Kultur, Geschichte und die Indigenisierung der Moderne: Eine Analyse des Gesamtwerks von Marshall Sahlins [1. Aufl.] 9783839407868

Dieses Buch - die erste Analyse des Gesamtwerks des amerikanischen Ethnologen Marshall Sahlins - stellt die Frage nach d

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Kultur, Geschichte und die Indigenisierung der Moderne: Eine Analyse des Gesamtwerks von Marshall Sahlins [1. Aufl.]
 9783839407868

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Siglenverzeichnis
Marshall Sahlins und die Transformation der Kulturforschung
1. Entwicklung der Fragestellung
2. Anmerkungen zur Vorgehensweise
3. Übersicht der Argumentation
Kapitel I: Die politische Kritik
1. Der Protest gegen den Vietnamkrieg
Warum kämpften die Vereinigten Staaten in Vietnam?
Die teach-in-Bewegung 1965
Marshall Sahlins in Vietnam
2. Project Camelot, Vietnam und die amerikanische Ethnologie
Die ethnologische Kritik am Vietnamkrieg
Historischer Hintergrund zu Project Camelot
Project Camelot
Kapitel II: Von der Evolution zur Kultur
1. Das Frühwerk: Von der Evolution zur Ökonomie
Evolution, Stratifikation und Kultur
Evolutionismus und Strukturfunktionalismus
Die ökonomischen Grundlagen politischer Evolution
Entwicklungslinien
2. Das wirtschaftsethnologische Paradigma
Die Formalismus-Substantivismus-Debatte
Das Verschwinden der Kultur zwischen Neoklassik und Funktionalismus
Produktive Erfordernisse und normative Stabilisierung
Die Gabe als ›primitiver Gesellschaftsvertrag‹
Entwicklungslinien
3. Sahlins/Godelier: Die Grenzen der Reziprozität
Kapitel III: Die kulturalistische Wende
1. Kritik der praktischen Vernunft
2. Kulturelle Vernunft
Saussure, Lévi-Strauss und das Ende des mentalistischen Kulturalismus
Die Arbitrarität der Zeichen: Basic Color Terms
3. Sahlins/Baudrillard: Die Grenzen der Utilitarismuskritik
4. Die Indigenisierung der Moderne (I): translocal societies
Kritik des kulturellen Holismus: Von Sahlins zu Abu-Lughod
Globale Flüsse und Disjunktionen: Von Appadurai zu Sahlins
Kapitel IV: Von der Kultur zur Geschichte
1. Struktur und Ereignis
2. »Different Cultures, Different Historicities«
3. Sahlins/Bourdieu: Kulturelle Ordnung und soziale Praxis
Kritik des Utilitarismus: Bourdieu und Sahlins
Kultur und soziale Praxis
4. Die Indigenisierung der Moderne (II): develop-man
Develop-man, kultureller Wandel und das kapitalistische Weltsystem
Humiliation und der Habitus: Von Sahlins zu Bourdieu
Kapitel V: Die Sahlins-Obeyesekere-Debatte
1. Interpretative Strategien der Quellenauswertung
2. Kultur und soziale Praxis
3. »Different Cultures, Different Rationalities«?
4. Die Indigenisierung der Moderne (III): Kulturalismus
Kapitel VI: Die Politik der Repräsentation
1. Ethnographische Repräsentation ohne Zentrum
2. Die Narrativität der Repräsentation
3. Die ›Bedeutung‹ von Concept-Metaphors
4. Jenseits des Universalismus?
Kultur, Geschichte und die Indigenisierung der Moderne
Literatur

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Karsten Kumoll Kultur, Geschichte und die Indigenisierung der Moderne

2007-08-07 12-28-27 --- Projekt: T786.kumedi.kumoll / Dokument: FAX ID 02df154463671056|(S.

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) T00_01 schmutztitel.p 154463671064

Für Susanne, in Liebe

Karsten Kumoll ist Referent in der Geschäftsstelle des Wissenschaftsrats in Köln. Er studierte Soziologie, Geschichte, Volkswirtschaftslehre und Ethnologie an der Universität Freiburg, der London School of Economics und der Harvard University; Promotion in Soziologie an der Universität Freiburg.

2007-08-07 12-28-27 --- Projekt: T786.kumedi.kumoll / Dokument: FAX ID 02df154463671056|(S.

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) T00_02 vak.p 154463671072

Karsten Kumoll

Kultur, Geschichte und die Indigenisierung der Moderne Eine Analyse des Gesamtwerks von Marshall Sahlins

2007-08-07 12-28-27 --- Projekt: T786.kumedi.kumoll / Dokument: FAX ID 02df154463671056|(S.

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Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein sowie der Wissenschaftlichen Gesellschaft in Freiburg im Breisgau

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2007 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Karsten Kumoll Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-786-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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Inhalt

Vorwort

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Siglenverzeichnis

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Marshall Sahlins und die Transformation der Kulturforschung 1. Entwicklung der Fragestellung 2. Anmerkungen zur Vorgehensweise 3. Übersicht der Argumentation

11 11 25 34

Kapitel I: Die politische Kritik 1. Der Protest gegen den Vietnamkrieg Warum kämpften die Vereinigten Staaten in Vietnam? Die teach-in-Bewegung 1965 Marshall Sahlins in Vietnam 2. Project Camelot, Vietnam und die amerikanische Ethnologie Die ethnologische Kritik am Vietnamkrieg Historischer Hintergrund zu Project Camelot Project Camelot

41 43 43 48 55 59 59 63 65

Kapitel II: Von der Evolution zur Kultur 1. Das Frühwerk: Von der Evolution zur Ökonomie Evolution, Stratifikation und Kultur Evolutionismus und Strukturfunktionalismus Die ökonomischen Grundlagen politischer Evolution Entwicklungslinien 2. Das wirtschaftsethnologische Paradigma Die Formalismus-Substantivismus-Debatte Das Verschwinden der Kultur zwischen Neoklassik und Funktionalismus Produktive Erfordernisse und normative Stabilisierung Die Gabe als ›primitiver Gesellschaftsvertrag‹ Entwicklungslinien 3. Sahlins/Godelier: Die Grenzen der Reziprozität

71 72 72 77 81 87 90 91

Kapitel III: Die kulturalistische Wende 1. Kritik der praktischen Vernunft 2. Kulturelle Vernunft Saussure, Lévi-Strauss und das Ende des mentalistischen Kulturalismus Die Arbitrarität der Zeichen: Basic Color Terms 3. Sahlins/Baudrillard: Die Grenzen der Utilitarismuskritik

95 101 106 118 124 137 138 151 151 156 162

4. Die Indigenisierung der Moderne (I): translocal societies Kritik des kulturellen Holismus: Von Sahlins zu Abu-Lughod Globale Flüsse und Disjunktionen: Von Appadurai zu Sahlins

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Kapitel IV: Von der Kultur zur Geschichte 1. Struktur und Ereignis 2. »Different Cultures, Different Historicities« 3. Sahlins/Bourdieu: Kulturelle Ordnung und soziale Praxis Kritik des Utilitarismus: Bourdieu und Sahlins Kultur und soziale Praxis 4. Die Indigenisierung der Moderne (II): develop-man Develop-man, kultureller Wandel und das kapitalistische Weltsystem Humiliation und der Habitus: Von Sahlins zu Bourdieu

197 198 210 222 223 231 239

Kapitel V: Die Sahlins-Obeyesekere-Debatte 1. Interpretative Strategien der Quellenauswertung 2. Kultur und soziale Praxis 3. »Different Cultures, Different Rationalities«? 4. Die Indigenisierung der Moderne (III): Kulturalismus

261 262 277 288 304

Kapitel VI: Die Politik der Repräsentation 1. Ethnographische Repräsentation ohne Zentrum 2. Die Narrativität der Repräsentation 3. Die ›Bedeutung‹ von Concept-Metaphors 4. Jenseits des Universalismus?

319 320 332 346 356

Kultur, Geschichte und die Indigenisierung der Moderne

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Literatur

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Vorw ort

Die vorliegende Studie ist eine leicht modifizierte Fassung meiner von der Philosophischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg angenommenen Dissertation. Mein herzlicher Dank gilt Hermann Schwengel, der die Arbeit mit großem Interesse betreut hat und ohne dessen nachhaltige intellektuelle wie institutionelle Unterstützung sie wahrscheinlich nie beendet worden wäre. Hervorheben möchte ich auch Marlies Heinz und Boike Rehbein, die mir mit Rat und Tat zur Seite standen und die Arbeit begutachtet haben. Ich hoffe auch, dass sich mein Geschichtsstudium bei Reinhard Wendt, das mir viel Freude bereitet hat, in meiner Argumentation niederschlägt. Reinhard Wendt hat sich zudem in einem frühen Stadium meiner Forschungen für eine Förderung des Projekts eingesetzt. Die Tagung »Beyond Writing Culture: Current Intersections of Epistemologies and Practices of Representation« am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung in Halle/Saale hat meine Argumentation wesentlich beeinflusst. Mein Dank geht an Günther Schlee und Richard Rottenburg, die dieses Ereignis ermöglicht haben, sowie an Stephen P. Reyna und John H. Zammito für anregende Diskussionen über Sahlins’ Werk, die Ethnologie im Allgemeinen und die USamerikanische Außenpolitik. In zahllosen Debatten mit Olaf Zenker habe ich zudem mehr über die Ethnologie gelernt als durch den Besuch aller Universitätsseminare. Wertvolle Impulse habe ich auch durch meine Teilnahme am Altertumswissenschaftlichen Kolleg Heidelberg erhalten. Joseph Maran sei hierfür herzlich gedankt. Der Studienstiftung des deutschen Volkes danke ich für ein Promotionsstipendium und für einen Zuschuss für einen Forschungsaufenthalt am Department of Sociology der Harvard University. Darüber hinaus möchte ich Hans-Ottmar Weyand und Charlotte Niemeyer für die hervorragende Betreuung danken. Von den Wissenschaftlern, die ich während meiner Forschungen in den USA kennenlernte und von deren Erfahrungen und Wissen ich profitierte, möchte ich Neil Gross, Jeffrey C. Alexander und ganz besonders Marshall Sahlins hervorheben, den ich in Chicago zu seinem Werk befragen konnte. Für wichtige Anregungen

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danke ich Michael Adam, Björn Beckmann, Ute Daniel, Wolfgang Eßbach, Özkan Ezli, Uta Gerhardt, Martin Ludwig Hofmann, Sandra Krieger, David Matern, Stephan Moebius, Sibylle Niekisch, Axel T. Paul, Jan Nederveen Pieterse und Frank Welz. Ohne die Familie wäre alle Arbeit vergebens. Ich danke deshalb meinen Eltern und meiner Schwester, ohne die Studium und Promotion nicht möglich gewesen wären. Und ich bedanke mich für die große Unterstützung von Susanne, die es wahrscheinlich nicht leicht hatte mit mir, wenn ich mich mal wieder im Labyrinth der Kulturtheorie zu verirren drohte. Ihr möchte ich dieses Buch widmen.

Siglenverzeichnis

AAA

American Anthropological Association (Hrsg.) (1965-1967): Fellow Newsletter.



George Bataille (1985): Die Aufhebung der Ökonomie, München: Matthes & Seitz.

AP

Gananath Obeyesekere (1997a): The Apotheosis of Captain Cook. European Mythmaking in the Pacific, Princeton: Princeton University Press [2. erweiterte Auflage von Obeyesekere 1992, The Apotheosis of Captain Cook].

CP

Marshall Sahlins (2000a): Culture in Practice, New York: Zone Books.

DM

Marshall Sahlins (2005e): The Economics of Develop-Man in the Pacific, in: Robbins / Wardlow (Hrsg.), The Making of Global and Local Modernities in Melanesia, S. 23-42.

G

Marcel Mauss (1989): Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, in: ders., Soziologie und Anthropologie 2, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, S. 11-144.

HM

Marshall Sahlins (1981a): Historical Metaphors and Mythical Realities. Structure in the Early History of the Sandwich Islands Kingdom, Ann Arbor: University of Michigan Press.

IG

Marshall Sahlins (1992c): Inseln der Geschichte, Hamburg: Junius [Deutsche Fassung von Sahlins 1985a, Islands of History].

IH

Marshall Sahlins (1985a): Islands of History, Chicago: University of Chicago Press.

KPV

Marshall Sahlins (1981c): Kultur und praktische Vernunft, Frankfurt am Main: Suhrkamp.

M

Hayden White (1994): Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt am Main: Fischer [1973].

NT

Marshall Sahlins (1995): How ›Natives‹ Think. About Captain Cook, For Example. Chicago/London: University of Chicago Press.

SAE

Marshall Sahlins (1972): Stone Age Economic, New York: Aldine.

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SI

Pierre Bourdieu (1987): Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt am Main: Suhrkamp [1980].

TC

Marshall Sahlins (1986): Der Tod des Kapitän Cook. Geschichte als Metapher und Mythos als Wirklichkeit in der Frühgeschichte des Königreichs Hawaii, Berlin: Verlag Klaus Wagenbach [Deutsche Fassung von Sahlins 1981a, Historical Metaphors].

TP

Pierre Bourdieu (1976): Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp [1972].

Marshall Sahlins und die Transformation der Kulturforschung

1. Entwicklung der Fragestellung James Cook »brought venereal disease, violence, and, eventually, an unrelenting wave of foreigners, once his journals had been published in Europe. From the Hawaiian perspective, however, the best part about Cook’s visit is that we killed him, as the mana (spiritual power) of his death accrues to us […] we can defend our honor by declaring that at least we killed Cook, and having done so we rid the world of another evil haole (white man)« (Kame’eleihiwa 1994a: 111).

Diese bemerkenswerte Aussage der hawaiianischen Forscherin und Aktivistin LilikalƗ Kame’eleihiwa spiegelt zunächst das problematische Verhältnis zwischen hawaiianischen Aktivisten und der Mythologisierung Cooks als herausragenden Vertreter der Aufklärung wider. Zumindest implizit geht es aber auch um den Status wissenschaftlicher Disziplinen wie der Archäologie, der Ethnologie oder der Geschichtswissenschaft, die die hawaiianische Kultur und Geschichte untersuchen und von hawaiianischer Seite zuweilen dafür kritisiert werden, ›indigene‹ Epistemologien nicht in ihr Analysedesign zu integrieren. Es haben sich nicht nur in Ozeanien eine Vielzahl an ›indigenen‹ Wissenschaftskonzeptionen entwickelt, die zumindest einen gleichberechtigten oder sogar exponierten Stellenwert neben den ›westlich‹ geprägten Wissenschaften für sich reklamieren.1 Gefordert werden indigene Forschungsstrategien, die kulturelle Kosmologien nicht nur zum For1

Die Begriffe ›westlich‹ und ›indigen‹ sind fragwürdig, werden aufgrund der besseren Lesbarkeit aber im Folgenden ohne Anführungszeichen verwendet. In Kapitel VI problematisiere ich den in diesen Ausdrücken impliziten Essentialismus unterschiedlicher Wissenschaftsformen.

12 | KULTUR, GESCHICHTE UND DIE INDIGENISIERUNG DER MODERNE

schungsgegenstand erheben, sondern sie selbst als explizite Alternative zu europäisch-amerikanischen Epistemologien anerkennen. Ausgangspunkt vieler dieser Forschungen ist die Annahme, die europäisch-amerikanisch dominierten Kulturund Sozialwissenschaften seien ein neuer Kolonialismus, der durch die Entwicklung indigener Wissenschaftsformen und -praktiken überwunden werden solle. Nicht nur James Cook und sein Tod ist in diesem Kontext ein politisches Thema; auch Forschungen westlicher Wissenschaftler über Cook werden aus der Perspektive der indigenen pacific studies dafür kritisiert, durch ihre Konzentration auf westliche Erkenntnistheorien ungleiche Machtrelationen zwischen Kulturen zu reproduzieren.2 Natürlich hat sich das Forschungsfeld weit entfernt von seinen kolonialen Anfängen; die Geschichtsschreibung der europäisch-außereuropäischen Beziehungen im Pazifik verabschiedete sich spätestens in den 1960er Jahren von ihrem zuvor praktizierten Eurozentrismus und nahm zunehmend die außereuropäischen Kulturen selbst in den Blick.3 Bis in die 1950er Jahre dominierte eine Schule, die als imperial history bezeichnet wird. James Davidson argumentiert in ›Problems of Pacific History‹, dass diese Geschichtsschreibung die westliche Ausbreitung im Pazifik in den Mittelpunkt rückt (Davidson 1966).4 Ein bedeutender Schritt in eine andere Richtung war der fatal-impact-Ansatz, der seine Aufmerksamkeit auf die teilweise desaströsen Folgen der Kulturkontakte mit Europäern für die indigenen Gruppen im Pazifik gerichtet hat (Moorehead 1966). Diese Forschungsrichtung charakterisiert indigene soziale Lebenswelten als tendenziell unterlegen gegenüber europäischen Entdeckern und Kolonisatoren; in diesem Ansatz werden Kulturkontakte und -zusammenstöße zudem nur selten aus der Perspektive der indigenen Akteure untersucht. Als Reaktion darauf entwickelte sich eine eng mit den Forschungen James Davidsons verknüpfte revisionistische Perspektive, 2

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Die Zeitschrift The Contemporary Pacific ist eine wichtige Plattform für diese Debatten. Siehe dazu unter anderem Diaz/Kauanui 2001; Firth 2003; Gegeo 2001a, 2001b; Gegeo/Watson-Gegeo 2001; Hanlon 2003; Hau’ofa 1993, 2000; Hereniko 2000; Hereniko/Wilson 1999; Huffer/Qalo 2004; Hviding 2003; Jolly 2001; Kame’eleihiwa 1992; Meyer 2001; Smith 1999; Thaman 2003; Trask 1993; White/ Tengan 2001; Wood 1999, 2003, 2006. Für Überblicke und neuere Arbeiten zur ozeanischen Geschichtsschreibung siehe Biersack 1991a; Borofsky 2000a; Calder/Lamb/Orr 1999; Campbell 2003; Denoon 1997; Hanlon 2003; Howard/Borofsky 1989a; Munro/Lal 2005. Zur Geschichte der europäischen Expansion im Allgemeinen und des Kolonialismus siehe Bitterli 1986; Osterhammel 1995; Reinhard 1996; Schwartz 1994; Wolf 1986. Zu den Problemen einer Historiographie Hawai’is im 19. Jahrhundert siehe Merry 2003. – Der Ausdruck ›Hawai’i‹ bezieht sich in dieser Arbeit auf die Insel, ›Hawaii‹ demgegenüber auf die Inselgruppe. Eine Konzentration auf die westliche Seite des europäischen Expansionsprozesses impliziert nicht notwendigerweise eine mit der imperial history gleichzusetzende Perspektive. Im Gegenteil brechen auch frühe Analysen über die westliche Wahrnehmung nicht-westlicher Gesellschaften im Pazifik im Prozess der europäischen Expansion die Analyseperspektive der imperial history auf (siehe Smith 1960).

MARSHALL SAHLINS UND DIE TRANSFORMATION DER KULTURFORSCHUNG | 13

die die Handlungsfähigkeit indigener Gesellschaften betont und Kulturkontakte aus der ›Perspektive des Eingeborenen‹ analysiert (siehe Howe 1984). Die These, dass die Angehörigen nicht-westlicher Lebenswelten in Ozeanien nicht passive Opfer von Kulturkontakten waren, sondern ihre Begegnungen mit den Fremden aus westlichen Gesellschaften aktiv mitgestalteten, hat sich für die Untersuchung interkultureller Kontakte als fruchtbar erwiesen (Borofsky/Howard 1989: 244). Die revisionistische Geschichtsschreibung ist allerdings dafür kritisiert worden, die indigene Handlungsfähigkeit so sehr in den Mittelpunkt zu rücken, dass die negativen Folgen des Kolonialismus für indigene Lebenswelten vernachlässigt werden (siehe Borofsky/Howard 1989: 244). Zudem scheint sie dem Kolonialismus, den sie vermeiden will, nicht zu entkommen. Während nämlich Davidson argumentiert, Geschichte sei »a methodology for the study of society through the analysis of change over time« (Davidson 1971: 119-120), ist Peter Munz der Meinung, dass das Konzept der Geschichte eine europäische Perspektive impliziert, die nicht auf ozeanische Gesellschaften übertragen werden kann (Munz 1971). Munz richtet sich gegen eine eurozentrische Geschichtsauffassung, in der ›große Männer‹ und ihre Schlachten im Mittelpunkt stehen, eine Perspektive also, die bereits von Davidsons revisionistischem Geschichtskonzept in Frage gestellt wird. Dennoch wirft Munz’ Kritik die Frage auf, welche konzeptionellen Implikationen eine islanders-centered-history haben sollte; der Kulturbegriff hat in diesen Diskussionen eine besondere Bedeutung. »Munz’s essential caution regarding the distinctive approach of the West to dealing with its own past as something different from what other societies might do with or to their pasts inadvertently offered a critical insight into the idea of history as culturally produced, locally ordered, and vernacularly expressed« (Hanlon 2003: 24; siehe auch Borofsky 2000: 5). Stilbildend waren die Analysen über Kulturkontakte und kulturellen Wandel im Pazifik, an denen der US-amerikanische Ethnologe Marshall Sahlins seit den späten 1970er Jahren arbeitet. Sahlins gilt als einer der wichtigsten zeitgenössischen Ethnologen und Kulturforscher und prägt durch seine weitreichenden ethnographischen, historischen und vor allem theoretischen Beiträge die Ethnologie seit über 40 Jahren. In einer Rezension über Sahlins’ 2001 erschienenen Sammelband Culture in Practice zählt ihn Karl-Heinz Kohl zu den berühmtesten Ethnologen der Gegenwart (Kohl 2001). Barnard und Spencer beschreiben Sahlins als »[one] of the most influential and original American anthropologists of his generation« (Barnard/Spencer 1996: 589). Adam Kuper widmet in seiner Untersuchung der nordamerikanischen cultural anthropology nur drei Ethnologen ein eigenes Kapitel – neben Sahlins Clifford Geertz und David Schneider (Kuper 1999). Laut William Sewell ist Sahlins der meistzitierte Ethnologe innerhalb des Faches (Sewell 1999: 51), und in einem Einführungsband über die ›Klassiker der Kulturtheorie‹ ist Sahlins der einzige vorgestellte Ethnologe (Kumoll/Schwengel 2004). Neil Whitehead bezeichnet Sahlins und Eric Wolf in einer vergleichenden Untersuchung als »two giants of American anthropology« (Whitehead 2004:

14 | KULTUR, GESCHICHTE UND DIE INDIGENISIERUNG DER MODERNE

184). In kaum einem Überblicks- oder Einführungsband zur Ethnologie fehlen ausführliche Verweise auf Sahlins’ Werk.5 Dass Sahlins einmal zum Vorreiter einer kulturhistorischen Analyseperspektive werden würde, ist zu Beginn seiner ethnologischen Karriere noch nicht abzusehen. Noch Anfang der 1960er Jahre gilt Sahlins als ein wichtiger Vertreter des amerikanischen Neoevolutionismus.6 Sahlins’ Arbeiten über soziokulturelle Evolution gelten heute zwar als überholt, erweisen sich allerdings als einflussreich für die Ethnologie und Archäologie ozeanischer Gesellschaften sowie für neoevolutionistische Theorien.7 Im Verlauf der 1960er Jahre wendet sich Sahlins zunehmend der Wirtschaftsethnologie zu und verfasst mit Stone Age Economics eine in der Disziplin höchst einflussreiche Arbeit.8 Auch Sahlins’ darauffolgende Abhandlung über Culture and Practical Reason gehört bis heute zu den wegweisendsten kulturtheoretischen Werken der Ethnologie.9 Seit Ende der 1970er Jahre arbeitet Sahlins an der Analyse von Kulturkontakten und kulturellem Wandel in Ozeanien im Rahmen der europäischen Expansion. Insbesondere seine Arbeiten über den Tod von James Cook auf Hawai’i 1779 werden weit über die Ethnologie hinaus rezipiert und als fruchtbare Anregung aufgefasst, nicht nur die Ethnologie zu ›historisieren‹, sondern zugleich eine ›kulturelle‹ Perspektive in der Ge5 6

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Siehe dazu beispielsweise Barnard 2000: 96-97; Eriksen 1995: 152-154, 166; Layton 1997: 94-97, 133-134, 167-169; Petermann 2004: 973-981. Siehe Kumoll/Schwengel 2004: 221; Kuper 1999: 159-160; Reyna 1999: 178; Steegmann 2003: 622; Wolf 2001: 7. Wie einige andere seiner ›evolutionistischen‹ Kollegen hält sich auch Marshall Sahlins zunächst an beiden damaligen Zentren der neoevolutionistischen Bewegung auf: Er studiert an der University of Michigan in Ann Arbor, erhält seine Doktorwürde 1954 an der Columbia University und lehrt von 1957 bis 1973 wiederum in Ann Arbor. Zwischen 1967 und 1969 hält sich Sahlins in Paris am Collège de France auf (SAE: vii), ab 1973 lehrt er an der University of Chicago (Kuper 1999: 164). Siehe Sahlins 1958, Sahlins 1960a und 1961. Beeinflusst von Sahlins’ evolutionistischem Frühwerk wurden beispielsweise die Archäologen Patrick V. Kirch (Kirch 2000) und Timothy Earle (Earle 2002). Wichtige Arbeiten aus Sahlins’ wirtschaftsethnologischer Werkphase sind, neben Stone Age Economics (Sahlins 1972), Sahlins 1965b, 1965c, 1968a, 1968b, 1968c, 1969, 1970. Zu Sahlins’ Wirtschaftsethnologie siehe unter anderem Adloff/Mau 2005b: 16-17; Beck 2001; Cook 1974; Rössler 1999: 97-100, 145-148, 172-174. Die anhaltende Bedeutung von Sahlins’ Wirtschaftsethnologie zeigt sich nicht nur in einem oftmals kaum noch genau eingrenzbaren Einfluss von Sahlins’ wirtschaftsethnologischen Konzepten, sondern auch in der Wiederveröffentlichung einzelner Arbeiten dieser Werkphase (siehe Sahlins 1997b, 1999c, 2005d). Culture and Practical Reason (Sahlins 1976a) ist eine der disziplinären Grundlagen für die postmarxistische anthropology of consumption (siehe Appadurai 1986a; Carrier/Heyman 1998; Douglas/Isherwood 1996; Holtzman 2003; Howes 1996; Miller 1987, 1995; Straight 2002). Für eine Analyse der anthropology of consumption siehe Kumoll 2005: 87-101 und 117-121. Für andere Arbeiten, die Sahlins’ kulturalistische Wende konstituieren, siehe Sahlins 1976b, 1976c, 1976d. Zu Sahlins’ kulturalistischer Wende siehe Alexander 1977; Etter 1978; Kain 1993; O’Laughlin 1978; Shea 2003; Swartz 1977.

MARSHALL SAHLINS UND DIE TRANSFORMATION DER KULTURFORSCHUNG | 15

schichtswissenschaft zu verankern.10 Sahlins’ Studien sind zunächst der Versuch, Kulturkontakte aus der Sicht der indigenen Kulturen im Pazifik zu beschreiben; darüber hinaus leitet Sahlins die Dynamik von Kulturkontakten aus den indigenen kulturellen Kategorien ab und entwickelt auf der Grundlage des empirischen Materials eine Theorie kulturellen Wandels.11 Sahlins’ kulturhistorisches Werk ist ein paradigmatisches Beispiel für die Annäherung von Ethnologie und Geschichte: Während die Ethnologie zunehmend von ›zeitlosen‹ funktionalistischen Analysemodellen abwich und eine historische Analyseperspektive von Kultur und Gesellschaft an Bedeutung zunahm, rezipierte die Geschichtswissenschaft vermehrt den ethnologischen Kulturbegriff. Kulturtheoretisch inspirierte Ansätze an der Schnittstelle von Ethnologie und Geschichte wie historische Anthropologie, new cultural history, Geschlechter-, Alltags- oder Mikrogeschichte verstehen sich als Alternativen zu struktur- und sozialhistorischen Ansätzen.12 Die Verknüpfung der Kategorien Kultur und Geschichte in Sahlins’ Spätwerk ist nicht nur ein Beispiel für die Annäherung von Ethnologie und Geschichtswissenschaft seit den 1970er Jahren, sondern auch Ausdruck eines cultural turn sowie eines historical turn oder practice turn nicht nur in Ethnologie und Geschichte, sondern auch in benachbarten Disziplinen wie der Soziologie oder der Archäologie. In der Ethnologie ist Culture and Practical Reason ein Meilenstein in der ›Kulturalisierung‹ der Disziplin und hat wissenschaftsgeschichtlich eine ähnliche Bedeutung wie Clifford Geertz’ interpretative Ethnologie. Marshall Sahlins’ semiotischer Kulturalismus, Clifford Geertz’ interpretative Ethnologie, Claude Lévi-Strauss’ Strukturalismus, Victor Turners symbolorientierter Ansatz, David Schneiders kultureller Relativismus oder auch die kognitive Ethnologie sind ethnologische Forschungsansätze, die die symbolische bzw. kognitive Orga10 Zu den Ereignissen, die zu James Cooks Tod geführt haben, siehe insbesondere Sahlins 1977, 1978, 1979, 1981a, 1982a, 1983c, 1985a, 1986, 1989, 1995. Mehrere bedeutende Anthologien und Monographien an der Schnittstelle von Ethnologie und Geschichte werden maßgeblich von Sahlins’ kulturhistorischem Ansatz inspiriert (Biersack 1991a; Hooper/Huntsman 1985; Ohnuki-Tierney 1990; Robbins 2004; Robbins/Wardlow 2005; Salmond 2003; Thomas 2003). In seiner Rezension zu Sahlins’ monumentaler Studie zur hawaiianischen Geschichte des 19. Jahrhunderts, Anahulu (Sahlins 1992a), merkt Gred Dening an: »In all the great anthologies of anthropology in all its dimensions, when did you last find one without a contribution from Sahlins?« (Dening 1994: 213) 11 Tatsächlich scheint dies einer der entscheidenden Unterschiede zwischen Sahlins’ und Howes Arbeiten zu sein, denn die revisionistische Geschichtsschreibung, die weitgehend, wie Borofsky und Howard argumentieren, von Davidson initiiert wurde (Borofsky/Howard 1989: 245), ist dafür kritisiert worden, zu keiner verallgemeinerbaren theoretischen Synthese des empirischen Materials gekommen zu sein (siehe Ralston 1985: 158). 12 Für neuere Arbeiten an der Schnittstelle von Ethnologie und Geschichte siehe Axel 2002a; Bonnell/Hunt 1999; Cohn 1987; Comaroff/Comaroff 1992; Daniel 2002; Gehrke 2003; Hunt 1987; Medick 1984; Schnepel 1999. Für eine sowohl empirisch als auch konzeptionell einzigartige Synthese ›historischer Kulturanthropologie‹ siehe Reinhard 2004.

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nisation der Realität in den Mittelpunkt rücken und ihre Aufmerksamkeit eher auf kulturelle Schemata als auf soziale Strukturen richten. Dieser cultural turn scheint ein spezifisch interdisziplinäres Phänomen zu sein, was sich schon an der Vielzahl an Einführungswerken und Überblicksdarstellungen zur Kulturtheorie zeigt, die in den letzten Jahren erschienen sind. Beachtet werden sollte allerdings, dass nicht jede ›Kulturtheorie‹ dem kulturtheoretischen Verständnis von Sahlins’ Spätwerk entspricht, dass also die symbolische Organisation der Erfahrung, das ›Bedeutsame‹ und ›Sinnhafte‹ menschlicher Existenz in den Mittelpunkt gerückt werden sollte, dass Kultur zugleich welterschließend und handlungsleitend ist.13 Sahlins’ Spätwerk ist nicht nur beispielhaft für den cultural turn in den Sozial- und Kulturwissenschaften, sondern auch für eine Bewegung, die man den practice turn, den historical turn oder auch den agency turn nennen könnte. Der Begriff der ›sozialen Praxis‹ hat in den letzten etwa 30 Jahren an Relevanz gewonnen und ist eng mit Pierre Bourdieus Theorie der Praxis verknüpft, aber auch mit der Sozialphilosophie Theodore Schatzkis oder der Theorie sozialer Praktiken von Andreas Reckwitz. Eng mit dieser Bewegung verbunden ist eine zunehmende Berücksichtigung der Dynamik von Kultur und Gesellschaft. In der Ethnologie ist die ›historische Dimension‹ bereits lange nicht mehr der Rahmen strukturfunktionalistischer Analysen; vielmehr werden lokale kulturelle Kontexte in ihrer historischen Dynamik analysiert. Im Einzelnen gibt es natürlich, wie auch bereits in der Bewegung, die man einen cultural turn nennen könnte, tiefgreifende konzeptionelle Unterschiede zwischen einzelnen Vertretern von Handlungs- oder Praxistheorien und Verfechtern einer zunehmenden Berücksichtigung der Geschichte. Praxis- und Handlungstheorien sind keineswegs identisch; vielmehr interpretieren einzelne Vertreter der Theorie sozialer Praktiken dieses Paradigma als Absatzbewegung von soziologischen Handlungstheorien (siehe Reckwitz 2003a). Darüber hinaus impliziert eine zunehmende Berücksichtigung von ›Geschichte‹ nicht notwendigerweise eine Berücksichtigung handlungs- oder praxistheoretischer Komponenten.14 Eine besondere Relevanz von Sahlins’ kulturhistorischem Spätwerk besteht also darin, dass Sahlins Geschichts- und Handlungstheorie miteinander verknüpft.

13 Für frühe Arbeiten, die zu einem cultural turn in der Ethnologie beigetragen haben, siehe Geertz 1973; Goodenough 1955; Lévi-Strauss 1968; Schneider 1968; Turner 1967. Für neuere kulturtheoretische Arbeiten in der Soziologie siehe Alexander 2003; Reckwitz 2000. Für neuere interdisziplinäre Einführungsbände und Anthologien zur Kulturtheorie siehe Appelsmeyer/Billmann-Mahecha 2001; Hansen 1999; Helduser/Schwietring 2002; Hofmann/Korta/Niekisch 2004, 2006; Jaeger et al. 2004; Moebius/Quadflieg 2006; Müller 2003. 14 Für den Begriff der sozialen Praxis in der Ethnologie siehe Ortner 1984; aus Sicht der Soziologie und Sozialphilosophie siehe Reckwitz 2003a; Schatzki 1996, 2002; Schatzki et al. 2001. Für die ›historische‹ Dimension der Soziologie siehe Welz/ Weisenbacher 1998. Im Folgenden unterscheide ich die Begriffe ›soziale Praxis‹ und ›Handlung‹ nicht systematisch voneinander.

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Sahlins’ Werk ist nicht nur für die zunehmende Verknüpfung von Kultur und Geschichte bedeutsam, sondern zugleich relevant für Diskurse über kulturelle Globalisierung. Seit den späten 1980er Jahren analysiert Sahlins in seinem Ansatz über die ›Indigenisierung der Moderne‹ Prozesse kultureller Verflechtung und Globalisierung, die für ihn eng mit der europäischen Expansion verknüpft sind.15 Sahlins kritisiert die Auffassung, dass Globalisierung eine weltweite Ausbreitung der westlichen Moderne oder die Determinierung nicht-westlicher kultureller Kontexte durch das ›kapitalistische Weltsystem‹ impliziere. Sahlins betont vielmehr, dass im Kontext weltweiter kultureller Verflechtungen lokale kulturelle Revitalisierungsbewegungen wesentlich an Bedeutung gewinnen. In seinem Ansatz über die ›Indigenisierung der Moderne‹ entwickelt Sahlins seine Geschichtstheorie weiter und hält zugleich an seinem Ansatz kultureller Systematizität fest. Sahlins’ globalisierungstheoretisches Spätwerk ist damit nicht nur für Weltsystemtheorien oder für Ansätze, die die weltweite Verbreitung der westlichen Moderne betonen, eine Herausforderung, sondern auch für Theorien, die Kultur als ›hybrid‹ und Globalisierung als einen Prozess der Entterritorialisierung betrachten.16 Bereits dieser Forschungskontext ist allerdings auch ein Hinweis darauf, dass Sahlins’ kulturhistorischer Ansatz sich nicht nur als bedeutsam für die Verknüpfung von Kultur und Geschichte erwiesen hat, sondern dass Sahlins’ Spätwerk in gegenwärtigen ethnologischen und ›postkolonialistischen‹ Debatten über kulturellen Wandel und kulturelle Globalisierung teilweise heftig kritisiert wird. In der Ethnologie wird seit Jahren eine Debatte über die Fruchtbarkeit des ethnologischen Kulturbegriffs geführt, und es wird gefordert, diesen Begriff zu modifizieren oder sogar aufzugeben.17 Eng damit verknüpft sind Entwicklungen in der Ethnologie seit den 1970er Jahren, in denen die Autorität des Feldforschers und der Stellenwert der Ethnologie im Allgemeinen in Frage gestellt wird. Gefordert werden selbstreflexive Formen ethnographischen Forschens und Schreibens, die die Subjektivität ethnographischen Wissens reflektieren und die Vielfältigkeit des ethnographischen Erkenntnisgegenstands anerkennen. Einen vorläufigen Höhepunkt finden diese Debatten über die Textualität ethnographischen Wissens in der writing-culture-Debatte der 1980er Jahre. Der Gedanke, Ethnographien seien nicht nur, oder sogar nicht einmal in erster Linie, Texte über fremde kulturelle 15 Siehe dazu insbesondere Sahlins 1988a, 1993a, 1994, 1996, 1999a, 1999b, 2000b, 2001a, 2002b, 2005a. Für eine satirische Kritik an der ›postmodernen‹ Ethnologie sowie am Postkolonialismus siehe Sahlins 2002a. 16 Für neuere Analysen kultureller Globalisierung siehe Appadurai 1996; Friedman 1994; Hannerz 1996; Hardt/Negri 2000; Hauser-Schäublin/Braukämper 2002; Inda/Rosaldo 2002a; Kumoll 2005; Lewellen 2002; Nederveen Pieterse 2004; Reckwitz 2004; Ritzer 2003; Robertson 1992; Schwengel 1999; Tomlinson 2001; Werbner/Modood 1997; Wimmer 2001. Für eine exzellente Übersicht der Globalisierungsdebatte siehe Robertson/White 2003. 17 Paradigmatisch ist Lila Abu-Lughods ›Writing Against Culture‹ (Abu-Lughod 1991). Siehe dazu Brightman 1995; Brumann 1999; Fox/King 2002.

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Realitäten, sondern fiktionale oder gar literarische Werke, rührt an erkenntnistheoretische, ontologische sowie moralische Grundfesten der Ethnologie. Diese literarische Wende in der Ethnologie ist Teil einer ›Krise der ethnographischen Repräsentation‹; hier geht es nicht nur um den literarischen Status ethnographischer Werke, sondern auch um die Rolle der Ethnologie im Kolonialismus, die möglicherweise unvermeidlichen Essentialisierungen und Exotisierungen fremder kultureller Realitäten seitens der Ethnologie und verwandter Wissenschaften oder um die prekäre Rolle der Feldforscher, deren subjektive Erfahrungen die Grundlage einer übersubjektiven wissenschaftlichen ›Autorität‹ sein sollen. Das Problem wissenschaftlicher Autorität liegt zunächst im Forschungsprozess der Ethnologie, also der vielzitierten Malinowski’schen ›teilnehmenden Beobachtung‹. Dass Malinowski von persönlichen Problemen ›im Feld‹ geplagt war, ist mittlerweile ebenso sehr ein Gemeinplatz wie die Feststellung, dass davon in seinen ethnologischen Werken nichts zu spüren ist. In der writing-culture-Debatte steht aber weniger der Forschungsprozess im Mittelpunkt, sondern der ethnographische Text. Für James Clifford sind der Malinowski’sche Realismus sowie die ›dialogische Ethnologie‹ ethnographische Stile, wie auch der interpretative und der polyphone Stil. Diese Stile kennzeichnen das jeweilige Forschungsprodukt, also die Monographie, nicht aber notwendigerweise den Forschungsprozess (Clifford 1993). Die Kontroversen über den literarischen Status der Ethnologie, neue Ausdrucksmöglichkeiten ethnologischen Forschens, die wissenschaftliche Autorität des Ethnologen sowie die Verstrickung der Ethnologie mit dem Kolonialismus haben zu einer erkenntnistheoretischen Verunsicherung in der Ethnologie beigetragen.18 Eine Herausforderung, die für die Rezeption und Wahrnehmung von Sahlins’ Werk von entscheidender Bedeutung gewesen ist, ist zudem die ›postkoloniale‹ Kritik, dass westliche Versuche, die ›Perspektive des Akteurs‹ zu repräsentieren, zu einer Essentialisierung nicht-westlicher Kulturen beitragen und ungleiche Machtrelationen zwischen Forscher und Erforschten aufrecht erhalten.19 Sahlins’ Verknüpfung von Kultur und Geschichte steht zwar auf der einen Seite für die Anerkennung nicht-westlicher Historizitäten und für den Versuch, eine nichteurozentrische Geschichtstheorie zu entwickeln. Auf der anderen Seite wird al18 Zur Bedeutung des colonial encounter in der (britischen) Ethnologie siehe Asad 1973; Kuper 1996: 94-114. Frühe Werke der ›dialogischen Ethnologie‹ sind Crapanzano 1980; Dwyer 1982. Für eine wegweisende Diskussion der Exotisierung ›der anderen‹ in der Ethnologie siehe Fabian 1983. Axel T. Paul analysiert Malinowskis biographische Erfahrungen und deren Rolle für seine Ethnologie (Paul 1996: 134-144). Zu den zentralen Referenzpunkten der writing-culture-Kontroverse gehören Marcus/Cushman 1982 und Clifford/Marcus 1986. In Berg/Fuchs 1993 finden sich deutsche Übersetzungen zentraler Texte. Siehe auch Allison 1997; Därmann/Jamme 2002; Fuchs 2001; Gottowik 1997. 19 Zu den zentralen Referenzpunkten zählen Bhabha 1994; Chakrabarty 2000; Said 1979; Spivak 1999. Für repräsentative Bestandsaufnahmen postkolonialer Theoriebildung siehe Conrad/Randeria 2002; Fuchs/Stuchtey 2002; Loomba et al. 2005.

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lerdings gerade Sahlins’ kulturgeschichtlicher Ansatz dafür verantwortlich gemacht, einen spezifisch westlichen ›Orientalismus‹ zu praktizieren, der die ›indigenen Stimmen‹ zum Schweigen bringt und andere Kulturen essentialisiert. Eine besondere Relevanz hat hier die Kontroverse zwischen Sahlins und Gananath Obeyesekere, die insbesondere in den 1990er Jahren geführt worden ist. In einer Reihe von Veröffentlichungen entwickelt Sahlins die These, dass James Cook von den Hawaiianern 1778/79 als eine Manifestation ihres Gottes Lono angesehen und letztlich Opfer eines Ritualmordes wurde.20 In seinem zuerst 1992 erscheinenden Buch The Apotheosis of Captain Cook katapultiert Gananath Obeyesekere, ein aus Sri Lanka stammender und in Princeton lehrender Ethnologe, Sahlins’ Studien über den Tod von James Cook, aber auch seinen kulturhistorischen Ansatz im Allgemeinen, in den Mittelpunkt einer weitreichenden Kontroverse. In seiner Studie versucht Obeyesekere nachzuweisen, dass die Hawaiianer James Cook ›nur‹ für einen Häuptling hielten und dass Cook nicht Opfer eines Ritualmordes wurde, sondern seinen Tod durch eigenes Fehlverhalten zu verantworten hatte. Zudem wirft Obeyesekere Sahlins vor, eurozentrisch zu argumentieren: Sahlins reduziere die Hawaiianer auf Marionetten ihrer kulturellen Schemata und falle auf einen westlichen Mythos herein, dem zufolge die Akteure nicht-westlicher Kulturen die weißen Entdecker für Götter halten (Obeyesekere 1992, 1997a).21 Obeyesekeres Buch wird in der Folge eine vergleichsweise große Aufmerksamkeit zuteil; neben einer Vielzahl an Einzelbesprechungen gibt es mehrere Symposien, die sich mit The Apotheosis of Captain Cook beschäftigen.22 Sahlins, gegen den das Buch in erster Linie gerichtet ist, veröffentlicht 1995 als Antwort das Buch How ›Natives‹ Think. About Captain Cook, for Example, das zunächst deutlich kürzer sein und einen längeren Titel tragen sollte: »›Natives‹ versus Anthropologists; Or, How Gananath Obeyesekere Turned the Hawaiians into Bourgeois Realists on the Grounds They Were ›Natives‹ Just Like Sri Lankans, in Opposition to Anthropologists and Other Prisoners of Western Mythical Thinking« (NT: ix). Sahlins weist alle Vorwürfe zurück und stellt klar, dass nicht er selbst, sondern Obeyesekere ethnozentrisch argumentiert: Obeysekere übertrage die westliche Idee der praktischen Rationalität auf die hawaiianische Kultur und bringe sie deshalb systematisch zum Schweigen. Sahlins kritisiert zudem Obeyesekeres Umgang mit den Quellen; er bestreitet, dass Hinweise auf die Vergöttlichung Cooks durch die Hawaiianer auf einen westlichen Mythos zurückzuführen sind. Spätestens mit der Veröffentlichung von Sahlins’ Buch wird klar, dass es in dieser Debatte um mehr geht als um die Frage, warum James 20 Siehe Sahlins 1977, 1978, 1979, 1981a, 1982a, 1983c, 1985a, 1986, 1989. 21 Ich zitiere in erster Linie aus der zweiten Auflage von The Apotheosis of Captain Cook, die geringfügig korrigiert ist und ein neues Nachwort des Verfassers enthält. Für weitere Kommentare Obeyesekeres zu James Cooks Tod siehe Obeyesekere 1993, 1994, 1995, 1997b, 2001. 22 In den Zeitschriften Social Analysis (1993) und Pacific Studies (1994) erscheinen review forums, die sich mit Obeyesekeres Buch befassen.

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Cook 1779 auf Hawai’i sein Leben ließ. Clifford Geertz und Ian Hacking besprechen How ›Natives‹ Think in der New York Review of Books und der London Review of Books (siehe Geertz 2000: 97-107; Hacking 1995), und damit erreicht die Debatte zwischen Sahlins und Obeyesekere auch ein interessiertes Publikum, das mit Details polynesischer Ethnographie und Geschichte nicht vertraut ist. 1997 erscheint der erste Überblick der ›Sahlins-Obeyesekere-Debatte‹ (Borofsky 1997); die Kontroverse wird in einem neueren Überblickswerk zur Geschichte der Ethnologie als eine der zentralen zeitgenössischen ethnologischen Debatten vorgestellt (Barnard 2000: 96-97). Ein Grund dafür, dass diese Kontroverse auch für Nichtspezialisten interessant erscheint, ist zunächst die seltene Gelegenheit, einem »academic bloodletting« (Li 2001: 206) beizuwohnen; durch diese Kontroverse geraten aber auch zentrale Fragen der Ethnologie in den Mittelpunkt des Interesses: »After one reads these two having at one another up, down, and sideways for five hundred lapel-grapping pages or so, whatever happened to Cook, and why, seems a good deal less important, and probably less determinable, than the questions they raise about how it is we are to go about making sense of the acts and emotions of distant peoples in remote times. What does ›knowing‹ about ›others‹ properly consist in? Is it possible? Is it good?« (Geertz 2000: 98)

Sahlins verortet die Debatte über den Tod von James Cook im Kontext eines zweihundertjährigen intellektuellen Kampfes zwischen kulturellem Partikularismus und empirischem Universalismus (NT: 9). Auch Obeyesekere schreibt in seinem neuen Nachwort ›On De-Sahlinization‹ in der zweiten Auflage von The Apotheosis of Captain Cook, dass es in seiner Debatte mit Sahlins um mehr geht als ›nur‹ um empirische Details: »Sahlins does address an important section of the discipline that has developed the idea of cultural and ethical relativism as the charter myth for a special kind of ethnography that plays on difference and the uniqueness of cultures and is hostile to any form of ›essentialism‹« (AP: 232). Mittlerweile ist das Interesse an dieser Kontroverse zwar zurückgegangen, und auch Sahlins und Obeyesekere äußern sich nicht mehr zu diesem Thema.23 Wie wenig die zu Grunde liegenden Probleme gelöst sind, zeigt sich aber unter anderem daran, dass es jüngst eine neue Debatte zwischen Sahlins und Obeyesekere gegeben hat, in der es um die gleichen konzeptuellen Fragen geht: Obeyesekere bezweifelt Sahlins’ Aussagen über die ehemalige Existenz von Kannibalismus auf Fidschi und führt sie auf europäische Verzerrungen in den Quellen zurück 23 Zur Debatte zwischen Sahlins und Obeyesekere siehe Borofsky 1997; Dening 1996: 64-78; Friedman 1997; Geertz 2000: 97-107; Hacking 1995; Hanlon 1994; Howe 1996; Kame’eleihiwa 1994a; Kane 1997; Kapferer 2000; Kaufmann 1995; Knauft 1993; Lamb 1993; Li 2001; Lukes 2000; Parker 1995; Reyna 1999; Rose 1993; Salmond 1993; Tcherkézoff 2003; Thomas 1994; Trigger 1996; Windschuttle 1997; Zimmermann 1998.

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(Obeyesekere 2003; Sahlins 2003a, 2003b). Zudem steht weiterhin die indigene Kritik an Sahlins im Raum, ohne dass klar wäre, welche Konsequenzen für interkulturelle Analysen gezogen werden sollten. »I have been hard put to understand why haole scholars (like Marshall Sahlins) persist in writing about Cook, and since such scholars […] invariably misinterpret Hawaiian cultural acts, we generally laugh at such works« (Kame’eleihiwa 1994a: 111-112). Die Sahlins-Obeyesekere-Kontroverse ist nicht ›nur‹ eine regionalwissenschaftliche Debatte, und die Polemik und Leidenschaft, mit der sie geführt worden ist, erklärt sich wohl am ehesten vor dem Hintergrund der Kontroversen über kulturelle Globalisierung, über die Aufgabe des ethnologischen Kulturbegriffs sowie über die ›Krise der ethnographischen Repräsentation‹. Jahre nachdem die Debatte weitgehend versiegt ist, scheint die Bedeutung von Sahlins’ Spätwerk in der heutigen Ethnologie etwas geringer zu sein als noch vor zehn bis 15 Jahren. Ein Beispiel dafür ist die Anthologie From the Margins über den heutigen Forschungsstand der historical anthropology, also der interdisziplinären Forschungsrichtung an der Schnittstelle von Ethnologie und Geschichtswissenschaft, die Sahlins selbst vorangetrieben hat (Axel 2002a). Während in vergleichbaren Anthologien dieses Forschungsfeldes, die zu Beginn der 1990er Jahre erschienen sind, Sahlins’ Werke einen zentralen Referenzpunkt bilden, gibt es in dem von Axel herausgegebenen Band eine einzige Referenz zu Sahlins (Axel 2002b: 30). Demgegenüber gibt es in den letzten Jahren zwar mehrere erfolgreiche Versuche, Sahlins’ Ansatz produktiv weiterzuentwickeln.24 Dennoch ist der Einfluss von Sahlins’ Werk auf die gegenwärtige Theoriebildung in der Ethnologie geringer geworden. Dies ist nicht überraschend, denn wissenschaftliche Disziplinen wie die Ethnologie oder die Geschichtswissenschaft profitieren ja von der immerwährenden Entwicklung und Rezeption ›neuer‹ Forschungsperspektiven und Fragestellungen im Lichte von sich verändernden soziohistorischen Rahmenbedingungen.25 Es ist also mehr noch als vor 15 Jahren erklärungsbedürftig, Sahlins’ 24 Siehe beispielsweise Robbins 2004; Robbins/Wardlow 2005. 25 Es gibt bereits in den 1990er Jahren Stimmen in der Ethnologie, die die Kontroverse zwischen Sahlins und Obeyesekere als überholt betrachten. George Marcus argumentiert, dass diese Debatte 15 Jahre zuvor großes Interesse hervorgerufen hätte, dass die Ethnologie sich aber neuen Fragen und Problemen zugewandt habe, die die Parameter der Debatte zwischen Sahlins und Obeyesekere als nebensächlich erscheinen ließen. Tatsächlich ist Marcus der Meinung, dass die Debatte nicht nur wenig gewinnbringend für die Weiterentwicklung der Ethnologie war, sondern tatsächlich auf ein geringes Interesse in der Disziplin stieß (Marcus 1998: 248-249). Demgegenüber vertritt Bruce Kapferer die Meinung, dass die Kontroverse auf ein großes Interesse stieß, doch dass Ethnologen anders mit der Debatte umgingen als mit anderen ethnologischen Kontroversen in der Vergangenheit. »In my view, the debate itself and the reaction to it exposed the deep-seated crisis in the discipline which involves a sense of loss among anthropologists of the relatively distinct project of anthropology […] The Sahlins Obeyesekere debate focuses on key epistemological issues in anthropology and the way they structure anthropology’s relation to other disciplines (Kapferer 2000: 175).

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Spätwerk für die Weiterentwicklung der Kulturtheorie fruchtbar zu machen, denn obwohl Sahlins seinen kulturhistorischen Ansatz in den letzten 20 Jahren verfeinert hat, bewegt sich sein Spätwerk weitgehend in den von ihm in den 1980er Jahren gezogenen Grenzen. Ist Sahlins’ Verknüpfung von Kultur und Geschichte letzten Endes eher von historischer Bedeutung, oder kann sein Spätwerk auch heute noch weiterführende Perspektiven für die Analyse von Kulturkontakten, kulturellem Wandel und kultureller Globalisierung eröffnen? Diese Frage ist nicht nur für Ethnologie und Geschichtswissenschaft relevant, sondern auch für eine deutschsprachige Soziologie, die sich zunehmend interdisziplinären Debatten über kulturelle Globalisierung, Postkolonialismus oder die ›Krise der ethnographischen Repräsentation‹ öffnet.26 In meiner Analyse, ob Sahlins’ kulturhistorischer Ansatz für die Analyse kultureller Verflechtungen, von Kulturkontakten sowie kultureller Globalisierung fruchtbar gemacht werden kann, setze ich drei systematische Schwerpunkte. Erstens analysiere ich Sahlins’ semiotischen Kulturbegriff, der nicht nur die Grundlage von Culture and Practical Reason ist, sondern auch von Sahlins’ kulturhistorischem Spätwerk. Insbesondere frage ich danach, in welchem Maße Sahlins’ Plädoyer für kulturelle Systematizität in seiner Theorie über die ›Indigenisierung der Moderne‹ weiterführend ist. Diese Frage stellt sich bei einer Berücksichtigung der ethnologischen Debatten, in denen der klassische ethnologische Kulturbegriff für seine Homogenität kritisiert wird. Sowohl Sahlins’ kulturhistorisches Spätwerk als auch sein Ansatz über die ›Indigenisierung der Moderne‹ ist dafür kritisiert worden, andere Kulturen zu exotisieren und zu homogenisieren. Sahlins, so die Kritik, ignoriert kulturelle Komplexität und überbetont die Unterschiede zwischen westlichen und nicht-westlichen Kulturen. Dadurch exotisiert er ›die anderen‹ und trägt zu einer Essentialisierung anderer Kulturen bei (AP; Fabian 1983; Friedman 1988; Li 2001). Diese Kritik ist mit der Forderung vergleichbar, auf den ethnologischen Kulturbegriff entweder zu verzichten (AbuLughod 1991) oder zumindest die fundamentale Hybridität kultureller Formen zu berücksichtigen (Werbner/Modood 1997). Gerade die Berücksichtigung kultureller Systematizität in Sahlins’ Theorie über die ›Indigenisierung der Moderne‹ ist aber auch als weiterführend für die Analyse ozeanischer Gesellschaften angese26 Der Stellenwert von Sahlins’ Werk ist in der deutschsprachigen Soziologie geringer als in Ethnologie und Geschichtswissenschaft; besondere Aufmerksamkeit gilt immer noch Sahlins’ wirtschaftsethnologischem Frühwerk (siehe Adloff/Mau 2005a), weniger indes seinem Spätwerk (siehe Kumoll 2006c). Auf die US-amerikanische cultural sociology hat Sahlins’ kulturhistorisches Spätwerk dagegen einen großen Einfluss ausgeübt. Nach eigener Aussage ist Jeffrey Alexander in der Entwicklung seiner neueren kulturtheoretischen Arbeiten maßgeblich von Sahlins’ kulturhistorischem Spätwerk beeinflusst worden (Interview mit Jeffrey Alexander, geführt am 19. Mai 2005, Yale University, New Haven). Sahlins’ Einfluss in der US-amerikanischen cultural sociology zeigt sich unter anderem auch an seinem Status als Senior Fellow des Center for Cultural Sociology der Yale University. Zur Bedeutung von Sahlins’ Spätwerk in der cultural sociology siehe Seidman/Alexander 2004: 5.

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hen worden (siehe Hau’ofa 2000). Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob Sahlins’ Kulturbegriff die Relevanz sozialer Strukturen, ungleicher gesellschaftlicher Machtverhältnisse und ›materieller‹ Realität systematisch unterschätzt (siehe dazu Kuper 1999). Zweitens untersuche ich Sahlins’ Geschichtstheorie, also die handlungstheoretische Erweiterung seiner Kulturtheorie. Dieses Programm ist vergleichbar mit Versuchen in der soziologischen Theorie, einen micro-macro-link herzustellen (Alexander et al. 1987) und den Gegensatz zwischen Ereignis und Struktur praxis- bzw. handlungstheoretisch zu überwinden. Insbesondere von historischer Seite wurde Sahlins’ Ansatz analysiert und auch in die Nähe zu Giddens’ ›Theorie der Strukturierung‹ sowie Bourdieus Theorie der Praxis gerückt (siehe Biersack 1989; Sewell 2001). Näher untersucht wurde Sahlins’ Ansatz der Verknüpfung von Ereignis und Struktur jedoch weder in Ethnologie und Geschichtswissenschaft noch in der praxis- und kulturtheoretischen Forschung in der Soziologie. Die mangelnde theoretische Durchdringung von Sahlins’ Verknüpfung von Ereignis und Struktur ist wohl ein Grund dafür, daß keine Einigkeit über die Plausibilität und empirische Fruchtbarkeit seines Ansatzes besteht. In Ethnologie und Geschichtswissenschaft wird insbesondere darüber diskutiert, ob Sahlins’ Ansatz ›deterministisch‹ sei. Diese Kritik wird am historischen Material vor allem durch den Vorwurf erhoben, Sahlins reduziere die Hawaiianer auf Marionetten ihrer kulturellen Schemata (AP; Friedman 1988; Kuper 1999; Li 2001). Es gibt jedoch auch Stimmen, die diesen Vorwurf zurückweisen und auf die ›pragmatischen‹ und ›kreativen‹ Aspekte von Sahlins’ Handlungstheorie verweisen (Borofsky 1997; Sewell 2001). Ungeklärt ist zudem, ob es Sahlins in seiner handlungstheoretischen Dynamisierung seines Kulturalismus und den darauf aufbauenden historisch-anthropologischen Studien über Kulturkontakte in Ozeanien gelungen ist, den weltsystemischen (Makro)kontext mit einzubeziehen unter Berücksichtigung der lokalen ›Perspektive des Akteurs‹. Dieser Ansatz wird nicht nur zustimmend rezipiert (Biersack 1989), sondern auch kritisch gesehen (Friedman 1988). Auf der Grundlage des Forschungsstandes ist unklar, welchen Beitrag Sahlins tatsächlich geleistet hat zur handlungs- und geschichtstheoretischen Überwindung des Gegensatzes zwischen weltsystemtheoretisch inspirierter Analyse in der Tradition von Wallerstein (1974) oder Wolf (1986) auf der einen und dem local-knowledge-Ansatz von Geertz (1973) auf der anderen Seite. Drittens gilt meine Aufmerksamkeit den Problemen, die mit der ›Krise der ethnographischen Repräsentation‹ verknüpft sind. Von besonderer Bedeutung ist für mich die Sahlins-Obeyesekere-Debatte. Hier geht es zunächst auch um die Frage nach der Plausibilität kultureller Systematizität sowie um Sahlins’ handlungstheoretische Erweiterung seiner semiotischen Kulturtheorie, doch darüber hinaus rückt in dieser Debatte zunehmend die so genannte ›Politik der Repräsentation‹ in den Mittelpunkt, also die Frage danach, inwieweit der ethnologische Repräsentationsprozess ›politisch‹ ist, wer für wen ›sprechen‹ darf und aus welchen Quellen sich die Legitimität speist, als westlicher Sozialwissenschaftler

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Aussagen über nicht-westliche kulturelle Kontexte zu machen. Die Diskussionen, die über Sahlins’ Werk geführt werden, zeigen, dass interkulturelle Analysen diesem Problem wohl kaum entgehen können. Dabei bildet die Sahlins-Obeyesekere-Kontroverse für mich den Ausgangspunkt für eine Analyse ausgewählter Elemente der ›Politik der Repräsentation‹. Ich frage nach der Bedeutung der Argumentationsräume, in denen sich die ›Politik der Repräsentation‹ entfaltet, analysiere alternative Ausdrucksmöglichkeiten ethnographischer und historischer Repräsentation sowie den Stellenwert indigener Epistemologien in westlichen Analysen nicht-westlicher Gesellschaften. Mein Bezugspunkt in diesen Diskussionen ist Sahlins’ Werk, und ich versuche einzuschätzen, in welcher Beziehung Sahlins’ Werk zur ›Politik der Repräsentation‹ steht. Diese drei systematischen Fragen stehen im Mittelpunkt der Analyse, ob Sahlins’ Verknüpfung von Kultur und Geschichte für die Analyse kultureller Verflechtungen, Kulturkontakten im Rahmen der europäischen Expansion und kultureller Globalisierung fruchtbar gemacht werden kann. Ich habe diese Themenschwerpunkte zunächst gewählt, weil sie eine große Bedeutung für die Weiterentwicklung des systematischen Zusammenhangs von Kultur und Geschichte haben. Darüber hinaus sind diese drei von mir in den Vordergrund gerückten Themen eng mit den zentralen Elementen, die Sahlins selbst als grundlegend für seinen Ansatz der ›Indigenisierung der Moderne‹ betrachtet, verknüpft. Sahlins analysiert in seiner Theorie über die ›Indigenisierung der Moderne‹ drei eng miteinander verwobene Themen: erstens die seiner Meinung nach anhaltende Bedeutung kultureller Systematizität; zweitens ein Phänomen, das er develop-man nennt, und das eine Weiterentwicklung seiner Handlungstheorie und zugleich eine Kritik an weltsystemtheoretischen Ansätzen ist; drittens die überall in der Welt auftretenden kulturellen Revitalisierungsbewegungen.27 Die ›Politik der Repräsentation‹ entspricht zwar nicht unmittelbar Sahlins’ Ausführungen zum Kulturalismus, doch beide Themen sind eng miteinander verwoben. Denn gerade das Aufkommen ›neuer‹ indigener Wissenschaftskonzepte in Ozeanien kann als empirischer Ausdruck oder Beispiel für Sahlins’ Plädoyer für die Bedeutung kultureller Revitalisierungsbewegungen angesehen werden. Schließlich versuche ich auch, diese drei von mir analysierten Elemente von Sahlins’ Spätwerk ›zusammenzudenken‹ und die Frage zu beantworten, inwieweit nicht nur die einzelnen Elemente von Sahlins’ Ansatz weiterführend sind, sondern sein Ansatz im Allgemeinen.

27 In seiner Rekonstruktion von Sahlins’ Spätwerk argumentiert auch Robbins, dass diese Elemente grundlegend für Sahlins’ Ansatz über die ›Indigenisierung der Moderne‹ sind (Robbins 2005a).

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2. Anmerkungen zur Vorgehensweise Erkenntnisleitend für meine Analyse ist die Überlegung, dass die Frage, ob Sahlins’ kulturhistorisches Spätwerk für interkulturelle Analysen fruchtbar gemacht werden kann, nicht allein anhand seines Spätwerks beantwortet werden sollte, sondern auf der Grundlage seines Gesamtwerks. Man könnte zunächst einwenden, dass eine solche Frage ausschließlich auf der Grundlage von Sahlins’ Spätwerk beantwortet werden kann, eine Analyse seines Gesamtwerks also im besten Fall von historischem Interesse oder sogar überflüssig ist. Ich glaube aber, dass die Frage, ob Sahlins’ Spätwerk für die Analyse kultureller Globalisierung fruchtbar gemacht werden kann, von einer Untersuchung der Entwicklung seines Gesamtwerks profitiert. Erstens gibt es in Sahlins’ Werk bedeutende konzeptionelle Kontinuitäten, die es ratsam erscheinen lassen, auch sein Frühwerk zu analysieren. Damit betritt diese Analyse Neuland, denn im Unterschied zu anderen ›Klassikern‹ der modernen Ethnologie gibt es nur wenige kurze Darstellungen von Sahlins’ Gesamtwerk.28 Deshalb sind die werkgeschichtlichen Grundlagen für die das Spätwerk dominierenden Kategorien Kultur und Geschichte weitgehend unerforscht. Ob Stone Age Economics zu der im Spätwerk entwickelten Theorie über Kultur und Geschichte in einer Kontinuität steht, ist ungeklärt.29 Ein Grund dafür ist, dass dieses Buch, obwohl es als ein Klassiker der Ethnologie gehandelt wird (Beck 2001) und inspirierend für die Entwicklung der Wirtschaftsethnologie gewesen ist, nur selten in seiner Gesamtheit systematisch untersucht wurde. Die Diversifizierung der ethnologischen Forschung hat dazu geführt, dass sich die Diskussionen über die einzelnen Beiträge von Stone Age Economics zumeist auf Detailprobleme beziehen.30 Auch Sahlins’ historische Wende ist noch nicht gänzlich durchdrungen, denn Sahlins’ Spätwerk wird von einigen Ethnologen als ›neoevolutionistisch‹ kritisiert, wohl unter interpretativem Rückgriff auf sein evolutionistisches Frühwerk (Thomas 1989), während Sahlins unter Historikern, die dieses Frühwerk möglicherweise weniger gut kennen, zumeist als Theoretiker kulturellen Wandels rezipiert wird, der gerade die Kontingenz sozialer 28 Siehe Kumoll/Schwengel 2004; Kuper 1999: 159-200; Petermann 2004: 973-981. Ansatzpunkte für eine Analyse von Sahlins’ Gesamtwerk liefert auch Goldsmith, der Sahlins’ 1958 veröffentlichte evolutionstheoretische Dissertation Social Stratification in Polynesia mit Historical Metaphors and Mythical Realities vergleicht (Goldsmith 2006). 29 Während Kuper und Fabian Sahlins’ kulturalistische Wende erst mit Culture and Practical Reason sehen (Fabian 1983: 137; Kuper 1999: 164), stellt Beck die These auf, Sahlins argumentiere bereits in Stone Age Economics teilweise kulturalistisch (Beck 2001). 30 Für Gesamtdarstellungen zu Stone Age Economics siehe Beck 2001 und Cook 1974. Für die Rezeption von ›The Original Affluent Society‹ siehe Bird-David 1992; Christian 2005: 185-187. Zu ›The Domestic Mode of Production‹ siehe Donham 1981; Evans 1974; Humphrey 1998. Für Analysen von Sahlins’ Reziprozitätstheorie siehe Ganzer 1981; Lebra 1975; Papilloud 2002.

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Praxis in den Mittelpunkt rücke (Sewell 2001). Darüber hinaus sind die Einflüsse von Sahlins’ frühen Arbeiten auf seinen Ansatz über die ›Indigenisierung der Moderne‹ noch wenig erschlossen (siehe nun Robbins 2005a). Schließlich fehlen in Analysen ausgewählter Aspekte von Sahlins’ Denken zumeist jegliche Hinweise darauf, dass Sahlins in den 1960er Jahren gegen den Vietnamkrieg sowie gegen Project Camelot, ein vom US-amerikanischen Verteidigungsministerium geplantes Forschungsprojekt über counter-insurgency in Ländern der ›Dritten Welt‹, protestierte.31 Einer der Gründe dafür ist möglicherweise, dass Sahlins’ politische Schriften einem breiteren Publikum erst durch deren Wiederveröffentlichung in Culture in Practice (Sahlins 2000a) zugänglich oder sogar erst bekannt gemacht wurden. Die von Sahlins gewählte Platzierung dieser Arbeiten in Culture in Practice wirft die Frage auf, in welchem Verhältnis Sahlins’ politische Kritik zu seiner Ethnologie steht. Erforscht ist dieser Zusammenhang bislang nicht; deshalb ist auch unklar, in welcher Weise Sahlins’ politische Kritik in den 1960er Jahren zu einem besseren Verständnis seines Ansatzes über die ›Indigenisierung der Moderne‹ beitragen könnte.32 Die unbefriedigende Forschungslage zu Sahlins’ Gesamtwerk bezieht sich übrigens auch auf sein Spätwerk, denn oftmals werden Sahlins’ Ausführungen über den Zusammenhang von Kultur und Geschichte auf der Grundlage weniger ausgewählter Schriften kritisiert, ohne dass die Komplexität, die auch Sahlins’ Spätwerk zu Grunde liegt, berücksichtigt würde (Robbins 2004: 6). Zweitens kann eine Analyse von Sahlins’ werkgeschichtlicher Entwicklung inklusive einer Untersuchung der gegenseitigen Beeinflussung von Sahlins’ Werk und anderen Ansätzen dafür fruchtbar gemacht werden, auf oftmals überraschende Kontinuitäten zwischen ›neuen‹ und ›alten‹ Ansätzen aufmerksam zu machen. Diese Kontinuitäten können auf unterschiedlichen Ebenen auftreten, von denen für meine Analyse insbesondere zwei von besonderer Bedeutung sind. Einerseits weisen einige neuere Ansätze, die im systematischen Gegensatz zu Sahlins’ Ethnologie zu stehen scheinen, zumeist implizit einige mit Sahlins’ Werk vergleichbare systematische Elemente auf; in einigen Fällen lässt sich sogar eine bislang übersehene Beeinflussung durch Sahlins’ Werk nachweisen, wie bei Arjun Appadurais Theorie kultureller Globalisierung, die von Sahlins’ Wirtschaftsethnologie beeinflusst worden ist. Dies hat zur Folge, dass Appadurais globalisierungstheoretischer Ansatz einige vergleichbare systematische Probleme aufweist wie bereits Sahlins’ Wirtschaftsethnologie. Die Analyse von Sahlins’ 31 Siehe dazu Sahlins 1965a, 1965e, 1966a, 1966b, 1967. 32 In der Rezeption von Culture in Practice finden sich einige Reflexionen über den Standort von Sahlins’ politischer Kritik in seinem Gesamtwerk (Durrenberger 2003). Sahlins’ politische Kritik in den 1960er Jahren stößt mittlerweile wieder auf Interesse (siehe die Aufnahme von Sahlins 1965a in González 2004a [Sahlins 2004b]), doch Sahlins’ political writings werden kaum systematisch zu seiner Ethnologie in Beziehung gesetzt. Eine Ausnahme ist ein Aufsatz von Sophie Chevalier, in dem Sahlins’ Kritik am Vietnamkrieg als wichtiger Aspekt seiner intellektuellen Entwicklung berücksichtigt wird (Chevalier 2005).

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Gesamtwerk, hier also seines wirtschaftsethnologischen Frühwerks, kann deshalb weiterführende Impulse für die systematische Auseinandersetzung mit Prozessen kultureller Globalisierung liefern.33 Andererseits geht es mir um den Nachweis, dass die älteren Arbeiten von Sahlins oftmals falsch oder zumindest unvollständig interpretiert werden, weil die Motivationen, die den jeweiligen Werken zu Grunde liegen, übersehen werden. Beispielsweise kann Culture and Practical Reason nur allzu leicht als Plädoyer für einen kulturalistischen Determinismus missverstanden werden. Allerdings ist Culture and Practical Reason eine explizite Kritik an deterministischen Argumentationsfiguren; dies wird aber erst deutlich, wenn das Werk in seinen theoriegeschichtlichen Kontext eingebettet wird. Eine Konfrontation von Culture and Practical Reason mit neueren Arbeiten, in denen das Ziel verfolgt wird, den ethnologischen Kulturbegriff aufzulösen, offenbart, dass beide ›Seiten‹ das Ziel verfolgen, die fundamentale Handlungsfreiheit des Menschen argumentativ einzuholen. Diese Motivation ist auch noch für Sahlins’ neueste Arbeiten gültig; seine Ethnologie ist in der heutigen Theorielandschaft damit weniger out of context, als dies zuweilen in der Sekundärliteratur erscheint. Dies erschließt sich am ehesten in einer werkgeschichtlichen Perspektive, die Sahlins’ frühere Arbeiten vor dem Hintergrund der jeweiligen theoriegeschichtlichen Kontexte interpretiert und mit seinem Spätwerk in Verbindung bringt. Ich wende dieses Verfahren insbesondere in den Kapiteln III und IV an, in denen es um Sahlins’ kulturalistische und historische Wende geht.34 Eine werkgeschichtliche Perspektive verhilft drittens zu einer besseren Einschätzung, in welcher Weise sich Sahlins’ Spätwerk gegenüber seinen frühen Arbeiten konzeptionell weiterentwickelt hat. Ich argumentiere, dass Sahlins’ kulturalistische Wende einige theorieinterne Widersprüche, die seine Wirtschaftsethnologie belastet haben, erfolgreich aufgelöst hat. In einer werkgeschichtlichen Perspektive erscheint Sahlins’ kulturalistische Wende als eine bedeutende theoriesystematische Leistung, denn Sahlins hält an seiner Utilitarismuskritik fest, die bereits seinen ›substantivistischen‹ wirtschaftsethnologischen Ansatz auszeichnet, stellt sie aber auf weitgehend neue systematische Grundlagen. Weil Sahlins’ Wirtschaftsethnologie auch heute noch rezipiert wird, ist auch diese Erkenntnis ein Baustein für die Beantwortung der Frage nach dem Potenzial von Sahlins’

33 Ich vertrete nicht den Anspruch, eine allumfassende Rezeptionsgeschichte von Stone Age Economics zu schreiben, sondern möchte allein darauf hinweisen, dass sich einige von Sahlins’ wirtschaftsethnologischen Konzepten in möglicherweise überraschenden neuen Diskussionskontexten wiederfinden, also beispielsweise im ethnologischen Diskurs über kulturelle Globalisierung. Systematische Diskussionen über Stone Age Economics lassen sich deshalb auch für die Analyse kultureller Globalisierung fruchtbar machen. 34 Eine solche Lesart von Sahlins’ Werk findet sich nur vereinzelt in der Sekundärliteratur. Für Sahlins’ kulturalistische Wende siehe Keane 2003, für seine historische Wende Robbins 2005a.

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Spätwerk.35 Dabei ist auch Sahlins’ Spätwerk nicht frei von Inkonsistenzen; insbesondere ist für mich ein konzeptioneller Bruch in Sahlins’ Spätwerk relevant, der für Sahlins selbst keine große Bedeutung zu haben scheint, in meiner Interpretation allerdings eine enorme Bereicherung seines Spätwerks ist, wenn dieses Konzept genauer systematisiert wird, als Sahlins selbst dies getan hat. Dieses Konzept der humiliation analysiere ich in Kapitel IV.36 Auch dies zeigt, wie vorteilhaft es im Einzelnen sein kann, sich nicht auf eine ›Werkphase‹ oder sogar auf einzelne Schriften eines Autors zu konzentrieren, sondern das jeweilige Gesamtwerk in die Analyse einzubeziehen. Viertens ist Sahlins’ Gesamtwerk ein theoriegeschichtlicher ›Knotenpunkt‹, an dem einige der wichtigsten intellektuellen Strömungen der Ethnologie der letzten 50 Jahre aufeinander treffen. Sahlins’ Spätwerk basiert zu einem großen Teil auf Auseinandersetzungen mit konkurrierenden Theorien, die Sahlins zu früheren Zeitpunkten seiner intellektuellen Entwicklung geführt hat; sie sind also gewissermaßen die oftmals unterschlagenen Grundlagen seines kulturhistorischen Spätwerks. Wenn die These fallengelassen wird, dass ›neue‹ sozialwissenschaftliche Theorien notwendigerweise eine Weiterentwicklung gegenüber ›älteren‹ Ansätzen sind, kann auch die Frage gestellt werden, ob die konzeptionellen 35 Ob Sahlins’ ›kulturalistische‹ und ›historische‹ Wendepunkte als theoriesystematische Fortschritte gegenüber seiner Wirtschaftsethnologie verstanden werden können, ist umstritten. Dieter Groh argumentiert in einem Aufsatz aus dem Jahre 1982, dass Sahlins bedauerlicherweise seine frühere substantivistische Position zugunsten eines kulturalistischen Universalismus aufgegeben habe. Der substantivistische Historismus würde, so Groh, zugunsten eines enthistorisierten Kulturalismus aufgegeben (Groh 1992: 49). Der ›Historismus‹ des Substantivismus geht in Grohs Augen auf eine Unterscheidung zwischen vormodernen und modernen Gesellschaften zurück; die ›Enthistorisierung‹ von Sahlins’ Kulturalismus – so Groh – hebt diese Unterscheidung auf. Diese Enthistorisierung geht, wie Groh argumentiert, auf Sahlins’ These zurück, dass alle Bereiche der gesellschaftlichen Existenz symbolisch organisiert sind. Grohs Analyse leidet allerdings unter einer Missachtung von Sahlins’ Werkentwicklung nach Culture and Practical Reason. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von Grohs Artikel hatte Sahlins bereits mehrere historische Arbeiten veröffentlicht; warum sich Groh demgegenüber allein auf den ›enthistorisierten‹ Ansatz von Culture and Practical Reason bezieht und seine Analyse 1992 unverändert wiederveröffentlicht, bleibt unklar. Vor diesem Hintergrund ist Grohs Kritik, Sahlins’ Symbolismus sei die Grundlage einer nicht-historischen Analyseperspektive, bestenfalls irreführend, denn Sahlins’ Wende zur Kultur ist gerade die Grundlage seiner Geschichtstheorie. Für neuere Analysen, die Sahlins’ kulturhistorisches Spätwerk in Beziehung zu seiner Wirtschaftsethnologie setzen, siehe Mirowski 1994, 2000. Die möglicherweise zentrale Frage, die einem Vergleich zwischen Sahlins’ Wirtschaftsethnologie und seinem kulturhistorischen Spätwerk zu Grunde liegt, ist die nach dem Ertrag einer spezifisch wirtschaftsethnologischen gegenüber einer kulturtheoretischen Analyseperspektive, die das Ökonomische in sich einschließt. 36 Sahlins’ Konzept der humiliation wurde bislang, bis auf den wegweisenden Sammelband von Robbins/Wardlow 2005, in den Diskussionen über Sahlins’ Spätwerk nicht berücksichtigt.

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Vorentscheidungen, die Sahlins zu einem früheren Zeitpunkt seiner intellektuellen Entwicklung getroffen hat, aus einer theoriesystematischen Perspektive weiterführend sind. Dann kann auch untersucht werden, ob weiterführende Elemente der zu Sahlins konkurrierenden Theorien möglicherweise in Sahlins’ eigenem Ansatz verloren gehen und zu konzeptionellen Einseitigkeiten in Sahlins’ Werk beitragen, die sich auch auf sein kulturhistorisches Spätwerk auswirken. Meine Auseinandersetzung mit den Ansätzen von Maurice Godelier, Jean Baudrillard und Pierre Bourdieu, die Sahlins selektiv rezipiert hat, dient also nicht nur einem besseren Verständnis von Sahlins’ Werk, sondern auch einer Einschätzung über die konzeptionelle Plausibilität und empirische Fruchtbarkeit von Sahlins’ Denken. Sahlins rezipiert in unterschiedlichen Phasen seiner intellektuellen Entwicklung die Ansätze von Godelier, Baudrillard und Bourdieu, doch in welcher Beziehung Sahlins’ Denken tatsächlich zu diesen konkurrierenden Theorien steht, ist ungeklärt; darüber hinaus gibt es noch keine Untersuchungen über das Potenzial von Sahlins’ Denken im Vergleich zu dem Potenzial dieser Entwürfe.37 Natürlich erschöpft sich die Frage, inwieweit Sahlins’ Verknüpfung von Kultur und Geschichte weiterführend ist, nicht in einer theoriegeschichtlichen Analyse von Sahlins’ Gesamtwerk; diese ist aber eine Voraussetzung für eine weiterführende Untersuchung darüber, welches Potenzial Sahlins’ später kulturhistorischer Ansatz hat. Neben theorieinterner Konsistenz sind für mich insbesondere die Kriterien konzeptionelle Plausibilität und empirisches Potenzial von besonderer Bedeutung. Insbesondere das Kriterium der Plausibilität ist in gewisser Weise vage und scheint ein Einfallstor für einen subjektivistischen Relativismus zu sein. Ich halte aber eine detaillierte a-priori-Bestimmung dieses Kriteriums für problematisch, denn dann wird Sahlins’ Ansatz Beurteilungskriterien ausgesetzt, die er möglicherweise nicht erfüllen will. Ich halte Sahlins’ Ziel, eine handlungstheoretisch ›sensible‹ Geschichtstheorie zu entwickeln, die der symbolischen Organisation der Wirklichkeit eine große Bedeutung beimisst, für konzeptionell plausibel und empirisch weiterführend, doch damit ist die Frage, ob Sahlins’ Theorie tatsächlich plausibel und weiterführend ist, noch nicht beantwortet. So wenig gewinnbringend es sein mag, Beurteilungskriterien an Sahlins’ Werk heranzutragen, die seinem Denken fremd sind, so eingeschränkt ist zugleich eine ausschließlich theorieimmanente Perspektive. Ich versuche deshalb, Sahlins’ Ansatz in einen Dialog mit konkurrierenden Theorien zu bringen und Sahlins’ Werk produktiv zu erweitern. Die Wahl der Theorien ist nicht beliebig; einerseits habe ich Ansätze gewählt, mit denen sich Sahlins selbst auseinandergesetzt hat (insbesondere Godelier, Baudrillard, Bourdieu und Obeyesekere), andererseits diskutiere ich Ansätze, die in den von mir spezifizierten Themenschwerpunkten relevant sind und Sahlins’ Ansatz ›herausfordern‹. Ein Beispiel dafür ist Hayden Whites 37 Für einen Vergleich zwischen den Entwürfen von Sahlins, Eric Wolf und Johannes Fabian siehe Whitehead 2004; für einen Vergleich zwischen Sahlins und Geertz siehe Reyna 1999.

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Geschichtstheorie, über die Sahlins meines Wissens nicht gearbeitet hat, die aber eine besondere Relevanz für die Narrativität historischer Repräsentation hat. Auf einer zweiten in dieser Arbeit weniger bedeutsamen Ebene versuche ich, das empirische Potenzial von Sahlins’ Ansatz auszuloten. Empirischer Referenzpunkt ist insbesondere der Tod von James Cook auf Hawai’i 1779. Dabei geht es mir weniger um die Frage nach den ›tatsächlichen‹ Gründen für James Cooks Tod, sondern eher darum, inwieweit Sahlins’ Analysen weiterführend sind, wenn nicht nur konzeptionelle, sondern auch empirische Gesichtspunkte eine Rolle spielen.38 Meine werkgeschichtlich-systematische Analyse von Sahlins’ Gesamtwerk steht im Mittelpunkt der Kapitel II bis V. Der Kapiteleinteilung liegt die These zu Grunde, dass sich unterschiedliche Werkphasen unterscheiden lassen und dass es konzeptionelle Brüche in Sahlins’ Werk gibt, die es beispielsweise erlauben, von einer kulturalistischen und einer historischen Wende zu sprechen. Tatsächlich gehe ich davon aus, dass es einen Bruch zwischen Stone Age Economics und Culture and Practical Reason gibt; zudem ist nach dieser kulturalistischen Wende ein weiterer systematischer Einschnitt lokalisierbar, die von mir in Kapitel IV analysierte historische Wende. Allerdings geht es mir nicht nur darum, konzeptionelle Brüche in Sahlins’ ethnologischem Werk herauszuarbeiten, sondern auch Übergänge, die eine Einteilung in einzelne Werkphasen nicht obsolet werden lassen, eine solche Schematisierung aber problematisieren. In Kapitel II unterscheide ich beispielsweise zwischen Sahlins’ evolutionistischem Frühwerk und seiner 38 Auf einer empirischen Ebene konzentriere ich mich übrigens auf Sahlins’ Studien über die hawaiianische Kultur und Geschichte und vernachlässige demgegenüber weitgehend die empirischen Aspekte von Sahlins’ Arbeiten zu Fidschi (siehe dazu Sahlins 1957b, 1962a, 1983b, 1985b, 1987, 1991, 1993b, 2003a, 2003b, 2004a, 2005b). Aus einer konzeptionellen Perspektive ist dies weniger bedeutend, denn sowohl Sahlins’ Studien zu Fidschi als auch seinen Forschungen zu Hawaii liegen die gleichen kulturhistorischen Kategorien zu Grunde, und die an dieser Stelle relevanten kulturtheoretischen Aspekte von Sahlins’ Forschungen zu Fidschi habe ich in meine Analyse einbezogen. Aus einer empirischen Perspektive sind Sahlins’ Arbeiten zu Fidschi ebenso interessant wie seine Analysen zu Hawaii; eine detaillierte Analyse dieser empirischen Aspekte würde aber den Umfang meiner Untersuchung sprengen. Die Schwerpunktsetzung auf Sahlins’ Arbeiten zu Hawaii erklärt sich in erster Linie aus der theoriehistorischen Bedeutung der Kontroverse zwischen Sahlins und Obeyesekere über James Cooks Tod auf Hawai’i. Möglicherweise wäre es gewinnbringend, in einer Analyse von Sahlins’ Gesamtwerk seine Auseinandersetzung mit Fidschi mehr in den Mittelpunkt zu rücken, als ich dies getan habe, denn die einzige ›Feldforschungsmonographie‹, die Sahlins geschrieben hat, beruht auf einer Feldforschung in Fidschi (Sahlins 1962a). Die Veränderungen der erkenntnisleitenden Kategorien, mit denen Sahlins im Laufe seiner intellektuellen Entwicklung gearbeitet hat, ließen sich auch anhand seiner Erforschung der Kultur und Geschichte Fidschis veranschaulichen. – In Apologies to Thucydides (Sahlins 2004a) hat Sahlins zudem den anspruchsvollen Versuch unternommen, den Peloponnesischen Krieg (431-404 vor Christus) mit einem ›polynesischen Krieg‹ auf den Fidschi-Inseln zwischen den Königreichen Bau und Rewa (1843-1855) zu vergleichen (siehe auch Sahlins 2005b). Auch diese Studie kann an dieser Stelle nicht analysiert werden (siehe dazu Hornblower/Stewart 2005).

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Wirtschaftsethnologie; dabei sind die Übergänge zwischen Evolutionismus und anthropological economics fließend, und es gibt systematische Verknüpfungen und Gemeinsamkeiten zwischen den ersten Arbeiten, die Sahlins veröffentlicht hat, und seiner Wirtschaftsethnologie. Ähnliches gilt für die kulturalistische Wende, die bereits zur Zeit von Sahlins’ wirtschaftsethnologischer Werkphase einsetzt; auch die historische Wende ist bereits in Culture and Practical Reason angelegt. Zudem gibt es auch innerhalb der einzelnen Werkphasen, die ich unterscheide, konzeptionelle Unstimmigkeiten bzw. Brüche. Diese Einwände machen eine Unterteilung von Sahlins’ Werk in einzelne Phasen nicht gegenstandslos, doch es sollte beachtet werden, dass die von mir gezogenen Grenzen in Sahlins’ Werk, die durch die einzelnen Kapitel repräsentiert werden, auch eine komplexitätsreduzierende Funktion haben und nur teilweise im ›Werk selbst‹ liegen. In Kapitel V geht es, anders als in den Kapiteln II bis IV, nicht um eine eigene Werkphase in Sahlins’ theoriegeschichtlicher Entwicklung, sondern um die weitreichendste Debatte, die bis heute zu Sahlins’ Werk oder Aspekten des Werks geführt worden ist. Diese Debatte fällt zumindest zeitlich in eine neue Werkphase, die eng mit der historischen Phase verknüpft ist (siehe Kapitel IV) und wesentliche Elemente aus ihr übernimmt, diese aber für die Analyse eines Prozesses fruchtbar zu machen sucht, den Sahlins die ›Indigenisierung der Moderne‹ nennt. Sahlins arbeitet seit den späten 1980er Jahren an diesem Konzept, und viele Arbeiten, die Sahlins seitdem veröffentlicht hat, sind der Untersuchung dieses Phänomens gewidmet. In diese Werkphase fällt zeitlich die Kontroverse zwischen Sahlins und Obeyesekere, und auch systematisch gibt es enge Verknüpfungen zwischen der Sahlins-Obeyesekere-Debatte und Sahlins’ Konzept der ›Indigenisierung der Moderne‹. Die Arbeiten, in denen Sahlins an einer solchen Konzeption arbeitet, diskutiere ich in drei miteinander verknüpften Abschnitten in den Kapiteln III, IV und V. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass Sahlins in einer kürzlich erschienenen Arbeit darauf aufmerksam gemacht hat, dass es in seinem Konzept der ›Indigenisierung der Moderne‹ um drei miteinander verbundene systematische Elemente geht (Sahlins 2000b). In seinen Ausführungen über die transcultural society plädiert Sahlins für die Bedeutung kultureller Kontinuität und Systematizität; in seinen Analysen des develop-man-Phänomens argumentiert er für indigene Handlungsfähigkeit und gegen die determinierende Rolle des kapitalistischen Weltsystems für lokale kulturelle Kontexte; schließlich analysiert Sahlins das Phänomen des ›Kulturalismus‹, also kulturelle Revitalisierungsbewegungen. Diese drei Elemente seines Ansatzes setze ich in Beziehung zu den systematischen Schwerpunkten der Kapitel III bis V, um die Verschränkungen und Kontinuitäten in Sahlins’ Werk noch genauer herauszuarbeiten. Was Sahlins in seinem Konzept der transcultural society in den 1990er Jahren beschreibt, ist bereits das zentrale Thema von Culture and Practical Reason; das Konzept des develop-man ist eine Weiterentwicklung von Sahlins’ historischem

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Ansatz; Sahlins’ Analysen über kulturelle Revitalisierungsbewegungen schließlich sind thematisch eng verschränkt mit der Sahlins-Obeyesekere-Debatte.39 Im Mittelpunkt von Kapitel I steht die bislang kaum analysierte politische Kritik von Sahlins in den 1960er Jahren gegen den Vietnamkrieg sowie gegen die Instrumentalisierung der Sozialwissenschaften für den US-amerikanischen Expansionismus. Meine Vorgehensweise ist ›historisch‹, doch mir geht es nicht darum, eine intellectual biography zu schreiben, sondern die soziohistorischen Kontexte, auf die sich die politischen Schriften beziehen, zu beleuchten. Dieses Vorgehen dient einem besseren Verständnis des systematischen Gehalts von Sahlins’ politischen Schriften, denn viele der politischen Zusammenhänge, um die es in Sahlins’ politischer Kritik geht, sind heute möglicherweise weniger geläufig als zu der Zeit und in den historischen Kontexten, in denen Sahlins’ politische Schriften entstanden. Demgegenüber verfolge ich nicht das Ziel, die Entstehungsbedingungen der einzelnen Texte unter Einbeziehung soziohistorischer Kontexte und biographischer Information zu beleuchten. Betont sei zudem, dass die von mir vollzogene Beleuchtung der politischen Zusammenhänge, auf die sich Sahlins’ Kritik bezieht, keinerlei Originalität für sich beansprucht; mir geht es nur darum, Sahlins’ politische Kritik nachvollziehbarer zu machen. Auch in den darauf folgenden Kapiteln II bis V, in denen es um Sahlins’ ethnologisches Werk geht, beanspruche ich keineswegs, eine intellektuelle Biographie von Sahlins’ Werdegang zu schreiben. Ich bette Sahlins’ ethnologische Werkentwicklung weder in die sich wandelnden soziohistorischen Kontexte ein noch verknüpfe ich Sahlins’ intellektuelle Entwicklung mit seiner Biographie. Ein Grund dafür ist, dass wir nur sehr wenige auswertbare Informationen über Sahlins’ Biographie besitzen; eine Analyseperspektive, die Sahlins’ Biographie mit der Entwicklung seines ethnologischen Werks verknüpft, ist auf der Grundlage der verfügbaren Quellen noch nicht möglich. Aus diesem Grund sollte man vorsichtig sein, Veränderungen in Sahlins’ Ethnologie auf sein politisches Engagement zurückzuführen. In Kapitel VI argumentiere ich zwar, dass eine solche Vermutung durchaus angebracht ist, denn Sahlins’ Wende zur Kultur fällt in die Zeit nach seiner politischen Kritik gegen den Vietnamkrieg. Angebracht ist diese Vermutung nicht nur aufgrund dieser zeitlichen Koinzidenz, sondern auch aus einer systematischen Perspektive, denn ich interpretiere sowohl Sahlins’ Kritik gegen den Vietnamkrieg als auch seine kulturalistische Wende als Kritik am westlichen Universalismus. Allerdings sind diese Vermutungen noch kein Beweis für den biographischen Kausalzusammenhang, dass Sahlins’ Kritik am Vietnamkrieg seine Wende zur Kultur tatsächlich motiviert hat. Dies bleibt eine Vermutung, auch wenn Sahlins selbst im Einlei39 Beachtet werden sollte, dass Sahlins seit den späten 1980er Jahren keineswegs ausschließlich über Indigenisierungsprozesse arbeitet; in seiner jüngsten Monographie Apologies to Thucydides (Sahlins 2004a) geht es um die Weiterentwicklung seines historischen Ansatzes. Auch dies zeigt, dass eine Unterscheidung in Werkphasen weiterführend ist, aber nicht verabsolutiert werden sollte.

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tungskapitel zu Culture in Practice (Sahlins 2000a) einen solchen Zusammenhang nahelegt. Für meine Fragestellung ist es aber weniger bedeutsam, welchen biographischen Zusammenhang es zwischen Sahlins’ political writings und seiner Ethnologie gibt; von besonderer Relevanz ist vielmehr der von mir in Kapitel VI herausgearbeitete systematische Zusammenhang zwischen politischer Kritik und Ethnologie in Sahlins’ Gesamtwerk.40 Während ich in Kapitel I Sahlins’ politische Kritik aus einer eher historischen Perspektive beleuchte und in den Kapiteln II bis V die werkgeschichtlich-systematische Analyse von Sahlins’ ethnologischem Gesamtwerk im Mittelpunkt steht, dient Sahlins’ Werk in Kapitel VI eher als Ausgangspunkt für einige über sein Werk hinausgehenden systematischen Reflexionen über die ›Politik der Repräsentation‹. Dass dieses Problem eine Herausforderung für Sahlins’ Ansatz ist, zeige ich in Kapitel V, doch die indigenen Wissenschaftskonzepte, die ich in Kapitel VI analysiere, beziehen sich natürlich nicht speziell auf Sahlins’ Ethnologie, sondern auf westliche sozialwissenschaftliche Konzepte im Allgemeinen. Die Gliederung meiner Arbeit könnte nun den Eindruck erwecken, Sahlins’ Werk liefe gewissermaßen zwangsläufig auf das Problem der ›Politik der Repräsentation‹ zu. Ich möchte allerdings dem Eindruck entgegenwirken, dass sich die kulturund handlungstheoretischen Probleme, die mit Sahlins’ Verknüpfung von Kultur und Geschichte verbunden sind, auf die ›Politik der Repräsentation‹ reduzieren. Die ›Politik der Repräsentation‹ ist nur ein (wenn auch wichtiges) Element meiner übergeordneten Fragestellung, in welcher Weise Sahlins’ Verknüpfung von Kultur und Geschichte weiterführend ist.

40 In den Augen Peter C. Hermans ist es notwendig, die historischen Kontexte, in denen Theorien entstehen, stärker zu berücksichtigen und sich nicht allein auf die Erforschung von Beziehungen zwischen Theorien zu beschränken (Herman 2004b). Um zu einem vollständigeren Verständnis von theoriegeschichtlichen Entwicklungen zu gelangen, ist eine konsequente Historisierung von Theorien sicherlich sinnvoll. Es sei allerdings angemerkt, dass eine intellectual biography nur dann Erfolg versprechend ist, wenn eine breite Quellengrundlage zur Verfügung steht. Eine bloße ›Einbettung‹ von Sahlins’ Werk in wechselnde soziohistorische Kontexte liefert noch keinen Aufschluss darüber, welche Rolle diese Kontexte für die Werkentwicklung gespielt haben. Dass der Vietnamkrieg eine gewisse Rolle für Sahlins’ Werkentwicklung gespielt hat, scheint gesichert; warum Sahlins allerdings, anders als beispielsweise Eric Wolf, der den Vietnamkrieg gleichfalls kritisierte, in den 1970er Jahren ein kulturrelativistisches Konzept der Geschichte entwickelt hat (und nicht etwa einen weltsystemtheoretischen Entwurf), kann nicht unmittelbar aus den ›historischen Kontexten‹ abgeleitet werden. Für eine Diskussion dieses Problems siehe Dickstein 2004; für einen Aufriss neuerer Forschungsansätze in der new sociology of ideas siehe Camic/Gross 2001.

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3. Übersicht der Argumentation Im vorangegangenen Abschnitt habe ich bereits einige Einblicke in den Inhalt der einzelnen Kapitel gegeben. Im Folgenden möchte ich aufgrund einer besseren Übersichtlichkeit diese Einblicke vertiefen und die Grundlinien meiner Argumentation vorstellen. In Kapitel I untersuche ich Sahlins’ politische Schriften aus den 1960er Jahren. In den Jahren 1965 bis 1967 hat Sahlins vier Artikel verfasst, in denen es um den Vietnamkrieg, die Protestbewegung gegen den Krieg sowie um Project Camelot geht, ein vom US-amerikanischen Verteidigungsministerium geplantes Forschungsprojekt über das ›revolutionäre Potenzial‹ insbesondere lateinamerikanischer Staaten, das 1965 aufgrund von Protesten im In- und Ausland noch in der Planungsphase gestoppt wurde. Diese Artikel stehen in keiner unmittelbaren Beziehung zu Sahlins’ ethnologischem Werk; ich diskutiere sie deshalb in einem eigenständigen Kapitel. Dabei versuche ich insbesondere, den historischen Hintergrund der Themen, die in den einzelnen Artikeln analysiert werden, zu beleuchten, um zu einem reichhaltigeren Verständnis von Sahlins’ politischer Kritik beizutragen. In Abschnitt eins analysiere ich Sahlins’ Kritik am Vietnamkrieg. In einem ersten Schritt stelle ich die historischen Hintergründe des Vietnamkriegs bis zu seiner Eskalation mit dem Projekt Rolling Thunder 1965 vor. Diese Eskalation trug zu einem weitreichenden Protest gegen den Krieg an US-amerikanischen Universitäten bei, der so genannten teach-in-Bewegung. Sahlins war maßgeblich am ersten teach-in an der University of Michigan beteiligt. Die teach-in-Bewegung nahm, wie auch Sahlins selbst argumentiert, Elemente der Bürgerrechtsbewegung sowie der universitären Free Speech Movement in sich auf; ich gehe deshalb zumindest kursorisch auf diese Bewegungen und deren Relation zur teachin-Bewegung ein, stelle den Verlauf der Bewegung im Jahre 1965 vor und beleuchte schließlich auch Sahlins’ Haltung gegenüber dieser Bewegung. In einem dritten Schritt analysiere ich Sahlins’ Arbeiten über den Vietnamkrieg, die er unter anderem auf der Grundlage einer fact finding mission in Vietnam verfasste (I.1). Im Mittelpunkt des zweiten Abschnitts von Kapitel I steht Project Camelot. Bevor ich auf dieses Projekt eingehe, stelle ich zunächst die Diskussionen in der US-amerikanischen Cultural Anthropology über die Haltung der Ethnologie gegenüber dem Vietnamkrieg vor. Sahlins war keineswegs der einzige Ethnologe, der dem Vietnamkrieg gegenüber kritisch eingestellt war, doch viele Ethnologen waren sich keineswegs darüber im Klaren, ob Ethnologen in ihrer Eigenschaft als Ethnologen Kritik am Krieg üben sollten. Daran anschließend analysiere ich ansatzweise die geschichtlichen Wurzeln von Project Camelot, die zumindest bis in die Zeit des Zweiten Weltkriegs zurückreichen. In einer solchen Perspektive wird deutlich, dass es in der Planung von Project Camelot möglich war, auf eine mehr oder weniger etablierte Tradition einer Verknüpfung von Sozialwissenschaft und ›nationalen Interessen‹ zurückzugreifen. Unter anderem durch den Vietnamkrieg

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hatte sich Mitte der 1960er Jahre allerdings die Bewertung einer solchen Verknüpfung nachhaltig verschoben, und Project Camelot sah sich massiver Kritik aus dem In- und Ausland ausgesetzt (I.2). In den Kapiteln II bis V analysiere ich Sahlins’ ethnologisches Gesamtwerk. Kapitel II analysiert Sahlins’ Frühwerk bis einschließlich zur Veröffentlichung von Stone Age Economics. Zunächst analysiere ich in Abschnitt eins Sahlins’ Frühwerk, das ich als eine systematische Kombination der evolutionstheoretischen Ansätze von Leslie A. White und Julian H. Steward verstehe. Im Mittelpunkt stehen Sahlins’ Doktorarbeit über Social Stratification in Polynesia sowie Sahlins’ für den US-amerikanischen Neoevolutionismus wegweisende Synthese ›Evolution. Specific and General‹. Sodann analysiere ich Sahlins’ Auseinandersetzung mit dem britischen Strukturfunktionalismus; in ›The Segmentary Lineage‹ entwickelt Sahlins ein von den Analysen Evans-Pritchards und Fortes’ abweichendes evolutionäres Konzept segmentärer Lineagegesellschaften. Im dritten Schritt untersuche ich die Bedeutung von Karl Polanyis Wirtschaftstheorie für Sahlins’ Evolutionismus. Insbesondere in ›Political Types in Melanesia and Polynesia‹ und ›On the Sociology of Primitive Exchange‹ macht Sahlins Gebrauch von Polanyis substantivistischem Ansatz, doch tatsächlich ist der Einfluss von Polanyis Konzepten bereits in einigen von Sahlins’ früheren Arbeiten zu finden. Abschließend diskutiere ich die für Sahlins’ evolutionstheoretisches Frühwerk konstitutiven Entwicklungs- und Konfliktlinien, die auch noch für Stone Age Economics von Bedeutung sind (II.1). Im zweiten Abschnitt von Kapitel II untersuche ich Sahlins’ wirtschaftsethnologischen Ansatz. Grundlage für meine Analyse ist zum einen Stone Age Economics sowie zum anderen ein Artikel, der ursprünglich als Einleitung dazu geplant war (Sahlins 1969). Zunächst stelle ich die ›Formalismus-Substantivismus‹Debatte in der angelsächsischen Wirtschaftsethnologie der 1960er Jahre vor. Diese Kontroverse ist für Sahlins’ Wirtschaftsethnologie von besonderer Relevanz, denn Sahlins kontextualisiert Stone Age Economics in dieser Debatte und versteht sein Buch als ein Plädoyer für den Substantivismus. Im Anschluss daran analysiere ich die zentralen Aufsätze von Stone Age Economics, also seine Arbeiten über die ›ursprüngliche Überflussgesellschaft‹, die ›häusliche Produktionsweise‹ und den ›Geist der Gabe‹, entlang der wirtschaftsethnologischen Konzepte Konsum, Produktion und Verteilung. Insbesondere Sahlins’ Arbeit über ›The Spirit of the Gift‹ ist in meiner Interpretation für Sahlins’ wirtschaftsethnologischen Ansatz von besonderer Bedeutung und markiert eine ›kulturalistische‹ Öffnung seines Werks. Schließlich arbeite ich die zentralen Entwicklungs- und Konfliktlinien heraus, die Sahlins’ wirtschaftsethnologischen Ansatz prägen. Ich verdeutliche, dass sich in Sahlins’ Wirtschaftsethnologie unterschiedliche Theoriepositionen wie ökonomische Neoklassik, Polanyi’scher Substantivismus oder kultureller Relativismus überschneiden und deshalb Sahlins’ Versuch, eine anthropological economics zu entwerfen, destabilisieren (II.2).

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In Abschnitt drei konfrontiere ich Sahlins’ Wirtschaftsethnologie mit Maurice Godeliers strukturellem Marxismus. Ein Vergleich beider Ansätze ist nicht nur interessant, weil Godelier eine Position außerhalb der Formalismus-Substantivismus-Debatte einnimmt, sondern auch, weil Sahlins in seiner Kritik an der formalistischen Wirtschaftsethnologie Gebrauch von Godeliers Gedanken macht. Zudem lässt sich auf der Grundlage von Godeliers neueren Arbeiten, die nicht mehr im gleichen Maße ›marxistisch‹ sind wie Godeliers Frühwerk, ein konzeptioneller Schwachpunkt von Sahlins’ Ansatz herausarbeiten. Denn aus einer theorieexternen Perspektive fällt insbesondere die beinahe exklusive Bedeutung ins Auge, die Sahlins’ Konzept der Reziprozität in seiner Wirtschaftsethnologie spielt. Demgegenüber entwickelt Godelier, unter anderem im Anschluss an Annette Weiner, einen wirtschaftsethnologischen Ansatz, in dem nicht das Geben, sondern das Behalten von ›Dingen‹ von besonderer Bedeutung für Sozialität ist (II.3). Im Mittelpunkt von Kapitel III steht Sahlins’ kulturalistische Wende, also insbesondere drei Veröffentlichungen aus dem Jahre 1976: Culture and Practical Reason, ›Colors and Cultures‹ sowie (am Rande) The Use and Abuse of Biology. In Abschnitt eins untersuche ich Sahlins’ Kritik an unterschiedlichen Variationen ›praktischer Vernunft‹, insbesondere am ethnologischen Marxismus, am Strukturfunktionalismus, am Marx’schen Werk, an der Soziobiologie sowie an der Mauss’schen Ethnologie. Hier zeigen sich tiefgreifende systematische Differenzen zu Sahlins’ von Polanyi und Mauss beeinflusster Wirtschaftsethnologie, denn nun erscheint auch Stone Age Economics dem Utilitarismus, den Sahlins in Culture and Practical Reason kritisiert, nicht zu entkommen (III.1). Darauf aufbauend rekonstruiere ich im zweiten Abschnitt Sahlins’ kulturtheoretischen und semiotischen Ansatz, den Sahlins auf der Grundlage der Werke von Ferdinand de Saussure, Franz Boas und Claude Lévi-Strauss ausarbeitet. Zunächst arbeite ich die systematische Beziehung zwischen Sahlins’ Entwurf und Saussures strukturaler Linguistik sowie Lévi-Strauss’ Strukturalismus heraus. Daran anschließend analysiere ich ›Colors and Cultures‹, Sahlins’ Beitrag zur Debatte über die Universalität der Farbwahrnehmung, die für Sahlins’ semiotische Kulturtheorie von besonderer Relevanz ist. Sahlins versucht hier, an Saussures Konzept der Arbitrarität der Zeichen festzuhalten und zugleich den ›Referenten‹ in sein Konzept zu integrieren (III.2). Im dritten Abschnitt setze ich Sahlins’ Kulturtheorie in Beziehung zu Jean Baudrillards Frühwerk. Ich halte dies für sinnvoll, weil Sahlins in Culture and Practical Reason seine Argumentation in explizitem Anschluss an Baudrillard entwickelt, Baudrillard allerdings eher als Inbegriff der ›Postmoderne‹ oder des ›Poststrukturalismus‹ gilt, Theorieströmungen also, denen Sahlins heute sehr skeptisch gegenübersteht. Ich arbeite heraus, dass es fundamentale systematische Unterschiede zwischen Sahlins’ Kulturalismus und Baudrillards Frühwerk gibt. Baudrillards Utilitarismuskritik ist entscheidend beeinflusst von Georges Batailles Philosophie, währenddessen Sahlins’ Kritik am Utilitarismus in der Theorietradition des Strukturalismus verbleibt (III.3).

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In Abschnitt vier setze ich Sahlins’ in Culture and Practical Reason entwickelten kulturtheoretischen Entwurf in Beziehung zu der ethnologischen Kontroverse über kulturelle Systematizität. Insbesondere untersuche ich, in welcher Weise Sahlins’ Kulturalismus für diese Debatten fruchtbar gemacht werden kann. Dabei setze ich Culture and Practical Reason in Beziehung zu Lila Abu-Lughods Plädoyer, auf den ethnologischen Kulturbegriff zu verzichten, Arjun Appadurais Konzept kultureller Globalisierung sowie zu Sahlins’ eigenen Aussagen über kulturelle Systematizität in seiner Theorie über die ›Indigenisierung der Moderne‹. In meiner Auseinandersetzung mit Abu-Lughod arbeite ich heraus, dass die ethnologische Kritik am Kulturbegriff auf zumeist impliziten Grundlagen beruht, die ein Konzept kultureller Systematizität erfordern. Dies gilt auch für Appadurais Theorie kultureller Globalisierung; zudem entwickelt Appadurai seinen wirtschaftsethnologischen Entwurf aus den 1980er Jahren weiter, der wiederum Elemente von Sahlins’ Wirtschaftsethnologie aufgreift. Deshalb treten in Appadurais Ansatz einige vergleichbare systematische Probleme auf wie bereits in Sahlins’ Wirtschaftsethnologie, denn ähnlich wie Sahlins in seiner anthropological economics Reziprozität eine zu große Bedeutung beimisst, steht bei Appadurai zu sehr sein Konzept der global flows im Mittelpunkt, was zu einem reduzierten Verständnis kultureller Globalisierung führt. Sahlins’ Ausführungen über kulturelle Systematizität, die in einer Kontinuität zu Culture and Practical Reason stehen, können in Ergänzung zu Appadurais Ansatz zu einem reichhaltigeren Verständnis kultureller Verflechtungen beitragen. Schließlich gehe ich auf die Kritik an Culture and Practical Reason ein, dass Sahlins hier einen kulturalistischen Determinismus entwickeln würde. Diese Kritik übersieht die Motivation, gegenüber der Soziobiologie und anderen Variationen ›praktischer Vernunft‹ einen Ansatz zu entwickeln, der die Handlungsfähigkeit des Menschen gegenüber der Natur sicherstellen soll (III.4). Aus einer handlungstheoretischen Perspektive ist Sahlins’ Lösung des Determinismusproblems freilich unbefriedigend. In seinen Veröffentlichungen nach Culture and Practical Reason, die im Mittelpunkt von Kapitel IV stehen, versucht Sahlins allerdings, seinen Kulturalismus handlungstheoretisch zu dynamisieren und damit zu ›historisieren‹, ihn also für die Analyse kulturellen Wandels fruchtbar zu machen. Im Mittelpunkt von Abschnitt eins steht der systematische Zusammenhang von Kultur und Geschichte in Sahlins’ kulturhistorischem Ansatz. Ausgangspunkt für meine Analyse ist Culture and Practical Reason, denn während dieses Werk berechtigterweise dafür kritisiert worden ist, keine explizit handlungstheoretische Perspektive zu entwickeln, ist bereits hier zumindest implizit Sahlins’ Wende zur Geschichte angelegt, denn wie Sahlins im Anschluss an Lévi-Strauss argumentiert, steht kulturelle Kontinuität nicht im Gegensatz zur Geschichte, sondern ist selbst ein Produkt historischer Prozesse. Sahlins dynamisiert in seinen historischen Arbeiten die strukturale Linguistik Saussures und entwickelt einen Ansatz, in dem der permanente Wandel kultureller Kategorien im Mittelpunkt steht (IV.1). Im zweiten Abschnitt untersuche ich Sahlins’ Über-

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legung, dass unterschiedliche Kulturen jeweils unterschiedliche Historizitäten haben. An dieser Stelle beleuchte ich Sahlins’ wegweisende Analyse über die Umstände, die 1779 auf Hawai’i zum Tod James Cooks geführt haben. Ich analysiere Sahlins’ Untersuchung insbesondere vor dem Hintergrund seiner Studien polynesischer Mythologien sowie seiner Rezeption der Entwürfe von Claude Lévi-Strauss und Pierre Clastres (IV.2). In Abschnitt drei setze ich Sahlins’ Werk in Beziehung zu Pierre Bourdieus Theorie der Praxis, insbesondere Bourdieus Habituskonzept. Dies rechtfertigt sich dadurch, dass Sahlins in Islands of History Gebrauch von Bourdieus Konzept des Habitus macht. Wie ich argumentieren werde, stehen die Ansätze von Sahlins und Bourdieu zwar in einer gewissen theoriegeschichtlichen Kontinuität zu Lévi-Strauss’ Strukturalismus und können beide als Kritik am Utilitarismus verstanden werden, offenbaren aber fundamental unterschiedliche Analyseperspektiven (IV.3). In Abschnitt vier analysiere ich, wie bereits in Kapitel III, einen Aspekt von Sahlins’ Ansatz über die ›Indigenisierung der Moderne‹. Während Sahlins’ Analysen kultureller Systematizität als Kritik an Versuchen gelesen werden können, den Kulturbegriff ›poststrukturalistisch‹ aufzulösen bzw. ihn gänzlich aus dem Repertoire ethnologischer Theorie verschwinden zu lassen, ist seine Entwicklung des develop-man-Konzepts in erster Linie eine Kritik an weltsystemtheoretischen Ansätzen. Dieses Konzept steht sowohl empirisch als auch konzeptionell in einer Kontinuität zu seinen kulturhistorischen Studien. Allerdings wäre die Annahme falsch, Sahlins würde seinen Ansatz in seiner Auseinandersetzung mit Prozessen kultureller Globalisierung nicht produktiv erweitern; im Gegenteil kann Sahlins’ in der Sekundärliteratur vernachlässigtes Konzept der humiliation als konzeptioneller Bruch in seinem Werk betrachtet werden. Ich versuche, Sahlins’ eher kursorische Ausführungen über den Prozess der humiliation handlungstheoretisch zu systematisieren und im Anschluss an Bourdieus Konzept des Habitus weiterzuentwickeln (IV.4). In Kapitel V analysiere ich die Sahlins-Obeyesekere-Debatte über den Tod von James Cook auf Hawai’i anhand von vier eng miteinander verknüpften Problemfeldern. Zunächst untersuche ich Sahlins’ und Obeyesekeres Umgang mit den zur Verfügung stehenden historischen Quellen (V.1). Im Mittelpunkt des zweiten Abschnitts stehen die jeweiligen Aussagen über Kultur und soziale Praxis, also der Frage, welche Rolle Kreativität und pragmatische Aspekte des Handelns in den beiden Ansätzen spielen (V.2). Drittens untersuche ich den Streitpunk über die Relativität von Kultur (V.3); schließlich beleuchte ich die ›Politik der Repräsentation‹ (V.4). In der Analyse der Kontroverse zwischen Sahlins und Obeyesekere kehren einige konzeptionelle Probleme wieder, die bereits in den Kapiteln III und IV eine Rolle gespielt haben, also insbesondere die Frage, inwieweit Sahlins’ Konzept kultureller Systematizität und Kontinuität weiterführend sein kann. Ich versuche, meine Diskussionen in den Kapiteln III und IV für den Nachweis fruchtbar zu machen, dass Sahlins’ Ansatz vielfältiger ist, als dies in der Debatte zwischen Sahlins und Obeyesekere sowie in den meisten der zahlreichen Kom-

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mentare und Analysen über diese Kontroverse erscheint. Dies gilt nicht nur für Sahlins’ Handlungstheorie, also seinem Konzept kultureller Systematizität sowie seinen Aussagen über develop-man und humiliation, die in der SahlinsObeyesekere-Debatte nur unzureichend analysiert worden sind. Darüber hinaus offenbart Sahlins’ wegweisende Studie über die Geschichte Hawaiis im 19. Jahrhundert (Sahlins 1992a) einen reflektierteren Umgang mit den historischen Quellen, als Obeyesekere dies Sahlins vorwirft. Zudem ist Sahlins’ Analyse über ›The Sadness of Sweetness‹ bislang nur vereinzelt rezipiert worden (Sahlins 1996). Schließlich verknüpfe ich im vierten Abschnitt die Debatte zwischen Sahlins und Obeyeskere mit Sahlins’ Konzept über die ›Indigenisierung der Moderne‹. Die Sahlins-Obeyesekere-Debatte erhält ihre Brisanz vor dem Hintergrund einiger hawaiianischer Intellektueller, die Sahlins die Legitimität und die Fähigkeit absprechen, Aussagen über die hawaiianische Kultur und Geschichte zu machen. Eine Ironie dieser hawaiianischen Kritik ist allerdings, dass Sahlins selbst in seinem Ansatz über die ›Indigenisierung der Moderne‹ kulturelle Revitalisierungsbewegungen untersucht. Die Forderung hawaiianischer Intellektueller, dass Sahlins nicht mehr Aussagen über die hawaiianische Geschichte und Kultur machen sollte, lässt sich als Ausdruck einer kulturellen Revitalisierung konzeptualisieren, die Sahlins in seiner Theorie über die ›Indigenisierung der Moderne‹ in den Mittelpunkt rückt. Dies wirft die Frage auf, inwieweit Sahlins’ Ansatz hinsichtlich dieser ›Politik der Repräsentation‹ noch weiterführend sein kann. Im Mittelpunkt von Kapitel VI stehen einige Elemente der ›Politik der Repräsentation‹, deren Diskussion zu einem reichhaltigeren Verständnis von Sahlins’ Werk im Kontext der Kontroversen über die ›Politik der Repräsentation‹ beitragen können. In Abschnitt eins kehre ich zurück zu Sahlins’ Kritik am Vietnamkrieg und an Project Camelot, denn es ist erstaunlich, dass Sahlins von ›postkolonialer‹ und ›indigener‹ Seite als Vertreter eines westlichen Universalismus kritisiert wird, obwohl Sahlins’ politische Schriften als eine Kritik am westlichen Universalismus aufgefasst werden können. Um Klarheit in diese eigentümliche Relation zwischen Sahlins’ politischer Kritik und der ›postkolonialen‹ und ›indigenen‹ Kritik an Sahlins zu bringen, analysiere ich zunächst den Zusammenhang zwischen Sahlins’ political writings und seinem ethnologischen Werk. Wie ich herauszuarbeiten suche, geht Sahlins in seinem Gesamtwerk von einem relativ unproblematischen Zugang zu fremden kulturellen Realitäten aus und versteht den Repräsentationsprozess selbst nicht als einen politischen Akt. Im Rahmen indigener Wissenschaftskonzepte in Ozeanien wird der westliche Prozess ethnographischer und historischer Repräsentation nicht-westlicher Kulturen, also letztlich die Ethnologie selbst, allerdings als Bestandteil eines neokolonialen Systems angesehen (VI.1). In Abschnitt zwei untersuche ich die Rolle von Narrativität im Repräsentationsprozess. Seitens indigener Forscher werden ›neue‹ Ausdrucksmöglichkeiten gefordert, die traditionelle westliche narrative Strukturen aufbrechen. Diese Forderung ist allerdings nicht nur seitens indigener Forscher erhoben worden, sondern wird auch im Rahmen der westlichen Geschichtswissenschaft

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und Ethnologie diskutiert. Eine besondere Bedeutung in diesen Diskussionen hat die Geschichtstheorie Hayden Whites, die ich für die ›Politik der Repräsentation‹ fruchtbar zu machen suche (VI.2). Im Anschluss daran untersuche ich die Rolle von Konzepten für die ›Politik der Repräsentation‹, denn ethnographische und historische Texte können nicht auf ihre narrativen Strukturen reduziert werden, sondern operieren auch mit Konzepten, die eng mit narrativen Strukturen verwoben sein mögen, in diesen aber nicht aufgehen. Im Anschluss an Henrietta Moore argumentiere ich, dass so genannte concept-metaphors oftmals keinen realen Referenten haben, obwohl sie sich auf reale Ereignisse beziehen. Die Spannungen zwischen unterschiedlichen Verwendungsweisen von concept-metaphors sind ›politisch‹ und sollten als Teil der ›Politik der Repräsentation‹ systematisiert werden (VI.3). Die Auseinandersetzungen über die ›Politik der Repräsentation‹ entfalten interkulturelle Argumentationsräume, die die Grundlage für eine ›Dekolonialisierung‹ westlicher Sozialwissenschaften sein können. Ich gehe deshalb abschließend der Frage nach, inwieweit eine solche Dekolonialisierung wahrscheinlich oder überhaupt möglich ist. Zwar unterscheiden sich westliche und nicht-westliche Wissenschaftsformen teilweise weniger stark, als dies in den bisweilen polemischen Kontroversen erscheint; zudem gibt es bedeutende Plattformen eines interkulturellen wissenschaftlichen Dialogs, der zu einer gegenseitigen Befruchtung westlicher und nicht-westlicher Wissenschaftskonzepte beitragen kann. Allerdings sind diese Plattformen selbst Teil eines westlichen Wissenschaftssystems. Der Dialog zwischen westlichen und nicht-westlichen Wissenschaftskonzepten trägt deshalb möglicherweise zu einer Stabilisierung westlicher Wissenschaftsstandards bei; der interkulturelle Dialog wäre selbst Teil des von indigenen Forschern kritisierten ›neokolonialen‹ Systems (VI.4). Wie ich im Schlusskapitel aber argumentieren werde, sollten interkulturelle Analysen nicht auf die ›Politik der Repräsentation‹ reduziert werden; dies zeigt ein nochmaliger Blick auf Sahlins’ Gesamtwerk, dessen konzeptioneller Reichtum sich nicht in einer ›Politik der Repräsentation‹ auflöst.

Kapitel I: Die politische Kritik

»The myth of value-freedom in physical science disappeared in the atomic cloud. In social science it is fading, as we have seen, in the dust of Camelot, the blood of Vietnam, and the duplicity of the CIA« (Berreman 2004: 49).

In ihrer Internetausgabe vom 2. Juni 2005 vermelden die BBC News: »A CIA scheme to sponsor trainee spies secretly through US university courses has caused anger among UK academics«.1 Das Pat Roberts Intelligence Scholars Program (PRISP) vergibt Stipendien in einer Höhe von bis zu 25.000 US-Dollar an Studierende, »who pursue studies in critical language specialties, area studies, and technical and scientific specialties«.2 Die Stipendiaten sind ehemalige Praktikanten in US-amerikanischen geheimdienstlichen Behörden und sollten eine Laufbahn in einem Geheimdienst anstreben; das Programm richtet sich nicht nur, aber auch an Studierende der Ethnologie. Es ist nicht bekannt, welche Personen an PRISP teilnehmen, und die Studierenden, die ein Stipendium erhalten, sind nicht verpflichtet, darüber Rechenschaft gegenüber ihren Professoren abzulegen. Nachdem Einzelheiten des Programms bekannt werden, bezeichnet es die britische Association of Social Anthropologists als ethisch ›gefährlich‹; ihr Präsident John Gledhill argumentiert in einem Interview mit BBC News: »Anthropologists go all over the world for long periods and gain detailed knowledge of places, such as Iraq or South America. This is information which would be useful in security circles, which is not what anthropology is for«.3 Gledhill äußert zudem die Befürchtung, dass die Ethnologie in anderen Ländern nun wieder in Misskredit geriete, wenn die Menschen davon ausgingen, dass einige amerikanische Ethno-

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http://news.bbc.co.uk/2/hi/uk_news/education/4603271.stm vom 30. Juni 2006. https://www.cia.gov/careers/jobs/PRISP.html vom 30. Juni 2006. http://news.bbc.co.uk/2/hi/uk_news/education/4603271.stm vom 30. Juni 2006.

