit von außerhalb, öffentliche Programmhefte wie bei den Trägern der Weiterbildung bleiben eine Ausnahme. Insgesamt läßt die Datenlage nur ein grobes Bild der Situation im Bewegungsbereich zu: Wer die Schwelle des Vereinsbeitritts nicht überschreiten will, hat ganz unterschiedliche Chancen der Beteiligung an dem Bewegungsangebot. Es liegt der Schluß nahe, daß auf diesem Gebiet noch Möglichkeiten zur Anaebotserweiterung liegen. Voraussetzung für eine gezielte Erweiterung ist die gegenseitige Transparenz der Angebote und die Abstimmung der Anbieter in diesem Bereich.

3.1.2 Regionale Verteilung der Angebote zur Förderung gesunder Ernährungsweisen In starkem Kontrast zum Bewegungsangebot, das wir in viel-

Träger 1) Bildunqswerk des Landessportbundes

großer Turnund Sportverein (1981)

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110 D. Gesundheitsvorsorge in der Gemeinde

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fältiger Trägerschaft und in beachtlicher Menge vorfinden, steht das geringe Angebot zur Förderung gesunden Ernährungsverhaltens . Flächendeckend wird die Ernährungsberatung von der AOK angeboten. Fast überall vertreten sind auch die kommerziell orientierten Gruppen der Weight Watchers. Inhaltlich handelt es sich überwiegend um Veranstaltungen, die sich an Frauen mit Ubergewicht richten. Trotz der weiten Verbreitung von Fehl-, insbesondere Uberernährung und der insgesamt geringen Zahl von Angeboten besteht kein Nachfrageüberhang. Diese Tatsache ist ein Indikator für die geringe Attraktivität von Angeboten, die allein auf Gewichtsreduzierung hinzielen und damit nur an vorhandenem Problemdruck ansetzen. Daher ist zur Förderung gesunder Ernährungsweisen eine mengenmäßige Ausweitung der Angebote sicher nicht ausreichend. Vielmehr müssen neue Wege zur Förderung des Gesundheitsverhaltens entwickelt werden. Die Verwertung bisher gesammelter Erkenntnisse im wissenschaftlichen und praktischen Bereich, auch der Erfahrungsaustausch unter den Trägern ist Voraussetzung einer Qualitätsverbesserung. Sie wird jedoch durch die ausgeprägte Nachfrageorientierung und den geringen Innovationsspielraum verschiedener Träger ebenso behindert wie durch die mangelnde Zusammenarbeit.

3.2 Zielgruppenorientierung Mängel der Angebotsstruktur zeigen sich auch in der unterschiedlichen Repräsentanz verschiedener Bevölkerungsgrupoen. Soweit verfügbar haben wir Daten zur Teilnehmer- bzw. Mitgliederstruktur auf solche Ungleichgewichte hin untersucht. Die Altersstruktur ist besonders interessant und aussagekräftig für die Gesundheitsfunktion Bewegung, da aus gesundheitlicher Sicht die Ausführung von Bewegungsaktivitäten lebensbegleitend sein sollte. Aus Tabelle 5 läßt sich ersehen, daß die Verteilung der Altersgruppen angebotsspezifisch ist. Zunächst sticht die Dominanz von Kindern und Jugendlichen im Sportverein hervor. Volkshochschulen, Lauftreffs und das Bildungswerk des Landessportbundes kompensieren die Unterreprä-

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D. Gesundheitsvorsorge in der Gemeinde

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Das Beispiel des Kreises Mettmann

113

sentanz der erwachsenen Bevölkerung teilweise. Die Vorsorgeangebote der VHS sind eine Domäne der Frauen. Verbreitetes Bewegungsangebot ist dort die Gymnastik, differenziert nach verschiedenen Zielgruppen. Daran wird deutlich, daß für eine stärkere Einbeziehung Erwachsener in den Freizeitsport die Schaffung ganz bestimmter Bewegungsangebote entscheidend sein dürfte. Eine hinreichend bekannte Tatsache ist die Unterrepräsentanz von Arbeitern in der Volkshochschule

(Schulenberg u.a., 1978).

Sie wird auch für die Angebote zur Gesundheitsvorsorge durch unsere Daten bestätigt

(vgl. Tabelle 6). Aber auch für Lauf-

treffs der AOK fällt das Ergebnis nicht befriedigend aus. Läßt sich gegen die Volkshochschule ins Feld führen, daß ihre als Lehrveranstaltungen konzipierten Angebote Erfahrungen voraussetzen, die nur durch eine längere Schulzeit vermittelt werden, so läßt sich bezüglich der Lauftreffs als auch der Volkshochschule auf eine starre Zeitbindung der Angebote verweisen

(vorwiegend Abendveranstaltungen), die besonders den

Schichtarbeitern eine kontinuierliche Teilnahme unmöglich machen. Die eindeutige soziale Selektivität stimmt noch bedenklicher, wenn man berücksichtigt, daß von der Risikostruktur her die Arbeiter hoch belastet sind

(Neumann/Liedermann,

1981 und Loose u.a., 1982). Bei der vorherrschenden Nachfrageorientierung der Träger kann man absehbar keine Veränderung dieses Zustandes erwarten. Aktuell fehlen häufig auch die Anreize, einen größeren Aufwand zur Rekrutierung neuer Teilnehmer zu betreiben, wenn gleichzeitig vorhandene Interessenten abgewiesen werden müssen.

4. Angebotsqualität: professionelle Sichtweisen und Laienkompetenz

Zwischen dem Ziel, Gesundheitsvorsorge für die Bevölkerung zu sichern und den gegenwärtigen Mitteln und Wegen, dieses Ziel auch zu erreichen, besteht eine unübersehbare Lücke. Die bisher eingeschlagenen Wege (Aufklärung) haben keine überzeu-

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D. Gesundheitsvorsorge in der Gemeinde

gende Wirkung gezeitigt. Man kann dieses Mißverständnis von mangelhafter Mittelstruktur und dem gesellschaftspolitischen Ziel Gesundheitsvorsorge, wobei Gesundheitsvorsorge hier ein sehr breites Spektrum von Vorstellungen meint, im Lichte der Anomietheorie von Merton interpretieren (Merton, 1957). Danach drückt das Mißverhältnis von gesellschaftlich propagierten Zielen und der Unklarheit über die angemessenen Mittel eine Orientierungslosigkeit aus, die wir soziologisch als eine anomische Situation auffassen. Diese Situation führt insbesondere diejenigen in Bedrängnis, die für die Förderung des Gesundheitsverhaltens eine Verantwortung tragen. Für die Anbieter liegen zwei Formen der Anpassung vor, die Ausdruck ihres Selbstverständnisses sind: Professionalisierung und Medikalisierung. Demgegenüber trifft man kaum auf den Versuch, an vorwissenschaftliche Erfahrungen anzuknüpfen (Schipperges, 1977) . Mangels ausreichender Vorstellungen über eine adäquate Mittelstruktur zeichnet sich die Tendenz ab, die Qualität der Angebote an der fachlichen Qualifikation der Mitarbeiter festzumachen. Wir können sowohl in den Einrichtungen der Weiterbildung als auch in den Sportvereinen eine zunehmende Entwicklung zur Professionalisierung von Kursleitern feststellen. In den Volkshochschulen wird beispielsweise der Übungsleiter durch den Sportlehrer verdrängt. Bei Angeboten, die einen ausdrücklichen Bezug zur Gesundheit vornehmen, wird darüber hinaus die Gefahr einer Medikalisierung sichtbar. Zum Beispiel wird Gymnastik nur dann als der Gesundheitsvorsorge dienlich gewertet, wenn sie nach den Erkenntnissen der Sportmedizin ausgerichtet und von entsprechend geschultem Personal angeleitet wird. Bei Ausdauerübungen wird die Erreichung einer bestimmten Pulszahl als wesentlich für den Wert der Übungen erachtet; die Teilnehmer werden angehalten, ihren Pulsschlag ständig zu kontrollieren. Die Qualität der Gesundheitsvorsorge wird somit professionellen Standards überantwortet, ohne daß die Gefahren einer solchen Professionalisierung bzw. Medikalisierung reflektiert werden (Kaufmann, 1979). Gerade die konkreten Lebensverhältnisse verschwinden unter den Vorgaben einer Profession sehr leicht aus dem Blickfeld, obwohl der normative Anspruch auf Umsetzung veränderten Verhaltens in diese Verhältnisse beibe-

Das Beispiel des Kreises Mettmann

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halten wird. Daraus resultiert häufig eine noch verstärkte Auslese der Teilnehmer nach den Erfordernissen der professionellen Ansprüche statt einer flexiblen Durchführung des Angebots . Demgegenüber erfordert die Weiterentwicklung der Gesundheitsvorsorge eine alltagsnahe Gestaltung entsprechender Angebote. Alltagsnah heißt in diesem Zusammenhang, daß die Nutzung offengehalten wird für vielfältige Handlungsperspektiven der Bürger, für Spaß, Geselligkeit, Gesunderhaltung. Dies bedeutet, daß die Struktur der Angebote offen sein muß für die unterschiedlichen Sichtweisen der Bürger. Gegenwärtig fehlt es in der Gemeinde an strukturierten Möglichkeiten, durch die eine Artikulierung der Bedürfnisse von Laien gesichert ist. Eine auf Nachfrage gestellte Steuerung reicht hierzu nicht aus, wie der Überblick über die Zusammensetzung der Angebote und ihre selektive Inanspruchnahme gezeigt hat.

5. Möglichkeiten zur Weiterentwicklung der Gesundheitsvorsorqe

Nach den bisherigen Ergebnissen weist die Förderung des Gesundheitsverhaltens erhebliche Lücken auf. Auch der gegenwärtige Bestand ist nicht gesichert und entspricht von der Qualität her nicht immer den Erfordernissen. Eine Weiterentwicklung der Gesundheitsvorsorge auf Gemeindeebene stößt auf die verfassungsrechtlich gewollte Schwäche der politischen Gemeinde in der Sozialen Arbeit. Für die gemeindebezogene Förderung des Gesundheitsverhaltens besteht daher praktisch ein Vakuum, in das partiell Verbände, Vereine und andere Institutionen vorstoßen. Denkbar wäre, daß ein Träger stellvertretend für die Gemeinde die Verantwortung für die Vorsorge übernimmt. Hierbei dürften jedoch Widerstände aufbrechen, weil andere beteiligte Träger um ihrer Selbstdarstellung willen um diese Position konkurrieren müssen (Dahme/Hegner, 1982). Die AOK hat in dieser Hinsicht bereits mit ihrer Aktion Gesundheit Erfahrungen gesammelt, als sie mit Domänen des Gesundheitsamtes, der Wohlfahrtsverbände und anderer in Berührung gekommen ist. Die verfassungsrechtliche Situation in der Bundesrepublik ent-

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D. Gesundheitsvorsorge in der Gemeinde

hält Vorgaben, die nur bestimmte Lösungen zulassen. Der Weg zur Schaffung von Verantwortlichkeiten über ein allgemeines Gesundheitsvorsorge-Gesetz ist sehr erschwert. Länderkompetenzen und das Subsidiaritätsprinzip stehen einer bundesweiten Regelung und ihrer Umsetzung entgegen (WIdO-Materialien, 1979). Eine Lösung wäre in der Weise vorstellbar, daß die Gesundheitsvorsorge im Sozialrecht verankert wird. Die Verantwortung soll den Sozialleistungsträgern, insbesondere den gesetzlichen Krankenkassen übertragen werden (Mudra, 1978, Standfest, 1978). Dagegen spricht jedoch nicht nur die Ausrichtung des Sozialrechts auf Einzelleistungen, "die Systemwidrigkeit der Gesundheitsvorsorge" (von Ferber, 1981). Die medizinische Orientierung, die die Vorsorge aus der Früherkennung herleitet, erlaubt den Obergang zur sekundären Prävention in Form der "Risikofaktorenbekämpfung" (Pflanz, 1979). Die primäre Prävention bleibt auch hier ausgespart (von Ferber, 1979), weil vorhandene Ansätze nicht ausgeschöpft werden (3. Verordnung zum Aufbau der Sozialversicherung vom 18.12.1934). Eine weitere Alternative liegt in der Einbeziehung der Gesundheitsvorsorge in den Aufgabenkatalog bisher schon bestehender sozialer Dienste. Dem steht zweierlei hindernd entgegen. Einmal konkurriert die Gesundheitsvorsorge mit anderen Aufgaben der Träger. Die Erfahrungen der Beratungsstellen zeigen, daß Vorsorge sich nur behaupten kann, wenn ihr ein fester Platz eingeräumt wird und sie sich nicht gegen weitere Aufgaben behaupten muß. Zum anderen fehlt derzeit der Gesundheitsvorsorge die Anerkennung als Gemeinschaftsaufgabe einer Vielzahl von Trägern. Diese Anerkennung ist aber Voraussetzung für eine systematische Weiterentwicklung in freier Absprache der Beteiligten. Die gemeindebezogene Arbeitsgemeinschaft ist eine denkbare Form der notwendigen Kooperation.

Das Beispiel des Kreises Mettmann

117

Anmerkungen

1) An der Untersuchung wirken mit: Prof. Chr. von Ferber (Leitung), C. Aßhorn, G. Bringmann-Vasen, L. Pientka 2) Untersuchungsgebiet ist der Kreis Mettmann in Nordrhein-Westfalen. Der Kreis liegt zwischen den Großstädten Düsseldorf, Essen, Wuppertal und Leverkusen und umfaßt 10 Städte zwischen 21.000 und 93.000 Einwohnern. 3) § 4 Abs. 1, I. DVO zum GVG vom 6.2.1935 4) Außerhalb des Kreises Mettmann sind uns Beispiele bekannt geworden, in denen das Gesundheitsamt diesem Auftrag (Förderung des Gesundheitsverhaltens) nachkommt. 5) Vgl. AOK Kreis Mettmann, Grundlagenbericht zur Aktion Gesundheit, 1981 6) 3. Verordnung zum Aufbau der Sozialversicherung vom 18.12.1934 (RGBL I S. 1266 = DOK 1935,21) 7) Vgl. den Beitrag von U. Canaris in diesem Band. 8) AOK Kreis Mettmann, a.a.O., 1981, S. 22. 9) "Erstes Gesetz zur Ordnung und Förderung der Weiterbildung im Lande Nordrhein-Westfalen in der Fassung der Bekanntmachung vom 8. Februar 1980", GV. NW. 1980, S. 156. 10) Eine zunehmende Vernachlässigung der Prävention zugunsten therapeutischer Behandlungsformen müssen wir auch bei den verschiedenen Beratungsstellen im Kreis Mettmann feststellen, obwohl Prävention als ein Aufgabenbereich anerkannt wird.

Können gemeindezentrierte Interventionsstudien zur Verbesserung der Gesundheit beitragen? Jürgen von Troschke

1.

Einleitung

Das vorgestellte Teilprojekt des Forschungsverbundes befaßt sich mit der 'Systematisierung und Intensivierung der Gesundheitsvorsorge in einer Region 1 . Erklärtes Ziel ist es, "praktikable Wege für eine Intensivierung der Gesundheitsvorsorge aufzuzeigen"."''' Es geht um die Deskription und Analyse gesundheitsbezogener Angebote auf Gemeindeebene (ursprünglich mit dem Anspruch der Erstellung eines sog. 'Gesundheitsatlas1) als Basis für Maßnahmen zur qualitativen und quantitativen Verbesserung der Gesundheitsvorsorge. Dabei wird gedacht an eine Arbeitsgemeinschaft, in der verschiedene Träger regional zusammengeführt werden sollen. Die Bestandsaufnahme wurde im Kreis Mettmann vorgenommen, in dem die AOK seit 1977 eine sog. 'Aktion Gesundheit' durchführt. 2)

Es handelt sich dabei um eine Modellstudie,

in der für die Be-

völkerung der 10 Gemeinden des Landkreises präventive Maßnahmen durchgeführt werden (vor allem zur positiven Beeinflussung der Risikofaktoren von Herz-Kreislauf-Erkrankungen). Bei der Beurteilung der vorgelegten Ergebnisse stellt sich grundsätzlich das Problem der Vergleichbarkeit mit anderen Gemeinden oder Landkreisen in der Bundesrepublik Deutschland, in denen keine derartigen Modellaktionen durchgeführt werden. Auf der anderen Seite könnten die Daten benutzt werden für eine Evaluation der 'Aktion Gesundheit'. 4) Ein Korreferat könnte auf verschiedene Fragestellungen eingehen: Man könnte diskutieren, ob die angewandten Methoden dem Gegenstand hinreichend gerecht werden, d.h. welche Aussagekraft die sekundärstatistischen Auswertungen haben (u.a. Fragen nach der Ergänzung durch qualitative Befragungen der Verantwortlichen in den Trägerorganisationen). Darüber hinaus wäre zu fragen, ob eine differenzierte Beschreibung der historischen Entwicklung der gesundheitsbezogenen Angebotsstrukturen nicht eine wichtige Ergänzung zum

120

D. Gesundheitsvorsorge in der Gemeinde

Verständnis liefern könnte. Schließlich wäre nach der Beziehunqsstruktur zwischen den verschiedenen Trägern zu fragen, nach latenten und manifesten Konflikten

(und deren Ursachen), die die für notwendig

gehaltene Kommunikation und Kooperation verhindern bzw. stören. Interessanter erscheint unter der selbst gestellten Forderung des Forschungsverbundes nach Anwendungsorientierung der Ergebnisse die Frage nach der Umsetzbarkeit. Dabei bieten sich verschiedene Zugänge an: Umsetzungsmöglichkeiten für die Erstellung entsprechender

'Gesundheitsatlanten' in anderen Gemeinden

oder für die Verbesserung gesundheitsbezogener Angebote in anderen Gemeinden. Da das vorgestellte Projekt ebenso wie die darin dargestellte 'Aktion Gesundheit' noch laufen und nicht abgeschlossen sind, kann deren Übertragbarkeit noch nicht hinreichend beantwortet werden. Anhand der dargestellten Ergebnisse lassen sich dagegen weitergehende Schlußfolgerungen allgemeiner Art für die Planung und Durchführung von präventiven Interventionen auf Gemeindeebene ableiten. Das kann insofern von Bedeutung sein, als zur Zeit weltweit gemeindezentrierte Interventionsstudien^' durchgeführt werden mit dem Ziel, über eine Verbesserung gesundheitsbezogener Angebote Risikofaktoren bzw. die damit in Zusammenhang stehenden Morbiditäts- und Mortalitätsraten bestimmter Krankheiten positiv zu beeinflussen. Auch in der Bundesrepublik Deutschland wird derzeit ein Großforschungsprojekt durchgeführt - die Deutsche Herz-Kreislauf-Präventions-Studie

(DHP) - mit dem Ziel,

durch gemeindezentrierte Interventionsmaßnahmen die Morbidität und Mortalität von Herz-Kreislauf-Erkrankungen und damit die Gesamtmortalität der Bevölkerung zwischen 34 und 65 Jahren zu senken.^' Darüber hinaus werden - angeregt durch die positiven 7) 8) Erfolge in Wiesloch/Eberbach und in Emmendingen - in verschiedenen Gemeinden Aktionen zur Intensivierung gesundheitsbe9) zogener Angebote geplant. In diesem Zusammenhang wollen wir in unserem Beitrag einige wesentliche Grundmerkmale gemeindezentrierter

Interventionsstu-

dien aufzeigen und anwendungsorientierte Empfehlungen geben.