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logen für die CIA arbeiteten.4 Der US-amerikanische Ethnologe David Price kritisiert PRISP als eine Fortführung des National Security Education Program (NSEP), das Studierende mit großzügigen Stipendien zum Studium von in demand languages ausstattet, damit aber die Auflage verknüpft, dass Stipendiaten später für national security agencies arbeiten sollen (Price 2005). Wie auch NSEP ist in Price’ Augen PRISP ein Kennzeichen für die zunehmende Verflechtung zwischen den Sicherheitsinteressen des (US-amerikanischen) Staates und den Forschungsinteressen der amerikanischen Sozialwissenschaften. Im Gegensatz dazu verteidigt der US-amerikanische Ethnologe Felix Moos, der an der Entwicklung von PRISP beteiligt war, das CIA-Stipendienprogramm. »The United States is at war. Thus, to put it simply, the existing divide between academe and the intelligence community has become a dangerous and very real detriment to our national security at home and abroad«.5 John Gledhill antwortet darauf wie folgt: »I find it difficult to decide whether I find the paranoia inherent in this perspective more disturbing than the way in which it threatens to silence debate about the less noble aspects of recent Anglo-American foreign policy, but what I am convinced of is that anthropologists need to maintain a strong critical distance from this kind of proposition«.6

In gewisser Weise erinnern die Kontroversen um PRISP an Project Camelot, ein vom US-amerikanischen Verteidigungsministerium geplantes Forschungsprojekt zum ›revolutionären Potenzial‹ in erster Linie lateinamerikanischer Staaten. Die Planungen für dieses Projekt führten zu einer zwischenzeitlichen Krise im amerikanisch-chilenischen Verhältnis und erschwerten die Arbeit von amerikanischen Ethnologen in nicht-westlichen Gesellschaften auf Jahre hinaus. In den amerikanischen Sozialwissenschaften der späten 1960er Jahre spielte Project Camelot eine große Rolle in den Debatten über wissenschaftliche Ethik und über die Unabhängigkeit wissenschaftlicher Praxis von staatlichen Interessen. In der amerikanischen Cultural Anthropology wurde als Reaktion auf diese Debatten unter anderem ein Ethikkommitee eingesetzt und 1971 ein ›Statement on Ethics‹ verabschiedet. In der Cultural Anthropology setzte in den 1960er Jahren eine vergleichbare Entwicklung ein wie in der britischen Social Anthropology, in der die Verknüpfung zwischen Ethnologie und Kolonialismus in den Mittelpunkt des Interesses rückte (siehe Asad 1973). Dabei waren die engen Verbindungen zwischen Ethnologie und den vielzitierten ›nationalen Interessen‹ sowohl im Fall der amerikanischen als auch der britischen Ethnologie weder neu noch unbekannt, doch im veränderten soziokulturellen Kontext der 1960er Jahre stand die Instrumentalisierung der Ethnologie für staatliche Ziele mehr in Frage als beispielswei4 5 6

http://news.bbc.co.uk/2/hi/uk_news/education/4603271.stm vom 30. Juni 2006. Zitiert nach http://news.bbc.co.uk/2/hi/uk_news/education/4603271.stm vom 30. Juni 2006. http://www.theasa.org/ethics/ethics_blog_prisp.htm vom 30. Juni 2006.

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se zur Zeit des Zweiten Weltkriegs. Zumindest in der amerikanischen Ethnologie spielte auch der Vietnamkrieg eine besondere Rolle in der zunehmenden Kritik an der institutionellen und konzeptionellen Verknüpfung der amerikanischen Sozialwissenschaften und der US-Außenpolitik. – Im Folgenden stelle ich Marshall Sahlins’ politische Schriften über den Vietnamkrieg und über Project Camelot vor, die in seiner Sammlung Culture in Practice enthalten sind.7 In Abschnitt eins geht es um Sahlins’ Kritik am Vietnamkrieg. Zunächst stelle ich die historischen Hintergründe für den Vietnamkrieg dar. Im Anschluss daran beleuchte ich Sahlins’ Rolle in der teach-in-Bewegung und bette die Bewegung in den historischen Kontext der amerikanischen Bürgerrechts- und Studentenbewegung ein. Schließlich analysiere ich Sahlins’ Studien über den Vietnamkrieg. Im Mittelpunkt von Abschnitt zwei steht Project Camelot. Zunächst gehe ich auf die Kritik amerikanischer Ethnologen am Vietnamkrieg ein, analysiere einige historische Wurzeln von Project Camelot und skizziere schließlich das Projekt selbst sowie die Gründe für sein Scheitern. An dieser Stelle stelle ich auch Sahlins’ Kritik an Project Camelot vor.

1. Der Protest gegen den Vietnamkrieg Warum kämpften die Vereinigten Staaten in Vietnam? Der lange Schatten des Vietnamkriegs reicht bis in die Gegenwart. Der Demokratische Präsidentschaftskandidat John Kerry betonte während seines Wahlkampfs 2004, dass auch er in Vietnam gekämpft und sein Leben riskiert habe. Er wollte in dieser Hinsicht nicht in die Nähe von Bill Clinton gerückt werden, der 1992 in große Schwierigkeiten geriet, als bekannt geworden war, dass er versucht hatte, um den Kriegsdienst in Vietnam herumzukommen (Micklethwait/Wooldridge 2005: 362). Die persönliche Haltung zum Krieg in Vietnam und dessen Stellenwert in der eigenen Biographie kann in den USA immer noch politische Karrieren vorantreiben oder gefährden. Auch nach dem 11. September 2001 findet eine Neubewertung des Vietnamkriegs statt, und es stehen nicht nur kritische Stimmen zum Krieg im Mittelpunkt. Bereits 1980 erklärte der republikanische Präsidentschaftskandidat Ronald Reagan, der Vietnamkrieg sei ein noble cause gewesen, und 1991 stellte George Bush Senior eine Verbindung zwischen dem Golfkrieg und dem Krieg in Vietnam her, als er verkündete: »by God, we’ve ki7

Im Einzelnen handelt es sich um Sahlins 1965a, 1965e, 1966a, 1966b, 1967; 1965a ist in 1966a enthalten. ›The Future of the National Teach-In. A History‹ (Sahlins 1965e) wurde ursprünglich für das New York Times Magazine geschrieben. »However, the Times refused the article, I believe because it didn’t say enough about the future« (CP: 205), und der Abdruck in Culture in Practice (CP: 209-217) ist die Erstveröffentlichung dieser Arbeit. Wenn ich mich auf Sahlins’ politische Schriften beziehe, zitiere ich im Folgenden aus Culture in Practice.

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cked the Vietnam Syndrome once and for all« (zit. nach Buzzanco 1999: 134). An der Historisierung des Vietnamkriegs zeigen sich tiefsitzende politische und kulturelle Verwerfungen in der US-amerikanischen Gesellschaft, die sich nicht nur im ›politischen Feld‹ oder in geschichtswissenschaftlichen Debatten zeigen, sondern auch in der künstlerischen Aufarbeitung des Krieges: Kriegsverherrlichenden Filmen wie Rambo III stehen Antikriegsfilme gegenüber wie Oliver Stones Vietnamkriegstrilogie oder Francis Ford Coppolas Apocalypse Now. Der Vietnamkrieg war der längste Krieg, den die USA jemals ausfochten. Zugleich war er für die Amerikaner wohl demoralisierender als jeder andere und trug dazu bei, dass die USA im Laufe der späten 1960er Jahre in eine tiefe innerstaatliche Krise gerieten, die als »Civil War of the 1960s« bezeichnet worden ist (siehe Isserman/Kazin 2000). Zwischen 1961 und 1975 starben in Vietnam mehr als 58.000 amerikanische Soldaten und Millionen von Vietnamesen. In Südvietnam wurden 9.000 von 15.000 Dörfern zerstört sowie Millionen Hektar Land unbrauchbar gemacht. Allein von 1965 bis 1967 warf die amerikanische Luftwaffe über 400.000 Tonnen Bomben auf Nordvietnam ab. Der Krieg hinterließ allein in Südvietnam etwa 900.000 Waisen und eine Million Witwen; unter den Spätfolgen des Kriegs leidet das Land bis heute. Als US-Amerikaner erstmals in Vietnam kämpften, taten sie dies ironischerweise als Verbündete von Ho Chi Minhs neu gegründeter ›Liga für die Unabhängigkeit Vietnams‹. 1941 marschierte Japan in Vietnam ein; »French colonialists offered little resistance to the Japanese invaders, but Ho Chi Minh and the Communists formed a national resistance movement, opposing both the Japanese occupation and French colonialism« (Isserman/Kazin 2000: 68). Die Amerikaner statteten Ho Chi Minhs Armee mit Medikamenten und Waffen aus und brachten ihnen Guerillataktiken bei. Nachdem die Japaner aus Vietnam zurückgedrängt worden waren, rief am 2. September 1945 Ho Chi Minh in Hanoi die Demokratische Republik Vietnam (DRV) aus, doch die Franzosen wollten ihren vormaligen Kolonialbesitz in Indochina nicht aufgeben. Frankreich fand dabei die Unterstützung der Vereinigten Staaten; während Präsident Roosevelt den Anspruch Frankreichs auf seinen Kolonialbesitz in Indochina kritisiert hatte, änderte sich die Haltung der USA mit ihrem neuen Präsident Harry S. Truman zum Kolonialismus nach dem Tod Roosevelts im April 1945. »Zwischen 1945 und 1950 bewegte sich die amerikanische Indochinapolitik von einer Frankreich zuneigenden Neutralität hin zu einer aktiven Unterstützung der Kolonialmacht und ihres Krieges gegen die Viet Minh« (Frey 1998: 20). Zwar bat Ho Chi Minh Truman 1946 um Unterstützung für seine Unabhängigkeitsbestrebungen, doch Truman antwortete ihm auf keine seiner Bitten. Indochina war zunächst gegenüber der Verteidigung Westeuropas, also auch Frankreichs, von geringer Bedeutung. Truman verkündete 1947 die Doktrin der ›Eindämmung‹ [containment] und sagte im Kampf gegen den Kommunismus allen Völkern die Unterstützung der USA zu; nun sei für die Völker der Erde der Moment gekommen, sich zwischen Freiheit und Unterdrückung zu entscheiden. Zunächst war der Fokus der USA allerdings auf Eu-

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ropa gerichtet; der Marshall-Plan von 1947 war ein zentrales Instrument antikommunistischer Politik. Im Januar 1949 versprach Truman in seiner inaugural address den Ländern Asiens, Afrikas, des Mittleren Ostens und Lateinamerikas die Unterstützung der USA zu; dies markierte einen wichtigen Schritt in einer fundamentalen Verlagerung der amerikanischen Außenpolitik. Um den Kommunismus zurückzudrängen, griffen die USA in Korea ein und unterstützten Frankreich finanziell in dessen Indochinakrieg. Die Dominotheorie schien zu erfordern, der expansionistischen Sowjetunion aggressiv gegenüberzutreten – also nicht nur in Europa, sondern überall auf der Welt. Im Lauf der 1950er Jahre sahen sich die Vereinigten Staaten einem rasanten Wandel in den Ländern der ›Dritten Welt‹ gegenüber. In den späten 1950er Jahren argumentierten die politischen Führer der Sowjetunion, dass das schnelle wirtschaftliche Wachstum des Landes Modellcharakter für die new states haben könne – nicht aber der von den USA propagierte Kapitalismus. »With programs involving foreign aid, scientific advising, trained personnel, and a combination of agricultural and industrial planning, America would have to demonstrate to the ›emerging countries‹ that development along liberal, capitalist lines could alleviate poverty and raise living standards at least as fast as revolutionary and Marxist alternatives« (Latham 2000: 28).

Nach der französischen Niederlage in Dien Bien Phu unterzeichneten die DRV und Frankreich im Rahmen der Genfer Indochinakonferenz am 20. Juli 1954 einen Waffenstillstand; Vietnam wurde entlang des 17. Breitengrads geteilt, wobei diese Demarkationslinie als provisorisch verstanden wurde. Der Norden wurde fortan von den Viet Minh kontrolliert, Südvietnam von Bao Dai, einem Verbündeten Frankreichs. In einem Schlussdokument, das allerdings weder die USA noch das Bao-Dai-Regime unterzeichneten, wurden für den Juli 1956 Wahlen vereinbart, um das Land wieder zu vereinigen. In Südvietnam setzte Ngo-DinhDiem, der 1954 von Bao-Dai mit der Regierungsbildung beauftragt worden war, knapp ein Jahr später Bao-Dai mit einer manipulierten Volksabstimmung ab und erklärte sich selbst zum Staatsoberhaupt. Dass die Wahlen manipuliert waren, war für die Machthaber in Washington offensichtlich wenig bedeutsam; als wichtig galt vielmehr Diems anti-kommunistische Haltung und sein Durchsetzungsvermögen. Im Mai 1956 lehnte Diem die in Genf geplanten gesamtvietnamesischen Wahlen mit der Begründung ab, Südvietnam habe das Waffenstillstandsabkommen nicht unterzeichnet. Hier war sich Diem mit den USA einig, die ebenfalls die in Genf beschlossenen Wahlen verhindern wollten. Nachdem weder die Sowjetunion noch China oder die Internationale Kontrollkommission einen ernsthaften Widerstand gegen Diems Ablehnung von Wahlen zeigten, war die Existenz des südvietnamesischen Staates vorerst faktisch gesichert, und die Grenze zwischen Nord- und Südvietnam schien ihren provisorischen Charakter verloren zu haben. Die amerikanische Vietnampolitik verfolgte in den folgenden

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Jahren zwei Ziele: Erstens galt es, anti-kommunistische Kräfte in Südvietnam zu stärken, um eine dauerhafte nationalistische Alternative zu der kommunistischen Regierung in Nordvietnam zu schaffen; zweitens »mußte eine regionale Sicherheitsarchitektur geschaffen werden, die eine Ausdehnung des kommunistischen Einflusses verhindern konnte« (Frey 1998: 45). Der damalige Senator John F. Kennedy erklärte 1956, Vietnam sei der Eckpfeiler der ›Freien Welt‹ in Südostasien, »der Schlußstein im Bogen, der Stopfen im Deich. Es ist unser Kind, wir dürfen es nicht verlassen, und wir können seine Bedürfnisse nicht ignorieren« (zit. nach Frey 1998: 51-52). Der amerikanischen Unterstützung Südvietnams lag der Kampf gegen den Kommunismus zu Grunde, und man versuchte, ›amerikanische‹ Werte und Institutionen – insbesondere Demokratie und Kapitalismus – in die emerging areas zu transportieren. Zwischen 1955 und 1961 erhielt Südvietnam eine amerikanische Wirtschaftshilfe von 1,447 Milliarden US-Dollar sowie 508 Millionen US-Dollar Militärhilfe. Zudem waren die Vereinigten Staaten beim Umbau des südvietnamesischen Staatsapparates und des Militärs beteiligt. Beispielsweise schickte die Michigan State University im Auftrag der CIA fünfzig Mitarbeiter nach Südvietnam, um die Bürokratie zu reorganisieren (Frey 1998: 56); die Military Assistance and Advisory Group übernahm die Ausbildung der südvietnamesischen Streitkräfte. Südvietnam war auf dem Papier eine Demokratie: In der Theorie wurde der Präsident in freien Wahlen vom Volk gewählt, es gab ein Parlament, unabhängige Rechtsprechung sowie einen Grundrechtekatalog. Allerdings verstand sich Diem eher als autokratischer Herrscher, der die entscheidenden Posten der Regierung von seinen Familienmitgliedern besetzen ließ und ein schwer durchschaubares Geflecht von Vetternwirtschaft und Korruption errichtete. 1955 initiierte Diem eine Hetzjagd auf angebliche Kommunisten, und 1956 erließ er eine Verordnung, die jedem Haft androhte, der dem Staat gefährlich werden könne (Frey 1998: 59-60). Im Mai 1959 erließ Diem ein Gesetz zur Installierung von Militärtribunalen. Zwischen 1954 und 1960 soll es bis zu 150.000 politisch Inhaftierte in Südvietnam gegeben haben, Tausende wurden getötet. Das Regime machte sich zudem in der Landbevölkerung unpopulär, weil es die dörflichen Selbstverwaltungsorgane abschaffte und ab Juli 1959 die Bevölkerung im Mekong-Delta in so genannte Agrovilles umsiedelte, um sie besser kontrollieren zu können. Allerdings handelte es sich hier eher »um Zwangsumsiedlungen der Landbevölkerung in befestigte Dörfer« (Frey 1998: 62). Nachdem eine Gruppe ehemaliger vietnamesischer hoher Beamter im April 1960 die Machenschaften des Regimes kritisierte, wurden oppositionelle Journalisten, Studenten sowie weitere Intellektuelle verhaftet – mit der Begründung, sie unterhielten kommunistische Verbindungen. »Diem regime’s methods of governing were less than democratic. His American-trained police arrested tens of thousands of political opponents, many of whom were tortured and executed. His government reclaimed land that had been turned over to the peasants

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by the Viet Minh during the first Indochinese war and distributed it to wealthy landlords and Catholic refugees« (Isserman/Kazin 2000: 74).

Dennoch war die Annahme weit verbreitet, dass das Regime in Südvietnam den Kommunisten im Norden vorzuziehen sei. Dabei wurde allerdings die Perspektivität der Wahrnehmung missachtet: »American policymakers looked at Ho and saw a Communist; Vietnamese peasants looked at Ho and saw a patriot« (Isserman/Kazin 2000: 74). Seit 1959 unterstützte die Regierung in Hanoi den wachsenden lokalen Widerstand gegen die südvietnamesische Regierung. 1960 wurde die National Front for the Liberation of South Vietnam (NLF) gebildet, in der sich nicht nur Kommunisten versammelten, sondern auch bürgerliche Oppositionelle, Buddhisten, Intellektuelle und Katholiken; bis 1968 agierte sie weitgehend unabhängig von Hanoi und verfolgte insbesondere das Ziel einer Wiedervereinigung Vietnams. Anfang der 1960er Jahre schlossen sich Tausende von regimekritischen Vietnamesen der NLF an, und während es 1958 nach Einschätzungen der CIA noch rund 1700 Rebellen gegeben hatte, verfügte die NLF 1964 in den Augen des Pentagons über eine Armee von über 50.000 Soldaten. Der zunehmende Einfluss der NLF führte dazu, dass Anfang der 1960er Jahre Südvietnam im Grunde dreigeteilt war – nur die Küstenregionen standen unter der Kontrolle der Regierung, während das Mekong-Delta umkämpft war und sich die westlichen Bergregionen in den Händen der NLF befanden (Frey 1998: 73-74). Die neue Kennedy-Administration in den USA verband ihre außenpolitische Glaubwürdigkeit mit Südvietnam, insbesondere nach dem Scheitern der Schweinebucht-Intervention auf Kuba. 1963 erklärte Kennedy, ein Scheitern der südvietnamesischen Regierung habe drastische Konsequenzen für ganz Südostasien: »pretty soon Thailand, Cambodia, Laos, Malaya would go and all of Southeast Asia would be under control of the Communists and under the domination of the Chinese« (zit. nach Isserman/Kazin 2000: 77). Kennedy wollte das südvietnamesische Regime allerdings nicht nur durch finanzielle Hilfe oder Waffengewalt stützen, sondern mithilfe einer neuen Taktik, die als counterinsurgency bekannt wurde: »American strategists in the early 1960s reasoned that the way to defeat a guerilla insurgency was to dry up that sea of popular support for the guerillas. That meant convincing Vietnamese peasants that they should give their allegiance to the government and not the guerillas« (Isserman/Kazin 2000: 78). Das Strategic-Hamlet-Programm scheiterte allerdings nicht nur an Missmanagement und Korruption, sondern auch, weil die Verantwortlichen Diem und Ngo Dinh Nhu nur die militärische Sicherung der einzelnen Dörfer im Auge hatten und ursprünglich geplante politische und wirtschaftliche Maßnahmen fallenließen. Neben dem Versuch, die Landbevölkerung auf die Seite des südvietnamesischen Regimes zu bringen, kämpften die USA mit Waffengewalt gegen die NLF und setzten seit 1961 nicht nur Napalm ein, sondern auch Chemikalien zur Vernichtung der Ernten. Derweil nahm der Widerstand gegen Diem zu, und am 11. Juni 1963 verbrannte sich der 66-jährige Mönch Quang Duc aus Protest gegen

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Diems Regime vor laufenden Kameras auf einer Kreuzung mitten in Saigon. Dies war der symbolische Auftakt für eine tiefe Krise des Diem-Regimes, die letztlich ihren Höhepunkt mit der Ermordung Diems erreichte. Mehrere kurzlebige Regierungen lösten einander ab, bis eine Offiziersjunta unter Nguyen-VanThieu und Nguyen-Cao-Ky die Macht in Saigon übernahm. Weil sich nach der Ermordung Diems die militärische Lage für die südvietnamesische Regierung weiter verschlechterte, wurde die militärische Präsenz der USA in Südvietnam immer größer. Die USA nahmen den Zwischenfall im Golf von Tongking Mitte 1964 – angebliche Attacken von nordvietnamesischen Torpedobooten auf den amerikanischen Zerstörer Maddox – zum Anlass für Angriffe auf Nordkorea und die so genannte Tonkin-Resolution, die Präsident Johnson dazu ermächtigte, alle als notwendig erachteten Maßnahmen zu ergreifen, um auf weitere Angriffe militärisch zu reagieren. Unter Johnson setzte im Februar 1965 mit einem systematischen Luftkrieg gegen Nordvietnam die Eskalation des Vietnamkriegs ein.

Die teach-in-Bewegung 1965 Einige Befürworter des Vietnamkriegs behaupten, die USA hätten den Krieg nicht in den Dschungeln Südostasiens verloren, sondern sozusagen at home – also in den USA selbst.8 Die Medien und insbesondere die Universitäten seien den amerikanischen Soldaten in den Rücken gefallen und hätten ihnen die Unterstützung der Bevölkerung abgegraben. »Anhänger dieser amerikanischen Dolchstoßlegende kritisierten, das Fernsehen habe ein verzerrtes Bild der Kämpfe in Vietnam präsentiert« (Frey 1998: 150). Während die Medien dadurch die Unterstützung der Menschen für die Soldaten und den Krieg abgeschwächt hätten, wurden die Studenten dafür kritisiert, das Klima der amerikanischen politischen Kultur vergiftet und zur zunehmenden Handlungsunfähigkeit der US-amerikanischen Regierung beigetragen zu haben. Manche Kritiker gingen so weit, der Antikriegsbewegung die Schuld dafür zu geben, den Krieg durch deren Blockadehaltung verlängert und deshalb letztlich den Tod Tausender Menschen auf dem Gewissen zu haben. Die Wirklichkeit sah freilich anders aus: Bis zur Tet-Offensive 1968 waren nicht nur der Großteil der amerikanischen Medien eher für den Krieg (mit einigen kritischeren Stimmen wie dem Boston Globe oder der New York Times); auch die überwältigende Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung war dem Krieg gegenüber positiv eingestellt. Die amerikanischen Medien hatten einen großen Anteil an dieser Haltung. Der Vietnamkrieg war wohl der bis dahin am umfassendsten medial ›aufbereitete‹ Krieg; zunächst gab es aber nur wenige Bilder von Gefechten im Fernsehen zu sehen. Das Fernsehen zeigte Sprecher der Regierung und Militärs, die Erfolg versprechende Prognosen abgaben und einen 8

Zur Antikriegsbewegung und den Auswirkungen des Vietnamkriegs auf die USamerikanische Kultur siehe unter anderem Beattie 1998; Buzzanco 1999; Chatfield 2004; DeBenedetti 1990; Fendrich 2003; Franklin 2000; Isserman/Kazin 2000; Menashe/Radosh 1967; Tomes 1998; Zaroulis/Sullivan 1984.

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baldigen Sieg voraussagten; es waren Bilder einer hochtechnisierten amerikanischen Armee zu sehen, mit schwerem Kriegsgerät und ultramodernen Hubschraubern, mit mutigen, den Feind erwartenden Soldaten. Kriegsgegner wurden als »faule Drückeberger« dargestellt, »die den Soldaten in den Rücken fielen, und als gefährliche Nichtstuer, die sich von der kommunistischen Propaganda einlullen ließen« (Frey 1998: 151). Um zu verstehen, warum sich das Bild vom Krieg in der Öffentlichkeit bis Anfang der 1970er Jahre dramatisch wandeln konnte, würde es zu kurz greifen, auf die zunehmenden Schwierigkeiten und Verluste der amerikanischen Soldaten in Vietnam zu verweisen. Vielmehr gab es in den 1960er Jahren in der USamerikanischen Gesellschaft einen sozialen und kulturellen Wandel, der zu tiefgreifenden Spannungen in den USA führte (siehe Isserman/Kazin 2000). Der Vietnamkrieg spielte dabei eine wichtige Rolle, doch zunächst waren es andere Themen, die in den großen Emanzipationsbewegungen im Mittelpunkt standen und auch der Antikriegsbewegung wichtige Impulse gaben. Marshall Sahlins, auf den die Idee für den ersten teach-in im März 1965 an der University of Michigan zurückgeht, hat später auf die Verbindungen zur Free Speech Movement in Berkeley und zur Bürgerrechtsbewegung aufmerksam gemacht: »This kind of action was not totally unprecedented; on the contrary, it was the era of the Berkeley ›Free Speech‹ movement, and rivalries among state universities in America being what they were, no doubt a measure of ›riot envy‹ was in play« (CP: 23). Zudem wären die teach-ins, so Sahlins, ohne die sit-ins im Süden der USA im Rahmen der Bürgerrechtsbewegung nicht möglich gewesen. Die sit-ins waren eine Protestform, die 1964 in Berkeley für Aufruhr sorgte; zu diesem Zeitpunkt waren sie allerdings schon ein integraler Bestandteil der Geschichte der Bürgerrechtsbewegung zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Afroamerikaner in den USA. Im Süden der USA war in den 1950er Jahren das Vermächtnis der Sklaverei sehr lebendig. Für einen Weißen war es zu dieser Zeit normal, einen Schwarzen – unabhängig von seinem Alter – boy oder aunty zu nennen. Im Rahmen der so genannten Jim-Crow-Ordnung sollten Weiße und Schwarze nicht gemeinsam essen, weder in einem Restaurant noch privat; Weiße und Schwarze besuchten nicht die gleichen Schulen oder Kirchen, und sie lebten in unterschiedlichen Stadtteilen. Viele Grundschulen für Schwarze waren nur im Winter geöffnet, wenn es keine Feldarbeit gab; eine gut bezahlte Arbeit zu finden, war für Schwarze kaum möglich. In vielen Bundesstaaten wurden Schwarze zudem systematisch daran gehindert zu wählen (Isserman/Kazin 2000: 28). 1955 weigerte sich die 42jährige Rosa Parks in Montgomery/Alabama, in einem Bus einer weißen Person ihren Sitzplatz zu überlassen. Schwarze durften zu dieser Zeit nur in bestimmten Sitzreihen der Busse Platz nehmen; sie mussten beim Busfahrer bezahlen, danach wieder aus- und am Ende des Busses wieder einsteigen. Daraufhin rief das örtliche Women’s Political Council dazu auf, die Busgesellschaft zu bestreiken. Es wurde die Montgomery Improvement Association gegründet; Martin Luther King wurde zu ihrem Vorsitzenden. In einer Rede

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vor 7000 Zuhörern am 5. Dezember 1955 rief er zu einer friedlichen Fortsetzung des Boykotts auf. Ein Einlenken der Stadt war allerdings nicht erkennbar; die Anwälte der Bürgerrechtsbewegung klagten deshalb gegen die Praxis der Segregation, und am 4. Juni 1956 entschied das Bundesgericht, dass die Segregationspolitik nicht verfassungsgemäß sei. Nachdem die Anwälte der Stadt dagegen Widerspruch eingelegt hatten, erklärte der U.S. Supreme Court im November 1956 die Segregation in den Bussen von Montgomery für unrechtmäßig (Isserman/ Kazin 2000: 30-31). Der Busboykott in Montgomery war einer der entscheidenden Siege in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Dies führte allerdings keineswegs zu einer allgemeinen Verbesserung der Situation der schwarzen Bevölkerung im Süden der USA; vielmehr wuchs der weiße Widerstand gegen Versuche, die Segregationspolitik aufzuweichen. »Nearly all white southern politicians began to preach an undiluted version of the gospel of white supremacy«, was auch keineswegs Gewalt gegenüber Schwarzen ausschloss (Isserman/Kazin 2000: 32). Einen weiteren Meilenstein in der Bürgerrechtsbewegung gab es 1960 in Greensboro/North Carolina. Am 1. Februar wurden drei schwarze Studenten in einem Restaurant nicht bedient; am nächsten Tag kehrten sie mit über 20 Mitstudierenden zurück, am 3. Februar besetzten Studierende 63 der 65 Plätze des Restaurants; der sit-in als Protestform wurde zwar nicht in Greensboro geboren, doch er erlangte hier eine besondere Bedeutung.9 Am 6. Februar, dem ›Black Saturday‹, protestierten Hunderte von Studierenden in der Innenstadt, und bis Mitte Februar griff der Protest auf andere Städte über. Bis April 1960 gab es lunch counter sit-ins in 54 Städten im Süden der USA (siehe Isserman/Kazin 2000: 33). Der Einfluss der frühen sit-ins war nicht auf die Bewegung zur Gleichstellung Schwarzer beschränkt, sondern hatte einen großen Einfluss auf die Studentenbewegung (Morris 1981: 744). Das Student Non-Violent Coordinating Committee (SNCC) wurde gegründet und war am Freedom Summer 1964 in Mississippi beteiligt, im selben Jahr, in dem Martin Luther King den Friedensnobelpreis erhielt. Im Freedom Summer ging es darum, der schwarzen Bevölkerung Mississippis bessere Lebensbedingungen, unter anderem eine Verbesserung der eingeschränkten Wahlmöglichkeiten, zu ermöglichen. Mario Savio, Student an der University of California in Berkeley, verbrachte den Sommer 1964 in Mississippi und wurde ein wichtiger Protagonist in der Free Speech Movement (FSM) in Berkeley. Die FSM war nicht die erste studentische Protestaktion in Berkeley: 1957 hatte sich eine Gruppe namens SLATE formiert, die sich für einen Stopp von Atombombentests und den Schutz von Bürgerrechten einsetzte. 1960 demonstrierten Hunderte von Studierenden gegen das ›Komitee für unamerikanische Aktivitäten‹; die Polizei unterbrach den Protest mit Wasserwerfern und nahm Dutzende von Demonstranten fest. Die Ereignisse, die 9

Es gab einige weniger einflussreiche Vorläufer dieser sit-ins in den Jahren 1957 bis 1960 (Morris 1981: 748).

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zur Gründung der Free Speech Movement führten, begannen im September 1964, als den Studierendenorganisationen verboten wurde, vor dem Campus Infostände zu errichten und politische Reden zu halten. Als Studierende sich weigerten, ihre Infostände zu entfernen, wurden drei von ihnen zur Universitätsverwaltung bestellt; aus Protest erschienen über 400 Studierende zu einem sit-in, acht wurden suspendiert. Diese Versuche der Administration, gegen die Studierenden vorzugehen, führten dazu, dass am 1. Oktober mehrere Studierendengruppen ihre Infostände direkt vor dem Verwaltungsgebäude der Universität aufbauten. Die Verhaftung des Studenten Jack Weinberg wurde von mehr als 2000 Mitstudierenden verhindert, die sich teilweise erneut im Verwaltungsgebäude zu einem zweiten sit-in versammelten. Schließlich griff Universitätspräsident Clark Kerr vermittelnd ein, Weinberg wurde ohne Anklage freigelassen. Als Reaktion auf diese Vorkommnisse schlossen sich verschiedene Hochschulgruppen zur Free Speech Movement zusammen. Die Universitätsverwaltung hob lediglich für sechs der acht am 30. September bestraften Studierenden die Suspendierung auf; die FSM kündigte daraufhin an, die Sitzung des UC Board of Regents am 20. November zu stören. Es wurde bekannt, dass die Bestrafung der beiden Studierenden nicht aufgehoben worden war, und am 2. Dezember besetzten mehr als tausend Studierende die Sproul Hall. Nachdem die Universitätsverwaltung dem zunächst tatenlos zugesehen hatte, ordnete Pat Brown, der Gouverneur von Kalifornien, die Räumung des Gebäudes an. Das Ergebnis war die bis dahin größte Massenverhaftung in der Geschichte Kaliforniens: Etwa 800 Studierende wurden wegen Hausfriedensbruchs festgenommen und inhaftiert. Am 3. Dezember solidarisierten sich 800 Professoren der Universität mit den Festgenommenen und bezahlten die Kaution für deren Freilassung. In einer Versammlung der Universitätsangehörigen, an denen 16.000 Menschen teilnahmen, signalisierte Präsident Kerr Gesprächsbereitschaft, und schließlich entschied der Senat der Universität am 8. Dezember mit 824 zu 115 Stimmen, dass das Verbot der politischen Redefreiheit auf dem Campus aufgehoben werden sollte. Anfang Januar 1965 wurden die Restriktionen gegen politische Aktivitäten der Studierenden weitgehend aufgehoben. Die frühen 1960er Jahre waren auch die Zeit einer sich schnell wandelnden Jugendkultur. Der prozentuale Anteil der Amerikaner zwischen 18 und 24 stieg zwischen 1960 und 1970 um 50% auf 24,7 Millionen an – die baby boomers bestimmten die kulturelle und politische Entwicklung der USA mehr als je zuvor. 1960 organisierten sich die Students for a Democratic Society, und die sexuelle und künstlerische Revolution der 1960er Jahre veränderte die amerikanische Kultur fundamental. Die Werte der konsumorientierten 1950er Jahre wurden mehr und mehr zurückgedrängt, und die Konformität der Konsumgüter selbst wich einem stärker werdenden Ausdruck der Entfremdung vom Kalten Krieg. Stanley Kubricks Dr. Strangelove zeigte 1964 einem Millionenpublikum den verrückten Militaristen Jack D. Ripper, dessen Ziel es war, die ›internationale kommunistische Verschwörung‹ auszurotten; auch Romane wie Philip K. Dicks Now Wait

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for Last Year (1966) kritisierten metaphorisch kaum verhüllt die Auswüchse des Vietnamkriegs. Die Beatles, die Rolling Stones, Velvet Underground oder Bob Dylan standen für eine dem Kalten Krieg fremde Werteordnung. Viele Studenten stellten den Vietnamkrieg moralisch in Frage und konnten nicht verstehen, dass eine Nation, die soziale Ungerechtigkeiten und Rassismus im eigenen Land offenbar tolerierte, einen fragwürdigen Krieg auf einem anderen Kontinent führte. Die Erfahrungen ihrer Elterngeneration – die Weltwirtschaftskrise, der Aufstieg des Nationalsozialismus, Pearl Harbor und der Zweite Weltkrieg, die Ausbreitung des sowjetischen Kommunismus – waren der jungen Generation der 1960er Jahre fremd (siehe Frey 1998: 153-154). Die Civil Rights Movement, die Free Speech Movement und die Entwicklung einer Jugendkultur trugen zur Ausbildung der Antikriegsbewegung bei; allerdings gab es bis Ende 1964 noch keinen organisierten Widerstand gegen die USamerikanische Politik in Vietnam (DeBenedetti 1990: 101). Dass sich dies änderte, lag unter anderem auch an Veränderungen in Vietnam selbst. Am 7. Februar 1965 griffen Vietnamesen eine U.S. Air Base an, und nur wenige Stunden später flogen die Amerikaner die ersten Angriffe auf Militärbasen in Nordvietnam. Diese Angriffe markierten eine fundamentale Änderung in der amerikanischen Kriegsstrategie. Am 13. Februar 1965 autorisierte Präsident Johnson die Operation Rolling Thunder, eine systematische Bombardierung Nordvietnams, die fast drei Jahre andauern sollte (siehe Isserman/Kazin 2000: 129-133). Rolling Thunder verärgerte viele Anhänger Johnsons, die ihn noch in seinem Wahlkampf gegen den radikalen Kriegsbefürworter Barry Goldwater unterstützt hatten. Auch Fakultätsmitglieder der University of Michigan in Ann Arbor hatten sich während des Wahlkampfes für Johnson eingesetzt. Im März 1965 hielten aber viele die Zeit für gekommen, sich gegen die Eskalation des Vietnamkriegs zur Wehr zu setzen. In einem Treffen von Fakultätsmitgliedern vom 11. März, in dem es um deren Haltung zum Vietnamkrieg ging, schlug der Soziologe William Gamson einen Fakultätsstreik oder ein ›Moratorium‹ vor, um damit ein Zeichen gegen den Krieg zu setzen. »He suggested that we declare a one-day faculty strike, replacing all normal duties and responsibilities with a special school to teach the concealed story of Vietnam« (Pilisuk 1967: 9). Dieses Moratorium wurde von 49 Fakultätsmitgliedern unterstützt, von denen nur drei die tenure erhalten hatten; es gab allerdings Widerstand seitens der Universitätsverwaltung und einiger Politiker (Zaroulis/Sullivan 1984: 37). Kritik an einem Streik kam teilweise deshalb auf, weil nicht die University of Michigan für den Vietnamkrieg verantwortlich zu machen war, sondern die amerikanische Regierung; ein Streik würde letztlich die Falschen treffen (CP: 24). Marshall Sahlins schlug in einem weiteren Meeting am 17. März vor, dass eine solche Veranstaltung auch Nachts abgehalten werden könne, ohne also reguläre Lehrveranstaltungen zu blockieren. »Let’s show them how responsible we feel. Instead of teaching out, we’ll teach in – all night« (zit. nach Harder 1968: 60; siehe auch González 2004b: 12). Die Idee des teach-ins war geboren. Obwohl einige Politiker nicht glücklich über diese Ent-

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wicklung waren, forderten sie nicht mehr die Bestrafung der beteiligten Fakultätsmitglieder; auch die Universitätsverwaltung stellte sich nicht länger quer. Die Glaubwürdigkeit der Bewegung führte dazu, dass Paul Adams, Richter am Michigan Supreme Court, seine Teilnahme am teach-in ankündigte: »these professors are doing a vital service to their country in promoting debate on the question of US policy in Vietnam« (zit. nach Newman 1995). Der teach-in fand in der Nacht vom 24. auf den 25. März statt, über 3.000 Studierende und Fakultätsmitglieder nahmen teil und machten den teach-in damit zur größten Demonstration in der Geschichte der Universiy of Michigan.10 Innerhalb einer Woche gab es teach-ins an mindestens 35 weiteren Universitäten.11 Allerdings gab es nicht nur uneingeschränkte Zustimmung für die Proteste gegen den Vietnamkrieg: Der teach-in an der University of Wisconsin führte dazu, dass 6.000 Studierende eine Petition für die Weiterführung des Krieges unterschrieben; ein Viertel der Yale-Studenten tat das Gleiche (siehe DeBenedetti 1990: 108). Trotzdem weitete sich die teach-in-Bewegung zunächst aus, und schnell wurden die Vorbereitungen für einen nationalen teach-in getroffen. Im April organisierten die Students for a Democratic Society (SDS) die bis dahin größte Demonstration gegen den Vietnamkrieg in Washingston D.C., an der 20.000 Menschen teilnahmen. Diese Demonstration zeigte, wie eng die Antikriegsbewegung und die Civil Rights Movement zu dieser Zeit miteinander verknüpft waren, denn im Aufruf der SDS wurde das Bombardement Nordvietnams mit der Situation der Schwarzen in Mississippi explizit in einen Zusammenhang gebracht (Isserman/Kazin 2000: 170). Mitte des gleichen Monats wurde das Inter-University Committee for a Public Hearing on Vietnam gegründet, das den nationalen teach-in organisierte (DeBenedetti 1990: 108). Der National Teach-In fand am 15. Mai 1965 in Washington D.C. statt, und die Liveübertragung auf andere Universitätscampen erreichte landesweit über 100.000 Studierende (Zaroulis/Sullivan 1984: 38). Die gemischten Reaktionen auf die unterschiedlichen teach-ins offenbarten die Zerwürfnisse, die es Mitte der 1960er Jahre in den USA über den Vietnamkrieg gab. Die Attacken von Kriegsbefürwortern waren scharf und eindeutig. Während die liberale The Nation die teach-ins und die akademischen Diskussionen über die Eskalation des Vietnamkriegs als »desperate necessity« bezeichnete (N.N. 1967: 100), argumentierte Will Herberg in der konservativen National Review, dass die teach-ins nicht allzu Ernst genommen werden sollten: »With very few exceptions, the protesting professors were not particularly distinguished either by the scope of their knowledge or by the cogency of their arguments« (Herberg 1967: 101-102). William S. White nannte die Beteiligten an den teach10 Siehe zu diesem teach-in: DeBenedetti 1990: 107; Newman 1995; Sahlins 2001b; sowie die betreffenden Beiträge in Menashe/Radosh 1967. 11 Der teach-in an der University of Oregon am 23. und 24. April 1965 wurde von David F. Aberle organisiert, auf eine Anregung von Sahlins, seinem ehemaligen Kollegen in Ann Arbor (Levitas 1967: 17).

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ins irregeleitete »campus lefties«, die Sympathie bekundeten für »Communist terrorists« (White 1967: 104); das gleiche Argument entfaltete Barry Goldwater, der ehemalige Präsidentschaftskandidat der Republikaner. »They don’t just hate America’s policies; they actually like the other side. Communism seems to appeal to them. The Vietcong does not repel them – their tyranny does not appall them, neither does their terror« (Goldwater 1967: 105). Ein anders gelagertes Argument brachte James Reston in der New York Times vor. Seiner Meinung nach verhindeten die teach-ins die Friedensbemühungen der amerikanischen Regierung: »The zeal of the civil rights movement is being transferred in some places into a get-out-of-Vietnam campaign, and this, in turn, is being widely distributed by Communist countries to the detriment of the Administration’s efforts to force a negogiated peace« (Reston 1967: 113). Für einige Befürworter hatte sich die teach-in-Bewegung von ihren Anfängen in Michigan bis zum nationalen teach-in schließlich so sehr verändert, dass sie sich selbst den Boden unter den Füßen wegzuziehen schien. »By adopting the debate format, the Washington Teach-In abandoned the idea of a protest, the very thing that the principle of democracy, and a love of it, made necessary« (Scott 1967: 191). Auch Marshall Sahlins registrierte eine Veränderung in der teach-inBewegung, sah dies aber nicht als Nachteil: »the teach-in movement turned from a confrontation with the system to a confrontation within the system, from an argument with the established order to an argument with the Establishment« (CP: 211). Sahlins sah die teach-ins als Teil einer neuen demokratischen Bewegung, in deren Rahmen die Politik der Regierung ohne Einschränkungen diskutiert werden konnte und die letzlich auch einen Einfluss auf die Politik der Administration haben konnte (CP: 217). Ein wichtiges Ziel, das der teach-in-Bewegung in den Augen Sahlins’ zu Grunde lag, war, gegen die Vietnam-Politik der USamerikanischen Regierung zu protestieren, ohne dabei wichtige Grundüberzeugungen des akademischen Diskurses aufzugeben; im Gegenteil war der national teach-in nicht nur Ausdruck der partizipatorischen Elemente der amerikanischen Demokratie, sondern der Kritik an der amerikanischen Regierung, im Rahmen ihrer Vietnampolitik demokratische Prinzipien zu verletzen (siehe auch Langer 1965). »Surely, the conduct of foreign affairs is delegated to the Executive, but this does not give it leave to determine the content of policy without regard for democratic procedures. The administration did not have leave to foreclose debate in Congress […] It did not have leave to adopt policies on Vietnam against which it had campaigned and won a national election six months before. Nor ought it petulantly dismiss serious critics, nor inform the people of military acts committed in America’s name in the form of extended television commercials. These arguments from democracy, although present from the beginning of the teach-in movement, became central to the National Teach-In« (CP: 213).

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Sahlins nahm damit eine Position ein, die im Anschluss an Charles Chatfield als liberal bezeichnet werden kann. Der liberale Teil der Antikriegsbewegung war gekennzeichnet durch »an orientation to incremental, single-issue-oriented change, working within existing institutions through education and political action« (Chatfield 2004: 486). Der radikale Teil der Antikriegsbewegung, so Chatfield, war demgegenüber davon überzeugt, dass der korporative Liberalismus selbst ein fundamentales Problem war: Er sei für den Vietnamkrieg sowie für soziale Ungleichheit und Rassismus in den USA verantwortlich und müsse überwunden werden (Chatfield 2004: 486). Die Radikalität der späten 1960er Jahre war in der teach-in-Bewegung von 1965 aber noch nicht abzusehen (siehe auch Franklin 2000: 54-55).

Marshall Sahlins in Vietnam Die teach-ins hatten keinen nennenswerten Einfluss auf die Vietnampolitik der amerikanischen Regierung. Bis zum Januar 1966, als Präsident Johnson seine dritte State of the Union Address gab, war klar geworden, dass der Vietnamkrieg kein schnelles Ende finden würde. Johnson betonte zwar, dass das Ziel der Great Society, also der Kampf gegen die Armut, nicht aufgegeben werde, doch tatsächlich nahm der Krieg in Vietnam einen immer größeren finanziellen Raum ein. Während die USA 1965 noch fünf Milliarden US-Dollar für den Krieg ausgegeben hatten, verdoppelte sich diese Summe bereits ein Jahr später, und bis 1968 sollten die jährlichen finanziellen Aufwendungen für den Krieg auf 33 Milliarden US-Dollar steigen. Gegen Ende 1965 waren 184.300 Amerikaner in Vietnam stationiert; 636 waren im Krieg umgekommen. Zwei Jahre später war die Anzahl der US-amerikanischen Soldaten in Vietnam auf über 485.000 angestiegen, fast 20.000 Amerikaner waren gestorben. Auch der Dschungelkrieg im Süden Vietnams verlief nicht nach Wunsch: Während die südvietnamesischen Truppen das taten, was amerikanische Beobachter search-and-evade-missions nannten (und allein 1965 113.000 südvietnamesische Soldaten desertierten), wurde klar, dass die kommunistischen Truppen in den Dschungeln Südvietnams offenbar mit den dortigen Bedingungen besser zu Recht kamen als die Amerikaner (Isserman/Kazin 2000: 190-192). Johnson suchte noch 1965 nach Möglichkeiten, den Krieg zu beenden. Monate vor der Entscheidung im Juli 1965, Kampftruppen in Südvietnam zu installieren, hielt er an der Johns Hopkins University eine Rede und argumentierte für einen Verhandlungsfrieden. Um die Jahreswende 1965/66 präsentierte die US-Regierung ein so genanntes ›Vierzehn-Punkte-Programm‹. Die Admistration erklärte sich bereit, nach einem Ende des nordvietnamesischen Engagements in Südvietnam seinen Luftkrieg einzustellen. Zudem würden sich die Vereinigten Staaten aus Südvietnam zurückziehen, wenn eine befriedigende politische Lösung gefunden worden sei. Auch freie Wahlen wurden in Aussicht gestellt, doch eine Koalitionsregierung mit der NLF war nicht vorgesehen. Ho Chi Minh forderte indes, dass vor Gesprächen die Luftangriffe aufhören müssten;

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die Friedensoffensive versandete. »Zu Recht brandmarkten Kritiker das amerikanische Gesprächsangebot als ein kaum verhülltes Ultimatum« (Frey 1998: 148). Zu diesen Kritikern zählte auch Sahlins, der als Repräsentant des InterUniversity Committee for a Public Hearing on Vietnam im August 1965 Vietnam aufsuchte, um sich vor Ort ein Bild vom Kriegsgeschehen zu machen. In seiner Arbeit über den Krieg argumentiert Sahlins zunächst, dass die Pläne der Friedensoffensive nur amerikanischen Interessen gerecht geworden seien (CP: 220). Zudem kritisiert er das amerikanische Angebot freier Wahlen in Vietnam. Die Vereinigten Staaten, so Sahlins, hatten schon die Pläne der Genfer Indochinakonferenz hinsichtlich freier Wahlen in Vietnam torpediert und zwischen 1957 und 1960 mehrere diesbezügliche Vorstöße Nordvietnams abgeblockt. Diese Blockadehaltung der USA erklärt sich Sahlins zufolge aus deren Angst vor dem Expansionismus des Kommunismus (CP: 233). Wie ist es aber möglich, so Sahlins, freie Wahlen in Aussicht zu stellen, wenn der Kommunismus um jeden Preis zurückgedrängt werden soll? Der Kampf gegen den Kommunismus und die Planung freier Wahlen in Vietnam hält Sahlins für einen Widerspruch, weil ja nicht klar ist, welchen Zulauf die Kommunsten erhalten würden und die NLF ohnehin nicht antreten dürfe – die geplanten Wahlen also ohnehin nicht ›frei‹ wären. Zudem hat die Obsession gegen den Kommunismus für Sahlins die Implikation, dass das Phänomen des vietnamesischen Nationalismus übersehen worden ist. Durch den Kampf gegen den vietnamesischen Nationalismus, so Sahlins, wird diese Bewegung erst recht in die Arme des Kommunismus getrieben. Wenn es die ›chinesische Bedrohung‹ für die Amerikaner nicht gegeben hätte, wäre es in Sahlins’ Augen notwendig gewesen, sie zu erfinden, um die politischen Missstände in Südvietnam zu überdecken. Denn das Staatsgebilde, das die Vereinigten Staaten im Verlauf des Vietnamkriegs unterstützen, ist für Sahlins weder demokratisch legitimiert noch handelt es im Interesse der Menschen. Deshalb ist es für Sahlins eine eigenartige Wortwahl, dass die Vereinigten Staaten für die ›Freiheit‹ Vietnams kämpfen wollen; dieser Freiheitskampf nimmt für Sahlins in Südvietnam, das er durch eine koloniale Struktur geprägt sieht, Züge eines Klassenkampfs an. Die amerikanische Wirtschaftshilfe – so Sahlins – verschwindet auf ausländischen Konten oder für Luxusgüter der politischen Elite und kommt den Bauern auf dem Land nicht zugute. Tatsächlich interessiert sich die politische Elite Saigons, so Sahlins, nicht für die Menschen, die sie regiert; die Vereinigten Staaten halten eine kolonialistische Struktur aufrecht, »the same structure of dominant foreigners and profiteering local collaborators that the French had established« (CP: 225). Sahlins fasst das Handeln der Regierung in Südvietnam wie folgt zusammen: »normal politics in Vietnam consists of intrigue and repression of the opposition through exile or coup, and the premier speaks wistfully to Western reporters of the effectiveness of Adolf Hitler« (CP: 225). Für Sahlins ist eine zentrale Frage, wie die Amerikaner mit den Missständen in Südvietnam umgehen. Die Unterstützung eines korrupten Regimes und der

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Tod unzähliger Unschuldiger können nur durch ein transzendentes Kriegsziel gerechtfertigt werden, »and in such a war all efforts on the side of Good are virtuous, and all deaths unfortunate necessity« (CP: 248). Sahlins illustriert diese Zerstörung des Bewusstseins in Vietnam am Beispiel seiner Erfahrungen mit zwei US-amerikanischen Teilnehmern eines so genannten motivation teams vietnamesicher Streitkräfte in einem ländlichen Außenposten. »Their program was anticommunist revolution: they were training Popular Forces as revolutionary cadres« (CP: 249), allerdings auf der Grundlage kommunistischer Handbücher über Kriegsführung revolutionärer Streitkräfte. Das Problem sieht Sahlins aber nicht im amerikanischen Kopieren kommunistischer Guerilla-Techniken, sondern in der Anwendung mentaler Foltertechniken seitens der Amerikaner, die ebenfalls von den Chinesen kopiert worden seien, »as they themselves explained« (CP: 250). Ziel dieser mental torture ist es nicht nur, Informationen zu erhalten, sondern die Verhörten davon zu ›überzeugen‹, auf der falschen Seite zu stehen. Um dies zu erreichen, müsse der Fragesteller dem Verhörten suggerieren, auf dessen Seite zu stehen und ihn vor jenen zu bewahren, die ihn noch schlechter behandeln würden, um an wichtige Informationen zu gelangen. »Then you indicate that this nice treatment that he’s had so far [has] not been disinterested good treatment, that we expect his cooperation. This again reintroduces the whole issue of the big, ugly outside world« (›Mr. X‹ in CP: 253).12 Wenn er dem Fragesteller tatsächlich Informationen preisgibt, hat er sich auch von seiner eigenen Gruppe entfernt. »But at this point, if you really believe in anything yourself, what you’ve got to do is give him something to hope for before you send him back for further processing. Because you have just brought this individual to the lowest point in his life in terms of human meaning and existence« (›Mr. X‹ in CP: 254). Der Fragesteller ist der Einzige, mit dem der Gefangene noch etwas zu tun hat: Hinter ihm liegt die Welt, die er verraten hat, vor ihm die Menschen, die ihn eventuell töten wollen und gegen die ihn nur der Fragesteller schützen kann. Die einzige Möglichkeit, diesem Schicksal zu entkommen – so muss es der Gefangene sehen – ist es, weitere Informationen preiszugeben. In Sahlins’ Interview wird auch deutlich, dass ›Mr. X‹ und ›Captain Y‹ davon ausgehen, dass ihre mental torture letztlich positive Auswirkungen auf die Verhörten habe, da die Verhöre ihnen dabei helfen würden, vom Kommunismus loszukommen – dies sei übrigens vergleichbar, so ›Mr. X‹, mit einer Heilung vom Alkoholismus. Dies hält er nicht für eine Gehirnwäsche – also der gewaltsamen Aufdrängung der amerikanischen Weltsicht –, sondern eher für eine Befreiung: »We are not imposing our will. We are not imposing will. Even after you’ve broken him and gotten the information, he’s still a free agent« (›Mr. X‹ in CP: 259). Der von Sahlins interviewte ›Mr. X‹ erklärt, dass diese Verhörtechnik wesentlich effektiver sei als die Anwendung physischer Gewalt. Es besteht für die von Sahlins befragten Amerikaner kein moralischer Unterschied zwischen ›men12 Einfügung im Original.

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taler‹ und ›physischer‹ Folter; vielmehr halten sie die von der südvietnamesischen Armee angewandte physische Folter für weniger Gewinn bringend als ihre eigenen Verhörtechniken. Deshalb wollen die Amerikaner, wie Sahlins erfährt, ihre vietnamesischen Verbündeten davon überzeugen, dass mental torture erfolgversprechender sei als der Einsatz physischer Gewalt. »We have a moral responsibility, it seems to me, once we’ve stepped into this country to involve ourselves in the complete fabric of the country […] We should be acting as a catalyst, as a thinking catalyst in Vietnam« (›Mr. X‹ in CP: 257). Zugleich betont ›Mr. X‹, dass die Amerikaner in Vietnam nur beratende Funktion hätten. In Sahlins’ Augen legitimiert die Selbsteinschätzung der Amerikaner, ›Berater‹ zu sein, lediglich die politischen Missstände in Südvietnam, weil ›Berater‹ letztlich nicht verantwortlich zu machen sind für politische Prozesse (CP: 238-239). Viele von Sahlins’ Beobachtungen und Argumenten sind von späteren historischen Forschungen belegt worden. Tatsächlich hätten sich ohne die Hilfe der Amerikaner die Generäle Ky und Thieu nicht an der Macht halten können. Nur etwa ein Achtel der Gesamtbevölkerung in Südvietnam unterstützte sie, vor allem die Armee sowie die chinesische und vietnamesische Wirtschaftselite; außerhalb der Städte verfügte das Regime kaum über Unterstützung (Frey 1998: 139). Thieu bereicherte sich an US-amerikanischen Steuergeldern und hatte bis zu seiner Flucht aus Saigon 1975 mehrere Millionen US-Dollar auf ausländischen Konten angesammelt. »Wie ein Krebsgeschwür überwucherte die Korruption sämtliche Bereiche von Wirtschaft und Verwaltung und konterkarierte die amerikanischen Bemühungen, das Land wirtschaftlich zu stabilisieren« (Frey 1998: 142). Im September 1967 hielten Ky und Thieu Wahlen ab, doch es kam in den von der Regierung verwalteten Gebieten zu massiven Manipulationen. Die Buddhisten verweigerten ihre Teilnahme, und in den von der NLF kontrollierten Gebieten gab es ohnehin keine Wahlbeteiligung. Die verfassunggebende Versammlung wollte das Ergebnis der Wahl wegen der aufgetretenen Unregelmäßigkeiten nicht anerkennen, doch nach einer Intervention des amerikanischen Botschafters Ellsworth Bunker wurde Thieu zum Präsidenten ernannt, während zwei bürgerliche Gegenkandidaten, die sich für ein Ende des Lufkriegs eingesetzt hatten, verhaftet wurden. »Viele betrachteten die Wahl als ein amerikanisches Theater mit vietnamesischen Schauspielern« (Fry 1998: 141). Sahlins’ Kritik kann in vier miteinander verknüpfte Elemente unterschieden werden. Erstens kritisiert Sahlins den amerikanischen Expansionismus in Südvietnam. Die amerikanische Legitimation für den Aufenthalt der Amerikaner in Vietnam ist für Sahlins die Ideologie des Kalten Kriegs, die einen Expansionismus des amerikanischen Gesellschaftsmodells erfordert, um den Kommunismus aufzuhalten. Der Vietnamkrieg erscheint damit als ein Stellvertreterkrieg, der nur peripher, wenn überhaupt, einer Verbesserung der Lebensverhältnisse der Menschen in Vietnam dienen soll. Zweitens halten die USA mit ihrem Aufenthalt in Vietnam eine von den Franzosen etablierte koloniale Struktur aufrecht, in der sich eine politische Elite auf Kosten der Bevölkerung bereichert. Zudem ver-

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schleiern die Amerikaner ihren Status als geheime Kolonialherren mit ihrer Selbstbeschreibung als externe ›Berater‹. Drittens fehlt es den Vereinigten Staaten – so Sahlins – an Gespür, die kulturellen Zusammenhänge Vietnams zu verstehen. Sahlins interpretiert die Feinde der südvietnamesischen Regierung nicht einfach als Kommunisten, sondern als Nationalisten. Die Amerikaner indes können von ihrer universalistischen binären Unterscheidung Demokratie/Kommunismus nicht abrücken und machen keinen Unterschied zwischen der NLF und dem kommunistischen China. Viertens kritisiert Sahlins die moralisch fragwürdige Vorgehensweise der USA, ein korruptes Regime zu unterstützen, das keine demokratische Legitimation besitzt und nichts mit der Lebenswirklichkeit der meisten Vietnamesen zu tun hat. Zudem setzen die Amerikaner auf Verhörmethoden, die sie selbst als mental torture bezeichnen und den Willen der Kommunisten brechen sollen. Alle vier Kritikpunkte konvergieren in Sahlins’ Beobachtung einer tiefen moralischen Krise des amerikanischen Liberalismus, der den vietnamesischen Kampf um kulturelle Eigenständigkeit zugunsten des Kriegs gegen den Kommunismus ignoriert.

2. Project Camelot, Vietnam und die amerikanische Ethnologie Die ethnologische Kritik am Vietnamkrieg Marshall Sahlins ist zu dieser Zeit nicht der einzige Ethnologe, der gegen den Vietnamkrieg protestiert, wenn sich sein politischer Aktivismus auch von dem Vorgehen der meisten Ethnologen unterscheidet. Mitte der 1960er Jahre nimmt in der amerikanischen Ethnologie die Kritik an der Vietnampolitik der amerikanischen Regierung zu. Es herrscht aber Unklarheit, ob sich Ethnologen öffentlich über die moralischen Implikationen des Vietnamkriegs äußern sollen (siehe Trencher 2000: 130). Auf dem Meeting der American Anthropological Association in Pittsburgh 1966 wird folgende Anti-Warfare-Resolution vorgestellt: »Reaffirming our 1961 resolution, we condemn the use of napalm, chemical defoliants, harmful gases, bombing, the torture and killing of prisoners of war and political prisoners, and the intentional or deliberate policies of genocide or forced transportation of populations for the purpose of terminating their cultural and/or genetic heritages by anyone anywhere. These methods of warfare deeply offend human nature. We ask that all governments put an end to their use at once and proceed as rapidly as possible to a peaceful settlement of the war in Vietnam« (AAA Dez. 1966: 2).

Die Diskussion über die Anti-Warfare-Resolution zeigt tiefe Gräben in der amerikanischen Ethnologie der 1960er Jahre auf. Ein Diskussionspunkt ist die Frage, ob es sich bei dieser Resolution überhaupt um eine wissenschaftliche Resolution

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handelt. Beispielsweise argumentiert Robert W. Ehrich, dass es sich hier um »matters outside of legitimate anthropological concerns« handele (AAA Feb. 1967: 7). Auch John P. Gillin, George P. Murdock und Alexander Spoehr argumentieren in ihrer Zuschrift zum AAA Newsletter, die American Anthropological Association solle sich auf Themen beschränken, »[that] are clearly related to the Association’s scientific objectives and are based on the scholarly knowledge which anthropologists command« (AAA Feb. 1967: 8). Zudem fühlt sich Ehrich von der Resolution nicht vertreten und bezweifelt die Legitimität von Resolutionen, die im Mehrheitsverfahren beschlossen würden: »A majority vote concerning such an inappropriate propagandist issue on which the membership of the Association is divided has no moral justification, particularly when viewed against the background of the Association’s constitution« (AAA Feb. 1967: 7). Gillin, Murdock und Spoehr glauben gar, die Association könne zerfallen, wenn sie sich derart eindeutig zu politisch brisanten Themen äußere, die unter deren Mitgliedern umstritten sei. Arthur Niehoff verknüpft seine Kritik an der Resolution mit den theoretischen Grundlagen der Ethnologie. Auch er sei nicht glücklich über den Vietnamkrieg, doch die Anti-Warfare-Resolution entspreche nicht der konzeptionellen Ausrichtung der Ethnologie. Insbesondere kritisiert Niehoff folgende Anmerkung in der Resolution: »These methods of warfare deeply offend human nature« (AAA Dez. 1966: 2). In den Augen Niehoffs ist die Ethnologie eine Wissenschaft, die fremde kulturelle Praktiken analysiert, ohne sie aus dem eigenen Blickwinkel moralisch zu bewerten (AAA Feb. 1967: 8). Wie soll es für die Ethnologie möglich sein – so Niehoff –, die US-amerikanische Kriegsführung dahingehend zu kritisieren, dass diese gegen die menschliche Natur gerichtet sei, wenn die Ethnologie in ihrer wissenschaftlichen Analyse fremder Kulturen gerade nicht auf universalistische Werte und Normen zurückgreifen will? Niehoff vertritt die Position eines moralischen kulturellen Relativismus, auf dessen Grundlage keine Aussagen über die (moralische) Natur des Menschen möglich sind. Er verweist auf ethnologische Studien, in denen gewalttätige Praktiken wie Kannibalismus oder Ritualmorde analysiert werden, ohne sie damit zugleich moralisch zu bewerten. Ein amerikanischer Wissenschaftler kann in Niehoffs Augen dennoch Kritik üben – dann aber in seiner Rolle als demokratischer und liberaler Bürger. Die Kritik am Vietnamkrieg reflektiert für Niehoff keine universalen, sondern kulturspezifische Werte. »How can we say these forms of warfare deeply offend human nature rather than the ideals of middle class liberal Americans, reflecting Judeo-Christian ethics?« (AAA Feb. 1967: 8) All diese Briefe werden in der Februarausgabe 1967 des AAA Newsletters veröffentlicht. In den folgenden Monaten gibt es auf den Seiten des Newsletters eine ausgedehnte Debatte über die Resolution und die an ihr geübte Kritik. Die Kritiker der Resolution finden viel Zustimmung, unter anderem von Lloyd Cabot Briggs, Clark E. Cunningham, Raoul Naroll und Roger C. Owen (alle AAA April 1967: 9-10). Henry Rosenfeld verteidigt dagegen die Anti-Warfare Resolution

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und kritisiert die These, dass man unterscheiden müsse zwischen der Ethnologie als Wissenschaft und politischem Protest. Diese Unterscheidung, so Rosenfeld, ist ein Formalismus, der die Verpflichtung des Wissenschaftlers negiert, sich zu kriegerischen Konflikten zu äußern (AAA April 1967: 9). Gegenüber Niehoff argumentiert Rosenfeld, dass dessen kultureller Relativismus kriegerische Handlungen letztlich rationalisiert. »Anthropologists are not trained to deny human values; they are not trained to rationalize planned and escalated bombing and napalm, and to equate it with a New Guinea tribal spearing« (AAA April 1967: 10). Stephen P. Dunn glaubt in Niehoffs Position ein Beispiel für »the crudest and most irresponsible kind of cultural relativism« zu finden: »The difference between the modern American and the Papuan, Aztec, or Kwakiutl is precisely that U.S. Americans, by their actions in Vietnam have violated, and are continuing to violate, their own expressed cultural standards and ideals« (AAA Juni 1967: 9). Auch Roger G. LeBlanc kritisiert Niehoff für dessen kulturellen Relativismus; LeBlanc hält es durchaus für möglich, ja sogar für notwendig, Aussagen über die menschliche Natur zu machen. Für LeBlanc ist das aber ein metaphysisches Problem, das außerhalb einer ›strikt empirischen Wissenschaft‹ wie der Ethnologie liegt. »It is for this reason that I do not think the American Anthropological Association can claim to make a statement such as it did on Vietnam in the name of Anthropology« (AAA April 1967: 10). Charles Leslie vertritt demgegenüber die Auffassung, dass die Ethnologie niemals eine wertfreie Wissenschaft gewesen sei. Tatsächlich wird, so Leslie, die Ethnologie von anderen Wissenschaftlern, die sich auf ökonomischen und sozialen Wandel in ›unterentwickelten‹ Ländern konzentrieren, als reaktionäre Disziplin angesehen. Zudem kann in den Augen Leslies das ethnologische Studium fremder Kulturen als Weiterführung des viktorianischen Glaubens des 19. Jahrhunderts an die Superiorität westlicher Kulturen verstanden werden (AAA Mai 1967: 6). Auch David F. Aberle argumentiert, dass die American Anthropological Association politische Aussagen nicht vermeiden kann und vermutet, dass die Kritiker, die eine unpolitische Haltung der Association fordern, damit letzten Endes die Einnahme einer politischen Haltung einfordern. »It would seem that those who now urge an apolitical course of action on us mean that we should be ›apolitical‹ for the U.S. Government, not against it« (AAA Mai 1967: 7). Harold B. Barclay geht noch weiter und kritisiert, dass die Abhängigkeit der Wissenschaftler von öffentlichen Forschungsgeldern Ethnologen, die eine ›unpolitische‹ Haltung gegenüber dem Vietnamkrieg fordern, korrumpiert hat (AAA Mai 1967: 7). Auch Kathleen Gough Aberle hält es für berechtigt, wissenschaftliche Kritik am Vietnamkrieg zu äußern, unter anderem genau aufgrund der Finanzierung der ethnologischen Forschungen durch Regierungsgelder. Für Aberle steht die Glaubwürdigkeit der amerikanischen Ethnologie in der nicht-westlichen Welt auf dem Spiel (AAA Juni 1967: 10-11). Sally R. und Lewis R. Binford vergleichen Wissenschaftler, die sich nicht kritisch über politische Prozesse wie den Vietnamkrieg als Wissenschaftler äußern, gar mit »the ›good‹ German scientists du-

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ring the 1930’s who hoped to keep their profession distinct from its political and social matrix« (AAA Juni 1967: 9). Zu schweigen bedeutet für Alan R. Beals, den Wert von Wissenschaft für die Lösung menschlicher Probleme zu negieren (AAA Juni 1967: 9). Murray L. Wax argumentiert ähnlich und weist darauf hin, dass die Forschungsergebnisse der Ethnologie dazu beigetragen hätten, der Diskriminierung der Schwarzen in den USA ihre legale Grundlage zu entziehen (AAA Juni 1967: 10). Es geht in dieser Kontroverse im AAA Newsletter um ganz unterschiedliche Fragen, die eng miteinander verknüpft sind. Zur Debatte stehen zunächst die konzeptionellen Grundlagen des Fachs, insbesondere der Status des kulturellen Relativismus. Gibt es eine universale menschliche Natur, über die die Ethnologie Aussagen machen kann? Oder kann sie nur kulturspezifische Praktiken analysieren und unterschiedliche Kriegsformen – die amerikanische Bombardierung Norvietnams und rituelle Menschenopfer in Tenochtitlan – einander gegenüberstellen, ohne diese Praktiken moralisch gegeneinander abwägen zu können? In dieser konzeptuellen Frage geht es nicht nur um ein epistemologisches, sondern auch um ein ethisches Problem: Sollte die Ethnologie eine ›wertfreie‹ oder eine ›kritische‹ Disziplin sein? Gehört es zur Aufgabe der Ethnologie, Kritik zu üben, oder verlässt sie dadurch den Boden der Wissenschaftlichkeit? Die Diskussion darüber, ob die Ethnologie als wissenschaftliche Disziplin Stellung zum Vietnamkrieg beziehen sollte, legt tiefgreifende Differenzen unter den amerikanischen Ethnologen offen. In der Debatte über den Vietnamkrieg im AAA Newsletter gibt es noch eine andere, mit dem Vietnamkrieg eng verknüpfte Ebene. Es geht um die Frage nach dem Verhältnis zwischen wissenschaftlicher Forschung und der amerikanischen Regierung, die diese Forschung zumindest teilweise finanziert. Die Probleme, die damit verknüpft sind, waren keineswegs neu, doch in den Mittelpunkt der ethnologischen Diskussionen rückten sie erst mit Bekanntwerden von Project Camelot, einem vom amerikanischen Verteidigungsministerium geplanten Forschungsprojekt über counter-insurgency in Ländern der ›Dritten Welt‹, insbesondere in Lateinamerika. Project Camelot trug, wie Mark Solovey argumentiert, letztlich zu einer epistemologischen Revolution in den amerikanischen Sozialwissenschaften bei, die darin bestand, dass die damals gesuchte Annäherung der amerikanischen Sozial- zu den Naturwissenschaften aufgegeben wurde (Solovey 2001); als die Pläne Mitte der 1960er bekannt wurden, gab es wütende Proteste aus Chile und anderen Ländern, die Planung des Projekts wurde gestoppt, und in der Ethnologie und angrenzenden Disziplinen wurden die Implikationen von Project Camelot jahrelang diskutiert (siehe Beals 1969). Project Camelot kam aber natürlich nicht aus dem Nichts; vielmehr reichen die Verknüpfungen zwischen Wissenschaft und Politik, die in den Debatten über das Projekt im Mittelpunkt standen, weit in die Vergangenheit.

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Historischer Hintergrund zu Project Camelot In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg herrschte unter US-amerikanischen Sozialwissenschaftlern zunächst Unsicherheit hinsichtlich ihres Status, insbesondere im Vergleich zu den Naturwissenschaften. In diesem Kontext half die sich entwickelnde Partnerschaft mit dem Militär den Sozialwissenschaften in ihrem Kampf um öffentliche Achtbarkeit und wissenschaftliche Legitimität.13 Es schien möglich, einen Beitrag zum Kalten Krieg zu leisten, ohne zugleich wissenschaftliche Objektivität einzubüßen. »In fact, the military took a special interest in social research that appeared to be rigorously scientific – meaning, much like natural science research« (Solovey 2001: 173). Sozialwissenschaftler hatten zur Zeit des Zweiten Weltkriegs für die amerikanische Regierung gearbeitet, doch sie standen im Schatten von Naturwissenschaftlern, insbesondere Physikern, die während des Krieges unter anderem das Radar und die Atombombe entwickelt hatten. Dies wirkte sich auf die staatliche Forschungsförderung nach Ende des Zweiten Weltkriegs aus, die sich auf die Naturwissenschaften konzentrierte. Beispielsweise wurde die 1950 gegründete National Science Foundation zunächst von den Naturwissenschaften dominiert. Auch das Office of Naval Research (ONR) spielte in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg eine sehr wichtige Rolle für die Forschungsfinanzierung in den USA, doch die einzige Sozialwissenschaft, die vom ONR zunächst substantiell unterstützt wurde, war die Psychologie (Solovey 2001: 174). Ein zentrales Problem für die amerikanischen Sozialwissenschaften dieser Zeit lag darin, dass wichtige Schaltstellen der nationalen Wissenschaftspolitik von Naturwissenschaftlern besetzt waren, die offenkundig wenig Interesse daran hatten, die Position der Sozialwissenschaften zu stärken. Schließlich wurden zuweilen die Sozialwissenschaften im Allgemeinen mit ›subversiven‹ Gedankengebäuden wie dem Marxismus oder dem Kommunismus in Zusammenhang gebracht, zumindest aber mit dem Liberalismus des New Deal. Die Sozialwissenschaften mussten sich auf diese Situation einstellen; im Laufe der 1950er Jahre verbesserte sich deren finanzielle Situation, weil sie es zunehmend erreichten, von der amerikanischen Regierung als wichtig angesehen zu werden. Zu den sozialwissenschaftlichen Disziplinen, die besonders eng mit dem Militär verknüpft waren, gehörte die Psychologie. Schon während des Zweiten Weltkriegs war die Expertise von Psychologen gefragt gewesen; in der Zeit des Kalten Krieges, der ja auch als Kampf unterschiedlicher Ideologien wahrgenommen wurde, argumentierten Psychologen, der Regierung Einblicke in das Denken des Gegners verschaffen zu können, die andere Disziplinen nicht anbieten konnten. Unter dem Einfluss des Militärs entstanden nach und nach auch Forschungen in anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen. Die politikwissenschaftliche Theorie der nuklearen Abschreckung war von unmittelbarem Interes13 Siehe dazu insbesondere Gilman 2003; Latham 2000; Leslie 1993; Robin 2001; Ross 1998; Simpson 1998a; Solovey 2001.

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se für das Verteidigungsministerium (siehe dazu Larson 1995). Von der RAND Corporation, dem bekanntesten militärischen think tank, wurden unterschiedliche sozialwissenschaftliche Forschungsansätze gefördert, unter anderem die Spieltheorie, operations research, die Systemtheorie und die Kommunikationswissenschaften (siehe Simpson 1998b). Auch die Entwicklung des sozialwissenschaftlichen Paradigmas der Modernisierung ist eng mit dem politischen Kontext des Kalten Kriegs verknüpft. Die Modernisierungstheorie nach dem Zweiten Weltkrieg ist eine dezidiert ›amerikanische‹ Erfindung. Sie greift zwar auf die soziologischen ›Klassiker‹ zurück, insbesondere auf Max Weber, doch sowohl institutionell als auch kulturell sind die Modernisierungstheorien tief in der amerikanischen Gesellschaft verwurzelt. Modernisierungstheorien sollten eine besondere Rolle im Rahmen des Kalten Kriegs spielen. »In the midst of an escalating Cold War, American social scientists believed that modernization theory would define their nation’s historic accomplishments, identify the deficiencies of an ›emerging world‹, and allow them to respond to the needs of the state in a time of crisis« (Latham 2000: 30). Ein Zentrum für die Weiterentwicklung der Modernisierungstheorie war das Center for International Development (CENIS) am Massachusetts Institute of Technology (MIT). Die Gründung von CENIS geht auf das Frühjahr 1950 zurück, als das State Department das Problem lösen musste, dass die Sowjetunion einen Weg entdeckt hatte, Voice of America, ein wichtiges Element des internationalen Propagandaapparates der USA, zu blockieren. Eine interdisziplinäre Forschungsgruppe wurde ins Leben gerufen; im November 1950 begann Project Troy seine Arbeit am MIT. Am 15. Februar 1951 wurde dem State Department ein Forschungsbericht übergeben, in dem Alternativen zu Voice of America untersucht wurden. Im Januar 1952 wurde daraufhin CENIS gegründet; Direktor wurde der Ökonom Max Millikan, der nicht nur ein Teilnehmer von Project Troy gewesen war, sondern als Assistenzdirektor für die CIA gearbeitet hatte. Millikan gelang es, für CENIS unter anderem Daniel Lerner, Lucian Pye und Walt Rostow zu rekrutieren. Das Zentrum wurde zunächst vor allem von der Ford Foundation und von der CIA finanziell unterstützt, später auch von der Rockefeller Foundation und der Carnegie Foundation. CENIS sollte insbesondere die Rolle der USA in deren Unterstützung ökonomischen, sozialen und politischen Wandels in den postkolonialen Regionen der Erde analysieren (Gilman 2003: 157-159). Auch die Ethnologie war beteiligt an der Ausarbeitung des modernisierungstheoretischen Paradigmas. Zudem waren die Verknüpfungen zwischen Ethnologie und den politischen Zielen der Regierung bereits zur Zeit des Zweiten Weltkriegs stark ausgeprägt (siehe González 2004b: 10; Gilman 2002: 4). Ein Beispiel dafür ist die culture-and-personality-Schule, die in der Ethnologie gegen Ende der 1940er Jahre und in den 1950er Jahren zwar mehr und mehr an Bedeutung verlor, aber trotzdem einen großen institutionellen und intellektuellen Einfluss auf die amerikanischen Sozialwissenschaften in der Ära des Kalten Krieges ausübte. »Besides those anthropologists who had engaged in national-culture

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studies for the government, others had been employed during the war to train soldiers in exotic, and now military useful, languages, often using techniques developed by Sapir and Boas« (Hegeman 1999: 167-168). Diese Verknüpfungen zwischen Ethnologie und Regierungspolitik im Rahmen von national-characterStudien und language training zahlte sich für manche Ethnologen durch Regierungsstipendien aus, mit deren Hilfe militärisch bedeutsame Nationen untersucht werden sollten. Eines dieser Projekte war Ruth Benedicts von der Navy finanziertes Research on Contemporary Cultures-Projekt, an dem sie bis zu ihrem Tod 1948 arbeitete. In area studies sollten einzelne Länder interdisziplinär erforscht werden; diese Forschungsrichtung profitierte vom ethnologischen culture-and-personalityAnsatz. Dies wird besonders deutlich bei Clyde Kluckhohn, der sich zunächst als Spezialist der Navajo einen Namen gemacht hatte, während des Zweiten Weltkriegs im Office of War Information von der Regierung finanzierte Studien zum ›nationalen Charakter‹ durchführte und schließlich der erste Direktor von Harvards neuem Russian Research Center nach dem Zweiten Weltkrieg wurde (Hegeman 1999: 168). Area studies nahmen in der sozialwissenschaftlichen Rechtfertigung des amerikanischen Expansionismus eine besondere Rolle ein, wie Carl Pletsch argumentiert (Pletsch 1981): Das Paradigma der ›Drei Welten‹ teilte den Globus auf in das Eigene (die rationale, entwickelte, ›freie‹ Welt), das Fremde (die kommunistische ›zweite Welt‹) und die Gebiete, um die die ›Erste‹ und ›Zweite Welt‹ kämpften – die sich entwickelnde ›Dritte Welt‹. Diese Unterteilung beruhte auf einem hierarchischen Verständnis zwischen dem Eigenen und dem Fremden, das zugleich ein Entwicklungsgefälle ausdrückte. Obwohl amerikanische Ethnologen schon frühzeitig auf die Verschränkung zwischen der britischen Social Anthropology und dem Kolonalismus hinwiesen, erkannten sie in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst nur selten die vergleichbare Dynamik zwischen ihrem eigenen Werk und den Zielen der US-Regierung.

Project Camelot Project Camelot setzte die enge Verknüpfung zwischen den Sozialwissenschaften und der amerikanischen Regierung sowie des Militärs fort, kann also als frühes Paradigma des military-industrial-academic complex interpretiert werden. »Rooted deeply in the post-war partnership with the military, Camelot promised to provide American social scientists with abundant resources and opportunities to fulfil the twin goals of producing first-rate science and solving important political problems« (Solovey 2001: 179).14 Ziel von Project Camelot, das 1964 vom US-amerikanischen Militär geplant wurde, war die Analyse revolutionärer Bewegungen und counter-insurgency in Ländern der ›Dritten Welt‹ – insbesondere 14 Zu Project Camelot siehe auch Beals 1969: 4-11; Deitchman 1976; Herman 1998; Horowitz 1967a; Patterson 2001: 124-126.

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vor dem Hintergrund von Befreiungskämpfen in vielen dieser Länder, die als Nährboden für eine Ausbreitung des Kommunismus angesehen wurden. In dieser Situation sollte das Potenzial der Sozialwissenschaten dazu genutzt werden, um die Ausbreitung des Kommunismus zu verhindern. Die Verknüpfung von wissenschaftlichen und politischen Zielen von Project Camelot wird in einem Papier des 1956 gegründeten und vom Militär unterstützten Special Operations Research Office (SORO) vom Dezember 1964 deutlich: »Project CAMELOT is a study whose objective is to determine the feasibility of developing a general social systems model which would make it possible to predict and influence politically significant aspects of social change in the developing nations of the world. Somewhat more specifically, its objectives are: First, to devise procedures for assessing the potential for internal war within national societies; Second, to identify with increased degrees of confidence those actions which a government might take to relieve conditions which are assessed as giving rise to a potential for internal war; and Finally, to assess the feasibility of prescribing the characteristics of a system for obtaining and using the essential information needed for doing the above two things« (zit. nach Horowitz 1967a: 47-48).

Project Camelot lag der Glaube zu Grunde, dass behavioristische Expertise einen sehr wichtigen Beitrag zum Gewinn des Kalten Kriegs leisten konnte (Herman 1998: 101). Das Verteidigungsministerium sollte die Finanzierung des Projekts übernehmen; mit der Durchführung wurde SORO beauftragt (Patterson 2001: 124; Solovey 2001: 180). Eine von SOROs Hauptaufgaben war die Erstellung von Handbüchern über Länder auf der ganzen Welt; die Handbücher enthielten Informationen über soziale Strukturen, politische und ökonomische Systeme sowie über revolutionäres Potenzial und trugen Titel wie »How Americans Serving Abroad Can Help the Free World Win the Battle of Ideas in the Cold War« (zit. nach Solovey 2001: 180). Die geographische Reichweite des Projekts war beeindruckend; der Schwerpunkt lag auf Ländern Lateinamerikas, doch es waren auch Studien über Ägypten, Iran, Türkei, Korea, Indonesien, Malaysia, Thailand, Frankreich, Griechenland und Nigeria geplant (Horowitz 1967a: 57). Das Projekt wurde von Beratern führender US-amerikanischer Hochschulen unterstützt, unter anderem der University of California in Berkeley, dem MIT, Princeton, Stanford oder Columbia. Zum Direktor wurde Rex D. Hopper ernannt, ein LateinamerikaSpezialist, der sich mit revolutionären Bewegungen beschäftigte und bereits 1950 argumentierte, dass eine generalisierende Beschreibung revolutionärer Prozesse die Grundvoraussetzung ihrer Kontrolle sei (Hopper 1950). Die finanzielle Ausstattung war vergleichsweise großzügig: Für die Machbarkeitsstudie waren für vier Jahre rund sechs Millionen US-Dollar eingeplant; SORO-Direktor Theodore R. Vallance stellte bei einem Erfolg weitere Projekte in Aussicht, und es war die Rede davon, Project Camelot könne sich als ein sozialwissenschaftliches Äquivalent zum Manhattan Project erweisen (Solovey 2001: 182).

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Dass dann alles ganz anders kam, hatte viele Gründe. Als wichtig für das Scheitern von Project Camelot erwies sich die weltpolitische Lage, insbesondere der Vietnamkrieg, der Anfang 1965 mit der Bombardierung Nordvietnams in eine neue Phase eingetraten war. Auslöser für das Scheitern war aber eine Reise des Ethnologen Hugo Nutini in sein Geburtsland Chile im April 1965, offensichtlich um dortige Wissenschaftler für Project Camelot zu interessieren – obgleich Nutini kein offizieller Beauftragter des Projekts war. Unter anderem traf er auch Alvaro Bunster, Generalsekretär der Universität von Chile. Nutini gab allerdings in diesen Gesprächen nicht an, dass Project Camelot vom amerikanischen Verteidigungsministerium finanziert werden sollte, obwohl er an den Planungen des Projekts beteiligt gewesen war. Stattdessen behauptete er, das Projekt werde von der zivilen National Science Foundation finanziell unterstützt. Bunster war allerdings misstrauisch, und als er eine Projektbeschreibung gelesen hatte, war er davon überzeugt, dass das Projekt eine politische Natur hatte und die Souveränität der chilenischen Nation untergraben könnte. Ungefähr zur gleichen Zeit lehnte der norwegische Sozialwissenschaftler Johan Galtung, der sich ebenfalls in Chile aufhielt, eine Beteiligung an dem Projekt ab und diskutierte dessen politische Implikationen mit Wissenschaftlern aus Chile, anderen lateinamerikanischen Ländern und Norwegen (Horowitz 1967b: 13). Für Johan Galtung besteht ein entscheidendes Problem von Project Camelot darin, dass wissenschaftliche und politische Intentionen miteinander vermengt werden. Galtung begründet dies nicht allein dadurch, dass das Projekt von der amerikanischen Armee finanziert werden sollte; vielmehr drückt sich in Project Camelot eine politische Weltsicht aus, die die Grundlage für politische Handlungen sein sollte: »the project was a clearly political one, defining the problems of the world in terms extremely close to exactly what people of the Left, all over the world, feel to be the U.S. perception of world problems« (Galtung 1967: 289). Aus einer US-amerikanischen Perspektive mögen die politischen Grundlagen des Projekts kaum sichtbar sein, weil sie möglicherweise als selbstverständlich angesehen werden. Was wäre aber, fragt Galtung, wenn das sowjetische Verteidigungsministerium Anfang der 1950er Jahre ein sozialwissenschaftliches Projekt entwickelt hätte, um ›befreundete Regierungen‹ bei der Aufrechterhaltung ›politischer Stabilität‹ zu helfen, beispielsweise Ungarn? Galtung kritisiert weniger die Tatsache, dass Project Camelot eine politische Perspektive ausdrückt, sondern vor allem die interventionistische Ausrichtung des Projekts. Darüber hinaus findet sich, so Galtung, in den konstituierenden Dokumenten des Projekts kein Plädoyer für die Unterstützung demokratischer Systeme in Lateinamerika (Galtung 1967: 293). Schließlich ist Project Camelot für Galtung auch Ausdruck eines ›wissenschaftlichen Kolonialismus‹, der sich insbesondere in den area studies ausdrückt und impliziert, dass Wissenschaftler von den wissenschaftlich mächtigen Nationen mehr über andere Länder wissen als die Menschen, die dort leben. Dem liegt unter anderem die Idee eines unbeschränkten Zugangs zu Daten zu Grunde, »just as the colonial power felt it had the right to lay its hand on any

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product of commercial value in the territory« (Galtung 1967: 300). Diese Wissensasymmetrien können für Galtung auch zu einer Stabilisierung von internationalen politischen Asymmetrien beitragen (Galtung 1967: 299). In der chilenischen Presse wurde das Projekt heftig kritisiert (Horowitz 1967b: 14), und auch das chilenische Parlament befasste sich mit Project Camelot. Eine Rolle für die heftige Kritik an dem Projekt in Chile spielte die Stationierung amerikanischer Truppen in der Dominikanschen Republik im Mai 1965, die die Befürchtung aufkommen ließ, dass das Projekt nur der erste Schritt einer USamerikanischen Intervention in Chile sein könnte. Aniceto Rodriguez, ein Mitglied des Parlaments, nannte Nutini einen heruntergekommenen Chilenen, der sein Land verleugnet habe und ein Yankee-Spion geworden sei; später untersagte die chilenische Regierung Nutini sogar die Einreise in sein Geburtsland (Solovey 2001: 185). Der chilenische Abgeordnete Jorge Montes beklagte sich über »the determination on the part of U.S. foreign policy to intervene in any country of the world where popular movements might threaten its interests. To this end, they use a covert form of espionage, which they try to present in terms of scientific research, thus violating the most elementary forms of sovereignty« (Montes 1967: 232). Der Vorsitzende des chilenischen Untersuchungsausschusses zu Project Camelot, Andrés Aylwin, beklagte sich darüber, dass in den Zielvereinbarungen von Project Camelot viel die Rede sei von Armut, Hunger oder Arbeitslosigkeit, dass diese Faktoren aber nur eine Rolle für die Analyse von politischer Instabilität spielten, nicht aber als soziale Probleme erkannt würden, für die Lösungen gesucht werden sollten (Aylwin in Galtung 1967: 291). Im Juli 1965 wurde Project Camelot von US-amerikanischer Seite offiziell gestoppt, und der Kongress diskutierte die politischen Implikationen des Projekts. Dante B. Fascell, der Demokratische Vorsitzende des Subcommittee on International Organizations and Movements, vertrat keineswegs eine Außenseitenposition, als er feststellte: »To do their job in assisting the nations defending themselves against Communist subversion, U.S. military personnel – and the people who are being aided – must understand the motivations of the enemy, its weak points and its strengths. Behavioral sciences research helps to provide this basic information. It constitutes one of the vital tools in the arsenal of the free societies« (Fascell 1967: 188).

Auch unter amerikanischen Sozialwissenschaftlern gab es hinsichtlich der engen Verknüpfung zwischen sozialwissenschaftlicher Expertise und dem Militär unterschiedliche Standpunkte. Ithiel de Sola Pool vom MIT betont die aufklärerischen Funktionen sozialwissenschaftlicher Erkenntnis. Die einzige Hoffnung für eine menschliche Regierungsweise, so de Sola Pool, sei die extensive Nutzung der Sozialwissenschaften durch die Regierung. Das Verteidigungsministerium sieht de Sola Pool als eine zentrale Regierungsinstitution, in dem sozialwissenschaftliches Wissen gefragt sei. Auch Institutionen wie das FBI oder der CIA be-

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nötigten die Hilfe der Sozialwissenschaften; für de Sola Pool wäre ein stärkeres Engagement der Sozialwissenschaften wünschenswert (De Soola Pool 1967: 271). Auch in Entwicklungsländern sei mit einem starken Wachstum der Sozialwissenschaften zu rechnen – und mit dem Wunsch nach Hilfe und Unterstützung von »experienced social scientists from abroad who are willing to turn their interests and attention to the kind of problem that is meaningful to them« (De Soola Pool 1967: 273). De Sola Pool betont allerdings auch, dass es aus ihrer Sicht Grenzen der Forschung über Entwicklungsländer gibt – Grenzen, die von den ›Untersuchten‹ selbst bestimmt werden (De Soola Pool 1967: 274). In der Ethnologie überwogen demgegenüber die kritischen Stimmen zu Project Camelot (siehe Trencher 2000: 122). Zudem gab es unter Ethnologen die Befürchtung, dass es für amerikanische Wissenschaftler in der Zukunft wesentlich schwieriger werden könnte, Feldforschungen in Lateinamerika und in anderen Ländern der ›Dritten Welt‹ durchzuführen (AAA Nov. 1965: 1). Einige Ethnologen, darunter Morton Fried, Marvin Harris und Eric Wolf, veröffentlichten das Memorandum »Government Involvement and the Future of Anthropological Field Research«, in dem sie die Besorgnis äußerten, die Unabhängigkeit ethnologischer Forschung könne durch das von Project Camelot verkörperte Prinzip verloren gehen (AAA Dez. 1965: 1-2). Auf dem jährlichen Treffen der AAA im November 1965 entschied sich das Executive Board dazu, ein Komitee einzuberufen, um die Verknüpfungen zwischen Ethnologen und finanzierenden Institutionen genauer zu beleuchten (AAA Dez. 1965: 1). Auf diesem Meeting hielt Sahlins eine Rede, in der er weitreichende Kritik an Project Camelot und vergleichbaren Projekten äußerte (Sahlins 1967). Sahlins argumentiert zunächst, dass Project Camelot keineswegs ein Einzelfall sei; vielmehr finanziere die CIA weitere Forschungen von Ethnologen, unter anderem über den Weg von privaten Stiftungen. In den Augen Sahlins’ gefährden diese Verbindungen die Natur wissenschaftlicher Forschung: »the least we can do is protect the anthropologist’s relation to the Third World, which is a scholarly relation. Fieldwork under contract to the U.S. army is no way to protect that relation« (CP: 263). Sahlins sieht Project Camelot als ein weiteres Beispiel für den internationalen Interventionismus der USA im Kalten Krieg. Für Sahlins spiegelt das Projekt die Bereitschaft wider, in autonome Entwicklungen anderer Länder einzugreifen – mit Unterstützung von Sozialwissenschaftlern im Allgemeinen und Ethnologen im Besonderen; das Ziel sei die Stabilisierung des jeweiligen Systems zum Schutz der USA. »Movements for radical change are in Camelot’s view a disease, and a society so infected is sick« (CP: 267). Die Finanzierung ethnologischer Forschung durch Regierungsbehörden hält Sahlins in diesem Kontext für eine große Gefahr, weil dadurch die Unabhängigkeit der Wissenschaft verloren gehe und Sozialwissenschaftler eines Projektes wie Camelot »scholastics of cold war theology« seien (CP: 268). Als ein Ergebnis der Auseinandersetzungen in der Ethnologie um den Vietnamkrieg wurde in der AAA das ›Committee on Research Problems and Ethics‹

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gegründet, 1967 das ›Statement on Problems of Anthropological Research and Ethics‹ verabschiedet, und 1968 gründete der amerikanische Ethnologieverband ein Ethikkommitee. Sowohl Project Camelot als auch der Vietnamkrieg spielten eine entscheidende Rolle in der zunehmenden Politisierung und den damit verknüpften Diskussionen über ethische Fragen in der amerikanischen Ethnologie. Auch Marshall Sahlins’ politische Kritik hat zu einer solchen Politisierung der Ethnologie beigetragen – einer Politisierung allerdings, der Sahlins in seinem ethnologischen Werk weitgehend nicht gefolgt ist. Zudem verließ Sahlins 1967 die Vereinigten Staaten und arbeitete bis 1969 in Paris am Collège de France. Sahlins entzog sich damit der zunehmenden Radikalisierung des Protests gegen den Vietnamkrieg in den Vereinigten Staaten. »Dès le début, j’ai été pris dans les mouvements de protestation des universités américaines. Mais à un moment donné, cela devenait de plus en plus hystérique et dépourvu d’efficacité ; j’étais content de partir pour la France, c’était une bonne place pour s’éloigner de l’Amérique, pour de bonnes et de mauvaises raisons« (zit. nach Chevalier 2005: 7).

Sahlins’ Aufenthalt in Frankreich hat tiefgreifende Auswirkungen auf sein ethnologisches Werk, das in den folgenden Kapiteln II bis V im Mittelpunkt steht. In Kapitel VI greife ich Sahlins’ Protest gegen den Vietnamkrieg und gegen Project Camelot wieder auf und analysiere seine politischen Schriften im Kontext der ozeanischen Kritik an westlichen Wissenschaftskonzepten.

Kapitel II: Von der Evolution zur Kultur

Im Mittelpunkt dieses Kapitels steht Sahlins’ evolutionistisches und wirtschaftsethnologisches Frühwerk. In Abschnitt eins analysiere ich die Anfänge von Sahlins’ intellektueller Entwicklung. Zunächst bette ich Sahlins’ Frühwerk in den nordamerikanischen Neoevolutionismus ein und arbeite die Relevanz der Ansätze von Leslie A. White und Julian H. Steward für Sahlins’ Ethnologie heraus. Sodann diskutiere ich Sahlins’ erste Arbeiten, insbesondere Social Stratification in Polynesia und ›Evolution. Specific and General‹. Im Anschluss daran analysiere ich Sahlins’ Auseinandersetzung mit dem britischen Strukturfunktionalismus von E.E. Evans-Pritchard in ›The Segmentary Lineage‹ und seine Rezeption der substantivistischen Wirtschaftstheorie von Karl Polanyi. Hier stehen zwei von Sahlins’ bekanntesten Arbeiten im Mittelpunkt: ›Political Types in Melanesia and Polynesia‹ und ›On the Sociology of Primitive Exchange‹. Abschließend analysiere ich einige zentrale Entwicklungs- und Konfliktlinien, die Sahlins’ Frühwerk bis Mitte der 1960er Jahre prägen und auch für Stone Age Economics von Bedeutung sind. Abschnitt zwei widmet sich Sahlins’ Wirtschaftsethnologie. Wie irreführend es sein könnte, zwischen einer ›evolutionistischen‹ und einer ›wirtschaftsethnologischen‹ Werkphase zu unterscheiden, zeigt sich unter anderem daran, dass ich die Arbeit ›On the Sociology of Primitive Exchange‹, die Sahlins in Stone Age Economics aufgenommen hat und die immer wieder als zentraler Aufsatz von Sahlins’ Wirtschaftsethnologie gewürdigt wird (siehe z.B. Paul 1999: 15), auch als Teil seines evolutionstheoretischen Ansatzes interpretiere. Tatsächlich gehört die keineswegs unproblematische Synthese von wirtschaftsethnologischen und evolutionstheoretischen Argumentationsfiguren zu den zentralen Ambiguitäten von Stone Age Economics; zudem ist Sahlins’ früher evolutionstheoretischer Entwurf wirtschaftsethnologisch fundiert. Ich habe mich dennoch dazu entschlossen, Stone Age Economics in einem eigenen Abschnitt zu diskutieren, da Sahlins selbst dieses Werk eher in der Formalismus-Substantivismus-Debatte der Wirtschaftsethnologie situiert als im amerikanischen Neoevolutionismus. Diese

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Verschiebung von der Evolutionstheorie zur Wirtschaftsethnologie zeigt sich auch daran, dass einige Arbeiten in Stone Age Economics konzeptionell mit Sahlins’ frühem evolutionstheoretischem Ansatz kollidieren. Allerdings gibt es zwischen Sahlins’ frühen eher evolutionistischen und seinen wirtschaftsethnologischen Arbeiten keinen vergleichbar klar lokalisierbaren konzeptionellen Bruch wie zwischen Stone Age Economics und Culture and Practical Reason. Um die Bedeutung der wirtschaftsethnologischen Debatten zwischen ›Formalisten‹ und ›Substantivisten‹ für Stone Age Economics zu betonen, eröffne ich Abschnitt zwei mit einer Übersicht dieser Kontroverse; im Anschluss daran analysiere ich die zentralen Aufsätze von Stone Age Economics. Darauf aufbauend diskutiere ich die zentralen Entwicklungs- und Konfliktlinien, die Sahlins’ wirtschaftsethnologischen Ansatz prägen. In Abschnitt drei versuche ich, die Reichweite von Sahlins’ Ansatz aus einer theorievergleichenden Perspektive zu prüfen. Im Mittelpunkt steht die Plausibilität von Sahlins’ Wirtschaftsethnologie im Vergleich zu Maurice Godeliers ethnologischem Entwurf. Dieser Vergleich ist zumindest aus zwei Gründen von besonderem Interesse. Erstens situiert sich Godelier bewusst außerhalb der Formalismus-Substantivismus-Debatte und entwickelt einen ›strukturellen Marxismus‹, auf dessen Gundlage sowohl formalistische als auch substantivistische wirtschaftsethnologische Ansätze als verfehlt betrachtet werden müssen. Interessanterweise macht Sahlins Gebrauch von Godeliers Arbeiten; ein Vergleich beider Positionen bietet sich also an, um die systematische Beziehung von Sahlins’ Entwurf zur marxistischen Wirtschaftsethnologie genauer eingrenzen zu können. Allerdings geht es mir keineswegs darum, Sahlins’ Wirtschaftsethnologie zugunsten eines marxistischen Theorieentwurfs gewissermaßen ›auszuspielen‹. Vielmehr macht Godelier zweitens in seinen neueren Arbeiten, die weniger explizit mit marxistischen Termini und Ideen operieren als sein Frühwerk, auf eine konzeptionelle Grenze aufmerksam, auf die in der neueren wirtschaftsethnologischen Forschungsliteratur immer wieder hingewiesen wird: Aus einer theorieexternen Perspektive erweist sich an Sahlins’ Wirtschaftsethnologie insbesondere das Konzept der Reziprozität als problematisch.

1. Das Frühwerk: Von der Evolution zur Ökonomie Evolution, Stratifikation und Kultur Franz Boas ist der wichtigste Repräsentant der amerikanischen Cultural Anthropology in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Obwohl Boas’ Konzept keineswegs uneingeschränkt als kultureller Relativismus bezeichnen werden kann und nicht systematisch ausgearbeitet vorliegt, ist Boas’ ethnologisches Werk entscheidend für die Entwicklung des relativistischen Kulturkonzepts in der Ethnologie, denn seine Kritik an der gegen Ende des 19. Jahrhunderts vorherrschenden

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evolutionistischen Ethnologie macht die systematische Ausformulierung des ethnologischen Kulturrelativismus durch seine Schüler erst möglich. Boas ist vom deutschen Historismus stark beeinflusst, der die Einmaligkeit und Individualität historischer Ereignisse betont. Dementsprechend vertritt Boas in der Ethnologie einen methodologischen Empirismus (Kohl 1993: 146), lehnt also ein deduktives Vorgehen ab und plädiert stattdessen für detaillierte empirische Kultur- und Sprachuntersuchungen, auf deren Grundlage Übereinstimmungen menschlicher Kulturentwicklung herausgefunden werden können. Boas ist ein Feind der ›großen Theorie‹, und dies wird ihm auch später von Sahlins’ Lehrer Leslie White vorgeworfen (White 1963). Insbesondere richtet sich Boas gegen den vergleichenden Funktionalismus, weil dieser, so Boas, Elemente einer Kultur aus ihrem Kontext herausreißt und weder den Kulturelementen noch dem kulturellen Kontext gerecht werden kann. Damit legt Boas den Grundstein für die kulturrelativistische Überlegung, dass jede Kultur nur aus sich selbst heraus verstanden werden kann.1 Boas hat zahlreiche Schülerinnen und Schüler, die das kulturrelativistische Paradigma der Cultural Anthropology vorantreiben. Alfred L. Kroeber, Robert H. Lowie, Ruth Benedict, Melville J. Herskovits und Margaret Mead prägen die amerikanische Ethnologie für Jahrzehnte und etablieren Bausteine einer ›amerikanistischen‹ Tradition der Ethnologie (Darnell 2001), die erst in den 1950er Jahren merklich an Bedeutung verliert. Ein herausragendes Merkmal dieser Forschungstradition ist die Annahme, Kultur sei kein bloßer Ausdruck von Verhaltensweisen, sondern ein set an Symbolen, die die Grundlage von Handlungen sind. Zudem wird in der boasianischen Ethnologie der sprachlichen Konstituierung der Wirklichkeit große Bedeutung beigemessen, die Analyse von sprachlichen Zeugnissen jeder Art ist in dieser Forschungstradition deshalb zentral. Damit grenzt sie sich insbesondere von der britischen Social Anthropology ab, in der die Untersuchung von Sprache als Bedeutungssystem eine vergleichsweise geringere Rolle spielt. Auch die culture-and-personality-Schule um Ruth Benedict und Margaret Mead, die in den 1930er Jahren an Bedeutung gewinnt, führt dieses boasianische Programm fort. Grundlegend für die ›Kultur-und-Persönlichkeits-Schule‹ ist die These, Kulturen seien weitgehend geschlossene Systeme von Denkformen, Gefühlseinstellungen und Wahrnehmungsformen der Realität, in die die sozialen Akteure hineingeboren werden. Ruth Benedict argumentiert in Patterns of Culture, einem der einflussreichsten Werke dieser Schule, dass einzelnen Kulturen jeweils eigene ›Geisteshaltungen‹ entsprechen, eine jeweils eigene ›Gestalt‹ [cultural configuration], die Ausdruck ihrer ›Persönlichkeit‹ ist, 1

Der beste Ausgangspunkt für eine Auseinandersetzung mit Boas’ Werk ist Stocking 1968 und die Auswahl von Boas’ Schriften in Stocking 1974. Für einen Überblick siehe Petermann 2004: 643-653; für Boas’ politisches Engagement siehe Baker 2004; für die Rolle von Boas’ Ethnologie in der ›amerikanistischen Tradition‹ der US-amerikanischen Ethnologie siehe Darnell 2001: 33-67; für die Beziehung von Boas’ Werk zum Pragmatismus sowie zur Evolutionstheorie siehe Lewis 2001.

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welche wiederum als die Summe aller Individualitäten angesehen werden kann (Benedict 1951). Während Boas’ Einfluss in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch so groß ist, dass Alexander Goldenweiser 1931 im Rahmen seines Eintrags ›Evolution, Social‹ der Encyclopedia of the Social Sciences schreiben kann, dass in der Ethnologie Einigkeit über das Ende der Evolutionstheorie bestehe (siehe Goldenweiser 1931), erfährt die boasianische Ethnologie in den 1950er Jahren eine gewisse Stagnation. Die Neoevolutionisten um Julian H. Steward und Leslie A. White an der Columbia University in New York und an der University of Michigan in Ann Arbor, darunter Marvin Harris, Roy Rappaport, Sidney Mintz, Elman Service und Eric Wolf, konstiuieren demgegenüber eine aufstrebende Bewegung. Im Vergleich zum ›Mainstream‹ der amerikanischen Ethnologie sind die Neoevolutionisten radikal, unter anderem wegen ihrer konzeptionellen Verbindungen zum Marxismus, insbesondere aber aufgrund ihrer Feindschaft gegenüber der boasianischen Synthese. Einer der Hauptvertreter des amerikanischen Neoevolutionismus, Leslie A. White, steht dem Boasianismus zunächst überraschend nahe, denn im Rahmen seiner ›Kultorologie‹ stellt er die These auf, dass menschliches Handeln auf die Fähigkeit des Symbolgebrauchs zurückgeführt werden kann. Allerdings lehnt White die relativistischen Implikationen der boasianischen Ethnologie ab; zudem arbeitet er eine Evolutionstheorie aus, die mit seiner ›Kultorologie‹ konzeptionell kollidiert (siehe Barrett 1989; Sahlins 1999a). White argumentiert in seiner unilinearen Evolutionstheorie, dass der jeweilige Entwicklungsstand einer Kultur aus der pro Kopf verfügbaren Energiemenge und der Effizienz der zu ihrer Umsetzung verfügbaren Geräte abgeleitet werden kann (White 1949).2 Demgegenüber zeigt sich Steward skeptisch hinsichtlich einer universalen kulturellen Evolution und plädiert für ein kulturökologisches Modell multilinearer Evolution, in dem unterschiedliche Evolutionspfade als Anpassungen an unterschiedliche ökologische Umwelten verstanden werden können (Steward 1955). Steward plädiert damit nicht nur – im Gegensatz zu White – für einen multilinearen Evolutionsansatz, sondern ist zugleich ein Wegbereiter der ecological anthropology, die die Prozesse untersucht, durch die sich eine Gesellschaft an ihre Umwelten anpasst.3 Sahlins’ Frühwerk ist durch den Versuch gekennzeichnet, die Positionen von White und Steward in einem kohärenten Modell kultureller Evolution miteinander zu verknüpfen. Sahlins’ Doktorarbeit erscheint 1958 als Social Stratification in Polynesia, nachdem Sahlins bereits zuvor mehrere kulturevolutionistische Ar-

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Dieser technologische Determinismus unterscheidet den Ansatz von White von Morgans Evolutionstheorie (Bloch 1983: 128). – Für eine Übersicht zu Whites Werk siehe Barrett 1989; Petermann 2004: 747-755. William J. Peace hat kürzlich eine exzellente Biographie zu Leslie White vorgelegt (Peace 2004). Siehe für die konzeptionellen Unterschiede zwischen den Ansätzen von White und Steward Bloch 1983: 129. Für Stewards Werk siehe Petermann 2004: 735-745.

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beiten veröffentlicht hat.4 Sahlins geht davon aus, dass die unterschiedlichen Kulturen Polynesiens auf eine gemeinsame Quelle zurückgehen, also Teil eines gemeinsamen cultural genus sind (Sahlins 1957a: 291). Die deutlichen Unterschiede zwischen einzelnen polynesischen Gesellschaften gehen für Sahlins auf jeweils unterschiedliche ökologische Umgebungen zurück, an die sich die einzelnen Kulturen anpassen mussten. Sahlins’ Arbeit ist explizit anti-›boasianisch‹, denn Sahlins betont, dass der native point of view, also die ›Perspektive des Akteurs‹, die in der boasianischen Ethnologie im Mittelpunkt steht, für seine Rekonstruktion ohne Bedeutung ist; auch Forschungen von Ethnographen sind in Sahlins’ Augen nur bedingt weiterführend (Sahlins 1958: 6). Es geht Sahlins um die Analyse sozialer Strukturen und ökonomischer Praktiken, die er als Anpassung an ökologische Umwelten versteht. Sahlins ordnet die von ihm untersuchten Gesellschaften zunächst auf einem universellen Schichtungsgradient an, wobei Gesellschaften, die sich auf unteren Stufen der kulturellen Entwicklung befinden, vergleichsweise ungeschichtet sind. Das Schichtungsmaß definiert Sahlins als die Anzahl unterschiedlicher Ränge und den Umfang, zu dem diese Ränge ungleiche Privilegien zu ökonomischen, sozialen und religiösen Ressourcen ermöglichen. Je größer die Produktivität einer Gesellschaft ist, desto größer sind die Rangunterschiede zwischen Produzenten und Verteilern. Hier führt Sahlins die Argumentation von Leslie A. White fort, denn das von Sahlins postulierte Schichtungsmaß ist letzten Endes abhängig von der Fähigkeit einer Gesellschaft, der natürlichen Umwelt Energie abzugewinnen. Polynesische Gesellschaften unterscheiden sich in Sahlins’ Augen aber nicht nur hinsichtlich ihres unterschiedlichen Schichtungsmaßes; sie haben scheinbar auch unterschiedliche Organisationsprinzipien entwickelt, die Sahlins – im Anschluss an Julian H. Steward – als Formen adaptiver Variation an unterschiedliche Umwelten versteht. Die Form der sozialen Schichtung ist in Sahlins’ Ansatz die jeweilige soziale Organisation des Statussystems, also soziale Prinzipien, die die Rangunterschiede bestimmen. Auf der Grundlage dieses Modells unterscheidet Sahlins zwischen unterschiedlichen Formen sozialer Schichtung in Polynesien. Ramage systems sind aufgegliedert in intern geschichtete, segmentäre und unilineare Verwandtschaftsgruppen, die zugleich politische Einheiten sind (Sahlins 1955: 1047). Grundlegend für ramage-Systeme ist, dass Engpässe in der Produktion einzelner Haushalte durch Verteilungsmechanismen innerhalb einer 4

Sahlins 1955, 1956, 1957a, 1957b, 1958. Für die Bedeutung von Social Stratification in Polynesia für die neoevolutionistische Ethnologie siehe Carneiro 2003: 120121. Für zeitgenössische Kritiken an Sahlins’ Entwurf siehe Firth 1961; Freeman 1961; Goldman 1970: 481. Zu Freemans Kritik siehe auch Sahlins’ Antwort (Sahlins 1964b). – Goldman entwickelt ein von Sahlins’ Frühwerk abweichendes Modell soziokultureller Evolution in pazifischen Gesellschaften, das nicht ökologische Faktoren in den Mittelpunkt rückt, sondern soziokulturelle Evolution als dynamischen Prozess von Statusauseinandersetzungen analysiert. Zum konzeptionellen Unterschied zwischen Sahlins’ Frühwerk und Goldmans Ansatz siehe Howard/Kirkpatrick 1989: 50 und 60-65; Kirch 2000: 249-250.

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großen Verwandtschaftsgruppe aufgefangen werden können (Sahlins 1957a: 294). Descent line systems sind durch räumlich getrennte und politisch autonome Verwandtschaftsgruppen gekennzeichnet. Ramage-Systeme haben sich in Gebieten gebildet, in denen die produktiven Ressourcen weit verstreut sind, währenddessen diese in Gegenden mit descent line systems geographisch konzentriert sind (Sahlins 1958: 252). Weil die einzelnen Haushalte in descent line systems ökonomisch selbständig sind, entwickelt sich keine übergreifende Verwandtschaftsorganisation, die als Grundlage ökonomischer Transaktionen dienen könnte (Sahlins 1957a: 294). Atoll systems schließlich sind komplexe Organisationen ineinandergreifender sozialer Gruppen, die sich in ökologischen Regionen niedriger Produktivität ausbilden (Sahlins 1958: xii). Die eingeschränkte Produktivität verhindert eine Spezialisierung einzelner Verwandtschaftsgruppen; deshalb bilden sich hier besonders komplexe Organisationsprinzipien aus, da jede Person mithelfen muss, jede verfügbare Ressource auszubeuten. Sahlins verallgemeinert seine empirischen Ergebnisse von Social Stratification in Polynesia in seinem wegweisenden Aufsatz ›Evolution. Specific and General‹ (Sahlins 1960a). Sahlins entwickelt hier ein Verständnis kultureller Evolution, das die evolutionistischen Konzepte von Steward und White miteinander verknüpft (siehe Sanderson 1990: 132-133). Sowohl in biologischer als auch in kultureller Evolution gibt es – so Sahlins – zwei Entwicklungsrichtungen. Einerseits bringt Evolution Vielfalt durch adaptive Modifikation hervor, andererseits entsteht durch Evolution Fortschritt, weil höhere Formen aus niedrigeren entstehen und sie ersetzen. Diese beiden Vorgänge, ›spezifische‹ und ›generelle‹ Evolution (Sahlins 1960a: 12-13), interpretiert Sahlins als zwei Aspekte eines übergreifenden Prozesses. Generelle biologische Evolution ist durch einen steigenden Gebrauch der natürlichen Ressourcen und deren Umwandlung in Energie gekennzeichnet. In spezifischer biologischer Evolution passen sich Organismen veränderbaren und unterschiedlichen ökologische Umwelten an; aus der Perspektive der spezifischen biologischen Evolution ist ›Fortschritt‹ eine erfolgreiche Anpassung an veränderbare Umwelteinflüsse. Kulturelle Evolution steht für Sahlins in einer Kontinuität zu biologischer Evolution: Kultur diversifiziert sich durch Anpassung; sie bringt im evolutionären Prozess höhere Formen hervor; schließlich gibt es – wie auch in biologischer Evolution – eine generelle und eine spezifische Form des kulturellen Evolutionsprozesses. In spezifischer Evolution neigt Kultur dazu, sich durch Selektion und Adaption in spezifische Kulturen aufzufächern.5 5

Ein weiteres Beispiel für einen Prozess spezifischer Evolution, in dem die Anpassung an natürliche Umwelten im Mittelpunkt steht, ist Sahlins’ Analyse der so bekannten wie lange rätselhaften Statuen auf der Osterinsel. Sahlins argumentiert, dass diese Artefakte das Ergebnis einer Gesellschaftsform sind, die auf die Ausbeutung natürlicher Ressourcen ausgerichtet war, auf der Osterinsel aber eine andere natürliche Umgebung vorfand, in der die adaptiven Vorteile dieser Gesellschaftsform nicht ausgeschöpft werden konnten. Deshalb wurden die ›überschüssigen‹ Arbeitskapazitäten in die Produktion der Statuen umgeleitet (Sahlins 1955).

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Generelle kulturelle Evolution ist dadurch gekennzeichnet, dass höhere kulturelle Formen aus niedrigeren hervorgehen. Diese höheren Formen von Kultur haben für Sahlins die Eigenschaft, wachsende Mengen an Energie nutzbar zu machen. Kulturen, die mehr Energie verbrauchen, weisen in Sahlins’ Augen eine komplexere Organisationsstruktur auf (siehe bereits Sahlins 1956). Obwohl generelle und spezifische Evolution keine getrennt ablaufenden Prozesse sind, können sie in Sahlins’ Augen analytisch voneinander unterschieden werden: Spezifische Evolution versteht Sahlins als eine Abfolge miteinander verknüpfter Ereignisse, währenddessen generelle Evolution als Abfolge universeller Entwicklungsstadien verstanden werden kann, und zwar von ›Horde‹ [band] über ›Stamm‹ [tribe] und ›Häuptlingstum‹ [chiefdom] zum ›Staat‹ [state].

Evolutionismus und Strukturfunktionalismus Die These, dass spezifische soziokulturelle Entitäten als Anpassungen an ihre Umwelten verstanden werden können, ist zunächst gegen den kulturellen Relativismus der boasianischen Ethnologie gerichtet, denn ähnliche Umwelten bringen für Sahlins auch mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit ähnliche soziokulturelle Lebenswelten hervor. Die symbolische Organisation der Realität ist letzten Endes eine abhängige Variable von wechselnden Umweltbedingungen; Kulturen können in Sahlins’ Augen eben nicht ›aus sich selbst heraus‹ verstanden werden, sondern nur im Rahmen von Prozessen spezifischer und genereller Evolution. Sahlins’ Ansatz ist auch eine Alternative zum Strukturfunktionalismus der britischen Social Anthropology, der soziale Organisationsformen mit funktionalen Erfordernissen der Strukturerhaltung verknüpft. In seinem Aufsatz über ›The Segmentary Lineage‹ setzt sich Sahlins mit dieser Theorietradition auseinander; er analysiert hier so genannte segmentäre Lineage-Gesellschaften Afrikas auf der Grundlage seiner These, dass sich Kulturen nicht nur aus kulturinternen Gründen wandeln, sondern auch im Rahmen einer Konkurrenzsituation mit anderen Kulturen (Sahlins 1961).6 Für Sahlins verliert sich der britische Strukturfunktionalismus in einem reinen Formalismus und lässt die wichtigsten Eigenschaften der segmentären Lineage-Organisation im Dunkeln. Sahlins kritisiert EvansPritchard dafür, in The Nuer (Evans-Pritchard 1969) die Gründe für gesellschaftliche Segmentation bei den Nuer in ihrer politischen Struktur selbst zu suchen und ›ökologische‹ (also kulturexterne) Faktoren zu vernachlässigen; damit hinterlässt Evans-Pritchard den Eindruck, so Sahlins, dass die Nuer segmentär organisiert sind, weil das Prinzip ihrer Organisation das der Segmentation ist. Demgegenüber interpretiert Sahlins das segmentäre Lineage-System der Nuer und

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Damit erweitert Sahlins Stewards ecological anthropology, denn er plädiert für einen evolutionistischen Ansatz, auf dessen Grundlage kulturelle Evolution nicht allein als Anpassung an natürliche, sondern auch als Anpassung an kulturelle Umwelten verstanden wird (siehe auch Sahlins 1964a: 134).

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auch der Tiv als ein soziales Instrument des Eindringens und des Wettkampfes in einer bereits besetzten ökologischen Nische. Segmentäre Lineage-Systeme sind ein besonders prägnantes Beispiel für die ›Einbettung‹ des Politischen in soziale Zusammenhänge. Beispiele für ›akephale‹ Gesellschaften sind die Tallensi oder die Nuer in West- und Zentralafrika. Diese Gesellschaften befinden sich mit den Worten Evans-Pritchards in einer ›regulierten Anarchie‹; sie verfügen über kein permanentes politisches Oberhaupt, sondern integrieren sich über die Strukturierungsleistungen der sozialen Segmente. Bekanntlich traf die Kolonialherrschaft bei diesen Gesellschaften auf viel Widerstand, und es war auch nicht möglich, wie beispielsweise in Indien Häuptlinge, Könige oder andere Oberhäupter als Agenten kolonialer Herrschaft im Rahmen einer indirect rule einzusetzen (siehe Sigrist 1967). Für eine ›eurozentrische‹ politische Theorie sind segmentäre Lineage-Gesellschaften höchst ungewöhnlich, denn diese sozialen Gruppen kennen nicht nur keine Oberhäupte; die sozialen Strukturen scheinen sich auch ständig zu verschieben, es gibt nur temporäre, also scheinbar höchst instabile Zusammenschlüsse. Wie kann es dennoch zu einer Integration des politischen Ganzen kommen? Dies ist eine Grundfrage von The Nuer, ein Klassiker der political anthropology und zugleich ein Grundlagenwerk der Theorie segmentärer Gesellschaften (Evans-Pritchard 1969). Evans-Pritchards Modell der segmentären Lineage-Gesellschaften verknüpft zwei Prinzipien sozialer Organisation in ein kohärentes Modell. Einerseits ist die Nuer-Gesellschaft territorial organisiert, wobei die größte territoriale Gruppe der Stamm ist, der in kleinere territoriale Segmente aufgeteilt ist, die wiederum aus noch kleineren Segmenten bestehen. Sahlins nennt in seiner Interpretation von Evans-Pritchards Material das zu Grunde liegende Prinzip das der Segmentation, also der alltägliche Vorgang des gesellschaftlichen Wachstums durch Teilung in gleichwertige Teile. In den Gesellschaften der Nuer und der Tiv bilden sich höhere Stufen politischer Organisation durch eine Integration gleichwertiger Teile niedrigerer Stufen. Diese Segmente haben keine ›absolute‹ Existenz, sondern entstehen nur in spezifischen Situationen in Opposition zu anderen Segmenten. Es gibt keine dauerhaften politischen Einheiten; vielmehr entspricht die erreichte politische Organisationsform der sozialen Ordnung den jeweiligen Oppositionen, und einzelne Segmente hören auf, als organisatorische Einheiten zu handeln, wenn diese Oppositionen verschwinden. Zwei Dörfer können also untereinander verfeindet sein, sich zu einem anderen Zeitpunkt aber zu einem Segment zusammenschließen, um gegen ein anderes zu kämpfen. Evans-Pritchard nennt dies fission and fusion, Sahlins in seiner Interpretation das Prinzip der strukturellen Relativität. Neben der territorialen Organisation gibt es zweitens eine verwandtschaftliche Organisation, so genannte descent groups. Das Prinzip der Linearität ordnet die Beziehungen zwischen einzelnen Segmenten entsprechend der genealogischen Bindungen zwischen ihren einzelnen Linien; dies impliziert gewissermaßen eine Lineage-Superstruktur, die die einzelnen lokalen Segmente vereint. Jeder Stamm wird mit einem dominanten Clan assoziiert, und ihre einzelnen

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Segmente (von maximal lineages zu minimal lineages) werden mit einem bestimmten Level sozialer Organisation assoziiert. Das Lineage-System ist eine Ausdrucksweise, in der territoriale politische Beziehungen artikuliert werden; damit löst Evans-Pritchard den Gegensatz zwischen descent groups und territorialen Gruppen auf, weil die eine Organisationsform auf die andere verweist. In seiner Interpretation bezeichnet Sahlins dieses Prinzip als lokal-genealogische Segmentation, weil lokale Segmentation gleichzeitig auch Lineage-Segmentation ist; höhere politische Ebenen sind zugleich höhere Lineage-Ebenen. Evans-Pritchards Modell wurde dafür kritisiert, zu abstrakt zu sein, um erfassen zu können, was on the ground tatsächlich vorgeht. Als problematischer erwies sich allerdings die postulierte Entsprechung von descent groups und territorialer Organisationsstruktur, denn in The Nuer muss Evans-Pritchard eingestehen, dass die jeweiligen Entsprechungen nur unvollständig seien. Vor der Veröffentlichung von The Nuer hatte Evans-Pritchard diese Diskontinuitäten darauf zurückgeführt, dass die Nuer sich in einer Transitionsphase von einem reinen Lineage-System zu einem territorial organisierten politischem System befänden; er argumentierte sogar, dass das Clan-System ein Hindernis in der politischen Entwicklung der Nuer-Gesellschaft darstelle (Kuper 1996: 89). In The Nuer präsentiert Evans-Pritchard demgegenüber eine synchronische Analyse, in der sich die beiden Prinzipien der genealogischen und territorialen Organisationsweisen (wenn auch unvollständig) entsprechen und aufeinander verweisen. In EvansPritchards strukturfunktionalistischem Modell stellen beide Prinzipien also keine historische Opposition dar, sondern bilden eine funktionale Einheit. Allerdings argumentiert Evans-Pritchard nicht, dass genealogisch organisierte segmentäre Lineages tatsächlich existieren; vielmehr ist die segmentäre Lineage-Organisation in den Augen Evans-Pritchards »a system of values linking tribal segments and providing the idiom in which their relations can be expressed and directed« (Evans-Pritchard 1969: 212). Unterschiede zwischen dem Modell und beobachtbaren Handlungsweisen sind für Evans-Pritchard also wenig problematisch. Fraglich ist aber, ob die Nuer zur Zeit von Evans-Pritchards Feldforschung tatsächlich über ein solches Wertesystem verfügten; aus Evans-Pritchards Analyse geht dies nicht unbedingt hervor, und Kuper argumentiert, dass das Modell letztlich weder das Verhalten der Nuer noch ihr Wertesystem gut beschreibe (Kuper 1996: 90-91). In Sahlins’ evolutionistischer Interpretation entwickeln sich segmentäre Lineagesysteme insbesondere in einer tribalen interkulturellen Umgebung – sie sind, so Sahlins, wahrscheinlich unnötig gegenüber ›Horden‹, also autonomen, kleinen Gruppen bis zu 50 Menschen, und unwirksam gegenüber Häuptlingstümern und Staaten. Die Nuer und die Tiv (von Sahlins auch ›Tiv-Nuer‹ genannt) sind tribale Gesellschaften mit autonomen und solidarischen primären Segmenten. Beide Gesellschaften, so Sahlins, dringen in ein ökologisches Gebiet vor, das bereits von anderen Gesellschaften besetzt ist; der Erfolg der Tiv-Nuer hängt für Sahlins von ihrer Fähigkeit ab, sich oberhalb der primären Ebene der Segmenta-

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tion zu organisieren. Die Ausdehnung der Tiv in Nigeria vollzog sich – so Sahlins – auf Kosten anderer Völker, die von den Tiv vertrieben oder von wachsenden Tiv-Kolonien gewissermaßen infiltriert wurden. Der entscheidende Faktor ist für Sahlins ihr Lineage-System, wodurch die Tiv einen massiven Druck auf ihre Gegner ausüben können, während jene unfähig sind, ihre Gebiete in einem vergleichbaren Maßstab zu verteidigen. Die expansiven Vorstöße der Tiv entstehen auf niedrigen Ebenen der segmentären Organisationsform und entwickeln sich nach oben durch höhere Ebenen und nach außen bis an die Grenzen von Tivland fort. Jeder Häuptling eines kleinsten Segments beansprucht gegenüber anderen Segmenten das Recht auf genügend Ackerland; dies bringt das jeweilige Segment in einen Konflikt mit anderen Segmenten. Dabei wird die Richtung der Ausdehnung des bebauten Landes vor allem durch taktische Überlegungen beherrscht – die Tiv bewegen sich gegen die angrenzenden Segmente, die am entferntesten verwandt sind. Durch das Prinzip der komplementären Opposition – jede Opposition zwischen einzelnen Segmenten dehnt sich automatisch auf die größten gleichwertigen Lineages aus, denen die verfeindeten Parteien jeweils angehören – werden untergeordnete und übergeordnete Segmente gegen ihre entsprechenden Gruppen mobilisiert; dadurch entsteht ein starker zentrifugaler Druck, denn diejenigen Segmente, die geographisch von innen nach außen geschoben werden, versuchen sich wiederum nach außen auszudehnen. Das segmentäre Lineage-System kanalisiert inneren Druck nach außen bis hin zu einem explosiven Ausbruch von Gewalt gegenüber anderen Völkern. Die Expansion der Nuer gegen die Dinka ist für Sahlins ein Beispiel einer erfolgreichen Eroberung einer besonderen ökologischen Nische: die Savanne des Sudan. Die soziale Organisation der Dinka ist im Unterschied zu den Nuer nicht gekennzeichnet durch das Prinzip der komplementären Opposition. Dies liegt daran, dass sich die Dinka zunächst ohne großen Widerstand ausgebreitet zu haben scheinen; die Besiedlung eines großen, nicht umstrittenen Gebiets begünstigt die Entstehung einer schwachen und zerstückelten politischen Ordnung. Die Nuer hingegen verbreiteten sich in einer bereits besetzten ökologischen Nische; dies stellte sie vor andere Probleme als die Dinka. In diesem Expansionsprozess machte sich die Eigenschaft der segmentären Organisation der Nuer bezahlt, sich durch komplementäre Opposition zu vereinigen und zu segmentieren. Sahlins interpretiert die segmentäre Lineage-Organisation deshalb als eine adaptive Lösung. Sahlins zieht aus seiner Analyse fünf Schlussfolgerungen. Erstens sieht Sahlins ein segmentäres Lineage-System als ein soziales Instrument der temporären Vereinigung des fragmentierten tribalen Gemeinwesens für gleichgerichtete Aktionen nach außen. Zweitens lassen sich segmentäre Lineage-Systeme nicht in allen Stämmen nachweisen. Voraussetzung dafür sind bestimmte soziale Bedingungen, vor allem das Prinzip der Linearität, welches wiederum gekoppelt ist an die langfristige Verwendung begrenzter ökologischer Ressourcen. Drittens entwickelt sich ein segmentäres Lineage-System eher in einer tribalen Gesellschaft, die in ein bereits besetztes Gebiet einzudringen sucht. In der Abwesenheit einer

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sozialen Konkurrenzsituation bleiben kleine Segmente organisatorisch eher autonom und sind in erster Linie durch ›mechanische Solidarität‹ verknüpft. Viertens glaubt Sahlins, dass ein segmentäres Lineage-System auf lange Sicht wahrscheinlich nur ein vorübergehendes gesellschaftliches Organisationsprinzip ist. Die Kraft, welche den zeitweiligen Zusammenschluss zwischen einzelnen Segmenten begünstigt, schwindet, wenn eine segmentäre Lineage-Gesellschaft erfolgreich Konkurrenten aus ihrem Gebiet vertreibt; deshalb ist ein segmentäres Lineage-System letztlich selbstzerstörend. Fünftens entsteht ein segmentäre Lineage-System in einer intertribalen Umwelt, also im Wettkampf zwischen Gesellschaften auf tribaler Ebene. Evans-Pritchards frühe Idee, dass sich die Nuer in einer Transitionsphase von einem segmentären Lineage-System zu einem territorial organisierten System befinden, verhält sich konträr zu Sahlins’ These, dass das segmentäre LineageSystem der Nuer ein Mittel zur räuberischen Expansion der Nuer sei. EvansPritchards in The Nuer ausgearbeitete These einer Komplementarität zwischen der segmentären Lineage-Organisation und der territorialen Organisation scheint Sahlins’ Modell der segmentären Lineage zwar zunächst näher zu kommen, weil auch Sahlins von einer Komplementarität zwischen lokaler und genealogischer Segmentation ausgeht. Doch tatsächlich formuliert Sahlins Evans-Pritchards Modell gleich in mehrererlei Weise um. Erstens ersetzt Sahlins Evans-Pritchards synchronische strukturfunktionalistische durch eine evolutionstheoretische Analyseperspektive. Zweitens lehnt Sahlins Evans-Pritchards Funktionalismus ab, wonach die Organisationsprinzipien segmentärer Lineage-Gesellschaften die Funktion der politischen Stabilisierung besitzen, plädiert zugleich aber für einen anders gelagerten Funktionalismus, der die sozialen Institutionen der Nuer und der Tiv als Anpassungen an kulturelle Umwelten versteht. Drittens stellt Sahlins das Prinzip der genealogischen Segmentation in den Mittelpunkt seiner Analyse, und zwar nicht als ein System von Werten, die territoriale Organisationsprinzipien ausdrücken, sondern als ein System von Handlungsweisen, die Sahlins als ein höchst ›reales‹ politisches Organisationsprinzip versteht.

Die ökonomischen Grundlagen politischer Evolution In ›The Segmentary Lineage‹ interpretiert Sahlins soziale Strukturen aus einer funktionalistischen Perspektive; Sahlins erweitert hier den Ansatz von Social Stratification in Polynesia, denn in seiner Arbeit über die Nuer und die Tiv steht nicht die Anpassung an natürliche, sondern an kulturelle Umwelten im Mittelpunkt. Die an Julian H. Steward anschließende Denkfigur, Gesellschaften seien Anpassungen an Umwelten, gibt Sahlins in den folgenden Jahren zwar noch nicht auf, doch für ihn rücken nun mehr und mehr ökonomische Prozesse in den Mittelpunkt seines Interesses. Bereits in Social Stratification in Polynesia argumentiert Sahlins, dass ökonomische Prozesse, insbesondere Austauschprozesse, eine Verbindung sind zwischen dem jeweiligen Stand genereller Evolution und

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der damit verknüpften politischen Organisationsstruktur. Produktivitätssteigerungen im evolutionären Prozess sind mit einer politischen Hierarchisierung verknüpft, die wiederum auf ökonomischen Austauschprozessen basiert. Hier deutet sich bereits das zentrale Motiv von Sahlins’ Wirtschaftsethnologie an, das er in den folgenden Jahren weiter ausarbeitet. Ökonomische Prozesse, insbesondere Reziprozitätsbeziehungen, haben eine große Bedeutung für den kulturellen Evolutionsprozess, zudem spielen sie eine politische Rolle in ›primitiven‹ Gesellschaften. »Considered […] in general perspective, in the evolution of culture as a whole, productivity, the tribal economy, and political power proceed together. The higher the productivity, the more differentiated and larger the tribal economy, and the more developed the chiefly powers« (Sahlins 1960b: 412). Sahlins’ Ansatz unterscheidet sich damit vom Strukturfunktionalismus der britischen Social Anthropology, denn während beispielsweise für Radcliffe-Brown die Ökonomie abhängig von der Sozialstruktur ist (Radcliffe-Brown 1952: 197-198), interpretiert Sahlins soziale Beziehungen und Strukturen nur als Teil eines größeren gesellschaftlichen Ganzen. Sahlins kritisiert Radcliffe-Browns These, dass Technologie, Ideologie und Ökonomie in erster Linie relevant sind, weil sie zur Stabilisierung eines sozialen Systems beitragen, das durch eine spezifische soziale Struktur definiert ist. Das System, in dem Menschen leben, ist für Sahlins »a complex mechanism by which people exist and persist. It is organized not merely to order human relations, but to sustain human existence« (Sahlins 1963b: 49). Hier zeigt sich der Einfluss Karl Polanyis, dessen Typologien bereits in Sahlins’ frühen Arbeiten eine wichtige Rolle spielen (Sahlins 1955, 1958). Sahlins besucht in den 1950er Jahren Karl Polanyis Seminare an der Columbia University, aus denen Trade and Market in the Early Empires hervorgehen (Polanyi et al. 1957),7 und macht Polanyis Modelle für seine eigene Forschung fruchtbar. Grundlegend für Polanyis Wirtschaftstheorie ist die Unterscheidung zwischen einer ›substantivistischen‹ und einer ›formalistischen‹ Bedeutung des ›Ökonomischen‹.8 »The substantive meaning of economic […] refers to the interchange with his [man’s] natural and social environment, in so far as this results in supplying him with the means of material want satisfaction. The formal meaning of economic […] refers to a definite situation of choice, namely, that between the different uses induced by an insufficiency of those means« (Polanyi 1957: 243).9

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Interview mit Marshall Sahlins an der University of Chicago, 7. April 2005. Siehe dazu Polanyi 1977; 1978; Polanyi et al. 1957. Zu Polanyis Gesamtwerk siehe Baum 1996; Halperin 1988, 1994; Humphreys 1969; Stanfield 1986. Obwohl der Begriff material wants dies nahelegt, entwirft Polanyi keine naturalistische Konzeption von Bedürfnissen (Stanfield 1986: 34-35): »The means, not the wants, are material […] So long as the wants depend for their fulfillment on material objects, the reference is economic« (Polanyi 1977: 20).

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Erst auf der Grundlage der substantivistischen Bedeutung des Ökonomischen, so Polanyi, können alle Ökonomien untersucht werden, während der Formalismus nur auf moderne Gesellschaften mit einem ausdifferenzierten Markt angewendet werden kann. Polanyi kritisiert, dass die beiden Bedeutungen des Ökonomischen normalerweise miteinander vermengt werden. Dies hat in seinen Augen historische Gründe: »The last two centuries produced in Western Europe and North America an organzation of man’s livelihood to which the rules of choice happened to be singularly applicable. This form of the economy consisted in a system of price-making markets« (Polanyi 1957: 244). In einem solchen ökonomischen System müssen die Teilnehmer Wahlmöglichkeiten auf der Grundlage begrenzter Mittel wahrnehmen; diese Verhaltensmuster wurden zur Grundlage der formalistischen Konzeptualisierung des Ökonomischen. Wenn man die Voraussetzungen des Formalismus auf nicht-moderne Gesellschaften überträgt, begeht man in den Augen Polanyis eine economistic fallacy, eine Identifizierung des Ökonomischen mit den Prinzipien des kapitalistischen Marktes. Außerhalb eines solchen Marktsystems verlieren formalistische Prinzipien aber ihre Relevanz, weil das formalistische Maximierungsprinzip die Handlungsweisen der Menschen und die realen Grundprinzipien der Ökonomie nicht adäquat beschreibt. Die substantivistische Bedeutung des Ökonomischen ist in Polanyis Augen dagegen immer anwendbar. Die Ökonomie ist, so Polanyi, ein institutionalisierter Prozess und ist in soziale Institutionen ›eingebettet‹. Die erste detaillierte Auseinandersetzung von Sahlins mit Polanyis Denken findet sich meines Wissens in ›Political Power and the Economy in Primitive Society‹ (Sahlins 1960b). Sahlins entfaltet hier die These, dass wirtschaftliches Handeln in ›primitiven‹ Gesellschaften weitgehend ein Aspekt von Verwandtschaftsbeziehungen und deshalb grundsätzlich verschieden von wirtschaftlichem Handeln in kapitalistischen Märkten ist (Sahlins 1960b: 391; siehe auch Sahlins 1962a: 5; Sahlins 1962b). Daraus folgt für Sahlins, dass der methodologische Individualismus nicht auf primitive Gesellschaften angewandt werden kann, da er aus der Analyse von kapitalistischen Märkten entwickelt worden ist (Sahlins 1960b: 392; siehe bereits Sahlins 1956). Sahlins’ Holismus korrespondiert mit seiner evolutionistischen Perspektive, die nicht individuelle Entscheidungen handelnder Akteure, sondern Anpassungsmechanismen von Gesellschaften in den Mittelpunkt rückt. Für Sahlins’ empirische Analysen soziokultureller Evolution ist darüber hinaus Polanyis Unterscheidung von vier Mustern ökonomischen Handelns bedeutsam: Reziprozität, Redistribution, Tausch auf Märkten und householding. Das Prinzip der Reziprozität setzt, so Polanyi, die symmetrische Anordnung von Gruppen voraus; Redistribution entfaltet sich in Systemen, die ein Zentrum besitzen; den Tausch sieht Polanyi als zentrales Element von Märkten, die durch Preise reguliert werden; householding ist durch die Autarkie des einzelnen Haushalts gekennzeichnet. Diese unterschiedlichen Muster ökonomischen Handelns erfordern jeweils eigene institutionalisierte Settings (siehe auch Halperin 1994: 145).

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Polanyi betont, dass sich diese unterschiedlichen Prinzipien nicht durch spezifische Handlungsweisen der Individuen bilden, sondern auf bereits bestehende institutionalisierte Kontexte angewiesen sind: »Reciprocity behavior between individuals integrates the economy only if symmetrically organized structures, such as a symmetrical system of kinship groups, are given. But a kinship system never arises as the result of mere reciprocating behavior on the personal level« (Polanyi 1957: 251). Sahlins greift Polanyis Konzept der Redistribution in seinem einflussreichen Aufsatz über ›Political Types in Melanesia and Polynesia‹ auf (Sahlins 1963a; CP: 71-93), um den Zusammenhang zwischen ökonomischen Prozessen, politischer Hierarchiebildung und soziokultureller Evolution zu analysieren. Sahlins unterscheidet im Süd- und Ostpazifik zwei ›kulturelle Provinzen‹: einerseits Melanesien, einschließlich Neuguinea und die Inselgruppen östlich von Fidschi; andererseits Polynesien, ein Gebiet zwischen Neuseeland, der Osterinsel und Hawaii. Fidschi ist der kulturelle Überlappungspunkt zwischen Melanesien und Polynesien. Polynesische Gesellschaften sind für ihre hierarchische Organisationsstruktur bekannt, wohingegen die meisten melanesischen Gesellschaften keine dauerhafte hierarchische politische Struktur entwickelt haben. Melanesische Stämme bestehen aus politisch und ökonomisch autonomen Gruppen. Im Unterschied dazu ist die politische Organisationsstruktur im Osten Polynesiens ›pyramidal‹; lokal verwurzelte Verwandtschaftsgruppen sind in Polynesien Teil einer größeren, hierarchisch strukturierten politischen Ordnung.10 In melanesischen Gesellschaften manipulieren ›große Männer‹ [big men] Systeme reziproken Austauschs, um sich eine Machtbasis aufzubauen. Diese beruht auf persönlichen Fähigkeiten und geht nicht auf ein personenungebundenes ›Amt‹ zurück. Innerhalb ihrer Gruppen haben big men kommandierende Gewalt, außerhalb verfügen sie ›nur‹ über Einfluss. Big men können ihren tribalen Einfluss aber vergrößern, wenn sie ihren Bekanntheitsgrad steigern und vielfältige Reziprozitätsbeziehungen zu anderen Gruppen aufbauen. Der tribale Rang und der Bekanntheitsgrad der big men richten sich dabei in erster Linie nach bewiesener Großzügigkeit. ›Große Männer‹ veranstalten Feste, auf denen sie ihre Gäste reich beschenken; je großzügiger die Geschenke sind, desto größer wird der Einfluss der big men auf andere Untergruppen des jeweiligen Stammes. Diese Großzügigkeit hängt von der ökonomischen Produktivität der eigenen Gruppe ab; deshalb ist der Aufbau einer möglichst großen und produktiven Gruppe für die Machtbasis eines ›großen Mannes‹ ausschlaggebend. Mächtige big men können die politische und ökonomische Autonomie der einzelnen tribalen Gruppen damit 10 Als einen weiteren Unterschied zwischen melanesischen und polynesischen Gesellschaften nennt Sahlins eine Eigenschaft Polynesiens, die er »historical performance« nennt (CP: 74). Fast alle Gesellschaften im Südpazifik gerieten im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts unter den Einfluss der Europäer. Weit entwickelte polynesische Gesellschaften wie Hawaii, Tahiti und Tonga verteidigten sich jedoch erfolgreich, indem sie sich zu Staaten entwickelten, die dem europäischen Druck standhalten sollten.

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teilweise und zeitweilig aufheben. Allerdings ist die so entstehende politische Ordnung grundsätzlich instabil: Die Autorität von big men ist nicht erblich, sondern muss immer wieder neu erkämpft werden, zudem unter großem Produktivitätsdruck der eigenen Gruppe. Nicht selten muss ein big man seinen überregionalen Erfolg mit der Erschöpfung der eigenen Ressourcen oder denen seiner Gruppe bezahlen. Diese spezifischen ökonomischen Arrangements sind die Grundlage der melanesischen politischen Organisation, begrenzen jedoch zugleich deren Evolution. In Polynesien wurden diese strukturellen Defizite durch die politische Weiterentwicklung zu Häuptlingstümern überwunden; lokale Verwandtschaftsgruppen waren Teile eines hierarchisch strukturierten Häuptlingstums. In Polynesien entwickelte sich eine politische Struktur, die nicht mehr vom Charisma und Geschick einzelner Personen abhängig war; im Unterschied zu den big men in melanesischen Gesellschaften hatten die politischen Eliten in Polynesien Ämter inne, die unabhängig von einzelnen Amtsinhabern existierten. Während Macht in den politischen Systemen Melanesiens das Ergebnis persönlicher Handlungen ist und weitgehend vom Charisma und Geschick der ›großen Männer‹ abhängt, wurde Macht in den hierarchischen Häuptlingstümern Polynesiens einzelnen Ämtern zugeschrieben. Dies hat bedeutende Konsequenzen für die ökonomische Basis politischer Herrschaft. In Melanesien ist die ökonomische Produktivität der eigenen Gruppe für den überregionalen Einfluss des ›großen Mannes‹ entscheidend. Diese ökonomische Basis muss immer wieder neu aufgebaut werden, im Unterschied zu den polynesischen Häuptlingstümern, in denen der Häuptling kraft seines Amtes über die ökonomischen Ressourcen aller Haushalte des politischen Systems verfügte. Diese Ressourcen wurden teilweise im Rahmen großer Feste wieder verteilt, dienten aber auch dem Bau von Tempelanlagen oder anderen Bauten der politischen Elite sowie der Versorgung einer Kriegerelite. Zudem wurden mithilfe der ökonomischen Ressourcen Teile der politischen Elite versorgt, die für den Machterhalt des Häuptlings von großer Bedeutung war. Der ›polynesische Widerspruch‹ liegt für Sahlins in der Abhängigkeit des Häuptlingstums von Verwandtschaftsbeziehungen. Der damit verbundenen Erwartungshaltung der breiten Bevölkerung, dass ihr ›oberster Verwandter‹ sich ihnen gegenüber großzügig zeigen würde, kamen viele Häuptlinge nicht nach. Oftmals fielen die einzelnen Redistributionen des angehäuften Reichtums zu gering aus, oder die Abgaben stiegen, ohne dass sich dies positiv auf die Redistributionen auswirkte. Das Problem großer Häuptlingstümer war die Kontrolle ihrer Herrschaftsgebiete: Während der administrative Apparat mit der Größe des Häuptlingstums immer größer und teurer wurde, entwickelten sich die Lebensstile der Bevölkerung und der Eliten immer weiter auseinander. Vor allem das Beispiel der polynesischen Häuptlingstümer – so Sahlins – illustriert eine fundamentale Eigenschaft ›primitiver‹ Gesellschaften: Politische Organisation hängt von der Kontrolle über die ökonomischen Ressourcen einzelner Haushalte ab. Der Haushalt ist, so Sahlins, die fundamentale Produktionseinheit in ›primitiven‹ Ge-

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sellschaften. Zudem ist der Output eines einzelnen Haushaltes normalerweise auf den eigenen Konsum ausgerichtet und entspricht nicht gesellschaftlichen Bedürfnissen. Das größere Potenzial der polynesischen Häuptlingstümer entsprach dem größeren politischen Druck auf einzelne Haushalte, einen ökonomischen Überschuss zu erzielen und diesen Überschuss für die politische Organisation nutzbar zu machen. Diese politische Kontrolle über die ökonomischen Produktionseinheiten, den Haushalten, ist für Sahlins eine strukturelle Eigenschaft polynesischer Gesellschaften; deshalb sind die evolutionären Schranken dieser Gesellschaften strukturelle Probleme und nicht mit den Handlungsweisen einzelner Personen verknüpft. In ›On the Sociology of Primitive Exchange‹ systematisiert Sahlins sein evolutionistisches Schema mithilfe von Karl Polanyis Unterscheidung von Reziprozität und Redistribution.11 Redistribution versteht Sahlins als eine Austauschform innerhalb einer sozialen Gruppe, in der es ein Zentrum gibt, das Güter sammelt und wieder verteilt. Reziprozität initiiert demgegenüber eine soziale Relation zwischen zwei unterschiedlichen »parties« (SAE: 188).12 Das Organisationsprinzip von Redistribution ist Zentrizität, währenddessen Reziprozität auf Symmetrie beruht. Sahlins argumentiert, dass es unterschiedliche Formen von Reziprozität (im engeren Sinne) gibt, die ein Reziprozitätskontinuum konstituieren. An einem Ende der Skala liegt die Form der ›generalisierten Reziprozität‹, die vor allem unter nahen Verwandten praktiziert wird. Diese Reziprozitätsform scheint noch am ehesten Malinowskis pure gift zu entsprechen: Gaben werden freiwillig und rückhaltlos gegeben, also ohne die zumindest implizit gezeigte Erwartung, dass diese Gaben eine Erwiderung finden. Am anderen Ende der Skala liegt die ›negative Reziprozität‹ zwischen Fremden, bei der vorab nicht die Absicht besteht, eine Gabe zu erwidern. ›Ausgeglichene Reziprozität‹ ist demgegenüber eine intermediäre Form des Austauschs, bei der auf eine Gabe normalerweise schon bald eine Gegengabe folgt; soziale Distanz liegt diesem Kontinuum zu Grunde. Verwandtschaft ist das Organisationsprinzip ›primitiver‹ Gesellschaften; die soziale Distanz, die durch verwandtschaftliche Zugehörigkeit definiert wird, bestimmt die jeweiligen Austauschformen. Die von Sahlins beschriebene Verwandtschaftsstruktur ist eine Hierarchie unterschiedlicher Integrationsebenen, die von der 11 Sahlins hält den Vortrag, aus dem ›On the Sociology of Primitive Exchange‹ hervorgehen sollte, auf der Konferenz über ›New Approaches in Social Anthropology‹ der Association of Social Anthropologists of the Commonwealth am Jesus College in Cambridge (24.-30. Juni 1963). Veröffentlicht wird ›On the Sociology of Primitive Exchange‹ zuerst 1965 in The Relevance of Models for Social Anthropology. Ich zitiere aus der weitgehend unveränderten Fassung, die 1972 in Stone Age Economics erscheint (SAE: 185-275). 12 Sahlins argumentiert, dass pooling oder Redistribution als eine Sonderform von Reziprozität angesehen werden kann, und zwar »a fact of central bearing upon the genesis of large-scale redistribution under chiefly aegis« (SAE: 188). Sahlins bleibt dennoch bei einer terminologischen Unterscheidung von Redistribution und Reziprozität im engeren Sinne.

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Kernfamilie aus betrachtet als eine Serie konzentrischer Kreise erscheint. Innerhalb der Kernfamilie und vielleicht dem lineage sector herrscht generalisierte Reziprozität vor, und je weiter man sich von diesem Sektor entfernt – also in Richtung des Dorfes, Stammes und des intertribalen Sektors –, desto mehr ähneln sich die Austauschformen der negativen Reziprozität.13 Darüber hinaus sieht Sahlins einen Zusammenhang zwischen Reziprozität und politischen Hierarchien (kinship rank) in Gesellschaften ohne Staat. Das Vorgehen von big men ist für Sahlins ein Beispiel für generalisierte Reziprozität, währenddessen die Hierarchien in polynesischen Häuptlingstümern auf einer besonderen Form dieser Reziprozität basieren, der Redistribution (SAE: 209). Ein weiterer Unterschied zwischen melanesischen Stämmen und polynesischen Häuptlingstümern ist für Sahlins, dass ausgeglichener Reziprozität zwischen unterschiedlichen tribalen Gruppen Redistribution gewichen ist (SAE: 228). In tribes gibt es also – gemäß der Kategorie kinship distance – nicht nur generalisierte, sondern auch ausgeglichene Reziprozität. Sahlins verknüpft damit drei evolutionäre Organisationsformen mit jeweils unterschiedlichen ökonomischen Prinzipien: Bands werden mit generalisierter Reziprozität identifiziert, tribes mit generalisierter und mit ausgeglichener Reziprozität, chiefdoms mit Redistribution (siehe auch Sahlins 1968a: 93-95).14

Entwicklungslinien Sahlins’ Weiterentwicklung der evolutionstheoretischen Ansätze von Leslie A. White und Julian H. Steward weist einige bedeutende Elemente auf. Erstens ist Sahlins’ Ansatz funktionalistisch. Sahlins argumentiert im Anschluss an Steward, dass bestimmte kulturelle Formen als Anpassung an die jeweiligen natürlichen Umwelten verstanden werden müssen und führt kulturelle Evolution auf universale Erfordernisse menschlicher Existenz zurück, die ›Kultur‹ bereitstellt. Diese Erfordernisse sind materialistisch; Sahlins lehnt die These ab, dass die Existenz kultureller Artefakte nur im Kontext bestimmter Kosmologien, lokal spezifischer Normen oder Glaubenssystemen erklärt werden kann. Seine Argumentation in ›Esoteric Efflorescence‹ legt vielmehr nahe, dass nicht nur die soziale Organisa13 Stanfield argumentiert, dass in Sahlins’ Typologie Polanyis Konzept von market exchange keine Rolle spielt, sondern unter Reziprozität subsumiert wird. Wenn der Markttausch als Sonderform von Reziprozität angesehen wird, geht allerdings – so Stanfield – Polanyis Unterscheidung zwischen der sozialen Einbettung von Reziprozitätsbeziehungen und dem entbetteten Markttausch verloren. Für Stanfield liegt Polanyis Konzept des market exchange in Sahlins’ Typologie am ehesten im Bereich zwischen ausgeglichener und negativer Reziprozität (Stanfield 1986: 87). 14 In Tribesmen argumentiert Sahlins, dass Häuptlingstümer ein Aspekt von »tribal culture« seien. Sahlins unterscheidet hier zwischen »segmentary tribes« und »chiefdoms« (Sahlins 1968a: 20). Morton Fried (1967) legt ein leicht abgewandeltes Evolutionsschema vor und unterscheidet zwischen egalitarian society, ranked society, stratified society und state society. Diese Begriffe bezeichnen unterschiedliche evolutionäre Stadien sozialer Ungleichheit (siehe Vincent 1990: 330-331).

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tion im Allgemeinen funktionalistisch interpretiert werden muss, sondern letztlich auch ›Kunst‹ bzw. die Produktion von Artefakten (Sahlins 1955). Neben diesem ökologischen Funktionalismus im engeren Sinne entwickelt Sahlins die These, dass die Evolution menschlicher Gesellschaften auch in Relation zu kulturellen Umwelten betrachtet werden muss. ›The Segmentary Lineage‹ ist Sahlins’ detaillierteste Arbeit, die diese These entfaltet (Sahlins 1961). Sahlins’ evolutionistischer Ansatz ist zweitens universalistisch. In ›Evolution. Specific and General‹ postuliert Sahlins die Existenz universaler evolutionärer Gesetze; die einzelnen evolutionären Stadien sind gleichfalls universell. Kulturelle Differenzen können auf die universalen Anpassungsleistungen sozialer Gruppen zurückgeführt werden. Damit ist Sahlins’ Ansatz sowohl gegen den kulturellen Relativismus als auch gegen historisch-partikularistische Ansätze gerichtet. Dieser Universalismus ist besonders stark ausgeprägt in ›Evolution. Specific and General‹. Sahlins geht es hier nicht um die Analyse bestimmter Gesellschaften, sondern um die fundamentalen Gesetze, die die kulturelle Evolution aller Gesellschaften determinieren. Die Zielsetzung von Social Stratification in Polynesia ist moderater, denn hier geht es Sahlins ›nur‹ um die kulturelle Evolution polynesischer Gesellschaften. Es gibt allerdings keinen systematischen Widerspruch zwischen diesen beiden Werken; vielmehr kann Evolution and Culture als Verallgemeinerung der Prinzipien interpretiert werden, die Sahlins zuvor am empirischen Material entwickelt hat. Social Stratification in Polynesia und ›Evolution. Specific and General‹ exemplifizieren übrigens auch ein ›relativistisches‹ Theorieelement, denn Sahlins stellt die These auf, dass die kulturellen Evolutionsstadien zwar universal sind, dass es allerdings unterschiedliche Ausprägungen ›spezifischer‹ Evolution gibt. Doch auch ›spezifische‹ Evolutionsprozesse folgen dem universalen evolutionären Gesetz kultureller Anpassung. Drittens hat Sahlins’ Modell eine materialistische Orientierung. Sahlins betont, dass nicht ›kulturelle‹ Faktoren wie Symbolsysteme, Glaubensvorstellungen, Werte oder Normen die Evolution von Gesellschaften bestimmen, sondern deren Anpassungen an Umwelten. Diese Umwelten sind zwar nicht immer ›materialistisch‹, da auch andere soziale Gruppen Umwelten für eine Gesellschaft sein können (Sahlins 1961). Allerdings kann kulturelle Evolution in Sahlins’ Augen letztlich nur verstanden werden, wenn soziale Organisation auch auf natürliche Umwelten zurückgeführt wird (siehe Sahlins 1964a: 136). Social Stratification in Polynesia entwickelt den Ansatz, dass unterschiedliche Organisationsformen in unterschiedlichen natürlichen Umwelten entstehen und als Anpassungen an diese Umwelten verstanden werden können. ›Materialistisch‹ ist Sahlins’ Evolutionstheorie darüber hinaus, weil Sahlins im Anschluss an Leslie Whites Evolutionstheorie argumentiert, höhere Formen von Kultur würden größere Mengen an Energie nutzbar machen (Sahlins 1960a). Insbesondere in Social Stratification in Polynesia und ›Evolution. Specific and General‹ macht Sahlins deutlich, dass für ihn der native point of view keine Rolle für die Analyse oder den Verlauf kultureller Evolutionsprozesse spielt.

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Auf einer systematischen Ebene verfolgt Sahlins das Ziel, die evolutionstheoretischen Perspektiven von Steward und White mit dem ökonomischen Ansatz Polanyis zu verknüpfen. Die von Sahlins geleistete Verknüpfung einer ›ökologischen‹ mit einer ›ökonomischen‹ Perspektive ist bereits in Polanyis Ansatz angelegt: »The substantive economy must be understood as being constituted on two levels: one is the interaction between man and his surroundings; the other is the institutionalization of that process. In actuality, the two are inseparable; we will, however, treat them separately« (Polanyi 1977: 31). Während Polanyi die ökologische Komponente der Ökonomie allerdings kaum beleuchtet (Halperin 1988: 36), integriert Sahlins Polanyis Substantivismus in sein Modell kultureller Evolution, um seine These zu plausibilisieren, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen den Anpassungsmechanismen von Gesellschaften und ihren politischen Hierarchien. Dieses Vorgehen erscheint zunächst plausibel, denn erstens können spezifische politische Systeme nicht nur auf der Grundlage des amerikanischen Neoevolutionismus, sondern auch im Anschluss an Polanyi als funktionale Erfordernisse von Umwelten gedeutet werden. Zweitens entspricht der Holismus Leslie A. Whites der ökonomischen Perspektive Polanyis, denn auch Polanyi kritisiert eine individualistische Perspektive und entwickelt ein Modell der Einbettung ökonomischer Prozesse in soziale Zusammenhänge. Drittens sind sowohl der nordamerikanische Neoevolutionismus als auch der Substantivismus universalistisch, denn während Sahlins im Anschluss an White und Steward ein universalistisches Modell kultureller Evolution entwickelt, beansprucht der Substantivismus, alle Gesellschaften mit seinem Instrumentarium analysieren zu können. Allerdings entwickelt Polanyi selbst keine Theorie kultureller Evolution (siehe Stanfield 1986: 103), während Sahlins Polanyis Substantivismus für eine Klassifikation unterschiedlicher Evolutionsstadien fruchtbar macht (Sahlins 1963a). Auch Sahlins identifiziert einzelne Austauschformen nicht mit unterschiedlichen evolutionären Stadien, hält aber an der Idee evolutionärer Stadien fest. Die Integration von Polanyis Substantivismus in ein Evolutionsmodell im Anschluss an Steward und White wirft allerdings auch zwei konzeptionelle Probleme auf. Zunächst ist fraglich, ob Sahlins’ These, dass ökonomische Austauschprozesse die Funktion haben, soziale Gruppen normativ zu stabilisieren, mit der Überlegung verknüpft werden kann, dass Austauschprozesse als das Ergebnis von Anpassungsprozessen an Umwelten aufgefasst werden können. Zudem stellt sich die Frage, welchen Stellenwert kulturelle Vielfalt und die symbolische Organisation der Wirklichkeit in Sahlins’ Ansatz einnehmen, denn Polanyis Substantivismus kann auch als ein dem kulturellen Relativismus nahestehender Ansatz interpretiert werden; dies würde aber von Sahlins’ Verwendungsweise von Polanyis Modell in seiner Evolutionstheorie abweichen. Noch 1964 veröffentlicht Sahlins aber mit ›Culture and Environment‹ ein Plädoyer für eine materialistische und funktionalistische Evolutionstheorie im Anschluss an ›Evolution. Specific and General‹. Sahlins versteht Kulturen hier als das Ergebnis von Anpassungsmechanismen an natürliche und kulturelle Umwelten; diesem »adaptive

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behavior of cultures« gilt sein erklärtes Erkenntnisinteresse (Sahlins 1964a: 136). In Tribesmen widmet Sahlins der adaptionistischen Perspektive ein ganzes Kapitel (Sahlins 1968a: 28-47), und auch in seinem Artikel ›Economic Anthropology and Anthropological Economics‹ gibt Sahlins seine adaptionistische Perspektive noch nicht auf. Sahlins’ weitere Werkentwicklung bis einschließlich zur Veröffentlichung von Stone Age Economics kann dementsprechend als eine konzeptionelle Bewegung verstanden werden kann, in der die normative und die kulturrelativistische Seite seiner Theorie enorm an Bedeutung gewinnt, während das evolutionistische und damit auch das ökologische Element in den Hintergrund rückt. Weil Sahlins seine evolutionistischen und ökologischen Annahmen nicht völlig aufgibt, entstehen in seiner Wirtschaftsethnologie fundamentale Konfliktlinien.

2. Das wirtschaftsethnologische Paradigma Sahlins interessiert sich bereits in seinen frühesten evolutionistischen Arbeiten für wirtschaftsethnologische Fragestellungen; umgekehrt ist Sahlins’ Wirtschaftsethnologie weiterhin durchdrungen von evolutionistischen Argumentationslinien. Der systematische Zusammenhang zwischen Sahlins’ Evolutionismus und seiner Wirtschaftsethnologie überrascht keineswegs, denn die Aufsätze in Stone Age Economics erscheinen größtenteils im Laufe der 1960er Jahre oder beruhen auf andere Arbeiten des Autors, die in den 1960er Jahren entstehen.15 Allerdings rückt Sahlins seine evolutionistische Perspektive in Stone Age Economics etwas in den Hintergrund; vielmehr situiert Sahlins seine Arbeit in die wirtschaftsethnologische Formalismus-Substantivismus-Debatte. Die einzelnen Aufsätze sind schwerpunktmäßig entlang der wirtschaftsethnologischen Kategorien Konsum, Produktion und Verteilung angeordnet. Sahlins verknüpft die einzelnen wirtschaftsethnologischen Kategorien allerdings nicht systematisch miteinander; zudem fehlt dem Werk eine systematische Einleitung, in der die Grundlagen von Sahlins’ Wirtschaftsethnologie entwickelt werden. Die urspünglich geplante Ein15 ›The Original Affluent Society‹ (SAE: 1-39) geht auf eine im April 1966 von Richard B. Lee und Irven DeVore in Chicago veranstaltete Konferenz über Wildbeutergesellschaften zurück (Lee/DeVore 1968). Die beiden Herausgeber gehörten zum Kreis der so genannten Harvard Kalahari Research Group. Sahlins steuert einen fünfseitigen Diskussionsbeitrag bei (Sahlins 1968d) und veröffentlicht eine längere Fassung dieser Arbeit in Les Temps Modernes (Sahlins 1968b). ›The Domestic Mode of Production‹ (SAE: 41-148) greift einen wichtigen Aspekt von ›Political Types‹ (Sahlins 1963a) auf, den Sahlins auch in Tribesmen (Sahlins 1968a: 75-81) und einem vor Stone Age Economics erscheinenden Artkel analysiert (Sahlins 1971). ›The Spirit of the Gift‹ (SAE: 149-183) geht zurück auf zwei früher erscheinende Artikel zu Mauss (Sahlins 1968c, 1970), ›On the Sociology of Primitive Exchange‹ (SAE: 185-275) erscheint zuerst 1965 (Sahlins 1965b), ›Exchange Value and the Diplomacy of Primitive Trade‹ (SAE: 277-314) ist die überarbeitete Fassung eines ebenfalls 1965 veröffentlichten Beitrags (Sahlins 1965c). Im Folgenden zitiere ich in erster Linie aus Stone Age Economics.

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leitung, in der Sahlins die Grundlagen seines Ansatzes zu umreißen sucht, veröffentlicht er 1969 an anderer Stelle (Sahlins 1969); die Polemik, die er stattdessen den Aufsätzen voranstellt (SAE: xi-xiv), lässt weniger Rückschlüsse auf die Systematik seiner Wirtschaftsethnologie zu als auf seine Gegnerschaft zur ›formalistischen‹ Wirtschaftsethnologie. Dementsprechend analysiere ich in einem ersten Schritt die Formalismus-Substantivismus-Kontroverse in der angelsächsischen Wirtschaftsethnologie. Im Anschluss daran untersuche ich Stone Age Economics entlang der wirtschaftsethnologischen Kategorien Konsum, Produktion und Verteilung.

Die Formalismus-Substantivismus-Debatte Die Historisierung der Formalismus-Substantivismus-Debatte der 1960er Jahren ist mittlerweile so weit fortgeschritten, dass sich viele scheinbar nur noch ungern an diese Kontroverse erinnern.16 In einem weit verbreiteten Einführungsbuch merkt Richard Wilk zu dieser Debatte an: »we will start in the 1960s, with the goal of showing how the formalist-substantivist debate, once the centerpiece of economic anthropology, has now become an obstacle instead of an inspiration. The field needs to move beyond the debate and ask more sophisticated questions« (Wilk 1996: 3-4). Zweifellos hat Wilk Recht, dass diese Kontroverse in konzeptuelle Sackgassen geführt hat. Allerdings sollte unterschieden werden zwischen den systematischen Problemen, die diese Debatte aufgeworfen hat, und den Antworten, die Formalisten bzw. Substantivisten auf diese Fragen gegeben haben. Die Formalismus-Substantivismus-Debatte ist aus heutiger Sicht weniger relevant wegen der Antworten, sondern wegen der konzeptuellen Probleme, die im Mittelpunkt der Kontroverse standen und die die Ethnologie bis heute beschäftigen. Sind westliche Analyseinstrumente geeignet, um soziale Prozesse in nicht-westlichen Gesellschaften zu analysieren? Gibt es soziale oder kulturelle Prozesse, die universal sind? Die Antworten, die von Formalisten oder Substantivisten in den 1960er Jahren gegeben wurden, erscheinen aus heutiger Perspektive zwar unbefriedigend – die Fragen, die sie stellten, sind es keineswegs (siehe auch Graeber 2001: 5-12). Einer der einflussreichsten Schüler Karl Polanyis in der Ethnologie, George Dalton, veröffentlicht 1961 den Aufsatz ›Economic Theory and Primitive Society‹ (Dalton 1961). Dalton argumentiert im Anschluss an Polanyi, dass die ökonomische Theorie nicht auf traditionale Gesellschaften angewandt werden kann. Die Methode und der Gegenstandsbereich der Ökonomie – zumindest wie Dalton sie versteht – leiten sich aus den Existenzbedingungen in der britischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts ab, die durch den fortschreitenden Prozess der Indust16 Siehe die folgenden wichtigen Beiträge zur Debatte: Burling 1962; Cancian 1966; Cook 1966; Dalton 1961, 1969; LeClair 1962; Schneider 1974. Für neuere kritische Überblicke siehe Graeber 2001: 5-12; Isaac 1993.

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rialisierung und der Bildung eines selbstregulierenden Marktes gekennzeichnet war. Dalton argumentiert, dass die kapitalistische Marktorganisation die Menschen dazu zwingt, ihr materielles Selbstinteresse zu verfolgen, denn jeder muss etwas auf dem Markt verkaufen, um die eigenen materiellen Existenzgrundlagen sicherzustellen. Der economic man ist in Daltons Augen kein ›Mythos‹, sondern Ausdruck der institutionellen Notwendigkeit, im selbstregulierenden, atomistisch organisierten und unpersönlichen Markt ein Überleben sicherzustellen. Die neoklassische Ökonomie universalisiert in Daltons Augen ihr Postulat der Knappheit, weil sie davon ausgeht, die Bedürfnisse des Menschen seien gewissermaßen unersättlich. Für Dalton hängt die Bedürfnisstruktur eines Menschen aber von der sozialen Organisation ab. Dalton schließt sich Polanyis Unterscheidung zwischen einer formalistischen und einer substantivistischen Bedeutung des Ökonomischen an und betont, nur der Substantivismus sei universal anwendbar. In der modernen Marktgesellschaft fallen beide Bedeutungen zusammen, da die institutionelle Organisation selbstregulierender Märkte ein spezifisches Verhalten – das der Nutzenmaximierung – erzwingt, um ein Überleben sicherzustellen. Damit lehnt Dalton Raymond Firths Postulat ab, wonach die so genannten formal propositions, insbesondere also das individuelle Entscheidungsprinzip, universal anwendbar seien (Firth 1939). In ›primitiven‹ Ökonomien gibt es keine selbstregulierenden Märkte; die dominanten Austauschprinzipien sind Reziprozität und Redistribution. Das neoklassische Prinzip des economic man kann in Daltons Augen auf solche Gesellschaften nicht angewandt werden. Ein Jahr nach Daltons Aufriss des substantivistischen Forschungsprogramms veröffentlicht Robbins Burling eine ›formalistische‹ Antwort (Burling 1962). Burling folgt explizit Lionel Robbins in dessen individualistischer Perspektive auf die Ökonomie. Gesellschaft, so Burling, ist ein Aggregat von Individuen, die bewusste oder unbewusste Wahlmöglichkeiten treffen, um bestimmte Ziele zu erreichen. Burling definiert das Ökonomische nicht institutionell, sondern versteht darunter einen universalen Aspekt menschlichen Verhaltens: economizing. Das ökonomische Handlungsmodell ist für Burling deshalb eine weiterführende Perspektive auf alle menschlichen Gesellschaften: »Each person has at its disposal a certain amount of love, of admiration, and of power, as well as of labor or money or energy, and these must all be distributed. It is reasonable to suppose that they are distributed with the intention of maximizing one’s own satisfactions. They are granted with the idea of return in some form« (Burling 1962: 818).

Mit den Positionen Daltons und Burlings sind die Grundpositionen des Formalismus und des Substantivismus abgesteckt. Die Debatte zwischen Formalisten und Substantivisten dominiert die angelsächsische Wirtschaftsethnologie der 1960er Jahre und führt bemerkenswerter Weise nicht zu einer wesentlichen Annäherung zwischen Formalisten und Substantivisten; im Gegenteil verhärten sich die Fronten zwischen den Lagern, und gegen Ende der 1960er Jahre ist die Wirt-

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schaftsethnologie konzeptionell gespalten in die konkurrierenden Lager des Formalismus, Substantivismus und Marxismus, der spätestens seit Mitte der 1960er zu einer wichtigen Alternative zu der formalistischen und substantivistischen Position wird. Dalton arbeitet an der substantivistischen Position bis zu seinem Tod 1990, modifiziert seine theoretische Grundposition allerdings nur noch unwesentlich. Bis dahin hat der Substantivismus schon deutlich an Einfluss verloren. Formalisten wie LeClair, Schneider und Cook reformulieren in den 1960er Jahren Burlings Grundposition, ohne sich wesentlich an den Substantivismus anzunähern; in den 1970er Jahren verliert auch der Formalismus an Einfluss in der Wirtschaftsethnologie. Die Debatte zwischen Formalisten und Substantivisten wird nicht ›aufgelöst‹, sondern ebbt in den 1970er Jahren immer mehr ab. Im Folgenden fasse ich einige konzeptionelle Differenzen zwischen Formalismus und Substantivismus zusammen. Erstens geht es in der FormalismusSubstantivismus-Debatte um die Universalität wichtiger Grundannahmen der neoklassischen Ökonomie. Während Substantivisten argumentieren, die Neoklassik lasse sich nur auf moderne Gesellschaften anwenden, in denen es einen selbstregulierenden Markt gebe, der durch den Preismechanismus reguliert sei, betonen Formalisten, dass das Prinzip der Nutzenmaximierung auf alle Gesellschaften angewandt werden könne, unabhängig davon, ob es in ihnen Märkte gebe oder nicht (Schneider 1974: 9). Substantivisten gehen davon aus, dass das Prinzip der Nutzenmaximierung in modernen Gesellschaften eine institutionalisierte Notwendigkeit sei, in traditionalen Gesellschaften allerdings keine Bedeutung für den ökonomischen Prozess habe. Der Substantivismus betrachtet menschliches Handeln als ›eingebettet‹ in gesellschaftliche Institutionen; daraus leitet er ab, dass das Prinzip der Nutzenmaximierung nicht universal sei. Dabei verliert sich der Substantivismus keineswegs in einem radikalen Relativismus, denn es ist ja das Ziel der Substantivisten, verschiedene Gesellschaften aufgrund einer allgemeinen Typologie von Austauschsystemen miteinander zu vergleichen. Hinsichtlich dessen, was die Formalisten behavior nennen, macht der Substantivismus dagegen keine universalistischen Aussagen. Daraus leitet sich der zweite Unterschied zwischen Formalisten und Substantivisten ab. Während der Formalismus seine Aufmerksamkeit auf menschliches ›Verhalten‹ richtet, konzentriert sich der Substantivismus auf soziale Institutionen. Dies drückt mehr als nur unterschiedliche Interessensschwerpunkte aus, sondern jeweils fundamental unterschiedliche Konzeptionen des Zusammenhangs zwischen ›Individuum‹ und ›Gesellschaft‹ (siehe auch Cancian 1966; Isaac 1993: 217). Im Formalismus ist Gesellschaft tendenziell eine Agglomeration nutzenmaximierender Individuen; im Mittelpunkt steht das individuelle Entscheidungsproblem, und ›Gesellschaft‹ oder ›Kultur‹ sind im formalistischen Paradigma eher Randbedingungen. Dem Formalismus fehlt ein adäquates Verständnis von sozialen Institutionen; die evolutionäre Stufenfolge des Substantivismus macht deshalb im formalistischen Paradigma keinen Sinn, denn es sind in den Augen der Substantivisten ja gerade die Institutionen, die den Unterschied zwi-

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schen unterschiedlichen Gesellschaften ausmachen. Deshalb sind für den Formalismus Unterschiede zwischen traditionalen und modernen Gesellschaften graduelle, aber keine grundsätzlichen Unterschiede. Der Substantivismus geht demgegenüber davon aus, dass menschliches Handeln durch die gesellschaftlichen Institutionen geprägt ist. Während der Formalismus eine ›Mikro‹theorie der Gesellschaft entwirft, entwickelt der Substantivismus eine ›Makro‹theorie, in der menschliches Handeln weitgehend determiniert durch gesellschaftliche Institutionen erscheint. Zu ökonomischem Handeln in der modernen Marktgesellschaft fällt den Substantivisten deshalb nicht viel mehr ein als die These, dass das formalistische Menschenbild hier angewandt werden könne, da die dominante ökonomische Institution – der Markt – nutzenmaximierendes Handeln der Marktteilnehmer erzwinge. Die Frage, was denn überhaupt unter dem Begriff ›Ökonomie‹ verstanden werden kann, führt zum dritten Unterschied zwischen Formalisten und Substantivisten. In den Augen Burlings und anderer Formalisten bezieht sich der Begriff ›Ökonomie‹ auf die universale Eigenschaft des Menschen, seinen Nutzen zu maximieren. Die Wirtschaftsethnologie soll sich in der Perspektive des Formalismus nicht mit bestimmten Austauschsystemen oder der Befriedigung materieller Bedürfnisse beschäftigen, sondern mit individuellen Entscheidungssituationen aller Art, die durch Knappheit gekennzeichnet sind (Burling 1962; LeClair 1962). Konsequenterweise beschäftigt sich die Wirtschaftsethnologie in den Augen einiger Formalisten nicht mit einem Teilbereich der Gesellschaft, sondern mit einem Teilaspekt menschlichen Handelns. Der Substantivismus betont demgegenüber, dass im Mittelpunkt der Wirtschaftsethnologie soziale Institutionen stehen – insbesondere Institutionen der Verteilung –, die die Versorgung sicherstellen. Formalisten stehen Polanyis Unterscheidung zwischen einer formalistischen und einer substantivistischen Bedeutung des Ökonomischen skeptisch gegenüber; in den Augen der Formalisten ist die substantivistische Bedeutung des Ökonomischen sinnlos. In der substantivistischen Perspektive erscheint dagegen der Formalismus nur weiterführend für die Analyse menschlichen Verhaltens in modernen Gesellschaften – zumindest solange dieses Verhalten durch die Einbettung menschlichen Verhaltens in soziale Institutionen erklärt wird. Der vierte Unterschied zwischen Formalisten und Substantivisten kreist um die Frage nach der ›Relevanz‹ ethnologischen Wissens. Im Lichte der ökonomischen Entwicklung einstmals ›primitiver‹ Gesellschaften stellt Scott Cook die Beschäftigung von Substantivisten mit Gesellschaften in Frage, die noch keinen Kontakt zum Kapitalismus gehabt haben. In den Augen Cooks liegt die Zukunft der Wirtschaftsethnologie im Konzept von development (Cook 1966: 337), und das Festhalten des Substantivismus am Studium untergegangener oder untergehender Gesellschaften macht für Cook aus seiner anwendungsbezogenen Perspektive keinen Sinn. Cook hält den Substantivismus für eine Ideologie, die tief in der Rousseau’schen romantischen Tradition verwurzelt sei. Darüber hinaus kann der Substantivismus, so Cook, die Modernisierung einstmals ›primitiver‹

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Gesellschaften durch seine radikale Unterscheidung zwischen unterschiedlichen Gesellschaftstypen nicht erklären. In den Augen Cooks ist eine Annäherung von ›ökonomisch‹ arbeitenden Ethnologen und ›ethnologisch‹ arbeitenden Ökonomen wünschenswert, um das Studium wirtschaftlicher Entwicklung in der Dritten Welt voranzutreiben (siehe auch Schneider 1974). Substantivisten wie Dalton interessieren sich allerdings sehr wohl für Modernisierungsprozesse; sie sind hinsichtlich ihrer Wirkungen jedoch skeptischer als Formalisten und weisen auf die sozialen ›Kosten‹ dieser Prozesse hin (Dalton 1969).

Das Verschwinden der Kultur zwischen Neoklassik und Funktionalismus Sahlins’ Konzept der ›ursprünglichen Überflussgesellschaft‹ ist gegen John Kenneth Galbraiths The Affluent Society (1958) gerichtet, also gegen die Annahme, dass kapitalistische Industriegesellschaften Gesellschaften des Überflusses seien, soziale Lebenswelten also, deren Menschen zum ersten Mal in der Geschichte kein Leben in Armut führten. Aus diesem von Galbraith entwickelten Ansatz folgt, dass in vorindustriellen Subsistenzökonomien alle Menschen scheinbar nur damit beschäftigt waren, das nackte Überleben zu sichern. Im Gegensatz dazu stellt Sahlins die polemische These auf, dass Jäger- und Sammlergesellschaften tatsächlich die ›ursprünglichen Überflussgesellschaften‹ waren. Ein zentrales Merkmal marktwirtschaftlicher Systeme ist für Sahlins ihre Institutionalisierung von Knappheit. Wo Produktion und Verteilung durch Preise gesteuert werden, wird ein Mangel materieller Ressourcen zum Ausgangspunkt wirtschaftlicher Aktivität. Der Konsum wird in einem marktwirtschaftlichen System zur besonderen Herausforderung: Der Konsument kann sich nicht alles kaufen, was er möchte, weil ihm die dazu notwendigen Mittel fehlen, und die Schattenseite des Konsums ist der entgangene Konsum dessen, was nicht gekauft wird. Das neoklassische Axiom, das die wirtschaftliche Aktivität in marktwirtschaftlichen Systemen bestimmt, wird in Sahlins’ Augen normalerweise auf Jäger- und Sammlergesellschaften angewandt. Da die materielle Ausstattung der Menschen in Jäger- und Sammlergesellschaften aber noch viel geringer ist als die unsrige, haben sie vorab keine Chance, ihre unstillbaren Bedürfnisse auch nur annähernd zu befriedigen. Sahlins argumentiert demgegenüber, dass menschliche Bedürfnisse in Jägerund Sammlergesellschaften, die keinen direkten Subsistenzcharakter haben, leicht befriedigt werden. Die für Sahlins interessante Frage ist weniger, wie die Bedürfnisse in diesen Gesellschaften befriedigt werden, sondern warum sie so vergleichsweise gering sind. Sahlins argumentiert, dass Bedürfnisse kulturell begrenzt werden, weil die Menschen ständig in Bewegung sein müssen, um ihre Existenz zu sichern. Für das Überleben unnötige Gegenstände würden da nur hinderlich sein. Allerdings ist der Ausdruck ›begrenzte Bedürfnisse‹ für Sahlins nicht ganz korrekt, denn er setzt letztlich die Gültigkeit des economic man gerade voraus, die Annahme also,

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dass Bedürfnisse ›eigentlich‹ unbegrenzt sind und dass sich die Menschen in Jäger- und Sammlergesellschaften in einer besonderen Position befinden, die es erforderlich macht, im Grunde unbegrenzte Bedürfnisse zu zähmen. Für Sahlins ist der economic man aber allein eine »bourgeois construction« (SAE: 13). Jäger und Sammler sind nicht arm, weil sie wenig Besitz haben; vielmehr sollte man sie als frei betrachten, weil sie mit dem Konzept des Besitzes wenig anfangen können. Doch nicht nur das: Sahlins wertet eine Vielzahl an empirischen Daten über Jäger- und Sammlergesellschaften aus und kommt zu dem überraschenden Ergebnis, dass die Menschen in diesen Gesellschaften offenbar viel mehr Freizeit besitzen als die Menschen in kapitalistischen Marktwirtschaften. Jäger und Sammler scheinen oftmals ihre ökonomischen Ressourcen nicht optimal auszunutzen, ohne dass sich dies aber negativ auf ihre Versorgungssituation auswirken würde. Zudem ist in diesen Gesellschaften die Aufbewahrung von Lebensmitteln, gewissermaßen um ›schlechten Zeiten‹ vorzubeugen, kaum bekannt. Sahlins argumentiert, dass dies ganz pragmatische Gründe hat, denn eine Lagerung von Lebensmitteln hindert die Gemeinschaft weiter zu ziehen, um neue Gebiete zu erschließen; es gibt einen Widerspruch zwischen Reichtum und Mobilität. Darüber hinaus sind Lagerbestände von Lebensmitteln auch sozial nicht erwünscht, denn dann würden einige Menschen aufhören zu arbeiten, sich von den Beständen ernähren und damit letztlich die Produktivität der Gruppe gefährden; die Egalität innerhalb der Gruppe stünde auf dem Spiel. Ein Nachteil ist dies für Jäger und Sammler aber nicht; Sahlins schließt aus seinen Daten sogar, dass die Menschen mit der Erfindung des Ackerbaus härter arbeiten mussten als zuvor. Er bestreitet zwar nicht, dass auch Jäger und Sammler im Verlauf kultureller Evolution unter Hungersnöten gelitten haben, doch ist dies, so Sahlins, kein Zustand, den es nur unter Jägern und Sammlern gegeben hätte. Sahlins behauptet sogar, dass der Hunger mit dem Fortschreiten kultureller Evolution nicht abgenommen, sondern im Gegenteil zugenommen hat. Dies trifft auch auf Armut zu, die Sahlins nicht für eine absolute Eigenschaft hält, die interkulturell vergleichbar wäre, sondern eher für eine relationale Kategorie zwischen Menschen einer Kultur. Armut als gesellschaftliche Kategorie, die sozialen Status definiert, ist für Sahlins eine Erfindung der ›Zivilisation‹ [civilization] und unter Jägern und Sammlern unbekannt. In der Rezeption von Sahlins’ These über die ›ursprüngliche Überflussgesellschaft‹ standen lange Zeit in erster Linie methodische Schwierigkeiten im Mittelpunkt. Erstens sind die Quellen, die Sahlins verwendet, nur eine ungenügende quantitative Grundlage für seine weitreichenden Thesen. Zweitens ist die Verwendung der von Sahlins herangezogenen Quellen methodisch zweifelhaft, weil sie teilweise selbst in westlichen Kontexten entstanden sind. Aus diesen Studien Aussagen über ›The Original Affluent Society‹ ableiten zu wollen – also Aussagen über Gesellschaften, die von westlichen Einflüssen noch nicht geprägt waren – erscheint problematisch. Drittens ist Sahlins’ Vorgehen, aus ethnographischen Analysen Aussagen über den evolutionären Status von Jäger- und Sammlerge-

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sellschaften ableiten zu wollen, bestenfalls fragwürdig. Viertens konnten Sahlins’ Aussagen über die Arbeitszeit in Jäger- und Sammlergesellschaften empirisch nicht bestätigt werden (siehe dazu Bird-David 1992: 25-26). Dennoch gehört dieser Essay bis heute zu den bekanntesten Arbeiten von Sahlins im Besonderen und wohl auch der Ethnologie im Allgemeinen; offensichtlich traf Sahlins einen Nerv der Zeit (Bird-David 1992).17 Sahlins versteht ›The Original Affluent Society‹ als substantivistische Studie, die anhand empirischen Materials zeigen soll, dass der Formalismus auf ›primitive‹ Gesellschaften nicht angewandt werden kann (siehe auch SAE: xi). Sahlins argumentiert insbesondere gegen das formalistische Argument – zumindest, wie er es versteht –, dass menschliche Bedürfnisse unbegrenzt seien. Wenn dies tatsächlich der Fall sein sollte, warum arbeiten Menschen in Jägerund Sammlergesellschaften offensichtlich so wenig? Sahlins argumentiert, dass die Menschen in diesen Gesellschaften weniger arbeiten als sie müssten, weil sie es offensichtlich nicht wollen; die Unbegrenztheit von Bedürfnissen ist in Sahlins’ Augen eine westliche Eigenschaft, sie kann nicht auf nicht-westliche Kulturen übertragen werden. In ›Economic Anthropology and Anthropologial Economics‹ argumentiert Sahlins, der Substantivismus entspräche einer »culturological study that as a matter of course does honor to different societies for what they are« (Sahlins 1969: 14).18 Sahlins scheint sich damit bereits weit von seinem evolutionistischen Frühwerk entfernt zu haben, denn in Sahlins’ Evolutionsperspektive können alle Gesellschaften auf einem universalen Schichtungsmaß angeordnet werden, abhängig von ihrer Fähigkeit, steigende Mengen an Energie nutzbar zu machen (Sahlins 1960a). Sahlins weicht an dieser Stelle von seiner früher vertretenen Evolutionsperspektive in mindestens zwei Punkten ab. Einerseits scheint der Maßstab unterschiedlicher evolutionärer Stadien nicht mehr in erster Linie darin zu bestehen, steigende Mengen an Energie nutzbar zu machen. Genau die Eigenschaft von Jäger- und Sammlergesellschaften, sich mit einer begrenzten Energiemenge zufrieden zu geben, ist für Sahlins offensichtlich ein Vorteil. Der evolutionäre ›Fortschritt‹ besteht in Sahlins’ Augen in einem immerwährenden Ansteigen der Arbeitszeit, ohne dass dies einen komplementären Anstieg des Hungers verhindern könnte. Sahlins’ Ansatz in ›The Original Affluent Society‹ ist also explizit normativ; Jäger- und Sammlergesellschaften dienen als positives Gegenbeispiel der kapitalistischen Moderne. Aus der Sicht dieser Perspektive erscheint es plötzlich 17 Christian weist auf eine für die Kritik des Kapitalismus wichtige Paradoxie hin, die Sahlins herausarbeitet: »the increasing ›productivity‹ of human societies has created societies in which more is desired, and less free time is available to enjoin what is available« (Christian 2005: 187). Einer der Gründe für die Popularität dieser Arbeit ist möglicherweise, dass sie sich gut in Beziehung setzen lässt zu der in den 1970er Jahren weitreichenden Kontroverse über Die Grenzen des Wachstums (Meadows et al. 1972). 18 Diese Formulierung zeigt den anhaltenden Einfluss von Leslie Whites Ethnologie auf Sahlins, denn der Begriff culturology ist eng mit Whites Ansatz verknüpft.

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verfehlt, überhaupt von einem evolutionären Fortschritt zu sprechen oder diesen gar mit einem zunehmenden Energieverbrauch zu verknüpfen (siehe auch Mirowksi 1994: 329, Fn. 9). Andererseits entwickelt Sahlins einen Ansatz, der ›sensibel‹ für kulturelle Eigenständigkeit zu sein scheint. Die Menschen in Jäger- und Sammlergesellschaften arbeiten vergleichsweise wenig, weil sie nicht mehr arbeiten wollen. Sahlins’ culturological study hat das Ziel, an andere Gesellschaften nicht eigene Maßstäbe heranzutragen, sondern ihre kulturspezifischen Eigenheiten herauszuarbeiten. Im Folgenden versuche ich zu zeigen, dass Sahlins dieses Ziel in ›The Original Affluent Society‹ nicht erreicht, denn tatsächlich leitet er seine kulturell ›sensible‹ Kritik am universalistischen Formalismus aus formalistischen und ökologisch-adaptionistischen Thesen ab. Erstens negiert Sahlins keineswegs die zentralen Kategorien der formalistischen Wirtschaftsethnologie, denn diese setzt nicht grundsätzlich voraus, dass die Bedürfnisse aller Menschen ›unbegrenzt‹ sind; vielmehr ist eine Grundüberlegung der neoklassischen Wirtschaftsethnologie, dass Menschen normalerweise versuchen, ihren individuell empfundenen Nutzen zu maximieren. Diese These ist kein Widerspruch zu Sahlins’ Argumentation, denn Sahlins kritisiert nicht das Maximierungsprinzip im Allgemeinen, sondern nur die These, dass Bedürfnisse prinzipiell unbegrenzt sind. Jäger und Sammler arbeiten nicht mehr, weil sie ihren individuell empfundenen Nutzen vergleichsweise leicht maximieren können. Sahlins vertritt damit einen ›gemäßigten‹ Formalismus, der die allgemeine Bedürfnisstruktur der Neoklassik anerkennt (Bird-David 1992; Donham 1985: 10). Sahlins weist übrigens selbst darauf hin: »›The Original Affluent Society‹ does not challenge the common understanding of ›economy‹ as a relation between means and ends; it only denies that hunters find any great disparity between the two« (SAE: xii). Dies entspricht allerdings nicht Polanyis Substantivismus, denn Polanyi geht davon aus, dass das individualistische Modell der Nutzenmaximierung nur auf kapitalistische Gesellschaften angewandt werden kann. Zudem ignoriert Sahlins in ›The Original Affluent Society‹ im Gegensatz zu Polanyi weitgehend die institutionelle Seite von Jäger- und Sammlerökonomien. Zweitens plädiert Sahlins zwar für eine kulturalistische Analyse von Jägerund Sammlergesellschaften, argumentiert aber letztlich selbst ›naturalistisch‹. In ›Economic Anthropology and Anthropological Economics‹ argumentiert Sahlins, dass der Formalismus die Kategorien ›Gesellschaft‹ und ›Individuum‹ konzeptionell voneinander trennt, weil soziale Ordnung nicht als konstituierende Voraussetzung von Bedürfnissen angesehen wird, sondern nur als Kontext nutzenmaximierender Individuen. Wenn Bedürfnisse aber nicht aus der jeweiligen sozialen Ordnung abgeleitet werden – so Sahlins –, müssen sie als ›natürlich‹ angesehen werden. Der Formalismus endet in Sahlins’ Augen deshalb notwendigerweise in einem Naturalismus, weil er Gesellschaft und Akteure konzeptionell voneinander trennt (Sahlins 1969). Genau diesen Fehler begeht Sahlins in ›The Original Affluent Society‹ allerdings selbst. Letztlich finden sich in Sahlins’ Augen die

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Gründe dafür, warum die Bedürfnisse der Akteure in Jäger- und Sammlergesellschaften begrenzt sind, nicht in den von ihm untersuchten Gesellschaften oder der symbolischen Organisation der Erfahrung, sondern in deren natürlichen Umwelten. Jäger- und Sammlergesellschaften sind, so Sahlins, durch eine »imminence of diminishing returns« (SAE: 33) gekennzeichnet: »Hunters and gatherers have by force of circumstances an objectively low standard of living« (SAE: 3637), weil folgendes gilt: »The advantages of food storage should be considered against the diminishing returns to collection within the compass of a confined locale […] Hence the hunter’s very ascetic conceptions of material welfare […] Ecological pressure assumes a rare form of concreteness when it has to be shouldered« (SAE: 31, 33). Sahlins führt die Bedürfnisstrukturen der Akteure auf ihre natürlichen Umwelten zurück. Ein wichtiger Zusatz in Sahlins’ Argument ist seine These, dass Jäger und Sammler Vertrauen in ihre Umwelt haben und dass ihr ökonomisches Verhalten auf dieser Grundlage sinnvoll ist. Bereits in seinem Konferenzbeitrag zu Man the Hunter argumentiert Sahlins, dass Jäger und Sammler den natürlichen Bedingungen ein allgemeines Vertrauen entgegenbringen (Sahlins 1968d: 86). In seinem Aufsatz in Stone Age Economics macht Sahlins folgenden Zusatz: »My point is that otherwise curious heathen devices become understandable by the people’s confidence, a confidence which is the reasonable human attribute of a generally successful economy« (SAE: 29). Für Sahlins sind Jäger- und Sammlergesellschaften ökonomisch erfolgreich, weil sie das Überleben unter Berücksichtigung begrenzter Arbeitszeiten sicherstellen. In diesem Sinne sind die ökonomischen Handlungsweisen von Jäger- und Sammlergesellschaften ›angemessen‹. Jäger und Sammler wollen nicht mehr konsumieren, weil ihre Gesellschaften den natürlichen Umwelten so sehr angepasst sind, dass ein Überleben mit einem begrenzten Zeitaufwand erreicht werden kann. Obwohl ›Kultur‹ zunächst eine zentrale Rolle in Sahlins’ Argumentation zu spielen scheint, verknüpft Sahlins tatsächlich den ökonomischen Formalismus mit einem ökologischen Naturalismus, um die Andersartigkeit von Jäger- und Sammlergesellschaften gegenüber modernen kapitalistischen Gesellschaften argumentativ einzuholen. Sahlins geht offensichtlich von einem Konzept systemischer Rationalität aus, das er in ›Economic Anthropology and Anthropological Economics‹ spezifiziert (Sahlins 1969). In dieser Arbeit richtet sich Sahlins zunächst gegen eine individualistische Vorstellung von Rationalität, die er für eine zentrale Grundlage der neoklassischen Wirtschaftsethnologie hält. Sahlins argumentiert, dass das universale Maximierungsprinzip der Neoklassik interkulturelle Unterschiede ökonomischer Praktiken nicht erklären kann. Das substantivistische Paradigma geht demgegenüber von einer systemischen Rationalität aus: »It is the way the system is materially sustained, finality of which the well-being of people is only one aspect« (Sahlins 1969: 27). Der Substantivismus ersetzt damit in Sahlins’ Augen eine Form der Rationalität durch eine andere. Letztlich muss aber auch der Substantivismus Aussagen machen über individuelle Maximierungsversuche:

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»A society cannot expend in the process of exploiting nature more energy and material than it extracts, nor waste in distribution more than it has gained in production – or else it succumbs, sooner or later. And this constraint, set on the plane of society, must be expressed also in the behavior of the individual […] the people will have to handle their resources with a view toward utilitarian advantage« (Sahlins 1969: 28).

Allerdings gibt es in Sahlins’ Augen einen bedeutenden Unterschied zwischen den formalistischen und substantivistischen Konzeptionen von Rationalität; dieser Unterschied macht den Substantivismus für Sahlins zum attraktiveren Paradigma. »Economizing is a strategy of the maximum, whereas adaptation is the achievement of a minimum […] Success is ecologically established from a minimum point – the minimum required of a cultural system to meet the selective pressures that would decompose it […] substantive theory, unlike the formal, demands neither a social project of maximum resource use nor an individual behavior oriented singularly to the main chance« (Sahlins 1969: 29).

Obwohl Sahlins den ökologischen Reduktionismus eines solchen Substantivismus kritisch sieht, ist seine Argumentation immer noch in einem Konzept systemischer Rationalität verwurzelt, das kulturelle Formen als Anpassungen an ihre Umwelten betrachtet. Sahlins argumentiert immer noch auf der Grundlage einer ›ökologischen‹ Perspektive, obwohl er in ›The Original Affluent Society‹ den Nachweis führen will, dass Bedürfnisse immer in kulturelle Kontexte eingebettet sind und nur unter Berücksichtigung dieser Kontexte verstanden werden können (Bird-David 1992). ›The Original Affluent Society‹ bietet Ansatzpunkte für eine Weiterentwicklung dieses kulturrelativistischen Arguments; die evolutionistische These, dass Kulturen das Ergebnis von Anpassungsprozessen seien, steht einer solchen Entwicklung allerdings entgegen. Ein Element dieser Theorie ist die westliche Unterscheidung zwischen Natur und gesellschaftlicher Lebenswelt: »[Sahlins] allows this view to inform his own characterization of hunter-gatherer attitudes towards the environment, epitomized in the notion of confidence […] for huntergatherers themselves the environment is not ›nature‹ in this Western sense but rather the world as it is gathered within the ambit of an all-embracing nexus of personalized relationships whose quality is aptly conveyed by the notion of trust« (Ingold 1992: 42).

Zudem legt Sahlins zu viel Gewicht auf seine These, dass die Arbeitszeit in Jäger- und Sammlergesellschaften geringer sei als in modernen Gesellschaften. Bird-David (1992) betont zu Recht, dass der Begriff ›Arbeitszeit‹ ein westliches Konstrukt ist, das in einer ökologischen Analyse Sinn ergibt, nicht aber in einem Argument, das eine kulturelle Erklärung für lokal spezifische Bedürfnisse geben will. ›The Original Affluent Society‹ ist damit letztlich ein Übergangswerk. Einerseits verwirft Sahlins noch nicht die zentralen ökologisch-evolutionistischen

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Annahmen seines Frühwerks, andererseits öffnet er sich, wenn auch vorsichtig, der boasianischen Idee kultureller Eigenständigkeit und nimmt Abstand von den normativen Implikationen seiner früher vertretenen Evolutionstheorie. Im Folgenden zeige ich, dass sich vergleichbare interne konzeptionelle Widersprüche auch in Sahlins’ Arbeiten über die normative Stabilisierung vormoderner Gesellschaften nachweisen lassen. Im Mittelpunkt stehen ›The Domestic Mode of Production‹ und ›The Spirit of the Gift‹.

Produktive Erfordernisse und normative Stabilisierung Im Anschluss an ›Political Types in Melanesia and Polynesia‹ (Sahlins 1963a) kann argumentiert werden, dass Austauschbeziehungen, die zum ›Ökonomischen‹ einer ›primitiven‹ Gesellschaft gehören, die soziale Ordnung aufrecht erhalten. Damit scheinen ökonomische Prozesse der Verteilung eine spezifisch politische Funktion in ›primitiven‹ Gesellschaften zu haben. Was aber ist mit der produktiven Seite der Ökonomie? In ›Political Types in Melanesia and Polynesia‹ argumentiert Sahlins, dass der produktive Sektor in Polynesien durch das politische System des Häuptlingstums integriert werden muss (CP: 88). Diese These deutet an, dass ökonomische Prozesse nicht per se sozialen Zusammenhalt garantieren; vielmehr sind es scheinbar in erster Linie Verteilungsprozesse, die zu politischer Stabilität beitragen. Ausgangspunkt der Arbeit ›The Domestic Mode of Production‹ (SAE: 41-148), die diese Grundproblematik aufgreift, ist die These, dass ›primitive‹ Ökonomien, in denen es eine ›häusliche Produktionsweise‹ gibt, weniger produzieren, als sie könnten. Die zur Verfügung stehende Arbeitskraft wird unzureichend ausgenutzt, die technologischen Möglichkeiten gehen über ihre tatsächliche Nutzung hinaus, natürliche Ressourcen bleiben unausgeschöpft. Die Gründe für die in ›primitiven‹ Gesellschaften weit verbreitete Unterproduktion liegen Sahlins zufolge in der häuslichen Produktionsweise selbst. Was aber ist eine häusliche Produktionsweise überhaupt? Zunächst betont Sahlins, dass die häusliche Produktionsweise streng genommen keine Eigenschaft einer ökonomischen Struktur ›primitiver‹ Gesellschaften ist, denn ›strukturell‹ gibt es eine Ökonomie in solchen Gesellschaften überhaupt nicht: »›economy‹ is something that generalized social groups and relations, notably kinship groups and relations, do« (SAE: 76). Die Produktion liegt in diesen Gesellschaften in den Händen von Haushalten, normalerweise Familien. Die Beziehungen innerhalb von Haushalten sind für Sahlins zugleich die sozialen Beziehungen, die die häusliche Produktionsweise charakterisieren. Kooperationen zwischen Haushalten sind zwar nicht bedeutungslos; die segmentäre Struktur der Produktion in primitiven Gesellschaften wird durch Kooperationen zwischen Haushalten aber nicht in Frage gestellt. Die häusliche Produktionsweise ist nicht darauf angelegt, Überschüsse zu erzielen. Um dies argumentativ zu entfalten, versucht Sahlins nachzuweisen, dass die häusliche Produktionsweise durch die Produktion für den Gebrauch und nicht

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für den Austausch gekennzeichnet ist. Sahlins verteidigt das Konzept production for use unter der Voraussetzung, dass damit nicht die Vorstellung häuslicher Autarkie verbunden ist; allerdings dient der Tausch in diesen Gesellschaften nicht dem wirtschaftlichen Gewinn. Damit ähneln die Austauschprozesse im Rahmen der häuslichen Produktionsweise der Marx’schen Zirkulation Ware – Geld – Ware. Diese einfache Warenzirkulation ist zwar, so Sahlins, eher eine Eigenschaft von bäuerlichen als von ›primitiven‹ Gesellschaften. »But like peasants, primitive peoples remain constant in their pursuit of use values, related always to exchange with an interest in consumption, so to production with an interest in provisioning« (SAE: 83). Austauschprozesse im Kapitalismus haben demgegenüber ein anderes Ziel: die Vermehrung einer bestimmten Geldsumme im Austauschvorgang Geld – Ware – Geld. Die Produktion von Gütern, die für bestimmte Menschen einen bestimmten Gebrauchswert haben, tritt, so Sahlins, in den Hintergrund gegenüber der Maxime ›so viel wie möglich‹. Die häusliche Produktionsweise ist nicht auf die Produktion von Überschüssen angelegt, sondern auf die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse, also auf die Produktion von Gebrauchsund nicht von Tauschwerten. Um die Charakteristika der häuslichen Produktionsweise quantitativ näher zu bestimmen, führt Sahlins ein neues Konzept ein, dass er in Anlehnung an den russischen Agrarökonomen A.R. Chayanov Chayanov’s rule nennt:19 »Intensity of labor in a system of domestic production for use varies inversely with the relative working capacity of the producing unit« (SAE: 91; Hervorhebung weggelassen). Die Gründe dafür liegen in der Struktur der häuslichen Produktionsweise. Zunächst sieht Sahlins interne ›Widersprüche‹, die die Produktion eines einzelnen Haushaltes begrenzen. Die unterschiedlichen Elemente der häuslichen Produktionsweise – geringe Arbeitskraft, einfache Technologie und begrenzte Zielsetzungen der Produktion – hängen voneinander ab und begrenzen sich gegenseitig. Die häusliche Produktion kann ein bestimmtes Niveau nicht überschreiten, ohne zugleich die familiären Organisationsstrukturen in Frage zu stellen. Vor allem aber führt Sahlins externe Widersprüche an, die Chayanov’s rule zu Grunde liegen: »the customary norm of welfare has to be fixed at a level attainable by the larger of them [the households], leaving underexploited the powers of the most efficient minority« (SAE: 87-88). Sahlins sieht die soziale Kohäsion gefährdet, wenn die Haushalte, die besonders viel produzieren könnten, ihre Produktionskapazitäten tatsächlich ausschöpften und diese Kapazitäten als Norm gelten würden. Denn dann gibt es scheinbar zwei Möglichkeiten, die aber beide nicht sozial integrativ sind: Entweder kommt es zum Ausbruch von Gewalt, weil nur einige Haushalte die Anforderungen an die Produktionskapazitäten erfüllen können: »the success of only a few and the inevitable failure of the many is an economic invitation to violence«; oder der Transfer der Überschüsse »creates a general and 19 Zu Chayanovs Theorie und dessen Beziehung zu Sahlins’ Wirtschaftsethnologie siehe Donham 1981, 1990.

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permanent discrepancy between the convention of domestic welfare and the reality« (SAE: 88). Der wirtschaftliche Output von Gesellschaften, die durch die häusliche Produktionsweise charakterisiert sind, muss in Grenzen gehalten werden, die unter den gesamtgesellschaftlichen Produktionskapazitäten liegen. Die häusliche Produktionsweise ist keine Grundlage sozialer Kohäsion; Sahlins argumentiert sogar, dass sie einem Naturzustand nahekommt. Die wirtschaftliche Organisation der häuslichen Produktionsweise treibt die Gesellschaft auseinander, weil es im Rahmen der wirtschaftlichen Struktur keinen Souverän gibt, der die einzelnen Produktionseinheiten zusammenhalten könnte; darüber hinaus gibt es auch keine ökonomischen Gründe der Zusammenarbeit der Haushalte. Die in der häuslichen Produktionsweise angelegte Anarchie muss überwunden werden – beispielsweise durch eine politische Elite, die die Haushalte zu einer gemeinsamen politischen Struktur zusammenfasst. Allerdings verschwindet der Naturzustand der häuslichen Produktionsweise keineswegs, sondern bleibt als Substruktur der Gesellschaft eine Gefahr für den sozialen Zusammenhalt. Die häusliche Produktionsweise stellt die Gesellschaft vor das Problem, wesentlich weniger zu produzieren, als möglich wäre. Dies ist ein bedeutender Nachteil in Kriegszeiten und kann sich in ökologischen Krisensituationen als lebensbedrohlich erweisen. De facto ist die häusliche Produktionsweise aber ohnehin »›a disarray lurking in the background‹«, also »always present and never happening« (SAE: 101). Kein Haushalt ist völlig auf sich allein gestellt, befindet sich immer im Kontext überfamilialer Bindungen und politischer Institutionen, die ihn nicht nur zum Teil eines größeren sozialen, sondern auch ökonomischen und politischen Systems machen. Das heißt aber nicht, dass die häusliche Produktionsweise überhaupt nicht existiert; vielmehr sieht Sahlins einen Widerspruch zwischen der Norm der häuslichen Produktionsweise einerseits und verwandtschaftlichen und politischen Bindungen andererseits, die in vielen Gesellschaften zu einer quantitativen Abweichung von Chayanov’s rule führen; die Tendenz zur Unterproduktion wird durch die Einbindung der Haushalte in ein größeres verwandtschaftliches und politisches System teilweise neutralisiert. Hinsichtlich der Kategorie Verwandtschaft ist entscheidend, inwieweit verwandtschaftliche Bindungen einen Haushalt in ein größeres familiales Netzwerk einbinden. Das hawaiianische Verwandtschaftssystem ist ökonomisch ›intensiver‹ als das der Eskimo, da letzteres den einzelnen Haushalt verwandtschaftlich isoliert. Dies liegt an der stärkeren Identifikation von linearen und kollateralen Verwandten in Hawaii,20 die eine größere Kooperation zwischen einem einzelnen Haushalt und anderen Haushalten bzw. Verwandten außerhalb des Haushaltes bedingt; deshalb gibt es im hawaiianischen System einen größeren sozialen Druck auf den Haushalt, mehr zu produzieren, als angesichts von Chayanov’s ru20 Lineare und kollaterale Verwandte sind so genannte ›Konsanguinale‹, also Personen, die zueinander in einem Abstammungsverhältnis stehen. Lineare Verwandte sind direkte Nachkommen und Vorfahren, währenddessen kollaterale Verwandte Geschwister direkter Nachfahren und Vorfahren sind (siehe Kohl 1993: 36).

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le eigentlich zu erwarten wäre. Darüber hinaus wirken verwandtschaftliche Beziehungen, die über den einzelnen Haushalt hinausgehen, auch zu einer besseren Verwertung landwirtschaftlicher Ressourcen, weil sie dem zentrifugalen Druck der Fission durch die häusliche Produktionsweise entgegenwirken. Durch die Einbindung des einzelnen Haushalts in ein größeres verwandtschaftliches Netzwerk entsteht aber ein Widerspruch zwischen den Bedürfnissen des Haushalts und denen der Gemeinschaft. Dieser Widerspruch wird normalerweise durch eine Ideologie der ›Reziprozität‹ überdeckt und kommt erst in Krisensituationen zum Vorschein, beispielsweise bei Naturkatastrophen, die die gesellschaftliche Versorgungssituation entscheidend verschlechtern. Sahlins’ Ansatz ist wiederholt empirisch überprüft worden.21 An dieser Stelle geht es mir allerdings nicht um die empirische Fruchtbarkeit von Sahlins’ Studie, sondern um dessen konzeptionelle Grundlagen, insbesondere im Rahmen von Sahlins’ werkgeschichtlicher Entwicklung. Sahlins selbst hält sein Modell für ›substantivistisch‹ (SAE: xii). Maurice Godelier bezeichnet Sahlins’ Ansatz als marxistisch (Godelier 1977: 18), während Neal argumentiert, der Marxismus sei kein inhärenter Bestandteil von Sahlins’ Modell (Neil 1973: 373). Donald Donham wiederum argumentiert, Sahlins’ Analyse der häuslichen Produktionsweise sei neoklassisch (Donham 1981, 1985, 1990). Sowohl aus systematischen als auch aus werkgeschichtlichen Gründen erscheint mir die Deutung naheliegend zu sein, dass Sahlins in ›The Domestic Mode of Production‹ weniger versucht, Strukturalismus und Marxismus miteinander zu verknüpfen, sondern eher, Polanyis Substantivismus mithilfe von marxistischer Terminologie voranzutreiben. Sahlins stellt die These auf, dass die produktive Infrastruktur die Gesellschaft auseinander treibt und statisch orientiert ist. Historischer Wandel muss aus anderen gesellschaftlichen Bereichen kommen; dies stellt allerdings die Grundorientierung des historischen Materialismus auf den Kopf: »Sahlins’ Hobbesian view of the ›state of nature‹ of human society – with the negative role it assigns to the production infrastructure in sociocultural dynamics – stands in direct opposition to the Marxist view« (Cook 1974: 370). Ein solches Konzept entspricht eher Polanyis Ansatz, denn Polanyi konzentriert sich nicht auf die Produktion, sondern auf die Verteilung. In Sahlins’ Augen determiniert der produktive Sektor keineswegs Normen, soziale Praktiken und Beziehungen sowie Symbolsysteme, sondern wird selbst normativ reguliert (siehe auch Mirowski 1994: 330). Darüber hinaus argumentiert Sahlins, dass sich soziale Ungleichheit nicht aus ökonomischer Ungleichheit konstituiert. Sahlins führt hier ein Argument weiter aus, das er bereits 1960 in ›Political Power and the Economy‹ entwickelt. »Social inequality does not develop from economic inequality. Rather, the origin of social inequality is the differentiation of economic roles generated by the development of 21 Evans 1974; Humphreys 1998; Minge-Kalmann 1977; Tannenbaum 1984; Reyna 1994.

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a tribal-wide economy. Status differences arise concomitantly with the division of function between those who administer the allocation of goods and those who supply them in a multihousehold economy« (Sahlins 1960b: 410).

Ich halte Donhams Interpretation, dass Sahlins’ Substantivismus in ›The Domestic Mode of Production‹ neoklassische Elemente enthält, für die plausibelste Interpretation. Bei genauerer Betrachtung fällt nämlich auf, dass ›The Domestic Mode of Production‹ ein vergleichbares Ziel hat wie ›The Original Affluent Society‹, dass aber beide Arbeiten die gleiche argumentative Schwäche aufweisen. Wie auch in seiner Analyse über die ›ursprüngliche Überflussgesellschaft‹ verfolgt Sahlins in ›The Domestic Mode of Production‹ das Ziel, ein kulturalistisches bzw. substantivistisches Modell vormoderner Gesellschaften vorzulegen. Obwohl Sahlins in ›The Domestic Mode of Production‹ den Formalismus kritisiert (SAE: 126-127), argumentiert er selbst formalistisch, denn eine von ihm gegebene Erklärung für die Unterproduktion lautet: »given the modest ideas of ›satisfaction‹ locally prevailing, labor and resources need not be exploited to the full« (SAE: 41). Diese These ist vergleichbar mit der Argumentation in ›The Original Affluent Society‹: Die Menschen produzieren nicht mehr, weil sie das nicht wollen. Sahlins argumentiert, dass die Bedürfnisse in vormodernen Gesellschaften nicht unbegrenzt sind, er negiert aber nicht die Überlegung, dass die Menschen überhaupt maximieren. Sahlins’ Unterscheidung zwischen production for use und production for exchange sollte deshalb weniger als ›marxistisches‹ Element in Sahlins’ Theorie interpretiert werden, sondern als Exemplifizierung der Unterschiede in den Bedürfnisstrukturen menschlicher Lebenswelten in vormodernen und modernen Gesellschaften: »for Marx, the difference between the two [systems of exchange] lies not so much in individual intentions or in cultural values (though these are present) but in the contrast between wage and non-wage economies, hence in the difference between various kinds of class relations […] For Sahlins, in contrast, these two economic systems are defined by individual intentions and the cultural values that condition them« (Donham 1981: 528; siehe dazu auch Mirowksi 1994: 330).

Damit ist der Ansatz letztlich nicht weit entfernt von der neoklassischen Theorie, die Sahlins eigentlich überwinden will (Donham 1985: 10). Im Unterschied zur Neoklassik begründet Sahlins die von ihm beschriebenen individuellen Bedürfnisstrukturen in der häuslichen Produktionsweise mit einer »customary norm of welfare«, die es gibt, weil die häusliche Produktionsweise ansonsten die Gesellschaft auseinander treiben würde (SAE: 87-88). Sahlins’ Argumentation ist also auch hier vergleichbar mit der in ›The Original Affluent Society‹. Dort argumentiert Sahlins, dass Jäger und Sammler nicht mehr konsumieren wollen, weil ihre Gesellschaften den natürlichen Umwelten so sehr angepasst sind, dass ein Überleben mit einem begrenzten Zeitaufwand erreicht werden kann. In ›The Domestic

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Mode of Production‹ werden individuelle Bedürfnisstrukturen als Anpassungen an das Problem der gesellschaftlichen Instabilität der häuslichen Produktionsweise verstanden. – Dieses Argument allein kann soziale Kohäsion aber natürlich nicht erklären. Für Sahlins sind es vielmehr Tauschbeziehungen, die politische Gemeinschaften konstituieren.

Die Gabe als ›primitiver Gesellschaftsvertrag‹ Die werkgeschichtlichen Wurzeln von Sahlins’ Ansatz über den ›primitiven Gesellschaftsvertrag‹ liegen in seiner Evolutionstheorie, insbesondere in zwei bislang kaum rezipierten Arbeiten aus den Jahren 1959 und 1960. In ›The Social Life of Monkeys, Apes and Primitive Man‹ (Sahlins 1959a) sowie ›The Origin of Society‹ (Sahlins 1960c) argumentiert Sahlins, dass die Handlungsweisen von Menschen kein direkter Ausdruck einer dem Menschen inhärenten, also biologischen, Natur sind: »the emergence of human society required some suppression, rather than a direct expression, of man’s primate nature. Human social life is culturally, not biologically, determined« (Sahlins 1960c: 3). Ein entscheidender Unterschied zwischen humanen und subhumanen Gesellschaften ist für Sahlins die menschliche Kontrolle von Sexualität. Sexualität ist nämlich – so Sahlins – eine Gefahr für soziale Stabilität und ökonomische Produktivität: Der soziale Kampf um Geschlechtspartner kann tödlich sein, zudem behindert er Kooperationen, die für das ökonomische Überleben vorteilhaft sind. Neue soziale Institutionen wie das Inzesttabu stabilisieren nicht nur die Familie, sondern etablieren auch neue Beziehungen zwischen unterschiedlichen sozialen Gruppen; Reziprozitätsbeziehungen reduzieren gewalttätige Auseinandersetzungen. An dieser Stelle erwähnt Sahlins erstmals Thomas Hobbes’ politische Philosophie, kehrt dessen Grundlage jedoch schlicht um: »Thomas Hobbes’s famous fantasy of a war of ›all against all‹ in the natural state could not be further from the truth. War increases in intensity, bloodiness, duration and significance for social survival through the evolution of culture, reaching its culmination in modern civilization« (Sahlins 1960c: 8; siehe auch Sahlins 1964c). In ›On the Sociology of Primitive Exchange‹ aus dem Jahr 1965 arbeitet Sahlins seine in ›The Origin of Society‹ getroffenen Annahmen über die Bedeutung ökonomischer Prozesse weiter aus und definiert ›Ökonomie‹ als »the process of provisioning society«. In ›primitiven‹ Gesellschaften gibt es, wie Sahlins betont, weder eine Ökonomie noch eine Regierung, sondern allein soziale Gruppen, die ökonomische oder politische Funktionen haben.22 Zudem argumentiert Sahlins, dass ›Ökonomie‹ ein Bestandteil von Kultur ist und keineswegs eine gesonderte Handlungsform. Was versteht Sahlins aber unter »the process of provisioning society«? Zunächst konkretisiert Sahlins seine Definition und fügt hinzu, es handle 22 In ›The Domestic Mode of Production‹ führt Sahlins dieses Argument fort. »Structurally, ›the economy‹ does not exist« (SAE: 76).

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sich um eine materielle Absicherung der Gesellschaft. Sahlins setzt den Begriff material allerdings in Klammern; tatsächlich ist für Sahlins eine materielle Absicherung der Gesellschaft nicht von alleiniger Bedeutung. Für Sahlins hat der Tausch in primitiven Gesellschaften nicht nur die Funktion eines materiellen Transfers; vielmehr initiiert und definiert der Tausch soziale Beziehungen. »The interest of such transactions is precisely that they do not materially provision people and are not predicated on the satisfaction of human material needs. They do, however, decidedly provision society: they maintain social relations, the structure of society […] Without any further assumption, they are ›economic‹ in the suggested meaning of the term« (SAE: 187, Fn. 2).

Auf diese Weise überwinden ›primitive‹ Völker das ›Hobbes’sche Chaos‹, also die möglichen Folgen des Fehlens einer gesetzgebenden Gewalt. Unterschiedliche soziale Gruppen müssen den Frieden ständig neu aushandeln, und der Tausch ist ein zentraler Bestandteil dieses Aushandlungsprozesses. In seiner Analyse von Mauss’ Text über Die Gabe versucht Sahlins, sein Konzept normativer Stabilisierung weiterzuentwickeln. Während ›On the Sociology of Primitive Exchange‹ der symbolischen Organisation der Wirklichkeit noch keine Bedeutung schenkt, konzentriert sich Sahlins hier auf die kulturellen Grundlagen von Austauschbeziehungen.23 Mauss argumentiert bekanntlich, dass das Problem, warum in vielen Kulturen »Austausch und Verträge in Form von Geschenken statt[finden], die theoretisch freiwillig sind, in Wirklichkeit jedoch immer gegeben und erwidert werden müssen« (G: 12), die folgenden beiden Aspekte aufweist. »Welches ist der Grundsatz des Rechts und Interesses, der bewirkt, daß in den rückständigen oder archaischen Gesellschaften das empfangene Geschenk obligatorisch erwidert wird? Was liegt in der gegebenen Sache für eine Kraft, die bewirkt, dass der Empfänger sie erwidert?« (G: 13; Hervorhebung weggelassen). Mauss versucht diese Fragen im Rahmen eines komparativen universalhistorischen Ansatzes zu beantworten. In Mauss’ Augen gibt es in den unterschiedlichen untergegangenen Wirtschafts- und Rechtsordnungen so gut wie nie einen Handel im Sinne eines einfachen Austauschs von Gütern oder Reichtümern. Demzufolge ist die Ausdifferenzierung eines rechtlichen, eines ökonomischen oder eines politischen Subsystems offensichtlich allein ein zentrales Kennzeichen moderner Gesellschaften. Die von Mauss untersuchten Praxisformen bilden demgegenüber ein System ›totaler Leistungen‹, weil in ihnen moralische, rechtliche, ökonomische und religiöse Elemente des Sozialen ununter-

23 Auch George Marcus weist darauf hin, dass sich ›On the Sociology of Primitive Exchange‹ und ›The Spirit of the Gift‹ konzeptionell voneinander unterscheiden, weil Sahlins erst in seinem späteren Aufsatz über den ›Geist der Gabe‹ die Bedeutung der kulturellen Organisation der Wirklichkeit für Austauschbeziehungen systematisch analysiert (Marcus 1990: 335).

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scheidbar verflochten sind und sich das Ganze der Gesellschaft mit und in der Gabe repräsentiert sowie reproduziert (G: 137-138). Mauss hebt drei Kennzeichen des von ihm analysierten Vorgangs hervor. »Zunächst einmal sind es nicht Individuen, sondern Kollektive, die sich gegenseitig verpflichten, die austauschen und kontrahieren« (G: 15), also beispielsweise Familien, Stämme oder andere soziale Gruppierungen. Darüber hinaus handelt es sich bei den getauschten Dingen nicht nur um materiell existente ›Dinge‹, die einen konkreten wirtschaftlichen Wert besitzen: »Es sind vor allem Höflichkeiten, Festessen, Rituale, Militärdienste, Frauen, Kinder, Tanz, Feste, Märkte, bei denen der Handel nur ein Moment und der Umlauf der Reichtümer nur eine Seite eines weit allgemeineren und weit beständigeren Vertrags ist« (G: 16). Ein drittes Kennzeichen der von Mauss analysierten Austauschformen ist deren Freiwilligkeit, obgleich die Geschenke und Gaben, wie Mauss betont, eigentlich streng obligatorisch sind. Deshalb umfasst die Gabe drei Verpflichtungen: geben, erwidern und annehmen (G: 71-80). Eine vierte Verpflichtung, die Mauss nennt und die in den Augen Maurice Godeliers etwas in Vergessenheit geraten ist (Godelier 1999: 46-49), ist das Opfer, also die Gaben der Menschen an sakrale Wesen. Die reinste Form dieses Systems totaler Leistungen verortet Mauss »in dem Bündnis zweier Phratien in den australischen oder nordamerikanischen Stämmen […], bei dem alles […] einander ergänzt und die Zusammenarbeit der beiden Hälften des Stammes voraussetzt« (G: 16). Mauss interessiert sich jedoch insbesondere für »eine zwar typische, doch entwickelte und relativ seltene Form dieser totalen Leistungen« (G: 17): den so genannten Potlatsch, ein agonistisches Tauschsystem, das von den Indianern an der amerikanischen Nordwestküste praktiziert wird. »Wir schlagen vor, den Namen ›Potlatsch‹ jener Art von Institution vorzubehalten, die man unbedenklicher und präziser, aber auch umständlicher totale Leistungen agonistischen Typs nennen könnte« (G: 18). Anstatt eines friedlichen Tausches von Gaben herrschen beim Potlatsch Rivalität und Antagonismen vor, die bis zum offenen Kampf und der Ermordung der Häuptlinge führen können. Darüber hinaus »geht man bis zur rein verschwenderischen Zerstörung der angehäuften Reichtümer« (G: 17). Mauss versteht auch den melanesischen kula-Ring als Beispiel für einen Potlatsch, doch das Paradigma eines Potlatsches sind bis heute die von Mauss beschriebenen Feste an der Nordwestküste Amerikas geblieben. Mauss differenziert also zwischen agonistischen und nichtagonistischen Formen totaler Leistungen (inklusive einer unbestimmten Zahl an Übergangsformen), wobei er anmerkt, dass er sich mit den nicht-agonistischen Formen nicht gesondert auseinandersetzt: »In Wirklichkeit liegt der Ursprung des Kredits ganz woanders. Er ist in einer Kategorie von Rechten gegeben, welche die Juristen und Ökonomen als uninteressant vernachlässigen: nämlich in der Gabe, einem komplexen Phänomen, vor allem in seiner ältesten Form, der totalen Leistung, die wir in dieser Abhandlung nicht untersuchen« (G: 64). Im Mittelpunkt der Gabe steht vielmehr die Weiterentwicklung dieser nicht-agonistischen

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Tauschform – eben der Potlatsch und unterschiedliche Variationen dieser totalen Leistung agonistischen Typs. Einen besonderen Stellenwert in Mauss’ Argumentationsfigur nimmt ein ethnographisches Beispiel ein, in dem es gar nicht um einen Potlatsch im engeren Sinne geht. Im Gegensatz zu den Austauschsystemen an der amerikanischen Nordwestküste und dem von Malinowski untersuchten kula-Ring in Melanesien sind die polynesischen Austauschsysteme in Mauss’ Augen keine totalen Leistungen des agonistischen Typs, wenn bei ihnen auch zwei Elemente des Potlatsch vorhanden sind: »das der Ehre, des Prestiges, des mana, welches der Reichtum verleiht, sowie das der absoluten Verpflichtung, die Gaben zu erwidern, bei Strafe, dieses mana, diese Autorität, Talisman und Quelle des Reichtums, zu verlieren« (G: 21). Es ist bereits oft erkannt worden, dass Mauss sein besonderes Augenmerk nicht auf den ursprünglichen Prozess des Gebens oder auch des Annehmens der Gabe richtet, sondern auf die Pflicht, die Gabe zu erwidern (siehe SAE: 150). Wie also kommt es dazu? Einen wichtigen Hinweis darauf findet Mauss in der Mythologie der Maori, insbesondere in einer Erklärung von Tamai Ranaipiri, einem Maori-Informanten von Elsdon Best: »Ich will Ihnen jetzt vom hau erzählen … [Auslassung im Original] Das hau ist nicht der Wind, der bläst. Ganz und gar nicht. Stellen Sie sich vor, Sie besitzen einen bestimmten Gegenstand (taonga) und geben ihn mir; Sie geben ihn mir ohne festgesetzten Preis. Wir handeln nicht darum. Nun gebe ich diesen Gegenstand einem Dritten, der nach einer gewissen Zeit beschließt, irgend etwas als Zahlung dafür zu geben (utu), und er schenkt mir irgend etwas (taonga). Dieses taonga nun, das er mir gibt, ist der Geist (hau) des taonga, das ich von Ihnen bekommen habe und das ich ihm gegeben habe. Die taonga, die ich für die anderen, von Ihnen stammenden taonga erhalten habe, muß ich Ihnen zurückgeben. Es wäre nicht recht (tika) von mir, diese taonga für mich zu behalten, ob sie nun begehrenswert (rawe) oder unangenehm (kino) sind. Ich muß sie Ihnen geben, denn sie sind ein hau des taonga, das sie mir gegeben haben. Wenn ich dieses zweite taonga für mich behalten würde, könnte mir ernstlich Böses und sogar der Tod daraus entstehen. So ist das mit dem hau, dem hau des persönlichen Eigentums, dem hau der taonga, dem hau des Waldes. Kati ena (Genug davon)« (G: 24).

In den Augen Mauss’ gibt es nur ein schwer verständliches Element in diesem Text, nämlich das für ihn mysteriöse Eingreifen eines dritten Akteurs. Für Mauss erscheint dieses Eingreifen aber nur von untergeordneter Bedeutung. Er interpretiert Ranaipiris Erklärung wie folgt: »Das taonga und alles streng persönliche Eigentum hat ein hau, eine geistige Macht; Sie geben mir ein taonga, und ich gebe es einem Dritten; dieser gibt mir ein anderes taonga dafür, weil er vom hau meines Geschenks dazu getrieben wird; und ich bin gezwungen, Ihnen diese Sache zu geben, weil ich Ihnen zurückgeben muß, was in Wirklichkeit das Produkt des hau Ihres taonga ist« (G: 25).

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Wenig später argumentiert Mauss, dass es der hau ist, der zu dem Ort seines Ursprungs, also hier: zum Eigentümer zurückkehren will. Daraus zieht Mauss die Schlussfolgerung, »daß im Maori-Recht die durch die Sache geschaffene Bindung eine Seelen-Bindung ist, denn die Sache selbst hat eine Seele, ist Seele. Woraus folgt, daß etwas geben soviel heißt, wie etwas von sich selbst geben« (G: 26). Es ist logisch, so Mauss, dass man in einem solchen Ideensystem dem anderen zurückgeben muss, was tatsächlich ein Teil seiner Natur ist; denn etwas von jemanden anzunehmen heißt, etwas von seinem geistigen Wesen, »von seiner Seele« (G: 27), anzunehmen. Bei seiner Analyse des Potlatsch an der amerikanischen Nordwestküste nimmt Mauss dieses Argument übrigens wieder auf: »Man kann diese Analyse noch weiter treiben und beweisen, daß den beim Potlatsch ausgetauschten Sachen eine bestimmte Kraft innewohnt, die sie zwingt, zu zirkulieren, gegeben und erwidert zu werden« (G: 80). Bei dem von Malinowski untersuchten kula findet er ein solches Prinzip zwar nicht, doch dies scheint ihn sichtlich zu irritieren (siehe G: 45, Fn. 31). Ich habe Mauss’ Text an dieser Stelle so ausführlich zitiert, weil ich auf ein Problem in Mauss’ Argumentation hinweisen möchte, an das Sahlins’ Interpretation anschließt. Einerseits argumentiert Mauss, dass es das hau ist, dass zum Ort seines Ursprungs zurückkehren möchte. Bedeutet dies, dass das hau gewissermaßen von einem Objekt auf das andere ›überspringen‹ kann? Denn wenn dies nicht so wäre, müsste im Grunde genommen immer das jeweils gleiche Objekt zwischen den Tauschpartnern zirkulieren. Andererseits ist nicht klar, was Mauss meint, wenn er argumentiert, dass man das taonga, das man von der dritten Person erhielt, an die erste weitergeben müsse, »weil ich Ihnen zurückgeben muß, was in Wirklichkeit das Produkt des hau Ihres taonga ist« (G: 25). Was ist mit dem Begriff »Produkt« an dieser Stelle gemeint? Ist das »Produkt«, von dem Mauss hier schreibt, einfach das andere taonga, das die zweite Person von der dritten im Austausch gegen das ursprüngliche taonga, das die erste Person der zweiten gegeben hatte, erhält? Und in welcher Beziehung steht diese Aussage zu der These, dass das hau »zum Eigentümer zurückkehren möchte« (G: 26)? Denn dies wäre ja gerade nicht sichergestellt, wenn ›nur‹ das Produkt des hau zurückgegeben wird. Mauss verfolgt diese Argumentationslinie allerdings nicht weiter – sie wird erst wieder von Sahlins aufgenommen, der gesellschaftliche Notwendigkeiten in den Vordergrund rückt, die Mauss in den Augen Sahlins’ übersehen hat (siehe auch Wagner-Hasel 2000: 40). In seiner Interpretation grenzt sich Sahlins zunächst von den Interpretationen von Raymond Firth und Claude Lévi-Strauss ab. Im Unterschied zu Mauss führt Firth die Gabe auf ein spezifisches Interesse zurück, nämlich auf die Angst vor Hexerei und möglichen sozialen Kosten beim Zusammenbrechen des Tausches (Firth 1929). Lévi-Strauss sieht im hau keine indigene Kosmologie, die die Reziprozitätsmechanismen der Maori erklären könnte, sondern stellt das Tauschverhältnis selbst in den Mittelpunkt, das, so Lévi-Strauss, den ausgetauschten Dingen vorausgeht und deshalb von ihnen unabhängig ist. Gemäß des struktura-

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listischen Modells erklären die weitgehend unbewusst bleibenden Grundstrukturen des menschlichen Geistes, warum auf die Gabe notwendigerweise eine Gegengabe folgt (Lévi-Strauss 1978). Für Sahlins sind indigene Mythologien allerdings durchaus von Interesse, und er kehrt zu einem argumentativen Angelpunkt der Gabe zurück: Tamai Ranaipiris Erklärung über den hau der Maori.24 Sahlins weist nach, dass in Mauss’ Wiedergabe von Ranaipiris Text ein entscheidendes Element fehlt: der Hinweis auf eine Zeremonie namens whangai hau. Dieser Hinweis ist in Sahlins’ Augen aber von entscheidender Bedeutung, denn Tamai Ranaipiris Bemerkung liefert den Kontext für die Bedeutungen des Wortes hau: »a certain ceremony, a sacrificial repayment to the forest for the game birds taken by Maori fowlers« (SAE: 156). Die Mechanismen der Gabe im alltäglichen Leben sind eng verknüpft mit religiösen Zeremonien; zumindest sind die jeweiligen Grundkonzepte vergleichbar. Deshalb liefert eine genauere Analyse der Zeremonie whangai hau für Sahlins wertvolle Hinweise für die der ›alltäglichen‹ Gabe zu Grunde liegenden Prinzipien. Sahlins argumentiert, dass Tamai Ranaipiri Best erklären wollte, warum bestimmte Jagdvögel dem Wald zeremoniell wiedergegeben werden. Best beschreibt einen Ritus, in dem die Priester einen Altar in den Wald bringen; dem Altar wohnt das hau des Waldes inne, und diese Handlung soll dafür sorgen, dass es im Wald genug Vögel zur Jagd gibt. Nach ihrer Jagd übergeben die Jäger einige ihrer erlegten Vögel den Priestern; dies erhält die Fruchtbarkeit (hau) des Waldes. »Immediately then, the ceremonial transaction presents a familiar appearance: a three-party game, with the priests in the position of an initiating donor to whom should be rendered the returns on an original gift« (SAE: 158-159). Diese Struktur ist für Sahlins vergleichbar mit dem Austausch von bestimmten Gütern, so genannten taonga. Auch hier gibt es drei Parteien: Person B erhält die Gabe g1 von Person A und gibt sie an Person C weiter. Im Gegenzug erhält Person B eine andere Gabe g2 von Person C. Da aber die Gabe g2, die Person B von Person C erhält, das Produkt (hau) der ursprünglichen Gabe g1 von Person A ist, muss dieser Vorteil wieder zu Person A zurückkehren. »If the second gift is the hau of the first, then the hau of a good is its yield, just as the hau of a forest is its productiveness« (SAE: 160). Dies wird für Sahlins durch Ranaipiris Einführung einer dritten Person deutlich, die notwendig ist, um zu verdeutlichen, dass die Transaktion einen ökonomischen Gewinn abwirft. Die Anwesenheit eines Dritten beweist – so Sahlins –, dass es weder um etwas Geistiges noch um Wechselseitigkeit schlechthin geht: »if the point is neither spiritual nor reciprocity as such, if it is rather that one man’s gift should not be another man’s capital, and therefore the fruits of a gift ought to be passed back to the original holder, then the introduction of a third party is necessary. It is necessary precisely to show a 24 In der bei Fischer erschienenen deutschen Fassung der Gabe findet sich der Name »Tamai Ranaipiri« (G: 24), in ›The Spirit of the Gift‹ »Tamati Ranapiri« (SAE: 157). Ich folge der Fassung der deutschen Ausgabe von Mauss’ Essai sur le don.

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turnover« (SAE: 160). Der Gewinn darf nicht in den eigenen Händen verbleiben; die Transaktion hat eine spezifisch moralische Komponente. »We have to deal with a society in which freedom to gain at others’ expense is not envisioned by the relations and forms of exchange« (SAE: 162). In der religiösen Zeremonie whangai hau bedeutet hau zwar nicht ›Gewinn‹, sondern ›Fruchtbarkeit‹. Doch Sahlins argumentiert, dass das Konzept des hau am besten verständlich wird, wenn man es als ein allgemeines Prinzip der Produktivität begreift, das ökonomische und religiöse Bedeutungen transzendiert. »Just as in the mundane context of exchange hau is the return on a good, so as a spiritual quality hau is the principle of fertility. In the one equally as in the other, the benefits taken by man ought to be returned to their source, that it may be maintained as a source« (SAE: 168). Sahlins’ Argumentation impliziert, dass die Unterscheidung zwischen religiösen und ökonomischen Handlungsweisen für die Maori keine Bedeutung hatte; das hau ist eine totale soziale Tatsache im Sinne Mauss’. Dieser letzte Punkt ist von besonderem Interesse, denn Sahlins säkularisiert zunächst das scheinbar religiöse Konzept des hau, nur um die Grenzen zwischen säkularem und religiösem Bereich später wieder einzuziehen. Im Diskursuniversum der Moderne lässt sich dieses Konzept in Sahlins’ Augen also nicht einwandfrei klassifizieren.25 In der Gabe sind allerdings nicht nur religiöse und ökonomische Prinzipien so eng verknüpft, dass sie – zumindest im Denken der Maori – kaum noch unterschieden werden können. Sahlins geht noch einen Schritt weiter und argumentiert, dass die Gabe eine politische Funktion hat: Sie ist die ›primitive‹ Analogie zum Staat. Sahlins macht das Mauss’sche Konzept des Gabentauschs für eine alternative Lösung des ›Hobbes’schen Problems‹, wie soziale Ordnung möglich sei, fruchtbar, als sie Thomas Hobbes selbst vorgeschlagen hat. In seinem Hauptwerk Leviathan fragt Hobbes bekanntlich, was geschieht, wenn Menschen in einem ›Naturzustand‹ ohne äußere Einschränkungen und unter Güterknappheit nutzenorientiert handeln, »indem sie versuchen, ihre Lust größtmöglich zu steigern und Schmerz zu vermeiden« (Joas/Knöbl 2004: 51). Hobbes argumentiert, dass unter diesen Umständen das Handeln der Menschen zum Krieg aller gegen alle führen müsse, weil im Kampf um knappe Ressourcen jeder nur seinen unmittelbaren Nutzen maximieren wolle; zudem müsse jeder damit rechnen, dass die anderen ebenfalls ihren Nutzen maximieren wollten, ohne dabei irgendwelche Regeln einhalten zu müssen. In einer solchen Situation kann kein Vertrauen entstehen; der daraus resultierende Zustand eines Kriegs aller gegen alle kann in den Augen Hobbes’ aber niemanden glücklich machen. Der Lösungsvorschlag von Hobbes besteht nun darin, dass sich alle Menschen freiwillig der Autorität eines Herrschers unterwerfen, »der schließlich den Krieg aller gegen alle beenden, sein Gewaltmonopol etablieren und damit den Frieden erzwingen wird« (Joas/Knöbl 2004: 52). Das Gebilde, an den die Menschen ihre Macht abgeben, nennt Hobbes 25 Für eine Analyse von Sahlins’ Text, die diesen Punkt in den Vordergrund rückt, siehe Frow 1997: 111-112.

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in Anlehnung an ein Seeungeheuer aus dem Alten Testament »Leviathan«, in dem es zwar eine permanente Ungleichheit zwischen den Menschen und der Spitze des Staates gibt, in dem die Menschen aber auch Sicherheiten genießen, die im Naturzustand nicht möglich sind. Im Unterschied zu Hobbes sind es für Sahlins normativ regulierte Reziprozitätsbeziehungen, die in vormodernen Gesellschaften einen Krieg aller gegen alle verhindern. Anders als im Gesellschaftsvertrag von Hobbes werden ›primitive‹ Gesellschaften – so Sahlins – durch die Gabe nicht in einem körperschaftlichen Sinn integriert, sondern in einem segmentären. Die unterschiedlichen Parteien lösen sich nicht in einer übergreifenden Einheit auf; vielmehr stellt das Prinzip der Reziprozität sicher, dass die Unterschiede zwischen gesellschaftlichen Gruppen stabilisiert werden, ohne dass diese Unterschiede einen Krieg zur Folge haben müssen. Mit der Gabe ist auch keinerlei Sanktionierungsgewalt verbunden – bis auf die Pflicht, eine Gabe zu erwidern. In diesem Kontext erscheint der hau der Maori selbst als abhängige Variable, und zwar als indigene Rationalisierung der Notwendigkeit, den Krieg aller gegen alle durch Reziprozitätsbeziehungen zu verhindern. »The compulsion to reciprocate built into the hau responds to the repulsion of groups built into the society« (SAE: 174). In den Augen Sahlins’ antizipiert Hobbes eine spätere ethnologische Theorie, die Mauss durch das Konzept der Gabe spezifiziert. Mauss erkennt in der Gabe eine spezifische Form von Rationalität, denn die Entscheidung für Reziprozität ist eine gegen »Warre«. Die von Mauss entdeckte Rationalität nimmt jedoch eine scheinbar irrationale Form an. »Exchange is the triumph of reason, but lacking the embodied spirit of the donor (hau), the gift is not requited« (SAE: 180). Der von Sahlins in ›The Domestic Mode of Production‹ beschriebene Naturzustand findet sein Äquivalent in der in ›The Spirit of the Gift‹ beschriebenen, im gesellschaftlichen Unbewussten eingegrabenen Möglichkeit des Krieges aller gegen alle. »This ›Warre‹ does exist, if it is only that people ›lock their doors behind‹ and princes are in ›constant jealousy‹. Yet though it exists, it has to be imagined because all appearance is designed to repress it, to overlay and deny it as an insupportable menace. So it is imagined in a way that seems more like psychoanalysis than physics: by probing for a hidden substructure that in outward behavior is disguised and transfigured into its opposite« (SAE: 173).26

26 Jonathan Parry hält die Verbindung, die Sahlins zwischen Mauss und Hobbes zieht, für problematisch. In Hobbes’ evolutionistischem Schema entwickelt sich der Staat aus einem Naturzustand, in dem es nur Individuen gibt. Mauss kehrt diese evolutionistische Sequenz demgegenüber um: Der Holismus steht am Anfang der kulturellen Entwicklung, die Menschen werden individualisiert (Parry 1986: 457). Ich halte diese Kritik allerdings nicht für gänzlich berechtigt, denn Sahlins selbst weist auf die Unterschiede in den Konzeptionen von Mauss und Hobbes hin (SAE: 170-171).

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Die gesellschaftliche ›Oberfläche‹, also an dieser Stelle in erster Linie Reziprozitätsbeziehungen, sind deshalb kein Ausdruck der menschlichen Natur, sondern eher dessen Negation.27 Ich glaube, dieser Rekurs auf unterbewusste Strukturen unter der Oberfläche gesellschaftlicher Beziehungen ist letztlich der Grund, warum Sahlins eine systematische Beziehung zwischen Mauss und Marx herstellt: »If Mauss, like Marx, concentrated singularly on the anthropomorphic qualities of the things exchanged, rather than the (thinglike?) qualities of the people, it was because each saw in the transactions respectively at issue a determinate form and epoch of alienation: mystic alienation of the donor in primitive reciprocity, alienation of human social labor in commodity production« (SAE: 180-181).

Sahlins geht es hier nicht um den Nachweis, dass sowohl Mauss als auch Marx Theoretiker der sozialen Ungleichheit gewesen seien. Sahlins will Mauss nicht im Lichte des Marx’schen Konzepts der sozialen Ungleichheit fruchtbar machen, denn Sahlins analysiert die Entstehung sozialer Ungleichheit nicht als einen Ausbeutungsprozess, sondern als einen normativen Stabilisierungsprozess im Rahmen kultureller Evolution. Vielmehr weist Sahlins darauf hin, dass sich sowohl Mauss als auch Marx für Strukturen interessieren, die unterhalb der Oberfläche der gesellschaftlichen Erscheinungen liegen. In Sahlins’ Ansatz sind diese Strukturen der von Hobbes beschriebene Naturzustand des Warre.28 Damit weicht Sahlins’ eigener ›Strukturalismus‹ in Stone Age Economics fundamental von Claude Lévi-Strauss’ Projekt ab, denn Lévi-Strauss interessiert sich in erster Linie für die universalen Strukturen des menschlichen Geistes, die sich teilweise in sozialen Institutionen ›ausdrücken‹; Sahlins argumentiert demgegenüber, dass soziale Institutionen die menschliche Natur letztlich negieren. Sowohl für Sahlins als auch für Lévi-Strauss sind soziale Institutionen gesellschaftliche Oberfläche; 27 Die These, dass Reziprozitätsbeziehungen nicht der Ausdruck der menschlichen Natur sind, sondern eher dazu dienen, die destruktiven Eigenschaften dieser Natur zu unterdrücken oder zumindest zu kanalisieren, äußert Sahlins bereits in ›The Social Life of Monkeys‹ (Sahlins 1959a) und ›The Origin of Society‹ (Sahlins 1960c). 28 Sahlins’ Lösung ließe sich Gewinn bringend in Beziehung setzen zu Talcott Parsons’ The Structure of Social Action. Parsons kritisiert Hobbes, dass unter Zugrundelegung eines utilitaristischen Modells des nutzenmaximierenden Individuums die von Hobbes vorgeschlagene Lösung schwer vorstellbar ist (Parsons 1968). Wenn das Handeln im Naturzustand ausschließlich nutzenmaximierend ist, kann die Entstehung sozialer Ordnung nicht plausibilisiert werden; das dauerhafte Bestehen einer faktischen Ordnung kann in Parsons’ Augen nur über Normen erklärt werden (siehe Joas/Knöbl 2004: 56-66). Ein systematischer Vergleich der Konzepte von Sahlins und Parsons steht meines Wissens noch aus, wäre aber wohl von besonderem Interesse, weil Sahlins’ und Parsons’ Entwürfe zwei unterschiedliche Theorieströmungen repräsentieren, die die ›durkheimianische‹ Soziologie auf jeweils unterschiedliche Weise weiterführen. Während Sahlins in Stone Age Economics die Durkheim’sche Soziologie zumindest ansatzweise strukturalistisch weiterführt, gibt ihr Parsons eine zunächst eher handlungs- und später systemtheoretische Akzentuierung (siehe auch Adloff/Mau 2005b: 16).

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doch während Lévi-Strauss die Struktur im Mentalen verankert, die sich in sozialen Institutionen (wie Verwandtschaftssystemen) und kulturellen Formen (wie Mythen) ›ausdrückt‹, verlagert sie Sahlins in einen von Warre gekennzeichneten Naturzustand, der durch Reziprozitätsbeziehungen überwunden werden muss. Sahlins interessiert sich in dieser Phase seiner intellektuellen Entwicklung auch mehr als Lévi-Strauss für soziale Normativität; im Vordergrund stehen für Sahlins nicht symbolische Klassifikationsleistungen von Individuen, sondern die normative Stabilisierung von Gesellschaft. Diesen Gedanken überträgt Sahlins schließlich auch auf Handelsbeziehungen zwischen sozialen Gruppen. In seiner Arbeit ›The Diplomacy of Primitive Trade‹ versucht Sahlins die Frage zu beantworten, warum in Handelsbeziehungen zwischen so genannten primitiven Gesellschaften sich oftmals ein Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage einstellt, obwohl diese Handelsbeziehungen keine Marktbeziehungen sind, in denen sich Angebot und Nachfrage über Preise regulieren. Sahlins entwickelt deshalb die These, dass primitive trade als diplomatisches Manöver verstanden werden kann (SAE: 302). Eine entscheidende Rolle spielt hier das Konzept der Großzügigkeit [generosity]: »How can it be that a rate fixed by reciprocal generosity expresses the current average supply and demand? Everything depends on the meaning and practice of that capital principle, ›generosity‹. But the meaning is ethnographically uncertain, and therein lies the major weakness of our theory« (SAE: 307). Sahlins stellt aber immerhin fest, was das Prinzip der Großzügigkeit prinzipiell leisten muss: »Supposing the necessity of reciprocal good measure, it would follow that each party has to consider, in addition to the virtues of the goods he receives, the relative utility to the other party of the goods he gives, and in addition to the labor he has expended himself, the work also of the other. ›Generosity‹ has to bring use value into relation with use value, and labor with labor« (SAE: 307).29

Zu den interessantesten Fragen, die sich über Mauss’ Analyse des hau der Maori stellen, gehört wohl, warum gerade dieser Teil von Mauss’ Text eine scheinbar endlose ethnologische Debatte hervorgerufen hat – insbesondere auch deshalb, weil es kaum eine ethnologische Analyse gibt, die mit den konzeptionellen Aussagen von Mauss’ Analyse übereinstimmt.30 Im Folgenden geht es mir aber nicht um die berechtigte Frage, ob Sahlins Mauss’ Diskussion über den hau möglicherweise zu sehr in den Vordergrund gerückt hat, sondern um die konzeptionellen Grundlagen seiner These, die Gabe sei ein ›primitiver Gesellschaftsvertrag‹. Wie bereits in ›The Original Affluent Society‹ stellt Sahlins in ›The Spirit of the 29 Für eine Diskussion von Sahlins’ Analyse aus Sicht der Werttheorie siehe Mirowski 2001: 442-444. 30 Siehe zu dieser Diskussion neben der Arbeit von Sahlins unter anderem Frow 1997: 109-114; Gell 1998: 106-109; Graeber 2001: 178-188; Godelier 1999; Lévi-Strauss 1978; Parry 1986; Weiner 1992.

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Gift‹ Eigenschaften vormoderner Gesellschaften in den Mittelpunkt seiner Analyse, die diese Gesellschaften von der kapitalistischen Moderne unterscheiden sollen. Sahlins argumentiert, dass Mauss tatsächlich zwei Antworten darauf hat, warum eine Gabe erwidert wird. Die eine Antwort – dass in der Gabe ein ›Geist‹ innewohne, der zu seinem Urspung zurückkehren wolle – sei falsch, währenddessen Sahlins Mauss’ zweite Antwort – dass die Gabe ein Gesellschaftsvertrag für vormoderne Gesellschaften ist – für richtig hält. Indem Sahlins die normativen Grundlagen des hau herausarbeitet, kann er beide Erklärungen von Mauss miteinander verknüpfen, denn nun erscheint die Norm, den Profit an den ursprünglichen Geber zurückzugeben, als ein Ausdruck der fundamentalen Sorge von warre, dem Krieg aller gegen alle. Wie Jonathan Parry herausgearbeitet hat, wird Sahlins’ Interpretation Mauss’ Text allerdings nicht ganz gerecht. Parry kritisiert insbesondere Sahlins’ These, dass der hau auf eine Norm zurückgehe, die besagt, dass der jeweilige Profit zurückerstattet werden müsse. Parry argumentiert, dass in Ranaipiris Text über die Zeremonie whangai hau keine Informationen darüber zu finden sind, dass eine Äquivalenz im Tausch sicherzustellen sei. Im Gegenteil wird ein Profit geradezu angestrebt, denn die Jäger geben eben nur einen Teil dessen, was sie gejagt haben, den Priestern zurück. Parry stimmt zwar Sahlins’ Argument hinsichtlich der Symbolisierung des hau als allgemeines Produktivitätsprinzip zu. Dies hat für Parry aber zur Folge, dass Reziprozität selbst als Grundlage für Profit angesehen wird; darin liegt in Parrys Augen die individuelle Motivation, eine Gabe zurückzugeben. Wer dies nicht tut, verliert seinen Status als zuverlässiger Tauschpartner und wird aus dem Tauschzyklus ausgeschlossen, der ja den Zugang zu einem magischen Produktivitätsprinzip ermöglicht. Parry argumentiert zudem – ich meine zu Recht –, dass Mauss den hau keineswegs nur als kulturspezifische Erklärung einführt, die später in seinem Ansatz an Bedeutung verliert und nicht mit seinem Argument über die Gabe als ›primitiver Gesellschaftsvertrag‹ zu vereinbaren ist. Vielmehr ist der hau der Maori für Mauss, so Parry, ein Beispiel für die in der Gabe fundamentale Verknüpfung von Personen und Dingen. Dieses Prinzip – und nicht Sahlins’ Erklärung, die Gabe sei »a kind of pre-emptive ideological strike against market principles« (Parry 1986: 465) – ist die Grundlage für den ›primitiven Gesellschaftsvertrag‹.31 Die beiden Erklärungen, die Sahlins in Mauss’ Text für das Problem identifiziert, warum Gaben erwidert werden, verweisen in Parrys Augen auch bei Mauss selbst aufeinander. »The gift only succeeds in suppressing the Warre of all against all 31 Maurice Godelier argumentiert, »dass in diesen Gesellschaften die Geber weiterhin die Eigentümer dessen sind, was sie geben« (Godelier 1999: 80). »Die entscheidende Tatsache des Fortbestehens der Rechte des ursprünglichen Gebers auf die gegebene Sache ist es, die sich auf der ideellen Ebene […] in die Vorstellung übersetzt, die Person des ursprünglichen Gebers sei in der gegebenen Sache gegenwärtig, sie hafte ihr an und begleite sie in der Folge auf allen Stationen ihres Weges« (Godelier 1999: 79). Für eine ausführlichere Untersuchung der Position Godeliers siehe meine Analyse des Godelier’schen Werks im nächsten Abschnitt.