Gemeindezentrierte Interventionsstudien

2.2

Merkmale qemeindezentrierter

121

Interventionsstudien

Allen Projekten gemeinsam ist das Ziel einer Verbesserung des Gesundheitsstandes der Bevölkerung abgrenzbarer Regionen durch die konzertierte Anwendung gesundheitsbezogener

Interventions-

maßnahmen. Zumeist wurde versucht, über eine Veränderung des Gesundheitsverhaltens''"0' und anderer Risikofaktoren''''''' eine Verbesserung der Morbiditäts- und Mortalitätsraten zu erreichen. Als wissenschaftliche Grundlage dienten die Ergebnisse epidemiologischer Untersuchungen; z.B. über Herz-Kreislauf-Erkrankungen und deren Risikofaktoren. Entsprechend wurde der epidemiologischen Evaluation ein besonderes Gewicht zugemessen. Obwohl die Studien sehr unterschiedlich angelegt waren bzw. in ihren Zielgruppen nur bedingt vergleichbar sind (von den 180 000 Einwohnern im Interventionsgebiet Nordkarelien/Finn12)

land

bis zu den 15 000 Einwohnern der Gemeinde Aarau/Schweiz)

lassen sich einige Grundprinzipien beschreiben. Die Interventionen zielen als Maßnahmen zur primären Prävention auf eine Verhinderung gesundheitsschädigender Verhaltensweisen sowie als Maßnahmen zur sekundären Prävention auf eine V m — besserung des Gesundheitsverhaltens und andere positive Veränderungen bei den Risikofaktoren. Die in den Gemeinden vorgefundenen Angebote zur Gesundheitserziehung von Kindern und Jugendlichen, zur Gesundheitsaufklärung von Erwachsenen und Gesundheitsberatung in medizinischen Institutionen sollten gualitativ und quantitativ verbessert werden. Begleitet von massenkommunikativen Aktionen zur Information der Bevölkerung wurden neue gesundheitsbezogene Angebote organisiert und durchgeführt^' (Vorträge, Kurse, Informationsveranstaltungen, Feste etc.). Lokale Multiplikatoren wurden ausgebildet in der Anwendung neuer Programme (z.B. Ernährungskurse). Personen und Organisationen, die sich schon in der Vergangenheit im Rahmen der Gesundheitsvorsorge engagiert hatten, wurden zur Intensivierung ihrer Angebote sowie zur Kooperation untereinander motiviert. Lokale Koordinationsstellen wurden eingerichtet

(Gesundheitszentren,

Cfesundheitstreffs, Gesundheitsläden etc.) als

'Informationsbör-

sen1 und Informationszentralen. Durch interventionsstrategische Maßnahmen sollte eine stabile Implementation der gesundheitsbezogenen Innovationen in den Zielgemeinden erreicht werden. Am Anfang stand häufig eine mehr oder weniger umfassende Bedarfs- und Bedürfnisanalyse sowie die

122

D. Gesundheitsvorsorge in der Gemeinde

Dokumentation der vorgefundenen gesundheitsbezogenen Angebote in der Zielgemeinde. Die Macht- und Einflußträger wurden informiert und zur passiven oder aktiven Unterstützung der Intervention motiviert. Kontakte zu lokalen Vertretern der öffentlichen Medien (Presse, Rundfunk, Fernsehen) wurden hergestellt, um eine möglichst positive Berichterstattung und Werbung für die Teilnahme an den Interventionsveranstaltungen zu bewirken. Mit den lokalen Organisationen, Institutionen und Personen, die sich bisher in bezug auf Gesundheitserziehung, -aufklärung und -beratung engagiert hatten, wurden Kontakte aufgenommen und Kooperation svereinbarungen getroffen. Die im Zusammenhang mit der Intervention in den Zielgemeinden aufgetretenen Konflikte wurden möglichst pragmatisch gelöst. Zur Evaluation der Wirkungen wurden Daten erhoben und ausgewertet. Neben einer prozeßbegleitenden Dokumentation der Interventionsaktivitäten wurden in den Zielgemeinden

(Risikogruppen und

repräsentative Stichproben) Daten zu den Risikofaktoren

(Scree-

ning-Untersuchungen) erhoben. Durch Vergleichsstichproben

(Re-

ferenzgruppen) bzw. Kontrollgemeinden wurde versucht, die spezifischen Wirkungen der Interventionsstudien abzugrenzen von säkularen Trends. Die genauere Analyse der durchgeführten

Interventionsstudien

läßt erkennen, daß zwei unterschiedliche Ansätze neben- und z.T. gegeneinander stehen. Der epidemiologische Ansatz (vertreten von den beteiligten Medizinern), der sich konzentriert auf den Nachweis der Wirkungen zur Senkung der Morbiditäts- und Mortalitätsraten. Die Gemeinde oder Region wurde ausgewählt als abgrenzbare Einheit zur Definition von Zielpopulation und vergleichbarer Kontrollgruppe. Davon zu unterscheiden ist der interventionsbezoqene Ansatz (vertreten von den beteiligten Sozialwissenschaftlern), der sich konzentriert auf den Nachweis der Vorteile einer gemeindebezogenen Intervention

(im Vergleich zu anderen, iso-

lierten Interventionsmaßnahmen der Gesundheitserziehung, -aufklärung und -beratung), insbesondere unter Kriterien der Machbarkeit, Akzeptanz sowie der positiven Veränderung des Gesundheitsverhaltens bestimmter Bevölkerungsgruppen. Die wissenschaftlichen Diskussionen sind weitgehend geprägt

Gemeindezentrierte Interventionsstudien

123

durch den (latenten) Konflikt zwischen Medizinern und Sozialwissenschaftlern darüber, was wichtiger ist: ein 'sauberes', quasi experimentelles, epidemiologisches Design mit einer weitgehend standardisierten Intervention und streng kontrollierten Erhebungsmethoden

(outputorientierter Ansatz) oder eine flexi-

ble-Interventionsstrategie, die sich an die spezifischen Gegebenheiten der Zielgemeinde anpaßt und auf die sich entwickelnden sozialen Prozesse sensibel eingeht

(inputorientierter An-

satz) . Hierzu ist festzustellen, daß der epidemiologische Ansatz geeignet ist und angewandt werden sollte zur weiteren differenzierten Analyse von Risikofaktoren sowie zur Erbringung wissenschaftlich gesicherter Nachweise, daß eine Senkung der Risikofaktoren die hypothetisch vorausgesetzte Senkung der Morbiditäts- und Mortalitätsraten zur Folge hat. Grundsätzlich davon zu unterscheiden sind gemeindebezogene Interventionsstudien, die aufbauen auf den als wissenschaftlich gesichert angesehenen Ergebnissen epidemiologischer Studien, und die zielen auf stabile Veränderungen innerhalb der sozialen Einheit Wohngemeinde zur Verbesserung der Voraussetzungen gesunder bzw. gesundheitsfördernder 2.3

Lebensbedingungen.

Vorteile des gemeindebezoqenen

14)

Interventionsansatzes

Bisher wurden in der Gesundheitserziehung und -aufklärung im wesentlichen zwei Ansätze durchgeführt: Die individuenbezogene, persönliche Beratung, zum Teil verbunden mit Trainingsmethoden zur Verhaltensänderung. Die massenkommunikative Information und Motivation von Großgruppen. Ergänzt wurden diese durch kleinqruppenbezogene Angebote, die sich Erkenntnisse der Gruppendynamik zunutze zu machen versuchten. In den letzten Jahren wurden vermehrt Versuche unternommen zur Zusammenführung dieser verschiedenen Ansätze in konzertierten Aktionen

(siehe auch Aktionsprogramme der Bundeszentrale für

gesundheitliche Aufklärung). 1 ^' Zielpopulation waren dabei große überschaubare Bevölkerungsgruppen. Demgegenüber stellt der gemeindezentrierte Interventionsansatz

124

D. Gesundheitsvorsorge in der Gemeinde

insofern etwas Besonders dar, als er eine Zusammenfassung verschiedener Interventionsmaßnahmen Uber einen längeren Zeitraum hinweg in der überschaubaren und abgrenzbaren sozialen Einheit der Gemeinde versucht. Unter Gemeinde (Community) verstehen wir dabei das Gesamt einer seßhaften, lokal gebundenen Bevölkerung, deren Mitglieder aufgrund ökonomischer und sozialer Beziehungen sowie ihrer Identifikation mit der Gemeinde eine Einheit bilden.^®' Diese Einheit findet ihren Ausdruck auch in der politisch-administrativen sowie produktiv-reproduktiven Eigenständigkeit. Die Gemeinde kann bezeichnet werden als "derjenige öffentliche Verband, dessen Verhältnisse der Bürger am leichtesten übersehen kann... Die unmittelbare Verbundenheit und die Oberschaubarkeit der örtlichen Verhältnisse zeigen sich am stärksten in den kleinen Gemeinden, in denen man 'sich kennt 1 ". Die Bürger identifizieren sich in der Regel mit 'ihrer Gemeinde' , die ihr Wohn- und Heimatort ist. Man ist 'Emmendinger' oder kommt aus 'Mettmann1, man ist 'Berliner' und zugleich 'Spandauer', d.h. identifiziert sich mit dem überschaubaren Stadtteil, wenn man in einer größeren Stadt wohnt. Die Gemeinde ist - trotz horizontaler Mobilität - für den einzelnen eine wichtige soziale Bezugsgruppe. In der Gemeinde ist er nicht nur 'zu Hause' und hat seine Nachbarn, dort kennt man viele Mitbürger vom Sehen sowie die wichtigsten Macht- und Einflußträger (über, die man im Lokalteil seiner Zeitung liest) und wählt die Gemeinde- bzw. Stadträte. In der Gemeinde deckt man seinen alltäglichen Bedarf Freizeit

(z.B. an Lebensmitteln), verbringt seine

(z.B. in Vereinen) und hat seinen 'Hausarzt' und sei-

nen 'Haus-Apotheker'. Man schickt seine Kinder in Kindergärten und Schulen und geht selber zu Veranstaltungen der Volkshochschule. Viele Berufstätige arbeiten auch in ihrer Wohngemeinde, Hausfrauen verbringen dort oft ganze Tage. Man geht auf die lokalen Feste

(Jahrmärkte, Messen, Karnevals- und Faschingsveran-

staltungen etc.). Sofern der Bürger aktives Mitglied einer Religion ist, geht er dort zur Kirche und nimmt an den Veranstaltungen seiner Kirchengemeinde teil. Wenn das auch nicht für alle Bürger in gleichem Maße gilt, so gibt es doch keine vergleichbare soziale Einheit, in der so viele Menschen alltäglich in verschiedenen Lebensbereichen angesprochen werden können .

Gemeindezentrierte Interventionsstudien

125

Die Gemeinde repräsentiert aber auch die Lebensbedingungen, 18) 19)

die die sozialgruppenspezifischen Lebensstile

(Life styles)

prägen und damit gesundheitsbezogene Verhaltensweisen. In der Wohnung konkretisiert sich die soziale Lage^ 0 ' der Bürger, die durch Arbeitsbedingungen und Einkommen lebensbestinunend ist und nachweisbar Gesundheit und Krankheit sowie die Zugangsmöglichkeiten für gesundheitsbezogene Angebote beeinflußt. Für die Beeinflussung präventiven Verhaltens ist weiterhin von Vorteil, daß die Intervention sich an bereits bestehende Gruppen wenden kann. In Vereinen, Schulen und Betrieben ist eine Gruppenbildung bereits geleistet. Eine Kommunikationsstruktur braucht nicht erst hergestellt zu werden, eine soziale Kontrolle des Verhaltens ist ebenso wie die Voraussetzungen zu einer sich gegenseitig verstärkenden Motivierung vorgegeben. Informations- und Schlüsselpersonen sind bekannt, über die weitere Personenkreise mit einer erhöhten Aussicht auf Erfolg angesprochen werden können."^' Halten wir fest: Die Gemeinde als abgrenzbare soziale Einheit umfaßt wichtige alltägliche Lebensräume und bietet viele Ansätze für gesundheitsbezogene a)

Interventionsmaßnahmen.

Zur Verringerung gesundheitsschädigender Noxen und psychosozialer Belastungen in den Lebensbereichen: Wohnen, Arbeiten, Erholung, Versorgung.

b)

Zur qualitativen und quantitativen Verbesserung gesundheitsbezoqener Angebote von lokalen Trägerorganisationen.

Zu a): Epidemiologische Untersuchungen haben die Bedeutung von materiellen und sozialen Noxen herausgearbeitet für die Entstehung von psychosomatischen, aber auch somatischen Krankheiten. Wenn man den Gesundheitszustand der Bevölkerung verbessern will, dann muß man auch diejenigen Lebens- und Umweltbedingungen berücksichtigen, die direkt oder indirekt die Gesundheit schädigen und Krankheiten verursachen können. Weiterhin wurde in epidemiologischen Untersuchungen die Bedeutung des Gesundheitsverhaltens als Risikofaktor geklärt. Wissenschaftliche Analysen der Ursachen gesundheitsbezogener Verhaltensweisen machen deutlich, daß es hierbei nicht nur um in- i dividuelles Verhalten geht, sondern auch um soziales Handeln, 22) das erlernt und in sozialen Situationen verstärkt wird. Neuere Arbeiten haben festgestellt, daß sog. Risikover-

126

D. Gesundheitsvorsorge in der Gemeinde

halten wie Rauchen, Alkoholkonsum, übermäßige und falsche Ernährung sowie unzureichendes Körpertraining für den Betroffenen auch einen Sinn haben können. Unter den Lebensbedingungen der entwickelten Industriegesells.chaft sind sie Teile weitverbreiteter Lebensstile. Für viele Mitglieder unserer Gesellschaft vermittelt sich Lebensqualität durch eben diese Verhaltensweisen, d.h. durch Rauchgenuß

(Wer-

beslogan: "frohen Herzens genießen"), durch Genuß von Alkohol, von gutem Essen sowie den Bequemlichkeiten, die technische Hilfsmittel bieten (z.B. Auto, Fahrstuhl, Rolltreppe etc.). Darüber hinaus können hierdurch psychophysiologische Spannungen in Belastungssituationen abgebaut werden ("immer mit der Ruhe und einer guten Zigarre", "sich seinen Ärger runterspülen", "sich ein gutes Essen gönnen" etc.). Somit haben die sog. gesundheitsschädigenden Verhaltensweisen unter den Lebensbedingungen unserer Gesellschaft eine wichtige Funktion als Mittel zum Zweck der Alltagsbewältigung. Sie werden erlernt (zumeist in der Kindheit und Jugend) durch identifizierende Nachahmung von Vorbildern

(Modell-Lernen),

durch Befolgung vorgegebener Gruppennormen bzw. Verhaltenserwartungen

(z.B. Peer Groups von Jugendlichen). Sie werden all-

täglich positiv verstärkt durch bestätigendes Verhalten von Bezugspersonen und -gruppen. Ansätze zur primären und sekundären Prävention müssen dem Rechnung' tragen und den Menschen ansprechen in seinen sozialen Lebensräumen, in denen sich die Auslöser und Verstärker gesundheitsbezogener Verhaltensweisen finden. Zu b): Auf der anderen Seite besteht auf Gemeindeebene ein breites, unterschiedlich ausdifferenziertes Angebot gesundheitsfördernder Waren und Dienstleistungen. Hierbei handelt es sich nicht nur um Lebensmittelangebote des Einzelhandels

(z.B.

fettarme Wurst oder salzarmes Brot) oder der Restaurants und Kantinen

(z.B. kalorienarmes Essen), sondern auch um Angebote

von Sportvereinen

(z.B. Gymnastikkurs, Lauftreffs) sowie Ange-

bote zur gesundheitsbezogenen Beratung (z.B. durch Ärzte oder Apotheker) und Kurse zum Verhaltenstraining

(z.B. Nichtraucher-

Kurse der Volkshochschule). In der Gemeinde findet sich eine Vielzahl von sozialen Organi-

Gemeindezentrierte Interventionsstudien

127

sationen, die direkt oder indirekt Aufgaben der Gesundheitsaufklärung zu ihren Organisationszielen zählen. Neben den vorgefundenen Anbietern gibt es eine latente Bereitschaft weiterer Trägerorganisationen, die potentiell als Anbieter gesundheitsbezogener Waren und Dienstleistungen in Frage kommen. In jeder Gemeinde ist dieses Angebot, entsprechend den lokalen Bedingungen und Ressourcen, in unterschiedlicher Weise vorgegeben. Dabei werden die vorhandenen Möglichkeiten oftmals deshalb nur unzureichend genutzt, weil zwischen den Anbietern zu wenig kommuniziert und kooperiert wird, bzw. man (bewußt oder unbewußt) gegeneinander statt miteinander arbeitet. Durch Interventionsmaßnahmen, die auf eine Verknüpfung und Unterstützung der vorhandenen lokalen Ressourcen zielen, sowie durch gezielte ergänzende Angebote kann die Effektivität wesentlich verbessert werden. In der Gemeinde mit ihren spezifischen Strukturen bestehen verschiedene soziale Netzwerke, die für Interventionsstrategien genutzt werden können, d.h. um die notwendige Unterstützung von Positionsträgern mit Macht und Einfluß zu gewinnen. In jeder Gemeinde finden sich Personen, die als Multiplikatoren für die Durchführung von zusätzlichen gesundheitsbezogenen Angeboten gewonnen werden können. Diese lokalen Multiplikatoren sind besonders geeignet, da sie den Adressaten bekannt sind und selber deren Lebensräume kennen. Sie können ihre Mitbürger zur Teilnahme an Veranstaltungen motivieren und helfen, daß Fehler in der Interventionsstrategie

(z.B. das Treten in Fettnäpfchen,

d.h. historisch gewachsene Konfliktfelder) vermieden werden. Ein weiteres Argument für den gemeindebezogenen Ansatz sind die Kosten. Dadurch, daß ein den vorgefundenen Bedingungen angepaßtes Interventionsprogramm zusammengestellt werden kann, das die lokalen Ressourcen maximal nutzt, läßt sich der Aufwand zusätzlicher Kosten gering halten. Dadurch, daß lokale Anbieter zur Ausweitung und Intensivierung ihrer Angebote motiviert werden, ist die Trägerschaft der Kosten gesichert. Dadurch, daß die Intervention an vorgefundenen Strukturen ansetzt, kann eine stabile Implementation auf Dauer gesichert werden. Ein weiterer Vorteil ist die Uberschaubarkeit für die Interventoren, die vor allem wichtig ist, um die im Zusammenhang mit der Intervention ablaufenden sozialen Prozesse hinreichend

128

D. Gesundheitsvorsorge in der Gemeinde

überblicken und interpretieren zu können; insbesondere im Zusammenhang mit den unvermeidlichen sozialen Konflikten. Von besonderer Bedeutung sind die Ausstrahlunqs- und Verstärkunqseffekte von Interventionsmaßnahmen, die in den verschiedenen Lebensbereichen einsetzen und sich damit wechselseitig positiv beeinflussen können. Im Mittelpunkt der Ausstrahlungsef23) fekte steht dabei die Familie. Maßnahmen zur Gesundheitserziehung in der Schule können ebenso auf die Familie einwirken wie zur Gesundheitsaufklärung von Erwachsenen (z.B. in Betrieben) oder Gesundheitsberatung von Patienten in Arztpraxen. Durch öffentliche Aktionen

(z.B. Gesundheitsfeste) und öffent-

liche Medien (Presse, Rundfunk, Flugblätter etc.) können Diskussionen und Auseinandersetzungen in allen Lebensbereichen der Gemeinde über Fragen gesundheitsbezogenen Verhaltens ausgelöst und in Gang gehalten werden. Schließlich bietet die gemeindepolitische Verwaltung günstige Ansätze und Möglichkeiten zur sekundärstatistischen Erfassung und Auswertung gesundheitsrelevanter Daten

(da diese zumeist

auf Gemeindeebene erhoben und gespeichert werden). Die Vorteile des gemeindebezogenen Interventionsansatzes sollen in der folgenden Tabelle noch einmal zusammenfassend dargestellt werden.

Auf Gemeindeebene finden si ch...

Ansätze für zielgerichtete Interventionsmaßnahmen

Bedingungen, die gesundheitsfördernde Verhaltensweisen unterstützen oder behindern (Arbeits-, Wohnbedingungen etc.)

Maßnahmen zum Abbau behindernder sowie zur Verbesserung unterstützender Bedingunqen

Ausdifferenzierte Angebote an gesundheitsbezogenen Waren und Dienstlei stungen

Maßnahmen zur qualitativen und quantitativen Verbesserung der Angebote

Trägerorganisationen für die Kosten gesundheitsbezogener Angebote und Dienstleistungen

Maßnahmen zur Motivierung der Verantwortlichen in den Trägerorganisationen zur Kostenübernahme

Vernetzung der Lebensbereiche im Sinne wechselseitiger Kommunikationsprozesse

Maßnahmen zur Nutzung von Ausstrahlunqs- und Verstärkungseffekten

Gemeindezentrierte Interventionsstudien

2.4

Nutzung der Vorteile des qemeindebezoqenen

129

Interventions-

ansatzes durch die 'Aktion Gesundheit' der AOK Mettmann Auch wenn die Aktion Gesundheit der AOK Mettmann nicht den Anspruch erhebt, eine gemeindezentrierte Interventionsstudie zu sein, so weist sie doch eine Reihe charakteristischer Merkmale 24)

derartiger Studien auf.

Zielpopulation ist die Bevölkerung von 10 Gemeinden

(Klein-

städte von 21 000 bis 53 OOO Einwohner) des Landkreises Mettmann. Durch Maßnahmen der primären, sekundären und tertiären Prävention sollen die Risikofaktoren für Herz-Kreislauf-Erkrankungen bekämpft werden. Dies geschieht im wesentlichen durch eine qualitative und quantitative Verbesserung gesundheitsbezogener Angebote. Die AOK tritt dabei nach dem Subsidiaritätsprinzip dort ein, wo Versorgungslücken vorhanden sind und gibt Arbeitsbereiche ab, wenn diese von anderen Trägerorganisationen übernommen werden. Man versucht, in verschiedenen Lebensbereichen anzusetzen: Kindergarten, Schule, Sportvereine, Altentagesstätten und Gesundheitsämter. Als neue Organisationen wurden in 5 Gemeinden sog. Gesundheitszentren eingerichtet, in denen vor allem zur sekundären Prävention Kurs- und Beratungsangebote bestehen. Die Aktion versucht, den Bürger im Lebensraum seiner Gemeinde anzusprechen und zu gesundheitsbewußterem Verhalten zu 25) Für die Modellstudie wird vom Bundesministerium

motivieren.

für Arbeit und Sozialordnung für 5 Jahre eine wissenschaftliche 26) Begleitforschung finanziert. Ergänzend läuft ein Projekt zur Beteiligung der frei niedergelassenen Kassenärzte. Allerdings läßt sich aus dem den von der Arbeitsgruppe um Herrn v. Ferber vorgelegten Ergebnissen schlußfolgern, daß die Möglichkeiten des gemeindezentrierten Interventionsansatzes noch nicht optimal genutzt wurden. Wesentliche Lebensbereiche konnten bisher nicht oder nur unzureichend einbezogen werden: Schulen, Betriebe, Lebensmittelhandel, Restaurants, Kirchen, Apotheken, Beratungsstellen, Gesundheitsämter. Die lokalen Ressourcen im Kreis Mettmann bzw. in den lO Gemeinden wurden nicht maximal genutzt. Die Trägerorganisationen arbeiten weitgehend isoliert und der AOK ist es bisher nur unzureichend gelungen, die Kooperation zwischen den Trägern zu verbessern.

D. Gesundheitsvorsorge in der Gemeinde

130

Der Anspruch, verstärkt Hilfe zur Selbsthilfe zu geben, konnte bisher ebenfalls noch nicht hinreichend eingelöst werden. Insgesamt läßt sich feststellen, daß das Modell der AOK Mettmann vielfältige Möglichkeiten aufzeigt für Krankenkassen, auf Gemeindeebene aktiv beizutragen zur Verbesserung gesundheitsbezogener Angebote. Dabei könnte die AOK noch stärker als bisher eine Moderatorenfunktion übernehmen und damit die Rolle eines Interventionszentrums für umfassende gemeindebezogene Interventionsmaßnahmen . 2.5

Anwendungsorientierte Empfehlungen

2.5.1

Gesundheitsbezogene Interventionsmaßnahmen in Gemeinden

Das hiermit vorgestellte Modell geht davon aus, daß in jeder Gemeinde ein Angebot an gesundheitsbezogenen Dienstleistungen und Waren besteht und im Zusammenhang damit eine entsprechende Nachfrage. Dieser 'Markt' zur Gesundheitsvorsorge ist in verschiedenen Gemeinden unterschiedlich gestaltet. Grundsätzlich können wir davon ausgehen, daß die Angebote gualitativ und quantitativ verbesserungsfähig sind; die Nachfrage zu gering und zu selektiv ist; insbesondere bestehen große Unterschiede zwischen verschiedenen sozialen Gruppen (Alter, soziale Lage u.a.). Wir gehen davon aus, daß durch eine Verbesserung der Angebote sowie eine Intensivierung der Nachfrage das Gesundheitsverhalten und damit der Gesundheitszustand der Bevölkerung positiv beeinflußt werden können. Bezüglich der Angebote an gesundheitsbezogenen Waren und Dienstleistungen kann davon ausgegangen werden, daß dieses in den meisten Gemeinden unzureichend ist für Lebensmittel

(fettarme Wurst, salzarmes Brot etc.)