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because it creates spiritual bonds between persons by means of things which embody persons« (Parry 1986: 457). Ein wichtiger Grund für Sahlins’ Interpretation ist, wie ich glaube, sein Versuch, eine nicht-ethnozentrische Wirtschaftsethnologie zu entwickeln, die ein explizites Gegenmodell zur ökonomischen Neoklassik sein soll. Allerdings argumentiert Sahlins selbst neoklassisch, zumindest in ›The Original Affluent Society‹ und ›The Domestic Mode of Production‹. Es ist also nicht erstaunlich, dass es Diskontinuitäten in Sahlins’ Ansatz gibt. Dabei gibt es durchaus Ansatzpunkte in Stone Age Economics, einen handlungstheoretisch balancierten wirtschaftsethnologischen Ansatz zu entwerfen, der Utilitarismus (also individuelle Nutzenmaximierung), Normativität und Symbolismus in einem kohärenten Analyserahmen miteinander verknüpft. Denn Sahlins’ Ansatz sollte nicht nur als Plädoyer für die Existenz von Gabengesellschaften gelesen werden, die sich radikal von kapitalistischen Gesellschaften unterscheiden. Sahlins’ Interpretation der Mauss’schen Gabe in ›The Spirit of the Gift‹ kann tatsächlich so verstanden werden, und Jonathan Parry (1986) macht darauf aufmerksam, wie sehr Eigennutz und Normativität in der Gabe miteinander verknüpft sind. Liest man ›The Spirit of the Gift‹ allerdings vor dem Hintergrund von ›On the Sociology of Primitive Exchange‹, erscheint Sahlins’ Argumentation der Parrys zumindest teilweise überraschend nahe zu kommen. Denn was Sahlins in ›The Spirit of the Gift‹ als den ›primitiven Gesellschaftsvertrag‹ beschreibt, scheint weitgehend mit balanced reciprocity zusammenzufallen, also dem Reziprozitätstyp, der zwischen generalisierter und negativer Reziprozität liegt (siehe Danby 2002: 24). »Much ›gift-exchange‹, many ›payments‹, much that goes under the ethnographic head of ›trade‹ and plenty that is called ›buyingselling‹ and involves ›primitive money‹ belong in the genre of balanced reciprocity« (SAE: 195). Dies entspricht Mauss’ These, dass in der Gabe gänzlich unterschiedliche Phänomene aufeinandertreffen, die wir normalerweise nicht zusammendenken – man könnte auch sagen: Wir müssen den Gabentausch in einzelne analytische Elemente zerschlagen, nur um diese wiederum mühsam zusammenzufügen. Die Gabe scheint ›ökonomisch‹ zu sein, sie ist ›politisch‹, es gibt eine ›normative‹ und vielleicht auch eine ›religiöse‹ Komponente, wenn Sahlins in Stone Age Economics auf die sakrale Dimension von Gesellschaft auch nur am Rande eingeht. Sahlins’ Bestimmung des Konzepts der ausgeglichenen Reziprozität in ›On the Sociology of Primitive Exchange‹ nimmt einiges der wirtschaftsethnologischen Dekonstruktion des Gegensatzes zwischen Gaben- und Warentausch vorweg (siehe dazu Kumoll 2006a), scheint allerdings auch in Konflikt zu geraten mit Sahlins’ These in ›The Spirit of the Gift‹, die Gabe sei Ausdruck eines bestimmten anti-utilitaristischen Prinzips (SAE: 162). Sahlins’ anti-utilitaristisches Konzept der Gabe in ›The Spirit of the Gift‹ läuft deshalb Gefahr, ein bloßes Spiegelbild einer von Sahlins möglicherweise reduktionistisch betrachteten ökonomischen Neoklassik zu sein, in der jegliches Handeln auf die immerwährende Maximierung des individuell empfundenen Nutzens ausgelegt ist. Die bewusste Situierung seiner wirtschaftsethnologischen Arbeiten in die

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Formalismus-Substantivismus-Debatte (und natürlich die Parteinahme für die substantivistische Position) hat möglicherweise zu einer gewissen substantivistischen Radikalisierung in Sahlins’ Ansatz beigetragen. Dabei fällt auf, dass Sahlins zwar immer wieder konzeptionelle Anleihen bei der neoklassischen Theorieschule vornimmt (wie in ›The Original Affluent Society‹), dies aber nicht konsequent zu Ende denkt bzw. es zuweilen sogar so erscheint, als ob diese Anleihen nicht gänzlich beabsichtigt gewesen seien. Der konzeptionelle Status von Stone Age Economics im Rahmen der Formalismus-Substantivismus-Kontroverse ist also keineswegs allein ›substantivistisch‹ im Sinne Polanyis; vielmehr markiert Stone Age Economics eine – wenn auch vorsichtige und in sich widersprüchliche – »Öffnung der Diskussion« (Rössler 1999: 92).

Entwicklungslinien Sahlins’ Arbeit über den ›Geist der Gabe‹ ist in meinen Augen der argumentative Schlussstein von Sahlins’ Wirtschaftsethnologie, die sich argumentativ entlang der wirtschaftsethnologischen Dimensionen Konsum, Produktion und Verteilung entfaltet. Sahlins entwirft in Stone Age Economics allerdings keineswegs ein kohärentes und widerspruchsfreies wirtschaftsethnologisches Paradigma; vielmehr verarbeitet Sahlins eine Vielzahl unterschiedlicher konzeptioneller Einflüsse in Texten, die seit Mitte der 1960er Jahre entstehen und viele argumentative Verknüpfungen aufweisen, aber dennoch konzeptionell nicht genau aufeinander abgestimmt sind. Im Folgenden versuche ich, die zentralen Entwicklungs- und Konfliktlinien herauszuarbeiten, die Sahlins’ Wirtschaftsethnologie durchziehen. Ich orientiere mich dabei an meiner Analyse der Entwicklungslinien von Sahlins’ evolutionistisch orientierter Werkphase, wobei ich nochmals darauf hinweisen möchte, dass die Trennung zwischen Evolutionismus und Wirtschaftsethnologie, die ich hier vorgenommen habe, keine exakte werkgeschichtliche Differenzierung repräsentieren soll, sondern in erster Linie Sahlins’ eigener Intention der Entwicklung einer anthropological economics gerecht werden will. In den von mir analysierten Konfliktlinien kommt klar zum Ausdruck, wie sehr Sahlins mit seinem evolutionistischen ›Erbe‹ aus seinem Frühwerk ringt. Sahlins’ anthropological economics kann demzufolge als der vorsichtige Versuch gelesen werden, von evolutionistischen Argumentationsfiguren Abstand zu nehmen – obgleich Stone Age Economics weiterhin zumindest teilweise im Rahmen von Sahlins’ frühem Evolutionismus bleibt. Diese Spannung zeigt sich insbesondere an der ersten Konfliktlinie in Sahlins’ Wirtschaftsethnologie – dem Verhältnis zwischen seinem Evolutionismus und seiner Kritik am Ethnozentrismus moderner Gesellschaften. Am Beginn seiner Karriere verknüpft Sahlins die evolutionstheoretischen Ansätze von Leslie White und Julian Steward zu einer universalistischen Synthese. Sahlins stimmt einerseits White zu, dass der Prozess genereller Evolution auf eine steigende Nutzbarmachung von Energie zurückzuführen ist; andererseits macht Sahlins

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Stewards Idee, Formen multilinearer Evolution als Anpassungen an unterschiedliche Umwelten zu begreifen, für seinen Ansatz spezifischer Evolution fruchtbar. Bereits hier versucht Sahlins, Karl Polanyis Substantivismus mit seiner Evolutionstheorie zu verknüpfen. Sahlins verbindet White und Polanyi hinsichtlich der These, die Ökonomie sei in ›primitiven‹ Gesellschaften eingebettet; Stewards ökologische Evolutionstheorie eröffnet Sahlins die Möglichkeit, die in das soziale Gefüge eingebetteten ökonomischen Prozesse als Anpassungsmechanismen an Umwelten zu analysieren. Bereits in Sahlins’ Frühwerk ist aber ein davon abweichendes Element des Substantivismus angelegt, das vor allem im Kontext der Formalismus-Substantivismus-Debatte an Bedeutung gewinnt. Schon 1960 kritisiert Sahlins die Vorstellung, man könne den methodologischen Individualismus der Neoklassik auf ›primitive‹ Gesellschaften anwenden (Sahlins 1960b; siehe auch Sahlins 1962b). Sahlins versteht ›The Original Affluent Society‹ als Kritik am westlichen Ethnozentrismus, nach dem alle Menschen immerwährend damit beschäftigt sind, ihre unstillbaren Bedürfnisse zu befriedigen. Sahlins’ Kritik an dieser Idee ist die Grundlage für seine These, dass Jägerund Sammlergesellschaften die ›ursprünglichen Überflussgesellschaften‹ gewesen sind, eben weil die Bedürfnisse in diesen Gesellschaften kulturell begrenzt waren (oder sind). In Sahlins’ Ansatz erscheint das Leben in Jäger- und Sammlergesellschaften plötzlich erstrebenswert; Sahlins hält den modernen Gesellschaften den Spiegel vor. Das ›immer höher, immer weiter, immer mehr‹ der kapitalistischen Moderne erscheint nicht mehr als erstrebenswert, sondern geradezu als eine Fehlentwicklung menschlicher Evolution. Damit kann ›The Original Affluent Society‹ als implizite Kritik an Sahlins’ eigener Evolutionstheorie im Anschluss an Leslie Whites ›energetischen‹ Ansatz verstanden werden. Allerdings ist die Überwindung des Evolutionismus in Stone Age Economics unvollständig, denn Sahlins interessiert sich in erster Linie nicht für eine bestimmte Gesellschaft, sondern für eine gesamte Klasse von Gesellschaften: ›primitiven‹ oder vormodernen Gesellschaften, deren Unterschiede zu kapitalistischen Gesellschaften er herausarbeitet. Damit legt Sahlins seinen Analysen eine ›generalisierte‹ vormoderne Gesellschaft zu Grunde: Er interessiert sich in erster Linie für das vormoderne Stadium von Gesellschaft, weniger für die Analyse kultureller Eigenständigkeit einzelner Gesellschaften innerhalb eines bestimmten Evolutionsstadiums. Vormoderne Gesellschaften werden, wie Sahlins in ›The Spirit of the Gift‹ argumentiert, durch Reziprozitätsmechanismen integriert, die auf die Angst vor dem Naturzustand zurückzuführen sind. Kulturelle Ideen, die diesen Reziprozitätsmechanismen zu Grunde liegen, mögen in diesen Gesellschaften sehr unterschiedlich sein, doch sie sind ›nur‹ die Oberfläche für eine fundamentalere gesellschaftliche Realität, die ständig verhindert werden muss. Auf der Grundlage dieser Konzeption gehen kulturelle Eigenständigkeiten aber gerade verloren,

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weil sie alle auf eine universalistische ›Vernunft‹ zurückgeführt werden können.32 Die zweite Konfliktlinie in Sahlins’ Wirtschaftsethnologie ist der Widerspruch zwischen dem Versuch, die symbolische Organisation der Erfahrung in den Mittelpunkt zu rücken, und Sahlins’ ökologischem Funktionalismus. Wie ich bereits herausgearbeitet habe, spielt ›Kultur‹ – verstanden als die symbolische Organisation der Wirklichkeit – in Sahlins’ Frühwerk keine Rolle. ›The Original Affluent Society‹ ist (neben ›The Spirit of the Gift‹) ein Wendepunkt, denn hier versucht Sahlins, die Praktiken von Jägern und Sammlern auf Ideen zurückzuführen, die spezifisch für Jäger- und Sammlergesellschaften sind. Das ›symbolische Universum‹ dieser Gesellschaften ist anders als ›unseres‹, und deshalb ist es für Sahlins verfehlt, das neoklassische Instrumentarium des nutzenmaximierenden Individuums auf diese Gesellschaften anzuwenden. Allerdings entgleitet Sahlins die Kategorie Kultur, weil er die kulturellen Ideen von Jägern und Sammlern auf eine systemische Rationalität zurückführt und als das Ergebnis eines erfolgreichen gesellschaftlichen Anpassungsprozesses an ökologische Umwelten interpretiert. Sahlins’ ökologischer Ansatz steht nicht nur mit der Kategorie Kultur im Konflikt, sondern darüber hinaus mit seinem Ansatz normativer Stabilisierung. Dieser dritte Gegensatz in Sahlins’ Ansatz ist ein entscheidendes Problem von Stone Age Economics. Der Einfluss von Leslie A. White und Julian H. Steward hat in Stone Age Economics nur noch eine mittelbare Bedeutung; zentraler ist für Sahlins seine These, dass ›ökonomische‹ Prozesse in ›primitiven‹ Gesellschaften in das soziale Gefüge eingebettet sind und eine zentrale Rolle für die normative Stabilisierung der Gesellschaft spielen. Der Aspekt, dass ökonomische Institutionen das materielle Überleben sicherstellen, verschwindet zwar nicht völlig aus Sahlins’ Fokus, spielt aber eine geringere Rolle als die These, dass Austauschbeziehungen die Gesellschaft normativ stabilisieren. Sahlins entwickelt diese These zunächst Ende der 1950er Jahre und entwickelt sie in Stone Age Economics in eine unerwartete Richtung weiter. Mit ›The Spirit of the Gift‹ gelingt es Sahlins, Hobbes’ Modell mit seiner substantivistischen Wirtschaftsethnologie zu verknüpfen: Die ›Gabe‹ erscheint nun als das ›primitive‹ Äquivalent des neuzeitlichen Staates. Sahlins’ Rezeption von Mauss wird begleitet durch eine kritische Lektü32 Philip Mirowski fasst Sahlins’ Vorgehen in Stone Age Economics wie folgt zusammen: »It seems that sometime in the 1960s he [Sahlins] came to appreciate the tensions in touting an absolute science of evolutionary energetics while privileging anthropology as the sympathetic understanding of alien cultures. He seems to perceive the test case for the rectification of this contradiction between Culture and Nature to be (at least initially) economic anthropology, and the instrument of clarification to be the structuralism of Lévi-Strauss« (Mirowski 1994: 329). Der Einfluss von LéviStrauss ist in Stone Age Economics aber eher mittelbar, denn Sahlins hat ein anderes Konzept von Reziprozität: Während Lévi-Strauss die universalen Strukturen des Geistes in den Mittelpunkt der Analyse rückt, ist Reziprozität für Sahlins die Grundlage normativer Stabilisierung (siehe auch Papilloud 2002).

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re von Lévi-Strauss’ Anmerkungen über Die Gabe. Sahlins lehnt zwar LéviStrauss’ Interpretation ab, doch er nähert sich Lévi-Strauss insofern an, als dass der Naturzustand als eine ›Struktur‹ erscheint, die im gesellschaftlichen Unbewussten lauert und durch Reziprozitätsbeziehungen permanent verhindert werden muss.33 Diese These findet sich zwar schon in Sahlins’ früheren Veröffentlichungen, doch mit ›The Spirit of the Gift‹ gibt er ihr neues konzeptionelles Gewicht, da Sahlins nun für sich in Anspruch nehmen kann, nicht nur die politische Philosophie von Thomas Hobbes weiter zu führen, sondern auch den ethnologischen Ansatz von Marcel Mauss. Allerdings verknüpft Sahlins in Stone Age Economics seine ›adaptionistische‹ nicht mit seiner ›normativistischen‹ Perspektive. Polanyis Substantivismus könnte auf den ersten Blick zwar ein missing link sein, doch Sahlins’ These, dass Reziprozitätsmechanismen einen Hobbes’schen Naturzustand überwinden, geht weit über Polanyis Ansatz hinaus (siehe Cook 1974). Möglicherweise hat Sahlins eine bewusste Verknüpfung von Adaptionismus und Normativismus nicht geleistet, weil die adaptionistische (und damit letztlich auch die evolutionistische) Perspektive für ihn zur Zeit von Stone Age Economics bereits an Bedeutung verloren zu haben scheint. In Stone Age Economics argumentiert Sahlins insbesondere in ›The Original Affluent Society‹ adaptionistisch, während in den anderen Aufsätzen die normative Stabilisierung von Gesellschaft über Austauschbeziehungen im Mittelpunkt steht.34 Sahlins interessiert sich bereits in seinem Frühwerk für die normative Stabilisierung von Gesellschaften (Sahlins 1960c). Spätestens in ›The Spirit of the Gift‹ verknüpft Sahlins Normativität mit Kultur; dies ist die vierte Konfliktlinie in Stone Age Economics. Die symbolische Organisation der Erfahrung spielt in ›On the Sociology of Primitive Exchange‹ nur eine untergeordnete Rolle; tatsächlich erscheint Sahlins’ Modell streckenweise mechanistisch, denn seine Verknüpfung von Reziprozitätsformen und kinship distance impliziert zwar symbolische Zuschreibungen, doch Sahlins geht auf dieses Phänomen nicht detailliert ein. ›The Spirit of the Gift‹ ist ein Wendepunkt: Sahlins analysiert ausführlich Marcel Mauss’ Diskussion über den hau der Maori und macht klar, dass die symbolische Organisation eine zentrale Rolle für soziale Handlungsweisen spielt. Natürlich behauptet Sahlins nicht, dass es in allen Gesellschaften den hau gibt; allerdings impliziert sein Argument, dass Reziprozitätsbeziehungen nicht mechanistisch erklärt werden können, dass es also eine symbolische Dimension sozialer Reziprozität gibt, die diese in den Bereich gesellschaftlicher Sakralität verlagern kann. 33 Für eine frühe Auseinandersetzung mit Lévi-Strauss siehe Sahlins 1966c. 34 Mirowski vermutet, dass Sahlins ›Economic Anthropology and Anthropological Economics‹ letztlich nicht in Stone Age Economics aufnahm, weil dieser Aufsatz weniger seinen Versuch exemplifizierte, Polanyis Substantivismus weiterzuführen, sondern eher seine Probleme offenbarte, die substantivistische Position mit dem Evolutionismus von Leslie White zu verknüpfen (Mirowski 1994: 328). Die Probleme, die sich aus der Verknüpfung eines evolutionistischen Materialismus in der Tradition Whites und Stewards und Polanyis Substantivismus ergeben, betont auch Cook (1974).

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Sahlins nimmt an, dass der hau für Mauss der Ausgangspunkt ist, um die Existenz des Rationalen in der scheinbaren Irrationalität sozialer Praktiken in ›primitiven‹ Gesellschaften zu plausibilisieren. Der hau ist der Ausdruck für das unbewusste gesellschaftliche Übereinkommen, den Naturzustand des Kampfes jeder gegen jeden zu überwinden bzw. zu verhindern. Sahlins’ Argumentation in The Spirit of the Gift ist damit zumindest implizit funktionalistisch. Die symbolische Organisation der Erfahrung dient der normativen Stabilisierung von Gesellschaft. Kulturelle Praktiken sind für Sahlins interessant, weil sie der Überwindung und Verhinderung des gesellschaftlichen Naturzustands dienen. Das gleiche Argument, die symbolische Organisation der Erfahrung mit funktionalen Erfordernissen zu verknüpfen, findet sich in ›The Original Affluent Society‹ wieder. Hier sind es allerdings funktionale Erfordernisse, die letztlich ökologisch verankert sind. Zudem geht es Sahlins in ›The Original Affluent Society‹ nicht um spezifische Symbolsysteme, sondern um die Organisation individueller Präferenzen. Dennoch markieren beide Aufsätze wichtige Schritte in Sahlins’ Werkentwicklung hin zu einer ›kulturalistischen‹ Position, die die symbolische Organisation sozialer Praktiken und kulturelle Eigenständigkeit in den Mittelpunkt der Analyse rückt. Sahlins bleibt aber in Stone Age Economics noch einer funktionalistischen Position verhaftet, die soziale Praktiken mit funktionalen Erfordernissen (ökologischen oder normativen) verknüpft. Abschließen möchte ich die Analyse der Konfliktlinien in Sahlins’ Wirtschaftsethnologie mit einigen teilweise spekulativen Anmerkungen über den Zusammenhang zwischen Erkenntnistheorie und Modernitätskritik in Sahlins’ Ansatz. Gemeinsamer Bezugspunkt von Sahlins’ Entwurf und von der formalistischen Wirtschaftsethnologie ist die kapitalistische Moderne: Während die Formalisten an neoklassischen Instrumenten zur Untersuchung ökonomischen Handelns anschließen und auf vormoderne Gesellschaften übertragen, versucht Sahlins, sich von einer solchen Anwendung abzugrenzen. Sahlins’ Wirtschaftsethnologie kann nicht nur als Versuch gelesen werden, die Eigenständigkeit anderer (vormoderner) Kulturen gegenüber der kapitalistischen Moderne nachzuweisen, sondern zumindest auch als eine Kritik an bestimmten kapitalistischen Praktiken und Sinnsystemen der Moderne, insbesondere der Idee, dass Bedürfnisse unbegrenzt sind. Diese Kritik ist in Sahlins’ Ansatz nicht ausgearbeitet. Zunächst kann sie als eine rein erkenntnistheoretische Kritik gelesen werden: In dieser Lesart kritisiert Sahlins die Übertragung westlicher kapitalistischer Denkweisen auf nicht-westliche Kulturen. Doch insbesondere in ›The Original Affluent Society‹ scheint durch diese erkenntnistheoretische Kritik am Utilitarismus auch eine substantielle Modernitätskritik hervor. Nachdem Sahlins nachgewiesen hat, dass die Menschen in Jäger- und Sammlergesellschaften wesentlich weniger arbeiten müssen bzw. Hunger leiden als oftmals angenommen wird, schreibt er: »Above all, what about the world today? One-third to one-half of humanity are said to go to bed hungry every night. In the Old Stone Age the fraction must have been much

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smaller. This is the era of hunger unprecedented. Now, in the time of the greatest technical power, is starvation an institution […] the amount of hunger increases relatively and absolutely with the evolution of culture« (SAE: 36).

Sahlins betont, dass die Menschen in Jäger- und Sammlergesellschaften nur über wenige Besitztümer verfügten bzw. verfügen, doch sie waren oder sind nicht arm. »Poverty is not a certain small amount of goods, nor is it just a relation between means and ends; above all it is a relation between people. Poverty is a social status. As such it is the invention of civilization. It has grown with civilization« (SAE: 37). An dieser Stelle sind Sahlins’ erkenntnistheoretische Kritik an der Anwendung der neoklassischen Ökonomie und seine Modernitätskritik am engsten und zugleich am deutlichsten miteinander verflochten. Die kapitalistische Moderne erscheint nicht mehr als ein universaler Fortschritt zu mehr Reichtum und besseren Lebensbedingungen; vielmehr schafft die Moderne in Sahlins’ Augen für viele Armut und Hunger. In seinem ethnologischen Werk gibt es nur wenige Textstellen, in denen Sahlins sich so explizit modernitätskritisch äußert wie auf den letzten Seiten von ›The Original Affluent Society‹, und selbst hier bleibt der systematische Zusammenhang zwischen diesen Gedanken und seinen Ausführungen über die ›ursprünglichen Überflussgesellschaften‹ weitgehend unklar. Dient letztlich Sahlins’ Aufsatz in erster Linie einer Demonstration der destruktiven Effekte der Moderne? Kreiert er ein positives Gegenbild zum Kapitalismus? Ich glaube, man sollte nicht den Fehler begehen, Sahlins’ wirtschaftsethnologischen Ansatz auf eine bloße Modernitätskritik zu reduzieren. Sahlins’ Entwurf über Jäger- und Sammlergesellschaften ist nicht nur ein impliziter Diskurs über die kapitalistische Moderne, sondern in erster Linie der Versuch, eine allgemeine ethnologische Theorie über nicht-westliche Gesellschaften zu entwickeln. Gleichfalls wäre es aber verfehlt, Sahlins’ Kritik am Utilitarismus auf eine bloße erkenntnistheoretische Kritik zu reduzieren und dabei seine Modernitätskritik vollständig zu ignorieren. Es ist interessant, dass Sahlins seinen Ansatz über die ›ursprüngliche Überflussgesellschaft‹ erstmals 1966 auf einer Tagung präsentiert und eine erste längere Fassung 1968 veröffentlicht. 1968 hält sich Sahlins in Paris auf, und die Konferenz, auf der Sahlins seine Idee über die ›ursprüngliche Überflussgesellschaft‹ präsentiert, findet zu einer Zeit der Eskalation des Vietnamkriegs und des damit verknüpften Protests gegen den Krieg statt sowie kurz nach Bekanntwerden von Project Camelot. In einer werkgeschichtlichen Perspektive ist zwar deutlich, dass Sahlins’ Utilitarismuskritik nicht auf seinen Protest gegen den Vietnamkrieg zurückgeführt werden kann, denn Sahlins kritisiert bereits 1960 die formalistische Wirtschaftsethnologie aus einer substantivistischen Perspektive (Sahlins 1960b). In seiner Arbeit über ›The Original Affluent Society‹ präsentiert Sahlins allerdings erstmals eine von seinem evolutionistischem Frühwerk radikal abweichende Interpretation kultureller Evolution. Es erscheint mir deshalb zumindest plausibel, dass ›The Original Affluent Society‹ von Sahlins’ politischem Protest ge-

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gen den Vietnamkrieg beeinflusst worden ist. Beachtet werden sollte, dass sich Sahlins in dieser Arbeit nicht zum Vietnamkrieg äußert und dass seine Modernitätskritik eine andere Form annimmt als in seinen politischen Schriften. Gemeinsamer Bezugspunkt seiner politischen Schriften und ›The Original Affluent Society‹ ist aber eine Kritik an den destruktiven Wirkungen unterschiedlicher Ausprägungen der kapitalistischen Moderne auf nicht-westliche Gesellschaften. Möglicherweise ist dies auch ein Grund dafür, dass die Formalismus-Substantivismus-Debatte für Sahlins gegen Ende der 1960er Jahre von solch großer Bedeutung wird: Auf einer ›wissenschaftlichen‹ (also erkenntnistheoretischen) Ebene scheint der wirtschaftsethnologische Formalismus die kulturelle Eigenständigkeit nicht-westlicher Gesellschaften für Sahlins ebenso sehr zu bedrohen wie der Vietnamkrieg auf einer ›politischen‹ Ebene. Ich möchte allerdings betonen, dass dieser von mir vorgeschlagene Zusammenhang zwischen Sahlins’ politischen Schriften und seiner Wirtschaftsethnologie keine kausale Relation ist, sondern in erster Linie ein Verhältnis der wechselseitigen inhaltlichen Korrespondenz.

3. Sahlins/Godelier: Die Grenzen der Reziprozität Sahlins situiert seine wirtschaftsethnologischen Arbeiten in die FormalismusSubstantivismus-Debatte der angelsächsischen Wirtschaftsethnologie. Als Stone Age Economics 1972 erscheint, befindet sich die Ethnologie im Allgemeinen und die Wirtschaftsethnologie im Besonderen aber längst im Umbruch, und die Bedeutung der Debatte zwischen Formalisten und Substantivisten nimmt ab (Rössler 1999: 104). Der Formalismus dissoziiert sich in angewandte und spezialisierte Richtungen wie die rational-choice-Theorie, decision making analysis, die Spieltheorie oder die new institutional economics; auch der Substantivismus löst sich praktisch auf. Die so genannten development economics kommen auf, die an die Modernisierungstheorie anschließen und die Einbettung ehemals ›primitiver‹ Gesellschaften in eine sich modernisierende Weltgesellschaft thematisieren. Als Reaktion darauf formiert sich die Dependencia-Theorie, deren Vertreter die Kontextualisierung vormoderner Gesellschaften in intergesellschaftliche Zusammenhänge zwar nicht bestreiten, doch den Optimismus der Modernisierungstheoretiker nicht teilen, dass diese Einbettung eine Modernisierung vormoderner Gesellschaften zur Folge hat. Vielmehr konstituiert das internationale System (in der Terminologie von Wallersteins Weltsystemtheorie, die konzeptionell an die Dependencia-Theorie anschließt) ungleiche Relationen zwischen ›Zentrum‹ und ›Peripherie‹, die eine Entwicklung der peripheren Gesellschaften angeblich gerade verhindern. In der Diskussion zwischen Modernisierungs- und Dependenztheorie spielen die erkenntnistheoretischen und konzeptionellen Fragen, die im Mittelpunkt der Formalismus-Substantivismus-Debatte standen, nur noch eine untergeordnete Rolle.

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Eine besondere Rolle spielt schließlich der französische ›strukturelle Marxismus‹ von Maurice Godelier, Claude Meillassoux oder Emmanuel Terray, denn während sowohl Modernisierungs- als auch Dependenztheorie übergesellschaftliche bzw. interkulturelle Zusammenhänge betrachten, untersucht der strukturelle Marxismus tendenziell noch eher kleine, geschlossene Gesellschaften und versucht die Frage zu beantworten, wie der Marxismus auf klassenlose Gesellschaften angewandt werden kann. Damit gerät der strukturelle Marxismus unter anderem in Konflikt zum wirtschaftsethnologischen Substantivismus. In meiner Analyse von Sahlins’ Arbeit über die ›häusliche Produktionsweise‹ habe ich bereits darauf hingewiesen, dass sich Sahlins’ Ansatz in zentralen Punkten von marxistischen Theorieentwürfen unterscheidet. Im Folgenden vertiefe ich diese Analyse, indem ich Sahlins’ Ansatz in Beziehung setze zum Werk des französischen Ethnologen Maurice Godelier, der über Jahrzehnte einen dem Marxismus nahestehenden ethnologischen Forschungsansatz entwickelt hat. Dies erscheint zumindest aus zwei Gründen weiterführend zu sein. Erstens zitiert Sahlins in seiner wirtschaftsethnologischen Werkphase Arbeiten von Godelier und erweckt den Eindruck, sein Ansatz stehe in einer konzeptionellen Beziehung zu Godeliers ›strukturellem Marxismus‹ (Sahlins 1969). Zweitens entwickelt Godelier vor allem in seinem Spätwerk einen Ansatz, der sich als Kritik an Theorien versteht, die das Konzept der Reziprozität in den Mittelpunkt ihrer Analyse rücken. In der Auseinandersetzung mit Godeliers Werk über Das Rätsel der Gabe steht deshalb Sahlins’ These, dass sich vormoderne Gesellschaften über Reziprozitätsbeziehungen stabilisieren, auf dem Prüfstand. Der Ausgangspunkt von Maurice Godeliers Kritik am wirtschaftsethnologischen Formalismus und Substantivismus ist erkenntnistheoretisch. Godelier ist zunächst Philosoph, nicht Ethnologe. Wie er in seinem ersten Buch Rationalität und Irrationalität in der Ökonomie (1966) erklärt, nimmt Godelier 1958 eine philosophische Untersuchung der Begriffe ›Rationalität‹ und ›Irrationalität‹ in der Ökonomie in Angriff. Zu dieser Zeit beobachtet Godelier eine Diskussion in Frankreich über den ›Tod der Philosophie‹, und er kommt zu dem Ergebnis, dass mehr notwendig sei als die Philosophie selbst, um zu weiterführenden philosophischen Positionen zu gelangen. An der Ecole Pratiques des Hautes Etudes unter Fernand Braudel untersucht Godelier die Marx’sche Ökonomie und versucht die Frage zu beantworten, unter welchen Umständen der Begriff der ökonomischen Rationalität dafür verwendet werden könne, um sozioökonomische Systeme miteinander zu vergleichen. Diese Frage »seemed to be at the center of violent discussions that would break out between economists any time someone wanted to demonstrate the superiority of capitalism and market economy over socialism and planned economy, or vice versa« (Godelier 1994: 110). Allerdings meint Godelier, sie nicht im Rahmen der neoklassischen oder Marx’schen Ökonomie beantworten zu können; Godelier wird deshalb Ethnologe. »It seemed to me that it would be more productive to study economic systems in contemporary living societies organized according to social and cultural logics totally different

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from our Western models« (Godelier 1994: 110). Godelier wechselt zum Collège de France, wo er unter Claude Lévi-Strauss arbeitet und dort den ersten Kurs in Frankreich über die Wirtschaftsethnologie organisiert; von 1967 bis 1969 erforscht er die Baruya, einen Stamm in den Bergen Neuguineas. Diese Feldforschung wird im weiteren Verlauf seiner Werkentwicklung zu einer ebenso wichtigen Grundlage seines ethnologischen Ansatzes wie seine philosophische Auseinandersetzung mit der Ökonomie. Godelier stimmt in seiner Kritik an der ›formalistischen‹ Wirtschaftsethnologie zwar der substantivistischen Position Polanyis zu, insbesondere hinsichtlich der ›bourgeoisen‹ Sichtweise einer individualistischen Reduktion ökonomischer Prozesse auf nutzenmaximierende Individuen, die von sozialen Beziehungen isoliert betrachtet würden (Godelier 1977). Allerdings steht Godelier auch dem Substantivismus kritisch gegenüber. Polanyis Ansatz hält er vor, den gleichen ›funktionalistischen Empirizismus‹ zu vertreten wie der Formalismus, also die Auffassung, dass die ›Dinge‹ genauso sind, wie sie zu sein scheinen. Polanyis Typologien unterschiedlicher Austauschformen beschränken sich darauf »to recording and classifying visible aspects of the functioning of different economic and social systems by means of superficial and mixed categories« (Godelier 1977: 21-22). Godelier hält sowohl den substantivistischen Induktivismus als auch den formalistischen Deduktivismus für verfehlt und die wirtschaftsethnologische Formalismus-Substantivismus-Debatte letztlich für wenig weiterführend. Sowohl der Formalismus als auch der Substantivismus basieren in Godeliers Augen auf einer empirizistischen Epistemologie, die die gesellschaftlichen Oberflächenerscheinungen für die Realität hält und die tatsächlichen gesellschaftlichen Mechanismen, die im Verborgenen liegen, nicht erkennt. Das Ziel der Ethnologie – und wohl jeder Sozialwissenschaft – muss es für Godelier aber sein, die unsichtbare Logik gesellschaftlicher Mechanismen zu entdecken und die strukturellen und historischen Umstände ihrer Erscheinung zu untersuchen. Auch Sahlins unterliegt für Godelier sowohl in seiner Evolutionstheorie als auch in seiner substantivistischen Wirtschaftsethnologie einem Empirizismus, der die fundamentalen gesellschaftlichen Prozesse systematisch missversteht. In seiner Evolutionstheorie begeht Sahlins den Fehler – so Godelier –, seine untersuchten Gesellschaften nur als paradigmatische Beispiele vorab logisch festgelegter evolutionärer Stadien zu betrachten (Godelier 1977: 90-91). Sahlins’ auf Polanyi zurückgehende deskriptive Typologien unterschiedlicher Austauschsysteme haben für Godelier den Nachteil, dass die Gemeinsamkeiten einzelner Austauschsysteme überbetont und die jeweiligen Unterschiede vernachlässigt werden. Deshalb kritisiert Godelier auch Sahlins’ Unterscheidung zwischen segmentären Gesellschaften und polynesischen Häuptlingstümern, die für Sahlins beide durch die »familial mode of production« gekennzeichnet sind. Der Hauptunterschied zwischen segmentären Gesellschaften und polynesischen Häuptlingstümern liegt für Sahlins nicht in jeweils unterschiedlichen Produktionsweisen, sondern in jeweils unterschiedlichen Austauschsystemen, die die Produktionsweise

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überformen (siehe Godelier 1990: 205). Im Gegensatz dazu argumentiert Godelier wie folgt: »The difference [between segmentary societies and Polynesian chiefdoms] is not that of two varieties of the same kind: Sahlins’ ›familial mode of production‹. What first and foremost characterises and determines relations of production in Polynesian chiefdoms, are the relations between an aristocracy […] and the mass of the common people« (Godelier 1977: 87). Godelier geht davon aus, dass Produktionsverhältnisse Zahl, Form und die jeweilige Bedeutung der in jedem sozio-ökonomischen System vorhandenen Austauschformen bestimmen (Godelier 1990: 206). Auch der Funktionalismus der britischen Social Anthropology kann – so Godelier – die Schwächen des Formalismus und des Substantivismus nicht überwinden. Denn aus der Beobachtung, dass es in segmentären Gesellschaften offensichtlich keinen ausdifferenzierten ökonomischen Sektor gibt, kann man in Godeliers Augen nicht ableiten, dass Produktionsverhältnisse in diesen Gesellschaften keine Rolle spielen. Der Funktionalismus geht davon aus, dass Produktionsverhältnisse nur existieren, wenn sie von anderen sozialen Beziehungen unterschieden werden können, wie in modernen Gesellschaften, in denen sich ein ausdifferenziertes ökonomisches Subsystem gebildet hat. Der Funktionalismus ist in Godeliers Augen zwar dem Empirizismus der formalistischen Wirtschaftsethnologie überlegen, doch auch er stößt nicht zu den verborgenen Mechanismen von Gesellschaften vor. Insbesondere kann der Funktionalismus der Social Anthropology für Godelier nicht erklären, warum ›Verwandtschaft‹ in segmentären Gesellschaften so dominant ist, wie sie ist; dies hält Godelier aber für eine zentrale Aufgabe der Ethnologie. Godelier will Marx mit den Augen des Strukturalismus von Lévi-Strauss neu lesen (Godelier 1990: 203). Lévi-Strauss hat in den Augen Godeliers erkannt, dass es die Aufgabe der Ethnologie sei, eine zu Grunde liegende Ordnung freizulegen, die die sichtbaren Erscheinungen erkläre. Allerdings trennt Lévi-Strauss die Analyse unterschiedlicher Typen von Verwandtschaftssystemen von einer Analyse ihrer Funktionen, weil er die Beziehungen zwischen Verwandtschaft und anderen sozialen Strukturen nicht untersucht (Godelier 1977: 45-48). Godelier versucht demgegenüber, die Erkenntnisse von Lévi-Strauss und Marx im Rahmen einer universalen Theorie der Produktionsverhältnisse miteinander zu verknüpfen (Godelier 1977; 1990). Godelier geht von den marxistischen Unterscheidungen zwischen Basis und Überbau, Produktionsverhältnissen und Produktionsweisen sowie zwischen gesellschaftlichen Verhältnissen und Ideologien aus und versucht, diese auf nichtkapitalistische Gesellschaften anzuwenden. Die für Godelier entscheidende Frage ist, wie man zugleich die dominante Rolle von Verwandtschaftsbeziehungen in segmentären Gesellschaften anerkennen kann, ohne zugleich die These aufzugeben, dass die Ökonomie ›in letzter Instanz‹ determinierend ist. Der Fehler, der in den Augen Godeliers überwunden werden muss, besteht darin, die Unterscheidung von Basis und Überbau als eine institutionelle Unter-

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scheidung zu betrachten, als ob sich Basis und Überbau immer äußerlich sein müssten. Für Godelier ist die marxistische Unterscheidung zwischen Basis und Überbau keine zwischen unterschiedlichen Institutionen, sondern zwischen unterschiedlichen Funktionen. Der Begriff des Primats der Basis verweist in den Augen Godeliers auf eine Hierarchie von Funktionen, nicht auf eine Hierarchie von Institutionen. In segmentären Gesellschaften können Verwandtschaftsbeziehungen die Funktion von Produktionsverhältnissen annehmen; in hochkulturellen Gesellschaften wie den Inka übernahm die Religion diese Funktion, währenddessen für Godelier im antiken Griechenland die Politik diese Funktion hatte. Diese unterschiedlichen Institutionen eröffnen den Zugang zur materiellen Basis der Gesellschaften, also zu Produktionsmitteln und Ressourcen. Nur im kapitalistischen Wirtschaftssystem fallen Funktion und Institution ökonomischer Produktionsverhältnisse zusammen. Godelier argumentiert, dass die jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse »den Funktionszusammenhang einer Gesellschaft beherrschen und auf lange Sicht deren Reproduktion organisieren, wenn und nur wenn sie gleichzeitig als Produktionsverhältnisse fungieren, wenn sie das gesellschaftliche Gerüst der materiellen Basis dieser Gesellschaft bilden« (Godelier 1990: 211). Diese Überlegung ist die Grundlage für Godeliers Thesen über die Entstehung von Klassengesellschaften. Dies hat für Godelier eine besondere Bedeutung, denn er verfolgt das Ziel, eine universalgeschichtliche Theorie der Wirtschaftsformen zu entwickeln, in der die Analyse von Ungleichheitsbeziehungen eine fundamentale Bedeutung hat. Die Produktion von Herrschaftsverhältnissen im Allgemeinen setzt in Godeliers Augen zunächst das Einverständnis der Beherrschten voraus. »Um einen Teil der Gesellschaft – die Männer, einen Stand, eine Kaste oder eine Klasse – an die Macht zu bringen und dort zu halten, bedarf es weniger der Repression als der Zustimmung, weniger der physischen oder psychologischen Gewalt als der Überzeugung des Denkens, die die willentliche Zustimmung, die Annahme, wenn nicht gar die Kooperation seitens der Beherrschten zur Folge hat« (Godelier 1990: 161-162).

Die Herrschaft muss den Beherrschten wie ein Dienst erscheinen, den ihnen die Herrschenden erweisen; diese Dienstleistungen der Herrscher betreffen in erster Linie unsichtbare Kräfte, die die Reproduktion des Universums kontrollieren. Die Herrschaft basiert in vielen Gesellschaften deshalb weniger auf der physischen Stärke der Herrscher, sondern auf dem Glauben der Menschen, dass Herrschaftsverhältnisse ein Austausch von Dienstleistungen seien. Je imaginärer die Dienstleistung der Herrscher erscheint, desto größer ist die Macht der Herrschenden über die Beherrschten und desto kleiner erscheinen die Dienstleistungen der Beherrschten; die Beziehungen zwischen Herrschern und Beherrschten nehmen damit die Form eines ungleichen Tauschs an. Godelier entwickelt seinen von Marxismus und Strukturalismus inspirierten Ansatz insbesondere am empirischen Material, das er in seinen Feldforschungen

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bei den Baruya gewinnt, einem Stamm im Hochgebirge von Neuguinea. Bis 1951 hatten die Baruya wohl niemals Weiße gesehen, und bis 1960 regierten sie sich selbst, bevor Australien annahm, »es sei an der Zeit, die Baruya zu zivilisieren, und es dehnte die Macht seines Staates auf sie aus« (Godelier 1987: 9). Die daraus folgende materielle und ideologische Unterordnung unter die weiße Gesellschaft ging in Godeliers Augen auch nach der Unabhängigkeit des Landes 1975 weiter. In Die Produktion der großen Männer verfolgt Godelier aber nicht nur das Ziel, den sozialen und politischen Wandel zu untersuchen, dem die Gesellschaft der Baruya seit ihrer Konfrontation mit den Weißen unterworfen war, wenn dies auch einen beträchtlichen Teil der Analyse umfasst (Godelier 1987: 251-294). Insbesondere versucht Godelier, die gesellschaftlichen Mechanismen der Baruya-Gesellschaft herauszuarbeiten, die es gab, bevor sich die Gesellschaft durch den Einfluss der ›Moderne‹ wandelte. Die Baruya-Gesellschaft ist offensichtlich eine klassenlose Gesellschaft ohne Staat; dennoch gibt es dort bedeutende soziale Ungleichheiten, die die Lebenswelten der Menschen bestimmen. Einerseits herrschen Männer über Frauen; andererseits erheben sich einige wenige Männer – so genannte ›Große Männer‹ – über die vielen anderen. Auffallend ist, dass es bei den Baruya zwischen politischer Macht und Reichtum offensichtlich keine unmittelbare Verbindung gibt. Dies unterscheidet die BaruyaGesellschaft von den melanesischen big-man-Gesellschaften, deren Führer sich über die Ansammlung ökonomischen Reichtums konstituieren (siehe Sahlins 1963a). Tatsächlich versuchte Godelier laut eigener Aussage, Sahlins’ Modell der big men auf die Baruya-Gesellschaft anzuwenden – doch es gelang ihm nicht. »Nowhere did I find a Big Man amassing wives and wealth and trying to outdo others with gifts and counter-gifts in ceremonial exchanges« (Godelier 1994: 111). Deshalb steht für Godelier die Frage im Mittelpunkt, ob es in den gesellschaftlichen Strukturen der Baruya einen Grund gibt, »der verhindert, daß Reichtum und Macht sich verbinden« (Godelier 1987: 11). Die Produktion der Großen Männer setzt sich dementsprechend das Ziel, soziale Ungleichheit bei den Baruya einerseits über Geschlechterbeziehungen zu erklären und andererseits ein Alternativmodell zu Sahlins’ big-men-Ansatz zu entwickeln. Soziale Ungleichheit drückt sich bei den Baruya zunächst über die Geschlechterbeziehungen aus. Zwar sieht Godelier die Frauen bei den Baruya nicht als unterdrückte ›Klasse‹, weil die Männer nicht aufgehört haben, selbst unmittelbare Produzenten zu sein. Allerdings besitzen die Männer den Boden, sie verfügen über die natürlichen Ressourcen, besitzen das Monopol auf die Jagd, den Krieg und den Handel; sie sind die Repräsentanten ihrer Verwandtschaftsgruppen; und sie besitzen heilige Gegenstände, die in der Baruya-Gesellschaft von entscheidender Bedeutung sind (Godelier 1987: 192-193). Diese ungleichen Herrschaftsbeziehungen werden allgemein anerkannt. Die Stärke der Männer gründet also nicht in der Ausübung von Gewalt gegenüber Frauen, sondern in der Zustimmung der Frauen zur männlichen Herrschaft. Diese Zustimmung kann es aber nur geben, wenn beide Geschlechter gewisse Vorstellungen teilen, die die

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männliche Herrschaft legitimieren. Die Herrschaft der Männer über die Frauen basiert nach Godelier auf der Vorstellung einer fundamentalen Enteignung der weiblichen schöpferischen Kräfte durch die Männer. Die Kräfte, über die die Männer heute verfügen, gehörten im Denken der Baruya einstmals den Frauen, wurden ihnen allerdings von den Männern legitimerweise geraubt. Die Überlegenheit der Männer erwächst also daraus, dass sie im Denken der Baruya zwei Arten von Kräften kumuliert haben: Einerseits besitzen sie »die befruchtenden und nährende Kraft ihres Spermas« (Godelier 1987: 196); andererseits verfügen sie über die schöpferischen Kräfte der Frauen, und erst durch die räuberische Aneignung dieser Kräfte in ferner Vergangenheit wurde die zerstörerische und zeugende Macht der Frauen vollständig positiv und konnte in den Dienst der Aufrechterhaltung der sozialen wie kosmischen Ordnung treten. Die Männer erkennen zwar an, dass sie den Frauen hinsichtlich deren Schöpfungskraft unterlegen sind, doch »sie betrachten sich als ihnen überlegen, wenn es darum geht, Ordnung zu schaffen, in die Gesellschaft und in die Welt Maß einzuführen« (Godelier 1999: 183). Diese imaginäre Vereinigung der weiblichen und männlichen Kräfte im Mann ist die kosmologische Grundlage dafür, dass die Männer heute das Ganze der Gesellschaft politisch repräsentieren können, währenddessen die Frauen dauerhaft von der Ausübung politischer Macht ausgeschlossen sind. Die sozialen Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern verknüpft sich mit einer Form sozialer Ungleichheit zwischen Männern. Die bedeutenden Männer bei den Baruya sind so genannte ›Große Männer‹, deren Macht teilweise vererbt ist, wie bei den Meistern der männlichen Initiationen und der Initiationen der Schamanen. Zudem wird die Macht der ›Großen Männer‹ erworben, wie bei den großen Kriegern, den großen Kasuarjägern, den großen Bauern und den besten Salzherstellern. Die Meister der männlichen Initiationen kommen immer aus dem gleichen Clan und besitzen heilige Gegenstände, so genannte kwaimatnié, denen zumindest teilweise auch weibliche Kräfte zugeschrieben werden. Nur die Clans, die von den Vorfahren abstammen, die ursprünglich woanders her kamen und die einheimischen Gruppen verdrängten, besitzen diese Gegenstände; die autochthonen Lineages besitzen sie nicht, mit Ausnahme des Clans, der die autochthonen Lineages gegenüber den Fremden einst verriet (Godelier 1999: 157). Die ungleiche Verteilung der kwaimatnié ist also ein Hinweis auf die politischen Hierarchien zwischen einzelnen Clans; sie »gibt […] direkt Machtverhältnisse wieder, unterschiedliche Ränge in einer Hierarchie, in der politisch-religiösen Totalität, welche die Gesellschaft der Baruya darstellt« (Godelier 1999: 169). Diese Machtverhältnisse sind klar verteilt, denn die autochthonen Clans, die keine kwaimatnié besitzen, werden als Unterworfene betrachtet. Damit drückt die soziale Praxis, die mit den heiligen Objekten verknüpft ist, einerseits die ungleichen Geschlechterbeziehungen aus, denn obwohl den heiligen Objekten teilweise weibliche Kräfte zugeschrieben werden, haben nur die Männer Verfügungsgewalt über sie. Andererseits bedeutet der Besitz eines kwaimatnié nicht nur einen persönlich herausragenden Status, sondern drückt auch ein hegemoniales Macht-

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verhältnis des eigenen Clans gegenüber jenen aus, die diese Objekte nicht besitzen. »Am Verbindungspunkt der beiden großen Achsen der sozialen Hierarchie, zwischen den Geschlechtern einerseits und innerhalb jeden Geschlechts andererseits, sind die kwaimatnié-Männer die Instrumente zur Einsetzung und Vollendung der männlichen Herrschaft« (Godelier 1987: 188). Die kwaimatnié werden als Gaben angesehen, die den Menschen seitens der Sonne einst gemacht wurden; gegenüber der Sonne (und auch dem Mond) haben die Baruya, die heute leben, eine unauslöschliche Schuld. Sie besitzen Kräfte, »die in den Dienst aller Baruya gestellt werden müssen« (Godelier 1999: 160). Die Objekte selbst sind unveräußerlich; sie sind den reziproken Beziehungen zwischen Clans entzogen, weil sie einen wesentlichen Teil der sozialen Identität jeden Clans darstellen und zugleich Quelle der Macht sind. Die Großen Männer, die im Besitz der kwaimatnié sind, veräußern deshalb nicht die Objekte selbst, sondern nur dessen wohltätige Wirkungen. Diese Wirkungen können ihnen von den anderen nicht zurückgegeben werden; deshalb gibt es in der von Godelier analysierten ›hierarchisierten Totalität‹ der Baruya-Gesellschaft keine Beziehungen, in denen Wechselseitigkeit hergestellt wird (Godelier 1999: 170). Für die Baruya erscheint die politische Ordnung legitimiert und auch selbstverständlich, weil sie sich nicht als die Urheber dieser Ordnung betrachten, »weil sie glauben, daß Wesen, welche mächtiger sind als sie, diese Ordnung erfunden und sie ihren Vorfahren gegeben haben, die von den heutigen Menschen verschieden waren« (Godelier 1999: 174). Die imaginäre Vergangenheit der Baruya ist damit zur Grundlage ihrer tatsächlichen Gesellschaftsordnung geworden, und diese Vergangenheit ist ihnen immer präsent: in ihren heiligen Objekten und den damit verknüpften Mythen und Ritualen. »Soziale Beziehungen müssen, damit sie von allen reproduziert werden, wenn nicht für alle, so doch für die Mehrzahl als legitim, als die einzig möglichen erscheinen, und diese Evidenz drängt sich nur dann in vollem Umfang auf, wenn diese Beziehungen ihre Ursprünge jenseits der menschlichen Welt, in einer unveränderlichen und heiligen, in einer unveränderlichen, weil heiligen Ordnung zu haben scheinen« (Godelier 1999: 175).

Im Unterschied zu den Gesellschaften mit big men werden bei den Baruya Frauen nicht gegen Sachen getauscht. In big-men-Gesellschaften ist die Reproduktion von Verwandtschaftsbeziehungen direkt mit der Produktion von Reichtümern verknüpft; der direkte Frauentausch im Rahmen der Reproduktion der Verwandtschaftsbeziehungen existiert nicht mehr. Keiner der ›Großen Männer‹ bei den Baruya gründet seinen Reichtum aber auf die Produktion und Akkumulation von Reichtümern. »Nirgendwo zeigen sich in dieser gesellschaftlichen Logik die Voraussetzungen, die einen Big man hervorbringen könnten, der das Geschick besitzt, den austauschbaren Reichtum zu akkumulieren und zu manipulieren« (Godelier 1987: 229). Bei den Baruya stehen die Lineages, die ihre Frauen tau-

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schen, wechselseitig in einer Schuld zueinander und sind dazu verpflichtet, einander zu helfen. Der Tausch von Frauen etabliert keine dauerhafte politische Hierarchie zwischen Clans; die Produktion und Aufrechterhaltung politischer Hierarchien gründet sich bei den Baruya auf den Besitz heiliger Objekte, nicht auf die Akkumulation von Reichtümern. Deshalb kann es, wie Godelier argumentiert, in Gesellschaften wie den Baruya keinen Wettbewerb um politische Macht durch die Akkumulation und Redistribution von Gütern geben. In Godeliers Augen sind Gesellschaften mit ›Großen Männern‹ sozusagen der evolutionäre Vorläufer von big-men-Gesellschaften; damit diese Gesellschaften entstehen, ist es für Godelier erforderlich, dass die Heirat nicht mehr durch direkten Frauentausch geregelt wird, also die Akkumulation von Reichtümern durch Heiraten möglich ist; zudem muss der Zugang zu politischer Macht durch den verschwenderischen Charakter der Gaben möglich werden, der charakteristisch für die von Sahlins beschriebenen big men ist (Godelier 1999: 206). Schließlich präsentiert sich bei Gesellschaften wie den Baruya die politisch-religiöse Hierarchie als ein unveränderlicher Rahmen; erst wenn diese Unveränderlichkeit aufgebrochen wird und durch die Manipulation von Verwandtschaftsbeziehungen die politische Hierarchie geändert werden kann, ist das Auftreten eines big man möglich (Godelier 1999: 226).35 Godeliers Analyse über Das Rätsel der Gabe ist zunächst eine ethnographische Kritik an Sahlins’ Charakterisierung von melanesischen Gesellschaften als big-men-Gesellschaften. Zudem ist Godeliers Untersuchung eine Kritik an der Auffassung, wonach sich Gesellschaften in erster Linie über Austauschbeziehungen reproduzieren. Diese These, die Godelier im Anschluss an Annette Weiners Inalienable Possessions (1992) entfaltet, ist das zentrale Thema von Godeliers Studie über Das Rätsel der Gabe. »Die menschliche Gesellschaft hat ihre Existenz aus zwei Quellen bezogen, einerseits aus dem Austausch, dem Vertrag, und andererseits aus dem Nicht-Vertraglichen, der Weitergabe […] Im Sozialen des Menschen gibt es also immer Dinge, die sich dem Vertrag entziehen, die nicht Gegenstand von Verhandlungen sind, die jenseits der Reziprozität angesiedelt sind« (Godelier 1999: 55).

Damit widerspricht Godelier Sahlins’ These über die ›Gabe‹ als ›primitiver Gesellschaftsvertrag‹, denn im Unterschied zu Sahlins verortet Godelier soziale Integration nicht in erster Linie im Prinzip der Reziprozität, sondern in ›heiligen‹ 35 Godelier argumentiert, dass Verwandtschaftsbeziehungen bei den Baruya auch als Produktionsverhältnisse dienen. Allerdings werden die Verwandtschaftsbeziehungen bei den Baruya anderen Beziehungen untergeordnet, die entscheidend für das Überleben der Bevölkerung sind, insbesondere dem Krieg, der Jagd und dem Handel. Die sozialen Beziehungen, die damit verknüpft sind, werden noch weit stärker von den Männern beherrscht als die Verwandtschaftsbeziehungen (Godelier 1987: 199-200).

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Dingen, die dem Tausch entzogen sind und den mythischen Ursprung von Gesellschaft verkörpern. Godelier argumentiert, dass sich bereits bei Mauss Hinweise für die Existenz von Objekten finden, die nicht Teil von Austauschbeziehungen sind; Mauss hat es in den Augen Godeliers aber versäumt, seine Analyse der Gabe mit der der Dinge, die nicht gegeben werden, zu verknüpfen. Für Godelier konstituieren Dinge, die getauscht und solche, die nicht getauscht werden können, nicht zwei voneinander getrennte Sphären. Dies ist vor allem für Gesellschaften mit agonistischem Tausch von Bedeutung, denn dort »fungieren die Objekte, die Reichtum darstellen, nicht nur als Substitute von Personen, von Menschen, sondern auch als Substitute der heiligen Objekte, die die letzte Quelle aller Macht unter den Menschen darstellen« (Godelier 1999: 210). In Gesellschaften wie den Baruya gibt es hingegen keinen agonistischen Tausch. Die Verknüpfung von ökonomischem Reichtum und politisch-religiöser Macht ist durchbrochen; die ›Anhäufung‹ von Macht über den Transfer von Reichtümern findet nicht statt. Godeliers Argument kann als Kritik an Sahlins’ Ansatz gelesen werden, dass sich Gesellschaften über Reziprozitätsbeziehungen konstituieren. Bevor ich Godeliers Argument aufnehme, möchte ich aber zuvor auf einige Schwächen in seinem Ansatz hinweisen. Beispielsweise ist das Bild der Baruya-Gesellschaft, das Godelier entwirft, statisch und eliminiert das handelnde Individuum (siehe Wilk 1996: 94). Darüber hinaus ist es unklar, ob Gaben tatsächlich Substitute von heiligen Objekten sind: »it’s perfectly clear that in neither the Maori nor the Kwakiutl cases were the prime objects of exchange in any sense subsidiary versions of sacred treasures held within families« (Graeber 2001: 226). Aus einer empirischen Perspektive sollten Godeliers Ausführungen also mit Vorsicht genossen werden. Allerdings macht Godelier – auch unabhängig von seiner statischen Auffassung von Gesellschaft, die eine Analyse sozialen Wandels weitgehend auszuschließen scheint – auf eine bedeutende Grenze in Sahlins’ wirtschaftsethnologischem Ansatz aufmerksam. Sahlins richtet sein Interesse – wie auch Lévi-Strauss – in erster Linie auf das Austauschverhältnis selbst und vernachlässigt tendenziell andere Vergesellschaftungsmechanismen. Reziprozität ist für Godelier und Weiner allerdings nicht das alleinige Fundament von Sozialität; vielmehr spielen Objekte, die nicht gegeben oder nur verliehen werden können (die inalienable possessions in Weiners Analyse), eine zentrale Rolle für soziale Integration und Reproduktion sowie der Etablierung sozialer Hierarchien. »What motivates reciprocity is its reverse – the desire to keep something back from the pressures of give and take. This something is a possession that speaks to and for an individual’s or a group’s social identity and, in so doing, affirms the difference between one person or group and another« (Weiner 1992: 43). Die Entwürfe von Godelier und Weiner repräsentieren weiterführende Kritiken an Sahlins’ Entwurf: Sowohl aus einer empirischen als auch aus einer konzeptionellen Perspektive erscheint es reduktionistisch, in solchem Maße Austauschprozesse in den Mittelpunkt zu rücken, wie dies in Stone Age Economics geschieht.

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Dies bedeutet allerdings keineswegs, dass das Konzept der Reziprozität im Allgemeinen nicht mehr weiterführend ist. In den Augen Stephen Gudemans konstituieren sich soziale Gruppen nicht durch den Tausch; der Tausch ist in Gudemans Konzeption ein soziales Phänomen zwischen einzelnen bereits existenten Gruppen. »The gift extends the commons to someone outside community, offering temporary participation or even permanent inclusion. Reciprocity is never contained within a community. The gift and reciprocity are used to probe across its borders, for a variety of motives, such as establishing mutuality and peace, expressing dominance, manipulating to advantage, displaying power or wealth, and bringing in new members« (Gudeman 2001: 467).

Die Positionen von Godelier, Weiner und Gudeman unterscheiden sich in bedeutenden Punkten, aber alle drei Ansätze stimmen dahingehend überein, dass eine Konzeptualisierung von Gesellschaft, die sich auf Austauschprozesse konzentriert, zu kurz greift. Und man muss keineswegs den Ansätzen im Ganzen zustimmen, um anzuerkennen, dass Sahlins’ Wirtschaftsethnologie an dieser Stelle tatsächlich in Schieflage gerät. Wie mir scheint, begeht Gudeman allerdings einen vergleichbaren Fehler wie Sahlins, denn so kritikwürdig es sein mag, das Soziale auf den Tausch zu reduzieren, so fraglich ist doch, diese Kategorie aus der Konstitution des Sozialen auszuschließen. Die von Godelier, Weiner und Gudeman vorgebrachte Kritik lässt sich übrigens auch in einer eher theorieinternen Perspektive formulieren. Es ist nämlich keineswegs geklärt, was unter ›Reziprozität‹ genau verstanden werden soll und welche Implikationen Reziprozität für die Konstitution sozialer Gruppen hat.36 Die mit dem Begriff verknüpften Probleme zeigen sich besonders deutlich in Sahlins’ Arbeit ›On the Sociology of Primitive Exchange‹. Erstens scheint der Begriff ›Reziprozität‹ zunächst eine Beziehung der sozialen Gegenseitigkeit zu implizieren, doch dies gilt genau genommen nur für ausgeglichene Reziprozität, nicht aber für die pure gifts im Sinne Malinowskis (also generalisierter Rezipro36 Ein Beispiel mag diese begriffliche Unschärfe verdeutlichen. Wie Frank Adloff und Steffen Mau anmerken, kann »die Unterwerfung unter die Macht des Staates wiederum als Gabe aufgefasst werden« (Adloff/Mau 2005b: 16). Daran anschließend ließe sich das Verhältnis zwischen Individuum und Staat als eines der Reziprozität konzeptualisieren: Das Individuum gibt sein ursprünglich freies Recht auf Selbstbestimmung auf und erhält dafür eine Reihe staatlicher Garantien. Dieses Beispiel zeigt, dass das Konzept der Reziprozität für sehr viele unterschiedlichen sozialen Phänomene fruchtbar gemacht werden kann, doch es illustriert zugleich, wie notwendig es ist, die Trennschärfe dieses Begriffs zu erhöhen. Die Beiträge in dem von Adloff und Mau herausgegebenen Sammelband liefern dafür eine Unmenge von Anknüpfungspunkten. Meine kritischen Anmerkungen beziehen sich also nicht auf den Reziprozitätsbegriff im Allgemeinen und seine vielseitigen empirischen wie theoretischen Verwendungsweisen, sondern auf die Grenzen, die Sahlins’ Verwendung des Konzepts der Reziprozität offenbart.

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zität in Sahlins’ Terminologie), und genau so wenig für Prozesse negativer Reziprozität. Im einen Fall wird gegeben, ohne dass eine Rückgabe erwartet wird, im anderen Falle ist es das Ziel, etwas zu erhalten, ohne dass man gibt. »Sahlins’ Definitionsvorschlag mutet dem Leser also zu, sich einen Begriff von Tausch und Reziprozität zu eigen zu machen, in dem das Moment der Gegenseitigkeit – der Reziprozität eben – nicht mehr verbindlicher Bestandteil ist« (Ganzer 1981: 23-24). Gravierender noch erscheint mir ein zweites Problem: Der Begriff ›Reziprozität‹ ist in Sahlins’ Verwendungsweise zumindest teilweise widersprüchlich. Sahlins argumentiert, dass Reziprozität eine between-relation sei, also eine Beziehung zwischen sozialen Gruppen. Dies mag auf ausgeglichene und negative Reziprozität zutreffen, doch auf generalisierte Reziprozität lässt sich diese Bestimmung nicht anwenden. Generalisierte Reziprozität ist ja für Sahlins eine Beziehung zwischen einzelnen Menschen innerhalb einer sozialen Gruppe (siehe auch Ganzer 1981: 24). Eng damit verknüpft ist die Unklarheit, wann eine Reziprozitätsbeziehung eine Beziehung zwischen Repräsentanten unterschiedlicher Gruppen ist und wann ein bloßer Austausch- oder Interaktionsvorgang zwischen Individuen, ohne dass diese als Repräsentanten einzelner Gruppen agieren. Generalisierte Reziprozität ist sicherlich ein Austauschvorgang zwischen Individuen, doch bei den beiden anderen von Sahlins eingeführten Reziprozitätsbegriffen ist eine solche Bestimmung sehr viel schwerer.37 Ein drittes Problem ist die enge konzeptionelle Verknüpfung zwischen kinship distance und Soziabilität, die Sahlins vornimmt, denn sie impliziert, dass generalisierte Reziprozität tatsächlich die dominierende Interaktionsform im Verwandtschaftsverband sei. Dies ist sowohl empirisch als auch konzeptionell ebenso wenig weiterführend wie Sahlins’ These, dass die Reziprozitätsform in eine ausgeglichene und schließlich negative Reziprozitätsform ›umkippt‹, je mehr man sich vom Familienverband entfernt (siehe Ganzer 1981; Lebra 1975). Wenn man die enge Verknüpfung zwischen einzelnen Reziprozitätsformen und der Konstitution von Soziabilität aufgibt, stellt sich aber das Problem, dass die Konstitution sozialer Gruppen nicht mehr über eine bestimmte Reziprozitätsform erklärt werden kann. Es erscheint deshalb plausibel anzunehmen, dass Reziprozitätsbeziehungen zwar ein wichtiger Be37 Sahlins konzentriert sich in seiner Konzeptualisierung des Reziprozitätskontinuums in erster Linie auf eine Reziprozitäts›seite‹ und vernachlässigt die Interaktionsdynamik, die wahrscheinlich nicht als eine bloße Relation einzelner voneinander unabhängiger Individuen analysiert werden kann (siehe Ganzer 1981: 29-31). Im Anschluss an diese Kritik ließe sich mit Godelier (1999) und Parry (1986) argumentieren, dass gerade das jeweils gegebene bzw. erwiderte Objekt eine wichtige Rolle in der sozialen Interaktion spielt, weil es etwas von der ›Persönlichkeit‹ des Gebers ›enthalten‹ kann. Tatsächlich ist der mit Sahlins verknüpfte wirtschaftsethnologische Ansatz dafür kritisiert worden, dass Studien über ›Reziprozität‹ die Rolle von Objekten im Austauschverhältnis vernachlässigen (Appadurai 1986b; Miller 1987). Diese Kritik ist für Miller der Ausgangspunkt für die Entwicklung einer postmarxistischen anthropology of consumption, in der nicht mehr der Tausch, sondern das Objekt selbst Medium der Vergesellschaftung ist (Miller 1987).

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standteil in der Konstitution sozialer Gruppen sind, dass es allerdings noch weitere gruppenkonstituierende Faktoren gibt, die in Sahlins’ Analyse unberücksichtigt bleiben. Godelier und Weiner machen auf eine Möglichkeit aufmerksam: den identitätsstiftenden Besitz besonders wertvoller Objekte. Auch diese Erklärung sollte nicht universalisiert werden, doch die Arbeiten von Godelier und Weiner demonstrieren eine wichtige konzeptionelle Grenze von Sahlins’ wirtschaftsethnologischem Ansatz.

Kapitel III: Die kulturalistische Wende

Ziel dieses Kapitels ist eine Rekonstruktion von Sahlins’ ›kulturalistischer Wende‹ in Culture and Practical Reason. Im ersten Abschnitt analysiere ich Sahlins’ Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Varianten ›praktischer Vernunft‹. Zunächst geht es um die Kontroverse zwischen Peter Worsley und Meyer Fortes über die Frage, ob der Marx’sche historische Materialismus auf segmentäre Gesellschaften angewendet werden kann. Im Anschluss daran untersuche ich Sahlins’ Analyse des Marx’schen Werks; hier gehe ich auch auf Sahlins’ Gebrauch von Jürgen Habermas’ Marxkritik ein. Schließlich stelle ich Sahlins’ Kritik an weiteren ›utilitaristischen‹ Theorien vor. Im zweiten Abschnitt rekonstruiere ich den semiotischen Ansatz, den Sahlins im Anschluss an Saussure, Boas und LéviStrauss entwickelt. Zunächst untersuche ich die konzeptionelle Beziehung zwischen Sahlins’ Ansatz und der strukturalen Linguistik Saussures sowie dem ethnologischen Strukturalismus von Lévi-Strauss. Im Anschluss daran untersuche ich Sahlins’ Beitrag zur Debatte über die Universalität der Farbwahrnehmung. Sahlins vollzieht hier eine deutliche Absatzbewegung von Saussure, denn er versucht, den ›Referenten‹ in das Theoriedesign zu integrieren, der für Saussure nur eine untergeordnete Rolle spielt, ohne die Saussure’sche These der Arbitrarität des Zeichens aufzugeben. In Abschnitt drei geht es um den Stellenwert der ›poststrukturalistischen‹ Dekonstruktion der strukturalen Linguistik für Sahlins’ Werk. Insbesondere das Frühwerk von Jean Baudrillard ist hier von besonderem Interesse, denn Sahlins entwickelt seine Theorie in explizitem Anschluss an Baudrillard. Im Hinblick auf Sahlins’ spätere Kritik an ›postmodernen‹ Ansätzen in der Ethnologie ist das konzeptionelle Verhältnis zwischen Baudrillards Frühwerk und Sahlins’ Strukturalismus deshalb von hohem Interesse. Die Grenze zwischen beiden Entwürfen wird unter anderem exemplifiziert durch die Utilitarismuskritik von Georges Bataille, an die Sahlins und Baudrillard in jeweils unterschiedlicher Weise anknüpfen. Im vierten Abschnitt löse ich mich von der Theoriegeschichte sowie der Systematik von Culture and Practical Reason und bette Sahlins’ kulturalistische

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Wende in die ethnologischen Debatten über den Kulturbegriff ein. Dabei konzentriere ich mich auf einen Aspekt von Culture and Practical Reason, der für Sahlins’ späteres historisch-anthropologisches Werk eine wichtige Rolle spielt und zu den zentralen Elementen seiner Theorie über die ›Indigenisierung der Moderne‹ zählt: Bereits in Culture and Practical Reason plädiert Sahlins, wie auch in seinem späteren Werk, für die Kohärenz und Systematizität von Kultur. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Umformulierung oder gar Auflösung des ›klassischen‹ ethnologischen Kulturbegriffs mutet Sahlins’ Ansatz zunehmend antiquiert an. Demgegenüber versuche ich in meiner Auseinandersetzung mit ›Writing Against Culture‹ von Lila Abu-Lughod und dem Entwurf kultureller Globalisierung von Arjun Appadurai zu zeigen, dass Sahlins’ Theorie kultureller Systematizität weiterhin ein hilfreicher konzeptioneller Baustein für die Entwicklung eines Ansatzes kultureller Globalisierung sein kann.

1. Kritik der praktischen Vernunft Die Kultur und praktische Vernunft ursprünglich zu Grunde liegende Frage war für Sahlins, »ob die materialistische Auffassung von Geschichte und Kultur, wie sie Marx theoretisch formulierte, problemlos auf das Verständnis von Stammesgesellschaften übertragen werden konnte« (KPV: 12).1 Wenn die Theorie das Selbstverständnis der kapitalistischen Gesellschaft ist – so Sahlins im Anschluss an Georg Lukács (1968) –, kommt ihr ein spezifisch historischer Status zu: »Sie ist eine geniale prise de conscience eines bestimmten Systemtyps, in dem die Verhältnisse zwischen den Menschen und die Verhältnisse des Menschen zur Natur als ökonomische verdinglicht sind« (KPV: 34). Dieser historische Status der Theorie verhindert aber auch möglicherweise ihre bloße Übertragung auf vorkapitalistische Gesellschaften, die sich strukturell von modernen Gesellschaften unterscheiden. Sind also Marxismus und Strukturalismus letztlich Theorien, deren Unterschiedlichkeit sich aus dem jeweils anderen Erkenntnisgegenstand ableitet? Aus der heutigen Perspektive erscheint allein schon Sahlins’ Fragestellung antiquiert, doch es sollte nicht vergessen werden, dass Sahlins noch in Stone Age Economics eine vom Substantivismus wesentlich beeinflusste Position vertritt, in der es gleichfalls eine fundamentale konzeptionelle Unterscheidung zwischen vormodernen und modernen Gesellschaften gibt. In Polanyis Augen hat das neoklassische Handlungsmodell nur Gültigkeit in der ausdifferenzierten Marktgesellschaft und kann auf vormoderne Gesellschaften, in denen die Wirtschaft in soziale Beziehungen ›eingebettet‹ ist, nicht angewandt werden. Zu den Seltsamkeiten der Formalismus-Substantivismus-Debatte gehört, dass die Substantivisten 1

Sahlins hält die Vorlesungen, die die Grundlage für Culture and Practical Reason bilden, im April 1973 an der City University of New York (Sahlins 1976a: xi).

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in der Tradition Polanyis die Anwendbarkeit der Neoklassik auf moderne Gesellschaften nicht in Frage stellen und damit eine radikale konzeptionelle Trennung in der Analyse vormoderner und moderner Gesellschaften nahelegen. In Stone Age Economics tauchen moderne Gesellschaften bzw. moderne Ökonomien nur als kaum beachtete Subtexte auf, als soziale Konglomerate, die scheinbar all das sind, was vormoderne Gesellschaften nicht sind. In vormodernen Gesellschaften sind individuelle Bedürfnisse begrenzt, während in modernen Gesellschaften Bedürfnisse nicht erfüllt werden können – trotz einer im Vergleich zu vormodernen Gesellschaften beispiellosen Dynamik der Konsumgüterproduktion und des Konsums. Vormoderne Gesellschaften sind zudem durch die ›häusliche Produktionsweise‹ gekennzeichnet, und sie integrieren sich durch Tauschmechanismen. Das moderne Äquivalent zum ›primitiven Gesellschaftsvertrag‹ ist der Staat, und der ausdifferenzierte Markt lässt die individuellen Bedürfnisse ins Unendliche wachsen. Die aus dieser Vorstellung möglicherweise resultierende Arbeitsteilung zwischen unterschiedlichen Theorieansätzen oder gar Disziplinen ist für den Substantivismus prekär, denn das konkurrierende Konzept zum Substantivismus – die ökonomische Neoklassik – beansprucht, auf alle Gesellschaften gleichermaßen angewandt werden zu können. Sahlins beschäftigt sich in Culture and Practical Reason allerdings nicht mehr unmittelbar mit der Formalismus-Substantivismus-Debatte. Als Stone Age Economics 1972 erscheint, ist die Debatte bereits weitgehend zum Erliegen gekommen, und Sahlins’ Wirtschaftsethnologie legt ja nahe, dass substantivistische und neoklassische Theoriepositionen möglicherweise auch miteinander kombiniert werden können. Die Anlage von Culture and Practical Reason verdeutlicht allerdings, dass Sahlins eines der Grundprobleme der Formalismus-Substantivismus-Debatte – die Anwendbarkeit unterschiedlicher Theorien auf unterschiedliche ›Typen‹ von Gesellschaft – keineswegs für gelöst hält, auch wenn sich Sahlins nun nicht mehr mit im engeren Sinne wirtschaftsethnologischen Konzepten beschäftigt, sondern mit Sozialtheorien, in denen es nicht mehr in erster Linie um die Analyse des Ökonomischen, sondern der Gesellschaft im Allgemeinen geht. Sahlins’ Gegenüberstellung von Marxismus und Strukturalismus rührt natürlich daher, dass Sahlins von 1967 bis 1969 am Collège de France in Paris forscht. »This was a time of great perturbations on the Left Bank, a heady moment in which to work out new ideas. Marxism was locked with structuralism in an epic struggle for the soul of French intellectuals – and, it turned out, for the soul of Marshall Sahlins« (Kuper 1999: 164). In der Auseinandersetzung zwischen Marxismus und Strukturalismus sieht Sahlins ein grundlegendes kulturtheoretisches Problem, das über die Frage hinausgeht, welcher Ansatz auf welchen Typ von Gesellschaft angewandt werden kann; im Mittelpunkt steht für Sahlins vielmehr das Verhältnis von produktivem Handeln und der symbolischen Organisation der Erfahrung. Sahlins’ Ausgangspunkt ist die Debatte zwischen Peter Worsley (1956) und Meyer Fortes über Fortes’ bahnbrechende strukturfunktionalistische Analyse der

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Tallensi (Fortes 1945, 1949). Fortes argumentiert, dass die zentrale Funktion des Verwandtschaftssystems der Tallensi darin besteht, einen Mechanismus bereitzustellen, »through which the basic moral axioms of a society of the type represented by the Tallensi are translated into the concrete give and take of social life« (Fortes 1949: 346). Verwandtschaftsbeziehungen sind in den Augen Fortes’ in erster Linie moralische Beziehungen. Im Unterschied dazu argumentiert Worsley in seiner marxistischen Kritik, dass es notwendig ist, ein Verwandtschaftssystem in seine unterschiedlichen zweckgerichteten Einzelsysteme aufzubrechen und die Beziehungen zwischen diesen Einzelsystemen zu analysieren; letztlich hält Worsley das tallensische Verwandtschaftssystem für den Ausdruck ökonomischer Tätigkeiten. Diese Vorgehensweise entspricht aber nicht, so Sahlins, dem ›normalen‹ marxistischen Vorgehen, die Einheit von Ökonomie, Recht und Staat, die autonom zu sein scheinen, erst zu entdecken. Im Gegenteil ist Worsley in Sahlins’ Augen dazu gezwungen, eine unmittelbar einsichtige Einheit in Stücke zu schlagen, um verborgene Beziehungen zwischen diesen Teilen postulieren zu können. Das strukturelle Apriori Marx’ wird in Sahlins’ Augen also von der marxistischen Ethnologie als ein bloß Besonderes und Historisches erkannt, denn im Gegensatz zur kapitalistischen Moderne fehlt in den so genannten ›primitiven‹ Gesellschaften die Unterscheidung zwischen Basis und Überbau. In Stammesgesellschaften gibt es keine ausdifferenzierten Subsysteme; stattdessen werden sie durch ein einziges Beziehungssystem reguliert, das über Eigenschaften verfügt, die ›wir‹ als ›Verwandtschaft‹ wiedererkennen, und das in Sahlins’ Augen auf unterschiedlichen Ebenen sozialen Handelns von Bedeutung ist. Verwandtschaftsgruppen bestimmen all die Tätigkeiten, die in modernen Gesellschaften von ausdifferenzierten Subsystemen übernommen werden. Verwandtschaft scheint aus der Perspektive dieser dem Substantivismus nahe stehenden Theorieposition deshalb das bestimmende Organisationsprinzip der tallensischen Gesellschaft zu sein. Aus der Sicht von Worsleys historischem Materialismus gehören Verwandtschaftsbeziehungen allerdings zum ›Überbau‹, auch wenn sie strukturell zugleich die ›Basis‹ zu sein scheinen, denn Verwandtschaftsbeziehungen sind für die Tallensi nicht nur die wichtigsten Produktionsverhältnisse, sondern auch rechtlich-politische und rituelle Verhältnisse. Worsley löst also, so Sahlins, das Verwandtschaftssystem zunächst in seine ›eigentlichen‹ zweckgerichteten Systeme auf, um es im Anschluss daran als bloßen ›Ausdruck‹ ökonomischer Verhältnisse zu begreifen. Fortes’ Antwort auf Worsleys Kritik ist, dass die strukturelle Form des tallensischen Lineage-Systems nicht durch ›objektive‹ Produktionsbedingungen vorgegeben ist (Fortes 1969: 220ff.). Tatsächlich besteht ein Problem von Worsleys Analyse für Sahlins ja darin, dass man die Eigenschaften der Verwandtschaftsorganisation nicht durch die ökonomische Praxis bestimmen kann. Weder spezifische materielle Bedingungen noch ökonomische Interessen liefern die notwendigen Grundlagen dafür, die jeweils charakteristische Eigenschaft von Verwandtschaft näher zu erklären. Vielmehr wird die ökonomische Praxis durch die Verwandtschaftsstruktur organisiert.

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Sahlins formuliert Fortes’ These dahingehend um, dass die eigenen Gegebenheiten des tallensischen Verwandtschaftsystems als Kultur nicht in den jeweiligen materiellen Bedingungen enthalten sind. Eine Schwäche von Fortes’ These sieht Sahlins aber in einer dem britischen Strukturfunktionalismus eigenen Differenzierung zwischen gesellschaftlicher Form und dem zu Grunde liegendem Prinzip. Das Geben und Nehmen, das Fortes als fundamentales Prinzip der tallensischen Gesellschaftsstruktur ansieht, interpretiert Worsley als Ausdruck ökonomischer Motive, die damit zugleich der tallensischen Moral als auch dem tallensischen Verwandtschaftssystem zu Grunde liegen. Sahlins argumentiert nun, dass Worsleys Materialismus die Antithese zu Radcliffe-Browns und Fortes’ Strukturfunktionalismus darstellt; als Negation dieses Paradigmas hat Worsleys Materialismus mit jenem allerdings eine Grundüberlegung gemein. Worsley »bleibt insbesondere jener Auffassung der gesellschaftlichen Form als ›Ausdruck‹ eines zugrundeliegenden ›Prinzips‹ verhaftet, die für die Arbeit von Radcliffe-Brown zentral war« (KPV: 20). Worsley ersetzt das Prinzip der sozialen Solidarität durch das des ökonomischen Interesses und begreift letzteres als grundlegend. Das Interpretationsprinzip des Strukturfunktionalismus, gesellschaftliche Tätigkeiten durch allgemeine Prinzipien zu erklären, ist für Sahlins letztlich tautologisch. Denn die Prinzipien, die Radcliffe-Brown zur Erklärung gesellschaftlicher Praktiken einführte, waren – so Sahlins – normalerweise abstrakte Neuformulierungen der sozialen Praktiken, die er zu erklären versuchte. Komparativ betrachtet wird das konzeptionelle Problem in Sahlins’ Augen noch größer, denn in einer vergleichenden Perspektive »wird die Verallgemeinerung eines Prinzips zum Zweck der Angleichung einer Vielzahl unterschiedlicher Formen zu einer Klassifikationsübung« (KPV: 30). Radcliffe-Browns Vorgehensweise, im Rahmen seiner ›Naturwissenschaft des Sozialen‹ das Besondere durch das Allgemeine zu erklären, führt also zu einem Szenario, in dem die Verallgemeinerungen so umfassend werden, dass sie über die einzelnen Formen immer weniger auszusagen scheinen. Die systematischen Quellen sowohl von Radcliffe-Browns und Fortes’ als auch von Worsleys Ausdruckskonzept sieht Sahlins in Montesquieus Vom Geist der Gesetze. »Eine soziale Struktur ist demnach eine Art Kristallisation eines subjektiven Werts in objektiven Beziehungen, wie für Montesquieu jede Regierungsform ihr angemessenes Prinzip hatte« (KPV: 32). Der ökonomische Determinismus von Worsleys Ansatz ist – so Sahlins – eine notwendige Folge der Konfrontation des historischen Materialismus mit einem generalisierten Verwandtschaftssystem wie dem der Tallensi. Denn Worsley kann nicht argumentieren, dass es tatsächlich eine ökonomische Basis in der Form eines ausdifferenzierten Subsystems gibt. Deshalb muss er »die berühmte ›Determinierung durch die ökonomische Basis‹ auf eine Ökologie des praktischen Interesses und eine Psychologie der ökonomischen Motivation reduzieren« (KPV: 20). Worsleys Dekonstruktion von Fortes’ strukturfunktionalistischem Ansatz endet also in einer dem Strukturfunktionalismus vergleichbaren Ausdruckstheorie, in der die Grundprinzipien ausgetauscht wor-

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den sind, auf denen der gesellschaftliche Ausdruck basiert. Worsleys Ausdruckstheorie beruht auf einer »Reduktion der konkreten historischen Produktionsverhältnisse auf eine abstrakte, schattenhafte Struktur produktiver Erfordernisse« (KPV: 22). Diese Reduktion scheint, wie Sahlins argumentiert, eine notwendige Voraussetzung für die Anwendung des historischen Materialismus auf vormoderne Gesellschaften zu sein, denn erst sie macht in Sahlins’ Augen die Anwendung der Unterscheidung Basis/Überbau auf vorkapitalistische Gesellschaften möglich.2 Sahlins beschäftigt sich in erster Linie mit dem Ansatz von Peter Worsley und analysiert den strukturalen Marxismus, wie er in Frankreich entwickelt wurde, nur am Rande. Dies hat den Nachteil, dass bedeutende Unterschiede zwischen den Theorien von Emmanuel Terray und Maurice Godelier bei Sahlins weitgehend unter den Tisch fallen. Sahlins sieht im französischen strukturellen Marxismus von Terray und Godelier das gleiche Problem wie in Worsleys Marxismus. Beispielsweise entsprechen in Terrays Untersuchung der Guro so genannte ›Produktionseinheiten‹ den Formen der Kooperation, die als Lineage- oder Dorfbeziehungen ›realisiert‹ werden. »Die konkreten Produktionsverhältnisse werden lediglich als Erscheinungsform formal-technischer Notwendigkeiten aufgefaßt und anschließend wird diese Abstraktion als der wahre Unterbau verdinglicht« (KPV: 22). Terrays Argumentation unterscheidet sich für Sahlins aber auch von der Worsleys, weil Terray erkennt, dass die verwandtschaftliche Organisation nicht auf formale Erfordernisse ökonomischer Kooperation reduziert werden kann. Terrays Begriff der ›Realisierung‹ unterstellt deshalb, dass Verwandtschaft eine biologisch-genealogische Kategorie sei, dessen fiktive Repräsentation in Klassifikationssystemen einer Abwandlung von Verwandtschaft durch ökonomische Erfordernisse den Boden bereitet (KPV: 34). Letztlich treffen sich aber Worsleys und Terrays Interpretationsstrategien in den Augen Sahlins’ darin, die Struktur des Verwandtschaftssystems als Ausdruck fundamentalerer ›materialistischer‹ Prinzipien zu begreifen, die die symbolische Konstitution der gesellschaftlichen Realität bestreiten. In Culture and Practical Reason findet sich keine eigenständige Auseinandersetzung mit dem strukturalen Marxismus Maurice Godeliers. Dies ist bedauerlich, denn es gibt durchaus Berührungspunkte zwischen den Ansätzen von Godelier und Sahlins; insbesondere kritisieren sowohl Godelier als auch Sahlins die marxistische Unterscheidung zwischen Basis und Überbau. Die jeweiligen Schlussfolgerungen sind allerdings unterschiedlich. In den Augen Godeliers stellen sich marxistische Ethnologen in der Tradition von Althusser wie Emmanuel Terray Produktionsweisen noch als von der Politik, Religion oder den Verwandtschaftsverhältnissen getrennt vor. »Damit wird jedoch unterstellt, daß Produkti2

Auf einen weiteren Kritikpunkt Worsleys an Fortes’ Analyse geht Sahlins nicht ein. In Worsleys Augen vernachlässigt Fortes die Einbettung der Tallensi-Gesellschaft in überlokale Strukturen, insbesondere der kapitalistischen Weltökonomie (Worsley 1956: 72). Siehe dazu auch Vincent 1990: 332.

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onsverhältnisse und Überbau stets voneinander verschiedene Institutionen sind, und die Ausnahme, wie sie unsere Gesellschaft darstellt, zur Regel erklärt« (Godelier 1990: 154). Godelier gibt die Unterscheidung zwischen Basis und Überbau aber nicht auf, sondern formuliert sie um: Basis und Überbau sind für Godelier nicht unterschiedliche Institutionen, sondern unterschiedliche Gesellschaftsbereiche mit unterschiedlichen Funktionen. Die Dominanz von Verwandtschaftsverhältnissen in segmentären Gesellschaften rührt für Godelier also daher, dass in diesen Gesellschaften Verwandtschaftsbeziehungen die Funktion von Produktionsverhältnissen annehmen, anders als in modernen kapitalistischen Gesellschaften, in denen die Ökonomie diese Funktion ausübt. Sahlins’ Kritik, dass im ethnologischen Marxismus die westliche Unterscheidung Basis/Überbau in vorkapitalistische Gesellschaften hineinprojiziert wird, scheint also auf den Ansatz von Godelier nicht zuzutreffen, denn auch Godelier hält die Anwendung der herkömmlichen marxistischen Unterscheidung zwischen Basis und Überbau auf vormoderne Gesellschaften für ethnozentrisch. Dass in westlichen Gesellschaften die Funktion der Produktionsverhältnisse von der Ökonomie ›übernommen‹ wird, ist für Godelier ein Charakteristikum allein moderner Gesellschaften. Aus der Sicht von Sahlins’ Ansatz begeht allerdings auch Godelier den Fehler, soziale Praxis auf produktive Erfordernisse zu reduzieren. Godelier erklärt die Dominanz bestimmter sozialer Strukturen bzw. Institutionen nicht durch eine spezifische symbolische Organisation der Erfahrung, sondern durch die Funktion, die soziale Institutionen in der gesellschaftlichen Praxis spielen. Aus der Sicht von Sahlins’ Ansatz ignoriert Godelier also ›Kultur‹ und verfällt einem ökonomischen Reduktionismus bzw. Funktionalismus. Wenn nun aber nicht nur vorkapitalistische, sondern alle Gesellschaften symbolisch konstituiert sind, stellt sich die Frage, ob die Gesellschaftstheorie, die Marx formulierte, wenigstens für die Analyse moderner Gesellschaften weiterführend sein kann, wenn sie schon bei der Analyse vorkapitalistischer Gesellschaften versagt. Dies ist der Ausgangspunkt von Sahlins’ Analyse der Marx’schen Gesellschaftstheorie (KPV: 183-234). In Sahlins’ Augen gibt es bei Marx zwei widersprüchliche Auffassungen über das Verhältnis zwischen Natur und Kultur. Das erste Konzept ist das der ›vermenschlichten Natur‹. Sahlins betont, dass für Marx schon in dessen Pariser Manuskripten eine direkte Verwirklichung der objektiven Natur in der menschlichen Kultur ausgeschlossen ist. Vielmehr ist für Marx ›Natur‹ ein historisches Konzept. Marx geht davon aus – so Sahlins –, dass die äußere Natur gesellschaftlich bedingt ist, abhängig vom Entwicklungsstand der Gesellschaft. Marx hat sich nicht für einen ›kontemplativen Materialismus‹ entschieden, in dessen Rahmen ein abstraktes Individuum einer unveränderbaren Welt gegenübersteht, sondern tritt für eine Erkenntnistheorie ein, die in Praxis gründet; Praxis wiederum ist ein Teil der Geschichte. Neben der gesellschaftlichen Spezifizierung der Natur gibt es bei Marx – so Sahlins – auch eine gesellschaftliche Spezifizierung der Technologie. Genauso wenig wie für den Menschen Natur in ihrer ›objektiven‹ Form ›an sich‹ existiert, zeigt sich auch Technik in ihrer objektiven Form.

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»Marx stellte fest, daß die ökonomischen Kategorien, in denen Technik […] begriffen wird, einer Sprache angehören, die unabhängig vom technischen Gegenstand als solchem besteht. Diese Kategorien entsprechen nicht den Eigenschaften des Gegenstands, sondern seiner Verwendungsweise in einer gegebenen historischen Situation: sie integrieren die technischen Mittel in ein bestimmtes System gesellschaftlicher Verhältnisse« (KPV: 190).

Die gegebene soziale Ordnung wird nicht durch die jeweils vorhandene Technologie determiniert; sie ist auch kein bloßer ›Ausdruck‹ ihrer ökonomischen Eigenschaften. Bestimmte Zielsetzungen der Produktion sind bei Marx – so Sahlins – eine allgemeine Spezifizierung der jeweiligen gesellschaftlich-historischen Ordnung; was in einer bestimmten Gesellschaft produziert wird, lässt sich nicht aus der Natur menschlicher Bedürfnisse ableiten. Da sich die Produktion nicht auf die Reproduktion der physischen Existenz beschränkt, sondern auf die Reproduktion einer bestimmten Lebensweise, kann die ganze Produktion als eine Domäne kultureller Intentionalität aufgefasst werden. Zudem hebt Sahlins hervor, dass Marx Interessen als sozial konstituiert betrachtet. Allerdings gibt es, so Sahlins, noch ein zweites Moment von Marx’ materialistischer Theorie, denn in Sahlins’ Augen entspricht Marx’ Begriff einer historischen Vermittlung zwischen Mensch und Natur nicht einer boasianischen kulturellen Logik. Die Vermittlung zwischen Mensch und Natur ist für Marx die rationale und materielle Logik der effektiven Produktion; der Kulturbegriff erscheint als Folge und nicht als Struktur produktiven Handelns. Sowohl das Denken der Menschen als auch ihre sozialen Beziehungen haben ihren Ursprung im Verhaltenssystem instrumentalen Handelns. Erfahrung ist nicht symbolisch geordnet; Sprache wird auf die Rationalität der Praxis zurückgeführt. Bedeutungsschemata weisen keine interne Logik auf, sondern sind die reflektierte Kraft von Produktionsmitteln und Produktionsverhältnissen. In seiner Kritik am Hegel’schen Idealismus begeht Marx in Sahlins’ Augen den Fehler, symbolische Prozesse als Modell einer gegebenen Realität misszuverstehen; Symbolisierung ist in Marx’ Augen nur ein sekundärer Prozess. Im historischen Materialismus ist Sprache eine Reflexion von Erfahrung, die zunächst darin besteht, ein materielles Überleben sicherzustellen. Marx versteht Sprache als praktisches Bewusstsein, das aus der Notwendigkeit zwischenmenschlicher Beziehungen während des Produktionsprozesses hervorgeht; Sprache weist eine instrumentale Funktion auf. Marx berücksichtigt für Sahlins nicht, dass Menschen im Grunde genommen erst dann zu Menschen werden, wenn sie die Welt symbolisch erfahren. Sahlins zieht daraus den Schluss, dass für Marx der ganze Produktionsprozess rätselhaft bleiben muss, denn Marx kann nicht erklären, warum in einer Gesellschaft ganz bestimmte Waren produziert werden. Zwar gibt es für Sahlins bei Marx selbst Hinweise, die über diesen engen vorsymbolischen Rahmen hinausweisen. Marx besteht zunächst darauf, dass der Mensch vor allem anderen essen müsse, allerdings argumentiert er auch, dass die konkreten Inhalte menschlicher Bedürfnisse nicht

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aus physischen Notwendigkeiten abgeleitet werden können, sondern historisch sind. Marx entwickelt diesen Gedanken aber in Sahlins’ Augen nicht weiter, sondern subsumiert das Konzept der historischen Eigenschaften des Konsums in dem Paradigma physischer Notwendigkeit, weil er in Sahlins’ Augen annimmt, dass der Gebrauchswert mit menschlichen Bedürfnissen korrespondiert. Marx ignoriert die soziale Bestimmung der Gebrauchswerte zugunsten seiner These, dass Gebrauchswerte biologische Grundbedürfnisse befriedigen. Für Sahlins muss das ›System der Bedürfnisse‹ aber relativ sein, es lässt sich durch biologische Notwendigkeiten nicht erklären, weil es symbolisch ist. Während der Tauschwert eine gesellschaftliche Funktion ist, entspricht der Gebrauchswert menschlichen Bedürfnissen und ist nicht gesellschaftlich bedingt. Deshalb fällt für Marx die Betrachtung des Gebrauchswertes aus der politischen Ökonomie heraus, weil der Gebrauchswert natürlich und universal ist und dem Objekt selbst innezuwohnen scheint. Sahlins argumentiert, dass Marx die materielle Seite des Ökonomischen nicht untersuchen kann, weil ihm die symbolische Konstitution von Gebrauchswerten entgeht. Die Naturalisierung von Bedürfnissen führt in Sahlins’ Augen zudem dazu, dass Marx das Verhältnis zwischen Produktion und Konsum nicht als eines der Reziprozität begreift, sondern als eine Hierarchie (KPV: 220). Die Wahrnehmung folgt der Erfahrung, doch die Erfahrung selbst wird durch den Produktionsprozess geordnet. Sahlins folgt hier Habermas’ Interpretation, dass Marx auf zwei Ebenen argumentiert.3 Für Habermas geht Marx auf einer kategorialen Ebene davon aus, dass die Selbstkonstitution durch gesellschaftliche Arbeit als Produktionsprozess begriffen wird: »[I]n3

Sahlins’ Interpretation des Marx’schen Werks sollte nicht verwechselt werden mit Althussers Marxdeutung, die für die Entwicklung des französischen ›strukturellen Marxismus‹ eine große Rolle gespielt hat. Althusser entdeckt bei Marx einen ›philosophischen Einschnitt‹, der das Denken des ›jungen‹ Marx vor 1845 von seinem reifen Spätwerk unterscheiden soll. Die Frage nach der Wissenschaftlichkeit von Marx’ Werk lasse sich allein auf der Grundlage seiner späten Schriften, insbesondere des Kapitals, beantworten. Während es Althusser zufolge Marx in seinem Spätwerk gelingt, einen ›wissenschaftlichen‹ historischen Materialismus zu entwickeln, bleibt Marx in seinem Frühwerk auf einer ›vorwissenschaftlichen‹ Stufe des Denkens stehen, in dem es um idealistische Erklärungen von Gesellschaft auf der Grundlage anthropologischer Annahmen über die Natur des Menschen geht; »die Werke des ersten Moments [setzen] die Problematik kantisch-fichteschen Typs voraus« (Althusser 1968: 35). Marx’ Problematik in seinen Frühschriften ist – so Althusser – der zur Freiheit verurteilte Mensch, der im Kontext einer Geschichte, die sich entfremdet hat, sein verlorenes Wesen wiederfinden muss. »Der zu überwindende Widerspruch liegt also in der Entfremdung der Vernunft, verkörpert durch einen Staat, der taub bleibt gegen die Forderung der Freiheit« (Dosse 1999, Band 1: 437). In den Augen Althussers bricht Marx 1845 mit seinem humanistischen Entwurf und ersetzt ihn in seinem Spätwerk durch eine ›wissenschaftliche‹ Theorie, die die philosophischen Kategorien Subjekt, Wesen und Entfremdung als Mystifikation einer Ideologie der herrschenden Klasse entlarvt. Demgegenüber argumentiert Sahlins, dass es eine durchgehende utilitaristische Theorieorientierung in Marx’ Gesamtwerk gibt (KPV: 232).

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strumentales Handeln, Arbeit im Sinne der produktiven Tätigkeit, bezeichnet die Dimension, in der sich die Naturgeschichte bewegt« (Habermas 1968: 71). Auf der Ebene materialer Untersuchungen verknüpft Marx Arbeit und Interaktion in einem Modell gesellschaftlicher Praxis: »[D]ie naturgeschichtlichen Prozesse sind durch die produktive Tätigkeit des Einzelnen und die Organisation ihres Verkehrs untereinander vermittelt« (Habermas 1968: 71). In Sahlins’ Augen kritisiert Habermas an Marx, dass dieser ›Kultur‹ aus seinem Ansatz eliminiere (KPV: 228). Sahlins’ Rückbezug auf Vertreter der ›Frankfurter Schule‹ – neben Habermas bezieht sich Sahlins auf Alfred Schmidt (1971) und Albrecht Wellmer (1969) – ist zumindest überraschend und letztlich auch missverständlich. Habermas geht es zwar auch um die Vernachlässigung von ›Kultur‹ seitens Marx, allerdings steht für Habermas weniger die symbolische Konstitution der Erfahrung im Mittelpunkt, sondern das emanzipatorische Potenzial ›kommunikativen Handelns‹. Für Habermas ist Kultur in erster Linie ein sprachlicher Kommunikationszusammenhang, »aus dem die Subjekte die Natur und sich in ihrer Umwelt interpretieren« (Habermas 1968: 71); dieser Kommunikationszusammenhang ist ein Medium normativer Regelung. Während Sahlins ›Kultur‹ als semiotisches System versteht, geht Habermas von der sprachlichen Konstituierung kultureller Traditionen aus. Dies ist nicht notwendigerweise ein Widerspruch; doch es kommt Habermas nicht auf die Priorität von ›Kultur‹ an, sondern auf die emanzipatorischen Potenziale sozialer ›Praxis‹. Während also Sahlins Marx dafür kritisiert, dass dessen Modell instrumentalen Handelns die symbolische Konstituierung der Erfahrung ausschließt, plädiert Habermas für die Notwendigkeit eines Modells kommunikativen Handelns, das dem Menschen emanzipatorische Potenziale erschließt. »Hätte Marx Interaktion mit Arbeit nicht unter dem Titel der gesellschaftlichen Praxis zusammengeworfen, hätte er stattdessen den materialistischen Begriff der Synthesis auf die Leistungen instrumentalen und die Verknüpfungen kommunikativen Handelns gleichermaßen bezogen, dann wäre die Idee einer Wissenschaft vom Menschen nicht durch die Identifikation mit Naturwissenschaft verdunkelt worden« (Habermas 1968: 85). Letztlich zielt Habermas’ Rekonstruktion des Marx’schen Ansatzes auf die Entwicklung einer kritischen und selbstreflexiven Gesellschaftstheorie. Sahlins’ und Habermas’ Kritiken gehen damit in fundamental unterschiedliche Richtungen, denn es geht Sahlins nicht um die Entwicklung einer emanzipatorischen Theorie gesellschaftlicher Entwicklung, sondern um eine Theorie der Kultur, die auf alle Gesellschaften angewendet werden kann.4

4

Während Sahlins’ Gebrauch von Habermas’ Ansatz zu Missverständnissen führen kann, ist auch Kritik an seiner Interpretation von Marx’ Denken geübt worden. (siehe Groh 1992: 47). Sahlins’ Marxdeutung verrät deshalb möglicherweise mehr über sein eigenes Projekt als über die Marx’sche Gesellschaftstheorie (siehe Bloch 1983: 135-138; Kain 1993; O’Laughlin 1978: 99).

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Die konzeptionellen Unterschiede zwischen den Entwürfen von Sahlins und Habermas zeigen sich auch in ihrem jeweiligen Verständnis von ›Praxis‹. Habermas verknüpft seinen Praxisbegriff eng mit seinem Konzept des kommunikativen Handelns, auf dessen Grundlage gesellschaftliche Emanzipationsprozesse – im Unterschied zu instrumentalem Handeln – erst möglich werden. »Mit der Gleichsetzung von Praxis und politischem Handeln steht Habermas in der linkshegelianischen Tradition, der auch Marx und die Marxisten bisher folgten, in einer Tradition, die sich auf Aristoteles begründen läßt, obwohl die Aristotelische Begrifflichkeit nicht unwesentlich transformiert wurde« (Groh 1992: 46). Sahlins hingegen setzt Praxis in Culture and Practical Reason weitgehend mit instrumentellem Handeln gleich. Im Rahmen der ›Praxistheorie‹ geht es für Sahlins insbesondere um unterschiedliche Formen wirtschaftlicher Tätigkeit; die ›Nützlichkeitstheorie‹ geht in Sahlins’ Augen demgegenüber von einer Logik des materiellen Vorteils aus. Im Rahmen von ›Praxis‹ steht die Produktivität des Handelns im Vordergrund, sowohl in einer objektiven als auch in einer subjektiven Dimension: »einerseits die historisch gegebenen Produktionsmittel und Produktionsverhältnisse und andrerseits die Erfahrung, die die Menschen im Verlauf der produktiven Veränderung der Welt durch einen bestimmten instrumentellen Modus mit sich und den Gegenständen ihrer Existenz machen« (KPV: 7). In der Nützlichkeitstheorie gibt es in Sahlins’ Augen gleichfalls zwei Dimensionen: In der subjektiven Dimension drückt sich Nützlichkeit im Utilitarismus aus, in der objektiven Dimension hingegen im Naturalismus. Sahlins’ Hauptthese ist, dass sowohl die ›Praxistheorie‹ als auch die ›Nützlichkeitstheorie‹ die distinkte Eigenschaft des Menschen, im Kontext von Bedeutungsschemata zu leben, die er selbst geschaffen hat, ignorieren; erst die Kultur, so Sahlins, konstituiert das, was jeweils als nützlich angesehen wird. Und erst der ethnologische Kulturbegriff lässt in Sahlins’ Augen »den alten Dualismus zwischen Geist und Materie oder auch zwischen Idealismus und Materialismus hinter sich« (KPV: 9). Sahlins’ Analyse der marxistischen Theorietradition geht von der These aus, dass der Gegensatz zwischen Kultur und Praxis nicht durch eine Vermittlung aufgelöst werden kann. »Am Ende ordnet man Kultur in ihrer Besonderheit immer der einen oder anderen vorherrschenden Logik zu, entweder der ›objektiven‹ Logik des praktischen Vorteils oder der Bedeutungslogik des ›Begriffsschemas‹« (KPV: 86). Auch die Geschichte der Ethnologie ist für Sahlins durch diesen Gegensatz charakterisiert; die Ansätze von Franz Boas und Lewis Henry Morgan sind in den Augen Sahlins’ exemplarische Vertreter dieser zwei Paradigmen der ethnologischen Theorie. Lewis Henry Morgans Ansatz ist für Sahlins ein paradigmatisches Beispiel für die ›praktische Vernunft‹, die das begriffliche Denken der sozialen Praxis unterordnet. Deshalb ist Morgan für Sahlins ein präsymbolischer Ethnologe. Im Gegensatz dazu steht für Boas – so Sahlins – die Frage des Symbolischen im Mittelpunkt der Analyse. Das Begriffsschema ist für Boas die Grundlage für soziale Praxis und Praktiken, während für Morgan das Begriffsschema aus den Praktiken hervorgeht. Diese paradigmatische Unterscheidung

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zwischen ›praktischer‹ und ›kultureller‹ Vernunft kennzeichnet in den Augen Sahlins’ auch die neueren Entwicklungen in der Ethnologie. Weder der Funktionalismus Malinowskis noch die ecological anthropology Julian Stewards berücksichtigen Kultur als autonome Kategorie, sondern ordnen sie dem praktischen Interesse von Individuen oder Gesellschaften unter. Die kognitive Ethnologie gründet ihre empirischen Forschungen auf »einen positivistischen Begriff von Kultur als Verhaltenskompetenz oder Verhaltensethnographie und damit von Bedeutung als referentiellem Sinn und von Analyse als Übersetzung« (KPV: 155). Sahlins’ ehemaliger Lehrer Leslie White entwickelt zwar, so Sahlins, einen symboltheoretischen Ansatz, doch steht sein Konzept praktischer Vernunft beziehungslos neben seiner Symboltheorie, ohne dass White diese gegensätzlichen Paradigmata miteinander verknüpft hätte. Eine Alternative zu Malinowskis Funktionalismus, der ecological anthropology, der Soziobiologie5 und Whites Evolutionismus sieht Sahlins in Durkheims Denken, denn Durkheim entwickelt – so Sahlins – seinen Ansatz aus einer Konfrontation mit der klassischen politischen Ökonomie. Durkheims Modell ist »ein genereller Einwand gegen die Übernahme der rationalistischen Formel vom wirt5

Neben Culture and Practical Reason veröffentlicht Sahlins 1976 eine Kritik an der Soziobiologie (Sahlins 1976b), auf die ich hier nur am Rande eingehen kann. Anlass für Sahlins’ Kritik ist die 1975 erschienene soziobiologische Synthese des Ameisenspezialisten Edward O. Wilson (Wilson 1975), aber wohl auch die Verwendung von Sahlins’ eigenen evolutionistischen und wirtschaftsethnologischen Arbeiten in unterschiedlichen der Soziobiologie nahestehenden Ansätzen (Alexander 1975). Wilson unternimmt nicht nur einen groß angelegten Überblick zum Sozialverhalten im Tierreich, sondern versucht zudem, menschliches Sozialverhalten aus einer biologischen Perspektive zu deuten (Wilson 1975: 547-575). Sahlins kritisiert an Wilsons Ansatz, dass dieser die Integrität und Unabhängigkeit von Kultur gefährde, weil er die symbolische Organisation der Wirklichkeit auf biologische Erfordernisse zurückführt. Interessanterweise führt Sahlins den von ihm identifizierten Utilitarismus der Soziobiologie auf den »possessive individualism« von Thomas Hobbes zurück. Die utilitaristischen Grundlagen der Soziobiologie sind dem Menschenbild des sich entwickelnden kapitalistischen Marktes geschuldet; die Soziobiologie wiederum wird herangezogen, um die Natur sozialer Beziehungen zu erklären (Sahlins 1976b: 93). Sahlins sieht eine Genealogie von Thomas Hobbes über Charles Darwin bis zu Edward O. Wilson. Die utilitaristische Ideologie des Kapitalismus wurde, so Sahlins, naturalisiert, zur Grundlage tierischer Verhaltensweisen erklärt und in Wilsons Soziobiologie auf menschliches Sozialverhalten übertragen. – Für der Soziobiologie nahe stehende Kritiken siehe Alexander 1977 und Etter 1978; für eine Verteidigung von Sahlins’ Standpunkt siehe Alland 1978. Dass der American Anthropologist zwei gegensätzliche Stellungnahmen zu Sahlins’ Buch veröffentlichte, zeigt bereits, in welchem Maße die Soziobiologie Mitte der 1970er Jahre in der Ethnologie Aufmerksamkeit erregte. Auch naturwissenschaftliche Zeitschriften veröffentlichten reviews von Sahlins’ Arbeit (siehe etwa Charnov 1977 und Schulman 1978). Für eine neuere Analyse von Sahlins’ Argument aus biologischer Perspektive siehe Durham 1991: 366-368. Für eine exzellente Analyse der Debatten über die Soziobiologie im historisch-kulturellen Kontext der USA der 1970er Jahre siehe Jumonville 2002.

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schaftenden Individuum als Modell für die gesellschaftliche Produktion« (KPV: 156). Durkheims fait social sieht Sahlins als Gegenmodell eines Liberalismus, der Gesellschaft als das öffentliche Ergebnis privater Interessen versteht. Dies ist in Sahlins’ Augen der Hintergrund für Durkheims Plädoyer dafür, soziale Tatbestände wie Dinge zu betrachten, denn dadurch werden sie der Individualität entzogen. Allerdings ist dies bereits die Grundlage für einen anderen Utilitarismus in Durkheims Soziologie. »Weil Durkheim die politische Ökonomie negierte, mußte er auf der Ebene der Gesellschaft, die als eine Art Übersubjekt angesehen wurde, den gleichen Ökonomismus reproduzieren, den er als konstitutiven auf der Ebene des Individuums ablehnte« (KPV: 158). Gegen das individuelle Sein setzt Durkheim für Sahlins das gesellschaftliche Sein, und gegen das individuelle das gesellschaftliche Bedürfnis. In Durkheims Paradigma des fait social ist also in Sahlins’ Augen ein utilitaristisches Zweck-Mittel-Schema angelegt, in dem der gesellschaftliche Zusammenhalt zur Zielsetzung wird. Neben dem Funktionalismus in Durkheims Ansatz kritisiert Sahlins dessen Erkenntnistheorie, die Sahlins zwar für eine soziologische Theorie des Symbolisierens hält, aber nicht für eine symbolische Theorie der Gesellschaft. Dies liegt daran, dass Durkheim in Sahlins’ Augen zwar die Existenz von erkenntnisleitenden Kategorien betont, diese Kategorien aber aus der jeweiligen sozialen Morphologie ableitet (Durkheim/ Mauss 1993).6 Diese Dualität zwischen dem Sozialen und dem Symbolischen wird für Sahlins auch im britischen Funktionalismus reproduziert. Bedeutungen sind in diesem Paradigma nur der ›kulturelle Gehalt‹ sozialer Beziehungen, die jeweilige formale Struktur ist der eigentliche Erkenntnisgegenstand. Dieses Vorgehen findet sich beispielsweise bei Mary Douglas, deren »Soziabilitätsfetischismus« dem »Ökologiefetischismus« der ecological anthropology vergleichbar ist, »weil er die besonderen begrifflichen Formen durch abstrakte gesellschaftliche Resultate ersetzt und erstere als bloße Erscheinungen der letzteren behandelt, mit dem ähnlichen Ergebnis, daß festgelegte strukturelle Logiken in 6

In seiner Kritik an Durkheim folgt Sahlins Needham (1963). Für eine Einbettung von Durkheims und Mauss’ Essay in das Gesamtwerk von Mauss siehe Moebius 2006. Der Frage nach der Angemessenheit von Needhams Kritik an Durkheims Erkenntnistheorie geht Hans Joas nach (Joas 1992: 78). – Jeanne L. Shea argumentiert, Sahlins habe den anthropological record missrepräsentiert, um sein eigenes kulturalistisches Programm als die einzig weiterführende Alternative auszuweisen. Shea entwickelt dieses Argument allerdings nicht aus einer marxistischen Perspektive, sondern konzentriert sich auf die Repräsentation des Gegensatzes zwischen Natur und Kultur in Culture and Practical Reason. Doch bereits Lewis Henry Morgans Werk sei sehr viel komplexer als Sahlins’ vereinfachende Typologie. »I would argue that this dichotomy [between nature and culture] is more reflective of Sahlins’ theoretical move from Marxism to structuralism in the 1970s than it is helpful for fully and accurately characterizing the rival units in most classic discussions of causality within social anthropology« (Shea 2003: 490). Shea hat zwar Recht, dass Sahlins’ Typologie der Geschichte der ethnologischen Theorie in Culture and Practical Reason vereinfachend ist, sie irrt aber, wenn sie Sahlins’ evolutionistisches und wirtschaftsethnologisches Frühwerk als ›marxistisch‹ bezeichnet.

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rudimentäre funktionale Interessen aufgelöst werden« (KPV: 174-175). ›Kultur‹ hat für Sahlins in diesem Ansatz keine innere Logik, sondern ist ein Reflex menschlicher Gruppen und sozialer Beziehungen. Sahlins diskutiert seine eigenen früheren Arbeiten in Culture and Practical Reason nicht direkt, doch interessanterweise kritisiert er einige bedeutende Einflüsse auf sein eigenes Frühwerk. Neben einer Analyse der Ansätze von White und Steward, die Sahlins’ evolutionistisches Frühwerk prägen, beleuchtet Sahlins auch die Forschungstradition der Anneé Sociologique, die in seinen Augen von der Auffassung durchdrungen ist, »daß die Gesellschaft durch den Krieg aller gegen alle ständig von innen bedroht wird und deswegen errichtet wurde, um dieser Gefahr entgegenzuwirken« (KPV: 160). Sahlins bezieht sich hier auf Marcel Mauss’ Ansatz über die Gabe, die er in Stone Age Economics selbst als Theorie über einen ›primitiven Gesellschaftsvertrag‹ ansieht und in seinen eigenen wirtschaftsethnologischen Ansatz integriert. Wenn Sahlins nun diesen Ansatz als »vielleicht das wichtigste Vermächtnis der kapitalistischen Ideologie an die Sozialwissenschaft« bezeichnet (KPV: 160), hat er sich sehr weit von seinem wirtschaftsethnologischen Projekt entfernt, das er noch in Stone Age Economics vertritt. Diese unscheinbare Textstelle markiert den eigentlichen Bruch zwischen Stone Age Economics und Culture and Practical Reason, denn aus der Sicht von Sahlins’ kulturalistischem Ansatz erscheint auch seine eigene Wirtschaftsethnologie als Beispiel für einen Utilitarismus, der soziale Zusammenhänge auf funktionale Erfordernisse zurückführt – also hier: der politischen Integration. Damit unterscheidet sich Sahlins’ Kritik vom Argument Jonathan Parrys und Maurice Blochs, die moralische Aufladung der Gabe sei eine kapitalistische Projektion auf vorkapitalistische Gesellschaften (Parry 1986; Parry/Bloch 1989). Zwar hält auch Sahlins in Culture and Practical Reason seine eigene in Stone Age Economics entworfene These, die Gabe sei ein ›primitiver Gesellschaftsvertrag‹, für eine kapitalistische Projektion, doch argumentiert er, dass auch noch die Theorie vom primitiven Gesellschaftsvertrag utilitaristisch sei – wenn dieser Utilitarismus für Sahlins auch nicht das Gleiche ist wie der Utilitarismus der ökonomischen Neoklassik, denn die These, die Gabe sei das Äquivalent eines Leviathans für staatslose Gesellschaften, verortet den Nutzen auf einer gesellschaftlichen und nicht auf einer subjektiven Ebene. Das Problem, das Sahlins in seinem wirtschaftsethnologischen Ansatz sieht, ist demzufolge nicht die von Parry und Bloch gesehene Gefahr, ein bloßes moralisches Gegenbild zur ökonomischen Neoklassik zu erzeugen, sondern im konzeptionellen Gefängnis des westlichen Utilitarismus zu verharren, von dem sowohl die ökonomische Neoklassik als auch der Mauss’sche Ansatz für Sahlins nur besondere Versionen sind. Die für Sahlins in Stone Age Economics noch bedeutsame Frontlinie zwischen Substantivismus und Formalismus ist für Sahlins in Culture and Practical Reason nicht mehr relevant, ein wirtschaftsethnologischer Ansatz im Anschluss an das konzeptuelle Instrumentarium von Mauss nicht mehr weiterführend.

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2. Kulturelle Vernunft Saussure, Lévi-Strauss und das Ende des mentalistischen Kulturalismus Sahlins’ Ausgangspunkt für seinen eigenen Ansatz ist die strukturale Linguistik von Ferdinand de Saussure sowie der Strukturalismus von Claude Lévi-Strauss, die Sahlins für eine kulturalistische Gesellschaftstheorie fruchtbar zu machen sucht. Saussure wendet sich gegen eine Sprachbetrachtung in der Linguistik, die Sprache in erster Linie als historische Philologie auffasst, und entwickelt eine weitreichende und enorm einflussreiche Untersuchungsperspektive, die sich nicht auf die historische Entwicklung von Sprache konzentriert, sondern auf ihren internen Aufbau (Saussure 1967).7 Saussure unterscheidet diese ›synchronische‹ Untersuchungsperspektive von einer ›diachronischen‹, die die Entwicklung und Geschichte von Sprachen in den Blick bekommen soll. Revolutionär an Saussures Ansatz ist seine Unterscheidung zwischen dem individuellen Sprechen (la parole), der Sprache als System (la langue) und dem Vermögen, Sprache zu konstituieren bzw. der Sprachfähigkeit (la langage); insbesondere la langue hält Saussure für den eigentlichen Erkenntnisgegenstand der Linguistik. Ein Zeichen besteht für Saussure aus einem Signifikanten – einem ideellen Lautbild – und einem Signifikat, also einer Vorstellung; Signifikant und Signifikat verweisen aufeinander, sie verhalten sich nach Saussure zueinander wie zwei Seiten eines Blatts Papier. Dabei besteht keine direkte, also ›natürliche‹ Verknüpfung zwischen einem bestimmten Signifikant und einem bestimmten Signifikat; vielmehr ist diese Beziehung ›arbiträr‹, der Signifikant ist einer Vorstellung beliebig zugeordnet, wenn diese Zuordnung in einer Sprache auch normalerweise konventionalisiert ist. Saussure zufolge definieren sich sprachliche Zeichen im Zusammenhang mit anderen Zeichen; die Differenz zwischen einzelnen Zeichen ist das Prinzip, das den ›Wert‹ von Zeichen erst erzeugt. Zeichen besetzen also Leerstellen in differentiellen Systemen von Signifikanten und Signifikaten. Ein Wort hat nur in der Differenz zu anderen Wörtern eine Bedeutung; die Bedeutung eines Wortes ist keine direkte Widerspiegelung eines realen Objektes. Saussure ignoriert die außersprachliche Ebene der Bedeutungskonstituierung zwar nicht vollständig, doch räumt er ihr in seiner Linguistik keine besondere Relevanz ein; vielmehr konzentriert er sich auf die sprachinterne Bedeutungskonstituierung. In der Arbitrarität sieht Saussure den entscheidenden Unterschied zwischen Zeichen und Symbol, denn das Symbol ist »seiner Definition nach niemals ganz arbiträr. Vielmehr beruht es bis zu einem gewissen Grad immer auf einer natürlichen Beziehung zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem« (Kohl 2003: 155). In Saussures 7

Der beste Ausgangspunkt für eine Beschäftigung mit Saussures Werk ist Sanders 2004.

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Terminologie wäre das Symbol also ein nicht-arbiträres Zeichen, es ist ›motiviert‹. Bei Charles S. Peirce ist die Verwendung von Zeichen und Symbol umgekehrt, denn für Peirce weisen Symbole keinerlei Ähnlichkeit oder natürliche Beziehung mit dem auf, was sie bezeichnen. Sahlins verwendet die Begriffe ›Symbol‹ und ›Zeichen‹ nicht im Saussure’schen Sinne, sondern in der terminologischen Tradition von Peirce (KPV: 91). Für Sahlins ist nicht in erster Linie die Beziehung zwischen Signifikat und Signifikant von besonderem Interesse, sondern die Beziehung zwischen dem Begriff und der Welt. Sahlins kritisiert an der Durkheim’schen Tradition, dass in dieser das Symbolische als die Widerspiegelung einer natürlichen, objektiven Realität konzeptualisiert wird. Sahlins will dies vermeiden, weil er von einer Autonomie des Symbolischen gegenüber dem Natürlichen ausgeht. Deshalb schließt Sahlins an Emile Benvenistes Argument an, dass es eine Arbitrarität zwischen Begriff und Welt gibt (Benveniste 1971). Die Beliebigkeit des Symbols ist die »bezeichnende Bedingung der menschlichen Kultur« (KPV: 95). Sahlins richtet sich damit gegen eine Sicht, die Sprache als Nomenklatur betrachtet, also als bloße Abbildung objektiver Unterscheidungen in der Wirklichkeit. Wenn man eine solche Sichtweise vertritt – so Sahlins –, reduziert man die Symbolisierung durch den Menschen auf eine bloße Widerspiegelung der objektiven Realität. Ein Wort ist nicht zu einer ›äußeren Realität‹, sondern »zu seinem Ort in der Sprache in Beziehung zu setzen« (KPV: 96). Auf diesem System von Unterscheidungen gründet sich die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit; »indem wir die objektive Wirklichkeit mit Symbolen belegen und synthetisieren, schaffen wir einen neuen Gegenstand mit distinkten Eigenschaften: Kultur« (KPV: 98). Wenn Kultur die von Sahlins postulierte Autonomie besitzt, kann sie keine Widerspiegelung praktischer Interessen sein. Die Frage liegt nahe, in welchem konzeptionellen Verhältnis Sahlins’ Ausführungen zum Strukturalismus von Claude Lévi-Strauss steht, der die strukturale Linguistik Saussures für die Ethnologie fruchtbar zu machen sucht. Im Folgenden stelle ich zunächst einige Grundcharakteristika des Strukturalismus vor. Diese Vorstellung wird der Komplexität des Werks von Lévi-Strauss natürlich nicht gerecht; ich verfolge hier allein das Ziel, einige Differenzen zwischen den Ansätzen von Lévi-Strauss und Sahlins herauszuarbeiten.8 Das Grundziel von Lévi-Strauss liegt darin, hinter den Ausdrucksformen menschlicher Kulturen all8

Zudem geht es mir hier allein um Lévi-Strauss’ Ansatz und nicht um die Frage nach Gemeinsamkeiten zwischen Lévi-Strauss’ Werk und dem ›anderer‹ Strukturalisten oder überhaupt um die Frage, ob es in Frankreich in den 1960er Jahren eine ›strukturalistische‹ Bewegung gegeben hat (siehe dazu Dosse 1999). – Die Literatur zum Strukturalismus von Claude Lévi-Strauss ist so unermesslich, dass an dieser Stelle nur einige der wichtigsten neueren Sekundärwerke genannt werden können, auf die ich mich gestützt habe. Besonders nützlich erscheinen mir die Arbeiten von FinkEitel 1994; Harland 1987; Hénaff 1998; Johnson 2003; Leach 1991; Pace 1983; Paul 1996; Reckwitz 2000: 209-242; Ricœur 1973: 37-79. Zum Verhältnis von Saussure und Lévi-Strauss siehe Walitschke 1995.

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gemeine Grundmuster zu entdecken, die den sozialen Praktiken der Akteure zu Grunde liegen sollen. »Für die strukturalistische Kulturtheorie erscheint das soziale Leben ermöglicht und eingeschränkt durch übersubjektive symbolische Ordnungen, die abstrakte sinnhafte Unterscheidungen und Schemata vorgeben, welche in den konkreten Handlungsweisen und Institutionen auf spezifische Weise reproduziert werden« (Reckwitz 2000: 210). Diese Vorstellung ist die Grundlage für Lévi-Strauss’ Werk, das sich bekanntlich in drei große Phasen einteilen lässt: von der Verwandtschaftsethnologie in Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft über das Studium von Klassifikationssystemen in Das Ende des Totemismus und Das wilde Denken bis hin zu seinen Studien von Mythen in den Mythologica-Bänden und zahlreichen weiteren Veröffentlichungen. In diesem Sinne erhebt Lévi-Strauss in seinen Traurigen Tropen die Geologie, die Psychoanalyse sowie den Marxismus zu seinen Lehrmeistern, denn »alle drei weisen nach, daß verstehen heißt, einen Typus der Realität auf einen anderen zu reduzieren; daß die wahre Realität niemals diejenige ist, die sich am offenkundigsten zeigt; und daß die Natur des Wahren bereits in dem Fleiß durchscheint, den sie daransetzt, sich zu entziehen« (Lévi-Strauss 1996: 51). LéviStrauss kritisiert insbesondere die Phänomenologie sowie den Existentialismus, der – so Lévi-Strauss – Gefahr läuft, persönliche Sorgen in metaphysische Probleme zu verwandeln. Dies bedeutet nicht, dass der Strukturalismus in einer engen systematischen Beziehung zu Lévi-Strauss’ ›Lehrmeistern‹ steht: In der Psychoanalyse geht es im Gegensatz zum Strukturalismus um den unbewussten ›Inhalt‹, nicht um die jeweilige ›Form‹; und dem Marxismus liegen andere Ideen über die symbolische Organisation der Wirklichkeit zu Grunde. Die Suche nach einer fundamentaleren Realität ›hinter‹ den sinnlichen Erscheinungen ist der gemeinsame Fluchtpunkt, den Lévi-Strauss von der Geologie, der Psychoanalyse und dem Marxismus übernimmt. Deshalb hält Lévi-Strauss nicht nur die Phänomenologie und den Existentialismus für irreführend, sondern auch den Empirizismus, der in Lévi-Strauss’ Augen davon ausgeht, die Realität könne unmittelbar erkannt werden.9 9

Dieser Punkt markiert eine entscheidende Verwerfung zwischen Lévi-Strauss’ Strukturalismus und der britischen Social Anthropology. In der britischen Ethnologie war der Strukturalismus einige Zeit von großer Bedeutung, doch die Rezeption beschränkte sich eher auf die empirischen Erträge der Lévi-Strauss’schen Forschung und weniger auf philosophische Grundlagen. Exemplarisch für diese Haltung ist Edmund Leachs 1970 erscheinende Einführung zu Lévi-Strauss. In den Augen Leachs führt Lévi-Strauss die ethnologische Tradition James Frazers fort, in der ethnologische Fakten aus ihrem kulturellen Kontext herausgelöst werden, »um sie in einen vorgegebenen und wesentlich spekulativ begründeten theoretischen Rahmen einzubauen« (Kohl 1991: 140). Leach kritisiert, dass Lévi-Strauss nur begrenzt Feldforschung betrieben habe und allzu unbekümmert mit ethnographischen Quellen umgehe. Diese Kritikpunkte mögen berechtigt sein, doch sie ignorieren die philosophischen Prämissen, auf denen Lévi-Strauss seinen Strukturalismus errichtet. In der britischen Ethnologie sind Lévi-Strauss’ sozial- und geschichtsphilosophische Entwürfe bis heute kaum diskutiert worden.

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Für die Konstitution des Strukturalismus hat Marcel Mauss’ Theorie der Gabe eine besondere Bedeutung. Dies offenbart sich nicht erst in Lévi-Strauss bekannter ›Einführung in das Werk von Marcel Mauss‹ (Lévi-Strauss 1978), sondern bereits in seinen Elementaren Strukturen der Verwandtschaft; hier erhebt LéviStrauss die Reziprozität zu einer fundamentalen Determinante des Sozialen (Lévi-Strauss 1981). Das Ziel von Lévi-Strauss’ verwandtschaftsethnologischer Analyse ist der Nachweis, dass unterschiedliche Heiratsregeln als Systeme des Frauentauschs zu begreifen sind, die auf das Inzestverbot zurückgehen. LéviStrauss rezipiert Mauss’ Ansatz über die Gabe, kritisiert an Mauss allerdings, dass dieser den Tausch in seine Elemente zerschlagen habe, anstatt den Tausch selbst als »eine dem symbolischen Denken und durch das symbolische Denken unmittelbar gegebene Synthese« zu begreifen (Lévi-Strauss 1978: 37). Reziprozität entsteht nicht durch individuelle Motivationen sozialer Akteure oder durch einen ›Geist der Gabe‹; vielmehr konstituiert das Prinzip der Reziprozität die soziale Welt, in der sich die Akteure bewegen. Das Inzestverbot, die Kreuzkusinenheirat und die duale Organisationsform entsprechen allesamt dem Prinzip der Reziprozität (Lévi-Strauss 1981: 654). Das Inzestverbot ist in den Augen von Lévi-Strauss keine Regel, die verbietet, die Mutter, Schwester oder Tochter zu heiraten, sondern eine Regel, die erfordert, Mutter, Schwester und Tochter anderen zu ›geben‹ (Lévi-Strauss 1981: 643). Dabei bezieht sich das Inzestverbot in erster Linie auf formale Klassen, nicht auf tatsächliche Blutsverwandte. Diese Zwänge der Heiratsregeln sind keine bewussten Festlegungen sozialer Akteure, sondern unbewusste Strukturen, die eine ›Grammatik der Familie‹ konstituieren. Dieser Ausdruck verweist auf Lévi-Strauss’ Rezeption der strukturalen Linguistik von Saussure und deren Weiterentwicklung durch Roman Jakobson und Nikolai Trubetzkoy. In den Elementaren Strukturen der Verwandtschaft operiert Lévi-Strauss zwar nicht explizit mit linguistischen Modellen, doch bereits 1945 veröffentlicht er den Aufsatz ›Die Strukturanalyse in der Sprachwissenschaft und in der Anthropologie‹, in dem er versucht, die Linguistik für die Ethnologie fruchtbar zu machen. Lévi-Strauss glaubt, dass die strukturale Linguistik dieselbe revolutionäre Rolle in den Sozialwissenschaften spielen werde wie die Atomphysik in den Naturwissenschaften (Lévi-Strauss 1967: 45). Er folgt Trubetzkoys methodischen Grundsätzen, dass die Linguistik erstens von bewussten zu unbewussten Strukturen vorzudringen habe, dass diese Strukturen zweitens aus Beziehungen zusammengesetzt seien und dass drittens nach den Gesetzmäßigkeiten sprachlicher Beziehungen gefragt werden müsse. In einer Arbeit, die nach der Veröffentlichung der Elementaren Strukturen entsteht, argumentiert LéviStrauss, dass sich Verwandtschaftsstrukturen linguistisch entschlüsseln lassen, weil die Heiratsregeln und Verwandtschaftssysteme eine Art Sprache seien, die dazu bestimmt sei, »zwischen den Individuen und den Gruppen einen bestimmten Kommunikationstyp zu sichern«. Die ›Nachricht‹ wird in Lévi-Strauss’ Augen in diesem Fall durch die Frauen der Gruppe weitergegeben, die zwischen sozialen Gruppen ausgetauscht werden und nicht durch Worte, doch dies »ändert in

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nichts die Gleichartigkeit des in beiden Fällen beobachteten Phänomens« (LéviStrauss 1967: 74). In seiner Verwandtschaftsethnologie interpretiert Lévi-Strauss also Marcel Mauss’ Modell der Gabe als komplementär zu den Ergebnissen der strukturalen Linguistik in der Tradition Saussures und formuliert es zu einer allgemeinen Theorie der Reziprozität um. Diese Analogie hat einige Kritik hervorgerufen (siehe Sperber 1989: 113115), doch mir geht es hier weniger um die Plausibilität von Lévi-Strauss’ Gedanken, sondern um den systematischen Grund dafür, dass Lévi-Strauss überhaupt eine solche Analogie zieht. Der Grund dafür ist natürlich, dass sowohl die Sprache als auch das Prinzip der Reziprozität für Lévi-Strauss auf die universalen Strukturen des menschlichen Gestes zurückgehen (siehe auch Johnson 2003: 60). Diese Strukturen realisieren sich nicht nur in der Sprache, sondern auch in den sozialen Praktiken der Akteure; deshalb können die Modelle der strukturalen Linguistik auch auf soziale Beziehungen angewandt werden. Lévi-Strauss’ Rezeption der Linguistik basiert also nicht auf der Vorstellung, dass das Soziale auf Sprache zu reduzieren sei, sondern dass sowohl Sprache als auch das Soziale auf die unbewussten Strukturen des menschlichen Geistes zurückgehen. Dieses Konzept von ›Struktur‹ sollte keineswegs mit Radcliffe-Browns Entwurf einer ›sozialen Struktur‹ verwechselt werden; während Radcliffe-Brown ›Strukturen‹ als die Regelmäßigkeiten sozialer Gebilde ansieht (siehe Radcliffe-Brown 1952), versteht Lévi-Strauss unter ›Struktur‹ die symbolischen Ordnungen des Geistes, die sich hinter den sozialen Praktiken verbergen. Lévi-Strauss löst den Gegensatz zwischen Sozialem und Symbolischem auf; das Soziale besteht in der kollektiven symbolischen Ordnung, die letztlich in den mentalen Strukturen der sozialen Akteure verankert ist. Das Symbolische ist in Lévi-Strauss’ Konzeption zu unterscheiden von den individuellen Interpretationen der Akteure, denn die symbolischen Codes haben für die Akteure selbst keine unmittelbare, also bewusst handlungsorientierende Bedeutung. Einerseits sind sie ihnen unbewusst; andererseits bezeichnen die symbolischen Codes keinen spezifischen ›Inhalt‹ wie in der Psychoanalyse, sondern sind bloße ›Formen‹, also allgemeine kognitive Schemata (siehe Reckwitz 2000: 223). In den Mythen vermutet Lévi-Strauss eine ›perfektere‹ Realisierung dieser Strukturen als in den Verwandtschaftssystemen. Deshalb wendet sich Lévi-Strauss nach seiner Analyse von nicht-wissenschaftlichen Klassifikationssystemen in Das Ende des Totemismus und Das wilde Denken der Analyse von Mythen zu, die sich gewissermaßen selber denken sollen. Die vierbändige Mythologica über den mythischen Kosmos Amerikas soll die »Gesetze des Geistes« (Paul 1996: 180) freilegen. Der Strukturalismus ist für Ricœur eine kantische Philosophie ohne transzendentales Subjekt (Ricœur 1973: 68); in Axel T. Pauls Formulierung ist die Struktur bei Lévi-Strauss »das natürliche Gerüst der Kognition« und »entspricht Kants Schematismus der reinen Verstandesbegriffe, der die Anschauung unter die Kategorien subsumiert« (Paul 1996: 184). Sahlins’ Auseinandersetzung mit Lévi-Strauss konzentriert sich auf einen Kernaspekt des Strukturalismus: die universalen Strukturen des menschlichen

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Geistes, die den sozialen Praktiken der Akteure zu Grunde liegen sollen. Sahlins stimmt Claude Lévi-Strauss zwar in dessen Kritik an Durkheim zu, dass dieser das Symbolische auf das Gesellschaftliche reduziert. Lévi-Strauss gelangt in den Augen Sahlins’ aber letztlich zu einem Naturalismus höherer Art. »Das Argument geht von der einfachen Prämisse aus, daß insofern als die menschliche Welt symbolisch konstituiert ist, alle Ähnlichkeiten in den Vorgehensweisen, mit denen verschiedene Gruppen ihr kulturelles Muster konstruieren oder transformieren, auf die Konstruktionsweise des Geistes selbst zurückgeführt werden können« (KPV: 177). Lévi-Strauss erklärt dadurch aber in Sahlins’ Augen keine interkulturellen Übereinstimmungen des symbolischen Inhalts, sondern Übereinstimmungen in der Art und Weise, wie Bedeutungen aufeinander bezogen sind, »und diese Weise läßt sich in Formen wie der ›binären Entgegensetzung‹ als allgemeine beobachten« (KPV: 177). Deshalb ist für Sahlins die an Lévi-Strauss geübte Kritik, einen biologischen Reduktionismus zu vertreten, falsch. Die kulturelle Bedeutung eines Brauchs verhält sich zum menschlichen Geist »wie eine Differenz zu einer Konstanten und eine Praktik zu einer Matrix« (KPV: 177). Nichtsdestotrotz ist für Sahlins der Reduktionismusvorwurf an Lévi-Strauss in gewisser Weise berechtigt, denn so sehr der Strukturalismus dem ›Geist‹ die Befähigung zuspricht, Kultur hervorzubringen, so sehr wird Kultur selbst in eine untergeordnete Position versetzt. »Die ganze Rede von ›zugrundeliegenden‹ Gesetzen des Geistes ordnet alle bestimmenden Kräfte der geistigen Seite zu, auf die die kulturelle Seite bloß antworten kann, so als ob die erste das aktive und die zweite nur das passive Element wäre«. Deshalb hält Sahlins es für plausibler anzunehmen, dass die universalen Strukturen des menschlichen Geistes »weniger die Imperative der Kultur als vielmehr deren Hilfsmittel sind«. Diese Strukturen stellen unterschiedliche organisatorische Möglichkeiten bereit, »die dem kulturellen Vorhaben der Menschen zur Verfügung stehen« (KPV: 179). Sahlins versteht die geistige Ausstattung des Menschen also eher als Instrument denn als Determinante von Kultur. Damit ist Sahlins konzeptionell weit von den philosophischen Prämissen des Strukturalismus entfernt, denn für Lévi-Strauss sind die universalen Strukturen des Geistes der Fluchtpunkt seines Werks.

Die Arbitrarität der Zeichen: Basic Color Terms Sahlins prüft die Fruchtbarkeit von Saussures Ansatz am Beispiel der so genannten basic color terms, also der Frage nach der Universalität der Farbwahrnehmung. Dass sich Sahlins gerade mit der Farbwahrnehmung beschäftigt und Saussures Ansatz am Beispiel der Kategorisierung von Farben überprüft, ist wohl kein Zufall, denn die interkulturell vergleichende Analyse von Farbkategorisierungen ist zu einem Paradigma für das Studium der Effekte der universalen biologischen Einschränkungen auf die menschlichen Klassifikationssysteme geworden. Der gewissermaßen philosophische Hintergrund der ethnologischen Debatten über basic color terms ist die Sapir-Whorf-Hypothese: Diesem Ansatz gemäß

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gibt es zudem tiefgreifende Unterschiede zwischen einzelnen Sprachen, die letztlich Ausdruck oder Ergebnis kognitiver Unterschiede zwischen unterschiedlichen Kulturen bzw. Sprachgruppen sind (Whorf 1963). Problematisch an dieser Vorstellung vom ›linguistischen Relativismus‹ sind nicht nur konzeptionelle Unklarheiten – ob die Sprache für Whorf das Denken nur beinflusst oder gar determiniert und ob es im Rahmen dieses Konzepts auch ein umgekehrtes Kausalverhältnis gibt –, sondern auch Whorfs empirische Analysen, beispielsweise der Hopi-Sprache. Insbesondere ist Whorfs Behauptung, das Hopi sei eine Sprache ohne Zeitbestimmungen, seit langem widerlegt (Franzen 1994: 250). Die SapirWhorf-Hypothese hat sich dennoch als einflussreich und fruchtbar erwiesen, denn sie bildete einen wichtigen Ausgangspunkt für Debatten über sprachliche Universalien. Im Sinne Whorfs würde die Aufteilung des physikalisch kontinuierlichen Farbspektrums in diskontinuirliche Abschnitte in erster Linie auf sprachliche Weise erfolgen – und dies würde sich wohl durch jeweils unterschiedliche Farbbenennungssysteme in unterschiedlichen Sprachen ausdrücken. Die Untersuchung von Brent Berlin und Paul Kay über Basic Color Terms bildet seit ihrem ersten Erscheinen 1969 den empirischen Bezugspunkt für die Diskussionen über den Zusammenhang zwischen Farbwahrnehmung und Sprache.10 Berlin und Kay wollen nachweisen, dass es kulturübergreifende semantische Universalien hinsichtlich kulturspezifischer Farbbenennungen gibt. Dies erscheint zunächst erstaunlich, denn offensichtlich gibt es weitreichende Unterschiede in den weltweit existierenden Farbbenennungssystemen; eine oberflächliche Betrachtung der empirisch nachweisbaren linguistischen Unterschiede legt eher eine relativistische Sichtweise nahe. Berlin und Kay argumentieren allerdings gegen die Whorf’sche These des linguistischen Relativismus. »It appears now that, although different languages encode in their vocabularies different numbers of basic color categories, a total universal inventory of exactly eleven basic color categories exists from which the eleven or fewer basic color terms of any given language are always drawn« (Berlin/Kay 1991: 2). Berlin und Kay geben eine Reihe von Determinanten an, wann eine Farbkategorisierung als ein Grundfarbwort gilt. Zu diesen Determinanten gehört erstens, dass die Begriffe monolexemisch sein müssen; ihre Bedeutung kann also nicht aus ihren Bestandteilen abgeleitet werden. Begriffe wie ›dunkelbraun‹ oder ›blaugrün‹ scheiden deshalb aus. Zweitens dürfen Grundfarbwörter nicht Teil größerer Kategorien sein; ›scharlachrot‹ etwa ist kein basic color term, weil er Teil der Kategorie ›rot‹ ist. Drittens dürfen Farbkategorien sich nicht nur auf einen begrenzten Anwendungsbereich beziehen; aus diesem Grund ist ›blond‹ kein Grundfarbwort, weil er in erster Linie eine Haarfarbe bezeichnet. Viertens sind basic color terms psychologisch hervorstechend, »for example, listed first among terms in the 10 Zur Diskussion über die Farbwahrnehmung siehe Berlin/Kay 1991; Byrne 1997; D’Andrade 1995: 106-121; Foley 1998: 150-165; Hardin/Maffi 1997; Hardin 1988; Maund 1995; Saunders 1992.

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given domain or most widely known« (Foley 1998: 153).11 Um die Grundfarbwörter zu untersuchen, verwandten Berlin und Kay 320 ›Munsell chips‹, die jeweils unterschiedliche Farbtöne, Helligkeitsgrade und Sattheit der Farben wiedergaben und befragten Angehörige von 20 unterschiedlichen Sprachen nach ihren Einteilungen der Chips in einzelne Farbkategorien. Dabei fragten sie sowohl nach den Grenzziehungen zwischen Farben als auch nach den so genannten Fokalfarben, also den jeweils prototypischsten Beispielen für ein spezifisches Grundfarbwort. Zudem werteten sie die Literatur über die Farbsemantik für 78 weitere Sprachen aus. Es gibt zwar große Unterschiede hinsichtlich der Menge an Grundfarbwörtern in den untersuchten Sprachen, doch die Frage, wie viele Grundfarbtöne es in einer Sprache gibt, ist für Berlin und Kay damit verknüpft, welche Grundfarbtöne dies im einzelnen sind. Hat eine Sprache nur zwei basic color terms, sind diese immer ›schwarz‹ und ›weiß‹. Bei drei Grundfarbwörtern ist Berlin und Kay zufolge die neue Hauptfarbe immer ›rot‹; in den weiteren Klassen folgen die anderen Grundfarben, erst dann tauchen Mischfarben auf. Insgesamt arbeiten Berlin und Kay sieben solcher Klassen heraus, wobei die siebte Klasse elf basic color terms umfasst. Die englische Sprache ist ein Beispiel für diese Klasse; hier gibt es die Grundfarbwörter black, white, red, green, yellow, blue, brown, purple, pink, orange und grey. Dabei beziehen sich Berlin und Kay in erster Linie nicht auf die Grenzen zwischen einzelnen Grundfarbtönen, sondern auf die jeweiligen Foki, also die ›typischsten‹ Ausprägungen einer Farbe (Berlin/Kay 1991: 13). Hinsichtlich der Grenzziehungen einer Farbe gibt es selbst bei Sprechern einer Sprache große Differenzen, doch die Foki sind auch über einzelne Sprachen hinweg weitgehend einheitlich, auch wenn die jeweilige Anzahl an basic color terms nicht übereinstimmt (siehe Foley 1998: 153; D’Andrade 1995; 108). Abbildung 1: Fortlaufende Sequenz von basic color terms I

II

III

IV

V

VI

VII purpur

weiß

grün ›

rot



schwarz



gelb

(oder) gelb



grau ›

grün

blau



braun › rosa orange

Quelle: Berlin/Kay 1991 11 Insgesamt geben Berlin und Kay acht Determinanten an, betonen aber, dass diese vier Determinanten in den meisten Fällen ausreichend sind, um die basic color terms eines Farbbennenungssystems zu identifizieren (Berlin/Kay 1991: 6).

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Die einzelnen Klassen unterschiedlicher basic color terms verknüpfen Berlin und Kay schließlich mit evolutionären Entwicklungen. Ein zentrales Ergebnis ihrer Untersuchungen sehen Berlin und Kay darin, dass eine Sprache, die Grundfarbwörter einer bestimmten Äquivalenzklasse besitzt, immer auch die jeweiligen basic color terms der vorherigen Äquivalenzklasse umfasst. Beispielsweise weist eine Sprache mit dem Grundfarbwort ›blau‹ scheinbar immer auch die Grundfarbwörter ›schwarz‹, ›weiß‹, ›rot‹, ›grün‹ und ›gelb‹ auf. Daraus schließen Berlin und Kay zunächst, dass jede Sprache die gleichen evolutionären Stadien hinsichtlich der Existenz von Grundfarbwörtern durchlaufen muss (Berlin/Kay 1991: 15). Darüber hinaus verknüpfen Berlin und Kay die Komplexität des jeweiligen Farbbennenungssystems mit ›kultureller Komplexität‹; alle Sprachen in Klasse VII stammen aus hochindustrialisierten Gesellschaften, währenddessen die Sprachen aus den ersten drei Klassen in kleinen Gesellschaften mit rudimentärer Technologie gesprochen werden. Berlin und Kay halten sich in ihrer Studie mit einer Erklärung für ihre Ergebnisse zurück (Berlin/Kay 1991: 109). In einer späteren Veröffentlichung versuchen Kay und McDaniel (1978), die in Basic Color Terms herausgearbeiteten semantischen Universalien auf neurophysiologische Universalien zurückzuführen. Diese Untersuchung legt nahe, dass das Farbspektrum durch den Wahrnehmungsapparat über einzelne Sprach- und Kulturunterschiede hinweg weitestgehend gleich organisiert wird (Franzen 1994: 253). In diesem Rahmen lässt sich argumentieren, dass die Beziehung zwischen der Wiedererkennbarkeit einer Farbe und deren Kodiertheit in einem basic color term ein Beleg ist für die herausragende perzeptive Rolle, die einige Farben besonders leicht wiedererkennbar und kodierbar machen. Es ist auch versucht worden, die evolutionäre Abfolge des Auftretens von basic color terms mit neurophysiologischen Gegebenheiten zu verknüpfen (siehe Hardin 1988: 165-169).12 Aus dieser Sicht erscheint der linguistische Relativismus, nachdem die Sprache die Sinneseindrücke ordnet, verfehlt; vielmehr verfügt der Mensch über einen physiologischen Wahrnehmungsapparat, dessen Kategorien sich in der Sprache niederschlagen. Menschliche Interessen und kulturelle Praktiken spielen in die12 Für eine Übertragung dieser Perspektive auf ethnobiologische Klassifikationssysteme siehe Berlin 1992. – Zu den wichtigsten Arbeiten, die von Basic Color Terms angeregt worden sind, gehören die Forschungen von Eleanor Rosch (Heider 1972) über die Dani in Neuguinea. Rosch fand heraus, dass die beiden basic color terms der Dani das Farbspektrum nicht nur in weiß/schwarz aufteilen, sondern dass der basic color term ›weiß‹ die ›warmen‹ Farben umfasst und der basic color term ›schwarz‹ die ›kühlen‹ Farbtöne. In den 1980er Jahren begannen Kay, Berlin und Merrifield mit einem weitreichenden World Color Survey, das insgesamt 110 Sprachen genauer untersuchte (Kay/Berlin/Merrifield 1991). Im Anschluss an diese und weitere Forschungen scheint gesichert, dass Basic Color Terms einige bedeutende methodische Probleme aufweist; beispielsweise sind die meisten Informanten für diese frühe Studie zweisprachig. Die Ausdifferenzierung der Forschung über basic color terms hat zudem zu Modifikationen der einzelnen (evolutionären) Stadien geführt und gewisse konzeptionelle Probleme der Studie offenbart (siehe dazu D’Andrade 1995: 106-121).

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sem Ansatz deshalb nur eine untergeordnete Rolle für die Farbwahrnehmung und -kategorisierung. Sahlins hält die Debatten über die Universalität der Farbbennenungssysteme für eine der wichtigsten Kontroversen der modernen Ethnologie. Das Ziel seiner Analyse von Basic Color Terms in ›Colors and Cultures‹ (Sahlins 1976c; CP: 139-162) und Culture and Practical Reason (KPV: 276-287) ist es keineswegs, den linguistischen Relativismus von Sapir und Whorf zu verteidigen; im Gegenteil betont Sahlins die Notwendigkeit, die Physiologie des Wahrnehmungsapparats in die Analyse einzubeziehen. Die vier Grundfarben rot, grün, gelb und blau sind zusammen mit schwarz und weiß – so Sahlins – perzeptuell einzigartig und nicht in andere Farbtöne zerlegbar. Sahlins verweist auf den so genannten opponent-process-Mechanismus in der Signalübertragung vom Auge ins Gehirn, dem zufolge die Übertragung der Farbempfindung »als triadische Einheit von binären Prozessen organisiert ist«, also rot-grün, blau-gelb und schwarz-weiß (KPV: 285). Das Wahrnehmungssystem für die einfachen Farbtöne setzt sich dementsprechend aus zwei Dyaden entgegengesetzter Farben (rot-grün und gelb-blau) sowie aus vier Dyaden kompatibler Farben (rot-gelb, rot-blau, grün-blau und grün-gelb) zusammen. Die opponent-process-Theorie ist für Sahlins eine physiologische Erklärung für das ›frühe‹ Auftreten der basic color terms rot, grün, gelb und blau nach der fundamentalen hell/dunkel-Unterscheidung in Stadium I. Dass von den vier Grundfarben rot als erste als basic color term auftaucht, ist für Sahlins zudem kein Zufall: »Red is to the human eye the most salient of color experiences […] Red, simply, has the most color; hence its focal position in the contrast of hue to achromicity (lightness/darkness) at Stage II« (CP: 143). Sahlins weist darauf hin, dass es hinsichtlich der Farbwahrnehmung auffällige Korrespondenzen zwischen den Strukturen der Wahrnehmung und den jeweiligen symbolischen Strukturen gibt. Bespielsweise steht rot in seiner Bedeutung im Gegensatz zu grün, wohingegen gelb in der Mitte zwischen rot und grün steht, weil gelb genauso wie rot im Gegensatz zu grün, allerdings auch wie grün im Gegensatz zu rot stehen kann. Die Beziehungen der Farbbedeutungen entsprechen in Sahlins’ Augen den Wahrnehmungsstrukturen mit zwei Dyaden entgegengesetzter Farben (rot/grün und gelb/blau) sowie vier Dyaden mit kompatiblen Farben. Dies scheint zunächst nahezulegen, dass die Bedeutungen von Farben aus den universalen Wahrnehmungsstrukturen abgeleitet werden können. Sahlins widerspricht dieser Überlegung allerdings vehement. Er bestreitet zwar keineswegs die Existenz einer universalen neurophysiologischen Ausstattung des Menschen, die die Grundlage bestimmter Farbwahrnehmungen ist; chromatische Unterschiede werden aber nicht direkt in die kulturelle Kategorisierung von Farbwahrnehmungen übersetzt. Vielmehr wird die Wahrnehmungsstruktur von Farben kulturspezifisch angeignet, um kulturelle Bedeutungen chromatisch auszudrücken (CP: 141). ›Bedeutung‹ und ›Referenz‹ sind für Sahlins deshalb nicht identisch; basic color terms sind in Sahlins’ Augen nicht nur Benennungen ›objektiver‹ Unterschiede, sondern in erster Linie semiotische Codes (CP: 149).

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Deshalb verletzt die Universalität der Wahrnehmungsstrukturen in Sahlins’ Augen auch nicht das Saussure’sche Prinzip der Arbitrarität des Zeichens, weil sich der kulturelle ›Wert‹ des Zeichens nur in Abgrenzung zu anderen Zeichen konstituiert. Die »historische Aneignung konkreter Kontraste« muss allerdings zwei natürliche Bedingungen in die kulturelle Ordnung tragen, »um als gesellschaftlicher Diskurs funktionieren zu können« (KPV: 277). Erstens muss die Auswahl eines bestimmten empirischen Gegensatzes ›wahr‹ sein. Sahlins nennt hier den materiellen Gegensatz gerade/gebogen, der für maskulin/feminin stehen soll. Zweitens entsprechen die jeweiligen bedeutungsvollen Gegensätze oftmals den materiellen Gegensätzen in den Wahrnehmungsstrukturen. Der Gegensatz zwischen rot und grün ist deshalb bedeutungsvoll besser ›auszubeuten‹ als ein Gegensatz zwischen rot und gelb, da rot und grün Komplementärfarben sind (KPV: 277). Aus dieser Perspektive erklärt Sahlins auch die universale Vorliebe für ›satte‹ Farbtöne und Primärfarben, die von Berlin und Kay in Basic Color Terms nachgewiesen wurden. Weil Farben eine kulturelle Signifikanz besitzen und Differenzen symbolisieren, werden nur besonders ›satte‹ Farbtöne als ›typisch‹ erachtet, weil diese soziale bzw. kulturelle Differenzen besser symbolisieren können als schwächer ausgeprägte Farbtöne: »hues are socially relevant in their most distinctive perceptible form« (CP: 154). Sahlins’ Argumentation ähnelt in einem zentralen Punkt dem Argument von Kay und McDaniel (1978) – dass nämlich die physiologischen Grundlagen der menschlichen Wahrnehmung eine wichtige Rolle für die Struktur der basic color terms spielen. Allerdings betont Sahlins im Unterschied zu Kay und McDaniel die Aneignung von Wahrnehmungsstrukturen in ein System bedeutungsvoller Unterschiede (Lucy 1997: 344, Fn. 20). Sahlins argumentiert, dass basic color terms eine Bedeutung haben, die zunächst nichts mit den Farben selbst zu tun hat; vielmehr werden Farbdifferenzen in einem System bedeutungsvoller Unterschiede angeeignet. Die Bedeutung von Farbkontrasten kann deshalb eng verknüpft sein mit sozialen Unterschieden und weiteren kulturellen Praktiken und Glaubensvorstellungen. »It is not, then, that color terms have their meanings imposed by the constraints of human and physical nature; rather, they take on such constraints insofar as they are meaningful« (CP: 141). Sahlins’ Untersuchung über die basic color terms zeigt seine ›strukturalistische‹ Vorgehensweise, sich auf Bedeutungssysteme zu konzentrieren und die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke aus ihren jeweiligen Relationen zueinander abzuleiten. Sahlins’ Ansatz basiert auf einer Trennung von ›Natur‹ und ›Kultur‹, denn aus den natürlichen Kontrasten zwischen den einzelnen Farben kann keine Aussage über die Bedeutung abgeleitet werden, die basic color terms in unterschiedlichen Sprachen haben. Die Natur muss also von der Kultur ›angeeignet‹ werden, um für die Menschen von ›Bedeutung‹ zu werden.

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3. Sahlins/Baudrillard: Die Grenzen der Utilitarismuskritik Dem von Sahlins postulierten Zusammenhang von ›Kultur‹ und ›Welt‹ ist unter anderem von Autoren widersprochen worden, die zuweilen unter dem keineswegs unproblematischen Begriff ›Poststrukturalismus‹ zusammengefasst werden. Sahlins gilt heute als der Verfechter einer explizit anti-postmodernen oder auch anti-poststrukturalistischen Theorieposition; deshalb ist es zumindest erklärungsbedürftig, warum Sahlins in Culture and Practical Reason explizit an Jean Baudrillards Frühwerk bis einschließlich Pour une critique de l’économie du signe (Baudrillard 1972) anschließt. Baudrillards Frühwerk ist für Sahlins von besonderem Interesse, da sich Baudrillard von einer anti-utilitaristischen Theorietradition ausgehend mit dem Marxismus auseinandersetzt und sich im Laufe seiner Werkentwicklung in zunehmendem Maße von Marx abgrenzt. Der Einfluss von Baudrillard auf Sahlins ist allerdings bemerkenswert, weil Jean Baudrillard heute vielen sowohl hinsichtlich seiner Aussagen als auch seines Stils als die Inkarnation der ›französischen Postmoderne‹ schlechthin erscheint.13 Steven Webster geht sogar so weit, Sahlins’ kulturalistisches Werk aufgrund von Sahlins’ Rezeption Baudrillards als ›poststrukturalistisch‹ zu bezeichnen (Webster 1987a, 1987b). Eine Klärung des Einflusses von Baudrillard auf Sahlins erscheint also notwendig, um die Beziehung zwischen Sahlins und dem ›postmodernen‹ und ›poststrukturalen‹ Denken besser einschätzen zu können – ohne dass natürlich behauptet werden soll, Baudrillards Frühwerk sei repräsentativ für den ›Poststrukturalismus‹ im Allgemeinen, welche Denker man auch immer darunter subsumiert. Im Folgenden diskutiere ich zunächst Sahlins’ Konzept des Konsums und seine Rezeption von Baudrillards Frühwerk; im Anschluss daran analysiere ich die Beziehung, in der die Ansätze von Sahlins und Baudrillard zu Georges Batailles Konzept der ›allgemeinen Ökonomie‹ stehen. Ich werde argumentieren, dass Sahlins Baudrillards Frühwerk nur höchst selektiv rezipiert und die fundamentalen Differenzen zwischen Sahlins und Baudrillard insbesondere daran deutlich werden, dass Baudrillard unmittelbar an Bataille anknüpft, währenddessen Sahlins’ Kulturalismus nicht in Einklang mit Batailles Denken zu bringen ist. Auf dieser Grundlage problematisiere ich Sahlins’ Kritik am Utilitarismus in Culture and Practical Reason. In Sahlins’ Ansatz steht der Nachweis im Mittelpunkt, dass nicht nur traditionale, sondern alle Gesellschaften zu allen Zeiten als ›Kulturen‹ verstanden werden müssen. Es ist in Sahlins’ Augen falsch, den Strukturalismus nur auf traditionale Gesellschaften und den Marxismus nur auf moderne Gesellschaften anzu13 Zu Baudrillard siehe Blask 1995; Genosko 1994; Hegarty 2004a, 2004b; Kellner 1989; Kneer 2006; Schetsche/Vähling 2006. Baudrillard macht keinen durchgängigen und konsequenten Gebrauch des Begriffs ›Postmoderne‹, und die Bezeichnung seines Werks als ›postmodern‹ ist auch unabhängig von der grundsätzlichen Ambiguität dieses Begriffs problematisch (siehe auch Kneer 2006: 164-165, Fn. 9).

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wenden, weil alle Gesellschaften nur auf der Grundlage des von Sahlins ausgearbeitenen strukturalen Kulturalismus analysiert werden können – auch die moderne kapitalistische Ordnung ist eine Kultur, wie Sahlins in ›La pensée bourgeoise‹, dem vierten Kapitel von Culture and Practical Reason, nachzuweisen sucht. Sahlins entwickelt in diesem Kapitel die These, dass der historische Materialismus existiert – aber nur als »Selbstbewußtsein der bürgerlichen Gesellschaft« (KPV: 235); ähnlich wie die Soziobiologie läuft auch das Marx’sche Denken Gefahr, der ökonomischen Neoklassik zu entsprechen »und die Entfremdung von Menschen und Dingen auf eine höhere kognitive Ebene zu stellen« (KPV: 235). Das kulturelle System der modernen Gesellschaft bestimmt, was wir als ›Nützlichkeit‹ betrachten; der Utilitarismus naturalisiert den Nutzen in einem quasibiologischen Modell praktischer Vernunft und verallgemeinert damit die Selbsteinschätzung moderner Gesellschaften. Aber »die materiellen Bedingungen sind, wenn auch immer unerläßlich, doch potentiell auf ganz unterschiedliche Weise ›objektiv‹ und ›notwendig‹; ihre jeweilige Gestalt hängt von der kulturellen Selektion ab, durch die sie zu wirksamen ›Kräften‹ werden« (KPV: 237). Sahlins betont, dass das biologische Überleben der Menschen von entscheidender Bedeutung ist, doch die soziale Existenz erschöpft sich nicht in der Befriedigung biologischer Bedürfnisse, sondern vollzieht sich im Rahmen kultureller Systeme, die niemals ›die einzig möglichen‹ sind; auch der Kapitalismus ist ein kulturelles System. »Der materielle Prozeß der physischen Existenz ist organisiert als bedeutungsgeladener Prozeß des gesellschaftlichen Seins, der für die Menschen, die stets in festgelegter Weise kulturell bestimmt sind, die einzige Sein[s]weise darstellt« (KPV: 239). Erst die kulturellen Strukturen einer Gesellschaft legen die jeweilige Funktionalität sozialer Verhältnisse fest; jegliches praktische Interesse in der Produktion und im Konsum ist symbolisch konstituiert. Sahlins stimmt dem Marxismus zu, dass der Kapitalismus in modernen Gesellschaften von überragender Bedeutung ist. Mit dem Strukturfunktionalismus der Social Anthropology stimmt er überein, dass es in vormodernen Gesellschaften kein ausdifferenziertes kapitalistisches Subsystem gibt und dass in diesen Gesellschaften die Kategorie Verwandtschaft wichtiger ist als in modernen Gesellschaften. Sahlins nivelliert also keineswegs die Unterschiede zwischen vormodernen und modernen Gesellschaften, versucht aber, diese Unterschiede im Rahmen eines einzigen kulturtheoretischen Ansatzes zu konzeptualisieren. Die Sonderstellung moderner westlicher Gesellschaften gegenüber Stammesgesellschaften liegt in Sahlins’ Augen darin, dass in der westlichen Kultur die ›symbolische Produktion‹ in erster Linie im ökonomischen Bereich stattfindet. Die Produktion und der Konsum von Gütern stellt die bevorzugte Form der Produktion wie der Übermittlung von Symbolen dar. Diese Institutionalisierung des Prozesses symbolischer Produktion unterscheidet den modernen Kapitalismus von vormodernen Stammesgesellschaften, in denen symbolische Produktion und Unterscheidung durch Verwandtschaftsbeziehungen gewährleistet werden (KPV: 303). In modernen Gesellschaften dagegen garantiert der Marktmechanismus, dass die

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in der Ökonomie entwickelten symbolischen Schemata zu gesellschaftlichen Klassifikationen werden, »denn ein jeder muß kaufen und verkaufen, um leben zu können«. Die Ökonomie ist demzufolge der dominante institutionelle Ort des symbolischen Prozesses in der modernen kapitalistischen Gesellschaft; sie ist »eine kulturelle Spezifizierung und nicht nur eine natürlich-materielle Tätigkeit« (KPV: 299). Von der Ökonomie geht ein klassifikatorisches Symbolraster aus, das über die gesamte Kultur gelegt wird. Die Marktteilnehmer sind sich dieses Mechanismus normalerweise nicht bewusst, denn der Prozess der Konstitution symbolischer Bedeutungen erscheint den Produzenten als Suche nach Gewinn und den Konsumenten als Aneignung anscheinend ›nützlicher‹ Güter. Die Ökonomie wirft Klassifikationen über alles Nichtökonomische, indem sie die Unterschiede in diesen Bereichen durch eigene symbolische Gegensätze ordnet. Das Besondere dieser pensée bourgeoise liegt also in der Vervielfältigung kultureller Codes – »mit Tausch und Konsumtion als Mittel ihrer Kommunikation« (KPV: 250). Die Einstellungen über die Nützlichkeit eines Produktes richten sich nach der gesellschaftlichen Bedeutung konkreter Unterschiede zu anderen Produkten, die wiederum symbolisch konstituiert sind. Gebrauchswerte haben kein materielles Fundament, sondern leiten sich aus den gesellschaftlich dominanten symbolischen Klassifikationen ab. Sahlins schließt in Culture and Practical Reason an Baudrillards konsumtheoretisches Frühwerk an; dieses kann umschrieben werden als »a strong, essentially Marxist, ideological critique of late capitalist consumer society, which he frames in a structuralist approach to signs and a pseudo-psychoanalytic reading of consumer desire« (Hegarty 2004b: 201-202). Baudrillard versucht in seinen ersten beiden Werken, Le système des objects (Baudrillard 1991) und La société de consommation (Baudrillard 1970), die sozialen Praktiken des Konsums in modernen Gesellschaften nicht produktivitätstheoretisch, sondern semiotisch zu interpretieren; die Welt der hergestellten Dinge erscheint als geschlossenes, selbstreferentielles Zeichensystem. Baudrillard folgt Georg Lukács’ These einer Kommodifizierung des Alltags, formuliert sie aber im Anschluss an Saussure semiotisch um, denn Objekte erhalten ihre Bedeutung erst in Systemen bedeutungsvoller Unterschiede. Zentral für Baudrillard und auch für Sahlins’ Analyse des Konsums ist die These, dass der Konsum als »idealistische Praxis« (Blask 1995: 19) verstanden werden muss. Der Konsum und die mit ihm verknüpfte Welt der Waren konstituieren demzufolge ein globales, arbiträres und kohärentes Zeichensystem, das nicht auf eine soziale Klassifikationsordnung oder gar auf biologische Grundcharakteristika des Menschen reduziert werden kann, sondern in sich kontingent ist und Bedürfnisse zuallererst hervorbringt. Baudrillards Analyse ist zentriert auf den Konsum und nicht auf die Produktion, wie dies noch in der Marx’schen Analyse der Fall war. In den Augen Baudrillards ist ein Verständnis der beispiellosen Eigendynamik der fortlaufenden Produktion und Konsumtion von Gütern nicht möglich, solange davon ausgegangen wird, dass die Produktion nur dem Ziel dient, materielle Bedürfnisse zu befriedigen. Doch der

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Konsum kennt in modernen Gesellschaften offenkundig keine Grenzen: Ihm ist eine ständige Verschiebung von Objekten in neue Verweisungszusammenhänge eigen, die in einer permanenten Kombination und Rekombination der Zeichen neue Bedeutungen und damit neue Bedürfnisse hervorbringt. Individuelle Bedürfnisstrukturen definieren sich nicht durch die physische Beschaffenheit von Objekten, sondern durch ihre Zeichenhaftigkeit. Dabei bewegt sich Baudrillard in seinen ersten beiden Büchern noch durchaus im Rahmen des Marxismus, versucht aber bereits hier, Marx’ ›Kritik der politischen Ökonomie‹ zeichentheoretisch umzuformulieren (siehe Kellner 1989: 7-21; Hegarty 2004b: 202). Im Gegensatz zu Baudrillard hat Sahlins kein Interesse daran, die sozialen Praktiken des Konsums aus einer semiotischen Perspektive zu kritisieren und damit Marx’ Gesellschaftskritik semiotisch umzuformulieren. Wenn es hier eine ›kritische‹ Perspektive gibt, dann liegt sie darin, dass Sahlins nachweisen will, dass der seiner Ansicht nach gesellschaftlich dominante Utilitarismus nicht natürlichen Ursprungs ist, sondern das Ergebnis (oder der Teil) von westlichen kulturellen Schemata. Damit ist Sahlins’ Ansatz keine ›kritische‹ Theorie in der Tradition der ›Frankfurter Schule‹ und unterscheidet sich in dieser Hinsicht auch von Jean Baudrillards Frühwerk, denn Baudrillard geht es in seinen ersten Büchern bis einschließlich Der symbolische Tausch und der Tod (Baudrillard 1982) zumindest auch um die Entwicklung einer gesellschaftskritischen Perspektive. Gesellschaftskritik bedeutet für Baudrillard aber keineswegs, eine ›marxistische‹ Gesellschaftstheorie zu entwickeln; vielmehr rückt er bereits in seinem dritten Buch, Pour une critique de l’économie politique du signe (Baudrillard 1972), von Marx deutlich ab und vollzieht in Le miroir de la production (Baudrillard 1973) den expliziten Bruch mit Marx. In Pour une critique setzt Baudrillard seine vorherige Analyse des selbstrefentiellen Konsumsystems als Zeichensystem fort, »but with a critical turn towards his methods of analysis« (Genosko 1994: 3). Es geht Baudrillard nicht mehr darum, den Marxismus semiotisch umzuformulieren, sondern darum, die Grenzen sowohl des Marxismus als auch des Strukturalismus aufzuzeigen. »Baudrillard moves gradually but clearly away from Marxism, into a world-view that does not rely on a centralised agency of oppression and alienation, which opens the way for the simulation/symbolic exchange confrontation to come« (Hegarty 2004b: 202). Zentral für Baudrillards Kritik ist seine These, dass es eine strukturale Homologie gibt zwischen der Ware und dem Saussure’schen Zeichen. Auf dieser Grundlage unterscheidet Baudrillard vier unterschiedliche Werteordnungen: Gebrauchswert (valeur d’usage – VU), ökonomischen Tauschwert (valeur d’échange économique – VEEc), semiotischen Tauschwert (valeur d’échange/signe – VESg) und den symbolischen Tausch (échange symbolique – ESb), die sich durch jeweils unterschiedliche operative Prinzipien unterscheiden: Nützlichkeit, Äquivalenz, Differenz und Ambivalenz. Diese unterschiedlichen Werteordnungen sind nicht stabil, sondern können ineinander transformiert werden:

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Abbildung 2: Transformationen zwischen unterschiedlichen Werteordnungen Gebrauchswert (VU)

Ökonomischer Tauschwert (VEEc)

Semiotischer Tauschwert (VESg)

Symbolischer Tausch (ESb)

1. VU – VEEc

4. VEEc –VU

7. VESg –VU

10. ESb – VU

2. VU – VESg

5. VEEc – VESg

8. VESg –VEEc

11. ESb – VEEc

3. VU – Esb

6. VEEc – Esb

9. VESg – Esb

12. ESb – VESg

Quelle: Baudrillard 1972: 144-145; Genosko 1994: 7 Diese zwölf Transformationen bewegen sich für Baudrillard auf unterschiedlichen Ebenen, sind also nicht äquivalent. Auf einer ersten Ebene bewegen sich die Transformationen (1) und (4). VU – VEEc konstituiert den Prozess der Produktion von ökonomischem Tauschwert, VEEc – VU den umgekehrten Prozess. Diese beiden Transformationen »sont les deux moments du cycle de l’économie politique classique (et marxiste), qui ne tient pas compte de l’économie politique du signe« (Baudrillard 1972 : 146). Auf einer zweiten Ebene finden sich die Transformationen von Gebrauchswert und ökonomischem Tauschwert zu semiotischem Tauschwert und umgekehrt, also die wechselseitigen Bewegungen zwischen (2) und (7) sowie zwischen (5) und (8); diese Transformationen liegen bereits außerhalb der Marx’schen politischen Ökonomie, denn Marx naturalisiert in Baudrillards Augen Bedürfnisse und ignoriert die semiotische Komponente des Ökonomischen. Baudrillard nennt den Prozess der Transformation von Gebrauchs- und Tauschwert in semiotischen Tauschwert Verklärung [transfiguration]. Die Transformationen auf dieser Ebene kennzeichnen »the systematic identity of material and sign production in virtue of Baudrillard’s equation of the commodity and the sign« (Genosko 1994: 4). Die unterschiedlichen Formen des Konsums im Rahmen der drei Werteordnungen des Gebrauchswerts, des ökonomischen Tauschwerts und des semiotischen Tauschwerts nennt Baudrillard »consommation« (Baudrillard 1972: 146) und unterscheidet davon Formen von consumation, die mit dem symbolischen Tausch verknüpft sind. Consumation gibt es also allein auf einer dritten Ebene, in der es eine Überschreitung gibt von den ersten drei Werteordnungen zum symbolischen Tausch (Genosko 1994: 10). Der symbolische Tausch steht außerhalb der politischen Ökonomie und damit auch außerhalb der Welt der Zeichen und der Bezeichnung. Die Überschreitung markiert die Schwelle zwischen politischer Ökonomie und ihrem Äußeren, dem symbolischen Tausch. Baudrillard stellt diese Ausgrenzung des symbolischen Tauschs aus der politischen Ökonomie wie folgt dar (Baudrillard 1972: 152): VEEc Sa = / ESb VU Sé

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Zunächst entspricht das Verhältns zwischen ökonomischem Gebrauchswert (VU) und Tauschwert (VEEc) dem Verhältnis zwischen Signifikat (Sé) und Signifikant (Sa). Außerhalb dieses Systems der l’économie politique du signe befindet sich der symbolische Tausch (Esb). Dieser entspricht also keinesfalls dem Gebrauchswert, der für Marx außerhalb der politischen Ökonomie steht. Auch der Gebrauchswert ist ein Teil der Werteordnungen, die die politische Ökonomie des Zeichens konstituieren (siehe auch Genosko 1994: 14). An dieser Stelle wird die Nähe Sahlins’ zu Baudrillard deutlich, denn auch Sahlins kritisiert an Marx’ Konzept der politischen Ökonomie, dass der Gebauchswert aus der politischen Ökonomie herausfällt, weil Marx ihn naturalisiert (Sahlins 1976a: 151). Sowohl Sahlins als auch Baudrillard stimmen dahingehend überein, dass Marx die semiotische Seite des Ökonomischen ignoriert. Während es aber Sahlins’ Ziel ist, eine semiotische Theorie des Ökonomischen (oder des ›Gesellschaftlichen‹ im Allgemeinen) zu entwickeln, dekonstruiert Baudrillard nicht nur Marx’ Konzept der politischen Ökonomie, sondern darüber hinaus die Semiotik, also gerade die Grundlage von Sahlins’ Projekt. »Baudrillard’s deconstruction of Marx sought to subvert not only classical political economy and Marx’s completion of it, but also the semiological code of signification which in advanced industrial society consolidates the abstract repressive processes of commodity exchange value« (Webster 1987a: 40). Baudrillard richtet sich also bereits 1972 gegen eine Konzeption, die Sahlins 1976 in Culture and Practical Reason entwirft. »In the place of Baudrillard’s transcendence of the repressive code of bourgeois totemism, Sahlins extends the semiological analysis which exposes bourgeois totemism to the codes of other cultures« (Webster 1987a: 40). Eine ›Kritik der politischen Ökonomie‹ ist für Baudrillard mit der Entwicklung einer Theorie des symbolischen Tauschs verknüpft. Was aber hat man sich unter einem ›symbolischen Tausch‹ vorzustellen? Das Symbolische hat in Baudrillards Ansatz nichts mit der Semiotik zu tun; es geht Baudrillard nicht um Symbole im Sinne motivierter Zeichen. Der symbolische Tausch steht jenseits der Semiotik und der ›Bezeichnung‹. Wenn man Sahlins’ semiotisches Projekt akzeptiert, macht Baudrillards Entwurf keinen Sinn, denn es geht Sahlins ja darum, eine Theorie zu entwickeln, die jegliche soziale Praxis als symbolisch konstituiert begreift, unabhängig von historischen Zeiten, Orten oder spezifischen Praktiken. Eine menschliche Überschreitung der symbolischen Ordnung ist im Rahmen von Sahlins’ Ansatz unmöglich. In gewisser Weise positioniert Baudrillard sein Konzept des symbolischen Tauschs als Operationsmodus vormoderner Gesellschaften, als heterogenes Konglomerat sozialer Praktiken, die außerhalb des Kapitalismus stehen (siehe Kellner 1989: 44). Der romantisierende Blick auf vormoderne Gesellschaften wird hier deutlich, und in gewisser Weise berühren sich die Ansätze von Sahlins und Baudrillard an dieser Stelle nochmals. In seiner Kritik am marxistischen Vorgehen, den Produktionsbegriff und die damit verknüpften Vorstellungen auf vormoderne Gesellschaften anzuwenden, greift Baudrillard in Le miroir de la production auf Marshall Sahlins’ Aufsatz ›La pre-

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mière société d’abondance‹ zurück (Sahlins 1968b), der ja selbst ein an Rousseau geschulten Blick auf vormoderne Gesellschaften offenbart (Baudrillard 1973: 47, 58, 70; siehe auch Hegarty 2004a: 22). Im Folgenden untersuche ich die Relevanz von Georges Batailles Konzept der ›allgemeinen Ökonomie‹ für die Entwürfe von Baudrillard und Sahlins; dadurch wird nicht nur Baudrillards Konzept des ›symbolischen Tauschs‹, sondern auch die implizite Absatzbewegung, die Sahlins von Baudrillards Position vollzieht, deutlicher. In Batailles Werk finden sich eine Vielzahl an konzeptionellen wie sozialhistorischen Einflüssen: Die Psychoanalyse Freuds spielt dort eine so große Rolle wie der Surrealismus, die Durkheim’sche Soziologie, die hegelianische Philosophie (bzw. dessen versuchte Überwindung durch Nietzsche) und die historische Erfahrung des politischen Totalitarismus. Ich konzentriere mich auf den Einfluss von Marcel Mauss’ Theorie der Gabe auf Batailles Denken; damit soll aber nicht behauptet werden, Mauss’ Ethnologie sei der wichtigste oder gar der einzig relevante Einfluss auf Batailles Werk. Ich rücke Mauss’ Ansatz an dieser Stelle in den Mittelpunkt, weil Batailles Rezeption des Mauss’schen Denkens besonders deutlich die konzeptionelle Bruchstelle zwischen Sahlins’ und Baudrillards Werk exemplifiziert. Mauss’ Werk ist insbesondere für Batailles im engeren Sinne ›ökonomische‹ Schriften bedeutsam, also für La notion de dépense (1933), L’économie à la mesure de l’univers (1946) und La part maudite (1949).14 Im Mittelpunkt dieser Arbeiten steht Batailles Entwicklung einer Theorie der ›allgemeinen Ökonomie‹, die einer ›beschränkten Ökonomie‹ gegenübersteht. Batailles Konzept der économie générale ist zunächst eng verknüpft mit seinem Verständnis der ›Heterologie‹, die wiederum vor dem Hintergrund des Surrealismus verständlich wird. Inspiriert durch die Psychoanalyse Freuds geht es den Surrealisten darum, zu einer erweiterten Vorstellung der Wirklichkeit zu gelangen, die auch Phänomene umfassen soll, die normalerweise aus dem menschlichen Leben in der Moderne ausgeschlossen zu sein scheinen. Batailles Begriff des ›Heterogenen‹ hat dem Surrealismus viel zu verdanken; »so nennt er alle Elemente, die sich der Assimilation an bürgerliche Lebensformen und an die Routinen des Alltags ebenso widersetzen, wie sie sich dem methodischen Zugriff der Wissenschaften entziehen« (Habermas 1985: 249). Das Heterogene wird aus der ›homogenen‹, also alltäglichen und geordneten Realität verdrängt. Wie Jürgen Habermas zeigt, spiegelt der Bataille’sche Begriff der Heterogenität wichtige Er14 Diese Texte sind versammelt in Bataille 1985 (›Der Begriff der Verausgabung‹, AÖ: 7-31; ›Der verfemte Teil‹, AÖ: 33-234; ›Die Ökonomie im Rahmen des Universums‹, AÖ: 289-298). Zu Bataille siehe Habermas 1985: 248-278; Hegarty 2000; Karpenstein-Eßbach 2004; Kämpf 1999; Wex 1999; Wiechens 1995. Zum konzeptionellen Verhältnis zwischen Mauss und Bataille siehe Marcel 2003 und Richman 1982. Zum konzeptionellen Zusammenhang zwischen Bataille und Baudrillard siehe Pefanis 1991. Zum konzeptionellen Zusamenhang zwischen Bataille, Baudrillard und Sahlins siehe Webster 1987a, 1987b.

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fahrungen der surrealistischen Schriftsteller und Künstler wider, »die darauf aus sind, gegen die Imperative des Nützlichen, der Normalität und der Nüchternheit die ekstatischen Kräfte des Rausches, des Traumlebens, des Triebhaften überhaupt schockierend aufzubieten, um die konventionell eingeschliffenen Wahrnehmungs- und Erlebnisweisen zu erschüttern« (Habermas 1985: 249). Strikt ablehnend steht Bataille dem Hegel’schen Konzept der Totalität gegenüber, denn in seinen Augen impliziert das Hegel’sche Werk eine Homogenisierung des Denkens und eine formale Auflösung von Widersprüchen durch Abstrahierung. Bataille sucht deshalb nach einem Standpunkt, der es möglich macht, jedem Prozess von Objektivierung und Homogenisierung zu widerstehen. Bataille findet ihn in den niederen, ›heterogenen‹ Elementen der menschlichen Existenz und in den damit verknüpften Erfahrungen des Todes und der Auflösung. Diese Praktiken sind für Bataille untrennbar mit dem verknüpft, was er ›allgemeine Ökonomie‹ nennt. Bataille geht davon aus, dass sein Konzept der Allgemeinen Ökonomie eine »Umkehrung aller ökonomischen Grundsätze« impliziert (AÖ: 50). Für Bataille führt sein Ansatz zu einer vollständigen Transformation bisheriger ökonomischer Ansätze und damit verknüpfter moralischer Einstellungen. »Der Übergang von den Perspektiven der beschränkten zu denen der allgemeinen Ökonomie wäre in der Tat eine kopernikanische Wende« (AÖ: 50). Tatsächlich steht im Mittelpunkt der ›allgemeinen Ökonomie‹ ein Prinzip, das der der ökonomischen Neoklassik diametral entgegensteht: die Verschwendung. Die Verschwendungstendenz ist dem Menschen für Bataille immanent (AÖ: 65), und auch für die Wirtschaft ist die Verschwendung von entscheidender Bedeutung. Wie Bataille in La notion de dépense betont, sind menschliche Tätigkeiten nicht zu reduzieren auf Produktion und Reproduktion; vielmehr stellt Bataille den Konsum in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen. Bataille interessiert sich aber weniger für »den für die Individuen einer Gesellschaft notwendigen Minimalverbrauch zur Erhaltung des Lebens«, sondern für einen zweiten Bereich des Konsums, in dem es um ›unproduktive Verausgabung‹ geht. Unter ›Verausgabung‹ versteht Bataille eine Form des Konsums, die weder zur Erhaltung des Lebens noch zur Fortsetzung der Produktion eingesetzt wird (AÖ: 12). Beispiele dafür sind: »Luxus, Trauerzeremonien, Kriege, Kulte, die Errichtung von Prachtbauten, Spiele, Theater, Künste, die perverse […] Sexualität« (AÖ: 12). Diese ›unproduktiven‹ Ausgaben dienen dem universell notwendigen Abbau überschüssiger Energie. »Der lebende Organismus erhält, dank des Kräftespiels der Energie auf der Erdoberfläche, grundsätzlich mehr Energie, als zur Erhaltung des Lebens notwendig ist. Die überschüssige Energie (der Reichtum) kann zum Wachstum eines Systems (zum Beispiel eines Organismus) verwendet werden. Wenn das System jedoch nicht mehr wachsen und der Energieüberschuß nicht gänzlich vom Wachstum absorbiert werden kann, muß er notwendig ohne Gewinn verlorengehen und verschwendet werden, willentlich oder nicht, in glorioser oder in katastrophischer Form« (AÖ: 45).

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Energieumläufe sind für Bataille das Ergebnis der einseitigen Einwirkung der Sonneneinstrahlung. »Die Sonnenstrahlung verursacht den Überfluß der Energie auf dem Erdball« (AÖ: 54). Auch »das Prinzip des Lebens selbst« ist durch einen ökonomischen Reduktionsmechanismus gekennzeichnet. Energie wird zunächst in der Form von Reproduktions- und Wachstumsprozessen ›sinnvoll‹ verbraucht; die überschüssige Energie muss aber notwendigerweise ›sinnlos‹ verlorengehen. Diese Gedanken überträgt Bataille auf ökonomische Prozesse und negiert damit zentrale Annahmen der ›beschränkten Ökonomie‹, also den Prinzipien der neoklassischen Orthodoxie; sein Modell der ›allgemeinen Ökonomie‹ ist ein radikaler Gegenentwurf, der sich vom neoklassischen Utilitarismus dezidiert absetzt. Batailles Modernitätskritik ist damit untrennbar mit seinem Prinzip der économie générale verwoben. Weil sich moderne Industriegesellschaften denkbar weit von den fundamentalen Grundsätzen der ›allgemeinen Ökonomie‹ entfernt haben, droht ihnen in Batailles Augen Unheil – denn jede ökonomische Tätigkeit bleibt letztlich den universellen materiellen Energiebewegungen unterworfen (AÖ: 48). Deshalb sind Gesellschaften, die sich vom Rhythmus »akkumulierender Strenge und verschwenderischer Freigebigkeit« (AÖ: 119) entfernen und unbegrenzt akkumulieren bzw. produzieren, dem Untergang geweiht – genau so wie Gesellschaften, die in erster Linie verschwenden. Durch den Prozess der Akkumulation wird der Zeitpunkt der ›Entladung‹ überschüssiger Energie zwar hinausgeschoben, doch letzten Endes lassen sich diese Energieentladungen nicht verhindern. Diese äußern sich in modernen Industriegesellschaften als nicht eingeplante Katastrophen, insbesondere als Kriege. »Grundsätzlich kommt die Kriegsgefahr von der Seite der überschüssigen Produktion: nur der Krieg kann, wenn der Export schwierig ist und sich kein anderer Ausweg zeigt, der Kunde einer überschüssigen Energie sein« (AÖ: 210). Der von Marcel Mauss analysierte Potlatsch nimmt in Batailles Bestimmung der économie générale einen zentralen Stellenwert ein; Bataille betont sogar, dass Mauss’ Essai sur le don die Untersuchungen anregte, die letztlich zur Entwicklung der Theorie der ›allgemeinen Ökonomie‹ führten (AÖ: 99).15 Der Potlatsch hat für Bataille also mehr als nur illustrativen Charakter, auch deshalb, 15 Zur Bedeutung von Mauss’ Analyse des Potlatsch für Bataille siehe Berking 1996: 85-91; Frow 1997: 114-119; Kämpf 1999; Marcel 2003; Richman 1982; Schrift 1997b: 5-6. Während Mauss den melanesischen kula ebenfalls für einen Potlatsch hält, weicht Bataille in diesem Punkt von Mauss’ Interpretation ab (siehe dazu Frow 1997: 119). – Heike Kämpf weist übrigens auf argumentative Unterschiede zwischen Batailles Schriften La notion de dépense (1933) und La part maudite (1949) hin, die ich im Folgenden nicht weiter diskutiere; ich konzentriere mich vielmehr auf La part maudite. Kämpf argumentiert, dass Bataille erst in seiner späteren Schrift die Ambivalenzen in Mauss’ Argument hinsichtlich der Unterschiede zwischen vormodernen und modernen Gesellschaften produktiv verarbeitet, währenddessen er in seinem Frühwerk einer simplen Dichotomie zwischen bedingungsloser Verausgabung im Potlatsch und produktiver Akkumulation in modernen Gesellschaften verpflichtet ist (siehe Kämpf 1999).

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weil er den Gesetzen ökonomischer Praxis zu widersprechen scheint – »wenn man unter Ökonomie einen Komplex ganz bestimmter menschlicher Tätigkeiten versteht und nicht die unreduzierbare Bewegung der allgemeinen Ökonomie« (AÖ: 99). Mauss beschreibt einen Potlatsch, der sich nicht als schlichter Gegensatz zum interessegeleiteten Handeln im Kapitalismus eignet, denn auch die reine Zerstörung von Reichtümern ist nicht frei von Eigennutz, sondern eine Demonstration von Überlegenheit; der Potlatsch etabliert eine soziale Hierarchie. An diese Überlegungen schließt Bataille an, wenn er anmerkt, dass sich der Potlatsch nicht auf ein bloßes Verluststreben reduzieren lässt (AÖ: 102), denn der »Erwerb« bleibt beim Potlatsch das letzte Ziel der handelnden Akteure (AÖ: 104): »das Geschenk wäre unsinnig […], wenn es nicht die Bedeutung eines Erwerbs hätte. Schenken wird also heißen, eine Macht erwerben. Im Geschenk vermag sich das schenkende Subjekt zu überschreiten, aber im Austausch gegen den verschenkten Gegenstand eignet sich das Subjekt die Überschreitung an: es betrachtet diese Fähigkeit, zu der es die Kraft gehabt hat, als Reichtum, als eine Macht, die es von jetzt an besitzt« (AÖ: 100).

Dennoch ist auch und gerade beim Potlatsch das ›Prinzip der Verausgabung‹ in Batailles Augen zentral. Denn obwohl das Streben nach Macht oder Rang für die Akteure im Mittelpunkt steht, geht es tatsächlich um etwas anderes. Die Akteure betrachten das Streben nach Rang als zentral, doch dies überdeckt das fundamentalere Streben nach Verausgabung. Verschwendung ist die notwendige Grundlage des Strebens nach Rang; wie es scheint, ist das Prestige, das mit der Verschwendung verknüpft ist, nicht mehr als ein Nebeneffekt der Energiebewegungen der ›allgemeinen Ökonomie‹. Daraus resultiert der Widerspruch, dass die Negation des Nutzens – also die Verschwendung – dem individuellen Erwerb von Prestige und Macht dient. Letztlich bewegt sich aber »die allgemeine Bewegung des Lebens« jenseits individueller Interessen. »Der Egoismus wird letztlich getäuscht«, denn er führt zu dem »Gesamtresultat, bei dem das individuelle Interesse sich als lächerlich erweist und die Lüge der Reichen in Wahrheit verwandelt wird« (AÖ: 107).16 Die Dynamik des Potlatsch gründet nicht in einer dem Menschen inhärenten Sehnsucht nach Prestige, sondern in der Notwendigkeit unproduktiver Verausgabung im Rahmen einer ›allgemeinen Ökonomie‹. Im Potlatsch offenbart sich zudem eine subjektive Seite, die die Sprengkraft von Batailles Ansatz offenlegt. Bataille merkt an, dass der Rang, bei dem ein Verlust in Erwerb umgewandelt wird, der Verstandestätigkeit entspricht, 16 Heike Kämpf weist darauf hin, dass Bourdieus Theorie der Praxis als eine Umkehrung von Batailles Konzept der ›allgemeinen Ökonomie‹ interpretiert werden kann. »Für Bourdieu verschleiert die Geste der Verschwendung im Gabentausch ihre ökonomische Wahrheit der Gewinnmaximierung, und für Bataille verschleiert die Bekundung der Absicht, einen Rang zu erwerben, die ökonomische Wahrheit der Verschwendung« (Kämpf 1999: 221).

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»die die Gegenstände des Denkens auf Dinge reduziert. Der Widerspruch des Potlatsch offenbart sich […] nicht nur in der ganzen Geschichte, sondern auch, und noch deutlicher, in den Denkvorgängen. Ganz allgemein suchen wir im Opfer oder im Potlatsch, in der Aktion (in der Geschichte) oder in der Kontemplation (im Denken) immer jenen Schatten – den wir per definitionem nicht greifen können –, den wir hilflos Poesie, Tiefe oder Intimität der Leidenschaft nennen. Wir werden zwangsläufig getäuscht, weil wir diesen Schatten greifen wollen« (AÖ: 106).

Diese Bemerkungen verweisen auf Batailles Theorie des menschlichen Selbstbewusstseins, sein Konzept der ›Souveränität‹. Bataille setzt der Transzendenz, die von einem Unterschied zwischen Subjekt und Objekt ausgeht, die Immanenz entgegen, die die Trennung zwischen Gegenständen und Bewusstsein überwindet. Das ›souveräne‹ Subjekt konstituiert sich nicht durch die Wahrnehmung von Gegenständen oder seiner selbst; vielmehr ist das Selbstbewusstsein »ein Bewußtsein, das nichts mehr zum Gegenstand hat« (AÖ: 233). Souveränität bedeutet, »den Punkt zu erreichen, an dem das Bewußtsein nicht mehr Bewußtsein von etwas ist« (AÖ: 233). Das souveräne Bewusstsein ist von allen Bestimmungen und Inhalten befreit, es ist gewissermaßen ›leer‹. Erotische Erfahrungen, aber auch extreme Schmerzen sind Beispiele für Grenzüberschreitungen, die für einen begrenzten Zeitraum Zustände konstituieren, die der Souveränität nahekommen. Für ein Subjekt, das nicht souverän ist, ist der Zustand der Souveränität aber weder denkbar noch darstellbar. »Ich behaupte, daß sogar der Wahnsinn nur eine schwache Vorstellung von dem vermittelt, was das freie, überhaupt nicht der realen Ordnung unterworfene, nur vom Augenblick erfüllte Subjekt wäre« (AÖ: 8889). Souveränität und Zerstörung sind untrennbar miteinander verknüpft. Die Menschenopfer der Azteken sind für Bataille ein besonders drastisches Beispiel für unproduktive Verausgabung, doch sie sind zugleich Ausdruck der unbewussten Versuche des Menschen, der profanen Welt der Dinge zu entkommen. »In seinen eigenartigen Mythen, seinen grausamen Riten ist der Mensch […] auf der Suche nach einer verlorenen Intimität« (AÖ: 88). Diese Suche ist für Bataille die Religion, in der es darum geht, der realen Ordnung, also der Welt der Dinge, etwas zu entreißen und der göttlichen Ordnung zurückzugeben. Bataille hat sich damit weit entfernt von Mauss’ rationalistischem Konzept der Gabe (Marcel 2003: 142).17 In welcher konzeptionellen Beziehung stehen nun die Arbeiten von Bataille auf der einen und Sahlins sowie Baudrillard auf der anderen Seite? Steven Webster sieht den genealogischen Zusammenhang wie folgt: »Sahlins’ and Baudrillard’s critiques of practical reason and of Marx derive directly from Georges Bataille’s critique of bourgeois ideology […] Bataille contends that the paramount human freedom of sacrifice and death shows that the essence of being human is not the activity of production but that of absolute consumption or nonproductive 17 Für eine ethnographisch inspirierte Kritik an Batailles Interpretation des Potlatsch siehe Weiner 1992: 40-42.

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expenditure. This argument was the crucial inversion of Marxist theory which, since the late 1960s, became influential in semiology and deconstructionism, and, subsequently, in Sahlins[’] structuralist anthropology« (Webster 1987a: 45, 47).

Batailles antiutilitaristischer Ansatz hat wohl tatsächlich eine Rolle gespielt in der Entwicklung von Sahlins’ strukturalem Kulturalismus. Sahlins rezipiert Bataille nicht direkt – zumindest geht er in Culture and Practical Reason nicht auf Bataille ein –, doch Bataille ist für Sahlins zumindest über die Vermittlung durch Baudrillards Werk von Bedeutung. Batailles Rolle in der werkgeschichtlichen Entwicklung von Sahlins’ Ansatz sollte gleichwohl nicht überschätzt werden, denn die konzeptionellen Wurzeln von Sahlins’ Utilitarismuskritik liegen, wie ich in Kapitel II herausgearbeitet habe, in Sahlins’ Rezeption des Polanyi’schen Substantivismus und der evolutionistischen Ethnologie Leslie A. Whites; Sahlins richtet sich seit den 1950er Jahren gegen den ökonomischen Utilitarismus. In der Formalismus-Substantivismus-Kontroverse rekonzeptualisiert er diese Kritik: In ›The Original Affluent Society‹ (SAE: 1-39) und ›The Spirit of the Gift‹ (SAE: 149-183) finden sich Ansätze für die erst mit Culture and Practical Reason vollzogene kulturalistische Wende. Sahlins’ semiotischer Ansatz ist eine Neuformulierung seiner bereits früher vertretenen Kritik am Utilitarismus, und obwohl Batailles Ansatz über den Umweg von Baudrillards Denken Sahlins beeinflusst hat, liegen hier wahrscheinlich nicht die Wurzeln von Sahlins’ Antiutilitarismus. Sahlins teilt keineswegs die Intention Batailles und Baudrillards, das kapitalistische System radikal zu ›überschreiten‹; seine Utilitarismuskritik nimmt andere Formen an. In Stone Age Economics interpretiert Sahlins die Gabe als einen ›primitiven Gesellschaftsvertrag‹; in Culture and Practical Reason radikalisiert er seine eigene frühere Utilitarismuskritik, weil nun in Sahlins’ Augen das Konzept des ›primitiven Gesellschaftsvertrags‹ selbst einen utilitaristischen Kern besitzt. Sahlins ist allerdings weiterhin von Mauss beeinflusst, doch nun ist es weniger Mauss’ von Sahlins in Stone Age Economics rekonstruierte politische Theorie, die eine entscheidende Rolle für Sahlins’ Ansatz spielt – tatsächlich steht er dieser politischen Theorie in Culture and Practical Reason ja sehr skeptisch gegenüber –, sondern die strukturale Radikalisierung des Mauss’schen Ansatzes durch Claude Lévi-Strauss sowie die strukturale Linguistik von Ferdinand de Saussure. Sahlins entwickelt in Culture and Practical Reason eine Kulturtheorie, die jeder sozialen Praxis die symbolische Organisation der Wirklichkeit zu Grunde legt. Bataille und Baudrillard konstituieren eine davon abweichende Interpretationslinie des Mauss’schen Denkens, in der das ›Irrationale‹, der ›Exzess‹ und die ›Überschreitung‹ als Alternative zum kapitalistischen Utilitarismus in den Mittelpunkt gerückt werden. Wie Julian Pefanis herausgearbeitet hat, lässt sich Baudrillards Konzept des symbolischen Tauschs als eine Umformulierung von Batailles Ansatz der ›allgemeinen Ökonomie‹ betrachten (Pefanis 1991: 77; siehe auch Hegarty 2004a: 152-153). In der Interpretationslinie von Mauss über Bataille zu Baudrillard wird also letztlich Sahlins’ strukturaler Kulturalismus in

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Richtung eines symbolischen Tauschs überschritten, der jenseits aller semiotischen ›Signifikation‹ und damit (aus Baudrillards Sicht) zugleich jenseits der repressiven kapitalistischen Logik liegt. Baudrillards radikale Kritik an der Semiotik hat übrigens auch eine erkenntnistheoretische Konsequenz, die nicht nur für Baudrillards weitere Werkentwicklung von entscheidender Bedeutung ist, sondern auch eine weitere Kritik an Sahlins’ Projekt darstellt. Sahlins folgt Benvenistes Auffassung, dass die eigentliche Arbitrarität nicht die ist zwischen Signifikant und Signifikat, sondern zwischen Zeichen und Referent (KPV: 95). Baudrillard bestreitet diesen Zusammenhang, denn seiner Auffassung nach impliziert eine Trennung zwischen Zeichen und Referenz eine metaphysische Repräsentation des Referenten (siehe auch Genosko 1994: 38). Baudrillard sieht demzufolge keine Trennung zwischen Zeichen und Referent, sondern zwischen Signifikant auf der einen und Signifikat und Referent auf der anderen Seite. »Baudrillard’s position on the status of the referent rests on his reversal of the ontological and chronological priority usually afforded to a field of referents anterior to the signs which signify them. If this order collapses, one may claim that signs become the means of presenting and representing referents; the referent is an effect of a creative sign. What is important in this reversal is that the referent is signified or described as if it were external and anterior to the sign system from which it has issued […] For Baudrillard, as if is simulacral« (Genosko 1994: 40).

Damit erfüllt der Referent in Baudrillards Augen eine vergleichbare Funktion wie der Gebrauchswert – beide Konzepte rationalisieren und legitimieren das existierende System der politischen Ökonomie. »Like use value, the function of the referent is to act as the guarantee – the content, alibi, and rationale for the respective systems which are structurally and logically weighted toward exchange value and the signifier« (Pefanis 1991: 76). Der Funktion der ›Bedürfnisse‹, zwischen Subjekt und Objekt zu vermitteln, entspricht der metaphysische Begriff der ›Motivation‹, der zwischen Zeichen und Realität vermittelt. Die Semiotik steht damit für Baudrillard in einer komplementären Beziehung zur politischen Ökonomie, maskiert dies allerdings, indem sie ihre eigenen Aussagen als wissenschaftlich und objektiv erklärt. In Pour une critique ist damit bereits Baudrillards späteres ›postmodernes‹ Werk über das Verschwinden des ›Realen‹ angelegt (siehe Hegarty 2004b: 203). Obwohl Sahlins in Culture and Practical Reason Baudrillards Pour une critique zitiert, scheint er diese radikale Kritik an der Semiotik zu ignorieren – zumindest spielt sie keine Rolle für Sahlins’ weitere Werkentwicklung, denn Sahlins geht es in seinen Arbeiten nach Culture and Practical Reason nicht darum, den Strukturalismus erkenntnistheoretisch zu destabilisieren, sondern ihn zu historisieren, ihn also für die Analyse kultureller Wandlungsprozesse fruchtbar zu machen. Die erkenntnis- und gegenstandstheoretische Begrifflichkeit, die Sahlins in Culture and Practical Reason, The Use

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and Abuse of Biology und ›Colors and Cultures‹ entwickelt, bleibt auch in Sahlins’ historisch-anthropologischem Spätwerk gültig. Obgleich sich die poststrukturale Radikalisierung der strukturalen Linguistik bei Baudrillard und der strukturale Kulturalismus Sahlins’ für einen kurzen historischen Moment berühren, entwickeln sich beide Unternehmen in konträren konzeptuellen Universen weiter. Deshalb halte ich auch Steven Websters These, Sahlins’ Ansatz sei ›poststrukturalistisch‹, weil Baudrillards Ansatz eine wichtige Grundlage für Sahlins’ Entwurf sei, für einen Irrtum. Webster argumentiert übrigens darüber hinaus, dass Sahlins nicht nur von Baudrillard beeinflusst wurde, sondern auch von Roland Barthes (Webster 1987b: 52) und sich Barthes’ späteres Werk nicht für eine Analyse der sozialen Realität eigne. Webster hat Recht, dass Sahlins Gebrauch von Barthes’ Arbeiten macht, und darüber hinaus gibt es tatsächlich bedeutende erkenntnistheoretische Probleme, Barthes’ Spätwerk für empirische Analysen brauchbar zu machen. Allerdings ließe sich auch hier zeigen, dass sich Sahlins’ historisch-anthropologisches Werk nach 1976 in eine andere Richtung weiterentwickelt hat als das von Barthes. Die fundamentalen Unterschiede zwischen den Ansätzen von Bataille und Baudrillard auf der einen und Sahlins auf der anderen Seite zeigen sich auch in Sahlins’ Utilitarismuskritik in Culture and Practical Reason, die sich deutlich von Batailles und Baudrillards Kritik am Utilitarismus unterscheidet. Der hier von Sahlins entworfene Anti-Utilitarismus ist weitreichender und allgemeiner als das anti-utilitaristische Projekt seiner Wirtschaftsethnologie, weil die ökonomische Neoklassik nun nur noch als eine unter mehreren utilitaristischen Theorieströmungen erscheint. Dies ist der Schlüssel dafür, warum Culture and Practical Reason kein im engeren Sinne wirtschaftsethnologisches Werk ist. Sahlins verfolgt nicht mehr das Ziel, eine anthropological economics zu entwickeln, da in seinen Augen sein früherer Versuch, ein solches Konzept vorzulegen, selbst utilitaristisch ist. Sahlins ersetzt die Kategorie ›Ökonomie‹, die für ihn noch in Stone Age Economics von besonderer Bedeutung ist, durch das Konzept der ›Kultur‹. Sahlins scheint sogar in der Disziplin der Wirtschaftsethnologie im Allgemeinen keine Zukunft mehr zu sehen: »Marshall [Sahlins] has told me often enough that he thinks economic anthropology is now all washed up« (Hart 2000: 1022).18 Sowohl der Mauss’sche Substantivismus als auch der neoklassische Formalismus sind für Sahlins nurmehr zwei unterschiedliche Versionen ›utilitaristischer Vernunft‹, die zugunsten eines an Saussure anschließenden Kulturalismus überwunden werden müssen. Dass Sahlins damit der konzeptionellen Komplexität der Wirtschaftsethnologie nicht gerecht wird, steht außer Frage; doch aus einer theorieinternen Perspektive erscheint Sahlins’ Bewegung von einer wirtschaftsethnologischen zu einer kulturalistischen Kritik des Utilitarismus folgerichtig. 18 Komplementär dazu argumentiert Axel T. Paul, dass Sahlins die Entwicklung einer universalen Theorie des Wirtschaftens in Culture and Practical Reason für unmöglich hält (Paul 1999: 15).

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Richard Wilk ist allerdings der Ansicht, dass Culture and Practical Reason die Existenz einer eigenständigen Wirtschaftsethnologie gefährdet. »If we carry Sahlins’s argument to its logical conclusion, there really is no such thing as economic anthropology. Instead, there are general principles of cultural order and symbolic process that can be extended to any kind of human activity« (Wilk 1996: 127). Culture and Practical Reason kann zumindest auch als ein Beitrag zur Wirtschaftsethnologie gelesen werden; Sahlins’ Aussagen über ökonomische Prozesse sind nun allerdings Teil einer allgemeinen Kulturtheorie und nicht länger konstitutiv für die Entwicklung einer anthropological economics. Wenn es das Ziel einer Handlungs- oder einer Kulturtheorie ist, allgemeine Aussagen über menschliche Praktiken zu treffen, muss diese Theorie auch in der Lage sein, ökonomische Praktiken zu systematisieren. Dies hat nicht zwangsläufig die Auflösung der Wirtschaftsethnologie als wissenschaftliche Disziplin zur Folge, doch diese kann nun nicht mehr aus der Annahme eines ökonomischen Handlungsmodells oder einer spezifisch ökonomischen Funktionalität, die sich in der Form ökonomischer Institutionen kristallisiert, abgeleitet werden. Die konzeptionellen Grundlagen der Wirtschaftsethnologie sind aus der Perspektive von Sahlins’ Kulturtheorie prekär, denn welche Handlungsweisen, gesellschaftlichen Sektoren oder Institutionen als ›ökonomisch‹ gelten und welche Bedeutung das ›Ökonomische‹ überhaupt haben soll, sind offenbar kulturspezifisch und Teil des jeweils vorherrschenden local knowledge. Die Analysen in Culture and Practical Reason sollten letztlich nicht daran gemessen werden, ob es Sahlins gelingt, ein kohärentes Paradigma des Wirtschaftens zu entwickeln, denn Sahlins’ Ziel ist ja die Ausarbeitung eines antiutilitaristischen Theorieansatzes. Wie schwer es jedoch sein mag, dem von Sahlins kritisierten Utilitarismus zu entkommen, zeigt sich bereits bei George Batailles Utilitarismuskritik. Bataille kritisiert zunächst Ansätze, die das Prinzip des Nutzens in den Mittelpunkt der Analyse rücken, doch das, was er ›unproduktive Verausgabung‹ nennt, scheint den Nutzen zu haben, soziale Gemeinschaften zu stabilisieren (siehe Kämpf 1999: 221). Zudem ist Batailles Werk selbst ein Argument gegen seine These der Dominanz unproduktiver Verausgabung, denn wenn Bataille Recht hat, konstituiert gerade sein eigenes Werk einen bedeutenden Erkenntnisfortschritt und hat demzufolge einen ›Nutzen‹, dessen Dominanz Bataille kritisiert (Hegarty 2000: 41). In diesem Sinne ist auch Culture and Practical Reason ein Beispiel utilitaristischer Theoriebildung, denn Sahlins’ kulturalistischer Theorieentwurf verfolgt das Ziel, eine adäquatere Repräsentation der sozialen Welt bereitzustellen als konkurrierende Ansätze. Ich halte diese Kritik allerdings nicht für weiterführend, denn bereits Batailles Werk zeigt, dass sich kein wissenschaftliches Werk einer utilitaristischen Motivation entziehen kann; zudem geht Sahlins’ Utilitarismuskritik nicht so weit wie die von Bataille, denn es geht Sahlins nicht um die Skizzierung eines Raums außerhalb des Kapitalismus, sondern um eine plausiblere Konzeptualisierung menschlichen Handelns. Aus der Perspektive von Batailles und Baudrillards Theorieentwürfen mag dies

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bereits als Kapitulation vor einer allumfassenden kapitalistischen Logik erscheinen, die Sahlins’ eigenes Werk nur fortführt, doch Sahlins’ Utilitarismuskritik ist zunächst nicht in demselben Maße widersprüchlich wie die von Bataille. Wer von Culture and Practical Reason allerdings eine Kritik der Konsumpraktiken in modernen Gesellschaften erwartet, wird enttäuscht. Zwar kann ›La pensée bourgeoise‹ dahingehend gelesen werden, dass Sahlins die von ihm unterstellte Selbstverständlichkeit, mit der ›wir‹ (wobei dieses ›wir‹ in erster Linie die ›amerikanische Kultur‹ bezeichnet) konsumieren, kulturrelativistisch unterlaufen will: Der teilweise exzessive Konsum in modernen Gesellschaften ist ein kulturspezifisches Charakteristikum, das die moderne Gesellschaft im Vergleich zu anderen Gesellschaften als geradezu exotisch erscheinen lässt. Aus der Perspektive einer ›kritischen‹ Theorie mutet Sahlins’ Argumentation aber wie ein Plädoyer für einen universalistischen Szientismus an, der Marx’ einseitigen Materialismus durch einen ebenso einseitigen Kulturalismus ersetzt, das emanzipatorische Potenzial sozialer Praxis aber ignoriert (O’Laughlin 1978). Diese Kritik verfehlt zunächst Sahlins’ Intention, denn es geht ihm ja nicht darum, eine ›kritische‹ Gesellschaftstheorie zu entwerfen, sondern einen kulturalistischen Ansatz, der die symbolische Organisation der Erfahrung in den Mittelpunkt rückt. Allerdings scheint sich Sahlins’ Kritik am Utilitarismus letztlich selbst den Boden unter den Füßen zu entziehen. Kritiker, die darauf hinweisen, Sahlins’ Analyse ignoriere das emanzipatorische Potenzial menschlicher Handlungsfähigkeit, weisen nämlich berechtigterweise darauf hin, dass die These, in der ›modernen‹ Gesellschaft sei es der Konsum, der identitätsstiftend sei, nicht nur als radikale Kritik an der ökonomischen Neoklassik und der Soziobiologie gelesen werden kann, sondern auch als eine bloße Apologetik des ›real existierenden‹ Kapitalismus. Einerseits möchte Sahlins eine in seinen Augen zentrale definitorische Grundlage des Kapitalismus – eben den Utilitarismus – kritisieren und ihn durch einen kulturalistischen Ansatz ersetzen. Andererseits entsteht in Sahlins’ Analyse des Konsums ein glorifiziertes Bild des Kapitalismus, auf dessen Grundlage es rätselhaft erscheinen muss, warum man kapitalistische Praktiken kritisch hinterfragen sollte. »Sahlins […], eager to show that in consuming people are engaged in making symbolic statements, ended up accepting the advertising industry’s view of itself as doing no more than helping free consumers to complete their symbolic projects« (Ferguson 1988: 497).19

19 Für Richard Harland liegt das Problem in der Anwendung des Strukturalismus auf die eigene Gesellschaft, denn das Prinzip der harmonischen sozialen Integration, das dem Strukturalismus zu Grunde liege, unterstütze nun den Kapitalismus und das System des Konsums (Harland 1987: 123). Ein ähnliches Argument wie das von Ferguson, wenn auch aus einer anderen Perspektive, bringt Philip Mirowski vor. Sahlins’ These, dass in westlichen Gesellschaften die Ökonomie das Zentrum ›symbolischer Produktion‹ sei, »resembled nothing so much as the shift within the neoclassical orthodoxy itself from stress on static allocation to recasting the economic agent as an information processor« (Mirowski 2000: 929).

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Tatsächlich scheint das Bild, das Sahlins vom Kapitalismus in modernen Gesellschaften entwirft, in seiner Einseitigkeit nicht weiterführend zu sein. Dennoch sollte beachtet werden, dass es Sahlins im letzten Kapitel von Culture and Practical Reason weniger um eine ausgefeilte kulturalistische Analyse moderner Gesellschaften per se geht, sondern um die Demonstration, dass eine solche Analyse prinzipiell möglich, dass also auch die moderne US-amerikanische Gesellschaft eine ›Kultur‹ ist. Darüber hinaus geht es Sahlins zumindest nicht in erster Linie um eine Kritik des Kapitalismus im Allgemeinen, sondern um eine Kritik an der leichtfertigen Übertragung westlicher Ideen (wie die der individuellen Nutzenmaximierung) auf nicht-westliche Kulturen. Eine grundsätzliche Kritik am Kapitalismus und eine Kritik am Ethnozentrismus können durchaus Hand in Hand gehen, und auch Sahlins ist dieser Kopplung in einigen seiner Arbeiten nahegekommen, am ehesten vielleicht in seinem Aufsatz über die ›ursprüngliche Überflussgesellschaft‹. Allerdings steht in Culture and Practical Reason die Kritik an ethnozentrischen Argumentationsfiguren im Vordergrund, nicht eine Kritik des Kapitalismus. Sahlins’ Analyse des Kapitalismus in Culture and Practical Reason unterscheidet sich damit deutlich von seinen kritischen Anmerkungen über die kapitalistische Moderne in ›The Original Affluent Society‹.

4. Die Indigenisierung der Moderne (I): translocal societies Vor dem Hintergrund der ethnologischen Kritik am Kulturbegriff, die spätestens seit den 1980er Jahren immer größer wird, könnte man zu dem Ergebnis gelangen, dass der Holismus, den Sahlins in Culture and Practical Reason vertritt, den Komplexitäten kultureller Globalisierungsprozesse nicht gerecht wird. Welche Erkenntnissgewinne kann eine Lektüre von Culture and Practical Reason heute noch haben? Um dieser Frage nachzugehen, versuche ich zunächst die Grundcharakteristika von Sahlins’ kulturellem Holismus herauszuarbeiten; im Anschluss daran stelle ich die ethnologische Kritik am kulturellen Holismus vor. Dabei beschränke ich mich weitgehend auf die Arbeiten von Lila Abu-Lughod (1991) und Arjun Appadurai (1996). Diese von mir diskutierten Arbeiten erscheinen zwar bereits in den 1990er Jahren, gehören aber bis heute zu den wichtigsten ethnologischen Auseinandersetzungen mit dem kulturellen Holismus.20 Ich versuche nicht nur die Unterschiede zwischen den Ansätzen von Sahlins, Abu-Lughod und Appadurai herauszuarbeiten, sondern auch auf einige gemeinsame konzeptionelle Grundlagen aufmerksam zu machen. Schließlich stelle ich Sahlins’ neuere Analyse zur Bildung von multilocal cultures vor und setze sie in Beziehung zu Appadurais Entwurf der global flows. 20 Zu Abu-Lughod siehe Keane 2003: 234-237, zu Appadurai siehe Kreff 2003: 127146.

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Kritik des kulturellen Holismus: Von Sahlins zu Abu-Lughod In Culture and Practical Reason entwirft Sahlins einen Ansatz, der nicht wie in Stone Age Economics die Totalität der Ökonomie in den Mittelpunkt rückt, sondern die Kategorie Kultur. ›Totalität‹ meint an dieser Stelle nicht, dass es in Sahlins’ Augen nichts anderes als Kultur gäbe, dass also letztlich nur die symbolische Organisation der Wirklichkeit ›real‹ sei. Sahlins’ Konzept von Kultur ist vielmehr total, weil die menschliche Lebenswirklichkeit in all ihren Ausprägungen durch Kultur konstituiert wird.21 Menschen haben in Sahlins’ Augen keinen direkten Zugang zur ›Realität‹; die kognitive Grundlage von Wahrnehmungen und Bewertungen ist ein miteinander verknüpftes Netz an Symbolen, das Sahlins ›Kultur‹ nennt. Die implizite Folge von Sahlins’ Ansatz ist, dass menschliche 21 Der Begriff des ›Holismus‹ fällt nicht mit dem Begriff der ›Totalität‹ zusammen, wenn auch der Begriff der Totalität zumeist eine Idee der Ganzheit impliziert. Die darüber hinaus gehenden philosophischen Implikationen, die mit dem Begriff der Totalität verknüpft sind, sind zu komplex, um sie an dieser Stelle zu diskutieren (für eine Diskussion des Konzepts der Totalität im Marxismus siehe Jay 1984). – In Sahlins’ Werk findet sich ein von der hegelianischen bzw. marxistischen Tradition abweichendes Konzept der Totalität: die ›totale soziale Tatsache‹ von Marcel Mauss. In Sahlins’ Wirtschaftsethnologie ist der Holismus ein wichtiger Aspekt dieses Konzepts der Totalität, doch die von Sahlins rezipierte Mauss’sche Totalität reduziert sich nicht auf einen bloßen Holismus. Folgende Aspekte sind hier von Interesse: Erstens stellt Sahlins die These auf, dass sich in ›primitiven‹ Gesellschaften noch kein ökonomisches Subsystem gebildet hat. Die bereits bei Mauss analysierten ›totalen sozialen Tatsachen‹ stehen auch in Sahlins’ Ansatz im Mittelpunkt, denn die von Sahlins untersuchten Austauschbeziehungen transzendieren ökonomische, politische und religiöse Motive bzw. Gesellschaftsbereiche. Eine soziale Tatsache ist total, wenn sie gesellschaftliche Funktionsbereiche, die den Angehörigen moderner Gesellschaften als selbstverständlich erscheinen, transzendiert. Zweitens stellt Sahlins die These auf, dass manche sozialen Prozesse für das Überleben von Gesellschaften von entscheidender Bedeutung sind, insbesondere die Gabe als ›primitiver Gesellschaftsvertrag‹. Damit ist nicht gemeint, dass die Gabe das Ganze der Gesellschaft erfasst, sondern dass sie für eine ganze Gesellschaft von Bedeutung sein kann, weil sie in Sahlins’ Augen dabei helfen kann, einen Krieg zu vermeiden. Drittens gibt es in Stone Age Economics tatsächlich Prozesse, die das Ganze der Gesellschaft und auch der Beziehung zwischen Gesellschaften erfassen und letztlich das Soziale erst zu konstituieren scheinen; gemeint ist natürlich das Konzept der Reziprozität. Zwar ist nicht jeder Prozess der Reziprozität gesellschaftsumspannend, doch Gesellschaft konstituiert sich in und durch Prozesse der Reziprozität. Dies bedeutet zwar nicht, dass Sahlins beispielsweise Produktionsprozesse vernachlässigt, doch er argumentiert, dass die ›häusliche Produktionsweise‹ eine Gefahr für den sozialen Zusammenhalt darstellt. Soziale Kohäsion muss also andere Quellen haben, und Sahlins findet diese in Reziprozitätsbeziehungen. Der vierte Aspekt der Totalität in Stone Age Economics ist ein Holismus im engeren Sinne. Das neoklassische Modell des economic man impliziert in Sahlins’ Augen einen Naturalismus, da die Handlungsweisen von Akteuren in der Neoklassik nicht auf soziale Zusammenhänge zurückgeführt werden können (Sahlins 1969: 19-20). Eine Gesellschaft ist in Sahlins’ Augen nicht die bloße Summe nutzenmaximierender Individuen, sondern eine institutionelle Ordnung, die die Form individueller Bedürfnisse bestimmt.

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Handlungsweisen immer kulturell sind, da der Mensch niemals außerhalb von Kultur stehen kann. Zudem geht Sahlins von der Begrenztheit von Kultur aus; demzufolge können einzelne Kulturen mit jeweils unterschiedlichen Grundcharakteristika voneinander differenziert werden. Die Analysen von Stone Age Economics und Culture and Practical Reason stimmen zunächst darin überein, dass sich in ›primitiven‹ Gesellschaften noch kein eigenständiger ökonomischer Bereich herausgebildet hat. Der konzeptionelle Unterschied zwischen Sahlins’ Wirtschaftsethnologie und seinem Kulturalismus liegt darin, dass in Sahlins’ Kulturalismus jegliches Handeln in allen menschlichen Gruppen in die Kategorie ›Kultur‹ eingebettet ist. Aus der Perspektive von Culture and Practical Reason transzendieren Reziprozitätsbeziehungen ökonomische, politische und religiöse Bereiche, weil alles Handeln immer bereits kulturell ist. Hinsichtlich der Analyse moderner Gesellschaften ist das von Sahlins in Culture and Practical Reason entworfene Konzept unter anderem eine Kritik an der substantivistischen Position Polanyis, dass sich in modernen Gesellschaften ein autonomes kapitalistisches Subsystem ausdifferenziert hat. Moderne Gesellschaften können in Sahlins’ Augen nicht als Konglomerat ausdifferenzierter Subsysteme aufgefasst werden. Vielmehr werden alle Gesellschaften durch Kultur konstituiert. Darüber hinaus geht Sahlins auch in Culture and Practical Reason davon aus, dass es soziale Handlungen bzw. Handlungsbereiche gibt, die in dem Sinne ›total‹ sind, dass sie für das Ganze einer Kultur eine bedeutende Rolle spielen oder sogar das Ganze einer Kultur umspannen. Dies gilt insbesondere für die Ökonomie in modernen Gesellschaften. Die theoriestrategische Vorentscheidung, die Ökonomie nicht als ein ›entbettetes‹ Subsystem der modernen Gesellschaft zu deuten, scheint zwar zunächst die Konsequenz zu haben, die Bedeutung des Ökonomischen für die moderne Gesellschaft zu relativieren, weil es ja nicht mehr möglich ist, einen im engeren Sinne ›ökonomischen‹ Bereich sozialer Praktiken zu isolieren; das Fundament jeder Gesellschaft und aller sozialen Praktiken (also auch der im engeren Sinne ›ökonomischen‹) ist die symbolische Organisation der Wirklichkeit. Tatsächlich hat die Ökonomie in Sahlins’ Ansatz aber eine überragende Bedeutung, denn der dominierende Ort der ›symbolischen Produktion‹ liegt in der Güterproduktion, und der Konsum spielt dementsprechend eine dominierende Rolle in der individuellen Identitätsbildung. Während Sahlins’ Wirtschaftsethnologie in Stone Age Economics das Konzept der Ökonomie in eine Theorie sozialer Kohäsion überführt, löst Sahlins’ Konzept der Ökonomie in modernen Gesellschaften in Culture and Practical Reason ökonomische Praktiken in einen identitätsstiftenden Prozess auf, der die symbolische Konstitution von Gesellschaft stabilisiert. Das Erkenntnisinteresse von Culture and Practical Reason hat sich im Vergleich zu Sahlins’ Wirtschaftsethnologie damit erweitert. Es geht nicht mehr darum, eine anthropological economics für ›primitive‹ Gesellschaften zu entwickeln, sondern eine ethnologische Theorie, die für alle Gesellschaften und alle Menschen gleichermaßen zutrifft. Sahlins zieht den Gegensatz zwischen ›primitiv‹ und ›modern‹ zwar nicht ein, doch er argumentiert, dass

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sein Kulturalismus auf alle Gesellschaften gleichermaßen angewandt werden kann. Menschliche Gruppierungen werden nicht mehr durch Reziprozitätsbeziehungen konstituiert, sondern durch die Kategorie Kultur. Sahlins’ These, dass Verwandtschaftsbeziehungen in vormodernen Kulturen die wichtigsten Bereiche der Symbolproduktion sind, ist eine kulturtheoretische Umformulierung von Sahlins’ in ›On the Sociology of Primitive Exchange‹ (SAE: 185-275) entwickeltem Konzept der generalisierten Reziprozität. Während Sahlins aber in diesem Aufsatz die symbolische Organisation der Wirklichkeit weitgehend ignoriert, bettet Sahlins in Culture and Practical Reason Reziprozitätsbeziehungen in die allumfassende und holistische Kategorie Kultur ein. Sahlins’ holistisches Konzept scheint vor dem Hintergrund der ethnologischen Kritik am Kulturbegriff zunehmend anachronistisch zu sein, denn spätestens seit den 1980er Jahren mehren sich die Stimmen in der Ethnologie, die dazu raten, auf den Kulturbegriff zu verzichten oder ihn zumindest neu zu konzeptualisieren. Beispielsweise argumentiert Joel Kahn, die postmodernen Kritiken am Kulturbegriff »take us so far away from the classical concept of culture, that it would be far better for the latter to be quietly laid to rest« (Kahn 1989: 16-17), und er empfiehlt, nicht nur auf den Begriff race zu verzichten, sondern auch auf den Begriff culture. James Clifford merkt zwar an, dass er ohne den Begriff Kultur nicht arbeiten könne, schränkt dies aber wie folgt ein: »It may be true that the culture concept has served its time. Perhaps, following Foucault, it should be replaced by a vision of powerful discursive formations globally and strategically employed. Such entities would at least no longer be closely tied to notions of organic unity, traditional continuity, and the enduring grounds of language and locale. But however the culture concept is finally transcended, it should, I think, be replaced by some set of relations that preserves the concept’s differential and relativist functions« (Clifford 1988: 274).

Im Gegensatz dazu lehnt Lila Abu-Lughod in ihrem Artikel ›Writing Against Culture‹ diese differenzierende Funktion des Kulturbegriffs gerade ab, weil sie eine Hierarchie zwischen dem Westen und nicht-westlichen Gesellschaften impliziere. »›[C]ulture‹ operates in anthropological discourse to enforce separations that inevitably carry a sense of hierarchy. Therefore, anthropologists should now pursue […] a variety of strategies for writing against culture« (Abu-Lughod 1991: 137-138). Abu-Lughod argumentiert, dass die Kategorie Kultur bestimmender Teil eines ethnologischen Diskurses ist, der zu einem Verständnis anderer sozialer Gruppen nicht beiträgt, weil er diese exotisiert. »Culture is the essential tool for making other. As a professional discourse that elaborates on the meaning of culture in order to account for, explain, and understand cultural difference, anthropology also helps construct, produce, and maintain it« (AbuLughod 1991: 143). Abu-Lughod kritisiert dementsprechend ethnologische Kulturtheorien für deren explizite oder implizite Annahme, dass es voneinander un-

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terschiedene Kulturen gäbe, die in sich homogen, geschlossen und statisch seien. Sie hat dabei wohl insbesondere Clifford Geertz’ ›Kultur-als-Text‹-Theorie im Auge (Geertz 1973), doch ihre Kritik erscheint gleichermaßen anwendbar auf Sahlins’ Kulturalismus. In Abu-Lughods Augen muss eine Ethnologie, die das Problem des othering vermeiden will, gegen dieses Kulturverständnis gewissermaßen ›anschreiben‹. Sie unterscheidet drei in ihren Augen weiterführende Möglichkeiten, den von ihr kritisierten kulturalistischen Essentialismus zu vermeiden. Erstens plädiert sie für die Hinwendung zu ethnographischen Forschungen, die nicht den Kulturbegriff in den Mittelpunkt rücken, sondern die Konzepte ›Praxis‹ und ›Diskurs‹, wie sie von Pierre Bourdieu und Michel Foucault entwickelt worden sind; diese Konzepte vermeiden sowohl den Idealismus des Kulturkonzepts als auch die Vorstellung der Abgegrenztheit von Kulturen (Abu-Lughod 1991: 148). Zweitens erscheint für sie die Idee der ›Verflechtung‹ [connection] besonders wichtig. »An important focus should be the various connections and interconnections, historical and contemporary, between a community and the anthropologist working there and writing about it, not to mention the world to which he or she belongs and which enables him or her to be in that particular place studying that group« (AbuLughod 1991: 148). Für Abu-Lughod kann es keine generelle Antwort auf die Frage nach der Natur dieser Verknüpfungen geben; diese Fragen »should be asked about and answered by tracing through specific situations, configurations, and histories« (Abu-Lughod 1991: 148). Zu den von Abu-Lughod in den Vordergrund gerückten Verknüpfungen zählen auch weltgeschichtliche Entwicklungen wie die europäische Expansion, ohne deren Kenntnis eine Analyse sozialer Gruppen nicht mehr möglich erscheint. Drittens plädiert Abu-Lughod für die Untersuchung des Partikularen. Für Abu-Lughod gibt es dabei zwei Gründe, sich Generalisierungen zu enthalten. Auf der einen Seite impliziert ein Diskurs, der ›Objektivität‹ vorgibt, eine hierarchische Beziehung zwischen Ethnograph und Forschungsgegenstand, und Generalisierung und Objektivität sind für Abu-Lughod eng miteinander verschränkt. Auf der anderen Seite werden Diskurse, die das Konzept der Generalisierung in den Mittelpunkt rücken, den Inkohärenzen und Widersprüchlichkeiten der Erkenntnisgegenstände der Ethnologie nicht gerecht (Abu-Lughod 1991: 158). Eine Ethnologie, die das Partikulare untersucht, also einzelne Individuen, läuft in Abu-Lughods Augen nicht Gefahr, in einen essentialisierenden und exotisierenden Kulturalismus abzugleiten. Abu-Lughods Ansatz scheint zunächst radikal von Sahlins’ Konzept abzuweichen, und tatsächlich gibt es bedeutende Unterschiede zwischen beiden Forschungsprogrammen. Ich möchte aber weniger auf die offensichtlichen Differenzen hinweisen, sondern auf einige bemerkenswerte Berührungspunkte, die ein neues Licht auf Sahlins’ Kulturalismus werfen. Erstens plädiert Abu-Lughod für eine Ethnographie des Partikularen, die sich Generalisierungen enthält, doch letztlich kommt auch sie nicht ohne die Idee des kulturellen Holismus aus. »AbuLughod’s specific example of what a humanistic ethnography of the particular

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would consist of […] requires both author and reader to accept as transparent certain categories such as piety, immorality, the unthinkable, nostalgia, honor, reputation, authority, and prayer« (Keane 2003: 236). Dies ist aus der Perspektive von Abu-Lughods Ansatz auch folgerichtig, denn Abu-Lughods Ziel ist ja, kulturelle Differenzen zwischen self und other einzuziehen. Die Frage, die sich stellt, ist allerdings, vor welchem Hintergrund dann Konzepte wie ›Ehre‹ oder ›Moralität‹ ihren Sinn beziehen sollen. Obwohl sich Abu-Lughod auf die Analyse von Individuen und nicht von Generalisierungen konzentrieren will, kommt auch sie nicht um die Einbeziehung allgemein geteilter Konzepte herum. In ihrer Ablehnung des kulturellen Holismus scheint sie zu übersehen, dass Generalisierungen nicht nur vom Forscher ›konstruiert‹, sondern tatsächlich von den Menschen als handlungsleitender Rahmen angewandt oder zumindest in den jeweiligen Handlungskontext einbezogen werden. Zweitens fällt Abu-Lughod in ihrem Versuch, sich Generalisierungen zu entziehen, in eine Generalisierung zurück, die letztlich genau so umfassend erscheint wie die des kulturellen Holismus. Abu-Lughod argumentiert, dass die Annahme unterschiedlicher, diskreter und statischer Kulturen essentialisierend wirkt. Ihr Referenzpunkt ist dementsprechend nicht mehr das Konzept ›Kultur‹, sondern das Konzept ›Individuum‹ (Abu-Lughod 1991: 154). Ihre Analyse legt nahe, dass diese Bestimmung unabhängig von den jeweils untersuchten individuellen Lebenssituationen gültig ist. Abu-Lughods Kritik an der Totalität des kulturellen Holismus hat also den paradoxen Effekt, dass sie eine neue Totalität des Individuums erzeugt, in der kulturelle Differenzen eingezogen werden; den Erkenntnisgegenstand bilden nun Individuen, die dahingehend untersucht werden, »how live is lived«. Dieses Plädoyer für eine Ethnographie des Partikularen ist selbst wiederum eine Generalisierung: »Abu-Lughod’s ›particulars‹ offer us individuals who, in the final instance, seem to be typical at the greatest level of social generality altogether, of ›humanity‹ writ large« (Keane 2003: 237). Drittens teilen sowohl Abu-Lughod als auch Sahlins eine grundlegende humanistische Orientierung, die die menschliche Handlungsfähigkeit in den Mittelpunkt der konzeptionellen und empirischen Analyse rückt. Diese These erscheint zunächst überraschend, denn Abu-Lughod kritisiert ja gerade den kulturellen Holismus für dessen angeblichen Determinismus. In Ihrer Konzeption erscheinen Individuen nicht determiniert von kulturellen Schemata; vielmehr sind sie aktive Handlungsträger, die bewusste Entscheidungen fällen und sich dabei nicht von kulturellen ›Programmen‹ leiten lassen. Ich habe bereits argumentiert, dass auch Abu-Lughod zumindest implizit annehmen muss, dass es allgemein geteilte kulturelle Schemata gibt, die eine gewisse Rolle für das Handeln der von ihr untersuchten Akteure spielen; Abu-Lughods Projekt, ›gegen Kultur zu schreiben‹, kommt ohne ein implizites Kulturkonzept nicht aus. An dieser Stelle ist aber wichtiger, dass in Abu-Lughods Argumentation diese geteilten Ideen oder Konzepte nicht handlungsermöglichend sind, sondern vielmehr handlungseinschränkend (Keane 2003: 236).

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Für Sahlins ist die Existenz von Kultur aber gerade die Bedingung für menschliche Handlungsfähigkeit. Menschliche Handlungsfähigkeit bedeutet für Sahlins, dass soziales Handeln nicht auf natürliche Faktoren reduziert werden kann, seien es universale Bedürfnisse, externe (materielle) Umwelten oder die menschliche Biologie. Im Rahmen von Sahlins’ Ansatz muss es einen Faktor geben, der die menschliche Handlungsfähigkeit gegenüber diesen Einflüssen sicherstellt, und dieser Faktor ist die symbolische Organisation der Wirklichkeit. Kultur vermittelt in Sahlins’ Augen zwischen Welt und Akteur: Materielle Bedingungen determinieren nicht menschliches Handeln, sondern erlangen nur vermittelt durch die Kategorie Kultur an ›Bedeutung‹. Zudem gibt es keine universalen, also ›natürlichen‹ Ziele menschlichen Handelns; wie Sahlins in ›The Original Affluent Society‹ argumentiert, sind individuelle Ziele selbst kulturelle Schemata. »Sahlins’ ›culture‹, taken as existential stances toward life, seeks to provide an account of ends. It is meant to show, for instance, that economic maximization is a choice […], not a given« (Keane 2003: 228). Da Sahlins an die strukturale Linguistik von Saussure anschließt, ist es auch folgerichtig, dass er einen kulturellen Holismus vertritt, denn einzelne Kulturelemente erhalten ihre Bedeutung in seiner Konzeption nicht dadurch, dass sie mit spezifischen Referenten notwendigerweise verknüpft sind; sonst wäre Kultur nicht mehr als die Widerspiegelung einer unabhängig existierenden materiellen Realität. Erst dann, wenn Bedeutungskonstituierung ein relationaler Prozess zwischen Zeichen ist, kann Kultur als unabhängig von der materiellen Realität angesehen werden; und wenn Kultur handlungsleitend ist, ist die Unabhängigkeit menschlichen Handelns von kulturexternen Faktoren durch die Relationalität der Bedeutungskonstituierung sichergestellt. Dieses Konzept impliziert einen kulturellen Holismus, denn nur in ihrer Gesamtheit als Zeichensystem erhalten einzelne Zeichen spezifische Bedeutungen. »It is thus ironic, in view of later attacks on cultural holism in the name of agency, that it is precisely this unity which was supposed to provide humans with their independence from external determination. It is in the nature of moral or aesthetic ends that they impose a unity on the diverse activities to which they provide guidance« (Keane 2003: 228). Die Gemeinsamkeiten in den Konzeptionen von Abu-Lughod und Sahlins sollten nicht überbetont werden, denn für Abu-Lughod kann menschliche Handlungsfähigkeit nur individualistisch hergeleitet werden, für Sahlins (zumindest in Culture and Practical Reason) allein kollektivistisch. Dennoch bewegen sich beide Entwürfe nicht in vollständig voneinander abgegrenzten Diskursuniversen, denn eine fundamentale humanistische Orientierung, die menschliche Handlungsfähigkeit als zentral erachtet, ist beiden Ansätzen zu eigen. Aus einer systematischen Perspektive macht Abu-Lughod aber auf eine bedeutende Schwäche in Sahlins’ Ansatz aufmerksam, denn tatsächlich erscheint der kulturelle Holismus, den Sahlins in Culture and Practical Reason vertritt, letzten Endes nicht weiterführend zu sein, auch wenn eine Analyse von Abu-Lughods Kritik wiederum zeigt, dass auch Abu-Lughod Gebrauch vom Kulturbegriff macht und dies

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wohl kaum zu vermeiden ist. Natürlich ist man nicht gezwungen, sich zwischen den radikalen Alternativen, die Sahlins in Culture and Practical Reason und Abu-Lughod in ›Writing Against Culture‹ entwickeln, zu entscheiden. Vielmehr ist es notwendig, die weiterführenden Perspektiven beider Entwürfe miteinander zu verbinden, also die Existenz kultureller Formen anzuerkennen, ohne zugleich die von Abu-Lughod herausgearbeiteten individuellen Widersprüchlichkeiten menschlicher Existenz in einem Konzept des kulturellen Holismus aufzulösen.

Globale Flüsse und Disjunktionen: Von Appadurai zu Sahlins Der Versuch, ein solches Konzept zu entwickeln, sollte ein Phänomen einbeziehen, das weder von Sahlins in Culture and Practical Reason noch von AbuLughod in ›Writing Against Culture‹ analysiert wird. Gemeint sind die globalen Verflechtungen und Wanderungsbewegungen, die unter dem Stichwort ›Globalisierung‹ analysiert werden. Das Ineinandergreifen von ›Globalität‹ und ›Lokalität‹ erzeugt einen Prozess, den man mit ›Glokalisierung‹ (Robertson 1992), ›Hybridbildung‹ (Werbner/Modood 1997), ›Kreolisierung‹ (Hannerz 1996) oder auch der Bildung eines Melange-Effekts (Nederveen Pieterse 2004) beschreiben könnte. Im einzelnen sind all diese Konzepte unterschiedlich, doch Autoren wie Robertson, Hannerz oder Nederveen Pieterse stimmen darin überin, dass Globalisierung nicht als eine globale Homogenisierung oder ›McDonaldisierung‹ (Ritzer 2003) analysiert werden kann; vielmehr ist Globalisierung ein fragmentierender und disjunktiver Prozess, der lokal völlig unterschiedliche Ausprägungen haben kann. Einigkeit besteht unter diesen Autoren zudem darin, dass die heutige Welt nicht (oder zumindest nicht mehr) als ein Mosaik in sich homogener, statischer und voneinander abgegrenzter Kulturen verstanden werden kann. Im Folgenden analysiere ich Arjun Appadurais Konzept der global flows, einem der radikalsten globalisierungstheoretischen Versuche, den kulturellen Holismus aufzulösen. Ich versuche, zusammenfassend einige bemerkenswerte Elemente dieser Konzeption herauszuarbeiten und in Beziehung zu den Entwürfen von Sahlins und Abu-Lughod zu setzen. Erstens argumentiert Appadurai, dass das Problem des Kulturbegriffs in erster Linie in der Implikation besteht, Kultur sei »some kind of object, thing, or substance, whether physical or metaphysical« (Appadurai 1996: 12). Infolgedessen hält es Appadurai für sinnvoller, den Begriff ›Kultur‹ nicht mehr zu benutzen und durch den Begriff ›kulturell‹ zu ersetzen, um die gegenwärtigen kulturellen Konfigurationen besser erfassen zu können, die weder euklidische Grenzen noch zeitlose Strukturen bzw. Regelmäßigkeiten aufweisen. Der Kulturbegriff ist für Appadurai mit einer metaphysischen Vorstellung von Ordnung verknüpft, die in einer globalisierten und entterritorialisierten Welt der global flows die zentralen Charakteristika menschlichen Zusammenlebens nicht – oder nicht mehr – adäquat repräsentiert (Appadurai 1996: 29). Als Alternative zu den unterschiedlichen Theorien des kulturellen Holismus schlägt Appadurai vor, den Begriff der ›Ordnung‹ durch den des ›Chaos‹ zu ersetzen. Damit hat sich

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Appadurai bereits weit von Sahlins’ Projekt entfernt, denn wie ich herausgearbeitet habe, fragt Sahlins in Stone Age Economics danach, wie in ›primitiven‹ Gesellschaften soziale Ordnung möglich ist. In Culture and Practical Reason entwirft er eine semiotische Theorie kultureller Ordnung: Da Bedeutungskonstituierung für Sahlins ein kulturinterner und relationaler Prozess ist, geht Sahlins von der Existenz einer kulturellen Ordnung aus, in deren Rahmen Zeichen erst ihren ›Sinn‹ erhalten. Im Gegensatz dazu interessiert sich Appadurai für »fractally shaped cultural forms that are also polythetically overlapping« (Appadurai 1996: 46). Sahlins’ konzeptionelle Ausgangssituation, dass Zeichen ihre Bedeutung erst relational zueinander in einer kohärenten Zeichenordnung erhalten, macht für Appadurai bereits aus empirischen Gründen keinen Sinn. In Appadurais Modell erscheint die Welt immerwährend in Bewegung, die unterschiedlichen global flows ändern sich ständig und erzeugen immer neue kulturelle Formen. Appadurai geht zweitens davon aus, dass die konzeptionelle und empirische Verknüpfung zwischen sozialer Gemeinschaft und Geographie ebenso sehr aufgehoben werden muss wie die Idee einzelner voneinander abgegrenzter Kulturen. Vielmehr werden ›Platz‹, ›Raum‹ und ›Lokalität‹ in Appadurais Augen selbst in zunehmenden Maße sozial oder kulturell konstruiert.22 Lokalität ist für Appadurai nichts Gegebenes, also kein kulturexterner ›Raum‹, in dem sich lokale kulturelle Identitäten entfalten. Vielmehr versteht Appadurai Lokalität als ein phänomenologisches Konzept, das in unterschiedlichen kulturellen Kontexten produziert wird und jeweils völlig unterschiedliche und sich ständig wandelnde Bedeutungen haben kann. Diese kulturelle Produktion von Lokalität ist nicht mehr eingebettet in voneinander isolierten geographischen Räumen, sondern in globale und zugleich disjunktive global flows, also Austauschprozesse von Ideen, Menschen, Technologie, Geld oder anderen ›Objekten‹. Appadurai unterscheidet hier zwischen den oft zitierten ethnoscapes, technoscapes, financescapes, mediascapes und ideoscapes. Aus den Arbeiten Appadurais geht hervor, dass die Beziehung zwischen ethnoscapes, technoscapes und financescapes (also den ›Landschaften‹ von Menschen, technologischen Transfers sowie der Dispositionen des globalen Kapitals) zutiefst disjunktiv und grundsätzlich nicht vorhersagbar ist, »because each of these landscapes is subject to its own constraints and incentives […], at the same time as each acts as a constraint and a parameter for movements in the others« (Appadurai 1996: 35). Die beiden anderen ›Landschaften‹, die Appadurai in seinen Analyserahmen integriert, sind Repräsentationen: Der Begriff mediascapes bezieht sich auf die weltweite Verbreitung und Zirkulierung medialer Repräsentationen,23 während ideoscapes eine ›Landschaft‹ von im weitesten Sinne politischen Ideen ist. Die Beziehung zwischen ethnoscapes, technoscapes und financescapes auf der einen und mediascapes sowie ideoscapes auf der ande22 Siehe auch Gupta/Ferguson 1997: 6; Kreff 2003: 71-74; Keane 2003: 237-238. 23 Genau betrachtet sind mediascapes für Appadurai nicht ausschließlich mediale Repräsentationen, sondern zudem die Ausbreitung der elektronischen Möglichkeiten, diese Repräsentationen zur Verfügung zu stellen (Appadurai 1996: 35).

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ren Seite ist nicht im Sinne eines simplen marxistischen Basis-Überbau-Schemas zu verstehen; vielmehr spielen gerade mediascapes und ideoscapes für Appadurai eine zentrale Rolle im Globalisierungsprozess, weil sie die Grundlage für das Werk der Imagination sind. Kulturelle Globalisierung ist für Appadurai ein konfliktiver Prozess einander kreuzender, zeitweise überlappender, aber letztlich doch voneinander differenter globaler Flüsse. Appadurai zieht aus dieser Konzeption die Konsequenz, dass Globalisierung ein Prozess der ›Entterritorialisierung‹ ist: Es haben sich in den Augen Appadurais so genannte diasporic public spheres gebildet, in denen Entterritorialisierung zu einem eigenständigen Handlungsmodus geworden ist, der kulturelle Grenzen zunehmend als bedeutungslos erscheinen lässt. Deshalb ist es für Appadurai nicht mehr plausibel, in einer globalisierten Welt von der Existenz unterschiedlicher, in sich homogener und voneinander abgegrenzter Kulturen auszugehen, die einem jeweils eigenständigen Territorium zugeordnet wären. Die von Sahlins in Stone Age Economics und in Culture and Practical Reason entwickelten Ansätze sozialer bzw. kultureller Reproduktion auf verwandtschaftlicher Ebene in vormodernen Gesellschaften (also generalisierte Reziprozität sowie verwandtschaftliche Symbolproduktion) erscheinen vor dem Hintergrund von Appadurais Konzeption unzulänglich. Drittens geht Appadurai, wie auch Abu-Lughod und Sahlins, von der zentralen Bedeutung menschlicher Handlungsfähigkeit aus. Eine wichtige Grundlage dafür ist für Appadurai das Konzept der Imagination. »It is the imagination, in its collective forms, that creates ideas of neighborhood and nationhood, of moral economies and unjust rule, of higher wages and foreign labor prospects« (Appadurai 1996: 7). Insbesondere mediascapes und ideoscapes spielen für Appadurai eine wichtige Rolle in der individuellen und kollektiven Imaginationsfähigkeit. Die Eigenschaft, dass man dazu fähig ist, sich andere Welten vorzustellen als allein die, in der man lebt – und sei es dadurch, dass man sich eine Fernsehserie ansieht, die in einem anderen Land spielt –, ist in Appadurais Augen fundamental für menschliche Handlungsfähigkeit, für agency (Appadurai 1996: 7). Imaginationen sind eine wichtige Grundlage für aktives Handeln und für gesellschaftliche Veränderungen und lassen sich heute kaum noch von einer politischen Elite kontrollieren; sie sind vielmehr Teil des alltäglichen Lebens. Im Unterschied zu Sahlins’ Ansatz sind nicht mehr ›lokale‹ kulturelle Institutionen die zentrale Quelle individueller und kollektiver Imaginationsbildung, sondern die weltweiten kulturellen Flüsse, die sich nicht einzelnen, voneinander abgegrenzten Kulturen zuordnen lassen (Appadurai 1996: 31). Damit entfernt sich Appadurai von Abu-Lughods und Sahlins’ Konzeptionen menschlicher Handlungsfähigkeit, denn sein Forschungsprogramm ist weniger holistisch als das von Sahlins, aber zugleich auch weniger individualistisch als Abu-Lughods Entwurf. Appadurai betont wie auch Abu-Lughod die zentrale Rolle einzelner Individuen und der jeweils unterschiedlichen sozialen Kontexte, in denen sich einzelne Akteure bewegen (Appadurai 1996: 9). Appadurais Kon-

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zeption ist zumindest auch individualistisch, weil unterschiedliche Individuen in unterschiedlichen Situationen Teil und Kreuzungspunkt unterschiedlicher ›Landschaften‹ sein können. Dies bedeutet aber auch, dass die von Abu-Lughod präferierten ›Ethnographien des Partikularen‹ ohne den Rückbezug auf übersubjektive Faktoren – eben den unterschiedlichen scapes – unverständlich bleiben. Darüber hinaus sind für Abu-Lughod allgemein geteilte Ideen handlungseinschränkend, während in Appadurais Konzeption zirkulierende kulturelle Modelle die Grundlage für gänzlich neue Handlungskonzepte und Ideen – eben den Imaginationen – sein können. Zudem ist die Imagination in Appadurais Augen zumindest auch ein kollektives Phänomen (Appadurai 1996: 8); sonst würde Appadurais Anlehnung an die Forschungstradition der L’Année Sociologique auch keinen Sinn ergeben. Das Konzept allgemein geteilter Ideen bei Appadurai sollte dennoch nicht in einem holistischen Sinne verstanden werden, denn Appadurai betont ja die fundamentale Prozessualität kultureller Formen. Die Beobachtung allgemein geteilter kultureller Schemata ist nur eine Momentaufnahme und kein Indiz für die dauerhafte Existenz einer ›Kultur‹, wie sie Sahlins in Culture and Practical Reason analysiert. Bislang habe ich insbesondere auf die Unterschiede zwischen den Ansätzen von Sahlins und Appadurai hingewiesen. Im Folgenden ändere ich meine Analyseperspektive und arbeite Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Entwürfen heraus; dabei setze ich Appadurais Ansatz nicht in erster Linie in Beziehung zu Culture and Practical Reason, sondern insbesondere zu Sahlins’ in Stone Age Economics ausgearbeiteten wirtschaftsethnologischen Ansatz. Dies ist interessant, weil die theoriegeschichtlichen Kontinuitäten zwischen Sahlins’ Wirtschaftsethnologie und Appadurais Ansatz kultureller Globalisierung bislang weitgehend übersehen wurden.24 1986 gibt Appadurai die einflussreiche Aufsatzsammlung The Social Life of Things heraus (Appadurai 1986a). Insbesondere die von ihm verfasste Einleitung ist bis heute ein wichtiger Referenzpunkt in der wirtschaftsethnologischen Theoriedebatte (Appadurai 1986b). Eines der zentralen Ziele Appadurais ist eine Kritik an der ethnologischen Unterscheidung zwischen Gabe und Ware; er löst diese Unterscheidung in einem konsumtheoretischen Paradigma auf und schließt dabei an die konsumtheoretischen Studien von Bourdieu (1982), Douglas/Isherwod (1996) und Sahlins’ Culture and Practical Reason an. Appadurai stimmt mit Sahlins darin überein, dass der Konsum nicht auf eine wirtschaftliche Handlungsweise reduziert werden kann; zugleich ist der Konsum allerdings in Appadurais Augen (wie auch bei Bourdieu und bei Douglas/Isher24 Die einzige mir bekannte Anmerkung, in der es einen Hinweis auf diesen theoriegeschichtlichen Zusammenhang gibt, stammt von Anna Tsing. »Circulation has a deep genealogy in anthropology. I keep waiting to find an author who takes me through this legacy, perhaps tracing his or her thoughts from French structuralist ›exchange‹ through global ›flows‹. But I have not yet found that author. Instead, it has become easy for anthropologists to talk about global circulations as a sign of everything new and of future making« (Tsing 2002: 470-471).