Restaurant- und Kantinenessen

(kalorienarmes Essen, alko-

holfreie Getränke etc.) Körpertraining

(Breitensport, Trimmpfade, Sportlehrpfade

etc.) Informationen über Gesundheitsthemen

(Vorträge, Kurse)

131

Gemeindezentrierte Interventionsstudien

Selbsthilfeaktivitäten

(Räume, Kontaktmöglichkeiten).

Eine Einschränkung der Nachfrage ergibt sich vor allem durch ungenügende Information über die Notwendigkeit der Inanspruchnahme gesundheitsfördernder Waren und Dienstleistungen; unzureichende Information über das bestehende Angebot; -

geringes Bedürfnis zur Inanspruchnahme der Angebote,zu hohe Kosten

-

(Geld, Zeit, Wege);

soziale Distanz potentieller Nachfrager zu den Anbietern oder zu anderen Teilnehmern (obere Mittelschicht).

Hauptziele der gemeindebezogenen Intervention sind die qualitative und quantitative Verbesserung der Angebote sowie die Intensivierung der Nachfrage.

Zur Verbesserung der Angebote ist es notwendig, (a)

Motivierung der bisherigen oder potentiellen Anbieter (vorgefundene Trägerorganisationen) bzw. deren Leitung zur qualitativen und quantitativen Verbesserung ihrer Angebote;

(b)

Zurverfügungstellung von erprobten, kostengünstigen und qualitativ hochwertigen Materialien zur Gesundheitserziehung und -aufklärung. Dazu gehört auch eine entsprechende Aus-, Fort- und Weiterbildung der in den Trägerorganisationen vorgefundenen und motivierbaren Anwender

(Multi-

plikatoren) ; (c)

Zusätzlich können eigene Angebote auf Gemeindeebene gemacht werden wie Organisation und Unterstützung eines

'Arbeitskreises

Gesundheit ' Aufbau und Leitung eines

'Gesundheitstreffpunkts'

Herausgabe und Redaktion einer

'Gesundheitszeitung'.

132

D. Gesundheitsvorsorge in der Gemeinde

Entsprechend ist für eine Intensivierung der Nachfrage, insbesondere bisher benachteiligter Gruppen, zu sorgen durch (d)

eine breite Öffentlichkeitsarbeit unter Zuhilfenahme aller öffentlicher Medien;

(e)

gezielte Subventionen können für unterprivilegierte Bevölkerungsgruppen die Kosten gesenkt werden.

Die Interventionsmaßnahmen können im einzelnen beschrieben werden als Zu (a): persönliche Ansprache der verantwortlichen Personen mit der Bitte um Unterstützung der Aktion und Intensivierung der Angebote ihrer Organisation. Zu (b): Nach vorheriger systematischer Prüfung sollte ein Katalog von bewährten Materialien zusammengestellt und den Trägerorganisationen zur Verfügung gestellt werden. Z.B. Curricula für den Schulunterricht, Informationsma27) 2 8) terialien für Apotheker, Ärzte, Kursprogramme für Veranstaltungen zur Raucherentwöhnung, zur richtigen Ernährung etc., Trimm-(Lehr-)Pfade u.a. Die ergänzenden Fortbildungsveranstaltungen für Multiplikatoren richten sich im wesentlichen an Lehrer, Ärzte, Apotheker und Kursleiter. Zu (c): Diese eigenen Angebote können von der Organisation, die sich für die gemeindebezogene Intervention engagiert, angeboten und später in lokale Trägerschaft überführt 29) werden. In einem Arbeitskreis (oder Arbeitsgemein3G) schaft) können engagierte Personen in der Gemeinde zusammengefaßt werden, die sich regelmäßig treffen und gesundheitsbezogene Aktionen in der Bürgerschaft anregen und unterstützen, sowie eigene Aktionen planen und durchführen. Unter einem Gesundheitstreffpunkt verstehen wir eine Art Ladengeschäft im Zentrum der Gemeinde, das als Informationsbörse für gesundheitsbezogene Angebote dient und für Selbsthilfegruppen und andere Initiativen Räume zur Verfügung stellt. Mit einer regelmäßig erscheinenden

'Gesundheitszeitung'

kann die Bevölkerung über die gemeindespezifischen Angebote sowie allgemeine Fragen der Gesundheitserziehung informiert werden.

Gemeindezentrierte Interventionsstudien

133

Zu (d) : Für die Öffentlichkeitsarbeit kann man sich vorgefundene Medien wie Lokalzeitungen, Rundfunk und ggf. (Kabel-) Fernsehen bedienen und neue Informationsmaterialien einbringen wie Broschüren, Faltblätter, Plakate, Buttons etc. Zu (e): Bevölkerungsgruppen, die bisher gesundheitsbezogene Angebote nicht genutzt haben, können durch Kostenerlaß, günstige Veranstaltungszeiten und eine zielgruppenspezifische Ansprache besonders motiviert werden. 2.5.2

Anwendung einer Intcrventionsstrateqie

Vor der Durchführung einer gemeindebezogenen

Interventionsstu-

die sollte eine Strategie erstellt werden, die das Vorgehen im sozialen Feld der Gemeinde im Zeitverlauf festlegt.

Am Anfang steht eine umfassende systematische Gemeindeanalyse (community diagnosis), in der die lokalen Bedingungen erfaßt und dokumentiert werden: Erfassung der interventionsrelevanten stitutionen

Organisationen/In-

(Anzahl, Aufbau, Mitgliederstärke) mit ihren

qesundheitsbezoqenen Angeboten (Anzahl, Form, Inhalte, Zielgruppen, durchschnittliche Teilnehmerzahlen pro Jahr). Systematische Befragung der Macht- und Einf lußträqer in der Gemeinde (mit dem Instrument der Netzwerkanalyse) im Hinblick auf ihre aktive bzw. passive Unterstützungsbereitschaft. Erfragung der bisher in der Gemeinde durchgeführten qesundheitsbezoqenen Aktionen und deren Erfolge bzw. Mißerfolge . Erfragung der bestehenden latenten und manifesten Konflikte zwischen den interventionsrelevanten Personen, Organisationen und Institutionen. Erfassung der Verteilung von Risikofaktoren bzw. des Gesundheitsverhaltens darauf bezogener Einstellungen der Bevölkerung

(mittels Survey- und Screeninguntersuchungen).

Zur Bestimmung der Zielqrößen für eine für die jeweilige Gemeinde optimale Angebots- und Nachfragestruktur kann folgender-

134

D. Gesundheitsvorsorge in der Gemeinde

maßen vorgegangen werden: -

Zuerst ist die Zahl der Risikofaktorenträger und somit das Gesamt potentieller Nachfrager zu ermitteln

(sekundärstati-

stische Auswertungen, Stichprobenerhebung etc.). Durch Befragung der Träger gesundheitsbezogener Angebote ist die bisherige durchschnittliche Nachfraqequote

(pro

Jahr) zu erheben. Für alle Bereiche ist eine Zunahme gesundheitsbezogener Angebote zu bewirken, so daß eine ca. lOSSige zusätzliche Nachfrage versorgt werden kann. Durch intensive Maßnahmen zur Verbesserung der Nachfrage ist für eine Ausnutzung des zusätzlichen Angebotes zu sorgen . -

Eine weitere Verbesserung des Angebotes ist flexibel, orientiert an der erreichten Nachfrage vorzunehmen.

Grundsätzlich sollten alle, die ein Bedürfnis nach gesundheitsbezogenen Waren und Dienstleistungen haben, diese auch in Anspruch nehmen können. Dabei ist realistisch davon auszugehen, daß z.B. nicht alle Raucher ein Bedürfnis nach Nichtraucherkursen, nicht alle Übergewichtigen ein Bedürfnis nach kalorienarmem Essen etc. haben. Darüber hinaus sind Bevölkerungsgruppen zu charakterisieren, die aufgrund ihrer sozialen Lage bzw. anderer Determinanten die bisherigen Angebote nicht nutzen konnten, und eine besondere Ansprache bzw. Unterstützung benötigen.

Gemeindezentrierte Interventionsstudien

135

Grundsätzlich wird zwischen drei Zuganqsweqen unterschieden: der quantitativen und qualitativen Verbesserung qesundheitsbezoqener Angebote durch die vorhandenen Organisationen sowie das Studienzentrum (insbesondere über den Arbeitskreis Gesundheit sowie persönliche Gespräche mit führenden Macht- und Einflußträgern); die Motivierung und Unterstützung der bürgerschaftliehen Basis zur selbständigen Planung. Organisation und Durchführung von gesundheitsfördernden Maßnahmen (insbesondere über den Gesundheitstreffpunkt sowie eine breite Öffentlichkeitsarbeit) ; als dritte Dimension der Intervention können Maßnahmen zur Anregung und Verbesserung eines 'gesundheitsfördernden Sozialklimas ' in den Zielgemeinden bezeichnet werden. Hierzu gehören Aktionen an öffentlichen Plätzen (z.B. Info-Stände) ebenso wie Gesundheitsfeste oder wiederholte Informationen über öffentliche Medien (z.B. Lokalzeitung). Dabei ist darauf zu achten, daß sich im Zeitverlauf immer wieder ein für alle Beteiligten befriedigendes Gleichgewicht herstellt zwischen den Aktivitäten der traditionellen Anbieter von Gesundheitsvorsorge, den von den Interventoren angebotenen Aktivitäten, den im Rahmen des Arbeitskreises Gesundheit organisierten Aktivitäten und schließlich den im Rahmen von Selbsthilf emaßnahmen der bürgerschaftlichen Basis selbstinitiierten Aktivitäten. Hiermit im Zusammenhang steht das Problem, im Zeitverlauf der Intervention und orientiert am Gemeindeleben (im Jahresverlauf) für eine hinreichende Interventionsdichte zu sorgen. Dabei soll ein Uberangebot ebenso vermieden werden wie längerfristige Unterangebote an Aktionen und Maßnahmen. Die Intervention sollte ständig und immer wieder Gegenstand öffentlicher und privater Diskussionen in der Gemeinde sein. In jedem Fall sollte man Überdrußreaktionen vermeiden, die sogar zu einer allgemeinen Abwehrhaltung führen können ("Wir lassen uns von diesen Gesundheitsaposteln unser Leben nicht ständig miesmachen"). Ein wichtiger Aspekt dabei ist es, darauf zu achten, daß durchgängig die positiven Aussagen und Anregungen der Interventionsbotschaft überwiegen gegenüber Informationen über Gesundheitsgefahren .

136

D. Gesundheitsvorsorge in der Gemeinde

Angaben Uber eine optimale Relation von Interventionsangeboten/ Kontakten pro Einwohner sind nach dem bisherigen Wissensstand nicht zu machen. Zugrundegelegt werden kann die Feststellung von MEYER, MACCOBY und FARQUHAR, ^ ' nach der 80% der Bewohner von einem Programm gehört haben müssen, damit ca. 30!s daran teilnehmen und schließlich lOSi der Zielpopulation ein oder mehrere Programme mit Erfolg absolvieren. Geachtet werden soll weiterhin darauf, daß die Interventionsmaßnahmen in der Gemeinde hinreichend weit streuen, d.h. möglichst alle Gruppen erreicht werden. Es ist zu erwarten, daß sich anfangs vor allem solche Menschen angesprochen fühlen, die sich der Notwendigkeit gesundheitsfördernder Verhaltensweisen bewußt sind und schon in der Vergangenheit an gesundheitsbezogenen Veranstaltungen teilgenommen haben; zum einen sind das 'Musterschüler' sistente'

(z.B. engagierte Vegetarier), zum anderen 'Re-

(z.B. Übergewichtige oder Raucher mit mehrfachen er-

folglosen Versuchen zur Verhaltensänderung). Wichtig ist es, positiv zu bewertende Aspekte gesundheitsbezogener Verhaltensweisen zu verstärken bzw. die Entstehung von Risikofaktoren zu verhindern . Ein wesentlicher Bestandteil der Interventionsstrategie ist die Prozeßevaluation. Durch regelmäßige Messungen prozeßrelevanter Parameter sollen aktuelle Informationen über die Akzeptanz der Intervention bzw. Störungen und Konflikte erhoben und ggf. zu Korrekturen der kurz- und mittelfristigen

Interventionsschritte

benutzt werden. Hierzu gehört eine Dokumentation der Teilnehmerquoten und Teilnehmerzusammensetzunq bei den angebotenen Veranstaltungen. Daneben sind alle Informationen zu sammeln (z.B. Pressemitteilungen, schriftliche oder verbale Äußerungen von Gemeindemitgliedern etc.), die Aufschlüsse zur Akzeptanz geben. Die im Verlauf der Intervention zu erwartenden Konflikte sollen registriert, systematisch analysiert und ausgewertet werden im Hinblick auf notwendige Maßnahmen zur Konfliktbearbeitung. Die passive und aktive Unterstützunqsbereitschaft der lokalen Macht- und Einflußträger ist zu erheben und mit den Ausgangsdaten zu vergleichen. Die im Zusammenhang mit den Interventionsmaßnahmen eingesetzten Multiplikatoren sollten hinsichtlich ihrer Erfahrungen systematisch befragt werden. Diese Daten sollten von einem an der eigentlichen Intervention

137

Gemeindezentrierte Interventionsstudien

unbeteiligten

Begleitforschungsprojekt

zur Uberprüfung stellt

der

ausgewertet

zur Verfügung

und

ge-

werden.

2.6

Zusammenfassung

Internationale trierter

Erfahrungen bei

Interventionsstudien

der Durchführung haben g e z e i g t ,

Verbesserung gesundheitsbezogener das G e s u n d h e i t s v e r h a l t e n

der

I n z i d e n z - und P r ä v a l e n z r a t e n ten

erhoben,

Interventionsstrategie

Angebote auf

werden k ö n n e n .

Bevölkerung g e f ö r d e r t von R i s i k o f a k t o r e n

Trägerorganisationen

a u f Gemeindeebene p o s i t i v

zum T e i l

unbefriedigenden

sen s i c h

u n s e r e r Meinung n a c h d a r a u f eines

noch n i c h t

optimal

der Vorschlag meinschaft Schritt

gemeindebezogenen g e n u t z t wurden.

zur Bildung e i n e r

(siehe

S.

116)

das

der

mit

durch

anderen

zu b e w e r t e n .

'Aktion Gesundheit1 zurückführen,

Mög-

bisher

I n d i e s e m Zusammenhang zu b e u r t e i l e n

z u r Zusammenführung d e r v e r s c h i e d e n e n

Die las-

daß d i e

Interventionsansatzes

gemeindebezogenen

positiv

beein-

Engagement

der Gesundheitsvorsorge

Bemühungen z u r K o o p e r a t i o n

lichkeiten

Krankhei-

positiv

e i g e n e A n g e b o t e bzw.

Erfolge

und d a m i t

sowie

I n d i e s e m Zusammenhang i s t

d e r AOK Mettmann z u r V e r b e s s e r u n g

eine

Gemeindeebene

(insbesondere Herz-Kreislauf-Erkrankungen)

flußt

gemeindezen-

daß d u r c h

ist

Arbeitsge-

als

wichtiger

Trägerorganisa-

tionen . Die d a r g e s t e l l t e n und D u r c h f ü h r u n g

konzeptuellen

Überlegungen

gemeindezentrierter

ten a l s

anwendungsorientierte

standen

werden.

für die

Planung

Interventionsstudien

A n r e g u n g e n und E m p f e h l u n g e n

sollver-

ANMERKUNGEN: 1)

V g l . Forschungsverbund L a i e n p o t e n t i a l , Patientenaktivierung und Gesundh e i t s s e l b s t h i l f e , 3. Zwischenbericht ( J u l i 1982), S. 151-194, der Grundlage dieses Korreferates war.

2)

AOK Kreis Mettmann: Grundlagenbericht zur Aktion Gesundheit. I n : S c h r i f t e n der AOK für den Kreis Mettmann, Bd. 11 (Dezember 1981).

3)

Vergleichbare Aktionen wurden in der Bundesrepublik bisher durchgeführt in Wiesloch/Eberbach, Emmendingen und Cochem.

4)

Eine eigenständige w i s s e n s c h a f t l i c h e Begleitforschung d i e s e r Modellstudie wird vom IFT München durchgeführt.

5)

Nationales Forschungsprogramm 1A der Schweiz, Stanford Five City Proj e c t , Minnesota Heart Health Study, Community Health Improvement Proj e c t , Pawtucket Heart Health Study ( a l l e USA) u . a .

6)

Siehe auch: FRANZKOWIAK, K . P . , PEPPLER, Ursula, LAASER, U.

(1981).

138

D. Gesundheitsvorsorge in der Gemeindfe

7)

NtfSSEL (1981).

8)

TROSCHKE, J.v., FÜLLER, A.: Gesundheitswochen in Emmendingen, Freiburg (1981).

9)

In Baden-Württemberg wurden per Erlaß des Sozialministeriums die Gesundheitsämter aufgefordert, auf Gemeindeebene Arbeitsgemeinschaften einzurichten mit dem Ziel, Kommunikation und Kooperation zwischen den verschiedenen Trägern und damit die Angebote zur Gesundheitsvoraorge zu verbessern.

10)

Rauchen, falsche Ernährung, unzureichendes Körpertraining.

11)

Hoher Cholesterinspiegel, Bluthochdruck, Ubergewicht.

12)

Vgl. NISSINEN, EULUND, TUOMILCHTO, PUZKA. In: Public Health, Vol. 96/5 (1982).

13)

Eine informative Zusammenfassung derartiger Aktionen siehe: Gesundheit lehren. Manual für Materialien und Programme auf der Grundlage des Nationalen Forschungsprogramms I (Sandoz AG), Basel (1982).

14)

In diesem Zusammenhang spricht man von Interventionsstudien der 2. Generation (z.B. DHP, Pawtucket HHS) und grenzt diese ab gegenüber inzwischen abgeschlossenen Studien (Nordkarelien-Pro jekt, Stanford Three Community Study, MRFIT).

15)

Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung ( 1982) .

16)

Zit. n. FUCHS, W. u.a. (Hrsg.): Lexikon zur Soziologie, Opladen (1973).

17)

Gemeindeordnung für Baden-Württemberg, K. GÖBEL, Stuttgart S. 5-6.

18)

SIEGRIST, J., DITTMANN, U. u.a.: Soziale Belastungen und Herzinfarkt. Stuttgart (1980).

19)

WHO: Gesundheitserziehung und Lebensweisen. Kopenhagen: 31. Tagung des Regionalkomitees für Europa EUR/RC 31/10.

20)

Vgl. NAHNSEN (1975) .

21)

Vgl. FERBER, Ch.v.: Primärprävention. In: TROJAN, A., WALLER, H. (Hrsg.): Gemeindebezogene Gesundheitssicherung, München (1980).

22)

Vgl. BzgA: Europäische Monographien zur Forschung. In: Gesundheitserziehung 2, Köln (1980).

23)

Nach der Bielefelder Repräsentativbefragung gaben 39,8% der Bevölkerung an, schon einmal "Gespräche im Haushalt" geführt zu haben "über gesundheitsschädigende Verhaltensweisen mit dem Ziel, diese positiv zu verändern" .

24)

Vgl. Grundlagenbericht zur Aktion Gesundheit, a.a.O.

(1980 1 6 ),

25)

Hierzu werden Strategien des 'sozialen Marketings*

26)

Von der AOK werden pro Jahr ca. 1,5 Millionen für die 'Aktion Gesundheit' ausgegeben - 1982 waren es insgesamt 1,576 Millionen DM.

angewandt.

27)

Vgl. TROSCHKE, J.v., KÜPPER, Karin: Information und Beratung durch den Apotheker. Frankfurt (1982).

28)

TROSCHKE, J.v., STÖßEL, U. : Möglichkeiten und Grenzen ärztlicher Gesundheitsberatung. Freiburg (1981).

29)

Derartige InterventionsStudien können sowohl von Organisationen außerhalb der Gemeinde (Vereinigung für Gesundheitserziehung, Forschungsinstitute etc.) als auch von Organisationen in der Gemeinde (Krankenkassen , Gesundheitsämter etc.) durchgeführt werden.

30)

Vgl. TROSCHKE, J.v., FÜLLER, A. (1981).

Gemeindezentrierte Interventionsstudien

31)

Vgl. MEYER, MACCOBY, FARQUHAR: The Role of Opinion Leadership in a Cardiovascular Health Education Campaign. In: RUBEN (Hrsg.): Communication Yearbook (1977).