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wood) ein Medium des Konflikts und der politischen Auseinandersetzung. Appadurai definiert die Ware als »any thing intended for exchange« (Appadurai 1986: 9), wobei diese Definition so weitreichend ist, dass sie die analytische Unterscheidung zwischen Gabe und Ware auflöst. Appadurai möchte nun die so genannte commodity situation von Objekten verfolgen: Ein Objekt kann von seinem Zustand als ›Ware‹ in den als ›Nicht-Ware‹ übergehen und umgekehrt; zudem bestimmen die jeweiligen kulturellen wie sozialen Kontexte die commodity situation eines Objekts. An dieser Selle ist von besonderem Interesse, dass Appadurai zwar den Gegensatz zwischen Ware und Gabe auflösen möchte, sich in seiner Einleitung zu The Social Life of Things aber weiterhin in der Tradition der Mauss’schen Wirtschaftsethnologie bewegt, in der der Austausch von Objekten im Mittelpunkt steht. Natürlich gibt es weitreichende Unterschiede zwischen den Konzeptionen von Appadurai auf der einen und denen von Lévi-Strauss und Sahlins auf der anderen Seite. Lévi-Strauss und Sahlins (in Stone Age Economics) richten ihr besonderes Augenmerk auf Reziprozitätsbeziehungen, währenddessen die Natur der Objekte, die getauscht werden, in ihren Entwürfen weniger im Mittelpunkt steht. Dies trifft insbesondere auf Lévi-Strauss’ Strukturalismus zu, doch auch Sahlins analysiert die zirkulierenden Objekte nur am Rande, am ehesten noch in ›The Spirit of the Gift‹. Auch Appadurai schließt an Mauss’ Analyse über Die Gabe an, doch im Unterschied zu Lévi-Strauss und Sahlins interessiert er sich nicht für Reziprozitätsbeziehungen per se, sondern für die Zirkulation von Objekten, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten Teil gänzlich unterschiedlicher Tauschverhältnisse sein können. Ein Objekt ist für Appadurai auch dann interessant, wenn es der Zirkulation temporär entzogen ist, denn nur dann erhält man in seinen Augen ein Bild seines ›sozialen Lebens‹. Appadurais Aufsatz über ›Disjuncture and Difference in the Global Cultural Economy‹, der erstmals 1990 erscheint und (in überarbeitetet Form) das Herzstück von Modernity at Large bildet, kann als eine konzeptionelle Erweiterung und Verallgemeinerung seiner wirtschaftsethnologischen Analyse in The Social Life of Things gelesen werden. Zum einen konzeptualisiert Appadurai Globalisierung als einen weltumspannenden Prozess von Flüssen, der nationale, kulturelle und geographische Grenzen durchdringt. In seinem Aufsatz aus dem Jahr 1986 interessiert sich Appadurai demgegenüber noch mehr für die Zirkulation von Objekten in lokalen kulturellen Kontexten. Zum anderen beschränkt sich Appadurai nicht mehr auf Objekte, die auch zu ›Waren‹ werden können; vielmehr entwirft Appadurai ein Konzept, in dem Objekte, Menschen und Repräsentationen gleichermaßen zirkulieren. Im Folgenden analysiere ich zwei miteinander verknüpfte Probleme, die in Appadurais Ansatz auftreten und versuche, diese in Beziehung zu setzen zu Sahlins’ Wirtschaftsethnologie. Erstens stellt sich die Frage, warum sich Appadurai gerade auf fünf unterschiedliche global flows festlegt. Appadurais Ansatz kann als eine Differenzierungstheorie auf globaler Ebene gelesen werden; die grundlegenden Elemente von Appadurais Entwurf sind Menschen, Objekte und Reprä-

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sentationen, deren Flüsse sich in unterschiedliche Bereiche einordnen lassen. Dabei ist Appadurais Einteilung zunächst eine, die die ›Art‹ der jeweiligen Objekte bzw. images berücksichtigt. Darüber hinaus scheint auch deren Funktionalität zumindest teilweise eine wichtige Rolle zu spielen, denn beispielsweise sind nicht alle mediale Repräsentationen Teil von ideoscapes. Warum aber gibt es beispielsweise keine religionscapes? Und was enthielte eine solche ›Landschaft‹ – nur im engeren Sinne religiöse Ideen oder auch religiöse ›Objekte‹? In Appadurais Konzeption ließe sich argumentieren, dass der Fluss religiöser Ideen Teil von mediascapes und ideoscapes ist, doch weil Appadurai betont, dass es bei den Repräsentationen der ideoscapes zumeist um politische Ideen geht, würde das Konzept implizieren, dass religiöse Ideen, sobald sie Teil der ideoscapes sind, als politisch angesehen werden. Die von Appadurai vorgeschlagene Klassifikation einzelner globaler Flüsse ist also eine Reduktion, die der tatsächlichen Komplexität und vor allem Vielfältigkeit von global flows sowohl hinsichtlich der Funktionalität als auch der jeweiligen Art des Objekts nicht gerecht wird. Dies ist besonders bemerkenswert, weil Appadurai im Gegensatz zu Sahlins für die Aufgabe des Begriffs der Ordnung zugunsten des Begriffs des Chaos plädiert, doch sein wohlgeordnetes Konzept der voneinander differenten global flows löst diese Forderung nur teilweise ein. Dieses Problem ist vergleichbar mit Sahlins’ Reduktion von Interaktionsbeziehungen auf drei voneinander differente Reziprozitätsformen. Während Appadurai zumindest in seiner Definition von ideoscapes die ›Art‹ des Objekts und die Funktionalität der globalen Flüsse miteinander verknüpft, verbindet Sahlins die ›Art‹ der sozialen Beziehung (die über soziale Distanz bestimmt wird) mit der jeweiligen Funktionalität sozialer Interaktion. Dieser shift in Appadurais Konzeption ist nur folgerichtig, denn ihm geht es ja nicht um Interaktionsbeziehungen, sondern um die Zirkulation von ›Objekten‹ (inklusive Menschen und Repräsentationen). Allerdings führt die Vermengung der jeweiligen ›Art‹ des Objekts bzw. der sozialen Beziehung mit ihrer Funktionalität zu einer unnötigen Reduktion in der Klassifikation. Bei Sahlins ist generalisierte Reziprozität ein Interaktionsprozess im Kreis der Verwandtschaft; soziale Distanz und die Funktionalität der Interaktion sind miteinander verknüpft. Bei Appadurai sind Repräsentationen entweder Teil der mediascapes oder Teil der ideoscapes; Appadurai nimmt deshalb eine funktionale Dichotomie politisch/unpolitisch vor, wobei aber unklar bleibt, warum die Funktionalität des Politischen (oder der ›Ideologie‹) derart in den Vordergrund gerückt werden sollte. Zweitens stellt sich die Frage, warum die Konstitution des Globalen auf Zirkulationen von Objekten, Menschen und Repräsentationen reduziert werden sollte. Diese Frage mag zunächst seltsam erscheinen, denn was erscheint naheliegender, als Globalisierung mit ›Bewegung‹ zu verknüpfen, also den flows von Menschen, Objekten oder Repräsentationen? Fraglich ist aber, ob nicht gewisse Prozesse oder Strukturen möglicherweise durch das Modell der global flows der Analyse verstellt bleiben. Das Bild, das Appadurai von Globalisierungsprozessen

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entwirft, übt eine so große Anziehungskraft aus, dass Anna Tsing in einem kritischen Kommentar feststellt: »Circulations are said to be what we are able to study as global« (Tsing 2002: 471). Das beste Beispiel dafür ist ironischerweise die Aufsatzsammlung, in der sich Tsings Beitrag findet, denn die Organisation von The Anthropology of Globalization folgt weitgehend der Konzeption Appadurais. Nach einer einleitenden Sektion über ›Thinking the Global‹, in der unter anderem auch Appadurais stilbildender Aufsatz über ›Disjuncture and Difference‹ abgedruckt ist, sind die Fallstudien geordnet unter die Sektionen ›Itinerant Capital‹, ›Mobile Subjects‹, ›Roving Commodities‹, ›Traveling Media‹ sowie ›Nomadic Ideologies‹ (Inda/Rosaldo 2002a: v-vii). Die Entscheidung, Prozesse kultureller Globalisierung auf der Grundlage eines Ansatzes zu systematisieren und zu analysieren, der die Zirkulation in den Mittelpunkt rückt, ist allerdings keineswegs selbstverständlich. Hier lohnt ein nochmaliger Blick auf Sahlins’ Wirtschaftsethnologie. Sahlins argumentiert in Stone Age Economics, dass Sozialität durch die von ihm unterschiedenen Reziprozitätsformen konstituiert wird. Wie ich bereits herausgearbeitet habe, kann an diesem Ansatz kritisiert werden, dass die konzeptionelle Last des Reziprozitätsbegriffs in Sahlins’ Wirtschaftsethnologie zu groß ist. Reziprozitätsbeziehungen spielen sicherlich eine weitreichende Rolle in der Konstitution des Sozialen, doch das Soziale sollte nicht auf Reziprozität reduziert werden. Gerade die Frage danach, wodurch sich soziale Gruppen voneinander abgrenzen, kann Sahlins nicht zufriedenstellend beantworten, und es erscheint notwendig, das Konzept der Reziprozität durch andere Konzepte zu ergänzen, beispielsweise durch das der inalienable possessions von Annette Weiner (1992). Diese Kritik kann in modifizierter Form auch an Appadurai gerichtet werden, denn für Appadurai wird das Globale durch Zirkulationen erst erzeugt. »If, instead of hegemonic domain divisions, we turned to the social and cultural struggles through which imaginative visions come to count as ›scapes‹ at all, we might be able to incorporate disjunction not only among domains but also among varied and contested kinds of imaginative landscape making in this framework« (Tsing 2002: 470). Die dominierende Rolle, die Appadurai den global flows für die Konstitution des Globalen beimisst, hat die Folge, dass andere Prozesse, die den globalen Zirkulationen entzogen sind, so erscheinen, als ob diese nicht mehr Teil des Globalisierungsprozesses seien. »If analysts must ›move out of local situations‹ to find circulation, there must be some local folks who are still stuck inside them, being stagnant. These imagined stagnant locals are excluded from the new circulating globality, which leaves them outside, just as progress and modernity were imagined as leaving so many behind« (Tsing 2002: 471). Im Anschluss an Tsing stellt sich zudem die Frage, ob die Welt tatsächlich so ›im Fluss‹ ist, wie es in Appadurais Analyse erscheint. Vollziehen sich die globalen Flüsse möglicherweise im Rahmen von Strukturen, die nicht unmittelbar ersichtlich sind? Sind die global flows damit selbst in irgend einer Weise kontextualisiert? Appadurais Konzept legt darüber hinaus die Interpretation nahe, dass einstmals ›lokale‹ kulturelle Kontexte mehr und mehr aufgelöst werden von

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›globalen‹ Flüssen. Wenn globale Flüsse ›neu‹ sind, heißt dies dann nicht, dass die ›alte‹ Ordnung von kultureller Homogenität und Statik geprägt war? Die damit verknüpfte Ambiguität besteht in der Frage, ob es immer schon global flows gegeben hat und die Welt des beginnenden 21. Jahrhunderts von einer bloßen Intensivierung dieser Flüsse gekennzeichnet ist, oder ob diese Flüsse tatsächlich ein historisch ›neues‹ Phänomen sind. Schließlich stellt sich die Frage, ob die Betonung auf Prozesse der Entterritorialisierung nicht den Blick auf gegenläufige Prozesse der Reterritorialisierung verstellt (siehe dazu Berking 1998). Antworten auf diese tatsächlich ›globalen‹ Fragen sind ad hoc wohl weder möglich noch sinnvoll, doch worauf es mir hier ankommt, ist der Hinweis darauf, dass Appadurais Ansatz wahrscheinlich ein zu einseitiges Bild dessen erzeugt, was wir ›Globalisierung‹, ›globale Verflechtungen‹ oder auch ›globale Prozesse‹ nennen; zumindest teilweise sind diese Einschränkungen, wie ich argumentiert habe, auf die implizite Genealogie von Appadurais globalisierungstheoretischem Entwurf zu ethnologischen Theorien der Reziprozität zurückzuführen. Möglicherweise entsteht ein komplexeres Bild kultureller Globalisierung, wenn Appadurais Entwurf in einen Dialog gebracht wird mit Sahlins’ neueren Beiträgen über das Problem des kulturellen Holismus. Ich versuche deshalb im Folgenden, Appadurais Entwurf in Beziehung zu setzen mit Sahlins’ jüngeren Aussagen über die Bildung einer intercultural society.25 1993 stellt Epeli Hau’ofa, ein in Neuguinea geborener Politiker, Publizist und Wissenschaftler aus Tonga in seinem Vortrag ›Our Sea of Islands‹ über die Emigration von aus Ozeanien stammenden Menschen fest: »Everywhere they go, to Australia, New Zealand, Hawai’i, mainland U.S.A., Canada and even Europe, they strike roots in new resource areas, securing employment and overseas family property, expanding kinship networks through which they circulate themselves, their relatives, and their stories all across their ocean; and the ocean is theirs because it has always been their home« (Hau’ofa 1993: 10).

Hau’ofas Aussage scheint zunächst Appadurais These widerzuspiegeln, dass die globalisierte Welt durch global flows gekennzeichnet ist; auch pazifische Kulturen können heute nicht mehr als homogen, statisch und in sich geschlossen charakterisiert werden. Wir finden in Hau’ofas Beobachtung allerdings noch eine zweite Ebene: Scheinbar gibt es in der von ihm beobachteten Arbeitsmigration eine kulturelle Kontinuität, denn »the ocean is theirs because it has always been their home«. Hau’ofa weist nämlich darauf hin, dass für die Menschen in pazifischen Gesellschaften der Ozean niemals als eine Behinderung angesehen wurde, welche kleine Inselwelten voneinander getrennt hätte. Vielmehr wurde der Ozean 25 Dies ist weniger eigenartig, als es zunächst erscheint, denn Sahlins selbst nennt seinen diesbezüglichen Untersuchungsgegenstand »the contemporary cultures of circular migration and the novel ›ethnoscapes‹ such migration produces (as Arjun Appadurai would put it)« (Sahlins 2005a: 6).

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als Teil einer gemeinsamen Welt angesehen: Die Vorfahren lebten in großen Assoziationen unterschiedlicher Inseln, die durch den Ozean miteinander verknüpft waren, nicht voneinander getrennt. In ›The Ocean In Us‹ argumentiert Hau’ofa: »the sea is our pathway to each other and to everyone else, the sea is our endless saga, the sea is our most powerful metaphor, the ocean is in us« (Hau’ofa 1997: 148).26 Sahlins, der diese These aufnimmt, formuliert Hau’ofas Überlegung wie folgt: »Since World War II […] the Pacific peoples have been able to resume this traditional mastery of ocean space, if by new means, for new purposes, and to ever greater extent« (Sahlins 2000b: 180). Durch diese »world enlargement« (Sahlins 2000b: 180) haben die Menschen Zugang erhalten zur internationalen Arbeitsteilung. Internationale Diasporas scheinen lokale communities zunächst aufzulösen, doch die kulturellen Motive, die sich aus den Migrationsbewegungen speisen, sind für Sahlins, im expliziten Anschluss an Hau’ofa, weder arbiträr noch lösen sie die traditionellen kulturellen Ordnungen vollständig auf. »As individuals, families, and overseas communities, the emigrants are part of a dispersed social-cultural totality centered in the homeland and united by a continuous circulation of people, ideas, goods, and money. Moving between foreign and indigenous cultural loci, adapting to the former while maintaining their commitment to the latter, Tongans and Samoans, and numerous other peoples like them, have been able to create the novel formations we are here calling multilocal cultures« (Sahlins 2000b: 183).

Diese multilocal cultures, translocal societies oder auch multilocal socio-cultural orders konstituieren sich über Reziprozitätsbeziehungen, »an ongoing circulation of persons, rights, and regards between the home islands and the homes abroad« (Sahlins 2000b: 181). Diese Reziprozitätsbeziehungen erscheinen in Sahlins’ Augen oftmals im zweifachen Sinne asymmetrisch. Erstens ist die jeweilige translocal society »centered in and oriented toward its indigenous communities. The migrant folk are identified with their people at home« (Sahlins 2000b: 189). Demzufolge gibt es einen Fluss von materiellen Gütern in Richtung des homelands: »they benefit from the earnings and commodities acquired by their relatives in the foreign-commercial economy. In such respects, the indigenous order encompasses the modern« (Sahlins 2000b: 189). Zugleich erzeugt dieser Fluss zweitens eine materielle Abhängigkeit des ›indigenen Zentrums‹ von den Emigranten. Diese Asymmetrie ist in Sahlins’ Augen nichts vollständig Neues und reproduziert eine mythologische Struktur, die es in vielen dieser Gesellschaften in der Vergangenheit bereits gab oder immer noch gibt. »All this argues that certain prestigious values and powers reside in the foreign sphere. Perhaps then it is relevant to the development of translocal societies that many peoples had already 26 Hau’ofas Bestimmung pazifischer Identität ist als essentialistisch kritisiert worden. Margaret Jolly argumentiert, viele Menschen im Pazifik »have no senses of ancestral connections to the ocean, no knowledge of how to make canoes, and indeed [have] never seen the sea« (Jolly 2001: 423).

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accorded such virtues to external beings and things, even before colonialism introduced them to more draconic versions« (Sahlins 2000b: 190). Die von Sahlins analysierten Reziprozitätsbeziehungen reproduzieren nicht nur eine präexistente kosmologische Struktur, sondern erzeugen auch neue kulturelle Dispositionen. Zunächst erscheint vielen Emigranten in Sahlins’ Augen die globale Moderne, insbesondere die Stadt, als ein Hort der Freiheit von traditionalen Beschränkungen. Allerdings entsteht bei Emigranten infolge von negativen Erfahrungen wie Diskriminierung, Proletarisierung und Pauperisierung oftmals ein nostalgisches Bild ihrer Heimat. In Sahlins’ Augen können die Erfahrungen der Emigranten über längere Zeit auch zu einem kulturellen Bruch mit der translocal society führen, doch dies geschieht, wie er schreibt, oftmals nicht so schnell wie vermutet. Zwar argumentiert Sahlins, dass »the original homeland may no longer function as a distinct option and valued identity« (Sahlins 2000b: 192), doch dies bedeutet für Sahlins noch keineswegs, dass sich translocal societies in naher Zukunft auflösen müssten. »The translocal society may well persist so long as there is a cultural differential between the rural and the urban, or more generally between the indigenous homeland and metropolitan homes abroad […] the multilocal culture, as a life-form of modernity, could outlast us all« (Sahlins 2000b: 192). Sahlins’ Gedanken über multilocal cultures implizieren übrigens keineswegs, dass Sahlins vollständig von seiner Theorie kultureller Homogenität abgerückt wäre, die er in Culture and Practical Reason vertritt. Zumindest hält Sahlins bis heute daran fest, dass Bedeutung erst durch die Relationalität von Zeichen entsteht. Dies impliziert die Existenz von ›kulturellen Ordnungen‹, seien diese auch ›multilokal‹. In seiner Kritik an Lila Abu-Lughods ›Writing Against Culture‹ legt Sahlins seine kulturtheoretische Grundüberzeugung unmissverständlich dar. »In order for categories to be contested at all, there must be a common system of intelligibility, extending to the grounds, means, modes, and issues of disagreement. It would be difficult to understand how a society could function, let alone how any knowledge of it could be constituted, if there were not some meaningful order in the differences« (CP: 488). Sahlins bestreitet also keineswegs die Existenz kultureller Differenzen innerhalb eines gesellschaftlichen Ganzen; diese Differenzen selbst konstituieren allerdings wiederum eine umfassendere kulturelle Ordnung. Zeichen – die in ihrer Gesamtheit die kulturelle Struktur ausmachen – erhalten ihre Bedeutung, so Sahlins, erst im Vergleich zu anderen Zeichen (Sahlins 1988b: 42). Dieses Konzept geht von der Existenz eines miteinander verknüpften Netzwerks von Zeichen aus, das in ihrer Gesamtheit bedeutungsvolle Differenzen konstituiert, ohne dass ein bestimmtes Zeichen auf eine bestimmte Bedeutung festgelegt wäre. Sahlins’ Konzept der multilocal cultures impliziert allerdings eine Auflösung des Gedankens kultureller Geschlossenheit. Wenn die Welt von heute gekennzeichnet ist durch die weltweite Ausbreitung unterschiedlicher multilocal cultures, bedeutet dies, dass es lokale Überlappungen unterschiedlicher kultureller Ordnungen geben wird. Sahlins betont in seinen Arbei-

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ten, dass multilocal cultures nur existieren können, wenn sie sich durch eine ›kulturelle Ordnung‹ auszeichnen; man kann aus seiner These allerdings auch den Schluss ziehen, dass die Bildung von multilocal cultures zu einer Überlagerung und Auflösung dieser kulturellen Ordnungen führen wird. In seiner Analyse der globalen Diasporas nähert sich Sahlins Appadurais Modell der global flows an, insbesondere durch seine Überlegung, dass sich die transcultural societies durch Zirkulationen von Personen, Waren, Ideen und Geld konstituieren. Während allerdings Appadurai für eine Ethnologie plädiert, in der das ›Chaos‹ im Gegensatz zur ›Ordnung‹ im Mittelpunkt des Interesse stehen soll, entwirft Sahlins ein Bild der Globalisierung, in der sich zwar kulturelle Grenzen auflösen, doch zugleich neue kulturelle Ordnungen bilden, die auf den vorangegangenen kulturellen Ordnungen aufbauen. Anders als Appadurai richtet Sahlins sein Erkenntnisinteresse nicht auf die globalen Flüsse selbst, sondern auf die multilocal cultures, die durch diese Flüsse produziert werden. In Sahlins’ Augen konstituieren Reziprozitätsbeziehungen eine neue kulturelle Ordnung, die, anders als bei Appadurai, gekennzeichnet ist durch die Unterscheidung indigenous homeland vs. indigene Peripherie. In Sahlins’ Analyse sind die kulturellen Flüsse zudem nicht disjunktiv wie bei Appadurai; vielmehr tragen sie alle gleichermaßen zur Aufrechterhaltung der multilocal cultures bei. Darüber hinaus sind bei Sahlins, scheinbar anders als bei Appadurai, Reste einer territorialen Fixierung von Kultur vorhanden, denn die multilocal cultures definieren sich durch Reziprozitätsbeziehungen zwischen einem indigenen homeland und einer indigenen Peripherie. Schließlich gibt es auch in Sahlins’ Ansatz ein Konzept der kulturellen Imagination, doch anders als bei Appadurai dient die Imagination in Sahlins’ Entwurf, zumindest in seiner Analyse der multilokalen Kulturen, in erster Linie der Aufrechterhaltung der von Sahlins beschriebenen Struktur der multilocal cultures (Sahlins 2000b: 190-191). An dieser Stelle möchte ich weniger Sahlins’ Ansatz der translocal cultures abschließend bewerten, sondern darauf hinweisen, dass Sahlins’ Analyse in einer Kontinuität zu Culture and Practical Reason steht. Darüber hinaus hat meine Untersuchung der Ansätze von Abu-Lughod und Appadurai gezeigt, dass sich hier bedeutsame systematische Kontinuitäten zur ›klassischen‹ oder ›modernistischen‹ Ethnologie finden, im Falle Appadurais sogar zu Sahlins’ wirtschaftsethnologischem Paradigma; die Arbeiten von Abu-Lughod, Appadurai und Sahlins befinden sich also nicht in voneinander abgetrennten Diskursuniversen. Beispielsweise greift Appadurais Versuch, ›Chaos‹ in die ethnologische ›Ordnung‹ zu bringen, auf angeblich überkommene reziprozitätstheoretische Termini zurück und begegnet vergleichbaren systematischen Problemen wie Sahlins in Stone Age Economics. Und Abu-Lughod, die den ethnologischen Kulturbegriff verabschieden möchte, kommt in ihren Analysen ohne ein (wenn auch weitgehend implizites) Konzept von ›Kultur‹ als symbolische Ordnung nicht aus. Darüber hinaus sind die jeweiligen Motivationen, die sowohl Culture and Practical Reason als auch den ethnologischen Kritiken am Kulturbegriff zu Grunde liegen, vergleich-

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bar. 1975 erscheint Wilsons Sociobiology, und vielen Sozialwissenschaftlern erscheint zu dieser Zeit die These, menschliche Verhaltensweisen ließen sich auf evolutionsbiologische Faktoren zurückführen, als biologistischer Determinismus. Sahlins veröffentlicht 1976 eine Kritik an der Soziobiologie (Sahlins 1976b), und hier wie auch in Culture and Practical Reason entwickelt er eine Theorie, welche menschliche Handlungsfähigkeit gegenüber materiellen oder biologischen Faktoren sicherstellen soll. Erst die symbolische Organisation der Wirklichkeit erlaubt es in Sahlins’ Augen, dem biologistischen Determinismus der Soziobiologie zu entkommen, da Kultur in einem arbiträren Verhältnis zur ›Welt‹ steht. Da kulturelle Bedeutungen arbiträr sind, muss Kultur einen gewissen Grad an Systematizität aufweisen, denn Zeichen sind nur bedeutungsvoll im Kontrast zu anderen Zeichen; eine allgemein geteilte, systematische kulturelle Ordnung ist für Sahlins die Voraussetzung für menschliche Handlungsfähigkeit. In der ethnologischen Kritik am Kulturbegriff scheint allerdings gerade diese Systematizität von Kultur menschliche Handlungsfähigkeit zu bedrohen. Dies macht die systematische Kritik, Sahlins überschätze die Systematizität von Kultur, nicht haltlos, doch sie ignoriert die Motivation von Sahlins’ Wende zur Kultur: die Sicherstellung der Handlungsfreiheit des Menschen. Im weiteren Verlauf meiner Analyse werde ich auf den Vorwurf, Sahlins vertrete einen kulturellen Holismus, zurückkommen. Ich werde zudem in den Kapiteln IV und V weitere Elemente von Sahlins’ Konzept der ›Indigenisierung der Moderne‹ zusammentragen; dann wird auch eine systematische Bewertung seines Konzepts eher möglich sein als an dieser Stelle. Hier ging es mir in erster Linie um den Nachweis wissenschaftsgeschichtlicher Kontinuität – sowohl hinsichtlich von Sahlins’ Werk als auch hinsichtlich von Ansätzen, die auf den ersten Blick in radikalem Widerspruch zu Sahlins’ kulturalistischem Entwurf zu stehen scheinen. Nicht thematisiert habe ich in diesem Kapitel eine weitere häufig geäußerte Kritik an Culture and Practical Reason: Sahlins entwickelt keine handlungstheoretische Perspektive, die fruchtbar gemacht werden könnte für die Analyse kulturellen Wandels. Wie ich in Kapitel IV zeige, ist dieser Vorwurf zwar nicht gänzlich gerechtfertigt, doch tatsächlich erscheint das Bild von Gesellschaft, das Sahlins in Culture and Practical Reason entwirft, weitgehend statisch. Hier offenbart sich eine gewisse Ironie, denn es geht Sahlins um den Nachweis der fundamentalen Handlungsfreiheit des Menschen, obwohl er kein Modell der agency entwickelt; vielmehr rückt er die Arbitrarität von Kultur in den Mittelpunkt. In seinen Veröffentlichungen nach 1976 versucht Sahlins allerdings, seine Kulturtheorie zu ›historisieren‹, also agency in seinen Ansatz zu integrieren.

Kapitel IV: Von der Kultur zur Geschichte

1977 veröffentlicht Sahlins den Aufsatz ›The State of the Art in Social/Cultural Anthropology‹ (Sahlins 1977); dieser markiert die ›historische Wende‹ in Sahlins’ Werk. Die Wurzeln dafür liegen allerdings weiter zurück. Nach eigener Aussage wird Sahlins durch seine Erfahrungen in der teach-in-Bewegung Mitte der 1960er Jahre für die Historizität menschlicher Lebenswelten sensibilisiert: »agency was put on the agenda – not in distinction to structure, but in certain relations to it« (CP: 25). Diese Einsicht schlägt sich noch nicht sofort in seinem ethnologischen Werk nieder, zumindest nicht in einer handlungstheoretischen Umformulierung seiner Ethnologie; Sahlins treibt in einigen Veröffentlichungen, die gegen Ende der 1960er Jahre erscheinen, zunächst den cultural turn in seinem Werk voran, eine Bewegung, die bereits einige der in Stone Age Economics erschienenen Aufsätze teilweise bestimmt. Bereits bevor dieses wirtschaftsethnologische Manifest 1972 erscheint, widmet sich Sahlins seit 1970 der Erforschung der hawaiianischen Geschichte (Sahlins 1992a: ix) und gibt 1973 gemeinsam mit Dorothy Barrère Aufzeichnungen des Missionars William Richards über die hawaiianische Kultur heraus (Sahlins/Barrère 1973). Zu dieser Zeit überführt Sahlins sein Interesse für Geschichte noch nicht in eine Theorie; erst in seinen Arbeiten, die nach Culture and Practical Reason erscheinen, entwickelt Sahlins eine kulturalistische Theorie der Geschichte. Im ersten Abschnitt analysiere ich den systematischen Zusammenhang von Struktur und Geschichte in Sahlins’ Ansatz. Mein Ausgangspunkt ist Culture and Practical Reason, denn dieses Werk kann zunächst für seinen statischen Kulturalismus kritisiert werden. Obwohl diese Kritik weitgehend berechtigt ist, übersieht sie, dass bereits hier Sahlins’ ›historische Wende‹ angelegt ist. In den darauffolgenden Veröffentlichungen entwickelt Sahlins diesen impliziten Historismus zu einer Geschichtstheorie, in dem der permanente Wandel kultureller Kategorien im Mittelpunkt steht. Im zweiten Abschnitt analysiere ich Sahlins’ These, dass unterschiedliche Kulturen jeweils unterschiedliche Historizitäten aufweisen. Ich stelle hier eine bis heute für Sahlins’ Ansatz paradigmatische Analyse vor: den

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Tod von James Cook auf Hawai’i 1779. Ich interpretiere Sahlins’ Untersuchung insbesondere vor dem Hintergrund seiner Studien polynesischer Mythologie sowie seines Gebrauchs der Ansätze von Lévi-Strauss und Pierre Clastres. Thema des dritten Abschnitts ist ein Vergleich der Entwürfe von Sahlins und Pierre Bourdieu. Wie ich herausarbeiten werde, macht Sahlins in Islands of History zwar Gebrauch von Bourdieus Theorie des Habitus, doch tatsächlich gibt es bedeutsame konzeptionelle Unterschiede zwischen den Entwürfen von Sahlins und Bourdieu.1 Schließlich analysiere ich im vierten Abschnitt Sahlins’ Konzept des develop-man und der so genannten humiliation, die Bestandteile seiner Theorie über die ›Indigenisierung der Moderne‹ sind. Zwar führt Sahlins hier seine historischen Analysen fort, doch insbesondere sein Ansatz der humiliation markiert einen bedeutsamen konzeptionellen Bruch in seinem Werk. Im Rückgriff auf Bourdieus Ansatz unternehme ich abschließend den Versuch, Sahlins’ Theorie handlungstheoretisch zu systematisieren.

1. Struktur und Ereignis Sahlins sieht in Culture and Practical Reason in vormodernen Gesellschaften, die durch Verwandtschaftssysteme strukturiert werden, eine Immunität der bestehenden Ordnung gegenüber der Geschichte. Dieser Widerstand verweist auf eine noch grundlegendere Eigenschaft von Stammesgesellschaften: »die Dominanz der kulturellen Konzepte über das praktische Handeln und nicht die des 1

Zu den wichtigsten Arbeiten, die Sahlins’ ›historische Wende‹ konstituieren, gehören Sahlins 1977, 1978, 1981a, 1981b, 1982b, 1983a, 1983c, 1985a, 1985b. Im Mittelpunkt stehen dabei die Bücher Historical Metaphors and Mythical Realities (Sahlins 1981a, deutsch: Sahlins 1986) sowie Islands of History (Sahlins 1985a, deutsch: Sahlins 1992c). Islands of History enthält einige bereits zuvor veröffentlichte Arbeiten: ›Other Times, Other Customs. The Anthropology of History‹ (IH: 32-72, Sahlins 1983a); ›The Stranger-King; or, Dumézil among the Fijians‹ (IH: 73103, Sahlins 1981b); ›Structure and History‹ (IH: 136-156, Sahlins 1983c). Die Kapitel ›Supplement to the Voyage of Cook; or, le calcul sauvage‹ (IH: 1-31) sowie ›Captain James Cook; or, the Dying God‹ (IH: 104-135) waren zuvor unveröffentlicht. Ich konzentriere mich im Folgenden auf diese beiden Bücher und zitiere in erster Linie aus den deutschsprachigen Editionen. Historical Metaphors und Islands of History sind sowohl empirisch als auch konzeptionell eng miteinander verknüpft, wenn Islands of History auch nicht einfach als eine ›Wiederholung‹ des früheren Werks angesehen werden kann. Zunächst ist Islands of History keine zusammenhängende Monographie, sondern eine Sammlung von lose miteinander verknüpften Essays. Islands ist zudem empirisch weitreichender als Historical Metaphors; auch einige systematische Elemente sind dort ausführlicher ausgearbeitet. Sahlins argumentiert, dass seine Analyse der britisch-hawaiianischen Kulturkontakte komplexer sei als dies in Historical Metaphors erscheint, »wodurch Cooks Schicksal verständlicher zu werden scheint« (IG: 15). Im weiteren Verlauf meiner Analyse gehe ich auf die kleineren systematischen und empirischen Differenzen zwischen beiden Büchern nur am Rande ein.

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Handelns über die Konzepte« (KPV: 36). Sahlins’ Untersuchung des modernen Konsums wiederum ist eine »timeless semiotics of consumption« (Ferguson 1988: 493), in der die Perspektive aktiver und handelnder Individuen fehlt, die Symbole aneignen und im Rahmen sozialer Praktiken deren Sinn verändern. Kulturelle Strukturen scheinen über den Menschen zu schweben und deren Handeln zu determinieren, ohne dass dieses Handeln weitreichende Folgen für die kulturellen Strukturen hätte. »Die Annahme, daß die Theorie [der Strukturalismus] dem menschlichen Handeln oder dem zufälligen Ereignis keinen Raum lasse, ist nicht gerechtfertigt. Nur daß ein derartiges Handeln […] seine Bedeutung dadurch erhält, daß es eine Projektion jenes kulturellen Schemas ist, das seinen spezifischen Kontext bildet; seine Wirkung verdankt sich einem Verhältnis der Signifikanz zwischen dieser zufälligen Beziehung und der bestehenden Ordnung. Ein Ereignis wird zu einer symbolischen Beziehung« (KPV: 39).

Sahlins ignoriert weitgehend die Intentionalität des Handelns sowie die Verwendung kultureller Schemata in sozialer Praxis. An anderer Stelle finden sich auch bei Sahlins Spuren eines handlungstheoretischen Individualismus: »Solange die institutionalisierten Beziehungen nicht inkonsistent werden, sind auch die symbolischen Übereinkünfte niemals arbiträr. Sie gehen, vermittelt über die Gesellschaftsordnung, immer von der kulturellen Erfahrung des denkenden Subjekts aus« (KPV: 66). Sahlins überführt diese Bemerkungen allerdings noch nicht in eine kulturalistische Theorie der Intentionalität; die Perspektive der handelnden Akteure bleibt unscharf und eigentümlich ›leer‹. Zudem ist Sahlins einer kulturellen Statik verpflichtet, in der es einen fundamentalen Graben zwischen vormodernen und modernen Gesellschaften gibt, ohne dass klar würde, wie sich die eine Gesellschaftsform in die andere transformieren kann. »Die grobe Unterscheidung verläuft zwischen ›heißen‹ und ›kalten‹ Gesellschaften, zwischen Entwicklung und Unterentwicklung, Gesellschaften ›mit‹ Geschichte und Gesellschaften ›ohne‹ Geschichte, und ebenso zwischen großen und kleinen, expandierenden und selbstgenügsamen, kolonisierenden und kolonisierten Gesellschaften«. Sahlins ist hinsichtlich dieser Gegenüberstellung zunächst vorsichtig, denn er argumentiert, dass er keine Typologie für alle Kulturen der Welt entwickeln will und beispielsweise die Kulturen außer Acht lässt, »in denen der symbolische Schwerpunkt im staatlich-religiösen Bereich liegt« (KPV: 297). Allerdings hält Sahlins diese Gegenüberstellung als eine zwischen »westlichen und ›Stammes‹-Gesellschaften« für berechtigt (KPV: 298). Zwar steht Sahlins’ kulturalistische Analyse der Ökonomie im Gegensatz zu Polanyis differenzierungstheoretischer Untersuchung der great transformation (Polanyi 1978), doch letztlich formuliert Sahlins in Culture and Practical Reason die substantivistische Unterscheidung zwischen Gaben- und Warengesellschaften in eine Unterscheidung zwischen Kulturen um, deren symbolproduzierendes Zentrum in der Verwandtschaft liegt und solchen, in denen der Konsum der Motor der Sym-

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bolproduktion ist. Offensichtlich ist diese Gegenüberstellung sowohl hinsichtlich vormoderner als auch moderner Gesellschaften reduktionistisch. Einer der Gründe für diese reduktionistische Gegenüberstellung unterschiedlicher Gesellschaftstypen ist das Fehlen einer handlungstheoretischen Perspektive: Weil Sahlins über keine ausgearbeitete Handlungstheorie verfügt, kann er nur die Existenz unterschiedlicher ›Typen‹ von Kulturen postulieren, ihre Dynamik und Wandelbarkeit aber nicht plausibilisieren. Trotz dieser Schwäche ist bereits in Culture and Practical Reason die Rede von ›Geschichte‹. Um dies zu verstehen, ist es notwendig, nochmals auf LéviStrauss’ Strukturalismus zu verweisen, denn Sahlins macht sowohl in seiner kulturalistischen Wende als auch in seinem historisch-anthropologischem Werk Gebrauch von Lévi-Strauss’ Geschichstheorie.2 Dabei scheint Lévi-Strauss’ Ansatz der Ausarbeitung einer historischen Analyseperspektive in der Ethnologie gerade im Wege zu stehen. Aus der Perspektive von Lévi-Strauss haben Ethnologie und Geschichte zwar keine unterschiedlichen Erkenntnisgegenstände, doch sie untersuchen gewissermaßen unterschiedliche Ebenen gesellschaftlicher Zusammenhänge, denn »die Geschichte ordnet ihre Gegebenheiten in Bezug auf die bewußten Äußerungen, die Ethnologie in Bezug auf die unbewußten Bedingungen des sozialen Lebens« (Lévi-Strauss 1967: 32). Lévi-Strauss’ Geschichtsverständnis ist eng verknüpft mit seiner Kritik an der Bewusstseinsphilosophie JeanPaul Sartres, denn ebenso sehr wie Sartre – so Lévi-Strauss – das bewusst denkende und intentional handelnde Subjekt voraussetzt (Lévi-Strauss 1968: 282310),3 geht auch der westlich-moderne ›Code‹ der Geschichte in Lévi-Strauss’ Augen von autonomen und bewusst handelnden Individuen aus.4 Diese Herangehensweise kann für Lévi-Strauss aber zu keinen Aussagen über die unbewussten symbolischen Ordnungen beitragen, die im Strukturalismus der Praxis handelnder Akteure zu Grunde liegen. Diese Differenzensysteme sind für Lévi-Strauss überhistorisch, unterliegen also nicht der Manipulation seitens intentional motivierter Akteure. Es gibt zwar auch für Lévi-Strauss einen zeitlichen Wandel der von ihm untersuchten symbolischen Ordnungen – Lévi-Strauss verwendet den 2 3 4

Für Analysen von Lévi-Strauss’ Geschichtstheorie siehe Hénaff 1998: 214-236; Johnson 2003: 104-147; Pace 1983: 100-125; Paul 1996: 89-124. Zu Lévi-Strauss’ Kritik an Sartre siehe Johnson 2003: 107. Lévi-Strauss bezieht sich nicht auf die Geschichtswissenschaft im Allgemeinen, denn er merkt an, dass in der Annales-Tradition Wert auf die unbewussten Strukturen gelegt wird, die menschlichem Handeln zu Grunde liegen (siehe z.B. LéviStrauss 1967: 38-39; Lévi-Strauss 1975: 25). Solche historischen Werke sind, wie Lévi-Strauss argumentiert, vom ethnologischen Denken durchdrungen, obwohl in der Tradition der Annales nicht die unbewussten Strukturen des menschliches Geistes im Mittelpunkt stehen (wie bei Lévi-Strauss). Zwar analysiert die AnnalesSchule genauso wie der Strukturalismus die Einbettung menschlichen Handelns in übersubjektive Zusammenhänge, doch konzentriert sich die Annales-Tradition weitaus mehr als Lévi-Strauss auf wirtschafts- und sozialgeschichtliche, demographische und geographische Bedingungen sozialen Handelns.

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Begriff ›Transformationsregeln‹, denen die Differenzensysteme unterliegen –, doch diese Veränderungen vollziehen sich gewissermaßen hinter dem Rücken der Akteure. Die symbolischen Ordnungen wirken immer schon auch als Transformationsregeln, sie sind also die Grundlage ihrer eigenen Veränderung. Unter dem Einfluss externer Faktoren können sich die Differenzensysteme verändern, in dem beispielsweise ein Element in der symbolischen Ordnung verschwindet und sich die systemischen Elemente neu gruppieren; die zu Grunde liegende Struktur bleibt aber erhalten.5 Lévi-Strauss’ Auffassung gesellschaftlicher Veränderungen hat viel Kritik hervorgerufen, denn beispielsweise ist die Trennung zwischen unbewussten Differenzensystemen und bewussten Handlungen unplausibel. Dabei soll nicht bestritten werden, dass es weitgehend unbewusste symbolische Ordnungen gibt, doch Lévi-Strauss koppelt diese Ordnungen von individueller Intentionalität ab; deshalb kann es für ihn auch keine systematische Vereinheitlichung von Ethnologie und Geschichte geben. Eine Kritik an dieser Auffassung ist ein wichtiger Ansatzpunkt von Sahlins’ ›historischer‹ Revision des Strukturalismus, die er in erster Linie im Rahmen einer Kritik an Saussures strukturaler Linguistik vollzieht. Allerdings rezipiert Sahlins auch ein Element von Lévi-Strauss’ Ansatz, das in den Debatten über die angebliche Nichtexistenz der Geschichte im Strukturalismus bisweilen übersehen wird. Denn Lévi-Strauss bestreitet nicht, dass sich so genannte ›primitive‹ oder vormoderne Gesellschaften wandeln; er weist vielmehr darauf hin, dass sich manche vormodernen Gesellschaften offenbar in weitaus geringerem Maße wandeln als moderne Gesellschaften. Man könnte diese Unterscheidung zwischen ›statischen‹ vormodernen Gesellschaften und sich wandelnden modernen Gesellschaften für ethnozentrisch halten, gewissermaßen für die Projektion einer mythischen Gegenwelt zur Moderne auf vormoderne Verhältnisse; Lévi-Strauss möchte mit seiner Unterscheidung aber gerade das Gegenteil erreichen. In ›Rasse und Geschichte‹, einer Arbeit, die im Auftrag der UNESCO 1952 erscheint, argumentiert Lévi-Strauss, dass es falsch ist, die Idee des immerwährenden Wandels von Gesellschaft, die dem Studium und der Erfahrung moderner Gesellschaften geschuldet ist, auf andere Gesellschaften zu übertragen. Dementsprechend unterscheidet Lévi-Strauss zwischen ›stationärer‹ und ›kumulativer‹ Geschichte: »Wir betrachten danach jede Kultur als kumulativ, die sich in der gleichen Richtung wie unsere eigene entwickelt, deren Entwicklung für uns also eine Bedeutung hat, während die anderen Kulturen uns als stationär erscheinen, nicht immer weil sie es tatsächlich sind, sondern weil ihre Entwicklungskurve für uns nichts bedeutet, nicht mit den Begriffen unseres eigenen Bezugssystems meßbar ist« (Lévi-Strauss 1975: 381).

5

Zum Begriff der ›Transformation‹ bei Lévi-Strauss siehe auch Reckwitz 2000: 225228.

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Lévi-Strauss überführt seine Unterscheidung von stationärer vs. kumulativer Geschichte in die zwischen ›kalten‹ vs. ›heißen‹ Gesellschaften. Während sich ›kalte‹ Gesellschaften über ihre Tradition definieren und Veränderungen abzuwehren trachten, definieren sich ›heiße‹ Gesellschaften über den immerwährenden Wandel. Es wäre deshalb für Lévi-Strauss irreführend, ›kalte‹ Gesellschaften aus der Perspektive von ›heißen‹ Gesellschaften interpretieren und beurteilen zu wollen. Lévi-Strauss dreht den gegen den Strukturalismus erhobenen Ethnozentrismusverdacht gewissermaßen einfach um: Aus der Perspektive des Strukturalismus erscheint die Kritik, die strukturale Anthropologie entwerfe ein konservatives und statisches Gesellschaftsmodell bzw. eliminiere die Geschichte, als ethnozentrische Übertragung der historischen Erfahrung schneller gesellschaftlicher Veränderungen in ›heißen‹ Gesellschaften auf historisch ›kalte‹ Gesellschaften. Wie ich bereits argumentiert habe, ist Lévi-Strauss’ Unterscheidung zwischen Ethnologie und Geschichte nicht weiterführend, denn die zu Grunde liegende systematische Unterscheidung zwischen unbewussten symbolischen Ordnungen und bewussten Handlungen führt in eine handlungstheoretische Sackgasse. Sehr viel eher anschlussfähig ist allerdings Lévi-Strauss’ Plädoyer für die Anerkennung unterschiedlicher gesellschaftlicher ›Historizitäten‹. Wie mir scheint, übersieht der Vorwurf, der Strukturalismus eliminiere die Geschichte, die Beobachtung, dass es tatsächlich Gesellschaften gab oder gibt, die sich weniger über den immerwährenden Wandel definieren als moderne kapitalistische Gesellschaften; und dies bedeutet keineswegs, dass es in jenen Gesellschaften überhaupt keinen Wandel gebe oder gegeben hätte. »Lévi-Strauss’ point is not that nothing happens in history, it is rather that in societies that do not share the Western valorization of change, lots of structural work gets done to lend history its placid appearance« (Robbins 2005a: 6). Sahlins knüpft in Culture and Practical Reason und auch in seinem späteren ›historischen‹ Werk an diese Einsicht des Strukturalismus an,6 verwirft aber Lévi-Strauss’ Unterscheidung zwischen Ethnologie und Geschichte sowie zwischen unbewusster symbolischer Ordnung und individueller Intention bzw. Handlung. Die strukturalistische These, dass kulturelle Kontinuität als ein Produkt der Geschichte interpretiert werden kann, ist eine zentrale Grundlage von Sahlins’ Theorie der Geschichte. Sahlins’ Ausgangspunkt ist damit nicht der gesellschaftliche Wandel durch das Ereignis, sondern die Persistenz von Strukturen trotz der Existenz von Ereignissen. Verharrt man an dieser Stelle, läuft man tatsächlich Gefahr, in einen geschichtslosen Determinismus abzugleiten, denn obwohl die Aufrechterhaltung von Strukturen als historischer Prozess verstanden werden 6

Siehe dazu auch folgende Anmerkung von Antony Hooper zu Sahlins’ Ansatz im Kontext der polynesian studies: »the history which engages the attentions of this sort of anthropology is concerned less with the pertubations, and irrevocable, cumulative changes, which have undoubtedly occurred throughout the island world, than with understanding how so much also appears to have remained so strikingly unchanged« (Hooper 1985: 7).

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kann, reduziert sich Geschichte nicht auf die Persistenz von Strukturen – seien es die Radcliff-Brown’schen sozialen Strukturen oder die Lévi-Strauss’schen symbolischen Ordnungen. Lévi-Strauss’ Beobachtung kann also nur der Ausgangspunkt für eine strukturalistische Geschichtstheorie sein. Sahlins’ Argument ist nun, dass der Strukturalismus als Geschichtstheorie einer handlungstheoretischen Erweiterung bedarf, und das Ziel seiner Veröffentlichungen nach 1976 ist die Ausarbeitung eines historischen Ansatzes auf der Grundlage des Strukturalismus, genauer: auf der Grundlage des strukturalen Kulturalismus, den Sahlins in Culture and Practical Reason im Anschluss an Lévi-Strauss, Boas und insbesondere Saussure entwickelt. »The time has come to return to history« (Sahlins 1977: 21). Das Problem ist allerdings, dass weder der Strukturalismus noch die utilitaristische Theorietradition, die Sahlins ›Praxistheorie‹ nennt, historischen Wandel scheinbar analysieren können. Die Praxistheorie koppelt für Sahlins das soziale Handeln von der symbolischen Organisation der Wirklichkeit ab; der Strukturalismus behauptet wiederum, dass Ereignisse keine Existenz unabhängig von ihrer Bedeutung haben. Weil die Praxistheorie die symbolische Organisation der Wirklichkeit vernachlässigt, entgeht ihr in Sahlins’ Augen eine Eigenschaft des Strukturalismus, die die Analyse der Geschichte letzten Endes erst erlaubt. Denn wie Sahlins bereits in Culture and Practical Reason betont, ist für den Strukturalismus die Geschichte in gewisser Weise immer präsent. Die Handlungsweisen in der Vergangenheit haben aus einer strukturalistischen Perspektive eine besondere Bedeutung für die Handlungsweisen in der Gegenwart. Der scheinbare Nachteil, dass der Strukturalismus die Struktur in den Mittelpunkt rückt und die ›konkrete‹ Handlung vernachlässigt, kann auch als Vorteil erscheinen, da die Lebendigkeit der Vergangenheit in den Hintergrund rücken muss, wenn die Aufmerksamkeit allein auf die Praxis der Gegenwart gerichtet wird (Sahlins 1977: 21). Sahlins’ These, dass eine kulturalistische Theorie der Geschichte die Präsenz der Vergangenheit in der Gegenwart konzeptualisieren muss, ist eine wichtige Grundlage für seinen Ansatz, denn unterschiedliche Kulturen haben in Sahlins’ Augen jeweils unterschiedliche Verständnissse ihrer eigenen Vergangenheit – und diese Verständnisse erweisen sich als im wahrsten Sinne ›bedeutsam‹ für soziales Handeln. Der Strukturalismus kann für Sahlins der Ausgangspunkt für eine kulturalistische Geschichtstheorie sein, konstituiert diese allerdings noch nicht. Der Gegensatz zwischen Strukturalismus und Geschichte äußert sich in Sahlins’ Augen in den Unterscheidungen zwischen System und Ereignis, zwischen Synchronie und Diachronie sowie zwischen Kultur und Utilitarismus. Sahlins interessiert sich hier insbesondere für die individualistische Seite des Utilitarismus, der These also, individuelle soziale Praxis lasse sich als nutzenmaximierendes Handeln auffassen und Kultur sei die bloße Summe individueller Handlungen. Als Opposition dazu entwickelte sich in Sahlins’ Augen beispielsweise die Vorstellung von Kultur als superorganischer Ordnung, wie sie von Alfred Kroeber und Leslie

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White entwickelt wurde. Dieser Ansatz verfällt für Sahlins in ein ähnlich unplausibles Extrem wie der Utilitarismus. »Utilitarianism concealed culture within a faulty human epistemology, while the ›superorganic‹ dissolved humanity in a fantastic cultural ontology« (CP: 280). Konzeptioneller Ansatzpunkt für Sahlins’ Theorie sind nicht die Entwürfe von Kroeber oder White, sondern der französische Strukturalismus – insbesondere die strukturale Linguistik von Ferdinand de Saussure. Ethnologische Ansätze, die an Saussure anschließen, bevorzugen für Sahlins die Kategorien System und Synchronie, parallel zu Saussures Unterscheidung zwischen Sprache (langue) und Sprechen (parole), und unterschlagen deshalb sowohl individuelles Handeln als auch menschliche Praxis – oder sehen diese zumindest als Desiderat eines kulturellen Systems an. Saussure, so Sahlins, unterscheidet Struktur und Geschichte, weil er davon ausgeht, dass Sprache nur systematisch analysiert werden kann, wenn sie unabhängig von der ›Welt‹, selbstreferentiell und kollektiv ist. Saussures Modell der Sprache setzt für Sahlins die systemische Bestimmung sprachlicher Zeichen voraus; die Bedeutung eines sprachlichen Zeichens ist durch dessen Beziehung zu anderen Zeichen festgelegt. Sprache kann nur als Struktur analysiert werden, wenn sie als Zustand betrachtet wird; ihre Bestandteile müssen synchron sein. Auf der Grundlage einer solchen Position macht es in den Augen Sahlins’ ebenso wenig Sinn, »in der Geschichte nach System zu suchen, wie umgekehrt, Geschichte in das System einzuführen« (TC: 12). Es gibt für Sahlins in Saussures Modell keinen Zusammenhang zwischen dem Lautwandel und den systemhaften Beziehungen zwischen Zeichen, also letztlich deren Bedeutungen; deshalb erscheinen Veränderungen des Zeichensystems bei Saussure zufällig. Der Begriff ›System‹ bezieht sich hier allein darauf, wie Einheiten der Sprache zu einem bestimmten Zeitpunkt zueinander in Wechselbeziehung stehen. Veränderungen des Systems können nicht systemextern erklärt werden, da ein Zeichen keine inhärente Verbindung zur Objektwelt hat. Veränderungen in der Objektwelt ändern die Wechselbeziehungen zwischen bedeutungshaften Elementen der Sprache ebenso wenig wie Lautänderungen. Während sich der Begriff ›System‹ auf die Sprache und die Kultur bezieht, wird das ›Ereignis‹ offenbar an das System herangetragen; Diachronie ist deshalb kein Prozess, der in Saussures Modell systemintern verstanden werden kann, sondern nur in Relation zu einer systemexternen Objektwelt. Die Ausdehnung einer strukturellen Analyse im Anschluss an Saussure auf die Ethnologie birgt für Sahlins also zunächst das Problem, dass die Kategorie ›Geschichte‹ im Sinne historischer Veränderungen verloren geht. Darüber hinaus gerät auch Praxis im Sinne menschlichen Handelns in der Welt aus dem Blick der Theoriebildung. Genau dieses Problem trat mit der Rezeption des Strukturalismus in der Ethnologie für Sahlins tatsächlich auf. Geschichte wurde, wie Sahlins argumentiert, systematisch unterschieden von der Ethnologie, um das strukturalistische ›System‹ nicht zu destabilisieren; soziales Handeln war nur insofern von Bedeutung, dass es eine bestehende kulturellen Ordnung reproduzierte. An diesem Punkt führt Sahlins eine Überlegung ein, die das ahistorische Argument des

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Strukturalismus stützen könnte: Handlungsumstände werden in einer Kultur nur existent und haben Folgen, wenn sie interpretiert werden. Ein wahrgenommener Gegenstand ist in einen bedeutungsvollen Kontext eingebettet, dessen Urheber gerade nicht der Mensch ist, der wahrnimmt, interpretiert und handelt. Der Kontext ist für Sahlins natürlich diejenige Kultur, »deren Teil der wahrnehmende Mensch selber ist« (TC: 17). Ein Ereignis ist in einer bestimmten Kultur ein Anwendungsbeispiel kultureller, historisch überlieferter Kategorien, »gleichsam als ein Gestalt gewordenes Zeichen für ein Symbol, das die Voraussetzung für eben dieses Zeichen bildet« (TC: 18). In diesem Modell, das Saussures These von der Relationalität sprachlicher Bedeutungen auf die Relationalität kultureller Schemata überträgt, ist Geschichte offensichtlich gleichbedeutend mit der Godelier’schen ›stereotypen Reproduktion‹. System und Ereignis werden voneinander unterschieden, allerdings nur insofern, dass systemexterne Ereignisse gemäß der systeminternen kulturellen Schemata interpretiert werden; das System scheint von dem Ereignis unberührt zu bleiben. Sahlins’ Ziel ist aber, eine strukturalistische Kulturtheorie zu entwickeln, die eher von einem anderen Grundsatz ausgeht, denn »je mehr sich die Dinge gleichen, desto größer ist in Wirklichkeit die Veränderung« (TC: 18). Sahlins möchte nachweisen, dass die Oppositionen, die der Strukturalismus in seinen Augen vornimmt, nicht notwendig sind, dass es also möglich ist, Strukturen in der Geschichte sowie Geschichte in den Strukturen zu bestimmen. »Die Geschichte wird [...] durch die Kultur strukturiert, und zwar dergestalt, daß alle Dinge in Bedeutungsschemata eingeordnet werden. Umgekehrt gilt das gleiche: Die kulturellen Schemata werden durch die Geschichte strukturiert, da die Bedeutungen durch das praktische Handeln in mehr oder weniger großem Umfang neu bewertet werden« (IG: 7).

In Islands of History nennt Sahlins den Zusammenhang zwischen Kultur und Geschichte »die duale Existenz der kulturellen Ordnung [...] also die durch Konvention fixierte und die durch praktisches Handeln realisierte Struktur« (IG: 9). Einerseits dienen kulturelle Kategorien dazu, der menschlichen Erfahrung und ihren Gegenständen einen Sinn zu verleihen. Kulturelle Kategorien sind, so Sahlins, keine bloßen Abbilder der Realität, ergeben sich also nicht direkt aus der Welt, »sondern aus ihren unterschiedlichen Beziehungen innerhalb eines symbolischen Schemas« (IG: 144). Paradigmatisch dafür ist in Sahlins’ kulturhistorischem Werk die Interpretation von James Cooks Auftauchen seitens der Hawaiianer. »Daß Kapitän Cook von jenseits des Horizonts in das Leben der Hawaiianer einbrach, war ein wirklich einmaliges Ereignis, das es zuvor noch nie gegeben hatte. Aber indem die Menschen dieses existentiell Einmalige in die ihnen vertraute Begrifflichkeit faßten, integrierten sie ihre Gegenwart in die Vergangenheit« (IG: 143).

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Diesen konzeptuellen Aspekt übernimmt Sahlins von Saussure; an dieser Stelle findet sich auch die entscheidende Kontinuität von Culture and Practical Reason zu Sahlins’ historischen Arbeiten. Zentral für Sahlins ist weiterhin, dass Kultur nicht als Nomenklatur der Realität betrachtet werden kann, sondern gegenüber der Objektwelt einen willkürlichen Charakter hat. »Die kulturellen Kategorien, durch die die Erfahrung konstituiert wird, ergeben sich nicht direkt aus der Welt, sondern aus ihren unterschiedlichen Beziehungen innerhalb eines symbolischen Schemas« (IG: 144). Weil kulturelle Kategorien die Realität nicht einfach abbilden, sind sie notwendigerweise unvollständig und kontextspezifisch. Sahlins betont andererseits, dass die kulturellen Kategorien durch das praktische Handeln der Akteure ›gefährdet‹ sind (IG: 142). Denn aus dem arbiträren Charakter der Kultur folgt für Sahlins nicht nur die fundamentale Bedeutung der Kultur für die Wahrnehmung und Bewertung der Objektwelt, sondern auch Konflikte zwischen der Realität und deren Wahrnehmung und Bewertung. Die Arbitrarität des Zeichens gegenüber der Objektwelt ist für Sahlins der Grund für die Historizität von Kultur. Eine Gefährdung von Kultur hat in Sahlins’ Ansatz zwei Aspekte. Eine subjektive Gefährdung der Bedeutungen von Zeichen ergibt sich aus dem interessegeleiteten Handeln von Akteuren (IG: 146). Interessen sind für Sahlins an bestimmte Zeichen geknüpft; ein solches Interesse ist jedoch keineswegs identisch mit der Bedeutung, die ein bestimmtes Zeichen hat. Diese Bedeutung bestimmt sich durch die Differenz mit anderen Zeichen, währenddessen ein bestimmtes Zeichen für unterschiedliche Handelnde jeweils ein unterschiedliches Interesse implizieren kann. »›Interesse‹ und ›Sinn‹ (oder ›Bedeutung‹) sind zwei Seiten desselben Sachverhalts, nämlich des Zeichens, das zum einen auf Personen, zum anderen auf andere Zeichen bezogen wird« (TC: 111). Wenn die begriffliche Bedeutung eines Zeichens einen bestimmten Handlungsbezug erhält, nimmt die aus ihrer Differenz zu anderen Zeichen bestimmte Wertigkeit des Zeichens »eine besondere intentionale Wertigkeit an« (TC: 112). Sahlins unterscheidet zwischen der konkreten Verwendung eines Zeichens seitens intentional motivierter Akteure auf der einen Seite und der »gesellschaftlichen Begründung seiner Bedeutung« auf der anderen (TC: 112; siehe auch CP: 286). Weil im praktischen Handeln das Zeichen durch ein Interesse bestimmt wird, in dem sich sein instrumenteller Wert für den handelnden Akteur darstellt, kann sich die Wertigkeit eines Zeichens ändern, wenn sich das Interesse der Akteure ebenfalls ändert. Eine Veränderung der instrumentellen Wertigkeit kann eine Änderung der gesellschaftlichen Wertigkeit des Zeichens zur Folge haben. Eine objektive Gefährdung von Zeichen liegt »im Mißverhältnis zwischen Worten und Dingen. Jede Anwendung von kulturellen Begriffen in einer realen Welt unterwirft die Begriffe einer Bestimmung durch die Situation« (IG: 146). Sahlins argumentiert, dass »die Dinge« gleichzeitig spezieller und allgemeiner als die Zeichen sind. »Sie sind insofern spezieller, als die Zeichen Bedeutungsklassen sind, die als Begriffe nicht auf einen bestimmten Referenten bezogen [...] sind« (IG: 9). Gleichzeitig

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sind die Dinge allgemeiner als die Zeichen, weil sie mehr Eigenschaften und mehr ›Realität‹ besitzen als die Zeichen.7 Nicht in allen Gesellschaften, so Sahlins, sind die Wertigkeiten von Zeichen gleichermaßen gefährdet. Offensichtlich gibt es neben Gesellschaften, die sich durch einen vergleichsweise schnellen kulturellen Wandel auszeichnen, auch Gesellschaften, die Wandlungsprozessen immun gegenüber zu stehen scheinen. Um diese Unterschiede zu fassen, führt Sahlins in Inseln der Geschichte die Begriffe ›performative‹ und ›präskriptive‹ Strukturen ein – wohl in Anlehnung an LéviStrauss’ Unterscheidung zwischen ›kalten‹ und ›heißen‹ Gesellschaften. Performative Ordnungen weisen die Tendenz auf, »sich selbst zufälligen Umständen anzupassen, wohingegen die präskriptiven Ordnungen eher dazu tendieren, die Umstände sich selbst anzupassen – durch eine Art Verleugnung ihres zufälligen oder ereignishaften Charakters« (IG: 12). Hawaii ist für Sahlins eine performative Ordnung: Die einzelnen sozialen Kategorien wie Verwandtschaft, Rang oder lokale Zugehörigkeit sind für Aushandlungen offen; darüber hinaus ist das symbolische System »höchst empirisch«, weil die Kategorien der kulturellen Strukturen fortwährend den unvermeidlichen Unterschieden »zwischen den Dingen und den Zeichen« ausgesetzt werden; schließlich werden Zeichen vor allem seitens 7

Steven Webster argumentiert, dass Sahlins’ kulturhistorischer Ansatz mehr vom Marxismus beeinflusst worden ist, als dies auf den ersten Blick erscheint. Sahlins selbst merkt zu seinem Ansatz folgendes an: »My history cannot claim to be Marxist, but it has the same minimum and sufficient premises: that men and women are suffering beings because they act at once in relationship to each other and in a world that has its own relationships« (HM: vii). In Websters Augen bezieht sich Sahlins implizit auf Marx’ Analyse der Warenform und formuliert Marx’ Geschichtstheorie auf der Grundlage von Baudrillards Kritik am Marx’schen Produktionsparadigma konsumtheoretisch um. Sahlins’ Ausgangspunkt ist also – so Webster – ein universaler Widerspruch zwischen »social relationships and object relationships« (Webster 1987b: 54); dieser kehrt in Websters Augen in der Unterscheidung zwischen intersubjektiver Bedeutung und subjektivem Interesse wieder. Zudem argumentiert Webster, dass hinter Sahlins’ Unterscheidung zwischen intersubjektiver Bedeutung und subjektivem Interesse eine implizite Differenz zwischen Warentausch und Konsum steht. »A further likely implication of Sahlins’ epitome is that he views ›structure‹ in terms of commodity exchange, and ›practice‹ in terms of commodity desire or consumption, at least implicitly« (Webster 1987b: 55). Dies ist allerdings – so Webster – keine tatsächliche Dialektik, denn »practice is defeated by structure from the beginning« (Webster 1987b: 58). Im Lichte von Sahlins’ Absatzbewegung vom kapitalistischen Utilitarismus erscheint Sahlins’ Ansatz deshalb für Webster im höchsten Grad ironisch: »If ›structure‹, as Sahlins’ enumeration of the modes of this interaction suggests, is commodity exchange writ large, and ›practice‹ is commodity desire or consumption writ large, then his universal notion of history as suffering is just the supermarket scramble again« (Webster 1987b: 58). – Die Grundlage für Websters Deutung von Sahlins’ Geschichtstheorie ist seine Auffassung, dass es enge konzeptionelle Beziehungen zwischen Sahlins’ und Baudrillards Positionen gibt. Wie ich in Kapitel III argumentiert habe, kann Sahlins’ Ansatz aber nicht als ›poststrukturalistisch‹ bezeichnet werden, unterscheidet sich also deutlich von Baudrillards Frühwerk.

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der herrschenden Aristokratie pragmatisch und kreativ ausgelegt (IG: 13). Als Beispiel für eine präskriptive Ordnung nennt Sahlins die von Radcliffe-Brown beschriebenen Sozialordnungen der australischen Aborigines, »die durch korporative Abstammungsgruppen, starre Statuszuweisungen und Heiratsvorschriften gekennzeichnet« sind (IG: 12). Sahlins betont, dass seine Unterscheidung zwischen performativen und präskriptiven Strukturen idealtypisch ist und nicht ganze Gesellschaften bezeichnen muss; vielmehr können sowohl performative als auch präskriptive Strukturen in einer Gesellschaft auftreten. »Das impliziert auch, daß eine gegebene Gesellschaft gewisse strategische Orte historischen Handelns, sozusagen ereignisintensive Bereiche, und andere, relativ geschlossene Bereiche haben wird« (IG: 13).8 In dieser Aussage ist ein zentraler Aspekt von Sahlins’ Dynamisierung des strukturalen Kulturalismus enthalten: das Ereignis. Ein Ereignis erhält eine historische ›Bedeutung‹, wenn es »im Kontext und vermittels eines kulturellen Schemas aufgenommen wird« (IG: 14). Sahlins spezifiziert dieses Konzept von Ereignis dahingehend, dass er das Ereignis als eine Beziehung zwischen einem Geschehen und einer kulturellen Struktur bezeichnet (siehe auch CP: 301). Ereignis und kulturelle Struktur konstituieren die so genannte ›konjunkturale Struktur‹ (structures of the conjuncture), also »das Zusammentreffen von neuen oder sich verändernden Umständen und Beziehungen in historischen Situationen mit einer überkommenen kulturellen Ordnung«; diese Strukturen sind »ein Wechselspiel, das durch die Wirksamkeit der Interessen und Absichten handelnder Personen zur Austragung gebracht wird, ohne daß es jedoch in diesen Interessen und Absichten aufgeht« (TC: 57).9 In Islands of History definiert Sahlins eine konjunkturale Struktur als »die praktische Realisierung der kulturellen Kategorien in einem spezifischen historischen Kontext, so wie sie im interessegeleiteten Handeln der historischen Subjekte zum Ausdruck kommt, einschließlich der Mikrosoziologie ihrer Interaktion« (IG: 14). Die im Handeln entstehenden Beziehungen sind zwar vom kulturell überlieferten Schema des Selbstverständnisses der Handelnden motiviert, werten diese Schemata aber zugleich auch um. Bewertungen sind kontextspezifisch und können auf das Verständnis überlieferter Bedeutungen zurückwirken. Handeln bringt noch nicht dagewesene Beziehungen zwischen den handelnden Subjekten und zwischen ihnen und den Handlungsgegenständen mit sich. Im Rahmen dieser konjunkturalen Strukturen können sich letztlich die handlungsleitenden Bedeutungen verändern (TC: 110); jede Transforma8 9

Für eine Diskussion von Sahlins’ Unterscheidung zwischen ›präskriptiven‹ und ›performativen‹ Strukturen siehe Robbins 2004: 189-190. So weit ich dies überblicken kann, wird der Begriff structure of the conjuncture in der deutschen Fassung von Historical Metaphors mit ›Strukturen der Konjunktur‹ übersetzt, in der Übersetzung von Islands of History mit ›konjunkturale Struktur‹. In der deutschen Fassung von William H. Sewells Diskussion von Sahlins’ Geschichtstheorie ist der Begriff mit ›Struktur der Konstellation‹ übersetzt (Sewell 2001).

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tion einer Struktur ist mit ihrer Reproduktion verknüpft. Sahlins glaubt, dass insbesondere interkulturelle Kontakte solche Prozesse vervorrufen (TC: 110). Allerdings wird kultureller Wandel auch durch kulturinterne Faktoren ausgelöst, und zwar so lange, »wie überhaupt Handelnde mit unterschiedlichen Vorstellungen und Projekten ihre Handlungen aufeinander und zugleich auch auf eine Außenwelt beziehen« (TC: 110; siehe auch CP: 276). In ›The Return of the Event, Again‹ reformuliert Sahlins die ›strukturelle Diskontinuität‹ zwischen Struktur und Handeln als dreifache Bewegung (Sahlins 1991; CP: 293-351). Erstens gibt es in Sahlins’ Augen ein Moment der Vergegenwärtigung »wherein the larger cultural categories of the history are represented by particular persons, objects, and acts« (CP: 342); die kulturellen Kategorien von sozialen Kollektiven können beispielsweise in bestimmten Personen verkörpert sein. Davon unterscheidet Sahlins zweitens die Lösung »of the incarnated forces and relations, the incidents proper, being what the persons so empowered as main historical agents actually do and suffer« (CP: 342). Sahlins betont, dass die Handlungsweisen nicht einfach die Ausführung bestehender kultureller Kategorien sind, »since as persons they are subject to circumstances and interests that are not foreseen in the categories« (CP: 342). Schließlich nennt Sahlins als drittes Element die Totalisierung der Handlungsfolgen, »or the return of the act to the system by the attribution of general meanings to particular incidents« (CP: 342). Sahlins betont, dass diese drei Momente der Vermittlung zwischen Struktur und Handeln nicht in einer streng voneinander abgegrenzten temporalen Relation stehen.10

10 Sahlins’ Begriff der ›konjunkturalen Struktur‹ erinnert an Fernand Braudels Leitbegriffe historischer Arbeit, structure und conjuncture; darüber hinaus scheint Sahlins’ These über die Persistenz kultureller Strukturen in einem systematischen Zusammenhang zu stehen mit Braudels Konzept der longue durée. Die Phänomene der ›langen Dauer‹, die Braudel analysiert, sind allerdings ökonomisch-sozialer sowie geographisch-materieller Natur (siehe Braudel 1994). Sahlins schließt zwar an Braudels Idee an, dass ›Geschichte‹ nicht als die bloße Aneinanderreihung singulärer Ereignisse verstanden werden kann, doch für ihn stehen kulturelle Strukturen im Mittelpunkt, nicht geographische Rahmenbedingungen menschlicher Existenz. Zudem formuliert Sahlins Braudels Konzept der longue durée handlungstheoretisch um, denn die ›konjunkturale Struktur‹ wird für Sahlins durch das Zusammentreffen bzw. die gegenseitigen Überlagerungen und daraus resultierenden Ambivalenzen von Ereignissen, kulturellen Strukturen und intentional handelnden Akteuren konstituiert (siehe Biersack 1989: 72-73; siehe auch IH: 125, n.11). Für Sahlins’ Kritik an Braudels Geringschätzung des ›Ereignisses‹ siehe CP: 294-295. Zum Einfluss der Annales auf Sahlins siehe Burke 2004: 129. Zur Annales-Geschichtsschreibung siehe Burke 2004; Daniel 2001: 221-232; Raphael 2003: 96-116. Für Analysen von Braudels Ansatz siehe Kinser 1981; Reinhard 1992.

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2. »Different Cultures, Different Historicities« Sahlins’ bekanntestes Beispiel für eine konjunkturale Struktur sind wohl die Ereignisse, die zu James Cooks Tod auf Hawai’i 1779 geführt haben. Sahlins diskutiert den Tod von James Cook das erste Mal in ›The State of the Art‹ (1977) und diskutiert dieses Ereignis in den folgenden Jahren immer wieder, zuletzt in How ›Natives‹ Think (1995). Die Ereignisse, die letztlich zu Cooks Tod führten, sind für Sahlins ein Beispiel für die Fruchtbarkeit seiner Historisierung des Strukturalismus. »Taking it particularly from the Hawaiian side, one discerns in the logically motivated encoding of the European intrusion a process by which an indigenous order produces both permutations of itself and a system of historic action that collaborates in its own destruction« (Sahlins 1977: 24). Im Folgenden schildere ich zunächst das Geschehen, das zu James Cooks Tod geführt hat; hier stütze ich mich in erster Linie auf die wichtigsten Primärquellen.11 Im Anschluss daran analysiere ich Sahlins’ Interpretation der Ereignisse; besondere Beachtung findet nicht nur Sahlins’ Deutung des empirischen Materials, sondern auch die Rolle der Ansätze von Lévi-Strauss, Clastres und Dumézil für Sahlins’ historisch-anthropologischen Ansatz. Die europäische Entdeckung und Erschließung des Pazifiks im 18. Jahrhundert war nicht mehr in erster Linie durch den Wunsch nach Eroberung oder der Suche nach Reichtümern motiviert. Zunehmend wurden auch andere Ziele wie neue Handelsmöglichkeiten und wissenschaftliche Erkenntnisse bedeutsam.12 Ziel der dritten Reise von James Cook war die Suche nach der Nordwestpassage, von der man glaubte, sie könne die lange Reise zwischen England und China verkürzen. Anfang 1778 stieß Cook erstmals auf die hawaiianische Inselgruppe, hatte aber nur begrenzt Kontakt mit Einheimischen (Cook, I: 261-287; siehe auch Thomas 2003: 354-359). Die Ereignisse, die zu Cooks Tod führten, spielten sich fast ein Jahr später ab, als Cook aus dem Nordpazifik nach Hawaii zurückkehrte, um dem einbrechenden Winter zu entgehen. Hawaii wurde am 26. November 1778 gesichtet, und Cook entschloss sich, zunächst an den Küsten entlangzuse11 1784 wurden die Logbücher der dritten Reise James Cooks veröffentlicht (Cook/ King 1784). J.C. Beaglehole gab 1967 eine Version der ›inoffiziellen‹ Logbücher heraus, die von der 1784 veröffentlichten Ausgabe teilweise drastisch abweicht und als Quellengrundlage vorzuziehen ist (Beaglehole 1967a). Diese Ausgabe enthält zudem Logbücher von Anderson, Samwell, Clerke, Burney, Williamson, Edgar und King (so weit nicht anders gekennzeichnet, beziehen sich Quellenangaben auf die Beaglehole-Ausgabe der inoffiziellen Logbücher; die römische Zahl I oder II bezieht sich auf den jeweiligen Teilband des dritten Bandes, der die Logbücher der dritten Reise umfasst). Zur dritten Reise Cooks siehe auch Rickman 1781 und Zimmermann 1781. Für eine allgemeine Diskussion der Quellen siehe Beaglehole 1967b: clxxi-ccx und Valeri 1985: xviii-xix. Für wichtige Sekundärliteratur zu Cooks Reisen siehe Beaglehole 1974; Salmond 2003; Thomas 2003. 12 Für den Zusammenhang zwischen wissenschaftlicher Entwicklung und der Erforschung des Pazifik siehe unter anderem Bitterli 1986: 178-204.

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geln. Als die Resolution und die Discovery dann am 17. Januar 1779 an der Kealakekuabucht Hawai’is vor Anker gingen, wurden sie bereits von tausenden Hawaiianern erwartet – King schreibt sogar von bis zu 10000 Hawaiianern (King, I: 503).13 Bereits am Tag seiner Ankunft nahm Cook an einer religiösen Zeremonie der hawaiianischen Priester in ihrem Tempel teil, »of which we could only guess at its Object & Meaning« (King, I: 506; siehe auch Samwell, II: 1159). An anderer Stelle schreibt King: »This on the first visit of Captn Cook to their houses seemd to approach to Adoration« (King, I: 509). Auch in den folgenden Tagen konnten sich Cook und seine Besatzung der außergewöhnlichen Aufmerksamkeit seitens der Hawaiianer sicher sein. Am 19. Januar schreibt Samwell: »To day a Ceremony was performed by the Priests in which he [Cook] was invested by them with the Title and Dignity of Orono [Lono], which is the highest Rank among these Indians and is a Character that is looked by them as partaking something of divinity« (Samwell, II: 1161-1162). Mit hawaiianischer Hilfe errichteten die Engländer ein Observatorium, auf das offensichtlich eigens ein Tabu eingerichtet wurde; die Priester versorgten die Besucher zudem mit Lebensmitteln. Immer wenn Cook den Strand betrat, wurde er bereits erwartet: »the Priesthood always received him, & began singing a sentence, which made the people prostrate themselves« (King, I: 510). Allerdings nahm King auch Unterschiede wahr zwischen den Priestern und den Häuptlingen – die Priester, so erschien es King, waren den Besuchern freundlicher gestimmt (King, I: 511). Am 26. Januar erschien der König Kalani’ǀpu’u und überbrachte Cook wertvolle Geschenke. Am 1. Februar starb der Matrose William Watman auf der Resolution; am selben Nachmittag wurde Watman am hawaiianischen Tempel beerdigt – offensichtlich auf Wunsch der Hawaiianer selbst. »The Chiefs knowing of his death expressed a desire that he [Watman] might be bury’d on shore« (King, I: 517). Am gleichen Tag schleppten die Engländer mit Erlaubnis der Priester Teile der Einfriedung des hawaiianischen Tempels und der Bildnisse als Feuerholz davon. Die Herzlichkeit der Hawaiianer schien sich Anfang Februar jedoch langsam zu wandeln, und die Engländer wurden einige Male gefragt, wann sie Hawai’i wieder verlassen würden. Cook brach am 4. Februar 1779 auf, kehrte aber nur wenig später zur Kealakekua-Bucht zurück, um eines seiner Schiffe zu reparieren. Als Cooks Schiffe am 11. Februar wieder vor Kealakekua auftauchten, war die Begrüßung der Hawaiianer nicht im Entferntesten so herzlich wie zuvor. »Upon our first Anchoring very few of the Natives came to us« (King, I: 528). Viele Hawaiianer reagierten mit Misstrauen auf die Besucher, vor allem die hawaiianischen Häuptlinge schienen Cook feindlich gesonnen. Captain Clerke merkt in seinem Eintrag vom 14. 13 Siehe auch Samwell, II: 1158. Der letzte Eintrag von James Cook in seinem inoffiziellen Logbuch datiert auf den 17. Januar 1779. Für die Analyse der Ereignisse in den letzten Wochen von Cooks Leben ist man auf andere Tage- und Logbücher angewiesen, insbesondere auf das von Lieutenant King. Für eine Zusammenfassung der Ereignisse in den Wochen vor Cooks Tod siehe Thomas 2003: 378-404.

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Februar an, dass die Bereitschaft zum Diebstahl auf Seiten der Hawaiianer stark zugenommen habe (Clerke, I: 531), und in der Nacht des 13. Februar wurde als vorläufiger Höhepunkt das Beiboot der Discovery gestohlen (Samwell, II: 1194). Am 14. Februar machte sich James Cook zusammen mit Lieutenant Molesworth Phillips und neun Besatzungsmitgliedern zum hawaiianischen König auf, um ihn zur Rede zu stellen. Phillips berichtete Clark später, dass Cook mit dem König sprach und feststellte, dass dieser unschuldig sei; Cook bot ihm an, ihn auf sein Schiff zu begleiten, und Kalani’ǀpu’u stimmte zu. Eine der Frauen des Häuptlings, Kaneikapolei, forderte den König aber auf zu bleiben, und zwei Häuptlinge unterstützten sie dabei. Die Stimmung schlug nun um: Phillips berichtet, dass sich plötzlich eine große Gruppe von bewaffneten Hawaiianern um sie bildete – »an immense Mob compos’d of at least 2 or 3 thousand People«, und es kam zu einem Handgemenge. »They now made a general attack and the Capt gave orders to the Marines to fire and afterwards called out ›Take to the Boats‹« (Clerke, I: 535-536). Phillips selbst konnte sich retten, doch Cook überlebte die Angriffe der Hawaiianer nicht. In der folgenden Nacht besuchten zwei Priester die Engländer und übergaben ihnen einige Überreste von Cooks Leiche. Dabei stellten sie King offensichtlich die Frage, wann Lono wiederkehren würde (King, I: 561). In den folgenden Tagen eskalierten die gegenseitigen Feindseligkeiten, und die Engländer brannten eine hawaiianische Siedlung nieder. »In the Afternoon the Boats return’d to the Watering business and as the Natives continued troublesome we burnt down the Town that was at the head of the Beach which depriv’d them of their principal shelter« (Clerke, I: 545; siehe auch King, I: 562-563). Am 18. Februar berichtet King, dass der Frieden wieder hergestellt sei. »From this night […] we may be said to have made peace with the Natives, for on the two following days all the remaining bones of Captn Cook were return’d, a Chief came with presents from Terreeoboo, & many were brought from other Chiefs« (King, I: 565). Um Sahlins’ Interpretation der Ereignisse zu verstehen, die zu James Cooks Tod führten, versuche ich im Folgenden zunächst, Sahlins’ These, »daß verschiedene kulturelle Ordnungen ihre eigenen Formen des historischen Handelns, des Bewußtseins und der Entscheidungsfindung, also ihre eigene historische Praxis haben« (IG: 49), genauer zu bestimmen. Eine entscheidende Rolle für seinen Theorieentwurf spielen nicht nur handlungsleitende Dispositionen einzelner Akteure, sondern auch mythopoetische Objektivierungen historischer Erfahrung. Sahlins’ Verständnis von der Rolle, die Mythen in vormodernen Gesellschaften spielen, weicht dabei bedeutend von Lévi-Strauss’ Ansatz der Mythologie ab. Lévi-Strauss verfolgt ja das Ziel, am ethnographischen Material die universalen Strukturen des menschlichen Geistes herauszuarbeiten; sein Erkenntnisinteresse verschiebt sich dabei im Laufe der Jahre von Verwandtschaftsstrukturen (LéviStrauss 1981) über Klassifikationssysteme (Lévi-Strauss 1968) hin zur Mythologie (Lévi-Strauss 1983), in der sich die unbewussten und universalen Strukturen des Geistes in ihrer klarsten Form artikulieren sollen. Erst in seiner Analyse der

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amerikanischen Mythen findet Lévi-Strauss’ Kulturanalyse ihren angemessenen ethnographischen Erkenntnisgegenstand: »Wir behaupten […] nicht, zeigen zu können, wie die Menschen in den Mythen denken, sondern wie sich die Mythen in den Menschen ohne deren Wissen denken« (Lévi-Strauss 1983: 26). Dies ist eine ebenso oft wie gerne zitierte Textstelle, zeigt sie doch klarer als die meisten anderen Formulierungen von Lévi-Strauss, um was es in der ›strukturalen Anthropologie‹ eigentlich geht: um eine Analyse unbewusster Differenzensysteme, die sich in kulturellen Formen ›ausdrücken‹, ohne dass dies den Erschaffern dieser kulturellen Formen bewusst wäre. Lévi-Strauss’ Ansatz entwirft, wie Paul Ricœur dies ausdrückt, eine kantische Philosophie ohne transzendentales Subjekt (Ricœur 1973: 68); der Strukturalismus ist zudem anti-hermeneutisch. Der strukturalistischen Mythenanalyse geht es nicht um die ›subjektive Perspektive des Akteurs‹, also dem Zusammenhang zwischen mythologischen Formen, Bedeutungskonstituierung und sozialer Praxis. Vielmehr arbeitet der Strukturalismus die den Mythen zu Grunde liegenden Tiefenstrukturen heraus, die sich in den Mythen besonders klar artikulieren, »weil sie vom sozialen und ökonomischen Reich der Notwendigkeit am weitesten entfernt zu sein scheinen« (Fink-Eitel 1994: 33). Eine unmittelbare Relation zwischen Mythos und Welt existiert nicht; der Mythos ist keine Repräsentation natürlicher, sozialer oder politischer Realität, liefert also keine unmittelbar ›ethnographischen‹ Informationen. Der Mythos kann nur in unmittelbarer Beziehung gesetzt werden zu anderen Mythen.14 Im Gegensatz zu Lévi-Strauss verknüpft Sahlins Mythen mit gesellschaftlicher Bedeutungskonstituierung und sozialer Praxis. Erst dies ermöglicht eine handlungstheoretische Konzeption von Geschichte unter Einbeziehung indigener Mythologien. Die ›Bedeutung‹ von Mythen reduziert sich in Sahlins’ Augen nicht auf die den Mythen zu Grunde liegenden Tiefenstrukturen; Sahlins gibt dem strukturalistischen Programm eine hermeneutische Wende.15 14 Für weiterführende Darstellungen von Lévi-Strauss’ Mythenanalyse vgl. Hénaff 1998: 159-189; Paul 1996: 180-214; Johnson 2003: 68-103. Lévi-Strauss’ bekannteste Mythenanalyse ist wohl ›Die Geschichte von Asdiwal‹ (Lévi-Strauss 1975: 169-224). Für eine ethnographisch inspirierte Kritik dieser Arbeit siehe Thomas et al. 1976. 15 Sahlins nähert sich damit der symbolischen Anthropologie von Clifford Geertz an. Geertz kritisiert den Lévi-Strauss’schen Strukturalismus bereits 1967 (Geertz 1973: 345-359) und merkt zu Lévi-Strauss in ›Deep Play‹ an: »[Lévi-Strauss] ist nicht bestrebt zu verstehen, wie symbolische Formen in konkreten Situationen bei der Organisierung von Wahrnehmung […] funktionieren; er möchte sie völlig in Begriffen ihrer internen Struktur verstehen, indépendent de tout sujet, de tout objet, et de toute contexte« (Geertz 1973: 254). Für die Ähnlichkeiten der Ansätze von Sahlins und Geertz siehe auch Biersack 1989, für Überblicke zu Geertz’ Gesamtwerk siehe Kumoll 2006b, 2006d. Die konzeptionellen Ähnlichkeiten zwischen den Entwürfen von Geertz und Sahlins sollten gleichwohl nicht überbetont werden, denn während Geertz den Strukturalismus in seiner Gänze verabschieden will, steht Sahlins’ historischer Kulturalismus der strukturalistischen Theorietradition weiterhin vergleichsweise nahe.

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Sahlins argumentiert, dass die persönliche Geschichte der Bewohner Hawaiis mit der Biographie und dem Handeln des Königs verknüpft war; das eigene Leben war in das des Königs eingebettet. »Im Extremfall leben die Menschen fast ›geschichtslos‹. In Hawaii untergräbt die ständige Umverteilung des Landes unter den regierenden Häuptlingen jede lokale Lineage-Bildung und reduziert das genealogische Gedächtnis der einfachen Menschen weitgehend auf persönliche Erinnerungen [...] Für sie ist die Kultur etwas, das ›gelebt‹ wird – in der Praxis und als Habitus. Ihr Leben basiert auf einer unbewußten Handhabung des Systems« (IG: 61). In der Elite drückt sich historisches Bewusstsein »in historischen Genre-Erzählungen« aus (IG: 62), ist also gewissermaßen objektivierte Geschichte, währenddessen sich das kulturelle Bewusstsein der einfachen Bevölkerung in alltäglicher, routinisierter sozialer Praxis ausdrückt; Sahlins sieht darin »eine kulturelle Arbeitsteilung, die dem heroischen Modus der Geschichtsproduktion entspricht« (IG: 62). Während die Inkorporierung kultureller Schemata weitgehend unbewusst ist, können in Mythen objektivierte Ideen »das historische Handeln explizit als die Projektion mythischer Beziehungen organisieren« (IG: 63), denn die »Erfahrungen berühmter mythischer Protagonisten werden von den Lebenden unter vergleichbaren Umständen wiedererfahren« (TC: 27). In Gesellschaften mit einem Gottkönigtum ergeben sich historische Abläufe aus »der Präsenz des Göttlichen unter den Menschen [...] Dementsprechend wird das Prinzip der historischen Praxis gleichbedeutend mit göttlichem Handeln: die Erschaffung der menschlichen und kosmischen Ordnung durch einen Gott« (IG: 49). Sahlins möchte zwar nicht eine Geschichtsforschung wiederbeleben, in der allein große Männer die Geschichte ›machen‹. Aber in Gesellschaften, die durch das Gottkönigtum organisiert sind, drückt das Königtum fundamentale Grundcharakteristika der jeweiligen Gesellschaften aus: Es ist nach einem kosmischen Ordnungsprinzip organisiert, das auch das der Gesellschaft ist. Soziale Handlungen des Königs sind paradigmatisch für die Handlungen der Mitglieder der jeweiligen Gesellschaft; der König hat deshalb eine unverhältnismäßig große historische Wirkung. Kennzeichen solcher so genannten »heroischen Gesellschaften« (IG: 56) ist unter anderem ein Organisationsprinzip, das Sahlins in Anlehnung an Durkheim »hierarchische Solidarität« nennt (IG: 57): Soziale Integration wird weder durch die Ähnlichkeit von gesellschaftlichen Segmenten gesichert (was Durkheim mechanische Solidarität nennt) noch durch Komplementarität (wie bei organischer Solidarität), sondern durch eine gemeinsame Unterordnung unter die jeweils herrschende Macht. Der Grund für eine gemeinsame Unterordnung sieht Sahlins nicht in der Existenz eines Zwangsapparats, sondern in einer Kollektivität, die sich aus bestimmten kulturellen Eigenschaften speist. Sahlins’ Schlüssel zum Verständnis polynesischer Kulturen und ihren historischen Wandlungsprozessen im Rahmen der europäischen Expansion ist eine sorgfältige Analyse ihrer Mythen. Polynesische Kosmologie im allgemeinen ist, so Sahlins, auf »stereotypisierende Wiederholung« angelegt: »Starke Kontinuitäten in der Denk- und Vorstellungsweise verknüpfen die zeitlich frühesten Ele-

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mente der Mythen von der Entstehung der Welt mit den Häuptlingshelden der späteren Legenden« (TC: 26). Sahlins widerspricht Malinowskis utilitaristischer Auffassung über die Natur des Mythos als Rechtfertigung der Verhältnisse der Gegenwart; die Mythen sind nicht herrschaftserhaltend, sondern geschichtsmächtig. Beispielsweise erleben die Maori ihre Geschichte als Wiederholung. »Wo also das westliche Denken darum ringt, die Geschichte kontingenter Ereignisse zu begreifen, die es selbst herbeiführt, indem es grundlegende Kräfte oder Strukturen wie Produktion oder mentalité heranzieht, entfaltet sich die Welt der Maori als ewige Wiederkehr, als stets sich wiederholende Manifestation der gleichen Erfahrungen« (IG: 67; siehe dazu auch TC: 27); selbst die Lebenden können zu mythischen Helden werden. Der Unterschied zwischen der Kosmologie der Maori und der der Hawaiianer besteht für Sahlins in etwa in dem Unterschied, den Dumézil zwischen kosmischen Mythen und historischer Epik macht, wenn er indische und römische Überlieferungen klassifiziert: »Den Beobachtungen Dumézils zufolge, denken die Inder kosmisch, philosophisch und moralisch, während die Römer national, praktisch und politisch denken« (TC: 28). Vedische Überlieferungen, so Sahlins, haben daher die Form von Mythen und Fabeln, römische die der Historie; den Taten göttlicher Wesen in den vedischen Überlieferungen entsprechen in den römischen die Handlungen legendärer Könige. Der Graben zwischen indischer und römischer Überlieferung ist jedoch nicht unüberbrückbar: Dieselben kulturellen Schemata, die im indischen Mythos die Form von Abstraktem und Jenseitigem annehmen, treten in der römischen Historiographie in vermenschlichter Form auf (TC: 28). In gleicher Weise unterscheidet sich in Sahlins’ Augen die Kosmologie der Maori von der ›vermenschlichten‹ Mythologie Hawaiis. Die von Dumézil getroffene Unterscheidung zwischen heiligem Mythos und historischer Legende drückt in Sahlins’ Augen zudem nicht nur eine Differenz zwischen unterschiedlichen Kulturen aus, sondern erscheint beispielsweise bei den Maori zugleich als »eine zusammenhängende Abfolge von Stadien« innerhalb ihrer Kultur (IG: 66); Mythologie und historische Legende haben für Sahlins demzufolge eine unterschiedliche ›zeitliche Tiefe‹. Die Schöpfungsgeschichten Hawaiis sind keine Erklärung des Universums wie bei den Maori, sondern thematisieren den Ursprung der Gesellschaft (TC: 28). Die hawaiianischen Legenden werden deshalb »direkt mit den Generationenfolgen verknüpft, welche die Abstammungszusammenhänge der großen Häuptlinge ausmachen« (TC: 29). Genealogisch am weitesten entfernt sind berühmte Götter; schrittweise ziehen diese sich aus der mythischen Szene zurück. »Als legendäre Protagonisten verbleiben schließlich nur mehr die großen Häuptlinge der alten Zeiten, die Vorfahren der auf den Inseln herrschenden Geschlechter« (TC: 30). Die Ebene der Handlungen in den Legenden verschiebt sich sodann vom Vertikalen ins Horizontale. Die Helden der hawaiianischen Geschichten bestehen ihre Abenteuer nicht mehr vorrangig im Kontakt mit göttlichen Reichen, die über der Erde angesiedelt sind, sondern auf der Erde selbst – abenteuerliche Reisen in ferne Länder werden zu einem wichtigen Topos. Die Vorstellung

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eines ursprünglichen Ortes wird dabei auf weitentfernte Orte übertragen. »Von dort her empfängt das für die hawaiische Kultur so bedeutende Kahikikonzept ›der unsichtbaren Länder jenseits des Horizontes‹ auch den Sinn einer Urzeit« (TC: 30). In den jüngsten Stufen der Legenden hören die Reisen in weitentfernte Länder auf, und der Schauplatz verengt sich auf die hawaiianische Inselgruppe. Allerdings erlaubt es die genealogische Tradition nach wie vor, die Helden mit den Göttern zu verknüpfen – deshalb ist es möglich, dass Götter in den Personen der Helden wiedererscheinen (TC: 31). Ein für polynesische Gesellschaften geschichtsmächtiger Mythos – und damit ein tatsächliches Organisationsprinzip historischer Praxis (IG: 81) – ist die Begründung des Königtums: Das Königtum kommt von außerhalb der Gesellschaft. Sahlins schließt hier an die politische Philosophie Pierre Clastres an (Clastres 1976), der sich wiederum kritisch von Lévi-Strauss’ Ausführungen über die Entstehung politischer Asymmetrien bei den Nambikwara in den Traurigen Tropen absetzt.16 Lévi-Strauss geht hier vom Angelpunkt der Verwandtschaftsverhältnisse in jener Gesellschaft aus, die so genannte ›Kreuzkusine‹. Die Männer heiraten in erster Linie eine Tochter der Schwester des Vaters oder des Bruders der Mutter; dem Häuptling steht allerdings das Privileg der Polygamie zu. Lévi-Strauss begründet diesen Unterschied mit einer grundlegenden Asymmetrie des Verhältnisses zwischen Häuptling und Gruppe. Der herausragende Status des Häuptlings verdankt sich nämlich nicht seiner Möglichkeit, Zwang auszuüben, sondern »daß der Häuptling als die Ursache des Wunschs der Gruppe erscheint, sich als Gruppe zu konstituieren, und nicht als die Folge des Bedürfnisses nach einer zentralen Autorität, das eine bereits konstituierte Gruppe empfindet« (Lévi-Strauss 1996: 306). Die Zustimmung der Gruppe, die dem Häupling widerfährt, kann ihm jederzeit entzogen werden. Dieser Zustimmung versichert sich der Häuptling nicht durch die Ausübung von Zwang, sondern durch Großzügigkeit, Einfallsreichtum oder Unterhaltungstalent (Lévi-Strauss 1996: 306-308). Als Ausgleich erhält der Häuptling das Wertvollste, das die Gruppe zu bieten hat: Frauen. Ursprung und zugleich Grenze der Macht ist also die Zustimmung der ihr Unterworfenen und nicht der Zwang, den Einzelne ausüben können; die zentrale Funktion der Macht ist die Aufrechterhaltung eines sozialen Gleichgewichts und der Gegenseitigkeit, »einem weiteren grundlegenden Attribut der Macht« neben der Zustimmung (Lévi-Strauss 1996: 312), denn es gilt: »Der Häuptling hat die Macht, aber er muß auch großzügig sein. Er hat Pflichten, aber er darf mehrere Frauen haben. Zwischen ihm und der Gruppe entsteht ein sich ständig erneuerndes Gleichgewicht zwischen Leistungen und Privilegien, Diensten und Pflichten« (LéviStrauss 1996: 312). Zudem tauscht die Gruppe individuelle Elemente der Sicherheit, die mit der Monogamie verknüpft sind, gegen eine kollektive Sicherheit, die

16 Das dritte Kapitel von Islands of History, ›The Stranger-King‹, ist Pierre Clastres gewidmet (IH: 73).

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der Häuptling der Gruppe als Ganzes »in Zeiten der Not und der Gefahr« garantiert (Lévi-Strauss 1996: 312).17 Pierre Clastres knüpft an Lévi-Strauss’ Thesen über politische Macht an, wenn er anmerkt, es sei nicht einleuchtend, »daß Zwang und Unterwerfung überall und immer das Wesen der politischen Macht bilden« (Clastres 1976: 13). Clastres Ausgangspunkt ist seine Überlegung, dass die universale Vorstellung einer zwangsausübenden Macht der Ausdruck eines westlichen Ethnozentrismus ist, eines Ethnozentrismus zumal, der davon ausgeht, primitive Kulturen seien ›archaisch‹, weil sie Subsistenzwirtschaft betreiben und keine Schrift haben:18 »Unsere Kultur denkt, seit ihrem Ursprung, die politische Macht im Rahmen hierarchisierter und autoritärer Befehl-Gehorsam-Beziehungen« (Clastres 1976: 16). Eine Folge dieses Ethnozentrismus ist – so Clastres –, dass das Fehlen einer Befehl-Gehorsam-Beziehung das Fehlen einer politischen Macht impliziert. »Und so gibt es nicht nur Gesellschaften ohne Staat, sondern auch Gesellschaften ohne Macht« (Clastres 1976: 17). Demgegenüber argumentiert Clastres, dass die politische Macht allgegenwärtig, also universell ist und sich in zwei Hauptformen ausdrückt, »als zwangausübende und als nicht zwangausübende Macht« (Clastres 1976: 23). Damit ist für Clastres die staatliche Form von Macht nur ein historischer Sonderfall von Macht. Clastres überführt diese Unterscheidung in eine allgemeine Typologie von Gesellschaft, denn die Gesellschaften mit zwangsausübender Macht sind für Clastres ›historische‹ Gesellschaften, währenddessen Gesellschaften mit nicht zwangsausübender Macht ›geschichtslose‹ Gesellschaften sind.19 Wenn es keine Gesellschaften ohne Politik gibt, erscheint Clastres folgende Engführung von Politik und Gesellschaft naheliegend: »Was ist politische Macht? Das heißt: was ist Gesellschaft?« (Clastres 1976: 25) Geschichte ist für

17 Siehe zu diesem Ansatz auch Fink-Eitel 1994: 38-41, der Lévi-Strauss’ Ausführungen vor dem Hintergrund der Philosophie Rousseaus liest. »Der contrat social im Naturzustand: Macht gründet in vereinender Zustimmung statt in entzweiendem Zwang. Sie hat soziale Gegenseitigkeit aufrechtzuerhalten und nicht die Ungleichheit von Herrschaft, die die Gesellschaft in Herrschende und Beherrschte aufspaltet« (Fink-Eitel 1994: 41). 18 Clastres Vorstellung von Ethnozentrismus schließt explizit an Sahlins’ Wirtschaftsethnologie an, denn Clastres argumentiert, dass die Vorstellung, ›archaische‹ Gesellschaften würden sich in einem immerwährenden Kampf ums ökonomische Überleben befinden, ethnozentrisch ist: Archaische Gesellschaften seien durchaus in der Lage, Überschüsse zu produzieren. »In Wahrheit gehört der Gedanke der Subsistenzwirtschaft in das ideologische Feld des modernen Abendlands und keineswegs zum Begriffsapparat einer Wissenschaft« (Clastres 1976: 14-15). Die Aufrechterhaltung bloßer Subsistenz ist in Clastres Augen nicht das Problem archaischer Gesellschaften, sondern eher das des europäischen Proletariats des 19. Jahrhunderts. »Die primitiven Gesellschaften sind […] Gesellschaften der Arbeitsverweigerung […] Erste Freizeitgesellschaften, erste Überflußgesellschaften, wie M. Sahlins richtig sagt« (Clastres 1976: 186). 19 Diese Unterscheidung ist natürlich ein Echo von Lévi-Strauss’ Unterscheidung zwischen ›kalten‹ und ›heißen‹ Gesellschaften. Siehe dazu Fink-Eitel 1994: 86.

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Clastres der Übergang von einer Gesellschaftsform mit nicht zwangsausübender Macht in eine mit zwangsausübender Macht. Wie auch Lévi-Strauss fragt sich Clastres, wodurch sich der Häuptling in südamerikanischen Gesellschaften des Tropenwaldes, die sozial kaum geschichtet sind und ohne autoritäre Macht auskommen, definiert. Der Häuptling ist ein Friedensstifter; er ist großzügig; er muss ein guter Redner sein; schließlich genießt er zumeist das Privileg der Polygamie. Clastres argumentiert nun, dass die erste Eigenschaft – der Häuptling als Friedensstifter – auf einer anderen Ebene liegt als die anderen drei Eigenschaften. Die friedensstiftende Funktion des Häuptlings entwickelt sich im Rahmen »der streng politischen Praxis« (Clastres 1976: 38), währenddessen die anderen drei Funktionen die Gesamtheit der Austauschbeziehungen zwischen sozialer Gruppe und politischer Institution konstituieren, denn während der Häuptling ein Anrecht auf mehrere Frauen der Gruppe hat, hat diese wiederum das Recht auf Großzügigkeit und Rednergabe des Häuptlings. Diese Gaben und Gegengaben, die zwischen Häuptling und der Gruppe zirkulieren, verkörpern im Sinne Lévi-Strauss’ die transzendentale Ebene der Gesellschaft, »die den Übergang von Natur zu Kultur bewerkstelligt und es ermöglicht, das soziale Gleichgewicht im Austausch von Gütern, sprachlichen Zeichen und Frauen aufrechtzuerhalten« (Fink-Eitel 1994: 87). Die Interpretation einer Äquivalenz der Gaben zwischen Häuptling und Gruppe hält Clastres aber für unzulänglich, denn der Häuptling kann mit seinen spärlich bemessenen Reichtümern die Frauen, die ihm gegeben werden, nicht adäquat vergelten (Clastres 1976: 39-40). Die Pointe von Clastres Argumentation reduziert sich allerdings nicht auf den Nachweis, dass das Verhältnis zwischen politischer Macht und sozialer Gruppe eines der Asymmetrie ist, sondern dass die soziale Gruppe die politische Macht aus sich ausschließt. Denn wenn das Wesen der Gesellschaft ein Universum der Kommunikation ist, das sich durch die Reziprozität der Austauschverhältnisse konstituiert und reproduziert, fällt politische Macht aus der Gesellschaft heraus, weil die Beziehung zwischen ihr und der Gruppe keine der Reziprozität ist. Die Zirkulation der Frauen verläuft einseitig von der Gruppe zum Häuptling; die Zirkulation der Güter sowie der sprachlichen Zeichen verläuft einseitig vom Häuptling zur sozialen Gruppe. »Die Macht ist gegen die Gruppe, und die Verweigerung der Reziprozität als ontologische Dimension der Gesellschaft ist die Verweigerung der Gesellschaft selbst […] die Ohnmacht der politischen Funktion wurzelt also in der negativen Beziehung zur Gruppe; daß sie außerhalb der Gesellschaft gestellt wird, ist gerade das Mittel, sie zur Ohnmacht zu verdammen« (Clastres 1976: 43).

Diesem Ausschluss der politischen Macht aus der Gesellschaft liegen keine bewussten Handlungen oder Einstellungen der Akteure zu Grunde, sondern die unbewusste Tätigkeit des Geistes, »durch welche die Gruppe ihre Modelle erarbei-

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tet« (Clastres 1976: 44). In der Gesellschaft gibt es eine Identifizierung von Macht und Natur, und demzufolge begreift die Kultur politische Macht als das Wiederauftauchen der Natur. Kultur ist eine absolute Negation von Macht. Deshalb sind die Indianer in den Augen Clastres Staatsfeinde, die bereits frühzeitig ahnten, »daß die Transzendenz der Macht für die Gruppe eine tödliche Gefahr birgt« (Clastres 1976: 46).20 Sahlins greift in Islands of History zwar Clastres Analyse auf, interpretiert sie allerdings in einer Weise um, die hinsichtlich des konzeptionellen Übergangs von Sahlins’ Wirtschaftsethnologie zu seinem kulturalistischen Paradigma aufschlussreich ist. Einer meiner in Kapitel II entwickelten Kritikpunkte an Sahlins’ Theorie der Reziprozität in Stone Age Economics ist ja, dass Sahlins, insbesondere in ›On the Sociology of Primitive Exchange‹, die symbolische Organisation der Wirklichkeit weitgehend ignoriert. Auf eine Folge hat Geoffrey MacCormack aufmerksam gemacht, denn er kommt zu dem Ergebnis, dass es bei Theorien der Reziprozität zuweilen unklar ist, ob der jeweilige Ansatz die Einstellungen der untersuchten Akteure artikuliert oder ein Modell gesellschaftlicher Funktionalität ist (MacCormack 1976: 100). Clastres argumentiert im Anschluss an LéviStrauss, dass der ›Erarbeitung der Modelle‹ die unbewusste Struktur des menschlichen Geistes zu Grunde liegt, wobei weitgehend unklar bleibt, welche Ideen bzw. Modelle nun unbewusst sind und welche einen gewissen Bewusstheitsgrad besitzen. Sahlins kritisiert, dass die Motivation der Akteure in Clastres Ansatz unklar ist, denn Sahlins hält es nicht für plausibel, »daß die Menschen im voraus, durch ›Intuition‹ und ›Vorahnung‹, eine Art der politischen Gesellschaft zurückweisen könnten, die sie niemals erlebt haben« (IG: 80). Sahlins löst diese Unklarheit in Clastres Ansatz und die damit verknüpften Ambiguitäten in Reziprozitätstheorien, auf die MacCormack verweist, kulturalistisch auf. Während Clastres also ›reale‹ Beziehungen untersucht, widmet sich Sahlins nicht dem, »was ›tatsächlich passierte‹. Aber das, worüber ich spreche – die kosmologischen Schemata von Eingeborenen – sind historisch möglicherweise noch signifikanter« (IG: 81), denn sie strukturieren in Sahlins’ Augen Erfahrungen und sind handlungsleitend. Sahlins argumentiert, dass auch die Polynesier als ›Staatsfeinde‹ angesehen werden können, denn im Rahmen der polynesischen Mythologie kommt der Kö20 Fink-Eitel weist darauf hin, dass der Machtbegriff in Clastres Argumentation zuweilen unklar bleibt (Fink-Eitel 1994: 89). Clastres unterscheidet zunächst zwei Formen von Macht (Clastres 1976: 23), an anderer Stelle begreift er die Ausübung von Zwang aber als das Wesen von Macht (Clastres 1976: 45). – Für Lévi-Strauss drückt sich die Abneigung gegen hierarchische Autoritätsverhältnisse nicht dahingehend aus, dass die politische Institution des Häuptlingstums aus der Gesellschaft ausgegrenzt wird, sondern darin, dass die soziale Gruppe den Häuptling in ihre reziproken Austauschverhältnisse einbezieht. »Clastres scheint Lévi-Strauss’ Theorie nur unzulässig radikalisiert zu haben, indem er den Ausschluß von Asymmetrie in die Gruppe hineinprojizierte und in einen internen Ausschluß durch Asymmetrie uminterpretierte« (Fink-Eitel 1994: 90).

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nig ursprünglich von außerhalb der Gesellschaft. Der König ist zu Anfang noch ein Fremder und verbreitet Angst und Schrecken; schließlich wird er aber von der einheimischen Gesellschaft domestiziert und integriert, »wobei sich dieser Prozeß durch seinen symbolischen Tod und seine darauffolgende Wiedergeburt als lokaler Gott vollzieht« (IG: 79). Die Integration des Herrschers in die einheimische Gesellschaft ist allerdings problematisch, weil politische Macht als etwas erfahren wird, das seinen Ursprung außerhalb der Gesellschaft hat. Macht gründet sich zudem auf einen barbarischen Akt der Gewalt: Mord und Inzest. »Die Macht offenbart und definiert sich als Verletzung der Moralordnung des Volkes, als das geradezu größte Verbrechen gegen die Verwandtschaft« (IG: 84). Die Macht wird als eine Usurpation wahrgenommen, »in dem doppelten Sinne einer gewaltsamen Inbesitznahme der Herrschaft und einer Verletzung der herrschenden Moralordnung durch den Herrscher« (IG: 85). Die Usurpation selbst wird aber letztlich zum Legitimitätsprinzip. Der Herrscher vereinigt in sich zwei gegensätzliche Prinzipien, die Dumézil celeritas und gravitas nennt: »Celeritas bezieht sich auf die jugendliche, aktive, regelverletzende, magische und kreative Gewalt erobernder Fürsten; gravitas auf die ehrwürdigen, festgefügten, vernünftigen, priesterlichen, friedlichen, produktiven Einrichtungen und Verhaltensweisen eines alteingesessenen Volkes« (IG: 94). Eine Kombination dieser zwei Elemente erzeugt ein drittes Element, »nämlich eine Herrschergewalt, die in sich eine duale Kombination von Kriegsfunktion und Friedensfunktion, König und Priester, Wille und Gesetz darstellt« (IG: 94). Die Verknüpfung von Herrschaft und Dualität erzeugt in Sahlins’ Augen eine Ambivalenz, die »zu einem historischen Schicksal« wird (IG: 94). Der König schwebt über der Gesellschaft und verkörpert diese zugleich, inklusive gewisser temporärer Verschiebungen zwischen celeritas und gravitas, »wie in den königlichen Traditionen Roms, wo sich die beiden Formen in einer langfristigen diachronischen Struktur abwechseln« (IG: 94-95).21 Diese Verschiebungen gibt es auch im Makahiki, der für die Hawaiianer nicht nur ein kosmisches Drama ist, sondern auch ein politisches, denn

21 In polynesischen Gesellschaften entsteht durch die Verkörperung gegensätzlicher gesellschaftlicher Prinzipien in der Herrschaftsgewalt ein dreigliedriges Schema, das in Sahlins’ Augen in der Funktionalität seiner Teile dem dreigliedrigen Schema Dumézils entspricht (IG: 100). Dumézil stellt die Hypothese auf, dass indoeuropäischen Zivilisationen eine dreigliedrige Ideologie gemeinsam ist, in der zwischen der priesterlichen Funktion, der Kriegsfunktion und der ernährenden Funktion unterschieden wird. Beispielsweise entdeckt Dumézil eine Parallelität zwischen den römischen Priestern, die Jupiter, Mars und Qurinius dienten, und den drei sozialen Klassen im vedischen Indien, also den Priestern, Kriegern und Erzeugern (Dumézil 1958). Die Entsprechung, die Sahlins zwischen der von ihm herausgearbeiteten polynesischen Dreigliedrigkeit und der von Dumézil beobachteten dreigliedrigen Ideologie indo-europäischer Zivilisationen sieht, erscheint mir allerdings nicht gänzlich überzeugend, denn Sahlins weist ja selbst darauf hin, dass das polynesische Schema seine Dreigliedriegkeit erst durch die Bildung des dritten Gliedes als Synthese der ersten beiden erhält. – Zu Dumézil siehe Dosse 1999, Band 1: 62-68.

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hier »kehrt der verlorene Gott/legendäre König zurück, um das Land in Besitz zu nehmen« (IG: 96). Wegen »der gleichen Anordnungs- und Bestimmungsprinzipien« ist die Vorstellung der Inbesitznahme der reproduktiven Kräfte der Erde durch den Himmel das allgemeine Erklärungsmuster für die Theorie der Usurpation, die in der »politisch-rituellen Praxis Hawaiis bis hin zur Ankunft von Kapitän James Cook« wirksam war (TC: 31). Sahlins stützt sich unter anderem auf die so genannte Paao-Legende, die von der Eroberung Hawaiis durch einen fremden Eroberer erzählt; alle Herrscher auf Hawaii führen sich auf den Häuptling zurück, der der Legende gemäß vom Usurpator eingesetzt wurde. Im Rahmen der Übernahme der Häuptlingswürde ist »die Aneignung der jeweils vornehmsten Frau aus der unterworfenen Linie typisch«; es gelte, mit ihr ein Kind zu zeugen, das als gemeinsamer Abkömmling des Eroberers und der Eroberten gleichzeitig die gegensätzlichen Qualitäten der Herrschaft, das Mana und das mutterrechtliche Tabu, vereint (TC: 25). Bei den jährlichen Makahikifeiern »wird die Vorstellung der politischen Usurpation in den Bezugsrahmen eines kosmologischen Dramas eingeschrieben« (TC: 32). Lono, der untergegangene Götterhäuptling, kehrt also periodisch zurück, um die Fruchtbarkeit des Landes zu erneuern und die Herrschaft des rivalisierenden Gottes Knj, der eng verknüpft ist mit dem regierenden Haus der hawaiianischen Häuptlinge, zeitweilig aufzuheben. Seine Ankunft ist der Anlass für den viermonatigen Makahiki-Zyklus, währenddessen die gewöhnlichen Knj-Zeremonien einschließlich der Menschenopfer außer Kraft gesetzt sind; der Weg wird frei für eine zeitweilige Herrschaft Lonos. Ein Götterbild Lonos wird in einem feierlichen Umzug um jede der größeren Inseln getragen. Diese Prozessionen kennzeichnen die Inbesitznahme der entsprechenden Insel durch Lono. An dem Tag, an dem das Bildnis von Lono in seinen Tempel zurückkehrt, kommt auch der König mit einem Boot wieder an Land. Er trifft auf bewaffnete Begleiter Lonos, von denen einer den König in spielerischer Manier angreift. Darauf folgt das so genannte kƗli’i-Ritual, ein Scheingefecht zwischen den Gefolgsleuten des Königs und denen Lonos. Der König stirbt symbolisch, doch dieser Tod markiert zugleich seine Wiedergeburt als hawaiianischer Souverän, der die indigenen Eigenschaften Lonos – vor allem Produktivität und Fruchtbarkeit – in sich aufnimmt. Innerhalb weniger Tage erleidet Lono den rituellen Tod; das Bildnis Lonos wird abgebrochen und im Tempel verwahrt, ein mit Opfergaben beladenes Kanu des Lono wird dem Meer übergeben (TC: 34-36; NT: 30-31). James Cook war, wie Sahlins argumentiert, zur richtigen Zeit am richtigen Ort, um als eine Manifestation des hawaiianischen Gottes Lono verehrt zu werden (TC: 37; NT: 32-33). Seine Fahrt verlief rechtsläufig um die Insel, parallel zu der Prozession des Lono-Bildnisses; Kealakekua war der Sitz einer großen LonoPriesterschaft. Der dortige Haupttempel Lonos war der Ort, an dem Lono der Überlieferung gemäß den eigenen Rundgang begann und beendete. Als Cook am 17. Januar 1779 Kealakekua erreichte, hatte seine Umsegelung der Insel zwar länger gedauert als die Prozession Lonos, die Sahlins für das Makahikifest

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1778/79 auf die Zeit vom 14. Dezember 1778 bis zum 4. Januar 1779 datiert; die Dauer von Cooks Umsegelung Hawai’is schloss aber die Zeit der Rundreise Lonos in sich ein.22 Allerdings mussten Cook und der König in den Augen der Hawaiianer als natürliche Rivalen um die politische Macht erscheinen: Der König repräsentierte Knj, währenddessen Cook, so Sahlins, für die Hawaiianer Lono repräsentierte. Bei seiner Rückkehr befand sich Cook zunächst außerhalb des Vorstellungsvermögens der Hawaiianer – er war »hors cadre« (IH: 127). Die Rückkehr Cooks beschwor die mythische Vorstellung göttlicher Häuptlinge herauf, die aus Kahiki gekommen waren, um die einheimische Herrscherelite abzusetzen. Sahlins zufolge war Cooks Tod ein kollektiv ausgeführter Ritualmord, der nur vor dem kulturellen Hintergrund der hawaiianischen Mythologie verständlich wird. Der Tod Cooks glich, so Sahlins, einem kƗli’i-Ritual, in dem die einzelnen Parteien die Seiten tauschten: »the god comes ashore to be killed by partisans of the king« (NT: 232; siehe auch TC: 42-44). Cook wurde gewissermaßen zu einem Saussure’schen Zeichen, zu einer historischen Metapher einer mythischen Realität (siehe auch Biersack 1991b: 3).23

3. Sahlins/Bourdieu: Kulturelle Ordnung und soziale Praxis Ein wesentliches Element von Sahlins’ These über different cultures, different historicities ist zunächst sein semiotischer Kulturbegriff. Darüber hinaus entwickelt Sahlins in seiner Geschichtstheorie ein Handlungsmodell, das den kulturellen Determinismus von Culture and Practical Reason überwinden soll. Im Folgenden versuche ich, diese Handlungstheorie konzeptionell genauer zu bestimmen, indem ich die Beziehung zwischen Sahlins’ Ansatz und Pierre Bourdieus Theorie der Praxis untersuche. Dies erscheint nicht nur deshalb interessant, weil Sahlins selbst seinen Entwurf zu dem von Bourdieu in Beziehung setzt, sondern auch, weil sich in der Sekundärliteratur zuweilen die These findet, dass die Entwürfe von Sahlins und Bourdieu vergleichbar sind (Biersack 1989, 1991b: 3). Sowohl Sahlins als auch Bourdieu versuchen, den Strukturalismus handlungsoder praxistheoretisch zu reformulieren, ihn also zu ›historisieren‹ und zu ›dynamisieren‹. Sind die beiden Entwürfe allerdings so ähnlich, dass Bourdieus An22 Für die Kalkulation des Datums des hawaiianischen Makahiki 1778/1779 siehe NT: 32-33 und 208-219. 23 Sahlins war nicht der Erste, der die These aufgestellt hat, Cook sei von den Hawaiianern als Lono verehrt worden (siehe z.B. Kuykendall 1968: 16). Anders aber als vorhergehende Interpreten deutet Sahlins die Ereignisse, die zu Cooks Tod führten, explizit aus der Perspektive der hawaiianischen Kultur und entwickelt aus dem empirischen Material eine kulturalistische Geschichtstheorie. – Wie in Kapitel V übrigens deutlich wird, gibt es einen gewichtigen Unterschied zwischen der These, Cook sei von Hawaiianern für einen Gott oder für die Manifestation eines Gottes gehalten worden.

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satz tatsächlich in Sahlins’ historisch-anthropologischen Entwurf ›inkorporiert‹ werden kann, wie Sahlins dies anzudeuten scheint? Ich stelle zunächst einige Grundelemente von Bourdieus Entwurf vor und analysiere die Beziehung zwischen Bourdieus Ansatz und Sahlins’ Wirtschaftsethnologie sowie dessen ›kulturalistischer Wende‹. Im Anschluss daran setze ich Sahlins’ historischanthropologischen Ansatz und Bourdieus Konzept zueinander in Bezug.24

Kritik des Utilitarismus: Bourdieu und Sahlins Ein wichtiges Ziel von Pierre Bourdieus Ansatz ist die praxistheoretische Überwindung des von ihm gesehenen konzeptionellen Gegensatzes zwischen ›subjektivistischen‹ und ›objektivistischen‹ Sozialtheorien. Unter ›subjektivistisch‹ fasst Bourdieu nicht nur sozialphänomenologisch ausgerichtete Ansätze, sondern auch andere Spielarten des methodologischen Individualismus wie Theorien rationaler Wahl und Sartres Existenzialismus. Die Phänomenologie kann für Bourdieu nicht über eine Beschreibung der Welt als einer fraglos gegebenen hinausgelangen, denn sie schließt die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit solcher Erfahrungen vorab aus, nämlich »nach der Deckungsgleichheit der objektiven Strukturen mit den einverleibten, welche die für das praktische Erfahren der vertrauten Welt typische Illusion unmittelbaren Verstehens verschafft und zugleich jede Frage nach ihren eigenen Bedingungen der Möglichkeit ausschließt« (SI: 50). Ein sozialtheoretischer Ansatz, der an den Selbstinterpretationen der Akteure ausgerichtet bleibt, also den von Bronislaw Malinowski und später Clifford Geertz so genannten native point of view, läuft für Bourdieu deshalb Gefahr, in eine gewissermaßen alltagswissenschaftliche Philosophie des Handelns abzugleiten, mit der die Individuen ihre eigenen Handlungsweisen deuten und rechtferti24 Es geht mir hier nicht um eine Kritik an den Ansätzen von Sahlins und Bourdieu, sondern um eine konzeptionelle Schärfung von Sahlins’ Verwendung des Habitusbegriffs. Hinsichtlich des historisch-anthropologischen Werks von Sahlins konzentriere ich mich auf Historical Metaphors und Islands of History, also auf die Texte, in denen Sahlins Gebrauch von Bourdieus Konzept des Habitus macht. Zudem geht es nicht um eine detaillierte Analyse des Bourdieu’schen Gedankengebäudes, sondern in erster Linie um eine Spezifizierung von Sahlins’ Entwurf vor dem Hintergrund der Theorie der Praxis. – Bei meiner Analyse der Schnittstellen zwischen Bourdieus Theorie der Praxis und Sahlins’ Handlungstheorie greife ich auf die Ergebnisse meiner Analyse von Bourdieus Theorie der Praxis zurück (Kumoll 2005). Die Literatur zu Bourdieus Theorie der Praxis ist ins Unermeßliche angewachsen und ebenso schwer zu überblicken wie Bourdieus Primärwerk. Hinsichtlich des Primärwerks habe ich mich auf einige zentrale Werke Bourdieus konzentriert, insbesondere auf den Entwurf einer Theorie der Praxis (Bourdieu 1976), den Sozialen Sinn (Bourdieu 1987), die Feinen Unterschiede (Bourdieu 1982) und die Meditationen (Bourdieu 2001). Besonders relevant erschien mir folgende neuere Sekundärliteratur: Adkins 2003; Alexander 1995; Calhoun et al. 1993; Colliot-Thélène et al. 2005; Crossley 2001; Flaig 2000; Jenkins 2002; Reckwitz 2000; Rehbein et al. 2003; Rehbein 2006; Robbins 2000; Shusterman 1999. Eine exzellente Bibliographie mit weiterführender Literatur findet sich in Rehbein 2006.