139

E. Patientenorientierte Intensivmedizin Einige strukturelle und interaktioneile Bestimmungselemente für ihre Realisierung Claudia von Grote, Anne Sprenger, Elmar Weingarten, Hans-Peter

Schuster*

1. Einleitung 1.1 Fragestellung und Ziel des Pro iektes Das Forschungsprojekt wendet sich einer entscheidenden Dimension des medizinischen Versorgungssystems zu: dem Fortschritt des medizinischen Wissensbestandes und der raniden Entwicklung der medizinischen Technologie. Sie haben zur Ausdifferenzierung einer weiteren medizinischen Fachdisziplin, der Intensivmedizin geführt und zu ihrer institutionellen Verankerung in der Intensivstation beigetragen. Welche sozialen Folgen solche Veränderungen für die therapeutische Beziehung zwischen Arzt, Pflegepersonal und Patient bzw. zwischen medizinischem System und Patient haben, ist eine der gegenwärtig zentralen Fragestellungen. Diese sozialen Folgen resultieren aus dem Widerspruch zwischen der Medizin als einer, auf den Einzelfall bezogenen Disziplin einerseits und jener sich entwickelnden Medizin, die sich der Logik technologischer Prozesse unterwirft. Vieles spricht dafür, daß die optimale Nutzung der Medizin vor dem Hintergrund des technologischen Wissensstandes zunehmend zu einer Verletzung jener individuellen Rechte führt, die die persönliche Integrität des Individuums absichern sollen. Dieses Problem greifen wir auf einer mikrosoziologischen Ebene auf, wenn wir nach dem "Funktionieren" von institutionalisierter Intensivmedizin fragen. Die Problemstellung unseres Projektes lautet also: Wie wirkt im institutionalisierten Kontext der Intensivmedizin die Effektivitätssteigerung einer mit der medizinischen Technologie verwobenen Medizin auf die Logik * Das Projekt wird gemeinsam mit folgenden Mitarbeitern durchgeführt: Ulrich Busch, Doris van Gemmeren, Aisha Meyer, Gerald Schneider. Ständige Projektberater: Dr. med. J.H. Schäfer, Hannelore Gadow, Sabine Hoffmann, Ewald Kopp.

142

E. Patientenorientierte Intensivmedizint

medizinischen Handelns ein und welche Folgeprobleme ergeben sich unter Bedingungen einer hocheffizienten Apparatemedizin für den Patienten in Hinblick auf die Respektierung seiner persönlichen Integrität und lebenspraktischer Autonomie, auch dann, wenn ihre Realisierung aufgrund des bedrohlichen Krankheitszustandes extrem erschwert ist. Zwei alternative Ergebnisse sind denkbar, in denen sich die sozialen Folgen der Apparatemedizin abzeichnen können: 1. Das veränderte institutionelle Arrangement setzt neue Randbedingungen, die die Perspektive der im medizinischen System Handelnden so sehr verändern, daß der Arzt tatsächlich zum viel beschworenen "Gesundheitsingenieur" wird, der den Einzelfall in seiner sozialen Existenz aus dem Auge verliert und damit einer technikgesteuerten Logik des Handlungsablaufs preisgibt. 2. Andererseits läßt sich denken, daß im Rahmen professioneller Standards von Ärzten und Pflegepersonen Gegenstrategien entwickelt werden, die geeignet sind, die potentiell negativen Effekte dieser Entwicklung für den Patienten aufzufangen. Die Intensivmedizin ist für uns der Ort, an dem der geschilderte Zusammenhang seine Zuspitzung erfährt, was aber nicht bedeutet, daß die hier gefundenen Konstellationen nur in diesem Bereich ihre Gültigkeit hätten. Vielmehr können wir davon ausgehen, daß die von uns gemachten Beobachtungen und die daran geknüpften analytischen Feststellungen überall dort - mit den notwendigen Einschränkungen - ihre Gültigkeit haben, wo die Logik medizinischer Technologie in die therapeutischen Handlungsabläufe in einer Weise eingreift, daß Einfluß auf die Deutungen und die damit verbundenen Handlungsvollzüge genommen wird. Und dies ist nicht nur auf Intensivstationen

der Fall.^'

1.2 Methodischer Ansatz Für die Bearbeitung dieser Fragestellung mußte eine Forschungsstrategie gefunden werden, die nicht bei den Deutungen der Betroffenen stehenbleibt, sondern die konkreten Handlungsvollzüge und Interaktionen auf einer Intensivstation selbst zum eigentlichen Ziel ihres Zugriffs macht. Das empirische Datenmaterial sollte also neben der Erfassung eines Kranzes objektiver

Strukturelle und interaktionelle Bestimmungselemente

143

Strukturdaten eine Rekonstruktion der Stationsabläufe auf verschiedenen Intensivstationen ermöglichen. Unsere Datenerhebungsinstrumente gliedern sich wie folgt: a) Teilnehmende Beobachtung Den klassischen methodischen Zugang zur Erhebung natürlicher Interaktionen und Handlungsabläufe bietet uns das Verfahren der teilnehmenden Beobachtung. Beobachtungsteams, gebildet aus einem Sozialwissenschaftler und einem fortgeschrittenen Medizinstudenten, nehmen an den Schichten des Pflegepersonals teil. Die Beobachtungsaufgaben sind zunächst noch weitgehend mit Hilfe "sensibilisierender Beobachtungsleitfäden" fokussiert. Drei Beobachtungsperspektiven werden definiert: - Beobachtung des Gesamtablaufs - personenbezogene Beobachtung - szenenzentrierte Beobachtung Neben der Erfassung der zeitlichen und arbeitsmäßigen Gesamtstruktur einer Schicht - und bei der Erfassung von drei Schichten eines ganzen Arbeitstages - versuchen wir das Geschehen einmal aus der Perspektive des Patienten und zum anderen aus der Perspektive des Pflegepersonals bzw. des Arztes zu sehen, so daß dies bedeutet, daß wir längere Zeit uns auf die Beobachtung einer Person konzentrieren. In den szenenbezogenen Beobachtungen richtet sich die Aufmerksamkeit des Beobachters auf ein abgegrenztes Interaktionsgeschehen. Insgesamt haben wir fünf Intensivstationen mehrere Wochen lang beobachtet, von denen im Folgenden drei berücksichtigt sind. b) Interviews und "explorative Gespräche" Die sich im Verlauf einer Schicht ergebenden vielfältigen Gelegenheiten zu Gesprächen mit Patienten, Angehörigen, Schwestern und Ärzten werden so weit wie möglich genutzt. Daneben führen wir qualitative Interviews durch, die gezielt einzelne Aspekte unseres Untersuchungsdesigns aufgreifen, aber auch bezogen sind auf das beobachtete Stationsgeschehen. Daneben versuchen wir uns in Kurzexplorationen anderer Intensivstationen und in Gesprächen mit deren Leitung und einigen Mitarbeitern ein Bild von diesen zu machen, in erster Linie um unsere ausführlich beobachteten Intensivstationen im Spektrum des Vorfindlichen richtig einordnen zu können.

144

E. Patientenorientierte Intensivmedizin

c) Daten zur Struktur der Intensivstationen und ihrer institutionellen Einbettung Ergänzt wird dieser Datenkörper durch die Erfassung aller auf die Station bezogenen objektiven Daten, die sich nicht nur auf die personelle und infrastrukturelle Ausrüstung, das Krankheitsspektrum der Patienten beziehen, sondern auch auf den Gesamtrahmen, in den die Station eingebettet ist, d.h. beispielsweise in welcher

T,

?eise sie an andere Stationen angebunden ist, wie

die Zusammenarbeit mit dem Labor organisiert ist usw.

1.3 Auswertungsschwerpunkte Für die nachfolgende Darstellung haben wir zwei zentrale Aspekte unserer Forschungsfragestellung herausgegriffen. Allgemein geht es uns darum zu zeigen, welche strukturellen, organisatorischen und insbesondere technikgebundenen Faktoren in welcher Weise auf die'Verwirklichung eines patientenorientierten therapeutischen Milieus einwirken. Da wir letzten Endes unseren Fokus auf das therapeutische Handeln und auf die Bedürfnisäußerungen und damit auf das gesundheitsbezogene Handeln der Patienten richten, bedeutet ein solcher Ansatz immer auch die Frage nach dem konkreten Umgang mit den gesetzten Rahmenbedingungen . Im ersten Teil wenden wir uns der Frage zu, wie sich räumliche Ausgangsbedingungen möglicherweise auf die Konstituierung eines therapeutischen Milieus auswirken, im zweiten Teil versuchen wir paradigmatisch einige Handlungsprobleme zu identifizieren, die sich beim Einsatz einer neuen diagnostischen Technologie offenbaren. Jedoch ist dies nur ein Ausschnitt aus dem Spektrum der Auswertungsschwerpunkte, um die wir uns bemühen, das wie folgt abgesteckt ist: - Einfluß von räumlicher Struktur und Pflegeorganisation auf die Entwicklung eines "patientenorientierten"

therapeuti-

schen Klimas - der institutionelle Umgang mit Patientenbedürfnissen, Patientenaktivitäten, Patientenwünschen - die sozialen Implikationen intensivmedizin-spezifischer Technologien (Monitorüberwachung, Infusiomatenbatterien)

Beatmungsnotwendigkeit,

Strukturelle und interaktlonelle Bestimmungselemente

145

- Vermeidung und Bewältigung von technischen Pannen als Indikatoren für ein stationsspezifisch ausgebildetes technologisches Bewußtsein - therapeutische Eskalation und ihr Erleben durch den Patienten - Ausbildung unterschiedlicher Perspektiven im ärztlichen und im Pflegebereich und ihre Folgen für das therapeutische Klima (Formen der Arbeitsteilung) - Die Entstehung von patientenbezogenen Informationen und Weisen der mündlichen und schriftlichen Tradierung und ihre Auswirkungen für den Patienten - Die Rolle der Angehörigen im therapeutischen Prozeß - Aspekte der Sozialisation zum intensivmedizinischen Patienten und ihre psychosozialen Implikationen

2. Rahmenbedingungen für die Konstituierung eines therapeutischen Milieus: Räumliche Anordnung und Pfleqeorqanisation

2.1 Einleitung Die Frage nach Bedingungen und Art einer patientenorientierten Intensivmedizin macht neben der Beobachtung des tatsächlich sich vollziehenden intensivmedizinischen Handelns auch die Analyse von wesentlichen Strukturelementen von Intensivstationen erforderlich. Diese stehen in einem engen Verhältnis zum spezifischen intensivmedizinischen Handlungsproblem, das durch die beiden zentralen Komponenten der "Intensivpflege" gekennzeichnet ist. Einmal müssen Ärzte und Schwestern die "gefährlich, evtl. lebensbedrohlich beeinträchtigten" Vitalfunktionen ihrer Schwerstkranken überwachen und zum anderen bedürfen diese Patienten einer besonders qualifizierten Pflege. Die nachfolgenden Ausführungen gelten jenen Wirkungen, die räumliche Strukturen und einige Aspekte der Pflegeorganisation auf die Lösung dieses Handlungsproblems haben können. Räumliche Strukturen lassen sich als geronnene soziale Deutungen und intensivmedizinische Selbstbestimmungen begreifen, sym-

146

E. Patientenorientierte Intensivmedizin

bolisieren zweckbestimmte Funktionszusammenhänge, die in ihrem Einfluß auf der Ebene konkreten Handelns analysiert werden können . Dies bedeutet, daß wir die architektonischen Grundrisse und Organisationspläne der untersuchten Intensivstationen als soziale Tatsachen behandeln und wie Texte auslegen können. Aus der Lage der Station im Klinikgefüge, der Anordnung der Räume und Bettplätze zueinander, der Anlage der Wege,die zurückzulegen sind, und der Struktur der Pflegeorganisation, lassen sich erste Hypothesen darüber bilden, wie diese architektonischen und zusätzliche organisatorischen Regelungen die Gruppe der Ärzte, Patienten und des Pflegepersonals zu einander in Beziehung setzen und spezifische Voraussetzungen für die Konstituierung

unter-

schiedlicher therapeutischer Milieus konstituieren. Dabei muß jedoch für dieses Stadium unserer Datenanalyse gesagt werden, daß es nur um die Interpretation von Strukturelementen und ihre möglichen Konsequenzen für das soziale Handeln gehen kann. Wir können die Vor- und Nachteile unterschiedlicher Arrangements identifizieren; es bleibt aber weiteren Auseinandersetzungen mit dem Beobachtungsmaterial vorbehalten festzustellen, inwieweit von den Ärzten und dem Pflegepersonal die Vorteile genutzt und die Nachteile kompensiert werden, die ihnen durch die jeweiligen Strukturbedingungen vorgegeben sind, bzw. inwieweit sich möglicherweise auch Strukturen durchsetzen, die die Realisierung einer patientenorientierten Intensivpflege beeinträchtigen. In Umkehrung unserer Vorgehensweise seien zunächst die drei zentralen Thesen vorangestellt, die eigentlich Ergebnis der nachfolgenden Interpretationen unterschiedlicher architektonischer Grundrisse und pflegeorganisatorischer Regelungen sind. 1. Der unterschiedlich hermetische Charakter von Intensivstationen. Die Lage einer Station im Klinikgefüge, die Ausgestaltung ihrer Zugänglichkeit

(verschlossene, geschlossene oder of-

fene Türen, Klingel), die hygienischen Schwellen, die nur mit Verkleidungsmaßnahmen zu überwinden sind, markieren unterschiedlich deutliche und durchlässige Grenzziehungen zwischen dem Krankenhaus und seiner Intensivstation. Je nachdem wie hermetisch oder durchlässig diese Grenzziehung baulich und durch andere, auch symbolische Markierungen ausgestaltet ist, werden Gefühle der Fremdheit und des Abgeschlossenseins sich intensivie-

Strukturelle und interaktionelle Bestimmungselemente

147

ren oder verringern. Für die Angehörigen sind solche Grenzziehungen besonders bedeutsam und werden bei ihren Besuchen erkennbar. Aber auch für das Pflegepersonal und die Ärzte sind solche Grenzziehungen

insofern relevant, als gewissermaßen das

im Krankenhaus und auf der Station realisierte

"medizinische

Weltbild" sichtbar wird. 2. Die Integration bzw. Segregation von Personal- und Patientenwelt. Die Anordnung der Funktionsräume im Verhältnis zu den Patientenräumen verweist auf das Problem der sozialen Dichte, auf die Bedingungen der Herstellung einer gemeinschaftlichen Lebenswelt von Patient und Personal bzw. die Möglichkeiten der Distanzierung voneinander. Die räumliche Integration bzw. Segregation von Personal- und Patientenwelt läßt möglicherweise unterschiedliche interindividuelle Beziehungen entstehen. 3. Die Anordnung und Ausgestaltung der Bettplätze der Patienten. Das Handlungsproblem der Intensivmedizin

(lückenlose Über-

wachung, intensive Pflege und ständiges Bereitsein für den medizinischen Zugriff im Falle von Zustandsverschlechterungen) prägt der Ausgestaltung der Bettplätze, ihrer Anordnung zueinander und ihrer technischen Ausrüstung ihren Stempel auf. Dadurch entstehen je unterschiedliche Lösungsformen des Spannungsverhältnisses zwischen den individuellen Persönlichkeitsrechten des Patienten auf Respektierung seiner Integrität und seiner Bedürfnisse nach Privatheit und dem medizinisch begründbaren Erfordernis der ständigen Beobachtung in einem quasiöffentlichen Raum. Anhand dreier sehr unterschiedlich angelegter und organisierter Intensivstationen sollen die erwachsenden Probleme für das therapeutische Handeln charakterisiert werden.

2.2 Zur Bedeutung struktureller Bedingungen für das therapeutische Milieu auf der Station Zweiburg

2.2.1 Kurzcharakteristik des Grundrisses Die Intensivstation befindet sich in einem älteren, gründlich renovierten Gebäude, in dem auch die Innere Station untergebracht ist, der sie zugehört. Das Gebäude liegt etwas am Rande eines im Pavillonstil angelegten Klinikgeländes und ist -

148

E. Patientenorientierte Intensivmedizin

WC 1

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vCBKANDIWN [NS1 I TUT IONEN VORGENOHHI

Unser Vorgehen seit 1968 ist hier abzulesen. In einer neuen Stufe sind wir jeweils von wissenschaftlichen Erkenntnissen und von der organisatorisch durchsetzbaren Form ausgegangen. Dieses Vorgehen in kleinen Schritten mit dauernder Rückkoppelung der Erfahrungen im Umgang mit Patienten, mit Ärzten und Übungsleitern sowie mit den benutzten Institutionen und den Kostenträgern hat sich bewährt und ist seitdem auch Arbeitsprinzip. Um die Erfahrungen in überregionale Regelungen einmünden zu lassen, sind nach dem Küster der Hamburger Arbeitsgemeinschaft in allen Bundesländern Landesarbeitsgemeinschaften entstanden. Diese sind Mitglied einer überregionalen Deutschen Arbeitsgemeinschaft für kardiologische Prävention und Rehabilitation. Diese Deutsche Arbeitsgemeinschaft hat wiederum für die Aufgaben der Phase III (WHO) der Herzinfarktrehabilitation einen "Arbeitsausschuß ambulante Koronargruppen" eingerichtet. Zur Zeit ist dieser dabei, die Ausbildung der Übungsleiter generell für die Bundesrepublik Deutschland zu regeln. Dafür sind für den pädagogisch-psychologischen Bereich 12 Unterrichtseinheiten und im medizinischen Bereich nochmals 4 Unterrichtseinheiten für Psychosomatik, psychosoziale Faktoren und Formen der Psychotherapie vorgesehen. Auf dem Programm dieser Arbeitskommission, die der Verfasser leitet, stehen noch viele Einzelprobleme, die einer Klärung zugeführt werden müssen. Wir wollen Lösungen schrittweise und möglichst in den gegebenen Strukturen der medizinischen und sozialen Versorgung unserer pluralistischen Gesellschaftsordnung

erreichen.

Anmerkungen zur Oldenburger Longitudinalstudie

223

Das Koreferat ist in pragmatischer Weise erstellt. Einzelne Punkte, zu denen Erfahrungen, teilweise Untersuchungen aus unserem Arbeitskreis vorliegen, werden herausgegriffen. Zum medizinischen Ansatz der Studie habe ich als Mediziner keine Bemerkungen. Die Messung von Lebensbedingungen und Bewältigungsstrategien kann ich weniger beurteilen. Daß die Bearbeitung dieses psychosozialen Komplexes notwendig ist, soll nicht bestritten werden.

2. Bemerkungen zum Genesungserfolg:

Wir haben diesen Erfolg gemessen an der Dauer der Arbeitsunfähigkeit (Jungmann/Krasemann 1981). Tatsächlich ist abhängig von der Organisationsform der Rehabilitation dieser "Rehabilitationserfolg" besser geworden (siehe Abb. 3). ABB.

3

STUDIEN

DER

HAMBURGER

ARBEITSUNFÄHIGKEIT

ARBEITSGEMEINSCHAFT

NACH

ARBEITSFÄHIG

1968 /

UBER

DIE

HERZINFARKT

NACH

12

MONATEN

1969

OHNE REHABILITATIONSKLINIK N =

10.0 '/,

3W

1969 /

1970

MIT REHABILITATIONSKLINIK N -

362

52.0

VERGLEICHSSTUDIE

MÄNNER

BIS

ZU 6 4

PECTORIS-ANFÄLLE 1973

f

JAHRE

OHNE

UND OHNE

%

SCHWERE

ANGINA

HERZINSUFFIZIENZ

1971

REHABILITATIONSKLINIK N *

215

1973 /

6 3 , 2 '/ C 19711

REHABILITATIONSKLINIK

UND

AMBULANTE KORONARGRUPPE N

-

81.0 '/»

85

VERGLEICHSSTUDIE

MÄNNER EINER

BIS

ZU 6 4

AMBULANTEN

ERGOMETRISCHE

JAHRE,

AUFGEFORDERT,

KORONARGRUPPE

ZU

MINDESTBELASTBARKEIT

SICH

AN

BETEILIGEN. 7$/WATT/3MIN

224

F. Herzinfarktrehabilitation und soziale Unterstützung

Daß dieser E r f o l g w e i t g e h e n d

unabhängig

vom medizinischen

fund ist, h a t eine andere A r b e i t b e w e i s e n k ö n n e n m a n n 1981).

Hier konnten wir nachweisen, daß dem ärztlichen

der kompetenten

Rehabilitationsklinik

zur A r b e i t s a u f n a h m e

in 22,0 % zum g e p l a n t e n Zeitpunkt gefolgt wurde. N a c h des Systemes mit genauerer Mitteilung 75,0 % arbeitsfähig. beitsaufnahme

(Abb.

IN DER REHABILITATIONSKLINIK

IM VERHÄLTNIS ZUR ARBEITSAUFNAHME

ABSCHLUSSERGOMETRIE WATT

in b e i d e n

4).

ABSCHLUSSERGOMETRIE

1977/1978

ZAHL DER

ZAHL DER

RICHTIGEN

FALSCHEN

PROGNOSEN

PROGNOSEN

N • 32 50

N «112

1

75

1

17

100

32

125

10 8

150

6

15

175

3

5

12

200

1

ERNEUTE UNTERSUCHUNG

1980/1981

N -90

N • 28

75

1

1

100

6

1

125

29

9

150

34

8

175

13

5

200

5

1

225

2

0

BEZIEHUNGEN ZUR PROGNOSTISCHEN AUSSAGE DER

ARBEITSFÄHIGKEIT.

DIE KÖRPERLICHE LEISTUNGSFÄHIGKEIT, GEMESSEN IN WATT/MIN LÄSST KEINE AUSSAGE ÜBER DIE ZEIT DER ARBEITSUNFÄHIGKEIT DAMIT ÜBER DIE BERUFLICHE BELASTBARKEIT ZU.

an

jetzt

Zeitpunktes der

zu m e d i z i n i s c h e n B e f u n d e n war

erkennbar

ABB. 1

Eine K o r r e l a t i o n des

Zeitpunkt

Rat

nur

Änderung

zur A r b e i t s a u f n a h m e

Arzt und Patient, wurden zum vorbestimmten

nicht

Be-

(Stein/Krase-

UNC

Ar-

Studien

Anmerkungen zur Oldenburger Longitudinalstudie

Die medizinischen Befunde

zur B e u r t e i l u n g ,

Arbeit und Beruf ausgeübt werden konnte, bewährt

ob überhaupt

haben sich

nun umgekehrt

zu w e n i g e r

ben uns diese

Zahlen vom Bundesverband der

geben

lassen.

Die absolute

farkt

ist in den letzten Jahren angestiegen.

alter

ist geringer

mer

früher

Abb. 5

späterer

Berentung

geworden.

müßte

führen. Wir

Das

nach

Herzin-

Rentenzuzugs-

Man geht also nach Herzinfarkt (Abb.

ha-

Rentenversicherung

Zahl der R e n t e n a n t r ä g e

in d i e B e r e n t u n g

wieder

allerdings

(88,0 %, 9 5 , 0 %). D i e f r ü h e r e A r b e i t s f ä h i g k e i t und

225

im-

5).

Rentenzugangsalter (EU/BU) wegen Herzinfarkt OCD 410-416) VON 1971-1979 (BBD/Verband Deutscher Rentenversicherungsträger)

Diese

letzte Frage haben wir

diskutiert

(Krasemann/Donat

auf e i n e m S y m p o s i u m m i t L. 1982).

Er sagt hierzu:

an, alle M e n s c h e n müßten, w e n n sie g e s u n d sind, w i e d e r Inzwischen hat eine Großuntersuchung kungsweise deutlich gemacht. materiellem Wertsystem.

einen Wandel

Die Psychologie

Moeller

"Wir

nehmen arbeiten.

in d e r

Den-

spricht von

Nicht die Arbeit und Leistung,

post-

sondern

die Gestaltung des Lebens gewinnen an Bedeutung.

Man möchte

verbleibende

ist e i n

Leben genießen.

geres Rentenzugangsalter pretation

Unter diesem Aspekt

anders

zu i n t e r p r e t i e r e n " .

k a n n s i c h a l l e r d i n g s a u c h auf d e n § 1 des

tationsangleichungsgesetzes

Diese

Inter-

Rehabili-

stützen, der neben dem mehr

m i s c h e n Ziel der W i e d e r e i n g l i e d e r u n g

das

niedri-

in A r b e i t u n d B e r u f

ökonoauch

226

F. Herzinfarktrehabilitation und soziale Unterstützung

die Wiedereingliederung in die Gesellschaft zum Ziel hat. Die durch die schlechte Arbeitsmarktlage immer häufiger zu sehende "Rehabilitation in die Rente" bei Herzinfarktpatienten im Alter über 55 Jahre, muß hier noch angeführt werden. Die Bewältigung dieses Problemes für die Patienten, für die rehabilitierenden Ärzte und für die Kostenträger müßte dringend diskutiert werden. Aus unserem Arbeitskreis können wir zu den verschiedenartigen Reflexionen des Problemes Rückkehr zur Arbeit nach Herzinfarkt noch eine spezielle Erfahrung beitragen. 1971 entstand der Gedanke analog dem bekannten langsam ansteigenden Trainingseffekt auch nach langer Krankheit die körperlichen und geistigen Fähigkeiten stufenweise hochzutrainieren. Eine größere Untersuchung mit einer Vergleichsgruppe 1980

(Brost/Krasemann/Stol-

ley 1982) hatte folgendes Ergebnis: Die Frühberentungen sind geringer. Die berufliche Wiedereingliederung gelingt besser, wenn auch nicht sicher schneller

(bezogen auf den Zeitpunkt der

Arbeitsaufnahme mit voller Stundenzahl). Die psychisch-psychologisch bessere Situation durch diese Eingliederungsmaßnahme wird von den Patienten recht deutlich empfunden und ist danach eine entscheidende Hilfe. Es konnte auch festgestellt werden, daß die Möglichkeit der stufenweisen Arbeitsaufnahme nach längerer Arbeitsunfähigkeit zu wenig bekannt ist. Insbesondere Institutionen beim Arbeitgeber

(Werksärzte, Personalabteilun-

gen, Betriebs- und Personalräte) bedürfen einer besseren Sachinformation. Abbildung 6 zeigt das selbst eingeschätzte Belastungsgefühl der Patienten. Abb. 6

Belastungsgefühl bei Wiederaufnahme der Arbeit bzw. Teilzeitarbeit, relative Häufigkeit in Prozent Rehagruppe

Vergleichsgruppe

Die Arbeit war: -

33 43 1 9 5

gut zu verkraften eine große Belastung fast eine Überlastung eine Überlastung, Arbeit abgebrochen %

100

N

146

21

58 14 7 100 86

Anmerkungen zur Oldenburger Longitudinalstudie

227

3. Bemerkungen zur Lebensqualität

Obwohl es Instrumente zur Abfragung gibt, ist eine allgemein gültige Aussage schwierig. Als Basis einer geplanten umfassenden Untersuchung zur Frage Lebensqualität durch ambulante Koronargruppen haben wir Patienten offen gefragt, was dieses für sie in der Hauptsache sei. Es durften nur 3 Inhalte auf einer Liste eingetragen werden. Das Ergebnis ist in Abbildung 7 dargestellt. Abb. 7

Spontane Angaben von 121 Patienten nach Herzinfarkt zur Lebensqualität

"Nennen Sie 3 Dinge, die das Le-

ben lebenswert machen" Genannte Begriffe

Zahl der Nennungen

1.

Harmonie und Erfüllung in Familie, Ehe und Partnerschaft

61

2.

Körperliche und geistige Gesundheit, Fitness

51

3.

Sinnvolle Freizeitgestaltung

38

4.

Erfüllung im Beruf, wieder arbeiten zu können

34

5.

Sport, Wandern

30

6.

Zufriedenheit, Glück, Lebensfreude, keine Sorgen

26

7.

Reisen, Urlaub

i 6

8.

Menschliche Begegnungen und Freundschaften

1 2

9. 10.

In Frieden und Freiheit leben

8

Die Natur beachten und genießen

7

1 1 . Frei von materiellen Nöten 1 2.

Selbständigkeit, Unabhängigkeit

6 5

1 3. Essen und Trinken

4

14.

3

Unternehmungslust

1 5. Weiterbildung 16.

Glaube an die Zukunft

1 1

Kliniker, die sehr kritisch unseren Ergebnissen mit den ambulanten Koronargruppen gegenüberstehen, rechnen nur die eventuell verbesserte Absterberate zur Lebensqualität. Diese könne leichter und mit mehr Sicherheit durch Bypass-Operationen und

228

F. Herzinfarktrehabilitation und soziale Unterstützung

Aufweitung der Koronarien mit Hilfe eines Katheters als durch mühsame Umerziehung im somatischen und psychosozialen Bereich erreicht werden. Tatsächlich haben die entsprechenden Untersuchungen auch keine überzeugenden Beweise der Lebensverlängerung bei der organisierten Herzinfarkt-Rehabilitation mit Einschluß körperlicher Bewegung erbracht. Nur eine Arbeit von Kallio hat positive Ergebnisse mitgeteilt

(Kallio/Hämäläinen/

Hakkila/Luurila 1979). In Abbildung 8 ist das Ergebnis einer eigenen Fallkontrollstudie über 8 Jahre zu sehen (Bock/Krasemann, in Druck). Der Beweis einer Lebensverlängerung nach Bypass-Operationen steht gleichfalls noch aus. Abb. 8 100 -,

90-

80-

TK1LNE1IMEH NICHTTKILN El IMLH

70-

60-

0-1 0

1 1 1 1 1 1 • 1 1 2 3 4 5 6 7 8 9

1

1 ! 10 11

jAiinr

Die Qualität medizinischer und sozialer Versorgung durch Arztdichte, Sozialversicherung für den Krankheitsfall, Heilmaßnahmen der Rentenversicherung und Zahl der Arbeitslosen haben wir zwischen den USA und der Bundesrepublik Deutschland verglichen Alle diese Parameter sind in den USA seit Jahren schlechter. Trotzdem ist die Zahl der Herzinfarkttoten dort in den letzten 15 Jahren um 20,0 % abgesunken und bei uns immer noch an-

A n m e r k u n g e n zur Oldenburger Longitudinalstudie

steigend,

trotz v i e l e r , s e i t 1 9 7 0 e i n g e f ü h r t e r

und organisatorischer Verfahren

229

therapeutischer

( K r a s e m a n n / D o n a t 1982)

(Abbil-

d u n g 9) . Abb.

9

STERBEFALLE

AN

AKUTEM

HERZMUSKELINFAKT

C ICD

PRO 100.000 EINWOHNER BUNDESREPUBLIK

410 )

JE GESCHLECHT

IN D E R

DEUTSCHLAND

^ 1

9

BRD

BRD

1968

137,1

64.4

1969

145,1

69,3

1970

148,6

71,8

1971

154,4

75.1

1972

156,1

77,5

1973

154,4

78.3

1974

155,7

81,2

1975

161,3

86,2

1976

166,6

89,6

1977

162.3

88,0

1978

168,8

93,5

1979

169.9

97,9

1980

174,4

101,4

1981

173.0

102,8

ZAHLEN DES STATISTISCHEN

BUNDESAMTES

D i e s e s p a ß t n i c h t in die b i s h e r i g e n V o r s t e l l u n g e n zum faktorenmodell. zwangsmäßig Rolle

Es m u ß d i s k u t i e r t w e r d e n , ob die

Risiko-

größere,

in d e n U S A v o r h a n d e n e E i g e n v e r a n t w o r t l i c h k e i t

eine

spielt?

Zu diesem Gebiet der Lebensqualität möchten wir eine Untersuchung aus unserem Arbeitskreis anführen to/Krasemann,

weitere

(Maas/Kerekjar-

in Druck). Diese Untersuchung wurde übrigens

zipiert in der Absicht der Uberprüfung der

kon-

Absichtserklärung

230

F. Herzinfarktrehabilitation und soziale Unterstützung

des § 1 Reha-Angleichungsgesetz "Eingliederung in die Gesellschaft". Es erfolgte eine Befragung von 191 Männern. Der Herzinfarkt war bei ihnen bis zum 55. Lebensjahr aufgetreten, und sie waren vorzeitig berentet worden. 178 Befragungen waren auswertbar. Von den 8 geprüften Hypothesen sollen 3 aus dem psychosozialen Bereich hier angeführt werden. Hypothese: "Der Frührentner wendet sich verstärkt seiner Familie zu, was zu einer Besserung der familiären Beziehung führt." Bei Prüfung dieser Hypothese zeigte sich, daß sich der Frührentner verstärkt dem häuslichen Bereich und seiner Familie zuwendet. Dies führt aber keineswegs zu einer Verbesserung der Beziehungen. Der Frührentner und seine Ehefrau schaffen es aus eigenen Kräften nicht, sich an die veränderte Situation anzupassen. 64,4 % der Befragten geben an, daß sie sich seit der Berentung schlechter mit ihrer Ehefrau verstehen. Ein subtiles Indiz für diese Verschlechterung ist die erhebliche Abnahme der sexuellen Beziehungen (80,1 % der Befragten). Hypothese: "Der Frührentner weitet seine Hobbies und Hebentätigkeiten aus, um die vermehrte Freizeit sinnvoll zu gestalten. " Hier fielen in der Auswertung die negativen Darstellungen über Vereinsamung, Sinnlosigkeit und Ausweglosigkeit der Situation sehr stark auf. Selten schafft es ein Frührentner, durch Hobbies, die ihn befriedigen und durch verstärktes Engagement im persönlichen und sozialen Bereich, seinen Tag in befriedigender Weise zu strukturieren. Meist hatten die Befragten gar keine eigentlichen

Hobbies.

Hypothese: "Die sozialen und psychologischen Lernprogramme, die dem Patienten in der Rehabilitationsklinik angebo.ten werden, helfen ihm in adäguater Form, sich auf sein verändertes Leben einzustellen und besser zurechtzukommen." Bei Prüfung dieser Hypothese zeigte sich, daß die Herzinfarkt-Frührentner sehr schlecht mit der für sie durch die vorzeitige Berentung veränderten Situation zurechtkommen. Es mangelt an Sozialkontakten. Der Frührentner zieht sich jetzt im Laufe der Zeit mehr und mehr in den familiären Bereich zurück. Der Rückzug gestaltet sich jedoch zunehmend schwieriger, da weder der Frührentner noch die betroffene Ehefrau auf die durch die Berentung entstandene Problematik und Veränderung der Beziehungen vorbereitet sind. Die Ehefrauen fühlen sich vom Augenblick der Einlieferung ihres Ehemannes in das Akut-Krankenhaus bis zu dem

Anmerkungen zur Oldenburger Longitudinalstudie

Zeitpunkt,

an dem

abgeschlossen

alle

sind,

Rehabilitationsmaßnahmen

völlig

ausgeschlossen.

Rehabilitationsmaßnahmen

müssen

Frührentner

Sie

tion

und

weiterleben.

Unterstützung

drastisch

veränderten

mehr

4.

ambulanten

Über

II

sten

Thema

habe

und

Gefäße

Herz

Länder

so a u c h

unserer

Erde

Dort wird

nach

stationärer

Rehabilitation betrieben

Kubicek

weis,

daß

es

so

ist,

wenn

klinik sind

gen,

erfolgt

übrigens

der

Umgebung Wohnort

1982).

Auch

Weise

Ansicht,

daß

Wir meinen

so

auch

lange

für

bleiben

sollten,

durchgeführt in einer

die

Problematik

der

medizinischen

medizinischen

von

ältere

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die

Wiener

für

Die

einmal

breiter

Sicht

und

für

fernbleiben die

in

ihrer

In Berlin

Auswahl

Xrzte

in d i e s e n

Der

Be-

Patienten

DDR

Rehabilitation

der

Arbeitsgruppe

und

Praxen.

diskutiert

veraus

günstig

Rehabilitations-

daß

Gemeinschaftspraxis.

Kompetenz

ambu-

Einbestei-

die

UDSSR

(Geissler/Anders

allerdings,

könnte.

mei-

Allerdings

den

in einer

1981).

die

1975).

weiterführender

medizinischen

Ausrüstung

die Möglichkeit

täglichen

es

zu H a u s e

Zeit-

Die

unkompliziertem

14 T a g e n

erbracht.

Patienten,

werden

in der

1982).

mit

gegangen

die

mit

von

(Kubicek

ist also

diesen Weg

bereits

Patienten

(Stein/Krasemann

1982).

Möglichkeit

gefunden.

Rehabilitationskliniken,

Therapie

therapeutisch

auch

nicht

eventuell

keine

ein Anschlußheilverfahren

Nikolayewa

einer

schon

(Krasemann

Krankenhaus

geht,

die

und

bei

in d i e s e r

auch

bisher

diagnostischer

vom

(Wenger

arbeitet

treten wir

vor

Beschäfti-

Frührentner

Halhuber

kennen

USA.

lungen

Sinnvolle

der

einem Informa-

fassungslos

Rehabilitation

diskutiert

die

um

ohne wesentliche

wenigsten

ich mit

Herzinfarkt lante

mit

WHO:

dieses

schrift

zur

die

erfolgreich

Nach Abschluß

plötzlich

weniger

Lebenssituation.

haben

Bemerkungen

nun

stehen oder

gungsmöglichkeiten

Stufe

sie

231

Es von der

der

den

1982,

Unwilli-

möchte, gewohnten Phase

besteht bleibt

II

am

diese

natürlich

low-risk-Fällen, Qualität

Immerhin werden.

der

sollte

232

F. Herzinfarktrehabilitation und soziale Unterstützung

5. Bemerkungen zu Kritikpunkten der Untersuchungen der Arbeitsgruppe Badura:

Dazu ist vorweg zu bemerken, daß unseres Wissens ein so weitgehend durchorganisiertes Rehabilitationsmodell wie bei der Herzinfarkt-Rehabilitation ziemlich einmalig ist. Es besteht, wie schon ausgeführt, auf Bundesebene die Arbeitsgemeinschaft für kardiologische Prävention und Rehabilitation mit einer Arbeitskommission ambulante Koronargruppen. Ss bestehen in jedem Bundesland und in Berlin Landesarbeitsgemeinschaften. Es besteht eine Zusammenarbeit mit dem Deutschen Sportbund und örtlich mit den Landessportbünden sowie mit den Behindertenverbänden und den Sportarztbünden. Es bestehen Verträge mit den SozialVersicherungsträgern. Es gibt auf Bundesebene eine Broschüre der Deutschen Arbeitsgemeinschaft mit jährlich aktualisierter Liste der ambulanten Koronargruppen. Es gibt mehrere Filme für Patienten, die mit Hilfe der Deutschen Arbeitsgemeinschaft herausgebracht wurden, um die Patienten aufzuklären und zu motivieren. Die Idee der Einschaltung von Patienten als verantwortliche Partner und Experten in eigener Sache bei sogenannten "Patienten-Kongressen" ist eine Erfindung von Vorstandsmitgliedern der Deutschen Arbeitsgemeinschaft für kardiologische Prävention und Rehabilitation (Donat/Halhuber/Halhuber/Ilker/Krasemann 1980). Die Mitentscheidung des Patienten an der Einberufung in eine Institution der Rehabilitation ist durch die völlige Freiwilligkeit gegeben. Der Patient kann immer ablehnen. Die Entscheidung ist natürlich abhängig vom Wissen über den medizinischen Befund und hier bestehen in der Beurteilung durch den Patienten Schwierigkeiten. Die Kritik der Intransparenz von Rehabilitationskliniken kann ich nicht recht verstehen. Hier, wie bei dem Vorwurf, die Einweisung erfolge nur nach klinischen Gesichtspunkten, muß ich als Arzt sagen: "Ja, sicher, das ist auch erforderlich". Der Standard aller Rehabilitationskliniken für die Anschlußheilmaßnahmen wird von den Rentenversicherungen laufend verbessert. Viele Kliniken berücksichtigen die psychosozialen Faktoren und haben Psychologen und Sozialarbeiter.

Anmerkungen zur Oldenburger Longitudinalstudie

233

Das Wort "Elitepatienten" für diejenigen, die in Rehabilitationskliniken kommen, stimmt sicher nicht. Jedenfalls kann in Hamburg jeder Herzinfarkt-Patient, wenn sein Arzt in der AkutKlinik und er selber das möchten, schnell in eine der fünf im Umkreis bis zu 80 km liegenden Reha-Kliniken eingewiesen werden. Nach der INS-Studie sind von 1.000 Patienten nach Herzinfarkt (Männer und Frauen) bis zum Alter von 75 Jahren, die in Hamburger Krankenhäusern lagen, 80,0 % in Rehabilitationskliniken verlegt worden. In der Badura-Studie kamen bei 990 männlichen Patienten 87,0 % in Rehabilitationskliniken. Für die ambulante Koronargruppe hat das Wort "Elitepatient" in der Aufbauphase sicher gestimmt, inzwischen sind uns über 500 solcher Gruppen in der Bundesrepublik Deutschland bekannt. Laufend werden neue Gruppen gegründet. Auch sind verschiedene Gruppen je nach Schwere des Krankheitsbildes vorhanden. Die Einbeziehung von Ehepartnern in die Gruppenarbeit ist ein altes Thema. Wir ziehen die Ehepartner in Einzelveranstaltungen hinzu, wie z.B. bei Faschings- und Weihnachtsfeiern, bei Filmvorführungen, bei Patienten-Seminaren und bei Skilanglauf-Reisen (Krasemann 1982, in Druck). Leider ist es aus organisatorischen Gründen nicht möglich, die Ehepartner immer an der ambulanten Koronargruppe zu beteiligen. Der beschränkte Hallenraum und Platzraum sowie die Kapazität von Aufsichtspersonen (Ärzte, Übungsleiter) lassen das nicht zu, auch wenn wir darin übereinstimmen, daß es ideal wäre, den Partner völlig miteinzubeziehen. Eine zentrale Stelle zur versicherungsrechtlichen Abwicklung der Herzinfarkt-Rehabilitation in allen drei Stadien ist sicher zweckmäßig und von uns schon früher gefordert

(Krasemann/Mudra

1973). Es scheitert dieses aber an der gegliederten Sozialversicherung. Immerhin wird das Stadium III WHO, die ambulante Koronargruppe, über die Landesarbeitsgemeinschaften zunehmend besser organisiert.

234

F. Herzinfarktrehabilitation und soziale Unterstützung

6. Bemerkungen zur organisatorischen Verbesserung und zu Änderungen der Therapiestraße:

Zum Schluß der Ausführungen soll zusammengefaßt zu der Frage der noch besseren Organisation der Herzinfarkt-Rehabilitation Stellung bezogen werden. 1. Die Vorstellungen einer Rehabilitations-Ambulanz an Krankenhäusern beurteile ich negativ. Die ambulante Behandlung ist Aufgabe der niedergelassenen Ärzte. Daher ist es systemkonform, diese Ärzte in die ambulante Rehabilitation einzubeziehen. Die Institution Kassenarzt ist auch vorhanden, genauso wie die Institution Sportverein und Volkshochschule. Wir meinen daher, man soll diese Institutionen in einem Kooperationsmodell nutzen und nicht die Krankenhäuser, die sowohl räumlich (Turnhallen, Sportplätze) als auch personell (Ärzte, Übungsleiter, Sportlehrer, Psychologen, Sozialarbeiter) nicht auf diese Tätigkeit eingerichtet sind. Von unserem Grundprinzip, vorhandene Strukturen in unserer Gesellschaft zu benutzen und damit auch kostensparend zu arbeiten, möchten wir keinesfalls abgehen. Man sollte auch einmal die Patienten fragen, ob sie lieber in einer rein medizinischen Einrichtung oder in einer mehr nichtmedizinischen Einrichtung, aber mit Ärzten als Partner, betreut werden möchten. 2. Die ambulante Koronargruppe beim Sportverein oder bei einer Volkshochschule sollte durch einen psychosozialen Teil erweitert werden. In den schon angesprochenen Ausbildungscurricula für Übungsleiter und für Ärzte, die 1983 gültig werden, sind pädagogische und psychosoziale Anteile mit ausreichender Stundenzahl vorgesehen. Die Frage, ob zusätzlich Experten für diese Thematik in der ambulanten Koronargruppe benötigt werden, muß diskutiert werden. Auch über das Stundenbild in der ambulanten Koronargruppe wird z.Zt. in unserer Arbeitsgemeinschaft diskutiert. Die Anteile der psychosozialen Betreuung sollen erweitert werden. 3. Versuche, um Selbsthilfegruppen an die ambulanten Koronargruppen anzuhängen, haben wir durchgeführt

(Halhuber/

Traenckner 1982). Wer die Materie von Selbsthilfegruppen beurteilen kann, weiß, wie schwierig so etwas ist.