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gen.25 Eine solche Sichtweise unterschlägt für Bourdieu die übersubjektiven Bedingungen, denen alle sozialen Akteure und damit ihre Denk-, Wahrnehmungsund Handlungsweisen unterworfen sind (Bourdieu 1974: 18; TP: 146-153). Immerhin hat ein solcher ›Subjektivismus‹ in Bourdieus Augen gegenüber ›objektivistischen‹ Theorien des Sozialen aber den Vorteil, dass die subjektive Sichtweise der Akteure nicht vollständig aus dem Blick gerät, im Gegensatz zum Strukturfunktionalismus oder zum Strukturalismus. Bourdieu will an diese phänomenologische Einsicht anknüpfen, ohne die ›objektiven‹ sozialen Bedingungen sozialer Praxis unberücksichtigt zu lassen; er strebt eine Synthese an zwischen ›Mikro‹- und ›Makro‹theorie. Zu Beginn seiner Karriere ist Bourdieu noch sehr von Lévi-Strauss’ Strukturalismus beeinflusst; 1963 schreibt er eine im wesentlichen strukturalistische Analyse des kabylischen Hauses (SI: 468-489), doch er realisiert, dass sich aus der Anwendung des Strukturalismus Probleme auftun, die theorieimmanent nicht gelöst werden können (SI: 24). Ein Beispiel dafür ist das Heiratsverhalten der Kabylen, das sich nicht als bloßes Befolgen bewusster oder unbewusster Regeln beschreiben lässt. Vielmehr varriieren Verwandtschaftsstrukturen in ihrer Art und Intensität dahingehend, ob symbolische oder materielle Interessen die Verwandten voneinander entfernen oder aneinander binden.26 Soziale Strukturen sind für Bourdieu nicht der Ausdruck universaler Strukturen des menschlichen Geistes, die sich gewissermaßen in eine soziale Form gießen lassen. Hier liegt in Bourdieus Augen bei Lévi-Strauss schlicht eine Verwechslung zwischen der Regelmäßigkeit beobachtbarer Praktiken und den Strukturen des Geistes vor. Bourdieu sieht eine intellektualistische Schwäche des Lévi-Strauss’schen Strukturalismus darin, dass der Strukturalismus an die Stelle des praktischen Verhältnisses zur sozialen Praxis das theoretische Verhältnis des Beobachters zum Objekt setzt und die logischen Modelle des Beobachters schlicht zu unbewusst wirkenden symbolischen Ordnungen übersetzt (TP: 153-164); Lévi-Strauss verwechselt demzufolge ein »Modell der Realität« mit der »Realität des Modells« (SI: 75) – wie auch der Normativismus, der die immanente Regelmäßigkeit von Praktiken durch die Existenz bewusster Normen erklärt. Das entscheidende Problem einer Theorie der Praxis ist in Bourdieus Augen zunächst die Frage, wie handelnde Akteure ihre Wissensschemata in der Praxis anwenden und darüber hinaus, warum soziale Praxis normalerweise gleichförmig und geregelt erscheint. Eine Lösung für dieses Problem kann für Bourdieu nicht bedeuten, soziale Praxis als Aggregation individueller Handlungen zu begreifen, wie dies im Rahmen des methodologischen Individualismus üblich ist. Soziale Praxis ist in Bourdieus Augen aber ebenso wenig regelgeleitet, wie dies der Nor25 Für eine Kritik an Bourdieus Sicht der Phänomenologie siehe Throop/Murphy 2002. 26 Für eine brillante Zusammenfassung der empirischen und konzeptionellen Probleme, auf die Bourdieu im Rahmen seiner Anwendung des Strukturalismus auf die kabylische Gesellschaft stieß, siehe Flaig 2000.

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mativismus unterstellt. Bourdieus Lösung ist bekanntlich die These, dass so genannte Habitusformen handlungsleitend sind, also »Systeme dauerhafter und übertragbarer Dispositionen, [...] strukturierte Strukturen, die wie geschaffen sind, als strukturierende Strukturen zu fungieren, d.h. als Erzeugungsund Ordnungsgrundlagen für Praktiken und Vorstellungen, die objektiv an ihr Ziel angepaßt sein können, ohne jedoch bewusstes Anstreben von Zwecken und ausdrückliche Beherrschung der zu deren Erreichung erforderlichen Operationen vorauszusetzen« (SI: 98-99).

Der Habitus ist im sozialen Akteur nicht nur mental verankert, sondern auch körperlich inkorporiert, er bildet die Grundlage für ein handlungsleitendes ›KnowHow‹. Routinisierte soziale Praxis ist für Bourdieu also nicht nur eine geistige Aktivität, sondern auch körperliches Verhalten, das im und durch den Körper hervorgebracht wird (SI: 129). Der Habitus bildet die Grundlage für Handlungen, Wahrnehmungen und Beurteilungen, er ist die Orientierungsgrundlage für soziale Praktiken und für Vorstellungen, die durchaus objektiv an ihr Ziel angepasst sein können, ohne dass dies dem handelnden Akteur immer bewusst wäre oder als das Ergebnis bewusster Zielsetzungen interpretiert werden könne (Bourdieu 2001: 177). Der Habitus existiert jenseits der bewussten Wahrnehmung und wirkt unabhängig von den bewussten Ideen und Zielen der Akteure handlungskonstituierend. Warum so oft soziale Praktiken kollektiv so gut aufeinander abgestimmt zu sein scheinen, liegt für Bourdieu daran, dass alle Menschen über einen Habitus verfügen. Dieser »gewährleistet die aktive Präsenz früherer Erfahrungen, die sich in jedem Organismus in Gestalt von Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata niederschlagen und die Übereinstimmung und Konstantheit der Praktiken im Zeitverlauf viel sicherer als alle formalen Regeln und expliziten Normen zu gewährleisten suchen« (SI: 101). Mit dem Habitus können für Bourdieu alle Gedanken, Wahrnehmungen und Handlungen frei hervorgebracht werden, die innerhalb der Grenzen seiner eigenen Hervorbringung liegen. Der Habitus determiniert den sozialen Akteur nicht zu bestimmten Handlungen oder Denkweisen, doch er legt in seiner Eigenschaft als System von strukturierten Dispositionen weitgehend einen Horizont an Denkbarem, Wahrnehmbarem und Handelbarem fest. Der Habitus wirkt als Grundlage der Weltwahrnehmung und Handlungsfähigkeit zunächst handlungsermöglichend, doch zugleich setzt er dem Akteur enge Grenzen. Die sozialen Akteure sind Teil einer sozialen Dialektik: Der Habitus produziert soziale Praktiken, doch er selbst ist ein Produkt sozialer Praktiken. Dieser beidseitige Wirkungszusammenhang ermöglicht eine spontane und unproblematische Kommunikation zwischen denen, die ähnliche Lebensbedingungen erfahren haben und damit vergleichbare Dispositionen aufweisen (TP: 179). Bourdieu hält die These für falsch, dass psychologische Eigenschaften wie Einfühlungsvermögen die Grund-

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lage für ein geregeltes soziales Miteinander sind. Vielmehr ist den Akteuren zumindest teilweise ihr jeweiliger Dispositionscode gemein. Der Habitus ist nur ein Baustein unter mehreren in Bourdieus Theorie der Praxis. So betont Bourdieu, dass soziale Praxis erst aus dem Zusammenspiel zwischen Habitus und sozialen Feldern heraus verständlich wird. Der Habitus bildet sich durch die Einverleibung ›objekiver‹ Strukturen, also beispielsweise Klassengegensätzen; soziale Strukturen wiederum werden durch das Handeln der Akteure reproduziert. Diese Dialektik weist für Bourdieu drei Elemente auf: die externen Strukturen sozialer Felder, die internen Dispositionen des Habitus, sowie das Aufeinandertreffen von Habitus und Feld. Felder konstituieren sich nicht durch Interaktionen, sondern durch Relationen. Ein Feld ist »ein Netz oder eine Konfiguration von objektiven Relationen zwischen Positionen« (Bourdieu/Wacquant 1996: 127), die definiert sind durch den Besitz von Kapital. Felder sind »Spiel-Räume« (Bourdieu 1985: 27), »autonome Sphären, in denen nach jeweils besonderen Regeln ›gespielt‹ wird« (Bourdieu 1992a: 187). Die Regeln des jeweiligen Feldes sind dabei keineswegs explizit festgelegt; vielmehr bilden sie einen Möglichkeitshorizont an Praxisformen, in dem die Akteure strategisch agieren können – und dies bedeutet in erster Linie: um ökonomisches, soziales, kulturelles oder symbolisches Kapital kämpfen. Dabei setzt die Auseinandersetzung um Kapital die Übereinkunft der ›Spieler‹ über die Grunddefinitionen des Feldes, also das Spiel und seine konstitutiven Regeln, voraus. Deshalb tragen die Akteure durch ihre bloße Beteiligung an den ›Spielen‹ gemeinhin zur Reproduktion des ›Spiels‹ bei, wenn es auch durchaus vorkommt, dass Akteure versuchen, die Regeln des Spiels durch Gewinn bringende Strategien zu verändern. Die Strategien der Akteure sind aber nicht nur eng verknüpft mit den Spielregeln, auf die die Strategien ausgerichtet werden müssen, sondern auch mit den jeweiligen sozialen Positionen der Akteure. Soziale Positionen definieren sich durch den Umfang und die Struktur des Kapitals; Strategien sind deshalb eng verknüpft mit der jeweiligen Kapitalausstattung und der jeweiligen Wahrnehmung des Feldes und seiner Eigenschaften.27 27 Neben dem Konzept des ›Feldes‹ ist auch das Konzept des ›sozialen Raums‹ für Bourdieu von überragender Bedeutung. Bourdieu versucht mit dem Ansatz des sozialen Raums, materielle und symbolische Auseinandersetzungen in Klassengesellschaften in systematisch kohärenter Weise analysieren zu können. In den Feinen Unterschieden konzeptualisiert er ein dreigliedriges System und unterscheidet zwischen einem sozialen Raum objektiver sozialer Positionen, einem sozialen Raum distinktiver Lebensstile und dem Habitus als der Vermittlungsinstanz, die objektive soziale Positionen und Lebensstile miteinander verknüpft. Die von Bourdieu beobachtete Homologie zwischen dem Raum der sozialen Positionen und dem Raum der Lebensstile erklärt sich im Rahmen der Theorie der Praxis durch das Wirken der weitgehend unbewussten Klassifikations- und Handlungsschemata des Habitus. Objektive Verhältnisse werden in klassenspezifische Dispositionen ›übersetzt‹, die damit eine welterschließende Funktion für die sozialen Akteure haben (siehe Bourdieu 1982).

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Bourdieus Theorie scheint zunächst auf eine bloße Umformulierung des Utilitarismus zuzulaufen; dieser Interpretation seines Ansatzes widerspricht Bourdieu allerdings vehement. Vielmehr versteht Bourdieu die Theorie der Praxis als explizite Kritik am Utilitarismus, der neoklassischen Wirtschaftstheorie oder Theorien rationaler Wahl. Zunächst betont Bourdieu, dass sein Ansatz nicht nur einen Teilbereich des Sozialen analysiert, sondern das Soziale im Allgemeinen. Damit hebt sich sein Ansatz in Bourdieus Augen von der Wirtschaftstheorie ab, die – so Bourdieu – die Gesamtheit der gesellschaftlichen Austauschverhältnisse auf den Warentausch reduziert und damit implizit alle anderen Formen des sozialen Austausches zu nicht-ökonomischen und uneigennützigen Beziehungen erklärt (Bourdieu 1992b: 50-51), denn Kapital ist für Bourdieu »akkumulierte Arbeit, entweder in Form von Material oder in verinnerlichter, ›inkorporierter‹ Form« (Bourdieu 1992b: 49). Soziale Praxis leitet sich aus dem Verhältnis zwischen den subjektiven Faktoren der inkorporierten Dispositionen sowie der Kapitalausstattung und den objektiven Verhältnissen ab, in denen sich der Akteur bewegt. Dieser Gedanke ist die Grundlage für Bourdieus Konzept einer »allgemeinen Wissenschaft von der Ökonomie der Praxis«. Dabei geht es Bourdieu nicht um eine Übertragung ›ökonomischer‹ Handlungsformen auf alle Formen sozialer Praxis, sondern um die Entwicklung eines Handlungsmodells, das sich vom ökonomischen Utilitarismus absetzt und zugleich den Warentausch lediglich als Spezialfall verschiedener Ausprägungen sozialer Praxis betrachtet (Bourdieu 1992b: 51). Wenn Bourdieu also den Begriff ›Strategie‹ verwendet, versteht er darunter keineswegs bewusste Nutzenmaximierung und Intentionalität, sondern eine ›praktische Logik‹, »jene präreflexive, unterbewußte Beherrschung der sozialen Welt, die von den Akteuren durch ihr dauerhaftes Eintauchen in diese Welt erworben wird« (Wacquant 1996: 41). Damit steht Bourdieus Ansatz im Widerspruch zu Theorien rationaler Wahl, die für Bourdieu eine universale Rationalität postulieren, die allein daraufhin ausgerichtet ist, den ökonomischen Nutzen zu maximieren. Die rational-choice-Theorie verallgemeinert in Bourdieus Augen eine Form des Interesses, »die von der kapitalistischen Wirtschaftsform erzeugt und vorausgesetzt wird« und begeht damit den gleichen intellektualistischen Fehler wie Lévi-Strauss, das Modell der Realität mit der Realität des Modells zu verwechseln (Bourdieu/Wacquant 1996: 148-149). Darüber hinaus ignorieren Theorien rationaler Wahl – so Bourdieu – durch ihre ausschließliche Berücksichtigung bewusster Ziel-Mittel-Abwägung von Akteuren die Dispositionen des Habitus. Die Einführung verschiedener Kapitalsorten ermöglicht in Bourdieus Augen eine Analyse sozialer Praktiken außerhalb des ökonomischen Feldes, in denen um Kapital gerungen wird. Dieser Kampf um Kapital wird allerdings normalerweise nicht als solcher erkannt. Bourdieus Kritik an individualistischen Theorien rationaler Wahl ist zunächst durchaus mit Sahlins’ Kritik am Utilitarismus vergleichbar. Insbesondere findet sich in beiden Ansätzen das Argument, dass es falsch ist, das ›kapitalistische‹ Modell des nutzenmaximierenden Individuums zu universalisieren. Dennoch las-

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sen sich auf der Grundlage von Sahlins’ und Bourdieus Utilitarismuskritik fundamentale konzeptuelle Unterschiede zwischen beiden Theorieentwürfen herausarbeiten. Zunächst konzentriert sich Sahlins nicht auf die so genannten ›Theorien rationaler Wahl‹, sondern kritisiert den Utilitarismus im Allgemeinen (wie er ihn versteht), also jegliche Theorien, die Elemente des Sozialen – seien es soziale Strukturen oder Handlungsweisen von Individuen – auf einen zu Grunde liegenden ›Nutzen‹ zurückführen. Sahlins lehnt deshalb nicht nur rational-choiceTheorien ab, sondern auch den britischen Strukturfunktionalismus, die ecological anthropology oder die Soziobiologie; all diese Theorien weisen in Sahlins’ Augen ein utilitaristisches Element auf. Bourdieus Kritik an rational-choiceTheorien ist aus der Perspektive von Sahlins’ Ansatz deshalb zwar zunächst berechtigt, doch ist die Reichweite dieser Kritik auf der Grundlage von Sahlins’ Ansatz nicht ausreichend, denn der Utilitarismus lässt sich in Sahlins’ Augen nicht auf Theorien rationaler Wahl reduzieren. Sahlins’ Alternative zu utilitaristischen Theorien in Culture and Practical Reason ist sein semiotisch orientierter Kulturalismus. Nur ein Ansatz, der ›Kultur‹ in den Mittelpunkt der Theoriebildung rückt, kann für Sahlins eine utilitarische Orientierung vermeiden. Dies verweist auf eine fundamentale Differenz zwischen den Ansätzen von Sahlins und Bourdieu, die ich im Folgenden ausgehend von Sahlins’ Frühwerk herauszuarbeiten suche. Sahlins kritisiert seit den Anfangstagen seiner wissenschaftlichen Laufbahn utilitaristische Theorien. In seiner evolutionistischen bzw. wirtschaftsethnologischen Werkphase argumentiert Sahlins zumindest teilweise aus einer ›substantivistischen‹ Position im Anschluss an Karl Polanyi und Marcel Mauss. Sahlins stellt hier noch nicht das neoklassische Modell der individuellen Nutzenmaximierung im Allgemeinen in Frage, sondern dessen Anwendung auf vormoderne Gesellschaften, weil sich dort noch kein ökonomisches Subsystem ausdifferenziert hat. Ökonomisches Handeln ist – so Sahlins – in vormodernen Gesellschaften ›eingebettet‹ in allgemeine soziale Zusammenhänge. Über moderne kapitalistische Gesellschaften macht Sahlins in Stone Age Economics und anderen Arbeiten dieser Werkphase keine systematischen Aussagen, denn es geht ihm ja um die Entwicklung einer anthropological economics, also eines wirtschaftsethnologischen Ansatzes zur Analyse vormoderner Gesellschaften. Bourdieus Ziel ist es demgegenüber, einen Ansatz zu entwickeln, der auf alle Gesellschaften angewendet werden kann und der es erlauben soll, die jeglichen Reziprozitätsmechanismen immanenten Formen symbolisch verkannter Herrschaftsverhältnisse herauszuarbeiten. Die fundamentalen Unterschiede der beiden Ansätze werden besonders deutlich bei einem Vergleich von Sahlins’ und Bourdieus Analysen des Gabentauschs. In seiner Analyse über die Gabe argumentiert Bourdieu, dass die von Marcel Mauss analysierten Austauschprozesse der Ausdruck einer praktischen Logik sind, die sich weder auf die statischen Reziprozitätsregeln des Strukturalismus reduzieren lassen noch auf Mauss’ phänomenologisch inspirierten ›Geist der Gabe‹. Die Gabe gehorcht Zwängen, die jenseits der Vorstellungen

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und Intentionen der beteiligten Akteure liegen. Der Gabentausch funktioniert in Bourdieus Augen nur, »wenn die Wahrheit des objektiven Tausch›mechanismus‹ individuell und kollektiv verkannt wird, die Wahrheit also, der die sofortige Rückgabe brutal den Schleier wegreißen würde, und außerdem die individuelle und kollektive Arbeit verkannt wird, die dafür aufgewendet wird« (SI: 193). Die wechselseitigen Prozesse von Gabe und Gegengabe konstituieren für Bourdieu eines jener sozialen ›Spiele‹, die nur funktionieren, wenn sich die Spieler gewissermaßen weigern, die objektive Wahrheit des Spiels zu erkennen. Der Gabentausch dient der Vermehrung symbolischen Kapitals; die Akteure ›spielen‹ mit der Zeitlichkeit der Gabe und setzen diesen Faktor ein, um ihr symbolisches Kapital zu maximieren. Dieser Strategisierung liegt aber keine bewusste Handlung der Akteure zu Grunde, »sondern jene Disposition des Habitus, die Großzügigkeit, die, ohne es explizit und ausdrücklich darauf abgesehen zu haben, zur Erhaltung oder Vermehrung des symbolischen Kapitals tendiert« (Bourdieu 2001: 248). Diese Strategisierungen erster Ordnung werden durch Strategisierungen zweiter Ordnung verdeckt, die darauf abzielen, den offiziellen Regeln dem Scheine nach zu entsprechen. Der jeweilige Akteur erreicht dadurch nicht nur seine persönlichen Ziele, sondern steigert auch noch sein Ansehen, denn scheinbar haben seine Handlungen den offiziellen Regeln der Gesellschaft entsprochen. Zwar ist für Bourdieu ökonomische Praxis in vormodernen Gesellschaften in die allgemeinen sozialen Zusammenhänge ›eingebettet‹, weil sich noch kein soziales ›Feld‹ der Wirtschaft ausdifferenziert hat. Doch hier enden die Gemeinsamkeiten zwischen den Ansätzen von Sahlins und Bourdieu, denn für Sahlins ist die Gabe die ›primitive‹ Form des Gesellschaftsvertrags und eng verknüpft mit einer Moral, die die Antithese zur kapitalistischen Nutzenmaximierung darstellt. Für Bourdieu gibt es aber keinen ›moralischen‹ Unterschied zwischen der vormodernen Gabe und den Konsumpraktiken in modernen Gesellschaften. Auch die alltäglichen Distinktionskämpfe um Geschmack, Kunst und Konsum versteht Bourdieu als verschleierte Kämpfe um symbolische Macht (Bourdieu 1982).28 Sahlins’ Theorie des ›primitiven‹ Gesellschaftsvertrags kann als noch teilweise im Neoevolutionismus verbleibendes Plädoyer für einen kulturellen Relativismus interpretiert werden. In Sahlins’ Denken sind dieses Plädoyer und seine 28 Bourdieu kritisiert in seinem Sozialen Sinn die wirtschaftsethnologischen Ansätze Sahlins’ und Polanyis, dass diese die »Rückverwandlung von ökonomischem Kapital in symbolisches, mit der ökonomisch begründete, aber mit einem moralischen Schleier verhüllte Abhängigkeitsverhältnisse geschaffen werden«, übersehen (SI: 223-224). Bourdieu kritisiert an dieser Stelle zwar nicht Sahlins’ Aufsatz ›The Spirit of the Gift‹ über den ›primitiven Gesellschaftsvertrag‹, sondern seine früheren Arbeiten, insbesondere ›Political Power‹ (Sahlins 1960b), ›Political Types‹ (Sahlins 1963a) und ›On the Sociology of Primitive Exchange‹ (Sahlins 1965b). Auf der Grundlage von Bourdieus Kritik kann aber festgehalten werden, dass auch ›The Spirit of the Gift‹ (SAE: 149-183) aus Sicht von Bourdieus Theorie der Praxis die Konstitution von Herrschaftsverhältnissen unter der Oberfläche einer ›Moral der Gabe‹ systematisch ignoriert.

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Kritik an utilitaristischen Sozialtheorien eng miteinander verknüpft. Auch Bourdieu kritisiert Theorien rationaler Wahl, doch er entwickelt diese Kritik nicht aus einer kulturrelativistischen Position. Noch deutlicher wird diese Differenz bei einem Vergleich zwischen Bourdieus Theorie der Praxis und Culture and Practical Reason. Sahlins reformuliert seinen wirtschaftsethnologischen Versuch, einen kulturellen Relativismus zu entwickeln, auf semiotischer Grundlage um und argumentiert nun, dass jegliches Handeln eingebettet ist in die jeweilige kulturspezifische symbolische Organisation der Erfahrung. In seiner Wirtschaftsethnologie entwickelt Sahlins einen Substantivismus im Anschluss an Polanyi, in Culture and Practical Reason einen kulturellen Relativismus im Anschluss an Boas, Saussure und Lévi-Strauss. Aus der Sicht von Sahlins’ kulturalistischem Entwurf ist Bourdieus Theorie der Praxis nur ein weiteres Beispiel utilitaristischer Theoriebildung, denn für Bourdieu ist die ›Perspektive des Akteurs‹ nur von untergeordneter Bedeutung. Die Akteure handeln in den Augen Bourdieus auf der Grundlage einer ›praktischen Logik‹, sie entwickeln weitgehend unbewusste ›Strategien‹, und dem native point of view müssen letztlich die tatsächlichen Gegebenheiten sozialer Praxis verschlossen bleiben, damit sich die sozialen Verhältnisse reproduzieren können. ›Kultur‹ im Sinne der handlungsorientierenden und welterschließenden Rolle für soziales Handeln bleibt in Bourdieus Theorie der Praxis damit weitgehend ausgespart; vielmehr verdeckt Kultur die immerwährenden Auseinandersetzungen der Akteure um unterschiedliche Kapitalsorten. Kulturelle Selbstbilder wie Erzählungen oder Mythen dürfen die wahre Natur des Menschen nicht in den Vordergrund rücken, die darin besteht »to use the structure of the social field to increase symbolic capital« (Dreyfus/Rabinow 1993: 41).29 Die systematischen Unterschiede in den Konzeptionen von Sahlins und Bourdieu offenbaren sich besonders deutlich bei einem Vergleich ihrer Konsumtheorien, die Sahlins und Bourdieu in Culture and Practical Reason und in den Feinen Unterschieden entwickeln. Sahlins interessiert sich nicht für den Konflikt und für Kämpfe um symbolisches Kapital, sondern allein für die semiotische Fundierung des Konsums. Bourdieu konzeptualisiert den Konsum demgegenüber als Kampf um symbolisches Kapital.

29 David Graeber bezeichnet Bourdieus Position in Anlehnung an die FormalismusSubstantivismus-Debatte (in meinen Augen zu Recht) als ›formalistisch‹: »Bourdieu starts with an argument reminiscent of Karl Polanyi. In traditional societies like the Kabyle, the economy is not a sphere unto itself; rather, it is embedded in social relations. But where Polanyi’s ›economy‹ was just a society’s way of providing itself with food and other necessities, Bourdieu’s definition is strictly Formalist: it is a matter of self-interested calculation, making rational decisions about the allocation of scarce resources with the aim of getting as much as possible for oneself« (Graeber 2001: 28).

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Kultur und soziale Praxis Anders als in Culture and Practical Reason versucht Sahlins in seinem historischen Werk einen handlungstheoretischen Ansatz unter anderem im Anschluss an Bourdieu zu entwickeln, in dem die Konzepte ›Intentionalität‹ und ›Strategie‹ einen hohen Stellenwert einnehmen. Scheinbar rückt Sahlins seinen Entwurf also in seinen Veröffentlichungen nach Culture and Practical Reason in eine konzeptionelle Nähe zu Bourdieus Theorie der Praxis. Dies zeigt sich insbesondere in Sahlins’ Analyse der beginnenden Handelsbeziehungen zwischen Hawaiianern und Europäern 1778/79. Das Verhalten der Hawaiianer gegenüber den Fremden war, wie Sahlins betont, keineswegs uniform; vielmehr hatten die »Hauptklassen« Hawaiis, also Frauen, Männer und Häuptlinge, ganz unterschiedliche Handlungsweisen gegenüber den Besuchern, die in der einheimischen Kultur wurzelten. Diese Interessen »leiteten sich aus den unterschiedlichen Beziehungen der Hawaiianer zueinander und zur Welt her, wie sie sich hawaiianischen Auges darbot« (TC: 82). Die Hawaiianer waren zunächst vom göttlichen Status der Besucher überzeugt; allerdings hatten unterschiedliche Hawaiianer jeweils voneinander abweichende Interessen, die ihr Handeln gegenüber den Briten bestimmten. Diese Interessen waren jedoch selbst kulturell bestimmt und leiteten sich aus den kulturellen Oppositionen ab, die die hawaiianische Gesellschaft definierten. Beispielsweise verlangten die hawaiianischen Frauen seit der ersten interkulturellen Begegnung auf Kauai nach sexuellen Beziehungen zu den britischen Besatzungsmitgliedern. Sahlins betont, dass »die amourösen Abenteuer der Frauen von keinerlei gewinnsüchtigen Absichten begleitet« waren (TC: 66) und nicht in eindeutig materialistischer Absicht erfolgten (TC: 68). Die Motivationen der Frauen – übrigens allesamt keine von Rang (TC: 67; IG: 27) – hatten eine kulturelle Grundierung, denn »die Frauen gaben sich hin, weil sie dachten, daß es einen Gott gibt« (TC: 67; siehe auch IG: 23). Die britischen Seeleute hingegen betrachteten die Handlungsweisen der hawaiianischen Frauen als Dienstleistungen, die erwidert werden mussten. Diese konjunkturale Struktur war Sahlins zufolge der Beginn einer dauerhaften Tauschbeziehung, die auch eine ökonomische Wertigkeit erlangte. Bald schon brachten männliche Verwandte die Frauen zu den Schiffen und erhielten, wie auch die Frauen selbst, im Gegenzug für die »sexuellen Dienstleistungen« der Frauen Handelsgüter; die Männer hatten an diesen Gütern ein unmittelbares ökonomisches Interesse (TC: 69). Diese Aktionen verdeutlichen in Sahlins’ Augen ein fundamentales Charakteristikum der vorkolonialen hawaiianischen Kultur: Auf Hawaii war »die Liebe [...] ein bevorzugtes Mittel zur Erringung von Macht und Besitz. Rang und Tabu konnten durch sie gewonnen oder verloren werden« (IG: 27). Sahlins argumentiert, dass Sexualität in Hawaii in einem doppelten Sinne als pragmatische soziale Praxis verstanden werden kann. Sexuelle ›Eroberungen‹ waren vom Standpunkt des handelnden Akteurs aus gesehen »Mittel zum Zweck der Erlangung von materiellen Vorteilen« (IG: 35). Vom Standpunkt der hawaiianischen Gesellschaft war Sexualität ein Aus-

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druck ihrer performativen Eigenschaften: »Von der Familie bis zum Staat waren alle gesellschaftlichen Regelmechanismen ständig im Fluß, das Gefüge der Beziehungen gründete sich auf den Treibsand der Liebe« (IG: 35). In Hawaii gab es keine segmentären Abstammungsgruppen; deshalb wurde die Organisation des Landes und von Eigentumsrechten nicht aus einer festgelegten Genealogie abgeleitet. Abstammungslinien waren demnach »nicht so sehr eine Struktur als vielmehr ein Argument« (IG: 36). Verwandtschaftsbeziehungen, die materielle und politische Vorteile erbringen konnten, waren auf Hawaii nicht festgefügt, sondern wurden pragmatisch gesucht; Abstammung wurde durch Allianzen erworben, ohne dass dies die genealogischen Prinzipien der Hawaiianer verletzt hätte. Eine verwandtschaftliche Beziehung zum Häuptlingshaus war im hawaiianischen politischen System von großer Bedeutung, weil das Land periodisch umverteilt wurde und eine Familie nur dann Zugang zu Wohlstand und politischen Einfluss hatte, wenn sie mit dem Häuptling verwandtschaftlich verbunden war. »Denn jeder neue Häuptling übertrug seinen eigenen Gefolgsleuten Aufgaben und Ämter« (TC: 68). Und was für das Königtum galt, traf auch auf den häuslichen Bereich der ›einfachen Leute‹ zu: »Wie der Haushalt geführt wurde und wer zu ihm gehörte, unterlag einer ständigen Fluktuation, die zu einem guten Teil auf wechselnde gefühlsmäßige Bindungen zurückzuführen war« (IG: 37). Die hawaiianische kulturelle Ordnung wurde, wie Sahlins betont, durch das freie Streben nach Glück, le’a, reproduziert. Sexualität war vom Standpunkt des Individuums aus gesehen mit materiellen und politischen Vorteilen verknüpft; »aus der globalen Perspektive der Gesellschaft werden diese subjektiven Zwecke Mittel zur Bildung einer bestimmen ökonomischen, politischen und spirituellen Ordnung« (IG: 43). Die Entscheidungen der handelnden Akteure schienen frei zu sein, doch die daraus entstehende kulturelle Ordnung war – wie Sahlins betont – keineswegs zufällig. Die Ordnung »drückt in gültiger Weise die gewohnten Unterscheidungen zwischen Männern und Frauen, Häuptlingen und Volk, Göttern und Sterblichen aus, also das traditionelle kosmische Schema« (IG: 43). Wie kann die Durchsetzung persönlicher Interessen eine kulturelle Ordnung reproduzieren? Sahlins argumentiert, dass es zwei Modi der Symbolproduktion gibt, die dies erklären können. Erstens lagen auf Hawaii die kulturellen Strukturen, die das gesellschaftliche Gefüge organisierten, den persönlichen Interessen zu Grunde, »und zwar häufig als unreflektierte Handlungsprämissen« (IG: 43). Sahlins rückt dieses Element seiner Theorie in eine konzeptionelle Nähe zu Bourdieu, denn die unreflektierten Handlungsprämissen sind nichts anderes als »die von Bourdieu […] so glänzend beschriebenen ›strukturierenden Strukturen‹, durch die die persönlichen Interessen und Handlungen in eine größere Ordnung eingebettet werden« (IG: 43). Die hawaiianischen kulturellen Strukturen ermöglichten die kulturelle Reproduktion bei gleichzeitiger Verfolgung persönlicher Interessen; soziales Handeln ist demnach auch in einer Gesellschaft, die auf der Grundlage freier Verfolgung eigener Interessen basiert, »nicht frei [...] von wohlbegründeten Beziehungen zwischen den Zeichen« (IG: 44). Zweitens waren

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»Sein und Tun oder Beziehungen und Verhaltensweisen bedeutungsmäßig im selben Diskurs-Universum verankert« und unterlagen deshalb »gemeinsamen konzeptionellen Operationen«. Kulturelle Schemata und Motivationen gingen auf Hawaii also nicht aus den sozialen Strukturen hervor; vielmehr unterlagen soziale Strukturen und Intentionalität einer gemeinsamen kulturellen Logik. Die hawaiianische Ordnung beruhte in Sahlins’ Augen auf individuellen Strategien, die sich ihrerseits im Kontext sozialer Strukturen vollzogen. Die Strategie, durch sexuelle Beziehungen politischen Einfluss und materiellen Wohlstand zu erreichen, ist, wie Sahlins betont, nur in einer Gesellschaft möglich, in der soziale Strukturen performativ sind und soziale Positionen veränderbar. Verbindendes und zugleich zu Grunde liegendes Element dieser Beziehung sind kulturelle Schemata, durch die individuelle Motivation und soziale Struktur erst ihren Sinn beziehen. »Durch eine gemeinsame Logik, die beiden innewohnt, können Handlung und Beziehung so füreinander abwechselnd als Signifikant und Signifikat fungieren« (IG: 44). Wie lässt sich die Tatsache, dass Sahlins seinen Ansatz in die Nähe zu Bourdieus Theorie der Praxis rückt, mit der Kontinuität von Culture and Practical Reason zu Sahlins’ Geschichtstheorie vereinbaren? Ich versuche im weiteren Verlauf dieses Abschnitts, diese Frage zu beantworten, indem ich vier miteinander verknüpfte Elemente des Ansatzes von Sahlins analysiere und diese mit Bourdieus Ansatz in Beziehung setze; im Einzelnen geht es um den Habitus, um mythopoetische Objektivierungen, um Intentionalität sowie um soziale Praxis. Auf der Grundlage dieser Analyse versuche ich abschließend, die Relevanz von Bourdieus Theorie für Sahlins’ historisches Werk einzuschätzen. Nicht nur in Sahlins’ ›kulturalistischer Wende‹, sondern auch in seinem historischen Werk steht die symbolische Organisation der Wirklichkeit im Mittelpunkt der Analyse. Der daraus folgende konzeptionelle Unterschied zum Ansatz von Bourdieu wird besonders bei Sahlins’ Verwendung des Habitus-Konzepts deutlich. Zunächst ist der Habitus in Sahlins’ Ansatz ein nachgeordnetes Konzept; dies ist vermutlich auch der Grund, warum Sahlins das Konzept des Habitus in Islands of History nicht systematisch weiterentwickelt. In späteren Veröffentlichungen verschwindet das Konzept des Habitus aus Sahlins’ konzeptuellem Instrumentarium.30 Daraus erklären sich auch einige Ambiguitäten des Konzepts in Sahlins’ Ansatz. Auf welche Weise die Dispositionen des Habitus in Sahlins’ Ansatz inkorporiert werden, bleibt offen. Bourdieu hebt in seiner Kritik an mentalistischen Handlungstheorien die Rolle des Körpers für den Habitus hervor, doch auch diese Zusammenhänge bleiben in Sahlins’ Ansatz ungeklärt. Ein fundamentaler Unterschied zwischen Sahlins’ und Bourdieus Verständnis des Habitus wird aber bereits in den wenigen Textstellen in Islands of History deutlich, in denen Sahlins Gebrauch von diesem Ansatz macht. Der Habitus ist für Sahlins – 30 Weder in Culture in Practice (2000) noch in Apologies to Thucydides (2004) gibt es Referenzen zu Bourdieus Konzept des Habitus.

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anders als für Bourdieu – nicht als ›Einverleibung‹ sozialer Gegensätze zu verstehen, sondern als Inkorporierung symbolischer Differenzen. In Sahlins’ Ansatz sind soziale Strukturen also gewissermaßen die Verdopplung symbolischer Differenzen – zumindest werden soziale Strukturen durch Kultur organisiert und erhalten erst durch die symbolische Organisation der Wirklichkeit ihren ›Sinn‹: »human social structures are symbolic orders, meaningful constitutions of human relations in the terms of which the material realities find their historic effects« (Sahlins 1988b: 46). Zwar stimmen Sahlins und Bourdieu dahingehend überein, dass Intentionalität bzw. Strategien eng mit sozialen Positionen verknüpft sind, doch wird in Sahlins’ Ansatz soziale Positionalität erst ›verständlich‹ und ›real‹ durch die symbolische Organisation der Wirklichkeit. Der Habitus nimmt in Sahlins’ Ansatz, anders als bei Bourdieu, keinen zentralen Stellenwert ein. Wichtiger sind für Sahlins so genannte mythopoetische Objektivierungen. Dabei ähnelt Sahlins’ Unterscheidung zwischen den inkorporierten Strukturen des Habitus und den objektivierten Strukturen der »mythopoetics« (IH: 53) Bourdieus Differenzierung zwischen objektivierter und inkorporierter Geschichte, also »zwischen der im Laufe der Zeit in den Dingen […] akkumulierten Geschichte und der Habitus gewordenen Geschichte« (Gilcher-Holtey 2005: 180), doch Bourdieus ›akkumulierte Geschichte‹ ist nicht in demselben Maße bedeutsam für soziale Praxis wie die mythopoetischen Objektivierungen bei Sahlins. Für Sahlins sind mythopoetische Strukturen genauso wie der Habitus welterschließend und handlungsleitend; sie konstituieren die Gegenwart der Geschichte im interessegeleiteten Handeln der Akteure. Damit erinnert Sahlins’ Ansatz an Clifford Geertz’ Bestimmung kultureller Formen als models of und models for in ›Religion as a Cultural System‹ (Geertz 1973: 87-125). Was ist nun der Zusammenhang zwischen Habitus und mythopoetischen Objektivierungen? Jonathan Friedman argumentiert, diese Differenz impliziere eine Unterscheidung zwischen Gesellschaften »based on mythopraxis and those based on ›habitus‹« (Friedman 1988: 12). Dies ist allerdings eine Misspräsentation von Sahlins’ Entwurf, denn im Falle Hawaiis argumentiert Sahlins, dass dort eine »kulturelle Arbeitsteilung« bestand: »Das kulturelle Bewußtsein, das sich bei der Elite in historischen Genre-Erzählungen objektiviert, drückt sich bei der einfachen Bevölkerung in praktischen Handlungen und Alltagsberichten aus« (IG: 62). Habitus und mythopoetische Objektivierungen sind welterschließende und handlungsleitende Elemente sozialer Praxis in einer Gesellschaft und definieren nicht unterschiedliche Gesellschaften. Hinsichtlich der Relation zwischen Habitus und mythopoetischen Objektivierungen bleiben in Sahlins’ Ansatz allerdings einige Fragen offen. Insbesondere ist unklar, ob alle Menschen innerhalb einer Gesellschaft sowohl auf der Grundlage habitueller Dispositionen als auch auf der Grundlage mythopoetischer Objektivierungen handeln. Wenn Sahlins hier von einer exklusiven ›kulturellen Arbeitsteilung‹ ausgehen sollte, erscheint dies wenig überzeugend, und die Annahme, dass für jeweils einen Akteur sowohl der Habitus als auch mythopoetische

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Objektivierungen eine zentrale Rolle für soziales Handeln spielen, ist wohl plausibler. Sahlins’ Bestimmungen erscheinen jedoch eher weiterführend, wenn sie als eine unterschiedliche ›Gewichtung‹ in der individuellen Handlungspraxis zwischen Habitus und Mytho-Praxis gelesen werden. Diese Gewichtung könnte, wie Sahlins andeutet, von der jeweiligen sozialen Position abhängen, zudem kann sie situationsspezifisch sein. Der Grund dafür, dass Sahlins die Beziehung zwischen Habitus und mythopoetischen Objektivierungen in seinem Werk nur ansatzweise systematisiert, ist wahrscheinlich die geringe Bedeutung des Habitus-Konzeptes in seiner Geschichtstheorie. Allerdings liegt gerade in der Unterscheidung zwischen weitgehend unbewussten habituellen Dispositionen und expliziten mythopoetischen Objektivierungen ein großes Potenzial für eine vielschichtige und dynamische historische Kulturtheorie. Ein drittes Element von Sahlins’ Ansatz, das ich an dieser Stelle diskutieren möchte, ist die Rolle von Selbstreflexivität und Intentionalität in sozialer Praxis. Bei Bourdieu ist der Zusammenhang zwischen Habitus und Intentionalität relativ klar umrissen. Bourdieu koppelt Intentionalität an die weitgehend unbewussten Dispositionen des Habitus und argumentiert, dass soziale Praxis normalerweise nicht als das Ergebnis bewusster mentaler Prozesse analysiert werden kann. Zuweilen erscheint es in Bourdieus Ansatz sogar so, dass nicht die sozialen Akteure handeln, sondern der Habitus selbst (Crossley 2001: 94-96). Tatsächlich sind Selbstreflexivität und Kreativität für Bourdieu normalerweise kein generierendes Prinzip sozialer Praxis; in den Augen Bourdieus gibt es zwar eine intentionale Verdopplung habitueller Strategien durch bewusstes Handeln (Boudieu 1982: 382), doch dies bedeutet in erster Linie folgendes: »Die vom Habitus suggerierten Orientierungen können mit strategischen Kosten-Nutzen-Rechnungen einhergehen, die die Operationen, die der Habitus nach seiner eigenen Logik vollzieht, tendenziell bewußt werden lassen« (Bourdieu/Wacquant 1996: 165). Nur in Ausnahmefällen kommt es zu einem Handeln, dessen Grundlage bewusste Nutzenmaximierung und Selbstreflexivität sind, und zwar dann, wenn die Homologie zwischen Habitus und Feld auseinanderbricht (Bourdieu/Wacquant 1996: 165166; Adkins 2003: 27). Darüber hinaus fördern Wissenschaftler in den Augen Bourdieus durch ihr aufklärerisches Handeln Reflexivität in der sozialen Welt. Ein wichtiger Grund für Bourdieus These, dass soziale Praxis normalerweise nicht als ein Ergebnis bewusster Kalkulation angesehen werden kann, ist wahrscheinlich eine Folge seiner Absatzbewegung von Theorien rationaler Wahl. Im Gegensatz dazu argumentiert Sahlins nicht gegen die Relevanz von bewusstem Handeln per se, sondern für die Einbettung intentionalen Handelns in kulturelle Schemata, die zugleich welterschließend und handlungsleitend sind. Allerdings gibt es hier eine bedeutende Unklarheit in Sahlins’ Konzept der Intentionalität, denn der genaue Zusammenhang zwischen den inkorporierten Dispositionen des Habitus und den intentionalen Strategien der Akteure bleibt bei Sahlins etwas vage. Unabhängig davon, wie man Sahlins’ Aussagen hier interpretiert, bleibt festzuhalten, dass Sahlins nicht Intentionalität selbst als ein

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weitgehend unbewusstes Element sozialen Handelns bestimmt, sondern die einschränkenden kulturellen Grundlagen von Intentionalität. Die Frage ist aber, wie groß diese Einschränkungen tatsächlich sind, was also die Aussage bedeutet, dass die Menschen zwar ihre individuellen Ziele verfolgen, aber dennoch in ihren Handlungen nicht ›frei‹ sind. Prinzipiell können Sahlins’ Aussagen auf zwei unterschiedliche Weisen gelesen werden. In der ersten Interpretation bilden die habituellen Dispositionen allein einen welterschließenden Rahmen, vor dem Intentionalität und Weltbezogenheit erst ihren jeweiligen ›Sinn‹ erhalten. In dieser Lesart ist Intentionalität nicht unmittelbar mit dem Habitus verknüpft; dies legt ein eher individualistisches Handlungsmodell nahe. Kultur verleiht der ›Welt‹ einen gesellschaftlich geteilten Sinn, legt aber nicht fest, welche Handlungsweisen und Ziele für unterschiedliche Akteure in unterschiedlichen Situationen jeweils als wünschenswert erscheinen. In einer zweiten Interpretationsmöglichkeit erscheint die Verknüpfung von Habitus und Intentionalität enger. So gelesen legt der Habitus nicht nur einen kulturellen Rahmen fest, sondern beeinflusst auch die individuellen Sichtweisen und Handlungsziele der Akteure. Für diese Interpretation spricht insbesondere die Kopplung von Intentionalität und sozialer Positionalität, die Sahlins vornimmt. Der Habitus erscheint als eine Inkorporierung symbolischer Differenzen, die sich in unterschiedlichen sozialen Positionen ›ausdrücken‹. Die symbolischen Differenzen scheinen zudem einen jeweils spezifischen Wahrnehmungs- und Handlungshorizont festzulegen. In dieser Lesart ist intentionales Handeln so eingeschränkt, dass es möglicherweise tatsächlich einer ›Ausführung‹ habitueller Dispositionen nahekommt, die die jeweilige symbolisch definierte soziale Position nahelegt. Sahlins betont allerdings, dass kulturelle Kategorien die Handlungsweisen und Ziele der Akteure in performativen kulturellen Ordnungen nicht festlegen, auch deshalb, weil in einer spezifischen Handlungsweise nur ein kleiner Teil des übersubjektiven Bedeutungsreservoirs zum Tragen kommt (IG: 10); deshalb sind Handlungsweisen für Sahlins keine bloße ›Ausführung‹ kultureller Schemata. Man sollte zudem nicht vergessen, dass habituelle Dispositionen in Sahlins’ Ansatz nur ein Element des ›kulturellen Bewusstseins‹ sind; die von ihm in den Mittelpunkt gerückten mythopoetischen Objektivierungen scheinen, zumindest in Sahlins’ konzeptionellen Ausführungen, für Aushandlungen offen zu sein. In seiner Diskussion von mythopoetischen Objektivierungen der Maori argumentiert Sahlins: »Die Maori sind geschickt im Umgang mit ihrer Mythologie, da sie es verstehen, aus dem flexiblen Gesamtsystem ihrer Traditionen diejenigen auszuwählen, die am besten geeignet sind, ihre gegenwärtigen Interessen, so wie sie sie verstehen, zu befriedigen« (IG: 65). Zumindest die konzeptionellen Anmerkungen Sahlins’ deuten darauf hin, dass er Mythologie und Intentionalität nicht so streng aneinander koppelt, dass Intentionalität tatsächlich bereits von mythopoetischen Objektivierungen vorgegeben wird. Vielmehr postuliert Sahlins einen Spielraum zur individuellen Manipulation lokaler Mythologien; Selbstreflexivität

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erscheint deshalb in Sahlins’ Ansatz als ein fundamentales Element sozialen Handelns.31 Ein viertes Element von Sahlins’ Entwurf ist das Konzept der ›Praxis‹. Auch hier lohnt zunächst ein Seitenblick auf Bourdieus Ansatz, in dem das Konzept der Praxis im Mittelpunkt steht. Bourdieu konzeptualisiert soziale Praxis als den ›Ort‹ des Sozialen. Der Ort des Sozialen ist für Bourdieu weder ein intentionales Bewusstsein noch eine dem Individuum übergeordnete Gesellschaft. Im Mittelpunkt von Bourdieus Theorie der Praxis steht vielmehr das Zusammenspiel von Habitus und Feld. Bourdieu richtet sein Erkenntnisinteresse auf die Verhaltensweisen von Akteuren in unterschiedlichen Handlungsumwelten, also insbesondere wechselnden sozialen Feldern. Handlungsleitend ist dabei in Bourdieus Augen der Habitus, übersubjektive Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsschemata. Diese Schemata existieren in Bourdieus Ansatz nicht unabhängig von den Akteuren, sondern drücken sich in der sozialen Praxis der Akteure aus und werden erst durch die individuelle Praxis der Akteure ›real‹; besondere Aufmerksamkeit muss also nach Bourdieu den Verhaltensweisen der Akteure zukommen. Darüber hinaus betont Bourdieu, dass die Dispositionen des Habitus letztlich körperlich verankert sind. Soziale Praktiken sind in Bourdieus Augen routinisierte Handlungsweisen, die im Körper des Akteurs gleichsam ›eingeschrieben‹ sind. Im Mittelpunkt von Sahlins’ Erkenntnisinteresse steht nicht die individuelle Praxis der sozialen Akteure, sondern die symbolische Organisation der Wirklichkeit. In Culture and Practical Reason betont Sahlins, dass sich seine Argumentation unter anderem gegen Theorien richtet, die die »Praxis« in den Mittelpunkt rücken, also ein Handeln, das auf »Formen der wirtschaftlichen Tätigkeit« ausgerichtet ist (KPV: 7). Nun ist der Begriff Praxis in der sozialtheoretischen und – philosophischen Literatur gewiss nicht auf diese enge Bedeutung einzuschränken, die Sahlins hier vorschlägt. In seinem historischen Ansatz versucht Sahlins, das handlungstheoretische Element, das er in Culture and Practical Reason aus seiner Theorie noch ausschließt, zu konzeptualisieren, und in Sahlins’ historischem Ansatz nimmt der Begriff ›Praxis‹ einen hohen Stellenwert ein. In seinem 1982 erschienenen Artikel über ›Individual Experience and Cultural Order‹ argumentiert Sahlins wie folgt: »In practice, the individual is the Archimedean point of the cultural universe: for on the coordinates of his standpoint, hence of his interests, all of culture is transcendentally laid out, and all meanings, which without him are merely virtual or possible, become actual, referential, and intentional« (CP: 283). Die Beziehungen zwischen kulturellen Schemata sind in Sahlins’ Augen ohne die Praktiken der sozialen Akteure nur virtuell. »The sign enjoys an actual being, in praesentia, only as it is inscribed in human action« (CP: 286). ›Kultur‹ ist in Sahlins’ Ansatz also keine Entität, die über den Köpfen der Menschen schwebt und unabhängig von den Akteuren ist; vielmehr werden kul31 Sewell schreibt hier von einer »amerikanisch-pragmatistische[n] Einfärbung« von Sahlins’ am Strukturalismus orientierter Kulturtheorie (Sewell 2001: 48).

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turelle Formen erst in sozialen Praktiken relevant. Die soziale Praxis der Akteure ist für Sahlins der ›Ort‹, an dem sich Kultur realisiert und aktualisiert. Sahlins’ Plädoyer für die »Praxis als einer situativen Soziologie der Bedeutung« (IG: 15) ist also in erster Linie ein Hinweis darauf, dass kulturelle Kategorien erst ›real‹ sind, wenn sie im Handeln der Akteure angewandt, aktualisiert und verändert werden. Sahlins’ Ausführungen lassen darauf schließen, dass sowohl intentional motivierte als auch weitgehend unbewusste Handlungen in Sahlins’ Ansatz als ›Praktiken‹ verstanden werden können. Ein weiterer Unterschied zu Bourdieus Theorie der Praxis ist der Status von Kultur: Zwar ist Kultur in Sahlins’ Augen außerhalb der Praxis virtuell, doch sie bleibt der Rahmen, in dem soziale Praxis erst ihren ›Sinn‹ erhält (siehe auch Sewell 2001: 48). Sahlins ignoriert in Culture and Practical Reason Konflikte zwischen handelnden Akteuren, Kämpfe um Macht, und, allgemeiner formuliert, die sozialen Praktiken der Akteure. Bourdieu rückt genau diese Dimension in den Mittelpunkt seines Ansatzes, doch dafür spielt Kultur als bedeutungsstiftende Ressource keine Rolle mehr. Die Interpretationsfähigkeit der handelnden Akteure ist für Bourdieu nur ein Nebenaspekt sozialer Praxis. Die Akteure handeln auf der Grundlage weitgehend unbewusster Strategien, nicht aber vor dem Hintergrund einer sinnstiftenden und identitätsbildenden Instanz. Im Gegensatz dazu ist Kultur in Sahlins’ historischem Ansatz sinnstiftend und handlungsleitend. Sowohl der Habitus als auch mythopoetische Objektivierungen sind Aspekte des ›kulturellen Bewusstseins‹, ohne dass Sahlins die Existenz von gesellschaftlichen Konflikten negieren würde; vielmehr argumentiert er, dass der Konflikt ein zentrales Element ›performativer‹ kultureller Ordnungen ist. Sahlins hebt seinen Kulturalismus damit allerdings nicht auf, denn seine Kritik in Culture and Practical Reason gilt Ansätzen, die Kultur als »ein Sediment der rationalen Tätigkeit von Individuen« begreift (KPV: 7). In seiner Geschichtstheorie nimmt Sahlins diese Kritik nicht zurück. Kultur ist kein ›Effekt‹ rationalen Handelns; kulturelle Schemata lassen sich nicht aus dem intentionalen Handeln von Akteuren ableiten. Im Gegenteil weist intentionales Handeln immer eine symbolische Orientierung auf (CP: 281). Performativität, Intentionalität und Kreativität sollen analysiert werden können, ohne davon abzurücken, dass die Erfahrung symbolisch konstituiert wird. Die enge Verknüpfung zu Bourdieus Theorie des Habitus, die Sahlins an einigen Stellen vornimmt, ist allerdings irreführend. Bereits Sahlins’ Konzept des Habitus unterscheidet sich fundamental von Bourdieus Begriffsbestimmung; zudem ist Sahlins’ Ansatz eine Kulturtheorie im ›engeren Sinne‹, also ein Ansatz, der die ›Bedeutung‹ der symbolischen Organisation der Wirklichkeit für soziales Handeln in den Mittelpunkt rückt; für Bourdieu ist Kultur demgegenüber keine handlungsleitende und welterschließende Ressource.

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4. Die Indigenisierung der Moderne (II): develop-man Sahlins entwickelt seinen geschichtstheoretischen und zugleich handlungstheoretischen Ansatz seit den späten 1980er Jahren beständig weiter. Viele dieser Arbeiten konstituieren in ihrer Gesamtheit Sahlins’ Theorie über die ›Indigenisierung der Moderne‹. In seinem Konzept der translocal societies plädiert Sahlins für ein dynamisches Kulturkonzept, das die Idee der Systematizität nicht preisgibt. In einigen Studien entwickelt Sahlins ein dazu komplementäres Modell des develop-man. Während Sahlins sein Konzept der translocal societies als Alternative zu Entwürfen versteht, die die Systematizität von Kultur in Zweifel ziehen, versteht Sahlins seine Analysen des develop-man als einen Alternativentwurf zur Weltsystemtheorie. Im Folgenden stelle ich zunächst das Konzept des developman vor. Im Anschluss daran gehe ich auf Sahlins’ Modell der humiliation ein, das als ein konzeptioneller Bruch zu seinen sonstigen handlungstheoretischen Analysen verstanden werden kann. Schließlich versuche ich, auf der Grundlage meiner Analyse von Pierre Bourdieus Konzept des Habitus Sahlins’ Entwurf der humiliation in seine Geschichtstheorie handlungstheoretisch zu integrieren.

Develop-man, kultureller Wandel und das kapitalistische Weltsystem Sahlins’ Analyse der ›performativen‹ hawaiianischen Gesellschaft scheint zunächst ein Ansatz kultureller Reproduktion zu sein; allerdings versucht Sahlins darüber hinaus, die fundamentalen Wandlungen der hawaiianischen Gesellschaft im 19. Jahrhundert zu analysieren. Geschichte wird in Sahlins’ Augen durch Kultur geordnet, doch in Sahlins’ Augen trifft das Umgekehrte genauso zu: »cultural schemes are historically ordered, since to a greater or lesser extent the meanings are revalued as they are practically enacted« (IH: vii). Sahlins’ historisch-anthropologische Studien lassen sich demzufolge als kulturalistische Kritik an weltsystemtheoretischen Ansätzen interpretieren. Die bedeutendsten Werke Sahlins’, die sich als Kritik an der weltsystemtheoretischen Tradition lesen lassen, sind neben Islands of History insbesondere ›Cosmologies of Capitalism‹ (Sahlins 1988a; CP: 415-469)32 und die 1992 erscheinende monumentale Studie Anahulu (Sahlins 1992a) über ein Tal auf der hawaiianischen Insel O’ahu.33 In Islands of History kritisiert Sahlins die Weltsystemtheorie dafür, dass diese »ein offenes System mit einem nicht vorhandenen System verwechselt« (IG: 8). Dies erlaubt 32 Für eine Analyse von ›Cosmologies of Capitalism‹ im Kontext von Sahlins’ Gesamtwerk siehe Lanna 2001. 33 Hinsichtlich von Sahlins’ Analyse der hawaiianischen Geschichte im 19. Jahrhundert geht es mir ausschließlich darum, einige Grundprinzipien seines historischanthropologischen Ansatzes zu verdeutlichen. Sahlins’ Analysen der Geschichte Hawaiis im 19. Jahrhundert sind empirisch reichhaltiger und komplexer als meine Wiedergabe ihres Gehalts.

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es in Sahlins’ Augen nicht mehr, »die Vielfalt der lokalen Reaktionen auf das Weltsystem zu erklären« (IG: 8). In ›Cosmologies of Capitalism‹ spezifiziert Sahlins seine Kritik an der Weltsystemtheorie, insbesondere an Eric Wolfs Europe and the People Without History (Wolf 1986), das zwar von Wallersteins Ansatz abweicht, in Sahlins’ Augen aber die gleichen Schwächen aufweist wie Wallersteins Entwurf. Bevor ich auf Sahlins’ Kritik näher eingehe, stelle ich Wolfs Entwurf in seinen Grundzügen vor. Wolfs Ansatz ist vom strukturellen Marxismus der 1970er Jahre beeinflusst, unterscheidet sich allerdings in einigen wichtigen Punkten von den Ansätzen von Emmanuel Terray oder Maurice Godelier.34 Während Terray und Godelier ihre Aufmerksamkeit auf vergleichsweise kleine Gesellschaften richten, untersuchen der Weltsystemtheorie Wallersteins nahe stehende Ansätze großräumige politische und ökonomische Systeme; die Weltsystemtheorie versucht also, die Kategorie des geschlossenen gesellschaftlichen oder kulturellen Systems tendenziell aufzulösen (Ortner 1984: 141). Diese Theorietradition verknüpft zudem eine eher marxistische Kritik am Kulturbegriff mit einer Kritik an der Annahme kleiner, isolierter Gesellschaften. Auch für Eric Wolf kann soziale Dynamik nicht allein in einer gesellschaftsinternen Perspektive analysiert werden wie beispielsweise im Strukturfunktionalismus der britischen Social Anthropology oder im kulturellen Relativismus der nordamerikanischen Cultural Anthropology. Wolf geht davon aus, dass sich seit ungefähr 1400 im Verlauf der europäischen Expansion ein den Globus umspannendes System überregionaler Verknüpfungen herausbildete; dadurch veränderten sich eine Vielzahl an Gesellschaften grundlegend. ›Geschichte‹ ist für Wolf deshalb ein Begriff, der nur im Kontext überlokaler und in34 Ich konzentriere mich auf Eric Wolfs ethnologisches Hauptwerk Europe and the People Without History (Wolf 1986) und vernachlässige demgegenüber seine anderen Arbeiten, die als konzeptionelle Verfeinerungen und Erweiterungen zu dem in Europe and the People Without History entwickelten Ansatz gelesen werden können (siehe insbesondere Wolf 1999, 2001). Aus einer biographischen Perspektive ist an dieser Stelle von Interesse, dass Wolf von 1961 bis 1971 an der University of Michigan in Ann Arbor am gleichen Department wie Sahlins arbeitet und wie Sahlins an der teach-in-Bewegung Mitte der 1960er Jahre maßgeblich beteiligt ist. Wolf zieht aus seinen Erfahrungen allerdings andere konzeptionelle Konsequenzen als Sahlins; unter dem Eindruck des Vietnamkriegs schreibt er das Buch Peasant Wars of the Twentieth Century (Wolf 1971) und entwickelt daran anschließend in Europe and the People Without History einen historisch sensibilisierten weltsystemtheoretischen Ansatz, »an outgrowth of anthropology’s increasing awareness of global politics in the 1960s« (Wolf 2001: 9). Die intellektuellen Entwicklungen von Sahlins und Wolf sind vom Vietnamkrieg beeinflusst, doch ihre Konzepte beschreiten in den 1970er Jahren voneinander differente Pfade. »One might be impressed either by the world domination or the local resistance, with cultural hegemony or indigenous autonomy – an alternative that continues to be the major axis of anthropological interest and argument right to the present moment« (CP: 11). Für einen Vergleich der Konzepte von Sahlins und Wolf siehe Whitehead 2004. Für einen autobiographischen Überblick zu Wolfs Denken siehe Wolf 2001: 1-10. Zu Wolfs Ethnologie siehe auch Gledhill 2005; Heyman 2005; Marcus 2003.

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tergesellschaftlicher Verknüpfungen einen Sinn ergibt. Wolf folgt in diesem Punkt Wallerstein, kritisiert die Weltsystemtheorie allerdings dafür, dass diese in erster Linie untersucht, wie die so genannte ›Peripherie‹ durch das ›Zentrum‹ unterworfen wurde. Bei Wallerstein bleiben in Wolfs Augen nicht nur die jeweiligen Existenzweisen der Völker in der ›Peripherie‹ unberücksichtigt, sondern auch die Veränderungen außereuropäischer Lebenswelten durch die Expansion des Kapitalismus (Wolf 1986: 45). Im Gegensatz dazu rückt Wolf die Auswirkungen der Ausbreitung des Kapitalismus in der weltsystemischen ›Peripherie‹ in den Mittelpunkt. Um dies zu analysieren, führt Wolf den marxistischen Begriff der Produktionsweise ein, »ein spezifisches, historisch vorfindliches System gesellschaftlicher Beziehungen, das die Verausgabung von Arbeit regelt, um der Natur mittels Werkzeugen und handwerklicher Fertigkeiten sowie organisatorischer und intellektueller Fähigkeiten ein Quantum Energie abzuringen« (Wolf 1986: 114). Wolf unterscheidet drei Produktionsweisen: die kapitalistische Produktionsweise, die tributgebundenen Produktionsweise sowie die verwandtschaftlich strukturierte Produktionsweise. Die Auswirkungen der europäischen Expansion auf der ›lokalen‹ Ebene analysiert Wolf im Wesentlichen als einen »Zusammenstoß unterschiedlicher Produktionsweisen« (Wolf 1986: 533). Die symbolische Organisation der Wirklichkeit ist für Wolf in erster Linie dahingehend von Interesse, dass kulturelle Schemata manipuliert werden können: Ideologien kodifizieren die Unterscheidungen in der Verteilung von Macht »als Prinzipien, die im Universum selbst wurzeln« (Wolf 1986: 537). Sahlins stimmt Wolf zunächst zwar zu, dass die so genannten ›Völker ohne Geschichte‹ durchaus eine solche besitzen. Allerdings kritisiert Sahlins, dass bei Wolf eine Analyse fehlt »of how local peoples attempt to organize what is afflicting them in their own cultural terms« (CP: 416). In den Augen Sahlins’ verbleibt Wolf in einem marxistischen Untersuchungsrahmen, rückt deshalb das Konzept der Produktionsweise in den Vordergrund und versteht Kultur gewissermaßen als einen Reflex der Ökonomie, »a set of social appearances taken on by material forces that somehow possess their own instrumental rationality and necessity« (CP: 416). In Wolfs Argumentation entsteht der Widerspruch – so Sahlins –, einerseits die aktive Rolle der Menschen im historischen Prozess zu betonen und andererseits die symbolische Organisation der Wirklichkeit als Funktion materieller Umstände zu begreifen. Kultur reduziert sich für Wolf – so Sahlins – auf eine Widerspiegelung oder Funktion materieller Verhältnisse; die Aktivität menschlichen Handelns ist nicht mehr begründbar. An dieser Stelle wird wieder deutlich, wie Sahlins native agency, also indigene Handlungsfähigkeit, gegenüber den Einflüssen des ›kapitalischen Weltsystems‹ begründet. Aktives menschliches Handeln kann es nur geben, wenn die symbolische Organisation der Wirklichkeit keine bloße Widerspiegelung der Welt ist, sondern wenn sie gegenüber der Welt letztlich unabhängig ist. Weil Wolf dies nicht sieht, muss er seiner Analyse letztlich eine Kulturtheorie zu Grunde legen »that supposes the people’s conceptions are a function of their material circumstances« (CP: 417). Dabei be-

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streitet Sahlins keineswegs die Existenz ›realer‹ oder ›materieller‹ Faktoren wie dem westlichen Kapitalismus (CP: 417). Sahlins’ Ziel ist es zunächst, die Auswirkungen des Kapitalismus auf lokale indigene Ordnungen zu untersuchen; und diese Auswirkungen können nur angemessen analysiert werden, wenn die kulturelle Aneignung des Kapitalismus in einer lokalen kulturellen Ordnung berücksichtigt wird: »the capitalist forces are realized in other forms and finalities, in exotic cultural logics far removed from the native European commodity fetishism […] Hence, the World System is not a physics of proportionate relationships between economic ›impacts‹ and cultural ›reactions‹. The specific effects of the global-material forces depend on the various ways they are mediated in local cultural schemes« (CP: 418).

Hinsichtlich der historischen Entwicklung Hawaiis entwickelt Sahlins die These, »that the several periods of political transformation in Hawaii – from a centralized native kingship through an oligarchy of the ali’i, to a constitutional monarchy dominated by Whites – were closely correlated with shifts in the role of the Pacific region in the world economy« (Sahlins 1992a: 3).35 Dementsprechend teilt Sahlins die Geschichte Hawaiis bis zum 19. Jahrhundert in vier grobe Abschnitte ein. Der erste Abschnitt ist in Sahlins’ Augen die Zeit vor der ›Entdeckung‹ Hawaiis durch James Cook. Der zweite historische Abschnitt nach 1778/ 79 war gekennzeichnet durch Kriege zwischen den einzelnen Häuplingstümern Hawaiis und endete 1812 mit der Etablierung eines zentralisierten Königtums, das alle Inseln Hawaiis unter eine einheitliche Führung vereinte. Daran schloss sich drittens eine Phase an, in der unterschiedliche ali’i (Häuptlinge) um die Macht rangen und die Souveränität des Königtums untergruben. »An oligarchy of great ali’i took over the de facto government of the kingdom, encroaching at once on royal powers, royal lands, and the king’s control of commercial trade« (Sahlins 1992a: 2-3; siehe auch Sahlins 1990a). Nach 1830 wurde die hawaiianische Kontrolle über das Königtum immer schwächer. In dieser vierten von Sahlins genannten geschichtlichen Periode »White men (Haole) took it [the kingdom] over and turned the government into a constitutional monarchy« (Sahlins 1992a: 3). In den 1840er Jahren war die hawaiianische Zentralregierung unter der Kontrolle von Weißen, hauptsächlich US-Amerikanern; bis Ende der 1850er Jahren kontrollierten die Amerikaner auch die ländlichen Gebiete Hawaiis. Sahlins versucht nun, diesen politischen Wandel Hawaiis mit den ökonomischen Beziehungen zwischen Hawaiianern und Europäern bzw. Amerikanern zu verknüpfen. »The Haole interfered in Hawaiian politics as a means to their economic ends, whereas the Hawaiian chiefs were entering the Haole economy as a means to their political ends« (Sahlins 1992a: 3). Die Kulturkontakte zwischen Hawaiianern und den Besuchern waren, wie auch William Sewell Jr. in seiner 35 Zu Sahlins’ Kritik an Weltsystemtheorien siehe Stein 1999: 19-21.

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Analyse von Sahlins’ Geschichtstheorie hervorhebt, ein zentrales Ereignis in der hawaiianischen Geschichte. Welche Folgen dieses Eindringen der Fremden in die hawaiianische Lebenswelt für die Hawaiianer und die Entwicklung der hawaiianischen Gesellschaft im 19. Jahrhundert hatte, kann aber nicht einfach aus der technischen Überlegenheit der Europäer oder der Anwendung von Gewalt abgeleitet werden; Sahlins argumentiert ja gerade gegen eine solche fatal-impactPerspektive. »Die Europäer, ihre Handlungen und ihre materiellen Güter wurden unter den kulturellen Bedingungen Hawaiis angeeignet und in das hawaiianische Schema der Mythen und Praktiken aufgenommen. Das ist gemeint, wenn Sahlins sagt, daß die Transformation einer Kultur eine Form ihrer Reproduktion ist« (Sewell 2001: 52). Am 21. und 22. Februar 1779 wurden Cooks Überreste an die Briten übergeben und danach von ihnen in der Kealakekua-Bucht bestattet. Im frühen 19. Jahrhundert tauchten Cooks Gebeine wieder auf, »eingehüllt in den rohrgeflochtenen Sarg der göttlichen Häuptlinge, wurden sie von den Priestern des Lono während der alljährlichen Riten des Makahiki rund um die Insel Hawaii getragen« (TC: 45). In Sahlins’ Interpretation wurden die Überreste Cooks vom König wie die eines gefallenen Rivalen um die politische Macht behandelt; die Kräfte des gefallenen Herausforderers sollten für das mana des Königs nutzbar gemacht werden. Obwohl Cook zunächst als Rivale geopfert wurde, erlangte er später in der hawaiianischen Vorstellung die Würde eines Ahnherren. Durch den Tod Cooks wurde das mana der hawaiianischen Oberschicht britisch. »Ein großzügiger Empfang für auswärtige Handels- und Kriegsschiffe durch Kamehameha war gewissermaßen die durch den Tod Cooks in ein Instrument praktischen Handelns verwandelte Theorie des Makahiki« (TC: 49). Der hawaiianische König erhielt dadurch genug Waffen oder Schiffe, um bis 1795 auch die anderen Inseln Hawaiis zu unterwerfen. Schon ein Jahr zuvor wollte Kamehameha Hawaii an seinen »geliebten Bruder« abtreten, König Georg von England – was die Regierung von London allerdings ablehnte. Dennoch »fuhren Kamehameha und sein Nachfolger Liholiho bis in das 19. Jahrhundert hinein fort, sich als Untertanen Seiner Britischen Majestät aufzufassen« (TC: 50). Mehr noch: Im frühen 19. Jahrhundert identifizierten sich hawaiianische Häuptlinge bewusst als prominente Europäer (TC: 52-53). Dieser »scheinbar überstürzte Sprung in den Untergang der eigenen Kultur« ist für Sahlins aber nicht Ausdruck einer Assimilation der peripheren hawaiianischen Kultur in die dominante westliche oder europäische Kultur, sondern spiegelt grundlegende Prinzipien der hawaiianischen Kultur selbst wider; »indem die hawaiischen Adligen sich als europäische Häuptlinge begriffen, reproduzierten sie zugleich eine herkömmliche Unterscheidung zwischen sich selbst und der ihrer Herrschaft unterworfenen einheimischen Bevölkerung« (TC: 53). In der hawaiianischen Vorstellung unterschieden sich die Häuptlinge vom ›einfachen‹ Volk genauso wie die Engländer von den Hawaiianern insgesamt. »Ebenso wie die Engländer hatten die hawaiischen Häuptlinge, gleichsam als

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Einwanderer aus dem höheren Geisterreich, einstmals die ursprünglichen Tabus in Geltung gesetzt, das heißt, diejenigen Trennungen und Unterschiede, die eine kulturelle Ordnung begründen« (TC: 54). Dieser grundlegende Unterschied reproduzierte sich auch in der Kleidung hawaiianischer Adliger; europäisches mana – beispielsweise in der Form europäischen Tuches – nahm mehr und mehr die Funktion militärischer Erfolge ein, einstmals der wichtigste Ausdruck aristokratischen Wettbewerbs (TC: 55). Zwischen den Häuptlingen und dem einfachen Volk sowie zwischen den Häuptlingen untereinander brach ein in der hawaiianischen Geschichte bis dahin beispielloser Kampf um das mana der Fremden aus, der eine vormals unbekannte Gewalt der Häuptlinge gegenüber dem Volk einschloss (TC: 72). Die Häuptlinge mussten ihren Zugang zum mana verteidigen; sie versuchten dies nicht durch die Anwendung von Gewalt zu erreichen, sondern auch dadurch, dass sie einen Gutteil dessen, was das einfache Volk im Rahmen des interkulturellen Handels ertauscht hatte, beschlagnahmten. Darüber hinaus griffen die Häuptlinge zunehmend in den Handel ihrer Untergebenen mit den Besuchern aus Übersee ein. Neue Tabus monopolisierten den Handel zugunsten der Häuptlinge und stellten sicher, dass nur solche Waren im Rahmen des Tausches angenommen werden durften, für die in erster Linie die Häuptlinge ein Interesse hatten (TC: 74). Diese Monopolisierung des Handels erreichte laut Sahlins ihren Höhepunkt in der so genannten Sandelholzära zwischen 1812 und 1830. Die Statusauseinandersetzungen zwischen den Häuptlingen nahmen, wie Sahlins bemerkt, »geradezu orgiastische Ausmaße an« (TC: 55), als riesige Mengen von Stoffen, Erträge aus dem Sandelholzhandel mit China, in speziellen Stoffhäusern der hawaiianischen Häuptlinge verrotteten. Die Bevölkerung indes musste das Holz für den Handel zur Verfügung stellen, als Abgabe oder Pacht für ein Stück Land. Tabus wurden dafür eingesetzt, »um die Frachtraten, die Laufzeiten, die Frachtpartien, die Modalitäten und sogar die Waren des europäischen Handels zum Vorteil der Häuptlinge zu steuern« (TC: 76). Zwar war die hawaiianische Kultur deshalb »bestrebt«, sich zu reproduzieren, indem sie versuchte, die Ereignisse in der Folge des Kulturkontakts in die eigene Kultur zu inkorporieren, also »aus dem Ereignis eine Variante des bestehenden Systems zu machen« (TC: 82). Allerdings veränderte sich die Kultur der Hawaiianer, weil die unterschiedlichen Beziehungen, die Frauen, Männer und Hawaiianer mit den Europäern pflegten, die Fundamentalkategorie der hawaiianischen Gesellschaft, ihr Tabusystem, untergrub. Die Umwandlung des Tabusystems wurde in Sahlins’ Augen demzufolge nicht erst mit der Einsetzung neuer Tabus durch die Herrschenden in Gang gesetzt, sondern bereits durch die Handlungsweisen der Hawaiianer im Allgemeinen. Sahlins betont, dass das hawaiianische Tabusystem nicht einfach eine Widerspiegelung sozialer Praxis war; vielmehr konstituierte es erst die Bedeutung der hawaiianischen sozialen Kategorien und deren bedeutungsvolle Unterscheidungen (TC: 84). In Relation zu den Störungen, die das praktische Handeln mit sich bringt, »wird die Logik des Tabus gleichsam indirekt zum Mechanismus der

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Umwertung von Personen und Dingen, die sie ursprünglich in direkter Weise definiert hatte« (TC: 84-85). Sahlins nennt insbesondere zwei Konsequenzen der hawaiianischen Tabuverletzungen für die Gesellschaft Hawaiis: Zunächst verloren die Besucher aus Übersee im Rahmen der Handelsbeziehungen mit den Hawaiianern ihren göttlichen Status für die Bewohner Hawaiis. Stattdessen wurde die Trennung nun als ethnische Trennung empfunden, »eine Segmentierung, wie sie, zumindest aus hawaiischer Sicht, die ersten Begegnungen gerade nicht gekennzeichnet hatte« (TC: 87). Eine wichtige Rolle bei der Säkularisierung der Europäer spielten die hawaiianischen Frauen, deren Essgemeinschaft mit den Europäern den sakralen Status der fremden Besucher untergrub. Wichtiger noch war eine Änderung in den sozialen Beziehungen innerhalb der hawaiianischen Kultur, die sich in einer wachsenden Kluft zwischen einfachen Männern und Frauen einerseits und den Häuptlingen andererseits manifestierte. Die kulturell bestimmten Unterschiede zwischen Männern und Frauen wurden durch ihre gemeinsamen Handelsinteressen, die gegen die Häuptlinge gerichtet waren, abgeschwächt. Deutlich wurde stattdessen »zunehmend der Klassenunterschied zwischen Häuptlingen und unterlegener Bevölkerung« (TC: 86). Die auf Abstammung gründenden Tabuunterschiede traten zugunsten des sich offenbarenden Klassenunterschieds als handlungsleitende Grundkategorie zunehmend in den Hintergrund. Eine wichtige Pointe von Sahlins’ Argumentation ist die enge Verzahnung zwischen lokalem kulturellem Wandel auf Hawaii und dem sich globalisierenden Kapitalismus. Das ›kapitalistische Weltsystem‹ wurde in Sahlins’ Augen von kulturspezifischen Bedürfnissen angetrieben, die in eine Beziehung zueinander traten und eine internationale Arbeitsteilung schufen. »The general idea is that the world system is the rational expression of relative cultural logics, that is, in the terms of exchange-value« (CP: 421). Eine Voraussetzung für den Sandelholzhandel war in Sahlins’ Augen der große und kaum stillbare westliche Bedarf nach chinesischem Tee. Weil die Chinesen aber mit Ausnahme von Silber kein Interesse an britischen Waren hatten, rückte das hawaiianische Sandelholz in den Mittelpunkt des westlichen Interesses, denn die Chinesen importierten Sandelholz seit der T’Ang-Dynastie aus Indien (CP: 443). Eine besondere Bedeutung für die Geschichte Hawaiis bekamen um die Wende zum 19. Jahrhundert amerikanische Händler, die sich nach der amerikanischen Unabhängigkeit von Großbritannien neue Märkte erschließen wollten. Amerikanische Händler erhielten von den hawaiianischen Häuptlingen Sandelholz, das die Amerikaner für ihren Handel mit China verwandten; die hawaiianischen Häuptlinge wiederum bekamen westliche Waren, die zum Medium für die innerhawaiianischen Statusauseinandersetzungen wurden. 1818/19 weiteten die Amerikaner ihren Handel aus; immer mehr amerikanische Händler suchten die hawaiianischen Inseln auf. 1819 starb der hawaiianische König Kamehameha; dies verstärkte die bereits zuvor sichtbare Dezentralisierung des hawaiianischen Königtums und heizte die Statusauseinandersetzungen der hawaiianischen Häuptlinge an: »the elite consumption fever [in Hawaii] was being fueled by two intersecting systems of rivalry: on one

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side, the American merchants competing with each other for custom, on the other, the Hawaiian chiefs with the custom of competing with each other« (CP: 445). Die langfristigen Folgen dieser Handelsbeziehung für die hawaiianische Gesellschaft waren fatal. Die Ausbeutung der einfachen Landbevölkerung durch die Häuptlinge während der ›Sandelholzära‹ trieb die Menschen in die Armut »und trug wahrscheinlich zum erschreckenden Fall der Bevölkerungszahl bei, der die Ausbreitung der ›zivilisierten‹ Krankheiten wie den Pocken begleitete« (Sewell 2001: 65). Um 1830 waren die hawaiianischen Sandelholzwälder erschöpft; die konsumptiven Exzesse der hawaiianischen Häuptlinge hatten gewaltige Schulden hinterlassen, und die Bevölkerung war dezimiert und verarmt. »Das Endergebnis waren die ›Landreformen‹ der fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts, die das Resultat hatten, überhaupt alle Hawaiianer zu enteignen und das Land den amerikanischen Missionaren und Händlern zu übergeben« (Sewell 2001: 66). Sahlins’ Analyse stellt das weltsystemheoretische Paradigma vor mehrere konzeptionelle Probleme. Zunächst betont Sahlins, dass das europäische ›Zentrum‹ jahrhundertelang nicht in der Lage war, seine Handelspartner in der ›Peripherie‹ zu dominieren. Darüber hinaus spielten lokale politische Auseinandersetzungen sowie kulturelle Ideen Hauptrollen in der Determination interregionaler Interaktionen. Zudem stellt Sahlins die These auf, dass »the periphery must be seen as an active agent whose contact with the core can vary from eager demand for trade to indifference to active resistance« (Stein 1999: 21). Diese These sollte aber nicht mit der Überlegung verwechselt werden, ›lokale‹ Kulturen seien geschlossene Gebilde, die sich durch ›überlokale‹ Faktoren nicht verändern würden. Die von Jonathan Friedman an Sahlins gerichtete Kritik, dass dieser nicht genug die Auswirkungen makrohistorischer Prozesse auf lokale kulturelle Kontexte berücksichtigt, ist deshalb in meinen Augen unberechtigt. Friedman argumentiert aus einer der Weltsystemtheorie nahestehenden global ethnography, die davon ausgeht, »that the ethnographic present is largely the historical product of the interaction of local and global processes, one which in phases of the expansion of hegemonic centers results in the integrative transformation of hinterland societies« (Friedman 1988: 10). Sahlins analysiert die hawaiianische Gesellschaft allerdings sehr wohl als eingebettet in überlokale Verknüpfungen; er argumentiert jedoch, dass überlokale Faktoren nur eine Bedeutung für ›das Lokale‹ bekommen, wenn sie kulturell ›angeeignet‹ werden. Die Hawaiianer erscheinen sowohl in Sahlins’ Analyse von James Cooks Tod als auch in seiner Untersuchung über die Einbettung der hawaiianischen Gesellschaft in das ›kapitalistische Weltsystem‹ als aktive Akteure, die den jeweiligen Situationen nicht hilflos ausgeliefert waren, sondern zu ihrem Vorteil manipulierten (Stein 1999: 20). Das entscheidende Element in Sahlins’ Plädoyer für ›indigene Handlungsfähigkeit‹ ist sein Kulturbegriff. Sahlins hält es nicht für möglich, die symbolischen Zuschreibungen von materiellen Phänomenen aus diesen Phänomenen selbst abzuleiten; kulturelle Schemata sind in Sahlins’ Augen ein intermediärer Faktor zwischen Wahrnehmung und materieller Realität. Sahlins argumentiert, dass man

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nur dann über ›materielle Realitäten‹ diskutieren kann, wenn diese bereits symbolisiert werden (Sahlins 1988b: 46). Das kapitalistische Weltsystem, sei es in der ›Gestalt‹ von James Cook oder von US-amerikanischen Händlern, hatte in Sahlins’ Augen keine unmittelbar determinierende Auswirkung auf die hawaiianische Gesellschaft, auch wenn sich die hawaiianische Kultur durch die interkulturellen Kontakte und die Einbettung in überlokale Strukturen langfristig radikal wandelte. Den Prozess der lokalen Aneignung überlokaler Einflüsse versucht Sahlins mit dem Begriff develop-man zu fassen – im expliziten Unterschied zu development. Nach eigener Aussage hörte Sahlins den Begriff develop-man zum ersten Mal auf dem Campus einer Universität in Suva (Fidschi) in einer Unterhaltung zweier Studenten aus Neuguinea.36 Während der Begriff development in Sahlins’ Augen impliziert, nicht-westliche Kulturen würden sich nach dem Vorbild westlicher Kulturen entwickeln, legt develop-man einen anderen Zusammenhang nahe: »›Developman‹ refers to a process […] in which the commercial impulses excited by an encroaching capitalism are turned to the provisioning of indigenous notions of good life. In this event, European goods do not simply make the people more like us, but more like themselves« (Sahlins 2000b: 172). Der Konsum westlicher Güter in nicht-westlichen Kulturen führt in Sahlins’ Augen nicht zu einer Verdrängung lokaler kultureller Modelle, sondern zu einer Bereicherung der lokalen Kultur, weil die westlichen Güter im Rahmen lokaler Ideen angeeignet werden. Mit Blick auf Untersuchungen des Konsums in indigenen Gesellschaften Neuguineas argumentiert Sahlins wie folgt: »Bought into the orbit of the capitalist World System, this global crusade of economic rationality, they [the New Guineans] have proven themselves quick studies in commercial cunning – which they use to stage the most extravagant traditional ceremonies anyone could ever remember […] it is development from the perspective of the people concerned: their own culture on a bigger and better scale than they ever had it« (DM: 24; siehe auch Sahlins 2000b: 172).

Auch die Geschichte Hawaiis nach 1778/79 ist in Sahlins’ Augen ein Beispiel für develop-man. Die Handelsbeziehungen zwischen Europäern und Amerikanern auf der einen und Hawaiianern auf der anderen Seite führten zunächst nicht zu einer Erodierung der hawaiianischen Kultur; vielmehr kann man in Sahlins’ Augen den exzessiven Konsum westlicher Güter durch die hawaiianischen Häuptlinge nur erklären, wenn er als Ausdruck traditioneller Statusauseinandersetzungen mit neuen Mitteln betrachtet wird. Develop-man ist also in Sahlins’ Theorie ein Beispiel für seine These, dass die Transformation einer Kultur ein Modus ihrer Reproduktion ist. »Developman: the enrichment of their own ideas of what mankind is all about […] the indigenous mode of response to imperialism is al36 Sahlins verwendet den Begriff develop-man erstmals in ›Cosmologies of Capitalism‹ (Sahlins 1988b). Siehe dazu auch Robbins 2005a, 2005b.

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ways culturally subversive, insofar as the people must need to interpret the experience, and they can do so only according to their own principles of existence« (DM: 24, 28).37 Sahlins’ Diskussion zeigt, dass das Konzept des develop-man in einer systematischen Kontinuität zu Sahlins’ Konzept der ›konjunkturalen Struktur‹ steht: »it gives local categories and efforts at reproduction a fundamental role to play in non-Western people’s encounter with the West. It is also similar by virtue of the way that it imagines cultural change to be a relatively long-term process resulting from consequences that are largely unintended by local people« (Robbins 2005b: 43). Dies bedeutet nicht, dass es in Sahlins’ Analyse keinen Platz für die Erodierung kultureller Traditionen gibt. Im Gegenteil arbeitet Sahlins die desaströsen Folgen heraus, die der exzessive Konsum der hawaiianischen Häuptlinge für die hawaiianische Kultur Mitte des 19. Jahrhunderts gehabt hat. Sahlins argumentiert, dass bestimmte Arten von develop-man selbstzerstörerische Effekte nach sich ziehen können. In Hawaii beuteten die Häuptlinge ihre Untergebenen aus und steuerten Hawaii in eine ökologische und ökonomische Krise. Diese Krise, die Mitte des 19. Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreichte, ist für Sahlins nicht das direkte Ergebnis des destruktiven Einflusses des Westens, sondern in gewisser Weise das Ergebnis der indigenen hawaiianischen Praktiken des developman. Sahlins argumentiert, dass andere indigene Kulturen des Pazifik, etwa in Fidschi oder der amerikanischen Nordwestküste, in der Lage waren, ihre kulturelle Integrität bis weit ins 20. Jahrhundert zu wahren, trotz einer mit Hawaii vergleichbaren politischen Marginalisierung sowie eines bedeutsamen Bevölkerungsschwunds. Im Falle Hawaiis, so Sahlins, lagen die Wurzeln des kulturellen Niedergangs in den indigenen kulturellen Kategorien selbst. Deshalb ist auch noch kulturelle Destabilisierung in Sahlins’ Ansatz in gewisser Weise ein Ausdruck indigener Traditionalität. In seinen Analysen über die ›Indigenisierung der Moderne‹ weist Sahlins normalerweise auf die Kontinuität indigener Traditionen hin. In einigen seiner neueren Arbeiten findet sich ein Konzept, das diesen Entwurf der ›Indigenisierung der Moderne‹ erweitert (siehe dazu auch Robbins/Wardlow 2005). Am Ende seines Aufsatzes über ›The Economics of Develop-Man in the Pacific‹ analysiert Sahlins den Übergang von develop-man zu development, »marked […] by the shift from a selective to an eclectic relation to Western commodities« (DM: 37). Im Rahmen von development werden westliche Güter nicht mehr angeeignet, um die eigene Kultur zu stabilisieren; der Konsum ist dann nicht mehr der Ausdruck kultureller Kontinuität, sondern einer bewussten Aneignung westlicher Werte und Vorstellungen. Dieser Wandel ist allerdings in Sahlins’ Augen nicht selbstverständlich und impliziert einen kulturellen Bruch. »[Indigenous peoples] 37 Der Begriff develop-man kommt in Sahlins’ neueren Arbeiten häufig vor und erscheint zumindest implizit als eines seiner favorisierten Konzepte (siehe Robbins 2005a: 9).

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had to pass through a certain cultural desert to reach the promised land of ›modernization‹: they had to experience a certain humiliation« (DM: 37). ›Demütigung‹ oder ›Erniedrigung‹ scheint, so Sahlins, ein notwendiges Stadium im Prozess der Modernisierung zu sein. ›Modernisierung‹ bedeutet hier für Sahlins allen Anschein nach ›Westernisierung‹. »To ›modernize‹, the people must first learn to hate what they already have, what they have always considered their well-being. Beyond that, they have to despise what they are, to hold their own existence in contempt – and want, then, to be someone else« (DM: 38). Diese Entwicklung kann in den Augen Sahlins’ durch die ungleichen Machtverhältnisse in der ›kolonialen Situation‹ hervorgerufen werden. Dieser ›globale Inferioritätskomplex‹ ist aber für Sahlins kein direktes Ergebnis westlicher Machtausübung. Diese Erklärung wäre, so Sahlins, ein Rückfall in die Machttheorie von Thomas Hobbes, die Sahlins ja bereits am Anfang seiner Karriere überwinden will. Die Menschen, die bewusst die westliche Kultur annehmen, befinden sich allerdings nicht in einem kulturlosen Naturzustand. »They already have their own cultures, their own ideas of the good. So the question is not simply what forces them to be like us, but why should they want to?« (DM: 38) Sahlins führt hier die Rolle des Christentums an, insbesondere in der Gestalt von Missionaren. Im Falle Hawaiis berichtet Sahlins, dass die amerikanischen Missionare sich über die Hawaiianer beschwerten, weil es diesen in ihren Augen an einer ausreichenden Geringschätzung der eigenen Existenz mangelte. »Eating, laughing, and copulating too much, while never working too long, the islanders simply could not understand how rotten they were […] The whole Judeo-Christian cosmology of the human condition, of a human nature inherently corrupted by sin, of life as a punishment, this whole system of self-hatred had to be laid upon them […] Only then, when they were sufficiently disgusted with themselves, would they be prepared to become like us – ›civilized‹« (DM: 39).

Dieses Phänomen der Erniedrigung ist für Sahlins letztlich auch eine Grundlage für die Aneignung westlicher Waren und Werte, die erst nach dem Abstreifen der eigenen Traditionen erstrebenswert erscheinen (DM: 39). Das Konzept der Erniedrigung steht nicht im Widerspruch zu Sahlins’ Ansatz des develop-man, sondern kann vielmehr als eine Erweiterung verstanden werden: »humiliation, in Sahlins[’] scheme, is an answer to the question of how, given the bias toward indigenous cultural reproduction and expansion, people ever come to embrace the West and make achieving development stricto sensu their goal. It is the need his theory has to pose this question that makes the humiliation argument an important development within it« (Robbins 2005a: 10).

Sahlins macht zum ersten Mal Gebrauch vom Konzept der humiliation in einer Arbeit, die im Rahmen einer Gastprofessur in China 1988 entsteht (Sahlins

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1990b). Interessanterweise hat Sahlins das Konzept der Erniedrigung bis heute nicht vollständig ausgearbeitet; tatsächlich spielt es auch in den Artikeln, in denen Sahlins Gebrauch davon macht, eine vergleichsweise geringe Rolle. Die Arbeiten, in denen Sahlins am ehesten den Ansatz der humiliation verwendet (Sahlins 1990b und DM) finden sich nicht in seiner 2000 erschienenen repräsentativen Sammlung von Aufsätzen. Sahlins’ jüngste Arbeit, in dem dieses Konzept auftaucht, ist hier zwar enthalten (Sahlins 1993a; CP: 471-500), doch in ›Goodbye to Tristes Tropes‹ argumentiert Sahlins, nachdem er das Konzept der humiliation in einem Absatz zusammengefasst hat: »Around much of the world, however, the universalizing cultural project of the West does not succeed so well« (CP: 491). Sogar in den Artikeln aus den Jahren 1990 und 1992, in denen Sahlins dieses Konzept einführt, »Sahlins has a way of turning from the topic before he gives it a full airing« (Robbins 2005a: 11). Er argumentiert hier, dass das Phänomen der Erniedrigung oftmals zweiseitig ist: »This punitive experience of ›modernization‹ risks provoking a self-consciousness of the indigenous culture, as possessed of values better than and distinct from Westernization« (DM: 39). Letztlich interessiert sich Sahlins also weniger für die radikalen kulturellen Brüche, die er als das Ergebnis von humiliation betrachtet, sondern für kulturelle Kontinuitäten. In Sahlins’ Augen kann gerade das bewusste Abrücken von der eigenen Kultur und die zwischenzeitliche Aneignung westlicher Werte einen Prozess der Indigenisierung zur Folge haben. Bei Sahlins scheint es also zwei Antworten auf die Frage zu geben, welche Folgen die Ausbreitung des westlichen Kapitalismus haben kann. Develop-man und development sind, so Sahlins, gegenläufige Bewegungen, die von der Einbettung des Kapitalismus in lokale kulturelle Kontexte einerseits und der bewussten Übernahme westlicher Werte andererseits gekennzeichnet sind. Humiliation ist die weltgeschichtliche Verknüpfung zwischen zwei Stadien kultureller Entwicklung, ein Konzept, das klären soll, wie es überhaupt zur bewussten Aneignung westlicher Kultur(elemente) bei gleichzeitiger Ablehnung indigener Traditionen kommen kann, wenn westliche Waren und Werte immer zunächst im Rahmen indigener Kategorien wahrgenommen werden.

Humiliation und der Habitus: Von Sahlins zu Bourdieu Im Folgenden weise ich zunächst auf einige problematische Aspekte von Sahlins’ Ansatz hin. Im Anschluss daran lote ich das Potenzial von Sahlins’ Konzept der humiliation für die Analyse interkultureller Kontakte aus. Ich greife dabei sowohl auf Sahlins’ Konzept des Habitus zurück als auch auf Pierre Bourdieus Theorie der Praxis. Ein erster problematischer Aspekt von Sahlins’ Ansatz ist die enge Verknüpfung zwischen humiliation und Westernisierung, die Sahlins herstellt (Josephides 2005: 116). Diese Kritik ist zumindest teilweise vergleichbar mit einem bereits früher von Nicholas Thomas an Sahlins gerichtenen Vorwurf. In Thomas’ Augen implizieren Sahlins’ historische Analysen von Kulturkontak-

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ten in Islands of History die Existenz einer weitgehend geschichtslosen, also statischen vorkolonialen indigenen Kultur, die sich nur im Kontakt zu anderen Kulturen wandelte (Thomas 1989: 109). Zwar legt Sahlins’ Analye in Islands of History tatsächlich den Schluss nahe, kultureller Wandel sei ein durch kulturexterne Faktoren induzierter Prozess. Auf diese Weise interpretiert, entwirft Sahlins in Islands of History ein Bild von gewissermaßen ›geschichtslosen‹ Hawaiianern, deren Kultur sich erst im Kontakt mit dem ›kapitalistischen Weltsystem‹ radikal wandelte. Ein ähnliches Problem tritt in Sahlins’ Ansatz der humiliation auf, denn Sahlins verknüpft den Prozess der humiliation eng mit dem der Westernisierung. Auch hier scheint letztlich erst der Kontakt zwischen nicht-westlicher und westlicher Kultur zu radikalem kulturellem Wandel in der nicht-westlichen Kultur zu führen. Ich glaube allerdings, dass diese Interpretation sowohl von Sahlins’ Geschichtstheorie in Islands of History als auch seines Ansatzes der humiliation keineswegs die einzig mögliche ist. In Islands of History betont Sahlins nämlich, dass »die sogenannten primitiven Gesellschaften niemals so isoliert waren, wie es eine frühere Anthropologie gerne glaubte« (IG: 8). Zwar konzentriert sich Sahlins auf die Kontakte zwischen pazifischen Kulturen mit ›dem Westen‹ und den damit verknüpften Folgen für diese Kulturen, doch seine Theorie kulturellen Wandels basiert nicht notwendigerweise auf der Analyse von Kontakten zwischen westlicher und nicht-westlicher Kultur. Darüber hinaus ist die Verknüpfung zwischen humiliation und Westernisierung, die Sahlins vornimmt, keine theoretisch notwendige, sondern eher eine empirisch naheliegende. Sahlins konzentriert sich in den Arbeiten, die er dem Phänomen der Erniedrigung widmet, auf die ›Westernisierung‹. Das bedeutet nicht, dass sich dieses Konzept nicht auch anwenden ließe auf die Analyse von Kontakten, Beziehungen und Zusammenstößen zwischen nicht-westlichen Kulturen (siehe Robbins 2004). Die bereits vorgestellte Kritik von Nicholas Thomas hat noch einen zweiten bemerkenswerten Aspekt. Sowohl in seinen historischen Analysen in Islands of History als auch in seinen Untersuchungen über develop-man und humiliation scheint Sahlins davon auszugehen, dass kultureller Wandel in erster Linie ein Prozess ist, der von einem kulturellen ›Außen‹ angeregt wird, sei es der Kontakt der Hawaiianer mit James Cook oder die Handelsbeziehungen mit Europäern und Amerikanern, die zu einer Umwandlung des hawaiianischen Tabusystems beitrugen (Thomas 1989: 107). Selbst wenn also die Vorstellung fallengelassen wird, dass kultureller Wandel in nicht-westlichen Kulturen ein westlich induzierter Prozess ist, bleibt das Problem bestehen, dass sich Sahlins in erster Linie auf Aspekte kulturellen Wandels konzentriert, die nicht das Ergebnis kulturinterner Auseinandersetzungen, sondern auf Kontakte zwischen unterschiedlichen Kulturen zurückzuführen sind. Dies ist beispielsweise im Falle Hawaiis und vieler anderer nicht-westlicher Kulturen, die im Laufe der europäischen Expansion seit dem 15. Jahrhundert in den Einflussbereich des Westens geraten sind, aus empirischen Gründen weiterführend. Zudem erinnert uns Sahlins zu Recht daran, dass sich Prozesse kulturellen Wandels niemals allein kulturintern analysieren lassen.

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Sahlins vernachlässigt allerdings kulturelle Wandlungsprozesse, die auf kulturinterne Faktoren zurückzuführen sind. Man kann Sahlins’ Entwurf allerdings auch anders interpretieren: Sahlins’ Ansatz kann gelesen werden als eine Theorie, die den strikten Gegensatz zwischen exogen/endogen auflöst und in eine Relation überführt (siehe Biersack 2005: 152). Nichtsdestotrotz gibt es drittens ein handlungstheoretisches Problem in Sahlins’ Ansatz, das zu einer gewissen Präferierung kulturexogener Einflüsse bei der Analyse kulturellen Wandels beiträgt. Sahlins konzeptualisiert in seinen historischen Analysen intrakulturelle Differenzen als Teil einer allgemein geteilten kulturellen Ordnung. Bereits auf einer ›Makro‹-Ebene ist ein solches Modell nicht weiterführend, weil es zu statisch ist: Kulturelle Grenzen verschieben sich ständig, zudem können sich unterschiedliche kulturelle Ordnungen zeitweise überlappen. Andreas Reckwitz nennt diese Überlappungen unterschiedlicher kultureller Ordnungen, die nicht in einem homogenen kulturellen ›Text‹ aufgehen, ›kulturelle Interferenzen‹ (Reckwitz 2000). Es ist plausibel anzunehmen, dass auch die hawaiianische Kultur aus einer Anzahl dynamischer, sich überlappender und sich möglicherweise widersprechender kultureller Ordnungen bestand. Wahrnehmungs-, Interpretations- und Handlungsweisen sind zwar mit kulturellen Schemata verknüpft, doch die Vielfalt und Widersprüchlichkeit sich überlagernder kultureller Gebilde impliziert gerade nicht das bloße Befolgen eines homogenen kulturellen ›Skripts‹. Dabei ist das Problem in Sahlins’ Ansatz wahrscheinlich weniger offensichtlich, so lange die Theorie auf kleine, weitgehend undifferenzierte Gesellschaften mit geringer Ausdehnung angewandt wird. »In ethnisch verschiedenartigen, multireligiösen, räumlich wildwuchernden, mobilen und hochdifferenzierten Sozialformationen […] sind die Grenzlinien aber bekanntlich schwer zu ziehen« (Sewell 2001: 55). Wie Sewell argumentiert, ist es bei der Annahme einer einzigen kulturellen Struktur kaum vorstellbar, wie es im Rahmen dieser Struktur kulturelle Innovationen und daraus resultierende kulturelle Transformationsprozesse geben kann. Sahlins’ ›makrotheoretische‹ Aussagen über kulturelle Homogenität haben darüber hinaus eine ›mikro‹-theoretische Komponente. Denn kulturelle Grenzen verschwimmen auch auf der ›Mikro‹-Ebene, und Sahlins’ Modell geht noch davon aus, dass eine Person ›nur‹ einem kulturellen Gebilde angehört. Stattdessen ist es aber realistischer davon auszugehen, dass ein Akteur als ein ›Schnittpunkt‹ unterschiedlicher ›Kulturen‹ angesehen werden kann, also als ein Teilnehmer unterschiedlicher kultureller Gebilde, die sich in sozialer Praxis einzelner Akteure überlagern können. Dies macht die Existenz ›interpretativer Unterbestimmtheiten‹ erklärbar (Reckwitz 2000), denn einzelne kulturelle ›Skripte‹ mögen zwar handlungsleitend sein, doch wenn es unterschiedliche kulturelle Schemata gibt, die sich überlagern und sich teilweise widersprechen, ist keine bloße Reproduktion bzw. Anwendung dieser Schemata garantiert. Sewell argumentiert, dass beispielsweise die kulturellen Kategorien der hawaiianischen Familien nicht auf die hawaiianischen Tabubeziehungen reduziert werden können; die Überlappung un-

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terschiedlicher kultureller Strukturen hat auch Folgen für die Subjektivitätsbildung (Sewell 2001: 59). Natürlich macht es keinen Sinn, die Idee allgemein geteilter kultureller Schemata gänzlich aufzugeben; durch Sahlins’ Überbetonung kultureller Homogenität geraten aber interpretative Konflikte aus dem Blickfeld der Analyse, die sich nicht wiederum aus bedeutungsvollen Unterschieden eines kulturellen Ganzen ableiten. Sewell macht darauf aufmerksam, dass es kulturelle Strukturen auf gänzlich unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen geben kann, die sich nicht aufeinander reduzieren lassen; »die einzelne Arbeitsgruppe, der Haushalt und selbst die dyadische Freundschaft entwickelt ihre eigene besondere kulturelle Struktur, die nicht auf die kulturelle Struktur reduzierbar ist, die auf den umfassenderen Ebenen der Sozialbeziehungen operiert« (Sewell 2001: 59). Übertragen auf das Phänomen der humiliation ist fraglich, ob eine nichtwestliche Kultur als Ganze entweder einen Prozess des develop-man oder einen der humiliation durchläuft. Sahlins’ Analyse scheint allerdings genau dies nahezulegen. Mit Blick auf melanesische Gesellschaften lehnt Robert Foster diese von Sahlins entworfene binäre Opposition ab (Foster 2005: 208-209).38 Eine offenere Interpretationsperspektive, die die Existenz unterschiedlicher Aneignungsformen westlicher Werte und Waren in nicht-westlichen Kulturen anerkennt, wird wohl eher die empirischen Komplexitäten kultureller Wandlungsprozesse in nicht-westlichen Gesellschaften einfangen als ein Konzept, das mit binären Oppositionen wie develop-man/humiliation operiert; dann können auch indigene Entwicklungsmodelle analysiert werden, die nicht in die von Sahlins entworfene Opposition passen (siehe Errington/Gewertz 2005: 165). In einigen von Sahlins’ neueren Arbeiten ist die Analyse kultureller Heterogenität und interpretativer Konflikte allerdings bereits angelegt. Sahlins’ Ansatz der translocal societies impliziert interpretative Konflikte von Individuen, die sich gewissermaßen im Schnittkreis unterschiedlicher und sich widersprechender kultureller Skripte befinden, auch wenn Sahlins selbst diesen offensichtlichen Aspekt seines Ansatzes nicht ausarbeitet. In seiner Analyse über interkulturelle Kontakte im Kontext der europäischen Expansion merkt Sahlins allerdings selbst an: »To conceive of a simple opposition between the West and the Rest is in many ways an oversimplification. Colonial history is not well served either by its representation as a Manichaean showdown between the indigenous people and the imperialist forces, to see which one will be able to culturally appropriate the other. A number of anthropologists […] have taught us to reconfigure the usual binary opposition as a triadic historical field, including a complicated intercultural zone where the cultural differences are worked through in political and economic practice« (CP: 486).

An dieser Stelle argumentiert Sahlins gegen die binären Kategorien, die an anderen Stellen seines Werks auftauchen. Kulturen erscheinen hier nicht mehr als 38 Für eine Kritik an Sahlins’ Dichotomie develop-man/humiliation hinsichtlich der Persönlichkeitsbildung siehe auch Josephides 2005.

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streng voneinander abgegrenzt, sondern durch komplexe Überlappungsprozesse miteinander verflochten; auch der Gegensatz the west/the rest fällt in sich zusammen, und die Optionen develop-man/development scheinen nicht mehr die einzig möglichen Entwicklungsmöglichkeiten im Rahmen der ›Indigenisierung der Moderne‹ zu sein (Biersack 2005: 136). Im Folgenden geht es mir schwerpunktmäßig um einen vierten diskussionswürdigen Aspekt von Sahlins’ Ansatz. Die Autoren der Aufsatzsammlung The Making of Global and Local Modernities in Melanesia setzen sich kritisch von Sahlins’ Dichotomie develop-man/development ab, doch zugleich versuchen sie, Sahlins’ Ansatz der ›Erniedrigung‹ für ihre Analysen kultureller Wandlungsprozesse in melanesischen Gesellschaften fruchtbar zu machen. Mir geht es hier allerdings nicht um die empirische Anwendbarkeit von Sahlins’ Konzept in konkreten Gesellschaften; zudem möchte ich offenlassen, ob die weltgeschichtliche Bedeutung von humiliation tatsächlich so gewaltig ist, wie Sahlins in seinen Arbeiten andeutet. An dieser Stelle verfolge ich das bescheidenere Ziel, Sahlins’ Konzept der humiliation in eine systematische Beziehung zu setzen mit seiner in Islands of History entwickelten Handlungstheorie. Sahlins hat diesen Zusammenhang nicht spezifiziert; wie es scheint, bringt der Prozess der ›Erniedrigung‹ einen radikalen Bruch mit den indigenen kulturellen Kategorien mit sich. Mehrere Autoren in dem von Robbins und Wardlow herausgegebenen Sammelband vertreten allerdings die These, dass der Prozess der humiliation nicht notwendigerweise einen radikalen kulturellen Bruch impliziert, sondern selbst ein Ausdruck indigener Traditionalität sein kann. »Humiliation […] must first arise in traditional terms, since these are the only terms that exist at that point in the lives of the people whose humiliation is at issue. It is only once humiliation arises in traditional terms that it can work to dislodge the very culture that first made it sensible« (Robbins 2005a: 15; siehe auch Silverman 2005: 86).

Wie lässt sich diese empirische Beobachtung mit Sahlins’ in Islands of History entworfenen Handlungstheorie verbinden? Im Folgenden versuche ich, das Konzept der ›Erniedrigung‹ mit Sahlins’ Handlungstheorie zu verknüpfen. Der Ausgangspunkt meiner Diskussion ist nicht Sahlins’ Handlungstheorie, sondern die kritischen Debatten über den Zusammenhang von Intentionalität und Habitus in Pierre Bourdieus Theorie der Praxis. Hinsichtlich des Konzepts der Intentionalität treten bei Bourdieu nämlich ähnliche Probleme auf wie bei Sahlins’ Konzept der humiliation. Im Anschluss versuche ich, die Ergebnisse meiner Analyse von Bourdieus Ansatz auf Sahlins’ Handlungstheorie zu übertragen. Der Zusammenhang zwischen Habitus und Intentionalität gehört zu den am meisten diskutierten Aspekten von Bourdieus Theorie der Praxis. Dabei ist dieser Zusammenhang weniger eindeutig, als es zunächst erscheint. Im Rahmen einer polemischen Auseinandersetzung mit der Theorie der Praxis argumentiert beispielsweise Jeffrey Alexander, dass es bei Bourdieu zwei unterschiedliche Hand-

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lungstheorien gibt, die im Widerspruch zueinander stehen. »There is a theoretical contradiction [...] between two different versions of Bourdieu’s practical action theory. One stresses the role of nonrational action and objectively constructed habitus, the other the role of rational motivation having an objective result« (Alexander 1995: 153). Strategien sind in der Theorie der Praxis, so Alexander, systematisch unabhängig von den Operationen des Habitus. Bourdieu steht in den Augen Alexanders vor dem Problem, dass seine Aussagen über die Strategisierung sozialer Praxis zunächst in einen Widerspruch zu seinem Konzept des Habitus geraten. Bourdieus Lösung dieses Problems ist für Alexander die Entwicklung des Konzepts der ›unbewussten Strategie‹. Nick Crossley hat allerdings zu Recht darauf hingewiesen, dass Alexanders Interpretation aus mehreren Gründen problematisch ist. Zunächst erscheint die Abkopplung von Improvisation und Habitus fraglich, denn Bourdieu betont ja gerade die Generierung von Strategien durch den Habitus. Darüber hinaus argumentiert Crossley, dass der Habitus in der Theorie der Praxis immer relativ zu bestimmten sozialen Feldern operiert, »and the habitus is absolutely necessary in this context qua ›feel‹ for those fields« (Crossley 2001: 89). Wie Crossley glaube auch ich, dass es eine intrinsische Verknüpfung zwischen Habitus und Intentionalität bei Bourdieu gibt. Beide Konzepte sind in Bourdieus Entwurf nicht unabhängig voneinander; vielmehr ist das Konzept der Strategie ein integraler Bestandteil der Habitustheorie. Strategien sind ein notwendiges Element sozialer Praxis und werden vom Habitus generiert. Wenn Strategien allerdings vom Habitus erzeugt werden, scheint die Theorie der Praxis keinen Raum zu lassen für selbstreflexives und kreatives Handeln.39 Diese Elemente scheinen in der Theorie der Praxis tatsächlich unterrepräsentiert zu sein. Zunächst rückt Bourdieu zwar die große Rolle in den Vordergrund, die Improvisationen und Strategien für die sozialen Akteure spielen, doch diese Strategien werden nach Bourdieu durch die weitgehend unbewussten habituellen Dispositionen generiert. Insofern diese Dispositionen die Inkorporierung übersubjektiver Strukturen sind, erscheint es zunächst rätselhaft, wie es überhaupt zu Innovationen kommen kann, die die Strukturen, aus denen der Habitus hervorgeht, verändern können (siehe Jenkins 2002). Dieser Vorwurf wird zunächst durch die Beobachtung relativiert, dass die individuelle Handlungsfähigkeit zwar durch übersubjektive Strukturen gewissermaßen ›hergestellt‹ wird, diese Strukturen aber nur durch soziale Praxis produziert werden. Das Verhältnis zwischen Strukturen und Praxis erscheint nicht als eines der Determination individueller Praxis durch übersubjektive Strukturen, sondern als ein gegenseitiges Bedingungsverhältnis (Ostrow 2000: 318). Bourdieu geht zwar von einer relativen Geschlossenheit der Dispositionssysteme aus, doch zugleich hält er den Habitus nicht für vollkomen statisch und stabil. Wie Bourdieu argumentiert, ist der Habi39 Siehe Alexander 1995; Bohman 1999; Jenkins 2002; King 2000; Noble/Watkins 2003.

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tus im Rahmen seiner Grenzen »durchaus erfinderisch, sind seine Reaktionen keineswegs immer schon im voraus bekannt« (Bourdieu 1992b: 33). Ein weiterer Grund dafür, dass Bourdieus Ansatz nicht im deterministischen Sinne interpretiert werden sollte, liegt daran, dass der Habitus in Bourdieus Augen immer in Relation zu spezifischen sozialen Feldern operiert, und im Rahmen unterschiedlicher Felder werden sich Akteure deshalb ganz unterschiedlich verhalten. Bourdieu analysiert zudem Situationen, die durch einen radikalen gesellschaftlichen Wandel und Veränderungen habitueller Dispositionen gekennzeichnet sind. Insbesondere in Situationen der ›Hysteresis‹ können sich die habituellen Dispositionen wandeln, dann nämlich, wenn sich die Akteure in neuen Situationen zurecht finden müssen, die sich von inkorporierten Dispositionen so sehr unterscheiden, »daß die Akteure […] sozusagen überholt werden und unzeitgemäß und unsinnig handeln« (Bourdieu/Wacquant 1996: 164). Es stimmt deshalb, wenn Egon Flaig argumentiert, der Habitus sei situationell kreativ (Flaig 2000: 379-380; siehe auch McNay 1999: 100). Allerdings gibt es in Bourdieus Ansatz eine Tendenz dazu, das Konzept der individuellen Handlungsfähigkeit zu minimieren. Wie Nick Crossley hervorhebt, erscheint es bei Bourdieu nämlich keine sozialen Akteure zu geben; vielmehr ist es der Habitus selbst, der handelt. Tatsächlich leistet Bourdieu einer solchen Interpretation, nach der es letztlich die habituellen Dispositionen selbst sind, die handeln, Vorschub, wenn er anmerkt, dass Strategien vom Habitus generiert werden (Crossley 2001: 94). Zwar argumentiert Bourdieu, »daß es neben der ausdrücklichen Norm oder dem rationalen Kalkül noch andere Erzeugungsprinzipien von Praktiken gibt« (Bourdieu 1992a: 99), doch der Habitus ist im Rahmen der Theorie der Praxis nicht, wie es in dieser Formulierung zu sein scheint, nur ein generierender Aspekt sozialer Praxis neben anderen; seine Operationen erscheinen vielmehr als der Normalfall sozialer Praxis. Dies ist vor dem Hintergrund von Bourdieus Kritik an Theorien rationaler Wahl und normativen Theorien auch nur konsequent. Bewusstes Handeln, Selbstreflexivität und Kreativität sind in den Augen Bourdieus kein generierendes Prinzip sozialen Handelns, sondern machen in erster Linie die Operationen des Habitus bewusst; diesen Vorgang nennt Bourdieu eine intentionale Verdopplung habitueller Strategien durch bewusstes Handeln (Bourdieu 1982: 382). Erst im Auseinanderfallen von Habitus und Feld, also in sozialen Krisensituationen, kommt auch für Bourdieu dem Voluntarismus eine wichtige Rolle für soziale Praxis zu. Reflexivität wird darüber hinaus in den Augen Bourdieus von der aufklärerischen Rolle der Sozialwissenschaft erreicht. Damit unterschätzt Bourdieu allerdings den Status von Selbstreflexivität und Kreativität im alltäglichen sozialen Handeln (Crossley 2001: 97). Diese Kritik wird auch von Greg Noble und Megan Watkins vorgebracht: »implicit in Bourdieu’s argument is an assumption that there is only critical reflexivity or unconscious action. He ignores the kinds of ordinary reflection that social actors engage in constantly« (Noble/Watkins 2003: 530-531).

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Nun ist es keineswegs notwendig, auf Bourdieus Einsicht zu verzichten, dass habituelle Dispositionen eine große Bedeutung für soziales Handeln haben; dies wird in der an Bourdieu geübten Kritik auch nicht behauptet. Fraglich ist allerdings, wie Bourdieus Konzept des Habitus mit der Einsicht verknüpft werden kann, dass Selbstreflexivität und Kreativität nicht nur im Ausnahmefall eine generierende Rolle für soziale Praxis spielen. Eine in meinen Augen weiterführende Überlegung ist die These, dass Selbstreflexivität und Kreativität selbst habitusbasiert sind.40 Auf der Grundlage seiner Analyse von Merleau-Pontys Phänomenologie argumentiert Nick Crossley, dass auch Selbstreflexivität ihre Grundlage in habituellen Dispositionen hat: »our very capacity for reflexivity is rooted in the habitus and thus, contrary to what Bourdieu sometimes suggests, reflective and reflexive projects do not presuppose a different principle of action to the habitus« (Crossley 2001: 113). Noble und Watkins entwerfen im Anschluss an Bourdieu ein Konzept, das unterschiedliche »levels of awareness«, also Bewusstseinsstufen sozialer Praktiken, unterscheidet. »Agentic reflection is that discursive practice in which we consider our behaviour and its principles, which involves the monitoring of conduct which can be brought to discourse« (Noble/Watkins 2003: 531). Im Unterschied dazu erscheint soziale Praxis auf der Ebene des ›praktischen Sinns‹ weitgehend unbewusst. Zwischen diesen beiden Bewusstseinsstufen situieren Noble und Watkins die Ebene der »bodily attention«. Diese unterschiedlichen Bewusstseinsstufen sind, so Noble und Watkins, keine vollkommen diskreten ›Modi‹ sozialer Praxis, »but rather a chain of intensities between which we move in achieving automaticity«, zudem können sie auch zur selben Zeit ›operieren‹ (Noble/Watkins 2003: 533). Ungeachtet der Unterschiede zwischen ihren jeweiligen Argumentationen weisen sowohl Crossley als auch Noble/Watkins darauf hin, dass Bourdieus These, soziale Praxis sei weitgehend habitusbasiert, mit der Überlegung verknüpft werden kann, dass auch Selbstreflexivität und Kreativität generierende Prinzipien sozialer Praxis sein können. Die Annahme, Selbstreflexivität sei ein generierendes Moment sozialer Praxis, bezieht sich also sinnvollerweise nicht nur auf die aufklärerische Rolle der Wissenschaft sowie auf Krisensituationen, in dem die Relation zwischen Habitus und Feld zusammenbricht. Ich möchte nun versuchen, diese These für Sahlins’ Theorie kulturellen Wandels fruchtbar zu machen. Dazu ist es zunächst notwendig, Sahlins’ Ansatz der Modernisierung um einen wichtigen Aspekt zu erweitern, der bereits in Sahlins’ Geschichtstheorie angelegt ist. Wie ich bereits herausgearbeitet habe, unterscheidet Sahlins in Islands of History die inkorporierten kulturellen Dispositionen des Habitus von mythopoetischen Objektivierungen; dabei konzeptualisiert Sahlins den Habitus, anders als Bourdieu, als Inkorporierung symbolischer Differenzen. In späteren Veröffentlichungen macht Sahlins von Bourdieus Konzept nicht mehr Gebrauch. Dabei erscheint Sahlins’ Konzept des Habitus für seine 40 Siehe dazu insbesondere Crossley 2001; Noble/Watkins 2003; Sweetman 2003.

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Analyse von Prozessen der humiliation aufschlussreich, insbesondere vor dem Hintergrund meiner Analyse von Bourdieus Theorie der Praxis. Erstens betont Sahlins in Islands of History, dass die habituellen Praktiken weitgehend unbewusst sind, ähnlich wie der Habitus im Rahmen von Bourdieus Theorie der Praxis. Im Anschluss an Noble und Watkins oder Crossley lässt sich Sahlins’ Konzept des Habitus durch den Aspekt der Selbstreflexivität und Kreativität erweitern. Ähnlich wie in der Reformulierung der Theorie der Praxis von Noble/Watkins ist es möglich, unterschiedliche Reflexionsstufen in Sahlins’ Ansatz zu unterscheiden. Auf einer ersten Stufe stehen, so mein Vorschlag, die weitgehend unbewussten alltäglichen sozialen Routinen des sozialen Sinns, also der Bourdieu’sche ›Sinn für das Spiel‹. Auf einer zweiten Reflexionsstufe steht die Inkorporierung neuer Ereignisse in die überkommenen kulturellen Kategorien. Beispiele dafür in Sahlins’ Werk sind die hawaiianische Vergöttlichung von James Cook oder die Inkorporierung westlicher Güter in indigene kulturelle Kontexte und die damit verknüpften Prozesse des develop-man. Diese Prozesse kultureller Aneignung ursprünglich kulturfremder Elemente implizieren keineswegs einen kulturellen Determinismus; vielmehr betont Sahlins, dass die Interpretation neuer Ereignisse auf der Grundlage traditionaler Kategorien ein kreativer Prozess der Aneignung ist, in dessen Rahmen sich kulturelle Kategorien wandeln können. Auf einer dritten Stufe der Selbstreflexivität werden kulturelle Kategorien durchbrochen und bewusst abgelehnt. In Sahlins’ Ansatz ist dieser Vorgang gekennzeichnet durch den Übergang von develop-man zu development, also die bewusste Entscheidung für westliche Prinzipien und Werte. Ein anderes Beispiel, das Sahlins ebenfalls diskutiert, sind kulturelle Revitalisierungsbewegungen; auch hier ist ein selbstreflexives Element enthalten, das zur Ablehnung überkommener Traditionen führt, denn die zwischenzeitliche Aneignung westlicher Werte im Rahmen von development kann schließlich wiederum zu deren bewusster Ablehnung führen. Diese Unterscheidung zwischen unterschiedlichen Bewusstseinsstufen habitueller Dispositionen ist bereits in Sahlins’ Werk angelegt; allerdings verknüpft Sahlins diese Überlegungen nicht mit seinem Modell des Habitus, sondern argumentiert, die habituellen Praktiken seien weitgehend unbewusst. Zweitens erscheint mir auch Sahlins’ Unterscheidung zwischen den inkorporierten Dispositionen des Habitus und mythopoetischen Objektivierungen für Sahlins’ Diskussion der humiliation weiterführend zu sein. Auch hier lohnt ein Blick auf Bourdieus Theorie der Praxis: Die prinzipielle Dynamik in diesem Ansatz, ungeachtet der Kritik, Bourdieu argumentiere deterministisch, basiert ja auf Bourdieus These einer fundamentalen Relationalität zwischen Habitus und Feld. Soziale Akteure verhalten sich in unterschiedlichen sozialen Feldern unterschiedlich, weil soziale Praxis immer das Ergebnis einer Relation zwischen Habitus und Feld ist, und niemals aus den Operationen des Habitus allein erklärt werden kann. Übertragen auf Sahlins’ Ansatz ist auch hier denkbar, dass soziale Praxis nicht entweder durch die habituellen Dispositionen des Habitus oder durch mythopoetische Objektivierungen entsteht, wie Sahlins in Islands of History andeu-

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tet, sondern vielmehr erst im Rahmen einer Relationalität zwischen Habitus und mythopoetischen Objektivierungen. Diese Objektivierungen können, auch im Anschluss an Clifford Geertz (1973), als ›öffentliche‹ Repräsentationen verstanden werden, in deren Rahmen Grundregeln symbolischer Prozesse ausgehandelt werden, also beispielsweise Normen, soziale Klassifikationen und Weltdeutungsmuster. Andreas Wimmer nennt das Ergebnis dieser Aushandlungsprozesse einen ›kulturellen Kompromiss‹ (siehe Wimmer 2005). Diese kulturellen Kompromisse werden nicht für die gesamte Gesellschaft allgemein geteilt sein; vielmehr ist mit Wimmer und Sewell davon auszugehen, dass es unterschiedliche kulturelle ›Logiken‹, oder, wie man vielleicht auch formulieren könnte, unterschiedliche ›kulturelle Felder‹ gibt, die sich gegenseitig durchdringen und überschneiden. Dies impliziert eine prinzipielle gesellschaftliche Dynamik, denn wenn soziale Praxis im Rahmen einer Relation zwischen Habitus und kulturellem Feld konstituiert wird, wird soziales Handeln nicht mehr in erster Linie, wie es noch in Islands of History erscheint, durch die jeweilige soziale Positionalität der Akteure bestimmt. Damit verliert letztlich auch der Prozess des Wandels von develop-man zu development zumindest ein wenig von seiner Rätselhaftigkeit. Wie ich bereits gezeigt habe, geht Sahlins im Rahmen seiner Analyse der europäischen Expansion nicht von einer strengen Gegenüberstellung westlicher und nicht-westlicher Kulturen aus, sondern postuliert die Existenz kulturell komplexer Überlappungszonen, in denen permanent neue Bedeutungen ausgehandelt werden. Bezogen auf die Relation zwischen Habitus und ›kulturellem Feld‹ bedeutet dies, dass die sozialen Akteure in nicht-westlichen Gesellschaften durch die fortlaufenden Kontakte mit westlichen Kulturen mit der Bildung neuer ›kultureller Felder‹ konfrontiert werden, die in neuen kulturellen Relationalitäten zu habituellen Dispositionen stehen. Diese neuen Relationalitäten können zu radikalen Wandlungen in den kulturellen Dispositionen führen; sie können auch, wie ich glaube, zu individuell empfundenen Krisensituationen führen, weil die habituellen Dispositionen aus den sich neu bildenden kulturellen Feldern, die aus dem Kontakt unterschiedlicher Kulturen hervorgehen, kulturell ›herauszufallen‹ scheinen. Dieser Prozess lässt sich bereits als ein kulturinterner Prozess analysieren, so bald davon ausgegangen wird, dass öffentliche Repräsentationen nicht homogen sind und es unterschiedliche und sich symbolisch widersprechende ›kulturelle Felder‹ gibt. Von besonderer Bedeutung erscheint ein solches Szenario aber in Prozessen gegenseitiger interkultureller Durchdringung, wie sie in der ›kolonialen Situation‹ üblich waren. Nun sollte ein dritter Aspekt in Sahlins’ Ansatz der ›humiliation‹ nicht übersehen werden, der sowohl Sahlins’ früheren Ansatz als auch Bourdieus Theorie der Praxis um ein entscheidendes Element bereichert. ›Erniedrigung‹ ist nämlich ein Konzept, das sich zunächst nur schwer vereinbaren zu lassen scheint mit der strukturalistischen Theorietradition, von der natürlich nicht nur Sahlins, sondern auch Bourdieu beeinflusst ist. »Despite his discussion of the place of love in the structuring of Hawaiian social life, Sahlins, and others working in the structura-

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list tradition, are not known for their extensive treatment of emotions or other aspects of the person that might be considered matters of individual ›psychology‹« (Robbins 2005a: 16). In Sahlins’ Diskussion erscheint humiliation tatsächlich seltsam abgetrennt von seinen anderen handlungstheoretischen Konzepten. Dabei eröffnet bereits, wie Robbins argumentiert, seine Diskussion der ›Liebe‹ in Hawaii eine Möglichkeit, Emotionen in Sahlins’ Handlungstheorie zu inkorporieren. Sahlins konzentriert sich nämlich nicht auf individuelle Gefühle, sondern eher auf die kulturellen Grundlagen dieser Gefühle. Emotionen erscheinen deshalb in Sahlins’ Ansatz als ein Ausdruck kultureller Dispositionen. Übertragen auf das Konzept der humiliation ließe sich argumentieren, dass dieses Gefühl, auch wenn es insbesondere im Übergang von develop-man zu development auftritt, keine vollständig neue Emotion ist, sondern aus den kulturellen Dispositionen hervorgeht; ›Erniedrigung‹ ist also zunächst kein radikaler Bruch mit indigener Traditionalität. Diese Beobachtung lässt sich mit Sahlins’ Konzept vereinbaren, wenn humiliation nicht als eine kulturfremde Emotion konzeptualisiert wird, die ausschließlich den Übergang von develop-man zu development charakterisiert, sondern Teil indigener kultureller Dispositionen ist. In den von Sahlins analysierten contact situations kann es dazu kommen, dass Elemente der ›eigenen‹ Kultur bewusst aufgegeben werden, doch dies bedeutet nicht, dass das zu Grunde liegende Gefühl der Erniedrigung nicht selbst Ausdruck indigener Traditionalität sein kann (Robbins 2005a: 12). Sahlins’ handlungstheoretisches Konzept ist reichhaltiger, als es in der Rezeption seines Werks zuweilen erscheint, insbesondere wenn sein Konzept der ›Erniedrigung‹ in die Analyse einbezogen wird. Ich habe versucht, diesen Ansatz handlungstheoretisch neu zu interpretieren und ihn in Sahlins’ Geschichtstheorie zu verankern. Allerdings wäre eine allein handlungstheoretische Perspektive auf Sahlins’ Geschichtstheorie und seines Ansatzes über die ›Indigenisierung der Moderne‹ verkürzt und würde weder der Komplexität von Sahlins’ Denken noch der ethnologischen Diskussionen über Sahlins’ Werk gerecht. In Kapitel V ändere ich deshalb meine Analyseperspektive und untersuche Sahlins’ Konzept der Repräsentation; im Mittelpunkt steht die weitreichende Kontroverse, die Sahlins mit Gananath Obeyesekere über den Tod von James Cook geführt hat. Darüber hinaus analysiere ich Sahlins’ Studien über kulturelle Revitalisierungsbewegungen, die das dritte Element seiner Theorie über die ›Indigenisierung der Moderne‹ konstituieren und in einer engen Beziehung zur Sahlins-Obeyesekere-Debatte stehen.