Anmerkungen zur Oldenburger Longitudinalstudie

Lange

nicht

sport

betreibt,

therapie

jeder

Patient,

und

bekommt,

damit

möchte

der

gerne

auch

eine

in eine

fröhlichen

235

Gesundheits-

unauffällige

Psycho-

Selbsthilfegruppe

eint-rp-

ten. Der

Zwischenbericht

viele

interessante

198 2 d e r Aspekte.

Arbeitsgruppe

Nach

den

(Siegrist/Dittmann/Rittner/Weber Begriff

Stress

klassische

mit

für

die

Variablen

Entstehung

ersten Ergebnisse Erfolges

einer

der

Badura nach

Absicherung,

psychosozialer

den

globalen

ausfüllen.

Framingham-Studie Dies

Herzinfarktes,

Studie

gilt

für

Herzinfarkt.

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auch

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zusätzlicher

oder

muß

die

des

Die

Variablen

also

nicht

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der bei

Das ist

sondern wie

zeigen,

d.h.

Rehabilitationserfolges

Berücksichtigung werden.

der

enthält

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können wir

Variablen

zu ergänzen.

Rehabilitation

wissenschaftlichen eventuellen

des

1980)

harten

Risikofaktorenmodell

um psychosoziale nur

einigen

Badura

neueren

diskutiert

der

mehr

G. Gesundheitsvorsorge am Arbeitsplatz Gesundheitsgerechte Arbeitsgestaltung Sozialepidemiologische Untersuchung in einem Stahlwerk Liselotte von Ferber, Wolfgang Slesina, Andreas Renner, Alfons Schröer

1. Gesundheitsgerechte Arbeitsgestaltung Die Forderung nach menschengerechter Arbeitsgestaltung reicht weit zurück. Sie ist älter als der Begriff selbst. Für die Konkretisierung dieser normativen Vorgabe und für die Ausfüllung in der Betriebspraxis werden objektivierbare Gestaltungskriterien benötigt. Deren Ausarbeitung und praktische Anwendung stellt eine interdisziplinäre Aufgabe dar, an der Arbeitsmedizin, Ergonomie, Arbeitssoziologie und -psychologie sowie neuerdings die Soziale Epidemiologie zusammenarbeiten müssen. Die hier zu einer Zusammenarbeit aufgeforderten

DisziDlinen

unterscheiden sich z.T. grundsätzlich hinsichtlich ihres Erkenntnisgegenstandes und der Anwendung ihrer Ergebnisse. Während in den naturwissenschaftlich ausgerichteten Disziplinen feste Meßwerte als Schutznormen formuliert werden können, gilt dies für die sozialwissenschaftlich ausgerichteten Disziplinen nicht. Orientierungsmaßstäbe für eine menschen- und gesundheitsgerechte Arbeitsgestaltung, die überdies jenseits der Abwehr von naturwissenschaftlich objektivierbaren Gesundheitsgefahren ansetzen und positive Inhalte aufweisen sollen, können nicht aus der Wissenschaft abgeleitet und der betrieblichen Praxis verordnet werden. Die betriebliche Umsetzung der für den Arbeitsschutz bedeutsamen wissenschaftlichen Erkenntnisse sieht sich daher auf grundsätzlich verschiedene Wege verwiesen. Dies macht es verständlich, daß sich der Arbeitsschutz in zwei Richtungen entwickelt hat. Der Schutz der Gesundheit des Arbeitnehmers

vor Schadstoffen,

Unfallrisiken und physischer Überforderung war und ist bis in die Gegenwart hinein bevorzugter Gegenstand der Arbeitshygiene, Gewerbehygiene, Arbeitsphysiologie und der Arbeitsmedizin. Durch

238

G. Gesundheitsvorsorge am Arbeitsplatz

die Ausarbeitung von Belastungsgrenzen und durch Sicherheitskriterien sollen physische Risiken abgebaut werden. Daneben führte bereits in den 20er Jahren die Betriebssoziologie die Forderung nach einer positiven Arbeitsgestaltung in die Diskussion um die Begründung einer interdisziplinären Arbeitswissenschaft ein. Sie betonte die Dispositions- und Autonomiemöglichkeiten der Arbeit und erhob die Forderung nach einer Erweiterung des Handlungsspielraums der Arbeitnehmer (vgl. Wachtier 1979). Hit dem tiefgreifenden Wandel der industriellen Arbeitswelt, der sogen, "wissenschaftlich-technischen Revolution", gerät die hier geschilderte, problemlos erscheinende Abgrenzung der beiden Richtungen des Arbeitsschutzes erneut in Bewegung. Wir werden mit neuen, den "psychosozialen Arbeitsbelastungen" konfrontiert, die sich aus technischen und arbeitsorganisatorischen Entwicklungen ergeben. Die Erfassung psychosozialer Gesundheitsrisiken muß sich an neuen Wissensbeständen orientieren. Wissenschaftliche Grundlagen dafür werden vornehmlich durch Untersuchungen der Sozialepidemiologie geschaffen. Die sozialepidemiologische Arbeitsrichtung trägt zur gesundheitsgerechten Arbeitsgestaltung in einer empirisch fundierten und konkreten Weise bei. Die Verwirklichung ihrer Vorschläge ist in der Betriebsverfassung vorbereitet . Gesundheitsgerechte Gestaltung der Arbeit kann nur dann verwirklicht werden, wenn die Betroffenen selbst und ihre betrieblichen Interessenvertreter im Rahmen der betrieblichen Gesundheitsvorsorge und der menschengerechten Gestaltung der Arbeit beteiligt werden. Die Einbeziehung der Beschäftigten in die gesundheitsgerechte Arbeitsgestaltung besitzt in der Betriebsverfassung bereits eine Grundlage. Beteiligung und Mitbestimmung auf diesen Gebieten müssen dabei allerdings berücksichtigen, daß die angesprochenen Handlungsfelder nicht nur schon durch manifeste Interessen, durch die formelle und informelle Organisation des Betriebes besetzt sind und daher im Kontext ausbalancierter Zielsysteme und Durchsetzungsstrategien stehen, sondern auch rechtliche Vorgaben enthalten. Hier spielen vor allem die §§ 90, 91 BetrVG sowie der § 87 Abs. I, 7 BetrVG eine bedeutsame Rolle. Entgegen der durchgängigen Intention des BetrVG von 1972, die Beschäftigten und den Betriebsrat stärker zu beteiligen, sind die Formulierungen der §§ 90, 91 BetrVG allerdings restriktiv

Gesundheitsgerechte Arbeitsgestaltung

abgefaßt worden der Lehre Abs.

239

(Zöllner 1973). Dagegen eröffnet nach herrschen-

(Fitting/Auffahrt/Kaiser

1981) die Bestimmung des § 57

i, 7 BetrVG in Verbindung mit § 120a GewO für eine Mitbe-

stimmung des Betriebsrats einen breiten Spielraum in Fragen des Arbeitsschutzes. Ein Blick in die Rechtswirklichkeit zeigt, daß - abgesehen von einigen wenigen Urteilen zur Einführung von Bildschirmarbeitsplätzen ab Beginn der 80er Jahre - praktisch keine Judikatur zu §§ 90, 91 BetrVG vorhanden ist. Dies gilt auch cum grano salis für die Bestimmung des § 87 Abs. I, 7 BetrVG in Verbindung mit § 120a GewO, deren Anwendung zwar von unteren Instanzen bestätigt wurde, deren Urteile aber von Landesarbeitsgerichten aufgehoben wurden. Eine Erklärung für diese Situation muß neben dem erwähnten begrenzten Handlungsspielraum der Bestimmungen §§ 90, 91 BetrVG und der Abweichung der Rechtssprechung der Landesarbeitsgerichte von der herrschenden Lehre zu § 87 Abs. I, 7 BetrVG berücksichtigen, daß das Arbeitsschutzrecht in den letzten Jahrzehnten quantitativ und qualitativ wesentlich ausgeweitet wurde. In seiner Vielfalt kann es daher kaum noch überblickt werden und ist somit zu einer Domäne von Experten geraten (Denck 1 976) . Die mit der Ausweitung des Arbeitsschutzes verbundene

"Perfektio-

nierung" der Vorschriften schränkt die betrieblichen Handlungsund Entscheidungsmöglichkeiten ein, so daß Hitbestimmungsrechte nicht wahrgenommen werden. Die zunehmende Komplexität und Perfektionierung des Arbeitsschutzrechtes verlangen vom Betriebsrat, daß er sich sowohl arbeitsmedizinisch, sicherheitstechnisch und juristisch kundig macht. Sich auf diesem Gebiet zu engagieren, wird jedoch durch die Tatsache behindert, daß aus der Perspektive der betrieblichen Interessenvertretung das Thema Gesundheit im Verhältnis zu Lohn und Erhaltung des Arbeitsplatzes von nachrangigem Interesse ist. Gesundheitsgerechte Arbeitsgestaltung als vorbeugende Gesundheitspolitik geht davon aus, daß der Handlungs- und Dispositionsspielraum der Beschäftigten und ihrer Interessenvertreter erweitert werden muß; denn die belastenden wie förderlichen Arbeitsbedingungen werden von den Arbeitnehmern selbst als solche wahrgenommen, und die Definition der Krankheit und Beschwerden provozierenden Zusammenhänge kann nur von den Beschäftigten selbst ausgehen. Diese Aufassung leitet sich aus dem sozio-psychosomatischen Krankheits- und Gesundheitsverständnis der Sozialepidemiologie her. Dieses geht davon aus, daß psychomentale und psychosoziale Arbeitsbedingungen ihre belastende, ihre beanspruchende Wirkung erst im Wahrnehmungsfeld der Beschäftigten äußern.

240

G. Gesundheitsvorsorge am Arbeitsplatz

Dieses Konzept unterscheidet sich deutlich von einer arbeitshygienischen oder gewerbehygienischen Betrachtungsweise, die mit naturwissenschaftlichen Methoden objektivierbare Kausalzusammenhänge zwischen Arbeitsbedingungen und körperlichen Reaktionen ableitet. Das naturwissenschaftlich-arbeitsmedizinische Konzept baut auf dem naturwissenschaftlichen Expertenwissen von Betriebsingenieuren und Werksärzten auf und läßt die Arbeitnehmerperspektive häufig unbeachtet. Eine sozialmedizinische Vorgehensweise dagegen kann sich auf naturwissenschaftlich zu objektivierende Zusammenhänge nur in einem sehr begrenzten Sinne beziehen. Sie muß die Entstehung und Durchsetzung sozialer Normen selbst zum Thema machen und kann eine gesundheitsgerechte Arbeitsgestaltung nur unter Einbeziehung dieser Definitionsprozesse ins Werk setzen (Schema 1). Schema 1 Stressodootion

Stressor Person -

betriebliche

Umwelt

bzw.

Distress

- Organismus

Legende: Die betrieblichen Leistungsanforderungen beeinflussen in Verbindung mit dem b e t r i e b l i c h e n Sanktionssystem und den i n t e r n a l i s i e r t e n Normen die Leistungsb e r e i t s c h a f t der Beschäftigten, ihren Leistungseinsatz und die Belastung. Die Wirkung der Belastungen auf den Beschäftigten e r g i b t s i c h aus seiner L e i s t u n g s f ä h i g k e i t und seinen Situationsdeutungen. Bei hinreichender Erholungsmöglichkeit können die Beanspruchungen psychisch und physisch kompens i e r t werden, während bei unzureichender Erholungsmöglichkeit oder inadäquat e r Nutzung von Erholungschancen der Weg zur Beanspruchungserhöhung und möglicherweise zur Erkrankung f ü h r t . Für die gesundheitsgerechte Arbeitsgestaltung i s t die Komplexität dieses Person-Umwelt-Zusammenhangs zu beachten.

Gesundheitsgerechte Arbeitsgestaltung

241

Der hier vorgestellte Präventionsansatz bezieht daher die Dispositionsspielräume und Verhaltensalternativen der Beschäftigten selbst in sein Konzept ein. Die Beschäftigten kennen die sozialen Normen des Verhaltens, die ihre Dispositionsspielräume einengen und gesundheitsförderliche Verhaltensalternativen blockieren. Gerade die Verhaltensnormen gilt es aber, im Rahmen der gesundheitsgerechten Arbeitsplatzgestaltung zu thematisieren. Dies muß sowohl im Blick auf gesundheitsförderliche Verhaltensalternativen in der technisch sonst unveränderten Arbeitswelt als auch im Blick auf mögliche Arbeitsplatzneugestaltung und -planung geschehen. Bereits im Rahmen der Risikofindung müssen die Betroffenen selbst aktiv werden. Diese Konsequenz ergibt sich aus dem eben Gesagten. Die Aufklärung der tatsächlich gegebenen Wirkungszusammenhänge kann nur über die Einbeziehung der Wahrnehmungs- und Definitionsprozesse der Betroffenen selbst erfolgen. In unserem integrierten Verfahren zur Auffindung arbeitsbedingter Krankheiten (IVAAK) nehmen wir Bezug auf das Verhalten der Betroffenen gegenüber ihrer Krankheit. Indem wir die Arbeitsunfähigkeitsdiagnosen zur Bestimmung der chronischen Krankheit nutzen, geht die Perspektive der Beschäftigten in unser Modell als Indikator ein. Wir verwenden damit eine sozialmedizinische Krankheitsbestimmung. Denn die Beschäftigten verlangen, arbeitsunfähig krank geschrieben zu werden, sie beschreiben ihre Beschwerden und Behinderungen am Arbeitsplatz, sie schildern, daß sie den Anforderungen am Arbeitsplatz mit diesen Beschwerden nicht gewachsen sind. Sie sind in die Arbeitsunfähigkeitsdiagnosefindung und in die Festlegung der Arbeitsunfähigkeitszeit und -dauer einbezogen. Der von uns verwendete Indikator spiegelt bereits die Wahrnehmungsperspektive der Beschäftigten wieder. Daher scheint uns diese Methode eine gute Voraussetzung zu bieten, relevante sozio-psychosomatische Zusammenhänge für die Arbeitsplatzgestaltung aufzudecken.

242

G . Gesundheilsvorsorge am Arbeitsplatz

2. Das integrierte Verfahren zur Analyse arbeitsbedingter Krankheiten

(IVAAK)

Zu den im Arbeitssicherheitsgesetz genannten "arbeitsbedingten Krankheiten" gehören vor allem chronisch-degenerative Erkrankungen. Chronisch-degenerative Erkrankungen sind solche/ die über längere Zeit (Chronos = die Zeit) entstehen oder bestehen. Die Arbeitsbedingungen, die einen solchen langfristigen Krankheitsverlauf beeinflussen können, müssen ebenfalls längere Zeit bestanden haben. Weiter sind die Arbeitsbelastungen, unter denen chronisch-degenerative Erkrankungen wie Herz-Kreislauferkrankungen, Wirbelsäulenerkrankungen und Magen-Darm-Erkrankungen gehäuft auftreten, einerseits Belastungen, die aus der Auseinandersetzung mit der sozialen Umwelt resultieren, wie Verantwortung, Genauigkeit, Entscheidungen fällen. Anderseits sind es aber auch Belastungen, die gehäuft unter restriktiven Arbeitsbedingungen auftreten wie Monotonie, einseitige körperliche Belastung sowie statische und Halte-Arbeiten. Monokausale Beziehungen oder DosisWirkung-Beziehungen bestehen zwischen diesen Arbeitsbelastungen und der Krankheitsintensität nicht. Dagegen zeigt das relativ gehäufte Auftreten der Erkrankungen unter den o.g. Arbeitsbedingungen ein erhöhtes Risiko für diese Erkrankungen an, und es zeigt uns, daß ein Zusammenhang zwischen den Arbeitsbedingungen und den chronischen Erkrankungen besteht. Das von der Projektgruppe

(L.v.Ferber/ W.Slesina 1981) entwickel-

te "integrierte Verfahren zur Analyse arbeitsbedingter Krankheiten (IVAAK)" stellt eine Methode zum Auffinden chronisch-degenerativer arbeitsbedingter Krankheiten dar. Wir haben das Verfahren in diesem Forschungsprojekt in zwei Stahlwerken angewandt. Das Verfahren gliedert sich in drei Untersuchungsschritte: 1. die medizinisoziologische Dokumentenanalyse zur Feststellung der Verteilung von chronischen Krankheiten im Betrieb

(Präva-

lenzbestimmung) , 2. die arbeitssoziologische Befragung von Beschäftigten zur Bestimmung von Belastungen im Betrieb und zur Ermittlung von Belastungsmustern oder -profilen, 3. das Zusammenführen der Prävalenzraten mit den Belastungsmustern im Betrieb zu einer Mikroepidemiologie des Betriebes, aus der die Risikobereiche für chronisch-degenerative Erkrankungen ablesbar sind.

Gesundheitsgerechte Arbeitsgestaltung

2.1

243

Prävalenzermittlung

Die Prävalenz chronischer Erkrankungen wird im medizinsoziologischen Untersuchungsteil anhand von GKV-Prozeßdaten festgestellt. Als Datenquelle dient die Leistungskarte. Die Leistungskarte wird für jedes Mitglied einer gesetzlichen Krankenkasse für die Zeit seiner Mitgliedschaft geführt. Sie trägt neben anderen Verwaltungsdaten die Arbeitsplatzbezeichnungen sowie jede Arbeitsunfähigkeit des Mitgliedes mit folgenden näheren Informationen: -

die die Arbeitsunfähigkeit begründende(n) Diagnose(n), den Zeitpunkt und die Dauer der Arbeitsunfähigkeit, den Namen des Arztes, Informationen wie Heilmaßnahmen, Krankenhausaufenthalte, Kur.

Wir haben die Daten denominalisiert. Rückschlüsse auf konkrete Personen sind daher ausgeschlossen. Indem wir die Arbeitsunfähigkeitsdiagnosen der depersonalisierten Leistungskarten nach Krankheitsarten und in ihrer zeitlichen Reihenfolge ordnen, erhalten wir Krankheitsverläufe. Aus ihnen lassen sich der Beginn und der weitere Ablauf der Arbeitsunfähigkeits-Krankheit ablesen. Weiter können chronische

Krankheitsverläufe und Kurzzeiterkrankungen

unterschieden werden. Zum Erstellen der Prävalenzraten chronischer Krankheiten im Betrieb müssen zunächst die "chronisch Kranken" bestimmt werden. Wir ermittelten in einem der beiden Stahlwerke die chronisch Kranken aus allen deutschen Arbeitern und Meistern, die spätestens 1978 in das Werk eingetreten sind und zum Stichtag 31.12.1980 noch dort beschäftigt waren. Als chronisch Kranke definieren wir diagnosegruppenspezifisch alle diejenigen, die im Zeitraum 1975 bis 1980 mindestens folgende Erkrankungen aufwiesen: - 3 Arbeitsunfähigkeitsfälle der Diagnosegruppe Herz-Kreislauferkrankungen. Herz-Kreislauferkrankungen wurden auch dann als chronisch angesehen, wenn der Diagnosetext eine schwere chronische Herzkrankheit, z.B. einen Infarkt nannte, dabei aber nur 1 oder 2 Arbeitsunfähigkeitsfälle, oder - 3 Arbeitsunfähigkeitsfälle der Diagnosegruppe Magen-Darmerkrankungen oder - 5 Arbeitsunfähigkeitsfälle der Diagnosegruppe Wirbelsäulenerkrankungen. Es handelt sich bei den Wirbelsäulenerkrankungen um ein so ubiquitäres Beschwerdemuster, daß wir ein strengeres Kriterium anlegen mußten, um schwere chronische Erkrankungen zu greifen. Unter dieser pragmatischen Definition chronischer Erkrankungen finden wir unter den 3311 deutschen Arbeitnehmern 111 mit chronischen Herz-Kreislauferkrankungen, 113 mit chronischen Magen-Darm-Erkrankungen 143 mit chronischen Wirbelsäulen-Erkrankungen.

244

G. Gesundheitsvorsorge am Arbeitsplatz

Das Erstellen von Prävalenzraten im Betrieb setzt weiterhin voraus, daß die Tätigkeiten der chronisch Kranken bekannt sind und erkennbar ist, an welchem Arbeitsplatz die Krankheit begann. Zu diesem Zweck haben wir betriebliche Dokumente über Tätigkeitswechsel zu Berufsverläufen aufgearbeitet. Die Parallelisierung von Berufsverläufen und Krankheitsverläufen ergibt Patientenkarrieren , die dann Aussagen zur Entstehung und Entwicklung chronischer Krankheiten in den verschiedenen Tätigkeitsbereichen ermöglichen. Auf dieser Basis kann dann die Prävalenzrate der von uns untersuchten Krankheiten nach Tätigkeitsbereichen errechnet werden. Die in Tab. 1 dargestellten Prävalenzraten beziehen sich auf die Tätigkeit zum 31.12.1980. Tab. 1

Prävalenzraten für ausgewählte bei astungshomogene Tätigkeitsgruppen*

Tätigkeitsgruppen

N

deutsche .^ Arbeitnehmer

3311

Kran khei t s g r u p p ;n Herz-Kreislauf- Magen - Darm- WirbelsäulenKranke Kranke Kranke n % n % n % 111

3,4

113

3,4

143

4,3

1

2,1

6

12,8

1,9

4

2,5

9

5,7 2,6

Davon entfielen auf die homogenen Täti gkei tsgruppen: Schmelzer 2) Maschinenbediener '

157

47 3

Stationshandwerker

229

3

1,3

15

6,6

6

Werkstatthandwerker

59

1

1,7

1

1,7

1

1,7

Fahrer

83

1

1,2

6

7,2

4

4,8

Kranfahrer

142

8

5,6

7

4,9

6

4,2

Vorarbeiter

223

9

4,0

6

2,7

7

3,1

95

18

18,9

3

3,2

1

1,1

Meister |

E = 1035

Legende: * Prävalenz zum Stichtag 31.12.1980 1) alle zum Stichtag beschäftigten deutschen Arbeiter im Werk "D", einschl. Meister 2) Schäler, Schleifer, Polierer, Zieh- Richtpolierer, Dreher, Fräser, Hobler, Bohrer

Gesundheitsgerechte Arbeitsgestaltung

2.2

245

Belastungsermittlung durch Befragung

Die Arbeitsbelastungen werden ermittelt - durch Befragung der Beschäftigten, - durch unsere eigenen Tätigkeitsbeobachtungen. Mit einem standardisierten Fragebogen, der 43 Belastungsarten umfaßt, werden Beschäftigte schriftlich über den Umfang ihrer Belastungen befragt. Zur Beurteilung des Belastungsumfanges sind 4-Punkt-Skalen vorgegeben. Die Befragung ist auf deutsche Arbeitnehmer begrenzt. Die Fragebogeneinweisung erfolgt während der Arbeitszeit im Betrieb, die Ausfüllung außerhalb des Betriebs. Für die Belastungsermittlung wird mehrstufig eine Stichprobe gebildet: - Aus den ca. 30 Betrieben des Gesamtwerks werden 15 ausgewählt. Einbezogen werden die großen und mittelgroßen Produktions- und Instandhaltungsbetriebe; ausgeschlossen werden Bereiche wie Ausbildungsbetrieb, Kantine, Forschungsbetrieb, Verwaltung usw. - Aus den 15 Betrieben werden jene Tätigkeiten in die Befragung einbezogen, in denen mindestens 4 deutsche Mitarbeiter beschäftigt sind. In einigen Ausnahmen wurde die Quote auf 3 deutsche Beschäftigte gesenkt. - Für die Tätigkeiten, in die mehr als 4 Beschäftigte einbezogen sind, wird eine Auswahl nach Dauer der Beschäftigung und Lebensalter getroffen.

Insgesamt werden 144 Tätigkeiten untersucht. Für jede Tätigkeit wird das Belastungsprofil erstellt, indem aus den Beschäftigtenangaben zur gleichen Tätigkeit für jedes Bel'astungs-Item der Mittelwert (x) gebildet wird. Zur methodischen Absicherung der Belastungseinstufungen der Beschäftigten werden die Meister als Vergleichsgruppe über die Belastungen der Mitarbeitertätigkeiten befragt. Die Untersuchung hat das Ziel, das relative Gesundheitsrisiko (Pflanz) unterschiedlicher Belastungskonstellationen zu prüfen. Jede Tätigkeit (z.B. 1. Schmelzer) repräsentiert ein spezifisches Belastungsmuster. Die Zahl der Beschäftigten pro Tätigkeit ist jedoch für eine statistische Analyse des Belastungs-Krankheits-Zusammenhangs zu klein. Daher sind die Tätigkeiten des Werks zu größeren Gruppen zusammenzufassen. Die Aggregation soll zu Tätigkeitsgruppen führen (z.B. alle Schmelzer), die in sich relativ belastungshomogen sind, d.h. deren Arbeitnehmer relativ

246

G. Gesundheitsvorsorge am Arbeitsplatz

gleichartigen Belastungen unterliegen. Zwischen den Gruppen dagegen sollen relevante Belastungsunterschiede bestehen. Wir haben gefunden, daß die schrittweise Zusammenfassung von Tätigkeiten der gleichen Berufs- bzw. Funktionsgruppe zu belastungshomogenen Tätigkeitsgruppen führt (vgl. Schema 2). Andere Verfahren der Tätigkeitsklassifikation

wie z.B. die Cluster-

analyse haben sich bisher als weniger ergiebig erwiesen.

Schema 2 E r s t e l l u n g der B e l a s t u n g s p r o f i l e von T ä t i g k e i t s g r u p p e n am

-

Beispiel

'Kranfahrer'

Es g i b t mehrere K r a n f a h r e r - T ä t i g k e i t e n

im untersuchten

Betrieb!

1) Pro T ä t i g k e i t werden mehrere B e s c h ä f t i g t e b e f r a g t ( z . B . 4 G i e ß k r a n f a h r e r )

2) Die Angaben der Befragten werden zum B e l a s t u n g s p r o f i l ' G i e ß k r a n f a h r e r ' zusammengefaßt

der I H j g l S f i i L

3) Die B e l a s t u n g s p r o f i l e a l l e r K r a n f a h r e r - T ä t i g k e i t e n ( z . B . die der S c h r o t t - , G i e ß - , Zangen-Kranfahrer) Scnrottkran

GleBkrai

Zangertrsr

gefaßt

3. Arbeitsbelastung und Krankheit Die Mikroepidemiologie des Betriebes

Im folgenden werden erste Ergebnisse unserer sozialepidemiologischen Untersuchung über arbeitsbedingte chronisch-degenerative Krankheiten in einem Stahlwerk vorgestellt. Für die hier darzu-

Gesundheitsgerechte Arbeitsgestaltung

stellende

Auswertung

wurden

keiten"

gebildet:

werker,

Werkstatthandwerker,

Meister. nung

Zum

31.12.1980

- waren

in d i e s e n

Arbeitnehmer raten für

Gruppen

Fahrer,

unserer

Tätigkeitsgruppen Für

die

bestimmt

Belastungsprofile

Vorarbeiter, Prävalenzberech-

insgesamt

8 Gruppen

wurden

(Tab.

1).

erstellt

Tätig-

Stationshand-

Kranfahrer,

Stichtag

Krankheiten

die

"belastungshomogener

Maschinenbediener,

- dem

beschäftigt.

chronischer

die

8 Gruppen

Schmelzer,

247

1035 die

Ferner

(vgl.

deutsche Prävalenzwurden

Schema

3),

Schema 3

R e l e v a n t e B e l a s t u n g e n | für a u s g e w ä h l t e PHYSISCHE

BELASTUNGEN Kranfahrer I Vtorarbeiter Meister

MaSChinenbedierier Schmelzer

PSYCHOSOZIALE BELASTUNGEN Maschinenb?diener

selbst entscheiden schwere körperl. Arbeit

• ••

Vorarbeiter Meister

¡I

SB

Genauigkeit

• I

I

Leistungsdruck

l . i

abhängig v. Tempo d. Köllen gen

Verantwortung f . Maschinen/ Material

l

abhängig v. Masch nentempo

Verantwortung f f. S i c h e r h e i t / ! Gesundheit t

1 I

\torg-bgiter

Konzentration

Termindruck

sitzen

.Bewegungsmangel

Arbe i t selbst einteilen

Kranfahrer

Schmelzer

Nachdenken

i . l l

ü

n 0 fi

Moschinenbediener

Anwe isungen geben

schwer ziehen/ schieben

stehen

ÜBERGREIFEND HOHE P S Y C H O S O Z I A L E BELASTUNGEN

KronfQhrgr

Schmelzer

Tätigkeitsgruppen

Legende: Von den acht belastungshomogenen Tätigkeitsgruppen sind oben die beiden Gruppen mit erhöhter Prävalenz an Wirbel Säulenerkrankungen, d.h. Schmelzer und Maschinenbediener (schraffierte Felder), und die drei Gruppen mit erhöhter Prävalenz chronischer Herz-Kreislaufkrankheiten, d.h. Meister, Vorarbeiter und Kranfahrer (schwarze Felder), dargestellt. Befragt wurden 16 Schmelzer, 46 Maschinenbediener, 64 Meister, 30 Vorarbeiter, 26 Kranfahrer. Die Belastungsskala lautet: 0 = nie, 1 = gering / selten, 2 = mittel, 3 = oft / hoch.

248

G. Gesundheitsvorsorge am Arbeitsplatz

indem aus den Belastungswerten der einzelnen Tätigkeiten der Mittelwert gebildet wurde. 1 )

3.1

Wirbelsäulenerkrankungen

Die Tätigkeitsgruppen "Schmelzer" und "Maschinenbediener" sind durch ein erhöhtes Risiko für chronisch-degenerative Wirbelsäulenerkrankungen gekennzeichnet. Dies ergibt sich aus dem Vergleich der Prävalenzraten dieser Gruppen für die Diagnoseklasse Wirbelsäulenerkrankungen mit 12,8 % bzw. 6,0 % chronisch Kranken gegenüber 4,3 % für die deutschen Arbeitnehmer. Drift- und Alterseffekte wurden überprüft und konnten ausgeschlossen werden. Bei den Schmelzern treten erste Arbeitsunfähigkeitsfalle bereits nach einer kurzen Latenzzeit von wenigen Jahren an diesem Arbeitsplatz auf. Die Diagnosetexte zeigen ein eindeutiges Oberwiegen der Diagnosen aus dem Bereich der Lendenwirbelsäule. Die Schmelzer selbst kennzeichnen ihre Arbeit durch Merkmale körperlicher Arbeit (schwer schieben/ziehen; schwere körperliche Arbeit) sowie durch die Betonung psychomentaler Belastungen (eintönige Arbeit/Monotonie; Unterbrechungen durch Maschinenstörungen, Termindruck, Genauigkeit und Konzentration). Daneben spielen Merkmale der physischen Arbeitsumgebung (Lärm, Hitze, Zugluft, Vibrationen und Unfallrisiko) in der Wahrnehmung der Betroffenen eine hervorgehobene Rolle.

Von den 3311 deutschen Arbeitnehmern des Werkes werden ungefähr 1000 nicht in die weitere Analyse einbezogen werden, die Sonderbereichen wie Kantine, Lehrlingsausbildung, Verwaltung (Pförtner, Waschraumwärter u.a.) angehören. Von den verbleibenden ca. 2000 Arbeitnehmern wurde annähernd die Hälfte bereits Tätigkeitsgruppen zugeordnet. Weitere belastungshomogene Tätigkeitsgruppen werden gegenwärtig erarbeitet.

Gesundheitsgerechte Arbeitsgestaltung

249

Die Belastungen der Maschinenbediener sind gekennzeichnet durch ständiges Stehen, mit Anteilen kurzzeitiger, aber schwerer körperklicher Arbeit. Hinzu kommen hohe psycho-soziale Belastungen durch Konzentration, Genauigkeit, Tempo der Maschinen, Verantwortung für Maschinen/Material und durch die Stereotypie des durch die Maschinen bestimmten Bewegungsablaufs, während die dispositiven Belastungen etwas niedriger liegen. Die Wahrnehmung der Arbeitssituation durch die Betroffenen entspricht arbeitsmedizinischen und psychosomatischen Erklärungen der Pathogenese von Wirbelsäulenerkrankungen. Hier ist vor allem die Bedeutung langjähriger schwerer körperlicher Arbeit wie Heben, Tragen, Bücken hervorzuheben

(Junghanns 1975). Der Ein-

fluß dieser mehr physikalisch-mechanischen Noxen, denen die Beschäftigten am ArbeitSDÜatz ausgesetzt sind, wird ergänzt und verstärkt durch Einflüsse psvchomentaler Faktoren. Die psychosomatische Forschung und die Streßtheorie haben zahlreiche Belege dafür erbracht, daß psychische Ansoannunqen auf ohvsischer Seite ein Korrelat in der Spannung der Muskulatur finden

(Farrer

1975, Holmes/Wolff 1952, v. Eiff 1976). Von Eiff zeigt exDerimentell, daß mentale Anforderungen

(hier: Kopfschmerzen) mit

Muskelspannung einhergehen, wenn die Tätigkeit von der Person als bedeutungsvoll perzipiert wird. Psychosoziale bzw. osvchomentale Anforderungen des Arbeitslebens stellen aber gerade für das Individuum Erwartungen dar, denen es genüqen muß und deren Erfüllung durch Sanktionen garantiert wird.

3.2

Magen-Darm-Erkrankungen

Die Stationshandwerker, also die Stationsschlosser und Stationselektriker, sind gekennzeichnet durch ein doppelt so hohes Risiko für Magen-Darm-Erkrankungen

(6,6 %) als die Gesamtbelegschaft.

Es erstaunt ein weiterer Vergleich: für die Werkstatthandwerker ist das Magen-Darm-Risiko gegenüber der Gesamtbelegschaft nicht erhöht. Mit anderen Worten, das Magen-Darm-Risiko von Stationshandwerkern liegt deutlich über dem der Werkstatthandwerker. Suchen wir nach einer Erklärung für diese auffallende Häufung von Magen-Darm-Erkrankungen bei Stationshandwerkern, so sollten wir uns auch vor Augen führen, daß sie ein besonders niedriges Herz-Kreislauf-Risiko aufweisen (0 % Stationsschlosser, 2,6 % Stationselektriker im Vergleich zur Gesamtbelegschaft 3,0 %).

250

G. Gesundheitsvorsorge am Arbeitsplatz

Den Einfluß des Alters können wir ausschließen, da beide Gruppen - Werkstatt- und Stationshandwerker - eine annähernd gleiche Altersverteilung aufweisen. Der Magen-Darm-Trakt wie das Kreislaufsystem sind der Willkür entzogen, sie sind vegetativ gesteuert. Die vegetativ geregelte Streßadaptation beeinflußt den Magen-Darm-Trakt und das HerzKreislaufsystem. Während die trophotrope Wirkung des Vagus den Magen-Darm-Trakt anregt, d.h. die Motilität des Magens und des Darmes steigert und die Saftproduktion fördert, wird von seinem Antagonisten, dem Sympathicus, das Herz und der Kreislauf aktiviert . Das Streßgeschehen, in dem die Stationshandwerker stehen, muß daher die vagotone Phase der Streßadaptation betonen, in der dann die Magen-Darm-Aktivität erhöht ist. Hier gibt die Psychosomatik zum Ulcus Duodeni (von Uexküll 1979, Cremerius 1978, Pflanz 1956) einige Hinweise. Die Basis dieser Krankheit ist eine möglicherweise genetisch bedingte Hyperreagilibität des Magen-Darm-Traktes bei meist insgesamt erhöhtem Vagotonus (niedriger Blutdruck, langsamer Herzschlag, feuchte Hände, Dermographismus ) . In der Situation einer mangelnden Integration in eine Bezugsgruppe kann es zu Orientierungs- und Handlungsunsicherheit kommen. (Der Soziologe würde diese Unsicherheit aus der Konkurrenz von Werten, Normen und Sanktionssystemen zwischen der Gruppe, der man angehört, und der Bezugsgruppe interpretieren.) Diese mit Orientierungs- und Handlungsunsicherheiten verbundenen Ängste verstärken den Vagotonus und führen zu einer gesteigerten Magenwandmotilität und einer überschießenden Magensaftproduktion. Der in das Duodenum gelangende Magensaft führt dort zur Ulcusbildung. Die Stationshandwerker dürften eine solche mangelnde Integration in eine Gruppe erleben, die dann zu einer erhöhten Prävalenz von Magen-Darm-Erkrankungen führt. Für die Interpretation der erhöhten Prävalenz von Magen-DarmErkrankungen bei den Stationshandwerkern geben uns die Belastungsangaben aus der Beschäftigtenbefragung keine erklärenden Hinweise. Die Abklärung relevanter Tätigkeitsmerkmale hat daher zusätzliche Aspekte in Betracht zu ziehen. Wir greifen bei der Belastungsbeschreibung der Stations- und Werkstatthandwerker auf unsere eingehenden Arbeitsplatzbeobachtungen zurück.

Gesundheitsgerechte Arbeitsgestaltung

251

Die Stationshandwerker arbeiten in einer - organisationssoziologisch formuliert - "Grenzsituation" oder "Schnittstelle" French

1970),

(Kahn/

d. h. sie müssen sich bei der Erfüllung ihrer

Arbeitsaufgaben mit Vorgesetzten und Beschäftigten der Produktionsbereiche auseinandersetzen. Sie sind aber formal den Vorgesetzen aus dem Instandhaltungsbereich unterstellt und erhalten von diesen ihre Aufgaben zugewiesen. Es handelt sich um wechselnde und oft unvorhersehbare Arbeitsaufgaben, Tätigkeiten und Arbeitsorte. Die Stationshandwerker arbeiten allein oder in wechselnden kleinen Gruppen und stehen als solche den festgefügten Maschinenbelegschaften in der Produktion gegenüber. Diese Arbeitssituation der Stationshandwerker dürfte durch die von üexküll und Pflanz als Ulcus auslösend bezeichnete mangelnde Gruppenintegration und die daraus folgende Handlungs- und Statusunsicherheit charakterisiert sein. Die Werkstatthandwerker, die - wie bereits erwähnt - ein niedriges Magen-Darm-Erkrankungsrisiko aufweisen, haben zwar die gleiche Ausbildung und einen ähnlichen Status wie die Stationshandwerker; ihre Arbeitssituation unterscheidet sich dagegen deutlich von der der Stationshandwerker. Sie arbeiten in der zentralen Werkstatt täglich mit den gleichen Kollegen und Vorgesetzten zusammen. Alle Mitarbeiter unterliegen den gleichen Wert-, Normen-und Sanktionssystemen. Sie haben immer den gleichen Arbeitsplatz. Diese Arbeitssituation vermittelt den Werkstatthandwerkern eine hohe Gruppenintegration sowie Status- und Handlungssicherheit.

3.3

Herz-Kreislauf-Erkrankungen

Die Prävalenztabelle weist mit einem Wert von 18,6 % für die Meister die höchste Prävalenzrate unter den bisher von uns in diesem Betrieb untersuchten Gruppen aus. Fast ein Fünftel aller Meister haben eine Herz-Kreislauf-Erkrankung, vergleichsweise liegt die Herz-Kreislauf-Prävalenz für die Gesamtbelegschaft bei nur 3,4 %. Ein erhöhtes relatives Risiko, an Herz-Kreislaufkrankheiten zu erkranken wird durch eine stark betonte und verlängerte Sympathicotonie erklärt, die zum Distreß, zur Entgleisung der physiologischen StreBanpassung führt. Unter den beiden Antagonisten,

252

G. Gesundheitsvorsorge am Arbeitsplatz

die das unbewußte (vegetative) Nervensystem steuern, regt der Sympathicus das Herz zu erhöhter Aktivität und den Kreislauf zu gesteigertem Blutdruck an, während der Vagus Herz und Kreislauf dämpft (Bradycardie bzw. niedriger Blutdruck). Zur Sympathicotonie neigen bestimmte Persönlichkeitstypen (Typ A, Friedman/Rosenman 197S) - die "Leuchten der Leistungsgesellschaft" (Halhuber 1980). Diese Personen können, wenn sie häufig und langanhaltend in Aktivität, Leistung, Verantwortung und Hetze fordernde soziale Situationen geraten, sich derart fordern lassen, daß ein sympathicotoner Distreß die Folge ist. Die multifaktorielle Auslösesituation führt häufig zu körperlichen Beschwerden wie Tachykardie, Stenokardie bis hin zu Krankheiten wie hoher Blutdruck, koronare Herzerkrankung und evtl. Herzinfarkt. Unter den 95 Meistern des Werkes finden wir drei Meister mit chronischen Kreislauferkrankungen, 15 mit Herzerkrankungen bzw. Herzbeschwerden, davon 5 mit einem Herzinfarkt. Diese Verteilung kann nicht allein durch das relativ höhere Alter dieser Gruppe erklärt werden, da die Gruppe der Schmelzer zwar eine ähnliche Alters-, aber eine sehr unterschiedliche Krankheitsverteilung aufweist. Das Belastungsprofil der Meister bestätigt unsere Annahme, daß starke psychosoziale Belastungen ein relativ erhöhtes Risiko für chronische Herz-Kreislaufkrankheiten bilden. Die Schwerpunkte der psychosozialen Meister-Belastung liegen bei Dispositions- und Leitungsaufgaben , beider Gesamtverantwortung für Material, Produktionsablauf und Personal ihres Bereichs, bei der Einhaltung von Termin- und Mengenvorgaben. Vor allem durch Termindruck und Personaleinsatzplanung (und die damit verbundenen Konflikte) fühlen sich die Meister unter Hektik gesetzt. Hinzu kommt eine gleichzeitige körperliche Unterforderung. Dieses Belastungsmuster entspricht dem in der Literatur beschriebenen Streßmodell. Die Prävalenztabelle weist zwei weitere Gruppen mit erhöhtem relativen Risiko für Herz-Kreislaufkrankheiten aus, das relativ geringer ist als das der Meister. Es sind die Vorarbeiter und die Kranfahrer. Die Gruppe der Vorarbeiter hat eine insgesamt sehr niedrige Prävalenzrate für chronische Krankheiten (9,1 %), unter den untersuchten Krankheiten liegen allerdings die HerzKreislaufkrankheiten an der Spitze (4,0 %). Die Vorarbeiter nehmen beim psychosozialen Streß eine mittlere Stellung zwischen den Meistern und anderen Tätigkeitsgruppen ein.

Gesundheitsgerechte Arbeitsgestaltung

253

Ähnlich wie bei den Meistern resultiert die psychosoziale Belastung vor allem aus dispositiven Anforderungen und personenbezogener Verantwortung, ferner aus der Abhängigkeit vom Tempo der Kollegen

(d.h. der unterstellten Gruppe).

Die psychosoziale Belastung der Kranfahrer ergibt sich dagegen aus der erforderlichen Aufmerksamkeitsleistung

(z.B. zur Vermei-

dung von Unfällen) und einer starken zeitlichen Abhängigkeit vom Tempo der Kollegen. Tempoabhängigkeit bedeutet: Mithaltenmüssen und Angetriebenwerden von der Gruppe. Aufgrund der Tempoabhängigkeit gerät der Kranfahrer öfter in Konflikt mit Sicherheitsanforderungen. Seine Arbeitssituation ist deutlich durch physische Passivität und Zwangshaltung gekennzeichnet, bedingt durch das dauernde Sitzen und das Eingekapseltsein im Kranfahrerhäuschen. Dies blockiert die motorische Abfuhr der psychomentalen Anspannung. Die Herz-Kreislauf-Erkrankungen der Kranfahrer sind daher auch überwiegend Kreislaufbeschwerden. Von 8 chronisch Kranken dieser Diagnosegruppe haben 7 einen hohen Blutdruck.

4. Ausblick

Die mikroepidemiologische Untersuchung hat für acht belastungshomogene Tätigkeitsgruppen deutliche Zusammenhänge zwischen Arbeitsbelastungen und dem gehäuften Auftreten chronisch-degenerativer Krankheiten ergeben. Von den Ergebnissen führt jedoch, wie schon eingangs erläutert wurde, kein direkter Weg zur gesundheitsgerechten Arbeitsgestaltung. Um die Ergebnisse für praktische Gestaltungsmaßnahmen fruchtbar zu machen, sind Vertiefungen nach zwei Richtungen zu leisten. 1. Die Belastungsprofile der homogenen Tätigkeitsgruppen bedürfen der inhaltlichen Differenzierung und Konkretisierung. Denn die in der epidemiologischen Belastungsermittlung verwendeten Belastungsbegriffe liegen auf einem Abstraktionsniveau, das für die gesundheitsgerechte Arbeitsgestaltung einer Konkretisierung bedarf. Daher sind für die einzelnen Tätigkeitsgruppen die konkreten Belastungen, die Belastungskombinationen und deren Verstärkungszusammenhänge näher zu untersuchen. Hierfür bieten Arbeitsplatzbeobachtungen ebenso Ansatzpunkte wie qualitative Nachuntersuchungen. Im Unter-

254

G. Gesundheitsvorsorge am Arbeitsplatz

schied zu betriebsübergreifenden Analysen bietet nur der mikroepidemiologische Ansatz die Möglichkeit für vertiefende Feinanalysen zur Abklärung der spezifischen Gegebenheiten in den belastungshomogenen Bereichen. 2. Die belastungshomogenen Tätigkeitsgruppen bilden nicht nur die epidemiologischen Analyseeinheiten, sondern zugleich die Bereiche, in denen die praktische Anwendung und Umsetzung der Ergebnisse erfolgt. Sie stellen die Einheiten für die Intervention dar. Durch Zusammenführung des Erfahrungs- und Problemwissens der Beschäftigten mit dem Expertenwissen der Mitarbeiter des betrieblichen Arbeitsschutzes sind für die belastungshomogenen Tätigkeitsgruppen Überlegungen und Entwürfe zur gesundheitsgerechten Arbeitsgestaltung zu entwickeln. Für die Einbeziehung der Beschäftigten in die Gestaltungsarbeit spricht auch die Notwendigkeit, daß die Veränderungen von ihnen als sinnvoll anerkannt und im täglichen Arbeitsvollzug umgesetzt werden. Ungeachtet der zu leistenden Vertiefung führt der mikroepidemiologische Ansatz jedoch gradlinig in die Anwendung hinein. Die Tätigkeitsgruppen und ihre Belastungsmuster sind für die Beschäftigten, für die Betriebsräte, für den betriebsärztlichen Dienst, für die Ergonomen und für die Betriebsleitung unmittelbar einsichtig. Der konkrete Zusammenhang der Belastungen in den Tätigkeitsgruppen ist jederzeit rekonstruierbar. Die Vertiefung der Ergebnisse fällt daher in die Primärerfahrung aller betrieblichen Gruppen. Die Umsetzung verbindet sich mit den im Betrieb vorgegebenen Aktionsrichtungen.

Bedingungen und Grenzen der Umsetzung mikroepidemiologischer Forschungsergebnisse in die Gesundheitsvorsorge am Arbeitsplatz Willi Pöhler

1. Problembestimmung; Worum geht es? Die Zahl arbeitsbedingter Erkrankungen ist nach wie vor hoch. Die Folgen für die Arbeitnehmer und ihre Familien, die entstehenden betrieblichen und gesellschaftlichen Kosten erfordern verstärkte Maßnahmen zur arbeitsbezogenen vorsorge. Mit diesem - in der Sozialpolitik

Gesundheits-

nahezu als Ge-

meinplatz geltenden - Postulat könnte man die allgemeinen Voraussetzungen der betrieblichen Gesundheitsvorsorge umschreiben. Jedoch sind noch einige Fragen offen: Auf welcher Erkenntnisgrundlage sollen mit welchen Prioritäten Maßnahmen durchgeführt werden? Was soll in diesem Zusammenhang als "Maßnahme" verstanden werden? Wie weit soll die Handlungskette zur Ermittlung, ggf. auch Entwicklung und Aggregierung von Maßnahmen reichen? Es ist sinnvoll, sich der Zusammenhänge zu vergewissern, die bei der Prävention von Bedeutung sind. 1 .1 Präventive Gesundheitsmaßnahmen setzen zunächst Wissen voraus 1.11 Kenntnisse über den oft höchst komplexen

Zusammenhang

von Arbeitsbedingungen; 1.12 Kenntnisse hierüber sind nicht einfach vorhanden, sondern müssen durch Erhebungen und durch Kombination von vorhandenen und erhobenen Daten erst erworben werden; 1.13 Umsetzung der Kenntnisse in Maßnahmen der Gesundheitsvorsorge; 1.14 Umsetzung kann nicht auf die Weitergabe von Informationen beschränkt werden. Die Gesundheitsmaßnahmen selbst und deren Auswirkung auf den Menschen sind Endpunkt und Erfolgsmaßstab für die Umsetzung.

256

G. Gesundheitsvorsorge am Arbeitsplatz

Mit dieser letzten Voraussetzung wird auch deutlich, daß bisher lediglich ein Teil des Regelkreises beschrieben worden ist. Er bezieht sich ausschließlich auf die Erkenntnisgewinnung bezüglich Gesundheitsrisiken und deren Umsetzung in praktische Maßnahmen. Er beschreibt in kürzester Form auch die Grenzlinie, bis zu der Wissenschaften üblicherweise gehen bzw. bis zu der vorzudringen ihnen gestattet wird. Zur arbeitsbezogenen Prävention gehört jedoch auch Entwurf und Verwirklichung alternativer Arbeitsbedingungen. 1 .2 Präventive Gesundheitsmaßnahmen setzen auch Alternativen voraus: 1.21 Zu den Alternativen, die die Risiken vermindern, zählen nicht nur alternative technisch-organisatorische Lösungen oder alternative Stoffe und Arbeitsmittel, sondern auch Handlungsalternativen; 1.22 Derartige Alternativen sind nicht einfach vorhanden, sondern müssen aus anderen Bereichen übernommen oder eigens entworfen bzw. entwickelt werden; 1.23 die Umsetzung dieser Alternativen in praktische und im Sinne gesundheitlicher Prävention erfolgreiche betriebliche Lösungen; 1.24 bei diesem Regelkreis werden sehr unterschiedliche Handlungsfelder und innerhalb derer verschiedene und z.T. miteinander kollidierende Handlungsstrategien einbezogen; z.B. Märkte für Investitionsgüter, für wissenschaftliche oder technische Erkenntnisse und für Beratungen (Organisationsentwicklung); Beziehungen zwischen Organisationen bzw. Institutionen wie Unternehmen, Staat, Berufsgenossenschaften, Krankenkassen, Interessenverbänden, Tarifvertragsparteien; formelle institutionalisierte und informelle Beziehungen innerhalb von Organisationen wie Unternehmensbereiche, Abteilungen usw., Arbeitgeber und Betriebsrat, Fachkräfte für Arbeitssicherheit; betroffene Arbeitnehmer selbst und die zwischen ihnen entwickelten formellen und informellen Beziehungen. 1.25 Rahmenbedingung hierfür ist die Verfassung von Gesellschaft

Gesundheitsgerechte Arbeitsgestaltung

257

und ihrer Teilbereiche. In diesem Zusammenhang haben Gesetze, Verordnungen und Verträge (bei letzteren vor allem Kollektivverträge wie Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen) eine wichtige regulierende Funktion. Mit der Skizzierung dieser beiden maßgeblichen Regelkreise will ich es bewenden lassen. Weder soll Vollständigkeit angestrebt, noch ein gesundheitspolitisches Gesamtprogramm entworfen werden. Es geht vielmehr darum, sich zu vergewissern, wie begrenzt die Wirkungsmöglichkeiten der Wissenschaften tatsächlich sind; in welche

Handlungsketten sie und auch die

anderen Akteure - gewollt oder ungewollt - einbezogen sind; wie begrenzt und unsystematisch die meisten Aktivitäten in diesem sozialpolitischen Feld sind. Gleichzeitig erhalten wir Hinweise darauf, auf welche Informationssysteme Wissenschaften sich beziehen, bzw. aus welchen sie Informationen entnehmen und in welche sie Informationen zurückgeben können. Da dieser Beitrag auch eine wissenschaftspolitische Seite hat, erlaube

ich mir den Hinweis, daß angesichts dieser

Zusammenhänge auch die Anforderung an die Wissenschaften besteht, nicht nur

wissen "für sich" zu produzieren und nicht

nur ausschließlich die selbst erhobenen Daten zu verarbeiten.

2 ^ Der mikroepidemiologische Ansatz und seine Bedeutung für die Gesundheitsvorsorge am Arbeitsplatz Kehren wir zurück zur Frage, wie Informationen erhoben und kombiniert werden müssen, damit unsere Kenntnisse über die arbeitsbedingten Ursachen von Krankheiten verbessert werden. Bei all den Krankheiten, die ihre Ursachen in der chemophysikalischen Umwelt haben, ist zumindest die Strategie der Erkenntnisgewinnung geklärt; Einwirkungen

(Belastung), ge-

messen in Höhe und Dauer, führen zu einer Wirkung (Beanspruchung) , wobei Konstitution und Disposition des einzelnen Menschen die Wirkung beeinflussen können. Dieses "DosisWirkungs"-Modell hat zweifellos viele Vorzüge. Ursache und Wirkung sind eindeutig bestimmbar. Seine Resultate lassen sich relativ leicht kodifizieren (z.B. in Rechtsvorschriften). Sofern gesicherte Erkenntnisse über die gesundheitsgefährdende

258

G . Gesundheitsvorsorge am Arbeitsplatz

Wirkung bestimmter Umweltfaktoren vorliegen, reicht es für präventive Maßnahmen aus, a) jeweils die höchstzulässige Dosis festzulegen und b) im konkreten Fall die Einwirkung zu ermitteln und Maßnahmen einzuleiten. Nun ist all dies sehr viel leichter gesagt als getan. Vor allem dann, wenn es um kombinierte Einwirkungen der chemo-physikalischen Umwelt geht, ist es schwierig, den Zusammenhang von Dosis und Wirkung zu ermitteln. Jedoch sehr viel größere Probleme stellen sich, wenn auch die soziale Umwelt in die Erhebung mit einbezogen werden muß. Dem kann man sich bei psychomentalen Belastungen nur in wenigen Fällen entziehen. Wenn nun auch noch stichhaltige Argumente dafür vorliegen, daß der Anteil der arbeitsbedingten Erkrankungen zunimmt, die auf psychomentale Belastungen zurückzuführen sind, dann wird die Frage nach erweiterten bzw. neuen Modellen der Erhebung und Interpretation immer dringlicher. Ein solches Modell hat das Projekt "Gesundheitsvorsorge am Arbeitsplatz" der Universität Düsseldorf entwickelt und erprobt.^' Ich will hier nicht die theoretischen und methodischen Prämissen des Projektes wiederholen. Die folgenden Bemerkungen sollen lediglich

die Relevanz dieses

Ansatzes charakterisieren und meine Bewertungen verständlich machen. a) Es handelt sich um einen epidemiologischen Ansatz insofern, als die Häufigkeitsverteilung von Krankheiten innerhalb einer Population ermittelt und in

Bezug zu Faktoren, die

diese Verteilung von Krankheiten beeinflussen, gesetzt wird. b) Die Zusammenhänge von Krankheit und Arbeitsbedingungen werden in diesem Konzept als bedingte Wahrscheinlichkeiten bzw. als Risiken definiert.

Siehe dazu den Beitrag der Projektgruppe in diesen. Band. Eine sehr gute, verdichtete Darstellung der zugrundeliegenden theoretischen und methodischen Annahmen findet sich in: v. Ferber, Christian; v. Ferber, Liselotte; Siesina, Wolfgang: Medizin und Prävention. Am Beispiel der Gesundheitsvorsorge am Arbeitsplatz. Soziale Welt, Sonderband 1, 1982, s. 277-306.

Gesundheitsgerechte Arbeitsgestaltung

259

c) Die hoch komplexe Struktur der infrage kommenden Faktoren macht eine Mehrebenenanalyse notwendig. Die Einbeziehung von Methoden verschiedener Wissenschaftsdisziplinen, wie die Daten verschiedenen Ursprungs müssen miteinander kombiniert werden. Im Kontext von Belastung und Beanspruchung bedeutet dieses Konzept: d) Belastungsfaktoren ergeben sich nicht nur aus der Arbeitsumwelt, dem Arbeitsinhalt und dem Arbeitsablauf, sondern auch aus den Durchsetzungsmechanismen sozialer Normen (Sanktionen und Kontrollen). Letztere sind bei bestimmten Typen von Arbeit wesentliche Risikofaktoren. Der Belastungsbegriff ist zu eng, wenn er nur als "Einwirkung" verstanden wird

(i.S. Dosis-Wirkung). "Ausein-

andersetzung" als Wechselwirkung von Person und sozialer Umwelt charakterisiert die Belastungssituation sehr viel deutlicher. e) Beanspruchung ist zu eng gefaßt, wenn sie lediglich die "Exposition" der Betroffenen hervorhebt. Sie ist ebenfalls zu eng gefaßt, wenn sie als Zusammensetzung von Belastung und "Leistungsbereitschaft" definiert wird. Die "Beteiligung" der Betroffenen beim Zustandekommen von Beanspruchungen schließt die Durchsetzungsmechanismen mit ein. Die Vorgehensweise des Düsseldorfer Projektes erlaubt es, auch jene Faktoren arbeitsbedingter Erkrankungen zu ermitteln, die bisher weitgehend unberücksichtigt geblieben sind. Dabei wird vermieden, nun ausschließlich Faktoren der "sozialen Umwelt" zu analysieren und damit gewissermaßen von der anderen Seite eine Abschottung vorzunehmen.

3. Das Problem der Umsetzung von Ergebnissen Wenn der These zugestimmt wird, daß die Gesundheitsmaßnahmen selbst und deren Auswirkung auf den Menschen Endpunkt und Erfolgsmaßstab präventiv orientierter Forschung ist, dann sind Konsequenzen hinsichtlich der Umsetzung

notwendig.

260

G . Gesundheitsvorsorge am Arbeitsplatz

Umsetzung ist dann nicht nur erfolgreiche Weitergabe von Informationen

(i.S. von Akzeptanz der Ergebnisse), sondern

auch Veränderung der Situation. Situationsveränderung drückt lediglich Relevanz aus (die Ergebnisse sind, gleichviel in welcher Hinsicht, nicht folgenlos). Sofern im Sinne der Ergebnisse gezielte Umsetzung erfolgen soll, ist auch der Beitrag zur Gestaltung bzw. zu Maßnahmen zu thematisieren. Dabei geht es nicht darum, jeweils konkrete Vorschläge zu machen, sondern darum, den Horizont von Ergebnissen zu definieren. Gestaltungs- und maßnahmenorientierte Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse muß die Strukturen von Handlungsstrategien und Handlungsprozessen derjenigen berücksichtigen, die auf Gestaltung Einfluß haben. Da dieses nicht selbstverständlich ist, sei ausdrücklich hervorgehoben, daß auch betroffene Arbeitnehmer Einfluß auf die Gestaltung haben können. Alle Diskussionen über Umsetzung, die Lesbarkeit, Umfang und Form der Informationen thematisieren

(so richtig sie in dieser

Hinsicht sein mögen) verfehlen ihr eigentliches Ziel, wenn sie die Besonderheit der Handlungsstrategien und Handlungsprozesse ihrer Zielgruppen nicht berücksichtigen. Insofern hat tatsächlich ein Teil der Diskussion über die Umsetzung von Ergebnissen des Humanisierungsprogramms

sein Ziel ver-

fehlt. Umsetzung muß schließlich die Organisation von Handeln und die Strukturierung von Interessen berücksichtigen. Daraus ergeben sich zwei Konsequenzen: Umsetzung von Ergebnissen ist Intervention, sie kann in Konflikte geraten.

4. Thesen zur Umsetzung

Das Projekt "Gesundheitsvorsorge am Arbeitsplatz" versteht sich auch als Teil einer Projektgemeinschaft, die die Aktivierung von Laien zum Ziel hat. Insofern ist die Intervention im betrieblichen Feld beabsichtigt. Die folgenden Thesen zur Umsetzung sollen dem Rechnung tragen:

Gesundheitsgerechte Arbeitsgestaltung

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4.1 Interventionen im Betrieb treffen auf bereits besetzte Felder: Handlungsorientierungen

(Ziele) sind durch manifeste Interessen

strukturiert. Handlungsprozesse sind durch formelle und informelle Organisationen strukturiert. Neben den je besonderen Organisationen von Kapital und Arbeit und den gemeinsamen Einrichtungen sind auch die Organisationsformen zu berücksichtigen, die durch staatliche Interventionen definiert sind.

4.2 Interventionen im betrieblichen Arbeits- und Gesundheitsschutz müssen ausbalancierte Ziel- und Durchsetzungssysteme berücksichtigen: 4.21 die jeweilige Logik der Ziel- und Durchsetzungssysteme: Rechtsformen, formelle Linienorganisationen oder Systeme informeller Beziehungen der Gegenmacht haben jeweils ihre eigene Rationalität hinsichtlich Definition von Situationen, Handlungsanleitung und Bewertung der Effizienz von Handeln; 4.22 die jeweilige Wirksamkeit und Grenzen der verschiedenen Systeme : so kann die Wirksamkeit von gesetzlichen und tariflichen Normen gerade darin bestehen, nicht konkrete Handlungsvorhaben zu machen, sondern die Rahmenbedingungen für konkretes Handeln festzulegen (z.B. die Festlegung von Mindestanforderungen; 4.23 die innere Widersprüchlichkeit der Ziele und Teilziele der Systeme sowie deren

Verflechtung untereinander:

gerade die innere Widersprüchlichkeit der Systeme und deren unterschiedliche

Abgrenzungen und Verpflechtungen machen die

Komplexität der betrieblichen Situation aus. Dem Außenstehenden bleibt verborgen, daß Teileinheiten einer Organisation besondere Interessen haben und in welchem Umfange diese durchgesetzt werden können. Ebenso ist für ihn schwer zu erkennen und zu deuten, welche gegenseitigen Einwirkungen und welche "Koalitionen" bestehen .

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4.3 Interventionen zur Aktivierung von Laien müssen eigene Zielsysteme, Organisationsformen und eigene "Logiken" entwickeln: 4.31 Spezielle Kommunikationen von Wissenschaft und Laien bedürfen der Legitimation nicht nur im Wissenschaftssystem, sondern auch im Betrieb. Denn damit werden bereits bestehende Kommunikationssysteme gestört oder negativ tangiert. 4.32 Wenn Wissenschaftler im betrieblichen Feld intervenieren, muß ihr Status gegenüber den verschiedenen und z.T. widersprüchlichen Interessen eindeutig definiert sein. Sie sind im ausbalancierten Feld am ehesten Mißdeutungen ausgesetzt und laufen am ehesten Gefahr, Verhältnisse mißzuverstehen. 4.33 Im betrieblichen Feld haben auch die Wissenschaftler besondere Interessen, um so wichtiger ist es, (angesichts ihrer besonderen Position und Rolle) darüber keine Zweifel aufkommen zu lassen. 4.34 Es ist berechtigt und legitim, wenn Interessengruppen sich von den Erkenntnissen der Wissenschaften Vor- und Nachteile versprechen und entsprechend auf die Wissenschaftler einwirken. Es ist ebenso berechtigt und legitim, wenn Wissenschaftler unter Bezug auf die Untersuchungsziele eine bestmögliche Erhebung und Ergebnisumsetzung anstreben.

5. Konsequenzen

5. 1 Zum Verhältnis von Forschern und Betroffenen: 5.11 Betroffene Arbeitskräfte sind wichtige Auskunftspersonen zur Beurteilung von Belastungen und Beanspruchungen im Betrieb (der Untersuchungsansatz geht daher auch von den Belastungsund Beanspruchungsangaben der Betroffenen aus). 5.12 Die betroffenen Arbeitskräfte sind - und das ist im Untersuchungsansatz hinreichend belegt - nicht nur den Belastungen

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in der Arbeitswelt ausgesetzt, sondern am Zustandekommen der Belastungen beteiligt

(insbesondere bei psychomentalen Belastun-

gen) . 5.13 Wenn also betriebsbezogene Forschung ihre Ergebnisse in den Betrieb zurückführen will, dann kann sie nicht daran vorbei, die Betroffenen zu berücksichtigen bzw. einzubeziehen.

Letzt-

lich muß es das Ziel sein, die Betroffenen in die Lage zu versetzen, die Ergebnisse de

selbst zu beurteilen und in entsprechen-

Handlungen und Orientierungen umzusetzen.

5.2 Bei der Gewinnung und Umsetzung von Ergebnissen sind weitere Beteiligte zu berücksichtigen: 5.21 Die Gestaltung von Arbeitsverhältnissen und die jeweilige Situationsdefinition ist ein komplexer Prozeß, an dem verschiedene Organisationseinheiten und Positionsinhaber beteiligt sind. Ebenfalls steht außer Zweifel, daß in diesen Prozeß unterschiedliche Interessen eingehen und je nach den Machtverhältnissen durchgesetzt werden. 5.22 Bei der Rückführung wissenschaftlicher Ergebnisse muß dieses in mehrfacher Hinsicht bedacht werden: Der bisherige Zustand ist durch Beteiligte hergestellt worden, denen nunmehr zugemutet wird, nicht nur Kritik daran zu akzeptieren, sondern ihn auch zu verändern. 5.23 Die Unterschiedlichkeit der Interessen, die innere Widersprüchlichkeit der einzelnen Organisationen und die besonderen Interessen und Orientierungen einzelner Positionsinhaber legen es nahe, daß man sich in diesem komplexen Gefüge den Weg des geringsten Widerstandes wählt. Was dabei nicht übersehen werden sollte