Kapitel V: Die Sahlins-Obeyesekere-Debatte

Im Folgenden analysiere ich die Kontroverse zwischen Sahlins und Gananath Obeyesekere über den Tod von James Cook auf Hawai’i 1779 anhand unterschiedlicher thematischer Schwerpunkte, die zwar miteinander verknüpft sind, aber dennoch idealtypisch voneinander unterschieden werden können. Erstens geht es um das ›korrekte‹ Verständnis der zu Grunde liegenden Quellen; der zweite Streitpunkt zwischen Sahlins und Obeyesekere ist der Zusammenhang zwischen Kultur und sozialer Praxis bzw. ›kreativen‹ und ›pragmatischen‹ Elementen sozialen Handels; drittens geht es um die Relativität unterschiedlicher Kulturen; der vierte Streitpunkt der Debatte ist die ›Politik der Repräsentation‹. Zunächst verfolge ich das Ziel, die konzeptionelle Reichweite und zugleich die Grenzen von Sahlins’ Ansatz einzuschätzen. Darüber hinaus geht es mir darum, auf gewisse reduktionistische Tendenzen in der Interpretation von Sahlins’ Ansatz im Rahmen der Sahlins-Obeyesekere-Debatte seitens der zahlreichen Kommentatoren aufmerksam zu machen. Allzu oft wird Sahlins’ Ansatz auf seine Analysen der Ereignisse, die zu James Cooks Tod geführt haben, reduziert; dies wird aber der Komplexität von Sahlins’ Denken nicht gerecht. Im Rahmen der Frage nach der ›korrekten‹ Interpretation der zur Verfügung stehenden Quellen wird beispielsweise Sahlins’ großes Werk Anahulu (Sahlins 1992a) über die Geschichte der hawaiianischen Gesellschaft im 19. Jahrhundert weitgehend übersehen (Abschnitt eins). In den Diskussionen über den Zusammenhang von Kultur und sozialer Praxis fällt auf, dass sich das Bild, das von Sahlins’ Handlungstheorie in seiner Debatte mit Obeyesekere entsteht, von seiner Handlungstheorie unterscheidet, wenn Sahlins’ Gesamtwerk in die Analyse mit einbezogen wird. Dies erscheint selbst bei Kommentatoren so, die nicht ausschließlich Sahlins’ Schriften zu James Cooks Tod berücksichtigen (siehe etwa Li 2001). Allzu oft wird Sahlins’ Handlungstheorie auf das von ihm analysierte first-contact-Szenario zwischen Hawaiianern und Europäern 1778/79 reduziert, ohne dass seine anderen Beiträge einbezogen würden, insbesondere seine Aussagen über develop-man und humiliation (siehe Kapitel IV). Diese Tendenz zu einer reduktionistischen

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Interpretation von Sahlins’ Ansatz ist zugegebenermaßen von Sahlins unterstützt worden, denn die Komplexität seines handlungstheoretischen Ansatzes geht in How ›Natives‹ Think zuweilen etwas verloren (Abschnitt zwei). Darüber hinaus wird oftmals nicht berücksichtigt, dass Sahlins’ Aussagen über die Relativität von Kultur mit seiner Analyse der christlich-jüdischen Grundlagen der westlichen Kultur verknüpft sind. Vor dem Hintergrund der wenig beachteten Arbeit ›The Sadness of Sweetness‹ (Sahlins 1996) wird Sahlins’ Interpretation der Relativität der hawaiianischen Kultur, insbesondere der Rolle des ›Göttlichen‹ auf Hawaii, verständlicher (Abschnitt drei). In meiner Analyse des Problems, der ›Politik der Repräsentation‹ beleuchte ich wiederum Sahlins’ Ansatz über die ›Indigenisierung der Moderne‹. Sahlins’ Thesen über kulturelle Revitalisierungsbewegungen sind insbesondere dann von großer Bedeutung für ein Verständnis der Sahlins-Obeyesekere-Debatte, wenn sie mit Aussagen hawaiianischer Forscher und Intellektueller zu Sahlins’ Werk konfrontiert werden (Abschnitt vier).

1. Interpretative Strategien der Quellenauswertung Die Sahlins-Obeyesekere-Debatte ist zunächst ein Streit über die Aussagekraft der zur Verfügung stehenden Quellen. Hier geht es um die Frage, wie man Aussagen machen kann über die hawaiianische Kultur des 18. Jahrhunderts, einer Zeit also, als die Hawaiianer noch keine Schrift kannten. Grundsätzlich beruhen die Forschungen von Sahlins sowie von Obeyesekere auf zwei unterschiedlichen Quellenbeständen: erstens auf den Logbüchern der Discovery und der Resolution sowie auf weiteren Berichten westlicher Beobachter gegen Ende des 18. sowie im 19. Jahrhundert; zweitens auf hawaiianische Quellen, die im 19. Jahrhundert entstanden sind.1 Eine von Obeyesekeres Hauptthesen ist die, dass Cooks Vergöttlichung in der europäischen Imagination des 18. Jahrhunderts entstand und auf so genannten myth models basierte, »pertaining to the redoubtable explorer cum civilizer who is a god to the ›natives‹« (AP: 3). Dieser ›europäische Gott‹ war, so Obeyesekere, ein Gott der Eroberung, des Imperialismus und der westlichen Zivilisation. Ausgangspunkt für Obeyesekeres Kritik ist Sahlins’ Interpretation der Ereignisse, die zu James Cooks Tod auf Hawai’i geführt haben. Nach eigener Aussage war Obeyesekere überrascht von Sahlins’ These, dass Cook von den Hawaiianern als ihr Gott Lono angesehen worden sei, insbesondere im Hinblick auf die Geschichte Sri Lankas und Südostasiens, wo ihm kein Fall der Vergöttlichung eines Europäers durch die Einheimischen bekannt war.

1

In der Sahlins-Obeyesekere-Debatte spielen archäologische Quellen eine zu vernachlässigende Rolle. Tatsächlich ist es bislang nicht häufig zu einer solchen Zusammenarbeit zwischen Archäologen und Ethnologen gekommen wie zwischen Marshall Sahlins und Patrick V. Kirch (siehe Sahlins 1992a). Zur Zusammenarbeit zwischen Archäologie und Ethnologie siehe auch Kirch/Green 2001: 5-6.

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»Could it be that the myth of Lono was a European construction, attributing to the native the belief that the European was a god? And was it influenced by the prior myths of Columbus and especially Cortés? [...] Is it possible that Cortés’s apotheosis itself was primarily a European invention based on prior ›myth models‹ in Europe’s [...] history? [...] Or was it at the very least created out of the interaction between conquistadors and Aztecs?« (AP: 8)2

Um diese These nachzuweisen, versucht Obeyesekere zunächst, einen weiteren Mythos zu zerstören: den von James Cook als zivilisierten Held der Aufklärung, der, so Obeyesekere, gleichfalls Ausdruck eines myth models ist. Für Obeyesekere gibt es zumindest zwei Bedeutungen dieses Begriffs: »First, an important or paradigmatic myth may serve as a model for other kinds of myth construction. Second and more importantly, a ›myth model‹ refers to an underlying set of ideas (a myth structure or cluster of mythemes) employed in a variety of narrative forms« (AP: 10). Diese myth models sind Strukturen der langen Dauer und werden mit der Zeit in unterschiedliche narrative Formen verwoben. Zudem bleiben sie nicht notwendigerweise versteckt oder unbewusst; sie existieren, anders als Lévi-Strauss’ ›Mytheme‹, auf der Inhaltsebene. Das weitverbreitete Bild des ›humanistischen‹ James Cook ist für Obeyesekere nichts anderes als ein solches myth model, das Obeyesekere für die ›westliche Kultur‹ zentral hält: »I suggest that one of the most enduring ideas in Western culture is that of the redoubtable person coming from Europe to a savage land, a harbinger of civilization who remains immune to savage ways, maintaining his integrity and identity« (AP: 11). Das gegensätzliche myth model nennt Obeyesekere in Anlehnung an Joseph Conrad das ›Kurtz-Syndrom‹, also die Idee, dass der westliche Zivilisierte seine Identität verliert und selbst zum ›Wilden‹ wird. Myth models sind, so Obeyesekere im Anschluss an Clifford Geertz’ Analyse über ›Religion as a Cultural System‹ (Geertz 1973: 87-125), ›Modelle von‹ und ›Modelle für‹ Wirklichkeit, also zugleich wirklichkeitsstrukturierend und handlungsleitend. Mithilfe dieses Kon2

In der ersten Auflage seines Buches berichtet Obeyesekere, dass er von Sahlins’ These erstmals erfuhr, als sie Sahlins 1987 in Princeton vorstellte (Obeyesekere 1992: 8). Zu dieser Zeit war Islands of History allerdings bereits seit zwei Jahren erschienen, und tatsächlich stellte Sahlins die These einer hawaiianischen Verknüpfung von Cook und Lono erstmals 1977 auf (Sahlins 1977). In How ›Natives‹ Think erklärt Sahlins, er habe die Gauss-Lectures, auf die sich Obeyesekere bezieht, nicht 1987, sondern 1983 gehalten; zudem betont Sahlins, dass es in seinem PrincetonVortrag aus dem Jahr 1983 nicht um James Cooks Tod auf Hawai’i ging, sondern um den Krieg zwischen den Fidschi-Königreichen Bau und Rewa (NT: 3). In der zweiten Auflage von The Apotheosis of Captain Cook ist die Jahreszahl korrigiert, doch nicht der (Sahlins zufolge) falsche Verweis auf die Gauss-Lecture (AP: 8). Eng mit diesem Fehler ist ein anderer verknüpft, denn Obeyesekere stellt die These auf, dass Tzvetan Todorovs Die Eroberung Amerikas »the immediate intellectual precursor of Sahlins’s own work« sei (AP: 16). Todorovs Werk erschien allerdings erst 1982, kann also Sahlins’ These über die Vergöttlichung James Cooks auf Hawai’i nicht vorausgegangen sein (Todorov 1985).

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zepts versucht Obeyesekere, die Persönlichkeitsstruktur James Cooks zu analysieren. Er stellt die These auf, dass spätestens auf seiner dritten Reise James Cook eher Anzeichen eines Kurtz erhält, dass er sich also selbst in einen ›Wilden‹ verwandelt, dessen Eigenschaften die Aufklärung überwunden zu haben glaubt. Diese Eigenschaften Cooks kommen in der Überlieferung und in der historischen Forschung nicht zur Genüge zum Tragen; statt dessen werden sie vom humanistischen myth model überlagert, das in Cook einen hervorstechenden Vertreter der Aufklärung sieht. Auf seiner dritten Reise zeigt Cook allerdings, wie Obeyesekere argumentiert, eine zunehmende Neigung zu Gewalt sowie zu irrationalem, erratischem Verhalten (AP: 23-48). Die Herausarbeitung dieser zugeschriebenen Charaktereigenschaften Cooks ist für Obeyesekere die Voraussetzung für seine Kritik an Sahlins’ These, Cook sei von den Hawaiianern als ein Gott angesehen worden. Denn für Obeyesekere ist Cook keineswegs unschuldig an seinem Tod; vielmehr ruft er ihn durch sein gewalttätiges Verhalten gegenüber den Hawaiianern letztlich selbst hervor. Allerdings projizierten die Seeleute ihre eigenen idealisierten Einstellungen gegenüber Cook auf die Hawaiianer: »Underlying it is a form of life on ship: Cook is the loving yet stern father, aloof and idealized by the ship’s crew as their guide and genius« (AP: 122). Deshalb mussten die Expeditionsmitglieder die Handlungsweisen der Hawaiianer, so Obeyesekere, zwangsläufig missverstehen. Doch trotz der Verehrung, die die Besatzungsmitglieder Cook entgegenbrachten, gibt es laut Obeyesekere nur zwei westliche Quellen für die Vergöttlichung von James Cook: die von Lieutenant John Rickman (1781) und die des Seemanns Heinrich Zimmermann (1781). Obeyesekere hält es für gesichert, dass sowohl Rickmans als auch Zimmermanns Aussagen, dass Cook von den Hawaiianern als einer ihrer Götter angesehen wurde, von den europäischen »popular shipboard traditions« entscheidend beeinflusst wurden (AP: 123; siehe auch AP: 205-209). Nicht nur die Bewunderung für Cook spielte in den Augen Obeyesekeres eine große Rolle, sondern vor allem der Glaube ›normaler‹ Seeleute, dass die Europäer für die Eingeborenen Götter waren. Die Offiziere, so Obeyesekere, kannten diese kulturelle Tradition Europas allerdings und standen ihr misstrauisch gegenüber; deshalb nahmen sie – mit der Ausnahme von Rickman – auch nicht an, dass die Hawaiianer Cook für ihren Gott Lono hielten, obwohl ihre eigene Bewunderung für ihren Kapitän teilweise einer religiösen Verehrung nahekam. Der populäre Glaube an die Vergöttlichung der weißen Entdecker hing, so Obeyesekere, eng mit dem Hass der englischen Seeleute auf die Spanier zusammen. Zunächst stellt Obeyesekere die These auf, dass das myth model über die Vergöttlichung der weißen Entdecker zumindest auf die ›Eroberung Amerikas‹ (Todorov 1985) durch Cortés zurückgeht. Cortés hielt Einzug in die europäische Imagination als der Eroberer, der von den Azteken als ihr Gott Quetzalcoatl angesehen wurde; die Anfänge der europäischen Expansion sind für Obeyesekere unlösbar verknüpft mit dem europäischen Mythos, wonach der weiße Entdecker und Eroberer für die Eingeborenen ein Gott ist. Dieser Glaube hat sich in Obeye-

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sekeres Augen in der europäischen Imagination festgesetzt, unabhängig davon, ob Cortés für die Azteken tatsächlich ihr Gott Quetzalcoatl gewesen war (AP: 123-124). Obeyesekere vermutet, dass der Hass der englischen Seeleute auf die Spanier einen Einfluss auf ihren Glauben hatte, dass Cook für die Hawaiianer deren Gott Lono war (AP: 130). Die veröffentlichten Berichte von Zimmermann und Rickman über die dritte Reise Cooks und seine angebliche Vergöttlichung seitens der Hawaiianer entfalteten in den Augen Obeyesekeres eine nachhaltige Wirkung in Europa. Obeyesekere glaubt, dass Diskussionen in England über Cooks Tod und die Texte Zimmermanns und Rickmans die Edition des dritten Logbuchbandes der CookExpedition beeinflussten; auch andere zu diesem Zeitpunkt zugängliche Texte sollen die Edition der offiziellen Logbücher beeinflusst haben. Hinsichtlich der Frage, ob James Cook von den Hawaiianern als ein Gott angesehen wurde, unterscheiden sich das offizielle und das inoffizielle Logbuch für Obeyesekere substantiell.3 Im offiziellen Logbuch schreibt King: »This ceremony was frequently repeated during our stay in Owhyhee, and appeared to us, from many circumstances, to be a sort of religious adoration« (Cook/King 1784, 3: 5). Im inoffiziellen Logbuch fehlen laut Obeyesekere solche Hinweise auf Cooks übernatürlichen Status seitens der Hawaiianer. Obeyesekere erklärt sich diese Unterschiede dadurch, dass sich King und Herausgeber Douglas in England von den Texten Zimmermanns und Rickmans beeinflussen ließen. Die im offiziellen Logbuch enthaltenen Anmerkungen über den göttlichen Status Cooks sind Obeyesekere zufolge nachträgliche Einfügungen. Da Obeyesekere die Aussagen von Rickman und Zimmermann gleichermaßen verwirft und auf einen langanhaltenden Mythos über die Vergöttlichung der weißen Entdecker durch die Eingeborenen zurück-

3

Ein weiterer Streitpunkt zwischen Sahlins und Obeyesekere, der sich aus der Frage nach dem Status des 1784 veröffentlichten Tagebuchs ableitet, betrifft das Verhalten hawaiianischer Frauen auf den Schiffen der Engländer, während diese drei Tage nach Cooks Tod die Niederlassung der hawaiianischen Priester in Brand setzten. Die hawaiianischen Frauen an Bord der englischen Schiffe hielten dies, wie Sahlins anmerkt, »für ein großartiges Spektakel« (TC: 83). Sahlins beruft sich hier auf das offizielle Logbuch von King, in dem zu lesen ist, dass die hawaiianischen Frauen keineswegs verängstigt waren. Samwell hörte, wie Sahlins anmerkt, »das gleiche« an Bord der Discovery (TC: 83). Die von Sahlins angeführte Tatsache, dass Samwell den Bericht Kings stützte, führt Obeyesekere darauf zurück, dass das Tagebuch Kings nachträglich aufgrund des Berichts von Samwell geändert wurde. In Obeyesekeres Augen ist also Samwell der Urheber beider Berichte über das Verhalten der hawaiianischen Frauen auf den englischen Schiffen. Weder in Kings inoffiziellem Logbuch noch in anderen Tagebüchern, so Obeyesekere, findet sich eine Eintragung über dieses Verhalten der hawaiianischen Frauen. »Consequently, it is likely that King used Samwell’s material, here as elsewhere in the official journal« (AP: 68). Obeyesekere argumentiert zudem, dass die zwei oder drei Mädchen in Samwells Bericht zu den Frauen in Kings Bericht wurden, »who forgets to inform the reader that the sum of women on this occasion is three« (AP: 68).

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führt, sind für Obeyesekere auch die Aussagen über den göttlichen Status Cooks im offiziellen Logbuch Kings Teil dieses Mythos (AP: 124-125). Sahlins bestreitet allerdings, dass King bei der Ausarbeitung für die Veröffentlichung von den Berichten Zimmermanns und Rickmans beeinflusst wurde (NT: 199). Darüber hinaus wirft Sahlins Obeyesekere vor, die Unterschiede zwischen dem unveröffentlichten und dem veröffentlichten Reisebericht Kings überzubetonen. Während Obeyesekere schreibt, dass sich in Kings unveröffentlichtem Bericht keine Anmerkungen über die Vergöttlichung Cooks finden (AP: 125), argumentiert Sahlins zu Recht, dass King sehr wohl von ›Anbetung‹ [adoration] der Hawaiianer gegenüber Cook schreibt (King, I: 509; NT: 201).4 Sahlins verwirft den offiziellen, veröffentlichten Reisebericht von King keineswegs; er lehnt aber Obeyesekeres These ab, dass die Berichte über die Vergöttlichung James Cooks auf ein europäisches myth model zurückzuführen sind. Für Sahlins ist Obeyesekeres Argumentation bloße Spekulation, die nur dem Nachweis die4

Eng mit dieser Frage verknüpft ist die Frage nach den Sprachkompetenzen der Besucher. Sahlins analysiert eine Eintragung in Rickmans veröffentlichtem Tagebuch, in dem es um eine ›Diskussion‹ zwischen Rickman und einen Häuptling von Kaua’i geht. Der Häuptling soll davon überzeugt gewesen sein, dass die Briten, Wesen von Kahiki, zwischen ihrem ersten und zweiten Besuch Hawaiis zur Sonne gereist seien (TC: 30). Obeyesekere argumentiert, dass Rickman sein eigenes Logbuch nicht zur Verfügung stand, als er seinen Reisebericht zur Veröffentlichung vorbereitete, da alle Logbücher der Admiralität ausgehändigt werden mussten. Die von Sahlins angeführte Diskussion zwischen Rickman und dem Häuptling von Kaua’i findet sich, wie Obeyesekere betont, in Rickmans unveröffentlichtem Logbuch nicht. Darüber hinaus variieren zwischen den beiden Versionen auch die Ortsangaben. Die Diskussion zwischen Rickman und dem Häuptling soll sich laut dem veröffentlichten Bericht Rickmans am 1. März 1779 zugetragen haben. Laut dem unveröffentlichten Logbuch trafen die Engländer am 1. März auf die Insel Kaua’i; im veröffentlichten Bericht schreibt Rickman allerdings, dass die Engländer am 1. März auf die Insel Ni’ihau trafen. Dies ist Obeyesekere zufolge falsch. Er bezweifelt, dass man den Angaben in Rickmans veröffentlichtem Bericht folgen kann, wenn bereits grundlegende Ortsangaben fehlerhaft waren. Mehr noch: Laut Obeyesekere war eine Diskussion zwischen Rickman und einem Häuptling überhaupt nicht möglich, da es bedeutende Sprachbarrieren zwischen den Europäern und den Hawaiianern gab. Dies ist für Obeyesekere Grund genug anzunehmen, dass die Eintragungen in Rickmans veröffentlichtem Bericht, in denen es um seine Diskussion mit einem Häuptling geht, nachträglich hinzugefügt wurden (AP: 71-72; Obeyesekere 2001: 291-292). Sahlins hält dem entgegen, dass Obeyesekere zuerst die Sprachkompetenzen der westlichen Beobachter bezweifelt, sie aber an anderer Stelle voraussetzt, wenn ein eigenes Argument gestützt werden soll. Obeyesekere setzt beispielsweise voraus, so Sahlins, dass Rickman korrekterweise erfuhr, dass Kalani’ǀpu’u sich auf Maui in Friedensverhandlungen befunden hatte (NT: 174; NT: 275). Darüber hinaus argumentiert Sahlins, dass aus den Quellen nicht abgeleitet werden kann, dass die Hawaiianer James Cook nicht für ihren Gott Lono hielten, wenn die Europäer tatsächlich keine hawaiianischen Sprachkenntnisse besaßen. Allerdings ist für Sahlins ohnehin klar, dass die Europäer Grundkenntnisse der hawaiianischen Sprache hatten, die es ihnen ermöglichten, korrekte Beobachtungen über die hawaiianische Kultur zu machen und sich mit den Hawaiianern zu verständigen (NT: 276).

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nen soll, dass Cook von den Hawaiianer nicht als einer ihrer Götter angesehen wurde. Sahlins argumentiert, dass Obeyesekere zu dieser Annahme kommen musste, weil seine These über das europäische myth model über die Vergöttlichung der weißen Entdecker im Widerspruch steht zu der Beobachtung, dass nur wenige westliche Berichte über den Status Cooks seitens der Hawaiianer dieses myth model zu bestätigen scheinen: »In sum, if one assumes the hypothesis that the deification of Cook was a European myth, then makes the ad hoc assumption that any report of Cook’s divinity in Hawaii must be due to the influence of that myth, and for good measure throws in the assumption that if people did not say Cook was a god they must have evidence he was not a god, it can be reasonably concluded that the deification of Cook was a European myth« (NT: 199-200).

Das gleiche Argument über die Existenz eines europäischen Mythos verwendet Obeyesekere auch, um die europäischen Quellen zu dekonstruieren, die nach Cooks Tod auf Hawai’i entstanden sind. Nachdem James Cook 1779 gestorben war, gab es einige Jahre lang keine westlichen Besucher auf Hawai’i – bis zum Jahre 1786. Danach wurden die Besuche immer häufiger, zunächst stimuliert durch den Pelzhandel, später durch den Sandelholzhandel, insbesondere zwischen 1810 und 1826, und der Waljagd. Edward Bell beobachtete während seines Besuchs von Kealakekua im März 1793, dass Cook von den Hawaiianern als ihr Gott Lono angesehen wurde: »at that time they look’d up to him as to a supernatural being, indeed called him the ›Orono‹ or great God« (zit. nach NT: 87). Obeyesekere merkt zu dieser Quelle an, dass Bell beinflusst worden war durch die Veröffentlichung des Logbuchs von King (AP: 151). Bell, so Obeyesekere, vergleicht Cook mit einem übernatürlichen Wesen, ein Fehler, der den ›früheren‹ Autoren der Logbücher nicht unterlief. Den Grund dafür sieht Obeyesekere im zunehmenden Bekanntheitsgrad des hawaiianischen Lonokultes in der europäischen Imagination. Sahlins hält diese Argumentation aber für einen Taschenspielertrick, der dazu führt, dass Obeyesekere die hawaiianischen ›Stimmen‹ in Bells Bericht unterdrückt. Eine weitere Quelle, über die Uneinigkeit zwischen Sahlins und Obeyesekere besteht, sind die Berichte von Joshua Lee Dimsdell, der von 1792 bis 1801 auf Hawai’i lebte (AP: 145). Dimsdell merkt an, dass der Begriff »Oroner«, also Lono, ein Hinweis darauf sei, dass Cook für die Hawaiianer ihr »third god« sei (zit. nach AP: 145). Obeyesekere argumentiert aber, dass aus Dimsdells Bericht nicht abgeleitet werden kann, dass die Hawaiianer Cook tatsächlich als ihren Gott Lono ansahen. Zunächst betont Obeyesekere, dass Lono nicht ›dritter Gott‹ bedeutet. Darüber hinaus überträgt Dimsdell, so Obeyesekere, die christliche Trinitätslehre unbewusst auf die hawaiianische Kultur, insbesondere die Vergöttlichung Cooks. Sahlins sieht dies anders: Für ihn ist Dimsdells Bericht ein Hinweis darauf, dass die Hawaiianer James Cook tatsächlich für die Inkarnation ihres Gottes Lono hielten (NT: 95-96).

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Im 19. Jahrhundert suchte der russische Entdecker Otto von Kotzebue Hawaii mehrmals auf. Zunächst besuchte er Hawaii im November 1816 und im September 1817 (AP: 142). Kotzebue merkte an, dass die Hawaiianer James Cook für einen Gott hielten. Allerdings zweifelt Obeyesekere an, dass Kotzebue diese Erkenntnis tatsächlich von den Hawaiianern hatte: Kotzebue kannte, so Obeyesekere, die russischen Übersetzungen von den Reiseberichten aller Fahrten von James Cook und bezieht sich in seinen eigenen Berichten immer wieder auf sie. »Now it is possible that Kotzebue got his information from Hawaiian sources, as Sahlins thinks. I think he could as easily have been influenced by European sources, for we have already shown that these ideas were developed in Europe even before the first European ships, since Cook’s death, reached Hawai’i. Thus, Kotzebue’s statement can be read as an efflorescence of the European dialogue that developed after the death of the great navigator and the publication of the official journals« (AP: 142).

Kotzebue führt in Obeyesekeres Augen also nur eine europäische mythologische Tradition fort. Erstaunlich ist an Obeyesekeres Argumentation allerdings, dass Kotzebue in seinem Reisebericht, wie auch Obeyesekere anmerkt, betont, dass weder Cook noch seine Offiziere die Vergöttlichung Cooks durch die Hawaiianer zu bemerken schienen. Warum sollte Kotzebue aber dann von den veröffentlichten Reiseberichten zu der Meinung getrieben worden sein, Cook habe für die Hawaiianer einen göttlichen Status besessen? Oder gab es andere Quellen, die Kotzebue zu dieser Meinung veranlassten? Obeyesekere beantwortet diese offene Frage nicht. Zudem weist Sahlins darauf hin, dass Kotzebue überhaupt nicht der Urheber des entsprechenden Reiseberichts war; vielmehr zeichnete, so Sahlins, Adelbert von Chamisso für diese Abschnitte verantwortlich. Dies ist keine periphere Anmerkung, denn Obeyesekere argumentiert, dass Chamisso an anderer Stelle schreibt, dass die Hawaiianer James Cook nicht für einen Gott hielten, sondern ihn wie einen Gott behandelten. Dies ist, so Obeyesekere, eine Korrektur des europäischen Mythos der Vergöttlichung Cooks und eine Kritik Adelbert von Chamissos an Kotzebue. Sahlins argumentiert jedoch, dass Chamisso tatsächlich für beide Textstellen verantwortlich war, dass beide nur unterschiedliche Übersetzungen des deutschen Originals sind (NT: 99). In einer Hinsicht scheint Sahlins’ Argumentation jedoch Obeyesekere zu stützen: Das deutsche Original von Chamissos Anmerkung ist »wie einen Gott« (NT: 99). Dies scheint darauf hinzudeuten, dass Chamisso davon ausging, die Hawaiianer hätten Cook nicht für einen Gott gehalten, sondern ihn ›nur‹ wie einen Gott behandelt. Dieser semantische Unterschied ist aber kein eindeutiger Hinweis darauf, dass Chamisso selbst einen klaren Unterschied sah zwischen beiden Bedeutungen. Sahlins, der das deutsche Original zitiert (NT: 99), nimmt an, dass Chamissos Bericht auf die Vergöttlichung Cooks seitens der Hawaiianer hinweist; Obeyesekere interpretiert die Quelle, dass die Hawaiianer James Cook wie einen Gott behandelten, wört-

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lich und legt sie als Kritik am europäischen Mythos über die Vergöttlichung weißer Entdecker aus. Sahlins nennt in ›Captain Cook at Hawaii‹ und How ›Natives‹ Think über 30 veröffentlichte und unveröffentlichte Quellen westlicher Reisender, die Hawaii nach James Cooks Tod aufsuchten (Sahlins 1989: 375-376). Er schließt hier an Valerio Valeris Auflistung dieser Quellen an (Valeri 1985: xix-xxii). Obeyesekere argumentiert jedoch, dass diese Quellen ›dekonstruiert‹ werden müssen, bevor sie als Grundlage empirischer Analyse ›rekonstruiert‹ werden können (AP: 144). Im Fall der Vergöttlichung Cooks bedeutet dies, dass alle Angaben in diesen Quellen, die auf eine Vergöttlichung Cooks durch die Hawaiianer hinweisen, für Obeyesekere Ergebnis oder Teil eines europäischen Mythos sind, nachdem die weißen Entdecker von den Entdeckten als Götter angesehen werden. Während seines Besuchs von Hawaii im Dezember 1824 merkte Kotzebue an, dass die Hawaiianer James Cook für einen Gott hielten. Obeyesekere argumentiert, dass die hawaiianischen Informanten zu diesem Zeitpunkt bereits stark von Missionaren beinflusst worden waren. Darüber hinaus sprach Kotzebue auch mit Missionaren, und es ist möglich, so Obeyesekere, dass die Ansicht der Missionare implizit Eingang in Kotzebues Reiseberichte gefunden hat, »reinforced by his [Kotzebue’s] own prior European presuppositions regarding Cook’s apotheosis« (AP: 144). Doch in Obeyesekers Augen beeinflussten die Missionare nicht nur die europäischen Besucher; vielmehr sorgten sie nach Obeyesekere dafür, dass sich die hawaiianischen Ansichten hinsichtlich ihrer Kultur im Allgemeinen und James Cook im Besonderen fundamental änderten. Zu der Zeit, als die hawaiianischen Quellen entstanden, gab es das hawaiianische Tabusystem bereits nicht mehr. 1819 wurde das Tabusystem abgeschafft, 1820 erreichten die ersten amerikanischen Missionare, in erster Linie Calvinisten, Hawai’i; 1831 wurde das Missionsseminar Lahainaluna gegründet. Ein Ziel des Seminars war die Erforschung hawaiianischer Geschichte, und auf die Veröffentlichungen, die im Umkreis dieses Seminars und später entstanden sind, nimmt Sahlins extensiv Bezug.5 Bereits zuvor waren, wie Obeyesekere argumentiert, die Grundlagen für eine Ausbreitung des europäischen Glaubens gelegt, dass James Cook von den Hawaiianern als ihr Gott Lono angesehen worden war. In den Jahren nach Cooks Tod besuchten immer mehr europäische und amerikanische Schiffe Hawai’i. Dies trug, so Obeyesekere, letztlich zum Zusammenbruch des hawaiianischen Tabusystems bei, denn beispielsweise verletzten die hawaiianischen Frauen wiederholt das Tabu, wonach sie nicht mit Männern speisen durften. In Obeyesekeres Augen fiel in einer von Verlust und Orientierungslosigkeit geprägten Stimmung der europäische Glaube an eine Vergöttlichung von James Cook auf fruchtbaren Boden (AP: 156-157; 203). Der früheste missionarische Bericht über die Vergöttlichung Cooks stammt wohl von William Ellis (Ellis 1833), einem englischen Missionar, der 1816 auf 5

Kahananui 1984; Kamakau 1961; Malo 1951.

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Tahiti eintraf und 1822 nach Hawai’i fuhr. Dort durchquerte er Hawai’i für zwei Monate mit einigen anderen Missionaren (AP: 157). Obeyesekere glaubt, dass Ellis von der europäischen Imagination über die Vergöttlichung von James Cook beeinflusst wurde. Ellis, so Obeyesekere, schien eine Meinung über die Vergöttlichung Cooks zu akzeptieren, die sich auch in John Cowpers Werk widerspiegelte. »It seems very likely, therefore, that any informant statements regarding the complicated events that led to Cook’s installation and deification would simply be fitted into the preconceived English view of his apotheosis« (AP: 157). Unter anderem heisst es bei Ellis: »As soon as Captain Cook arrived, it was supposed and reported that the god Rono was returned; the priests clothed him with the sacred cloth worn only by the god, conducted him to their temples, sacrificed animals to propitiate his favor, and hence the people prostrated themselves before him as he walked through the villages. But when, in the attack made upon him, they saw his blood running, and heard his groans, they said, ›No, this is not Rono‹« (Ellis 1833: 104).

Obeyesekere stellt die These auf, dass auch der letzte Satz dieses Zitats eine europäische Quelle hat. Die Vorstellung, Cooks Tod habe die Hawaiianer dazu gebracht, ihren Glauben aufzugeben, wonach Cook unsterblich sei, kommt Obeyesekere zufolge von den europäischen Glaubensvorstellungen über Geist und Körper. Darüber hinaus sei es möglich, dass auch die Hawaiianer später diese europäischen Vorstellungen in ihre eigene Kosmologie integrierten, was sich wiederum in Ellis’ Quelle niederschlug (AP: 158). An anderer Stelle schreibt Obeyesekere allerdings: »What is striking about Sahlins’s insistence is that the very ›native‹ sources he approves unanimously state that at least when Cook died, they knew he was a human and mortal. Thus, contrary to Sahlins, it is virtually certain that any elevation of Cook’s ritual status must have occurred as a postmortem deification« (AP: 147).

Es ist erstaunlich, dass Obeyesekere die Tatsache, dass sich in Ellis’ Bericht die Anmerkung findet, die Hawaiianer hielten Cook im Augenblick seines Todes für menschlich, einerseits für eine westliche Konstruktion hält, andererseits aber scheinbar als plausible Annahme akzeptiert, um seine These zu stützen, dass die Hawaiianer James Cook erst nach seinem Tod vergöttlichten, ihn vor seinem Tod aber ›nur‹ als Häuptling ansahen. Diese beiden widersprüchlichen Erklärungen Obeyesekeres stellt auch Sahlins einander gegenüber (NT: 110-111). Sahlins selbst erklärt sich die Anmerkung bei Ellis dadurch, dass sie eine Erfindung des 19. Jahrhunderts war, die auf die westliche Unterscheidung zwischen Mensch und Gott zurückgeht. Wenn die Hawaiianer einen solchen Satz aber tatsächlich

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geäußert haben sollten, so Sahlins, gingen sie zumindest zuvor (und laut Sahlins auch danach) davon aus, dass Cook Lono war (NT: 110).6 Auch Mooolelo Hawaii, das von Forschern des Lahainalunaseminars zusammengestellt wurde und erstmals 1838 erschien, ist Obeyesekere zufolge europäisch geprägt (Kahananui 1984). Forscher des Seminars sammelten Informationen über die hawaiianische Kultur von älteren Einwohnern Hawai’is, unter ihnen David Malo, der auch eine eigene Arbeit über die hawaiianische Kultur verfasste (Malo 1951). Die Idee für ein solches Projekt stammte scheinbar vom Geistlichen Sheldon Dibble, der die gesammelten Informationen zusammenstellte und teilweise in seinem Sinne ›korrigierte‹ (siehe AP: 159). In Mooolelo Hawaii wird, so Obeyesekere, ein Mythos entworfen, in dem Cooks Vergöttlichung als Symbol für einen falschen Glauben im Mittelpunkt steht, der von den Missionaren überwunden werden soll (AP: 163). Mooolelo Hawaii erwies sich als sehr einflussreich, und auch Samuel M. Kamakau war von den dortigen Schilderungen über die Vergöttlichung James Cooks beeinflusst (Kamakau 1961). Dorothy Barrère merkt zu Kamakau an: »Kamakau was an ardent, vehement, and highly vocal Christian convert [...] [this led him] to show a comparable background of belief between the Hawaiian and Christian concepts of God and man« (Barrère 1964: viii). Kamakau interpretierte die von ihm beschriebene hawaiianische Vergangenheit manchmal, wie Obeyesekere argumentiert, in einem christlichen Rahmen. Kamakau übersetzte, so Obeyesekere, die hawaiianische Kosmologie in eine Art von Pantheismus mit einem high god an der Spitze (AP: 164). Über den Tod von James Cook merkt Kamakau an: »Now it is doubtful whether Captain Cook consented to have worship paid him by the priests. He may have thought they were worshipping as in his own land. But he was a Christian and he did wrong to consent to enter an idolatrous place of worship. He did wrong to accept gifts offered before idols and to eat food dedicated to them. Therefore God smote him« (Kamakau 1961: 100).

Obeyesekere interpretiert dies als ›indigene‹ Erzählung, die allerdings von christlichen Ideen beeinflusst wurde. Damit schließt sich Kamakau, so Obeyesekere, in seiner Interpretation des Status von Cook für die Hawaiianer den Ansichten von Ellis und Dibble an (AP: 164). Die von Kamakau und anderen gesammelten Erzählungen über das Hawaii des 18. Jahrhunderts liefern für Obeyesekere nicht in erster Linie Informationen über das vorkoloniale Hawaii, sondern darüber, was Hawaiianer, die im 19. Jahrhundert lebten, über dieses vorkoloniale Hawaii dachten – und natürlich über den nachhaltigen missionarischen Einfluss (AP: 168). Obeyesekere versucht nun, Fragmente eines indigenen hawaiianischen Diskurses aus den von Kamakau gesammelten Quellen herauszuarbeiten, um zu zeigen, 6

Ellis zufolge gingen ›einige‹ nach Cooks Tod immer noch davon aus, dass dieser ein Gott war (Ellis 1833: 104-5). Aus ›einigen‹ wird in Sahlins’ Argument »they« (NT: 110).

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dass indigene Zweifel hinsichtlich der Vergöttlichung Cooks geübt worden waren und dass es Diskussionen über den Status von James Cook gegeben hatte. Obeyesekere behauptet nicht, dass hawaiianische Mythen, die im 19. Jahrhundert gesammelt wurden, überhaupt keine Informationen über die Vergangenheit liefern. Vielmehr versucht Obeyesekere, anhand der Mythen einen Diskurs der Unsicherheit über den Status von Cook herauszuarbeiten, der sich vom missionarischen Diskurs deutlich unterscheidet (AP: 170). Erst ein critical reading, das nicht an der Oberfläche bleibt und die mythischen Texte wörtlich interpretiert, kann in Obeyesekeres Augen einen solchen Diskurs freilegen, der ›unterhalb‹ des missionarischen Diskurses liegt. Obeyesekere wirft Sahlins vor, dass dieser den missionarischen Diskurs, wonach Cook von den Hawaiianern für einen Gott gehalten wurde, als vorkolonialen indigenen Diskurs missversteht und die in den Quellen auffindbaren Unsicherheiten hinsichtlich von Cooks Status übersieht. Diese Unsicherheiten sind für Obeyesekere das zentrale Charakteristikum der hawaiianischen Kultur, die nicht in einer ›stereotypen Reproduktion‹ gefangen war. Es geht Obeyesekere nicht in erster Linie um den Inhalt der von Kamakau gesammelten Mythen, sondern vor allem um die Form der Argumentation über James Cook innerhalb dieser Mythen; diese spiegelt für Obeyesekere den hawaiianischen common sense wider und deutet darauf hin, dass James Cook von den Hawaiianern nicht als ein Gott wahrgenommen wurde (AP: 170-171). Für Sahlins sind die hawaiianischen Unsicherheiten hinsichtlich des Status von James Cook kein Hinweis auf eine ausgeprägte ›Diskussionskultur‹ unter den Hawaiianern, sondern das Ergebnis des christlichen Einflusses von Kamakau. In Mooolelo Hawaii, so Sahlins, findet sich die hawaiianische Unterscheidung zwischen Menschen und Göttern nicht (NT: 279). Erst in Kamakaus Text, der auf Mooolelo Hawaii zurückgeht, gibt es diese Unterscheidung – die Sahlins zufolge der hawaiianischen Kosmologie fremd ist – und die hawaiianischen Debatten über Cook. »The whole dispute that for Obeyesekere represents the flexibility of old-time Hawaiian thought was introduced by Kamakau to make a Christian point about the radical difference between the earthly and the heavenly cities; between a corrupt humanity and a perfect divinity« (NT: 177). Während also Obeyesekere die in diesen Quellen beschriebene Vergöttlichung Cooks seitens der Hawaiianer auf missionarische Einflüsse zurückführt, hält Sahlins gerade diese Aussagen gewissermaßen für den ›indigenen Kern‹ dieser Texte. David Malos Hawaiian Antiquities (Malo 1951) ist eine weitere zentrale Quelle für die hawaiianische Kultur des 18. Jahrhunderts.7 Obeyesekere argumentiert, dass sich Malos Werk von Mooolelo Hawaii und von Kamakaus Werken deutlich unterscheidet. Es sei »probably the only truly scholarly account [by students of the Lahailanula seminar], but applicable almost entirely to the period 7

Hawaiian Antiquities wurde um 1840 geschrieben (Sahlins 1989: 415, Fn. 4). Siehe zu dieser Quelle auch Borofsky/Howard 1989: 242.

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of the Kamehameha reformation« und enthalte nur wenige Informationen über Cooks Vergöttlichung (AP: 154). Einerseits war Malo, so Obeyesekere, sehr stark christlich geprägt; andererseits verehrte er die hawaiianische Vergangenheit und unterschied sich diesbezüglich von den anderen Studierenden des Seminars. Malo ignorierte den missionarischen Mythos der Vergöttlichung Cooks (AP: 164); deshalb finden sich, so Obeyesekere, in seinem Werk auch kaum Informationen darüber, bis auf die Bemerkung, dass Cook nach dem hawaiianischen Gott benannt wurde, weil die Segel seines Schiffes dem Bildnis Lonos glichen. Sahlins kritisiert an Obeyesekeres Argument, dass dieser den gesamten Inhalt von Mooolelo Hawaii aufgrund des missionarischen Entstehungskontextes anzweifelt oder gar verwirft. »It is no great task to prove that when the text reports that before the Haole came the Hawaiians were led by Satan and living in sin, it is not based on concepts of Polynesian origin« (NT: 42). Wenn es aber beispielsweise um das Tabu auf das Meer geht, das während der Lonoprozession bestand oder um die Nennung von Namen wenig bekannter Plätze, hält Sahlins dies nicht für eine Erfindung Dibbles, insbesondere dann nicht, wenn die Beschreibungen in Mooolelo Hawaii ihre Entsprechung in den europäischen Reiseberichten finden (NT: 42-43). Sahlins ist längst nicht so ›naiv‹ in seiner Auswertung von Quellen, wie Obeyesekere ihm das vorwirft. Allerdings geht Sahlins in seiner Kritik an Obeyesekere gleichfalls zu weit: Obeyesekere verwirft nicht alle missionarischen Quellen hinsichtlich deren Aussagekraft über die hawaiianische Kultur des 18. Jahrhunderts; vielmehr versucht er, die Form eines indigenen Diskurses freizulegen, der darauf hindeuten soll, dass es Diskussionen über Cook seitens der Hawaiianer gab. »I showed that the text of Mooolelo Hawai’i, while it does contain historically useful data, is also a myth of the Evangelicals. I have never said what he [Sahlins] attributes to me, that the Hawai’ian narratives of that text are ›only the echoes of Reverend Dibble’s satanic verses‹« (AP: 201). Die Argumentationen von Sahlins und Obeyesekere offenbaren fundamental unterschiedliche Interpretationsperspektiven. Obeyesekere deutet europäische und hawaiianische Quellen unter der Prämisse, dass es einen langanhaltenden europäischen Mythos gibt, wonach die europäischen Entdecker für die entdeckten Einheimischen Götter sind; der historische Kontext, in dem die Quellen entstanden ist, hat für Obeyesekere eine weitgehend determinierende Wirkung auf den Aussagegehalt der jeweiligen Quelle. Sahlins lässt in seinen Interpretationen historische Kontexte zwar nicht unberücksichtigt, glaubt jedoch beispielsweise, aus den unter missionarischem Einfluss entstandenen hawaiianischen Quellen des 19. Jahrhunderts die relevanten Informationen gewissermaßen herausfiltern zu können. Letztlich ist für Sahlins der interpretative ›Königsweg‹ ein gegenseitiges Abwägen und Vergleichen westlicher und hawaiianischer Quellen (Borofsky 1997: 257-258). Äquivalenzen zwischen diesen unterschiedlichen Quellenbeständen bestätigen in Obeyesekeres Augen aber nur seine These, dass diese Quellen nicht unabhängig voneinander betrachtet werden können, sondern durch die

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gleichen europäischen myth models beeinflusst wurden.8 Hinsichtlich der Interpretationsstrategien von Sahlins und Obeyesekere stellen sich deshalb zwei Fragen: Gab es tatsächlich das von Obeyesekere beschriebene myth model über die Vergöttlichung weißer Entdecker? Und wenn ja: Hatte dieser Mythos die Wirkungsmacht, die Obeyesekere ihm zuschreibt? Es kann an dieser Stelle natürlich nicht darum gehen, ein möglicherweise zentrales Motiv der europäischen Geistesgeschichte in wenigen Sätzen abzuhandeln. Folgende Anmerkungen erscheinen jedoch angebracht. Zunächst ist es überraschend, dass Obeyesekere die weitreichende These aufstellt, dass es einen europäischen Mythos über die Vergöttlichung weißer Entdecker gab, dann aber klarstellt, dass die meisten Offiziere der dritten Expedition Cooks sich über diesen Mythos bewusst gewesen sein sollen und dem irrigen Glauben an eine Vergöttlichung Cooks aus diesem Grund nicht erlagen. Obeyesekere bleibt einen quellenkritischen Nachweis dafür schuldig, dass die Offiziere wussten, dass es ein solches myth model tatsächlich gab und dass sie sich über diesen Mythos bewusst hinwegsetzen konnten. Ähnliches gilt 8

Ein weiteres Beispiel verdeutlicht die unterschiedlichen Vorgehensweisen von Sahlins und Obeyesekere. Der Pelzhändler James Colnett besuchte die hawaiianische Inselgruppe erstmals 1788. 1791 kehrte er nach Hawaii zurück und besuchte Kailua auf Hawai’i. Colnett versuchte hier seine Interessen gegenüber den Spaniern durchzusetzen und hörte von den Hawaiianern, dass diese seit Cooks Tod im Krieg mit Nachbarinseln lagen. Die Hawaiianer hatten scheinbar Angst davor, dass Cook noch böse auf sie sei und behaupteten, Cook sei verantwortlich für mehrere Vulkanausbrüche auf Hawai’i (Colnett 1968: 220; siehe NT: 92). Sahlins merkt dazu folgendes an: »Revenge and volcanic destruction are not inconsistent with this apotheosis; on the contrary, they are Hawaiian signs of it. Behind this is a complex logic of the relationship between celestial fires (of Lono, associated with thunder and lightning) and terrestrial fires (of the volcano goddess Pele)« (NT: 92). Sahlins vergleicht Colnetts Bericht mit einem von Kamakau überlieferten Mythos: »According to this tradition, when a royal corpse was divided among major chiefs – as Cook’s had been – the parts turned into dangerous fire gods, to whom were devoted certain prophets of Pele« (NT: 92). Darüber hinaus vergleicht Sahlins Kamakaus mythologische Überlieferung und Colnetts Eintrag mit einem ethnographischen Bericht von Handy und Pukui, aus dem folgendes hervorgeht: »Lono (resounding) propably refers to thunder. It was he who kept the sacred fire of the underworld under his armpit. Vulcanism in Ka-’u is associated with heavy rain, thunder and lightning. Rain clouds were referred to in chants as ›bodies‹ (kino) of Lono« (Handy/ Pukui 1972: 31). Damit sieht Sahlins eine eindeutige Verbindung zwischen ›Geschichte‹ (Cooks Tod), ›Seismologie‹ (zwei Vulkanausbrüchen) und ›Theologie‹ (der angenommenen Wiederkehr Lonos), die aus den von ihm analysierten Quellen hervorgeht. – Obeyesekere merkt zu Colnetts Text lediglich an, dass aus ihm nicht abgeleitet werden kann, dass die Hawaiianer Cook für ihren Gott Lono hielten. Zu dieser Zeit, so Obeyesekere, war es den Hawaiianern klar, dass James Cook aus ›Brittanee‹ gekommen war und unter einem anderen Oberhaupt, dem König von England, gedient hatte. Obeyesekere hält es für möglich, dass Cook nach seinem Tod unter den Hawaiianern einen göttlichen Status erhalten hatte und deshalb in gewisser Weise für die Hawaiianer lebendig war, vielleicht sogar als Führer der britischen Segler (AP: 141). – Für eine Kritik an den Analysen von Handy und Pukui aus einer ›ozeanischen‹ Perspektive siehe White/Tengan 2001: 390.

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für Obeyesekeres Auswertung der hawaiianischen Quellenbestände. Obeyesekere behauptet, dass es den von ihm beschriebenen Mythos gab und dass er eine determinierende Wirkung auf die hawaiianischen Quellen hatte; seine fragmentarische Analyse des Wandels der hawaiianischen Gesellschaft durch die christliche Mission trägt diese These nicht.9 Zudem scheint es einen Widerspruch zu geben zwischen Obeyesekeres These, dass der von ihm postulierte Mythos eine determinierende Wirkung auf die Hawaiianer gehabt haben soll und seiner Betonung der fundamentalen Handlungsfreiheit der Hawaiianer (Valeri 1994: 131). Valeris Sichtweise wird unterstützt von Sahlins’ Analyse der hawaiianischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. In Anahulu (Sahlins 1992a) analysiert Sahlins detailliert die Veränderungen der hawaiianischen Gesellschaft nach den ersten Kulturkontakten mit Europäern bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts und führt damit seine diesbezügliche Analyse in Historical Metaphors fort. Für die SahlinsObeyesekere-Debatte sind diese Untersuchungen interessant, weil sie merklich von Obeyesekeres Schilderungen der historischen Entwicklung Hawaiis abweichen. Während Obeyesekere die destruktiven Wirkungen des westlichen Einflusses auf die hawaiianische Gesellschaft betont, argumentiert Sahlins, dass es gerade in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf Hawaii keine ›Zersetzung‹ der indigenen kulturellen Kategorien gab, sondern eine Umwertung (siehe Kapitel IV). Bei einer Berücksichtigung von Sahlins’ Analysen der Geschichte Hawaiis im 19. Jahrhundert wird deutlicher, warum er davon ausgeht, dass auch die hawaiianischen Quellen, die im 19. Jahrhundert unter missionarischem Einfluss entstanden sind, verwertbare Informationen über die hawaiianische Gesellschaft des 18. Jahrhunderts liefern können. Eine Analyse nicht nur von How ›Natives‹ Think, sondern auch von Anahulu macht zudem klar, dass Sahlins die hawaiianischen Quellen weder vorab verwirft noch sie wörtlich interpretiert. »For an ethnographic history, the so-called distortions of firsthand observers and participants are more usefully taken as values than as errors. They represent the cultural forces in play. Insofar as the principal authorities are also significant actors, the ways they constructed Hawaii were precisely the ways by which Hawaii was constructed« (Sahlins 1992a: 14).

Das zu Grunde liegende Problem bleibt natürlich bestehen: Es geht Sahlins und Obeyesekere um die Interpretation eines Ereignisses aus dem späten 18. Jahrhundert, für die unter anderem Quellen aus dem 19. Jahrhundert vorliegen, deren Status umstritten ist, weil man hinsichtlich des historischen Kontextes, in dem sie entstanden, auf eine Verwertung genau dieser Quellen angewiesen ist. »Whether Sahlins likes it or not, the development of the notion Cook = Lono, whatever its point of origin, was expressed largely within a prescriptive, dominant Western 9

Für eine Analyse hawaiianischer Quellen im Kontext der Missionierung siehe Merry 2003. Für Kritiken an Obeyesekeres Interpretationsstrategie siehe Borofsky 1997; Hanlon 1994: 108-110; Knauft 1993; Salmond 1993; Thomas 1994: 121-122.

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discourse« (Howe 1996: 117). Sahlins würde dies wohl nicht abstreiten, doch die offene Frage ist, welche Konsequenzen die Einbettung der hawaiianischen Quellen in einen ›dominanten westlichen Diskurs‹ für die Verwertbarkeit dieser Quellen hat. Eine von Sahlins’ Interpretationsstrategien, um diesem Problem zu begegnen, besteht darin, dass er hawaiianische und europäische Quellen miteinander vergleicht, um aus diesen unterschiedlichen Perspektiven eine weiterführende Deutung der Ereignisse, die zu Cooks Tod geführt haben, zu entwickeln.10 Dieses Vorgehen ist fragwürdig, wenn auch die europäischen Quellen durch einen langanhaltenden Mythos über die Vergöttlichung des weißen Eroberers verzerrt worden sind. Allerdings verwendet Obeyesekere überraschend wenig Raum für seine Analyse der Entwicklung eines solchen Mythos in Europa (AP: 120-137). Zwar legen die Analysen von William Hamlin – die Obeyesekere auch zitiert – nahe, dass es in der Renaissance tatsächlich eine Art myth model gab, wonach die Europäer für die Entdeckten Götter sind (Hamlin 1994, 1996); doch die Wirkungsmächtigkeit dieses Diskurses ist schwer einzuschätzen. Robert Borofsky argumentiert, dass die Existenz eines solchen Mythos in der Renaissance noch kein Beweis für einen solchen Mythos im 18. Jahrhundert ist, insbesondere auch unter der Berücksichtigung, dass offenbar eine Vergöttlichung der europäischen Entdecker in anderen polynesischen Gesellschaften nicht beobachtet wurde (Borofsky 1997: 277-278). Obeyesekere betont selbst, dass es keine Berichte darüber gibt, dass andere polynesische Gesellschaften Cook für einen Gott hielten (AP: 87). Für Sahlins ist diese Aussage ein Widerspruch zu Obeyesekeres These über den Mythos der Vergöttlichung der weißen Entdecker durch die Entdeckten (NT: 178). Sollte es nicht mehr Berichte über Vergöttlichungen der weißen Entdecker gegeben haben, wenn es tatsächlich einen solchen Mythos gab, der das Denken der Seefahrer scheinbar determinierte?11 Obwohl Obeyesekere die Wirkungsmächtigkeit des europäischen Mythos, wonach die Entdeckten die Europäer für Götter halten, zweifellos übertreibt, ignoriert Sahlins wiederum die Möglichkeit, dass ein solches kulturelles Schema im Interaktions- und Wahrnehmungsprozess zwischen Europäern und Hawaiianern sowie in der Produktion von Texten überhaupt eine Rolle gespielt haben könnte: »the Cook debate was polarized in its reading of texts, failing to consider that there might be a multiplicity of interpretations as well as gaps« (Merry 2003: 46). Interessanterweise betont auch Obeyesekere im Nachwort zur zweiten Auflage von The Apotheosis of Captain Cook, dass es notwendig sei, sich der Kom10 Sahlins berücksichtigt übrigens eine Vielzahl hawaiianischsprachiger Quellen, die im 19. Jahrhundert entstanden sind. Damit wird Sahlins der in den letzten Jahren verstärkt erhobenen Forderung gerecht, die Geschichte Hawaiis nicht nur, oder sogar nicht in erster Linie, auf der Grundlage englischsprachiger Quellen zu analysieren. Für eine wegweisende Analyse der hawaiianischen Geschichte, die hawaiianischsprachige Quellen in den Mittelpunkt rückt, siehe Silva 2004. 11 Sahlins argumentiert, dass Cook auch außerhalb Hawaiis einen göttlichen Status hatte, wenn auch keineswegs überall in Polynesien (NT: 178).

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plexität unterschiedlicher Interpretationsperspektiven, die sich überlagern und gegenseitig ergänzen können, im Klaren zu sein (AP: 200). Obeyesekere plädiert für eine Sensibilität der Rolle kolonialer Kontexte, in denen die Quellen entstanden sind, und Sahlins ignoriert in den Augen Obeyesekeres die daraus abgeleiteten Probleme über den Zusammenhang von Text und Kontext (AP: 201). Diese methodologische Kritik seitens Obeyesekeres ist zwar nur teilweise berechtigt, denn Sahlins ignoriert diese Probleme keineswegs, sondern findet andere Lösungen als Obeyesekere für das methodologische Problem Text/Kontext. Sahlins’ Vorgehensweise, Quellen britischer und hawaiianischer Herkunft miteinander abzugleichen, ohne in Erwägung zu ziehen, dass es einen von Obeyesekere postulierten Mythos über die Vergöttlichung der weißen Entdecker hätte geben können, wird aber der Problematik Text/Kontext sowie der Multitiplizität miteinander konkurrierender Deutungen wohl nicht gerecht (Merry 2003: 44). Sinnvoll wäre deshalb eine empirisch offenere Interpretationsperspektive, die einerseits die Produktion westlicher und nicht-westlicher Quellen systematisch im Rahmen ihrer Entstehungskontexte analysiert, ohne aber die Vielfalt sich widersprechender Stimmen in den Quellen durch die Annahme eines dominanten myth models vorab zu unterdrücken oder zu kanalisieren. Welche Gründe gibt es aber dafür, dass Sahlins vehement gegen die Existenz von myth models argumentiert? Die Frage, ob Berichte von der Vergöttlichung James Cooks auf einen langanhaltenden europäischen Mythos zurückzuführen sind, ist natürlich zunächst eine empirische; allerdings erschöpft sich der Streit zwischen Sahlins und Obeyesekere nicht in einer Debatte über die empirische Plausibilität einer bestimmten Interpretation des zur Verfügung stehenden Quellenmaterials. Vielmehr verweisen Sahlins’ und Obeyesekeres Interpretationsstrategien auf fundamentale konzeptionelle, also kulturtheoretische Probleme: Zur Debatte steht zunächst der Zusammenhang zwischen Kultur und sozialer Praxis; sodann der Status kultureller Relativität; und schließlich die Politik der Repräsentation fremder kultureller Realität.

2. Kultur und soziale Praxis Ein wichtiges Element von Sahlins’ Argumentation ist seine These, dass es zur Zeit von James Cooks Besuch auf Hawai’i einen Makahiki gegeben hat, denn nur dann macht die These Sinn, Cook sei von den Hawaiianern für eine Manifestation ihres Gottes Lono gehalten worden. Obeyesekere hält es aber für fraglich, dass es zur Zeit von Cooks Besuch einen Makahiki gegeben hat. Zunächst merkt Obeyesekere an, dass keiner der Log- und Tagebuchschreiber den Begriff ›Makahiki‹ erwähnt, »not even Samwell, who had a flair for names and recorded a lot of names of things, persons, and events« (AP: 58). Darüber hinaus betont Obeyesekere, dass die hawaiianischen Beschreibungen des Makahiki in einem Kontext entstanden, in dem das hawaiianische Tabusystem bereits nicht mehr existierte.

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Zudem wurde der Makahiki, so Obeyesekere, nach 1795 von Kamehameha systematisiert und formalisiert. Deshalb ist es für Obeyesekere nicht möglich, aus Quellen, die im 19. Jahrhundert entstanden sind, die genaue Form oder auch die genauen historischen Daten des Makahiki abzuleiten. Sahlins übersieht also in Obeyesekeres Augen, »that the formalization of this ceremony is a nineteenthcentury phenomenon« (AP: 59). Im 18. Jahrhundert war der Makahiki wohl, so Obeyesekere, kein regelmäßig stattfindendes Fest; beispielsweise wurde er durch den Besuch Vancouvers 1794 kurzfristig um etwa einen Monat verschoben (AP: 59). Zudem sieht Obeyesekere große Differenzen zwischen einzelnen Makahikifesten auf unterschiedlichen Inseln Hawaiis. Obeyesekere argumentiert, dass es immer wieder Änderungen im ritual schedule geben konnte und dass Sahlins diese Möglichkeit nicht einmal in Betracht zieht (AP: 99). Diese Kritik ähnelt der einer Gruppe dänischer Forscher, die ebenfalls die These aufstellen, dass es zur Zeit von Cooks Besuch auf Hawai’i wahrscheinlich keinen Makahiki gegeben hat, zumindest keinen Makahiki in der Form des 19. Jahrhunderts. Bergendorff et al. (1988) argumentieren, dass Cook deshalb von den Hawaiianern auch nicht als eine Manifestation von Lono angesehen wurde. Vielmehr wurde die Tradition des Makahiki im 19. Jahrhundert im Umfeld des missionarischen Seminars Lahainaluna und hier insbesondere Sheldon Dibble erschaffen. Bergendorff et al. argumentieren, dass der Glaube an die Vergöttlichung Cooks den hawaiianischen Eliten nutzte, denn die göttliche Verbindung – also Cook – zwischen Hawaii und den Briten mystifizierte die ökonomische Abhängigkeit Hawaiis vom Handel mit den Europäern. Die Vergöttlichung Cooks halten sie also für »a later myth made to suit the conquering aristocracy and their Europeanised interests« (Bergendorff et al. 1988: 405). In seiner Antwort auf Bergendorff et al. weist Sahlins diese These zurück (Sahlins 1989). Weder die hawaiianischen Eliten noch die amerikanischen Missionare hatten, so Sahlins, ein Interesse daran, den Glauben an eine traditionelle Kosmologie zu fördern, die es so nicht gegeben hatte. Die europafreundlichen hawaiianischen Eliten hatten kein Interesse daran, einen Glauben an die hawaiianische Vergöttlichung von James Cook zu fördern, weil die Vitalisierung ›traditionaler‹ Elemente der hawaiianischen Kultur und Religion nicht ihnen selbst half, sondern ihren hawaiianischen Gegnern, die darauf bedacht waren, sich vom europäischen Einfluss zu lösen und die traditionellen Elemente der hawaiianischen Kultur zu stärken. Die amerikanischen Missionare hatten in Sahlins’ Augen gleichfalls kein Interesse an der Förderung einer indigenen Ideologie der Vergöttlichung Cooks (Sahlins 1989: 372). Als Antwort auf Obeyesekeres Kritik weist Sahlins zunächst darauf hin, dass Obeyesekere die europäischen Quellen über den Makahiki, die vor 1819 entstanden sind, weitgehend ignoriert, insbesondere die Quellen, die im Rahmen von Vancouvers Reise entstanden. »Taken in combination with earlier reports, the Vancouver documents provide determinate evidence of a complex, four-month Makahiki cycle, as well as specific ritual practices of the New Year as recorded by Malo and Kelou Kamakau« (NT: 215). Zudem argumentiert Sahlins, dass die

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beiden Hauptquellen, auf die sich Obeyesekere stützt, sehr wohl zuverlässige Aussagen über den hawaiianischen Makahiki des 18. Jahrhunderts liefern (K. Kamakau 1919; Malo 1951). Malo und Kelou Kamakau waren, so Sahlins, Augenzeugen von Makahiki-Zeremonien (NT: 208-209), und Kamakau sogar Beobachter dieser Zeremonien, bevor sie von Kamehameha formalisiert worden waren. Gerade die Änderungen des Makahiki durch Kamehameha finden sich in Malos und Kamakaus Berichten – so Sahlins – nicht. »Kamehameha used the Makahiki to sustain his conquest kingdom, politically and economically. He introduced his own gods of order and tribute into the Lono procession, and transformed the occasion into a centralized payment of taxes […] But Malo and K. Kamakau […] do not speak of these new gods and hardly or not at all thesaurized royal levies. Their interest is in the archaic forms« (NT: 219).

Der Streit zwischen Sahlins und Obeyesekere ist hier wiederum ein Streit über den interpretativen Status unterschiedlicher europäischer und hawaiianischer Quellen. Allerdings ist diese empirische unmittelbar mit einer weitreichenden konzeptionellen Argumentationsebene verknüpft. Für Obeyesekere steht nämlich keineswegs allein der Nachweis im Vordergrund, dass es zur Zeit der Landung Cooks keinen Makahiki gegeben habe. Vielmehr argumentiert Obeyesekere, dass die, die allein für oder gegen die Existenz eines Makahiki 1779 argumentieren, implizit die These aufrecht erhalten, dass die Hawaiianer Cook für einen Gott hielten, wenn es zur Zeit seines Besuchs einen Makahiki gegeben haben sollte, »for, it is assumed, Hawaiians, unlike Europeans, do not understand that coincidences do occur, even occasionally« (AP: 95). Damit wird der kulturelle Determinismus Sahlins’, so Obeyesekere, letztlich bestätigt. Obeyesekere argumentiert, dass Sahlins’ Hawaiianer weder innovativ noch flexibel sind, sondern alle neuen Ereignisse nur auf der Grundlage ihrer rituellen Skripte interpretieren können. Obeyesekere wirft Sahlins vor, die Ereignisse, die zu Cooks Tod führten, aus der Perspektive einer strukturalistischen Geschichtstheorie zu interpretieren, die nur den europäischen Mythos weiterführt, nach dem der weiße Entdecker von den Eingeborenen für einen Gott gehalten wird. Auf der Grundlage von Sahlins’ Studien wird in den Augen Obeyesekeres klar, dass es gute Gründe für Irritationen im hawaiianischen Glaubenssystem gegeben habe (AP: 56). Allerdings betont Sahlins, dass die Hawaiianer kreativ ihre kulturellen Kategorien umgestalteten, um mit der für sie neuen Situation umzugehen. Beispielsweise interpretiert Sahlins die Ereignisse unmittelbar vor Cooks Tod als ein kƗli’i-Ritual »in reverse«. Diese Interpretation geht davon aus, dass im ursprünglichen kƗli’i-Ritual der König, der vom Meer kommend den Strand betritt, einen symbolischen Tod erleidet; im kƗli’i-Ritual »in reverse« sind die Rollen vertauscht – nicht der König stirbt, sondern Lono (NT: 82, 232-233). Obeyesekere argumentiert demgegenüber, dass es in der hawaiianischen Gesellschaft überhaupt kein kƗli’i-Ritual »played in reverse« gegeben habe (AP: 182). Während

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Sahlins von der kreativen Neugestaltung kultureller Praktiken ausgeht, argumentiert Obeyesekere, dass ein solches Festhalten an diesen Praktiken einen Determinismus impliziert. Das kƗli’i-Ritual, so LilikalƗ Kame’eleihiwa, »is a ritual of transition between the two great religious cycles of Makahiki and ’Aha, or of the reign of the Akua Lono, which lasted for four months, and that of Knj, who presided for eight months« (Kame’eleihiwa 1994a: 114). Der König als Knjs Repräsentant und seine Männer kommen vom Meer und treffen an Land auf mit Speeren bewaffnete Mitglieder von Lonos Gruppe. Einer der Mitglieder von Lonos Gruppe berührt den König mit einem Speer; ein Scheinkampf folgt. Es gibt an dieser Stelle eine Ambiguität: Wird der König symbolisch getötet oder bedeutet sein Tod zugleich seine Wiedergeburt als Sieger über Lono, »thus conforming in ritual the myth of Hawaiian kingship in which the stranger invader-usurper and his god Ku arrive by sea to conquer the indigenous people and their god, Lono?« (Li 2001: 230). Diese Ambiguität leitet sich – worauf Sahlins hinweist – bereits aus dem Begriff kƗli’i selbst ab, der nicht nur ›den König treffen‹ bedeutet, sondern auch ›den König spielen‹ oder ›zum König gemacht werden‹ (IG: 117). Sahlins argumentiert, dass der Tod des Königs der Beginn seines Sieges ist. »Durch die Speere stirbt der König als Außenseiter, um als König wiedergeboren zu werden« (IG: 118). Diese Wandlung erreicht der König durch die Aneignung des friedlichen und produktiven Gottes Lono; er wird also »unter der Bedingung seiner eigenen Domestizierung zum Herrscher« (IG: 118). Der König nimmt die positiven Eigenschaften Lonos an und wird damit zum Wohltäter der hawaiianischen Gesellschaft. Sahlins’ Interpretation lässt aber die Frage ungeklärt, wer den Scheinkampf tatsächlich gewinnt. Dies merkt auch Sahlins selbst in Mythical Realities an. »Unfortunately, the sources are silent on the outcome of the battle, specification of which might remove the ambiguities of this apparent ›ritual of rebellion‹« (HM: 19). Allerdings ist es, wie Victor Li argumentiert, wichtig zu wissen, wer den Kampf gewinnt, denn die Plausibilität von Sahlins’ Interpretation hängt auch davon ab, dass tatsächlich der König gegen Lono gewinnt (Li 2001: 230). »Personally, I have always thought that the KƗli’i ritual has been misinterpreted by foreign scholars [...] KƗli’i means to ›touch the chief‹ and is a ritual whereupon the Akua Lono, having completed the Makahiki circuit and collection of gifts, now accepts and blesses the Ali’i Nui, or king if you like. That is why the king is never pierced by the shower of spears, merely tapped by a spear wrapped in the white tapa symbolic of Lono; he is protected by Lono« (Kame’eleihiwa 1994a: 114).

Diese Interpretation des kƗli’i-Rituals widerspricht der Sichtweise Sahlins’, der das Ritual als symbolischen Kampf zwischen dem König und Lono interpretiert. Dies stellt aber auch Sahlins’ Interpretation in Frage, dass die Ereignisse unmittelbar vor Cooks Tod als umgekehrtes kƗli’i-Ritual interpretiert werden können. Doch was bedeutet diese These? Zunächst betrat nicht der König das Land, um

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sich einem Gefecht mit Lono zu stellen, sondern die Manifestation Lonos, also James Cook, der den hawaiianischen König Kalani’ǀpu’u suchte. Darüber hinaus erfuhr nicht der König einen rituellen Tod, sondern Lono. Das Ergebnis des veränderten kƗli’i war allerdings, so Li, das gleiche wie das normale kƗli’i-Ritual: »namely, the triumph of the king and the death of Lono«. Li kritisiert Sahlins’ Interpretation als »more a product of the anthropologist’s culturalist outlook than the natives’ alleged insistence on seeing all events as part of a mythic and cosmological pattern« (Li 2001: 231).12 Ein weiteres ungewöhnliches Ereignis war die Beerdigung des Matrosen Willie Watman sowie die Entfernung von Teilen des Tempels seitens der Briten. Schon vor Watmans Beerdigung hatten die Engländer »mit Erlaubnis des Oberpriesters den Zaun und einige Bildnisse des Hikiau-Tempels als Feuerholz weggeschafft« (IG: 124). »Indeed, there could well be a valid motivation for dismantling Hikiau temple in the Hawaiian ceremonial calendar. At the conclusion of the Makahiki period, temples of this type [...] are refurbished for the resumption of normal rituals under the aegis of Knj« (NT: 77). Am Morgen des 1. Februar 1779 starb Watman; dies war der Tag, an dem Kahoali’i, der lebende Gott des Königs, das Auge des ersten Menschenopfers im Neuen Jahr essen würde (IG: 124). Ein solches Ritual wird, wie Sahlins anmerkt, in den britischen Quellen, die auf die Ereignisse 1779 eingehen, nicht erwähnt. Allerdings wurde Watman am Nachmittag des 1. Februar beim Hikiau-Tempel bestattet – in Anwesenheit der Lonopriester (NT: 76). Der hawaiianische Häuptling forderte, dass Watman dort bestattet werde (IG: 124; NT: 76). Die zeitlichen Korrespondenzen zwischen Watmans Tod und dem Opferungsritual erklärt für Sahlins dieses Verhalten der Hawaiianer (NT: 272). »Everything thus suggests that the Hawaiians gave Watman’s death a significance of their own, at a time and place that corresponded to the customary offering of a human sacrifice« (NT: 76). Für Sahlins zeigen diese Handlungsweisen die Kreativität der Hawaiianer, unvorhergesehene Ereignisse in ihren kosmologischen Rahmen zu integrieren. Obeyesekere hält es jedoch für unplausibel, dass die Hawaiianer eine Verbindung herstellten zwischen Watman, der den Folgen einer schweren Krankheit erlag, und einem Menschenopfer, das den Göttern nach ganz bestimmten Regeln dargebracht wurde (AP: 57). Seine alternative Erklärung stellt eine direkte Verbindung her zwischen dem Entfernen von Teilen des Hikiau-Tempels seitens der Engländer und Watmans Beerdigung. Ausgangspunkt von Obeyesekeres Version ist Cook selbst, der – so Obeyesekere – in Watman eine Vaterfigur sah und deshalb sicherstellen wollte, dass Watman an einer passenden Stelle begraben wurde. »Watman probably wanted to be buried on shore, and Cook probably felt he had to give him a proper royal funeral«. Der hawaiianische Tempel, so Obeyese12 Siehe dazu auch AP: 213-214. Obeyesekere kritisiert darüber hinaus an Sahlins’ These, dass es keine einzige Quelle mit einer Referenz auf Cooks Tod als ein Ritualmord gebe (AP: 214).

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kere, schien eine Möglichkeit zu sein; Watman würde »alongside Hawaiian royalty« bestattet werden. Allerdings stand dem im Wege, dass es an diesem Platz Menschenopfer gab und ›Götzenbilder‹ angebetet wurden. »Thus, the palings with their sacrificial heads and the semicircle of images had to be removed and burned« (AP: 252). Diese Aktion machte in Cooks Augen, wie Obeyesekere argumentiert, eine Beerdigung Watmans überhaupt erst möglich, da sie den Tempel gewissermaßen reinigte und eine christliche Beerdigungszeremonie erlaubte. Allerdings war dies, inklusive der Beerdigung selbst, eine Verletzung religiöser hawaiianischer Werte, weshalb weder der König noch Häuptlinge anwesend waren. Die rituellen Aktionen der Lono-Priester hatten nichts mit einer religiösen Ehrung Watmans zu tun, sondern waren der Versuch, den entweihenden Handlungen der Europäer entgegenzuwirken (AP: 253). Sahlins argumentiert allerdings, dass Obeyesekeres alternative Version der Beerdigung Watmans von den historischen Quellen nicht gedeckt ist. »Mainly the sources suggest hat Watman was buried at Hikiau by Hawaiian request« (NT: 271). Zudem gibt es für Sahlins keine Hinweise auf einen hawaiianischen Boykott des Begräbnisrituals, da der Tempel nur für Priester und Häuptlinge zugänglich war (NT: 273). Die Fragen, ob es zur Zeit von Cooks Landung auf Hawai’i einen Makahiki gegeben hat, ob der Tod von James Cook für die Hawaiianer die Form eines kƗli’i-Rituals »played in reverse« annahm oder welche Hintergründe das Begräbnis von William Watman im hawaiianischen Tempel hatte, sind zunächst empirischer Natur. Sahlins’ und Obeyesekeres Analysen offenbaren allerdings auch tiefgreifende kulturtheoretische Unterschiede, die ihren Interpretationen zu Grunde liegen. In seiner Analyse plädiert Obeyesekere für eine menschliche Eigenschaft, die er – in Anlehnung an Max Weber – ›praktische Rationalität‹ nennt. Wie Obeyesekere betont, unterscheidet sich praktische Rationalität etwa vom Geertz’schen common sense vor allem durch die Fähigkeit, über scheinbar selbstverständliche Dinge bewusst zu reflektieren. Daraus leitet Obeyesekere seine These ab, dass es extrem unwahrscheinlich sei, dass die Hawaiianer James Cook tatsächlich als einen ihrer Götter ansahen. Vielmehr sei es plausibler anzunehmen, dass die Ankunft der Briten in der hawaiianischen Kultur interpretative Konflikte hervorgerufen habe, weil ein neues Ereignis nicht mit vorhandenen kulturellen Kategorien vereinbar gewesen sei. Das Ergebnis, so Obeyesekere, musste sein, dass bewusste Überlegungen angestellt wurden, die über den engen kosmologischen Rahmen der hawaiianischen Kultur hinausgingen (AP: 60). Statt Cook in ihren kosmologischen Rahmen zu integrieren, sahen sie in ihm das, was er (für uns offensichtlich) war: ein Mensch.13

13 Die empirische Differenz zwischen Sahlins und Obeyesekere entspricht hier ungefähr der zwischen James Beaglehole und Peter Buck. In Beagleholes Augen wurde James Cook von den Hawaiianern als ein Gott angesehen, während Buck dies zurückweist (Beaglehole 1967b, Band 1: cxliii, generell cxliii-cxlv; zu Buck: cxlivcxlv, Fn. 1; Buck 1945: 26-27).

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Obeyesekere geht von der bewussten Manipulation kultureller Schemata auf hawaiianischer Seite aus. Voraussetzung für Flexibilität ist in Obeyesekeres Augen zunächst rationales und bewusstes Denken, sodann die Fähigkeit, die eigene Umwelt zu interpretieren, ohne die Interpretation von Ereignissen bloß aus bestehenden kosmologischen Schemata abzuleiten. In Obeyesekeres Augen kann Sahlins kein Modell des flexiblen und kreativen Akteurs entwickeln, weil er die Existenz einer universalen Rationalität ignoriert und Erkenntnis zu eng mit kulturellen Schemata verknüpft (siehe auch Li 2001: 235; Windschuttle 1997). Sahlins betont allerdings die hawaiianische Existenz von Flexibilität und Kreativität; die indigene Umdeutung von Ritualen ist für Sahlins Ausdruck dieses Handlungspotenzials (NT: 246).14 In Sahlins’ Augen entwickelt Obeyesekere kein Konzept von Kreativität und Flexibilität; vielmehr ignoriert er die hawaiianische Fähigkeit, flexibel mit den kulturellen Kategorien umzugehen (siehe auch Parker 1995: 263). Für Obeyesekere repräsentiert Sahlins’ These, dass die Ereignisse, die unmittelbar zu Cooks Tod geführt haben, ein kƗli’i-Ritual »in reverse« sei, einen kulturalistischen Determinismus, weil sich Sahlins’ Hawaiianer nicht von ihren kulturellen Skripten emanzipieren könnten; Sahlins wiederum argumentiert, dass Obeyesekere einen deterministischen Kulturbegriff hat, weil er Abweichungen von den bekannten kulturellen Schemata der Hawaiianer nicht zulässt – wie in Obeyesekeres Argument, es habe in Hawaii kein kƗli’i-Ritual »in reverse« gegeben. Die Ausschließlichkeit, mit der sich Sahlins und Obeyesekere gegenseitig des kulturalistischen Determinismus beschuldigen, verdeckt, dass der Unterschied zwischen Sahlins und Obeyesekere hinsichtlich des Konzepts der Kreativität und Flexibilität nur gradueller Natur ist. Während Obeyesekere Flexibilität mit dem kognitiven Durchbrechen überkommener kultureller Schemata (beispielsweise Mythen) verknüpft, sieht Sahlins vielmehr deren Umdeutung als kreative Leistung flexibler Akteure. Sahlins hat mit seiner Kritik an Obeyesekere zunächst Recht: Was Obeyesekere als einen empirischen Konflikt ansieht, mag nicht als ein solcher für die Hawaiianer erscheinen. Darüber hinaus übersieht Obeyesekere, dass Sahlins die Spezifik von Kognition und sozialer Praxis keineswegs streng aus kulturellen Modellen ableitet. Die Interpretationsleistung von Akteuren geschieht zwar immer vor dem Hintergrund kultureller Schemata, doch Kultur stellt in Sahlins’ Augen ›bloß‹ einen Rahmen bereit, in dem sich Interpretationen und Handlungsweisen vollziehen. Sahlins interessiert sich vor allem dafür, wie die Hawaiianer ungewöhnliche Situationen mit ihren kulturellen Kategorien kreativ in Einklang bringen. Die Frage ist allerdings, wie eng dieser kulturelle Rahmen ist und ob dieser Rahmen tatsächlich für soziales Handeln im Allgemeinen eine so große Bedeutung hat, wie Sahlins ihm zuschreibt. Obwohl der kulturelle Hintergrund in Sahlins’ Ansatz keine bestimmten Handlungen determiniert, kommt es in Sahlins’ Analyse der Ereignisse, die zu James Cooks Tod führten, 14 Siehe auch Sahlins 1977: 25; HM: 35; NT: 204, 251.

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nicht vor, dass die Hawaiianer ihre kulturellen Schemata durchbrechen. »[T]hat Cook’s arrival did create discrepancies in the Hawaiians’ ritual schedule to which they did adjust is a point I have made in detail« (NT: 205). Letztlich scheint Sahlins’ Konzept von Flexibilität eher dazu zu dienen, den jeweiligen kulturellen Rahmen zu bestätigen. Li argumentiert, dass sich in vielen von Sahlins’ Schriften ein zweiteiliges Argument verbirgt. »First, we are told how structural categories are exposed to the risks of an unpredictable world of practice […] But this concession to cultural risk and change is then qualified or reversed by the reassertion of structural order, the renewed encompassment by a cultural logic« (Li 2001: 239). Ein eng mit dieser Kritik verknüpfter Vorwurf ist die Überlegung, Sahlins vertrete eine rigiden kulturellen Holismus. Bereits 1976, in Culture and Practical Reason, kritisiert Sahlins die Annahme unterschiedlicher symbolischer Systeme, weil die These voneinander unterschiedener cultural systems »the unity and distinctiveness of culture as a symbolic structure« ignoriere (Sahlins 1976a: 206). Ohne Kultur wäre es in Sahlins’ Augen nicht möglich zu verstehen, warum die Hawaiianer handelten, wie sie handelten. »Even to understand what did happen, it would be insufficient to note that certain people acted in certain ways, unless we also knew what that signified. The contingent becomes fully historical only as it is meaningful: only as the personal act or the ecological effect takes on a systematic or positional value in a cultural scheme. An historical presence is a cultural existence« (IH: 109).

In Sahlins’ Ansatz bedeutet ›Homogenität‹ keineswegs, dass alle Hawaiianer das ›Gleiche‹ denken, Ereignisse identisch interpretieren oder Vergleichbares tun. Zeichen haben ja in Sahlins’ Ansatz zwei miteinander verknüpfte Elemente: ›Bedeutung‹ (bzw. ›Sinn‹) und ›Interesse‹. Während die Bedeutung eines Zeichens sich aus seiner Beziehung zu anderen Zeichen ableitet, setzt das Interesse das Zeichen in Beziehung zur individuellen sozialen Praxis. Die Bedeutung eines Zeichens scheint nicht für jede Person einer sozialen Gruppe gleich zu sein. Vielmehr betont Sahlins, zumindest manchmal, die soziale Perspektivität von Bedeutungszuschreibungen: »Captain Cook appears as an ancestral god to Hawaiian priests, more like a divine warrior to the chiefs, and evidently something else and less to ordinary men and women […] Acting from different perspectives, and with different social powers of objectifying their respective interpretations, people come to different conclusions and societies work out different consensuses« (IH: x).

Hinsichtlich kultureller Differenzen innerhalb der hawaiianischen Gesellschaft betont Sahlins an anderer Stelle, dass es unterschiedliche Auslegungen der Ereignisse auf hawaiianischer Seite gab und dass nicht alle Hawaiianer mit ihren

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Handlungsweisen vergleichbare Interessen verfolgten: »it need not be supposed that all Hawaiians were equally convinced that Cook was Lono, or, more precisely, that his being ›Lono‹ meant the same thing to everyone« (NT: 65). Die Einschränkung, die Sahlins vornimmt, scheint seinen kulturellen Holismus aber zu bestätigen, denn dass Cook als Lono angesehen wurde, stellt Sahlins zumindest hier nicht in Frage. Während Sahlins in Grundzügen die Perspektivität von unterschiedlichen Bedeutungszuschreibungen zulässt und auf diesem Wege die Homogenität von Kultur relativiert, scheint er an anderer Stelle ein ›stärkeres‹ kulturelles Homogenitätsmodell zu vertreten, nach dem Bedeutungen tatsächlich allgemein geteilt sind. Ein plausibler Grund, den Sahlins zur Stützung seiner These anführt, ist seine Überlegung, dass die hawaiianischen Eliten ihre Interpretation universalisieren konnten. Es gab, so Sahlins, bedeutende Unterschiede in der Sichtweise zwischen Angehörigen der Eliten und der einfachen Bevölkerung. Sahlins vermutet, dass der religiöse Enthusiasmus, der den Engländern entgegenschlug, nicht von allen Hawaiianern geteilt wurde; es gab »indeterminacies«, »perplexities« und »disagreements« hinsichtlich der Interpretation der Natur der Engländer (NT: 66). Allerdings konnten die Eliten ihre Sichtweise auf die Gesamtbevölkerung ausdehnen: »They [the elites] could bring a whole set of structures to bear in support of their cosmological opinions, including the controls on land and people that eventuated in a great flow of offerings […] to Cook, as well as provisions to his company. Whatever the people in general were thinking, they were thus made practically and materially tributary to the religion of Lono of which the priests of Kealakekua were the legitimate prophets« (NT: 65-66; siehe auch IG: 120).

In How ›Natives‹ Think und in Islands of History hält sich Sahlins nicht lange bei diesem bemerkenswerten Punkt auf. Bemerkenswert ist Sahlins’ These deshalb, weil sie die Kritik an Sahlins, einen kulturellen Holismus zu vertreten, zu unterlaufen scheint; viele Theorien, die Kultur als holistisch konzeptualisieren, gehen ja gerade nicht von der Manipulation der ›Massen‹ seitens der regierenden Eliten aus, sondern plädieren für die Notwendigkeit eines sinnstiftenden, sozial integrierenden kulturellen Hintergrunds.15 In Sahlins’ Modell, zumindest in How ›Nati15 Beispielsweise hat sich Clifford Geertz gegen die These gewehrt, der so genannte negara, also der balinesische ›Theaterstaat‹ des 19. Jahrhunderts, sei ein Instrument der Herrschaftsfestigung durch die Erschaffung einer staatstragenden Ideologie. Im Gegenteil ist der ›Theaterstaat‹ für Geertz ein Ausdruck grundlegender Eigenschaften der balinesischen Kultur (Geertz 1980). Darüber hinaus ist eine ›Ideologie‹ für Geertz ein bewusst geschaffenes kulturelles Modell, das gesellschaftsstabilisierend sein soll und nicht in erster Linie ein Mittel des Machterhalts ist (Geertz 1973: 193233). Geertz’ Argumentation ist damit explizit gegen marxistische oder politökonomische Modelle gerichtet, die Kultur als eigenständige, bedeutungsstiftende Kategorie ablehnen (siehe Kumoll 2005).

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ves‹ Think, erscheint es demgegenüber eine Manipulation der hawaiianischen Bevölkerung durch die Eliten gegeben zu haben. In ›Captain Cook at Hawaii‹ kritisiert Sahlins jedoch die These, dass die hawaiianischen Eliten die Bevölkerung manipulierten. Cooks Empfang, so Sahlins, war spontan und nicht das Ergebnis einer Beeinflussung der Bevölkerung durch die hawaiianischen Eliten (Sahlins 1989: 413). Besonders ausgeprägte Unterschiede hinsichtlich der hawaiianischen Interpretation von James Cook sieht Sahlins innerhalb der Eliten: Der Graben verlief zwischen den Lono-Priestern, die in der Nähe des Haupttempels lebten, und den Häuptlingen. Allerdings ging es hier nicht um die Frage, ob Cook als Manifestation Lonos angesehen wurde, sondern eher um die angemessene Handlungsweise gegenüber dieser Manifestation. Den Häuptlingen ging es um Totalität und Unsterblichkeit der hawaiianischen Gesellschaft, für die Häuptlinge standen ihre eigenen Interessen und die ihrer Lineages im Vordergrund (IG: 122). Ob die Hawaiianer von Beginn an mehrheitlich davon überzeugt waren, dass sie tatsächlich eine Verkörperung Lonos besuchte, ist zunächst eine empirische Frage; mit ihr ist aber auch ein kulturtheoretisches Problem verknüpft. Die von ihm so gesehenen Widersprüche zwischen Sahlins’ Interpretation in ›Captain Cook at Hawaii‹ und How ›Natives‹ Think hält Victor Li für Sahlins’ Versuch, angesichts unterschiedlicher hawaiianischer Interpretationen über James Cook und der Manipulationen dieser Interpretationen seitens der hawaiianischen Eliten am Modell des kulturellen Holismus festzuhalten (Li 2001: 221) Victor Li stellt aber gerade Sahlins’ Referenzrahmen – eine allgemein geteilte hawaiianische Kultur, durch die hawaiianische Interpretationsunterschiede erst ihren ›Sinn‹ erhielten – in Frage. In meinen Augen hat Li Recht mit seiner Kritik, dass die hawaiianische Kultur in Sahlins’ Ansatz zuweilen als zu homogen erscheint. Tatsächlich zieht Sahlins die Überlagerung unterschiedlicher Interpretationsschemata, die jeweils verschiedene Interpretationsmöglichkeiten von Situationen für die Akteure bereitstellen und nicht wiederum in einer übergreifenden kulturellen Struktur aufgehen, kaum in Betracht.16 Obeyesekere und Li kritisieren an Sahlins’ Konzept kultureller Homogenität, dass durch die These, Kulturen seien homogen, die politische Realität aus dem Blickfeld der Theoriebildung gerät. Sahlins’ Interpretationsstrategie, so Li, setzt sich dem Verdacht aus, jede bedeutungsvolle Handlung der Hawaiianer zu kulturalisieren, sie also auf deren mythologische Strukturen zurückzuführen (Li 2001: 231). Dieses Argument ist allerdings irreführend, denn Sahlins kritisiert nicht die Annahme ›politischer‹ Motive sozialen Handelns, sondern plädiert allein für die These, dass diese Motivationen ihren ›Sinn‹ erst im Rahmen einer kulturellen Ordnung erhalten. Zudem betont Sahlins an manchen Stellen die Macht der Herrschenden, ein bestehendes kulturelles System zu manipulieren und die eigene Interpretation zu universalisieren. Diese Handlungsweise erscheint allerdings wie16 Siehe Borofsky 1997: 258; Geertz 2000: 106; Sewell 2001; Valeri 1994: 114.

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derum Ausdruck eines spezifischen positionengebundenen Interesses. Sahlins’ kultureller Holismus, den er in seinen Analysen über James Cooks Tod vertritt, hat damit auch Folgen für seine Aussagen über individuelle Flexibilität. Sahlins betont, dass kulturelle Kategorien bestimmte Interpretationen nicht vorschreiben, sondern eher als ein Interpretationsraum verstanden werden sollten (NT: 205). Deshalb erscheint auch Raum für eine kreative und flexible Deutung von Ereignissen bzw. Umdeutung kultureller Kategorien. Sahlins lenkt sein Augenmerk jedoch nicht auf den individuellen Prozess der Bedeutungskonstituierung, sondern versteht ihn eher als gesellschaftlichen Prozess. Kreativität und Flexibilität sind in Sahlins’ Ansatz also durchaus angelegt; das Konzept kultureller Homogenität steht der Entfaltung dieses Konzepts aber noch im Wege. Sahlins untersucht die Handlungsweisen einzelner hawaiianischer Akteure vor dem Hintergrund der allgemein geteilten hawaiianischen Kultur und vernachlässigt deshalb die Möglichkeit der selbstreflexiven Umdeutung kollektiv geteilter Sinnsysteme. Die an Sahlins geübte Kritik, er vertrete einen Ansatz kultureller Homogenität und vernachlässige das Durchbrechen kultureller Schemata, scheint mir nur dann weitgehend berechtigt, wenn man sich auf Sahlins’ Analysen über James Cooks Tod beschränkt. Doch bereits hier sind Sahlins’ Aussagen komplexer, als dies in der Kritik an seinem Ansatz zuweilen erscheint; insbesondere ist die an Sahlins vorgebrachte Kritik, er vertrete einen kulturellen Determinismus, nicht berechtigt, denn wie Sahlins bereits in Historical Metaphors ausführlich analysiert, bewirkte der Kulturkontakt 1778/79 letztlich eine fundamentale Umwertung hawaiianischer kultureller Kategorien. In der Sahlins-Obeyesekere-Debatte sind darüber hinaus Sahlins’ Arbeiten, die sich nicht mit den Ereignissen, die zu Cooks Tod geführt haben, weitgehend vernachlässigt worden. Wie ich bereits in Kapitel IV gezeigt habe, entwickelt Sahlins in seinen Analysen von James Cooks Tod eine Theorie kultureller Kreativität, in der kulturelle Kategorien umgedeutet werden, im Unterschied zu bloßem habitus-basierten Handeln, das weitgehend unbewusst erfolgt und in dem kulturelle Kategorien in erster Linie angewendet, nicht aber reflexiv umgedeutet werden. In seinen Untersuchungen zu den Prozessen des develop-man und insbesondere des Übergangs von develop-man zu development, entwickelt Sahlins einen dritten handlungstheoretischen Ansatz, in dem kulturelle Kategorien nicht nur umgedeutet, sondern selbstreflexiv durchbrochen werden. Sahlins bleibt zwar dahingehend vage, inwieweit der Prozess der humiliation eine bewusste Abkehr indigener kultureller Kategorien impliziert oder ob auch der Vorgang der humiliation seine Wurzeln in indigenen kulturellen Kategorien hat. Unabhängig von dieser Unklarheit entwickelt Sahlins aber in seinem Ansatz der humiliation ein Szenario kultureller Destabilisierung, das in der Sahlins-Obeyesekere-Debatte übersehen worden ist. Es stimmt zwar, dass der Ansatz der humiliation in Sahlins’ Werk bis heute nicht den gleichen Stellenwert zu haben scheint wie seine Analysen des hawaiianischen first-contact-Szenarios; nichtsdestotrotz ist dieser Ansatz integraler Bestandteil von Sahlins’ Gesamtwerk. Darüber hinaus finden sich in einigen von Sahlins’ neueren Arbeiten An-

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satzpunkte für eine Modifizierung des von ihm vertretenen kulturellen Holismus. So sehr also Sahlins zuweilen in seinen Analysen von Cooks Tod die Widersprüchlichkeiten der hawaiianischen Kultur zu begradigen droht, so sehr verliert Sahlins’ Ansatz in der Sahlins-Obeyesekere-Debatte aber auch einiges von seiner konzeptionellen Vielfalt und Komplexität, die nur sichtbar wird, wenn Sahlins’ Gesamtwerk in die Analyse einbezogen wird. Anstatt wiederholt auf den angeblichen kulturellen Determinismus Sahlins’ oder den von ihm vertretenen Ansatz kultureller Homogenität hinzuweisen und Sahlins’ Ansatz einfach zu verwerfen, halte ich es deshalb für weiterführender, Sahlins’ Analyse von James Cooks Tod aus der Perspektive seines eigenen Ansatzes zu kritisieren, zu erweitern und damit zu einem komplexeren Verständnis des Kulturkontakts 1778/79 zwischen Hawaiianern und Europäern zu gelangen. Welche Richtung eine solche Analyse einschlagen könnte, deutet Sherry Ortner in ihrem Kommentar zur Sahlins-Obeyesekere-Debatte an. Ortner weist nämlich darauf hin, dass es in der Debatte zwischen Sahlins und Obeyesekere zwar um die Frage ging, ob James Cook für die Hawaiianer einen göttlichen Status besaß, dass aber Sahlins auf eine zentrale Motivation von Obeyesekes Kritik überhaupt nicht eingegangen ist: »there is a strand of Obeyesekere’s book that I found very compelling and that – unless I missed something in the extraordinary detail of Sahlins’ response – Sahlins never refuted. Obeyesekere foregrounded incidents in which Cook, the other British captains, and the crewmen all regularly committed acts of humiliation and violence vis-a-vis the Hawaiians« (Ortner 1996: 6).

Obeyesekere verweist also auf eine Eigenschaft der structure of the conjuncture, mit der sich Sahlins in seiner Analyse der Ereignisse, die zu Cooks Tod führten, nicht beschäftigt, nämlich »systematic practices of power and domination, and small and large acts of resistance, that shadowed the economic, sexual, and cultural exchanges« zwischen Hawaiianern und Europäern (Ortner 1996: 6). Sahlins hat diesen Einwand Obeyesekeres ignoriert, doch mit Sahlins’ eigenem Ansatz der ›Erniedrigung‹ ließen sich auch diese Aspekte des Kulturkontakts zwischen Hawaiianern und Europäern untersuchen. Dies bedeutet allerdings, dass das Konzept der humiliation nicht mehr, wie noch bei Sahlins, ausschließlich die cultural desert zwischen develop-man und development bezeichnet.

3. »Different Cultures, Different Rationalities«? Ein weiterer zentraler Streitpunkt zwischen Sahlins und Obeyesekere ist die Frage nach der kulturellen Relativität der hawaiianischen Gesellschaft des späten 18. Jahrhunderts. In Sahlins’ Augen gibt es keine inter-kulturelle, universale Rationalität; Rationalitätsformen sind vielmehr kulturspezifisch. Die Rationalität der

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Hawaiianer wurde durch andere kulturelle Bedeutungsgebilde definiert und kann nicht auf eine westliche Form der Rationalität verkürzt werden. Sahlins’ Kulturtheorie ist nicht nur eine Theorie der Kultur, sondern auch eine Theorie unterschiedlicher Kulturen: Während es im ersten Fall um die Frage geht, welche Rolle kulturelle Schemata für soziales Handeln spielen, steht in Sahlins’ Theorie kultureller Differenzen die Frage im Mittelpunkt, welche Unterschiede es zwischen unterschiedlichen Kulturen gibt. Damit ist Sahlins’ Konzept eine Fortführung des boasianischen Verständnisses von Kultur. Boas’ Theorie repräsentiert einen Wandel des Kulturkonzepts von einem evolutionistischen Modell, wie es Edward B. Tylor vertritt, zu einem Verständnis von Kultur als nichthierarchische und vielfältige Lebensweisen (Stocking 1987: 302). Stocking argumentiert, es sei angemessen, die moderne Ethnologie nicht als Wissenschaft über die Kultur zu bezeichnen, sondern eher als Wissenschaft über die Kulturen. Auch Bernard McGrane kommt zu dem Ergebnis, dass der Begriff Kultur erst im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert Differenz impliziert (McGrane 1989: 113). In How ›Natives‹ Think situiert Sahlins die Debatte zwischen ihm und Obeyesekere in den Kontext des weitreichenden Kampfes zwischen dem aufklärerischen universalistischen Konzeptes der Zivilisation und »[t]he anthropological concept of culture as a specific form of life« (NT: 12), der im deutschen romantischen Denken entstand. Während McGrane den Ursprung des modernen ethnologischen Konzepts kultureller Vielfalt im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert situiert, argumentiert Sahlins, dass die wahren Ursprünge dieses Konzepts im 18. Jahrhundert liegen – insbesondere im Denken von Johann Gottfried von Herder. »Defending a national Kultur at once against the rationalism of the philosophes and a Francophile Prussian court, Herder (most notably) opposed ways of life to stages of development and a social mind to natural reason« (NT: 11). Auch die Debatte zwischen ihm und Obeyesekere sieht Sahlins als Ausdruck des Gegensatzes von ›praktischer‹ und ›kultureller‹ Vernunft, den er bereits in Culture and Practical Reason analysiert. Obeyesekere stimmt mit dieser Charakterisierung nicht überein; sein Kulturkonzept erschließt sich, wenn nicht nur The Apotheosis of Captain Cook in die Analyse mit einbezogen wird, sondern auch die Lewis Henry Morgan Lectures, die Obeyesekere 1982 an der University of Rochester hält und die 1990 als The Work of Culture publiziert werden (Obeyesekere 1990). Eine dem Buch zu Grunde liegende Frage ist die, ob die Psychoanalyse Freuds, und hier insbesondere Freuds Konzept des Ödipuskomplexes, universell oder eher kulturspezifisch ist. Obeyesekere weist die Universalität des Ödipuskomplexes zwar zurück, hält aber an der Relevanz des Freud’schen Ödipuskomplexes für die Entwicklung einer allgemeinen Theorie menschlichen Begehrens fest. Obeyesekere argumentiert, dass es einen Ödipuskomplex gibt, der eine universale »ontological anchorage« in der menschlichen Natur hat, doch in unterschiedlichen Kulturen erscheinen nur einzelne Segmente in unterschiedlichen Ausformungen (Obeyesekere 1990: 93). »The fact that, according to my thinking, unconscious thought

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processes are universal does not mean that the unconscious is structured in an identical manner cross-culturally or that the cultural forms embodying such processes are necessarily universal« (AP: 231). Der Freud’sche Ödipuskomplex ist deshalb nur die kulturspezifische Variante eines Komplexes menschlichen Begehrens, das in »the phylogenetically grounded human family« aufzufinden ist (Obeyesekere 1990: 94). Obeyesekere betont, dass es keine absolute ontologische Fundierung der Sozialwissenschaften geben kann, »since the very historicity of our being prevents that« (Obeyesekere 1990: 105). Allerdings glaubt er bereits in The Work of Culture, dass der kulturelle Relativismus nicht weiterführend ist, da er letztlich die Möglichkeit ethnologischen Wissens und interkultureller Verständigung ausschließt. Darüber hinaus muss auch der kulturelle Relativismus, so Obeyesekere, eine universale menschliche – letztlich biologische – Eigenschaft zum Symbolisieren voraussetzen. Daran schließt Obeyesekere in The Apotheosis of Captain Cook an: »The notion of practical rationality […] links us as human beings to our common biological nature and to perceptual and cognitive mechanisms that are products thereof. These perceptual and cognitive mechanisms are also not ›culture free‹; but neither is culture free from them. The fact that my universe is a cultually constituted behavioral environment does not mean I am bound to it in a way that renders discrimination impossible« (AP: 21).

Obeyesekere vertritt also keineswegs, wie Sahlins argumentiert, einen radikalen Naturalismus. Vielmehr ist Obeyesekere bemüht, die Existenz universaler biologischer Eigenschaften mit kulturspezifischen Symbolisierungen zu verknüpfen. Eine gemeinsame Biologie hat nicht, so Obeyesekere, eine gemeinsame Kultur zur Folge; Kultur ist aber auch nicht so dominant, dass sie die gemeinsame biologische Ausstattung des Menschen negiert (AP: 230). Demgegenüber argumentiert Sahlins, eine solche Haltung würde in einer »anti-anthropology« enden: »Since he [Obeyesekere] opposes this rationality to cultural particularity, the contention here is a pure negation of anthropological knowledge« (NT: 151), unter anderem, weil Obeyesekeres Argument, so Sahlins, einem biologischen Determinismus nahekommt (NT: 149-150). In den Augen Sahlins’ gibt es keinen direkten Zugang zur Realität: »there is no such thing as an immaculate perception« (IH: 146). Jede Kultur tendiert dazu, so Sahlins, daran zu glauben, dass ihre Sicht der Welt objektiv ist, auch wenn dieser Glaube tatsächlich relativ zu den jeweiligen kulturellen Kategorien ist (NT: 155). Sahlins’ Kritik an Obeyesekeres Ansatz – zumindest wie Sahlins ihn versteht –, erschließt sich noch besser, wenn sowohl Sahlins’ Frühwerk einschließlich Stone Age Economics als auch seine 1996 erscheinende Arbeit ›The Sadness of Sweetness‹ berücksichtigt werden (Sahlins 1996; CP: 527-583). Bereits Sahlins’ wirtschaftsethnologische Arbeiten verweisen nicht nur auf die Konstitution so

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genannter ›primitiver‹ Gesellschaften, sondern liefern auch eine Sicht auf die kulturellen Strukturen moderner Gesellschaften. Wie Sahlins in ›The Original Affluent Society‹ argumentiert, gehört es zu den konstituierenden Merkmalen moderner Gesellschaften, dass ihre Mitglieder glauben, unstillbare Bedürfnisse zu besitzen. In Culture and Practical Reason entwickelt Sahlins diese These weiter und argumentiert, dass westliche Gesellschaften – Sahlins konzentriert sich offensichtlich insbesondere auf die USA – sich über den Konsum definieren und der Konsum eine der bestimmenden Grundlagen der symbolischen Organisation der Wirklichkeit für westliche Gesellschaften ist. In Sahlins’ Analysen ozeanischer Gesellschaften seit den späten 1970er Jahren sowie in der Theorie der ›Indigenisierung der Moderne‹, die Sahlins seit den späten 1980er Jahren entwickelt, geht es zwar in erster Linie um nicht-westliche Gesellschaften und deren historischer Entwicklung im Rahmen der europäischen Expansion; Sahlins hat allerdings bis heute die Analyse der kulturellen Grundlagen westlicher Gesellschaften nicht vollständig vernachlässigt. In seiner Sidney W. Mintz Lecture aus dem Jahr 1994 versucht Sahlins, historische und insbesondere philosophiegeschichtliche Grundlagen für die Entwicklung utilitaristischer Theorien herauszuarbeiten. Sahlins verknüpft diese Untersuchung mit der europäischen Expansion und verdeutlicht die Bedeutung des Utilitarismus als westliche kulturelle Struktur für den weltgeschichtlichen Prozess der europäischen Expansion. Erst vor dem Hintergrund von ›The Sadness of Sweetness‹ (Sahlins 1996) wird die Reichweite von Sahlins’ historischen Arbeiten zur europäischen Expansion, insbesondere ›Cosmologies of Capitalism‹ (Sahlins 1988a), deutlich.17 Ausgangspunkt von Sahlins’ Analyse ist Sidney Mintz’ Studie Sweetness and Power, in der Mintz eine Kulturgeschichte des Zuckers entwirft (Mintz 1985). In ›The Sadness of Sweetness‹ ist Sahlins allerdings, im Gegensatz zu ›Cosmologies of Capitalism‹, weniger an einer Analyse interkultureller Handelsbeziehungen interessiert, sondern an den kulturellen Grundlagen des westlichen Begehrens für den Zucker, also für »the indigenous conceptions of human existence that, at a particular historical juncture, gave sweetness its economic functionali17 Zu den wenigen Ethnologen, die die in ›The Sadness of Sweetness‹ entwickelten Gedanken fruchtbar weiterentwickelt haben, gehört Michael W. Scott (2004). – Obeyesekere stellt übrigens die These auf, dass Sahlins in seinem kulturalistischen Werk eine Dichotomie zwischen vormodernen und modernen Gesellschaften aufbaut, wobei vormoderne Gesellschaften durch Kultur determiniert seien, währenddessen sich moderne Gesellschaften von den Saussure’schen ›Zeichen‹ emanzipiert hätten (AP: 193). Dies ist eine Missrepräsentation von Sahlins’ Theorie, denn Sahlins geht natürlich davon aus, dass in allen Gesellschaften Kultur eine entscheidende Rolle für soziales Handeln spielt und das Soziale letzten Endes erst durch Kultur konstituiert wird. Diese Überlegung zieht sich durch Sahlins’ gesamtes kulturalistisches Werk, also von Culture and Practical Reason über ›The Sadness of Sweetness‹ bis hin zu Apologies to Thucydides (Sahlins 2004a), in der Sahlins unterschiedliche Aspekte der US-amerikanischen Gesellschaft auf der Grundlage seines kulturhistorischen Ansatzes analysiert.

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ty« (CP: 527). Die Wurzeln für dieses westliche Begehren sieht Sahlins in der christlichen Religion, genauer: im menschlichen Sündenfall. Bekanntlich verführt die Schlange die Menschen zum Genuss von Früchten des verbotenen Baums des Wissens. Gottes Strafe ist hart: Der Mensch wird aus dem Paradies vertrieben, erleidet fortan große physische Schmerzen und wird sterblich. Die biblische Geschichte vom Sündenfall bildete, so Sahlins, die Grundlage für die fundamentale Unterscheidung zwischen göttlicher Perfektion und der radikalen menschlichen Unvollkommenheit. Der Sündenfall scheint zudem zu implizieren, dass das Böse der Schöpfung nicht vorausgeht oder mit der Schöpfung erschaffen wird, sondern eine historische Dimension besitzt; das Böse und das Verwerfliche werden erst durch menschliche Taten erschaffen. Damit unterscheidet sich die christliche Schöpfungsgeschichte von vielen anderen nicht-westlichen origin myths. »It is true that in a fair number of other mythologies the origin of death – and/or the origin of hunger and toil – is laid to the violation of a divine admonition by a legendary trickster or ancestral hero. Yet even if these faults were due to perversity rather than folly, they did not produce an inherently wicked humanity, banished from the presence of God to a purely natural and antithetical world of thorns and whistles« (CP: 528-529).

Der Mensch ist in dieser christlichen Tradition, die vor allem Augustinus’ Philosophie viel verdankt, gewissermaßen der ursprüngliche Komplize des Bösen und in seiner historischen Verfasstheit prädestiniert für das Böse. Eine weitere Folge des Sündenfalls ist epistemologisch. Vor der Vertreibung aus dem Paradies war Adam in der Lage, die Tiere so zu benennen, wie sie wirklich waren. Der Sündenfall führte zu einem Verlust dieses beinahe göttlichen Wissens. Der Mensch wurde zu einer Ignoranz verdammt, die so fundamental ist wie seine Sündenhaftigkeit, denn er ist »hopelessly separated from God’s truth« (CP: 530). Diese epistemologische Trennung zwischen Mensch und Natur wird zudem begleitet von einer Trennung zwischen den Menschen. »Relations between societies were marked by the incomprehension and strife of Babel – a fitting sequitur to this second attempt of men ›to be as gods‹. And if within societies people concealed their true (internal) selves from one another, how could their association have been founded on anything but this dissimulation, given that mankind had been committed to self-love from the Fall?« (CP: 530)

Diese Trennungen zwischen Mensch und Natur auf der einen und zwischen Menschen auf der anderen Seite findet ihren Ursprung in der menschlichen Begrenztheit, im Unterschied zur zeitlosen Perfektion Gottes. »Human finitude was the root of all evil. Both the cause and the crime consisted in the nature of man as an imperfect creature of lack and need« (CP: 530). Indem der Mensch die Liebe zu

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sich über die Liebe zu Gott stellte, wurde er der Sklave seiner eigenen Bedürfnisse. Bis zu Adam Smiths Zeit wurde diese Tradition menschlichen Elends positiv gewendet in eine Wissenschaft darüber, wie unstillbare menschliche Bedürfnisse am besten zu befriedigen seien. Dieses Szenario der Ökonomie »was the same miserable condition envisioned in Christian cosmology, only bourgeoisified, an elevation of free will into rational choice, which afforded a more cheerful view of the material opportunities afforded by human suffering« (CP: 531). Damit weist die moderne Wirtschaftswissenschaft für Sahlins ein weitgehend vergleichbares Menschenbild auf wie die biblische Schöpfungsgeschichte, ungeachtet dessen, dass der Aufstieg des Kapitalismus eng verknüpft ist mit der Befreiung des Menschen aus dem Gefängnis christlicher Moral. Der Wandel, der sich im westlichen Menschenbild vollzog, liegt für Sahlins in einer veränderten Wertigkeit menschlichen Mangels. In der Interpretation von Augustinus erscheint der menschliche Mangel noch als eine Fessel, während er in der ›liberal-bourgeoisen‹ Sichtweise der menschlichen Nutzenmaximierung zum Ausdruck menschlicher Freiheit wird. Eng damit verknüpft ist eine moralische Umwertung, denn während Augustinus die Verwerflichkeit menschlicher Bedürfnisse in den Mittelpunkt stellt, werden diese für Hobbes natürlich.18 Der menschliche Mangel wird sogar, wie etwa bei Helvétius, der Existenzgrund von Gesellschaft. Diese Überlegung, dass das individuelle Selbstinteresse das fundamentale Band ist, das Gesellschaft zusammenhält, findet sich Sahlins zufolge bei Vico und Machiavelli, verschiedenen Aufklärungsphilosophen, den englischen Utilitaristen oder, in der Gegenwart, der Chicago School of Economics. Eine Version dieses Utilitarismus in der Ethnologie ist in Sahlins’ Augen der Malinowski’sche Funktionalismus, der Kultur auf gesellschaftliche Erfordernisse zurückführt.19 »Over the long run, the native Western anthropology proved to be an extended exercise in the sublimation of evil. Yet through all these happy metamorphoses, the sad figure of needful man remained the invariant« (CP: 533). Sahlins führt in seinem Essay weitere Beispiele des westlichen Utilitarismus auf, in denen die christliche Argumentationsfigur von der Erbsünde fortgedacht und umformuliert wird. Die Soziobiologie – so Sahlins – geht wie auch die ökonomische Neoklassik von einer menschlichen Natur aus, die subjektive Bedürfnisse, die auf dem kapitalistischen Markt befriedigt werden, als etwas körperlich und damit biologisch Verankertes erscheinen lässt. Damit reformuliert die Sozio18 Eine Folge dieser Umwertung ist, wie Sahlins hervorhebt, die zwischenzeitliche Entwicklung einer Theorie, die ähnliche Gesetzmäßigkeiten menschlichen Verhaltens herauszuarbeiten suchte wie die Naturgesetze der Newton’schen Physik. »Here was a law of motion of human bodies as comprehensive as the law of gravitation. In Hobbes’s terms, men move to those things that give them pleasure and from those that cause them pain« (CP: 532-533). 19 Hier führt Sahlins eine Argumentation fort, die er in Culture and Practical Reason entwickelt (siehe dazu Kapitel III); dort geht es ihm allerdings nicht um die Beziehung dieser Denktradition zu christlich-jüdischen Denkfiguren.

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biologie eine indigene Kosmologie als eine bloße Reflexion oder als ein Effekt biologischer Erfordernisse (CP: 540). In Sahlins’ Augen spiegelt die von ihm untersuchte westliche anthropology of biology allerdings nicht biologische Bedürfnisse wider; vielmehr konnte die Soziobiologie in Sahlins’ Augen nur im Kontext einer Marktökonomie entstehen, in der die christliche Idee des menschlichen Mangels positiv gewendet wird und als Grundlage menschlicher Handlungsfähigkeit im kapitalistischen Marktsystem erscheint (siehe bereits Sahlins 1976b). Sahlins schließt sich hier Clifford Geertz’ Kritik an der These an, die biologische Natur des Menschen determiniere ihre kulturellen Hervorbringungen (Geertz 1973: 33-83). Wenn überhaupt, so Sahlins, ist das Umgekehrte wahr: Die menschliche Natur wurde von der symbolischen Organisation der Wirklichkeit determiniert. »Culture was not simply added on to an already completed human nature; it was decisively involved in the constitution of the species, as the salient selective condition […] The great selective pressure in hominid evolution has been the necessity to organize somatic dispositions by symbolic means« (CP: 546).

Auch die in Sahlins’ Augen exzessive Beschäftigung mit ›Macht‹ in der westlichen Philosophie und den westlichen Sozialwissenschaften verdankt Augustinus’ paradigmatischer Interpretation der Genesis die konzeptionelle Grundlegung. Augustinus’ pessimistische Einschätzung der menschlichen Geschichte findet in Sahlins’ Augen ihren Niederschlag in Thomas Hobbes’ Theorie über den Ursprung des Staates und der Gesellschaft, denn sowohl Augustinus als auch Hobbes haben ein Bild des Menschen »made vicious and fearful of one another by a restless search for power after power« (CP: 548). Diese Denktradition, so Sahlins, findet in der Ethnologie eine Fortsetzung in der französischen Theorietradition um Durkheim und Mauss, insbesondere in der Denkfigur der Gabe als ›primitiver‹ Gesellschaftsvertrag,20 oder auch in Michel Foucaults Machttheorie. »Everything happens as if we had been waiting for Foucault. In his dark vision of society as a totalized system of coercive power, Foucault becomes the modern prophet of the Hobbesian-cum-Judeo-Christian anthropology« (CP: 553).21 Auch die empirizistische Idee einer unabhängig vom Menschen existierenden Realität führt Sahlins auf religiöse Denkfiguren zurück: »it was Christianity and before 20 Sahlins rückt hier von seiner in Stone Age Economics entwickelten Wirtschaftsethnologie ab, denn die These, die Gabe sei ein ›primitiver‹ Gesellschaftsvertrag, erscheint Sahlins in seinen Veröffentlichungen seit Culture and Practical Reason nicht mehr als grundlegend für seinen eigenen Ansatz, sondern als Ausdruck einer zu überwindenden utilitaristischen Theorietradition, in der soziale Institutionen weitgehend auf ihre Funktionen reduziert werden. 21 Dabei übersieht Sahlins keineswegs den bedeutenden konzeptionellen Schritt von Hobbes zu Foucault hinsichtlich des Verständnisses von Macht. »If by the Hobbesian contract the subjects constitute an omnipresent power, in the Foucauldian view an omnipresent power constitutes the subjects« (CP: 553-554).

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that Judaism that first disenchanted nature, rendering it merely an object for humankind many centuries before its exploitation by capital – which religion had thus prepared« (CP: 561-562). Die jüdisch-christliche Absatzbewegung vom Panthesismus ist in Sahlins’ Augen deshalb auch eine wichtige Grundlage für den westlichen Subjekt-Objekt-Dualismus. Sahlins entwickelt in ›The Sadness of Sweetness‹ die These, dass es eine philosophische Kontinuität von Augustinus’ Interpretation der biblischen Schöpfungsgeschichte zum Utilitarismus gibt. Aus einer philosophiegeschichtlichen Perspektive kann Sahlins’ These wohl dahingehend kritisiert werden, dass seine Interpretation dieser westlichen philosophischen Tradition möglicherweise zu pauschal bzw. essentialistisch ist und alternative Entwicklungslinien des christlich-jüdischen Denkens vernachlässigt (siehe Bargatzky 1996). Sahlins ist sich dieses Einwands allerdings bewusst und betont am Anfang seines Essays, in seiner Interpretation dieser ›westlichen Kosmologie‹ werde nur am Rande auf alternative Traditionen eingegangen, ohne die der Essay überhaupt nicht hätte geschrieben werden können (CP: 528). Sahlins’ behauptet nicht, dass die westliche Philosophie bzw. die westlichen Sozialwissenschaften sich im Allgemeinen durch einen inhärenten Utilitarismus definieren; vielmehr geht es ihm darum, die philosophiegeschichtliche Verknüpfung eines für ihn heute dominanten westlichen ›Diskurses‹ mit der frühchristlichen Interpretation der biblischen Schöpfungsgeschichte herauszuarbeiten. Aus einer werkgeschichtlichen Perspektive erscheint mir Sahlins’ These bemerkenswert, weil Sahlins – wie auch bereits zuvor in Culture and Practical Reason – explizit betont, dass die westliche Gesellschaft eine Kultur ist, also deren Mitglieder eingebunden sind in ein System bedeutungsvoller Unterschiede. In ›The Sadness of Sweetness‹ arbeitet Sahlins heraus, dass auch die westlichen Wissenschaften Teil dieser Kultur sind und damit fundamentale symbolische Charakteristika der westlichen Kosmologie widerspiegeln bzw. verkörpern. Zudem betont Sahlins, dass die modernen westlichen Wissenschaften immer noch grundlegende christliche Denkfiguren aufweisen; die Entwicklung neuzeitlicher Wissenschaft bedeutet in Sahlins’ Augen keine endgültige Überwindung religiösen Denkens, sondern im Gegenteil eine Weiterführung (wenn auch zugleich Umformulierung) der christlich-jüdischen philosophischen Tradition.22 Welche Rolle spielt Sahlins’ eigenes Kulturkonzept in diesem philosophiegeschichtlichen Panorama? Sahlins folgt zunächst Norbert Elias’ bekannter Unter22 Man könnte nach der Lektüre von Sahlins’ Essay zu dem Schluss kommen, dass erst die westliche Trennung von Gott und Natur letztere zu einem bloßen Objekt menschlicher Ausbeutung werden ließ, weil in ihr nichts Göttliches mehr gesehen wurde. Dieser Überlegung wird von Thomas Bargatzky widersprochen. »Erosion, the destruction of plant and animal species, excessive exploitation of natural resources, deforestation, and man-made-ecological desasters have occurred at all times and all over the world and are not peculiar to the Judeo-Christian tradition« (Bargatzky 1996: 416).

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scheidung zwischen Kultur und Zivilisation. Das Konzept der Zivilisation »entailed the presupposition of an original, brutish creature whose antisocial dispositions are gradually brought under control through a process of domestication« (CP: 553), also den von Elias analysierten ›Prozess der Zivilisation‹. Im Gegensatz dazu entwickelte Johann Gottfried Herder und im Anschluss daran Franz Boas das Konzept der Kultur, das Sahlins in seinen Veröffentlichungen seit Culture and Practical Reason auf einer strukturalistischen Grundlage weiterentwickelt. Sahlins erkennt an, dass das Kulturkonzept, das im 18. Jahrhundert entstanden ist, in seinem Entstehungskontext gewissermaßen als counterhegemonic discourse verstanden werden kann. »In the late eighteenth century […] an anthropological idea of culture emerges in a relatively underdeveloped region, in its demands of autonomy, in the face of the hegemonic ambitions of Western European imperialism« (Sahlins 2000b: 163). Herders Kulturkonzept ist in Sahlins’ Augen ebenso sehr eine Kritik an der Aufklärung wie eine Kritik des Kapitalismus und dessen zu Grunde liegendem Menschenbild. »So as against the large camp of philosophers (following Locke and Hobbes) were prepared to make corporeal pleasures and pains the basis of all knowledge, industry, and society, Herder understood people’s needs as determined and limited« (Sahlins 2000b: 164; siehe auch NT: 10-13). Diesen Bemerkungen ist zu entnehmen, dass Sahlins die Entwicklung des Kulturkonzepts als Überwindung der christlich-jüdischen Denktradition erachtet, die in Sahlins’ Interpretation in den unterschiedlichen Utilitarismen der westlichen Sozialwissenschaften lebendig bleibt. ›The Sadness of Sweetness‹ hat in Sahlins’ Gesamtwerk eine unterschätzte Bedeutung, denn diese Arbeit ist nicht nur werkgeschichtlich relevant, sondern kann auch als Komplement zu Sahlins’ Theorie über die ›Indigenisierung der Moderne‹ verstanden werden. An dieser Stelle ist ›The Sadness of Sweetness‹ auch aus einem anderen Punkt von Interesse. Hier finden sich nämlich mehrere radikale Kritikpunkte an westlichen Epistemologien, die für die Debatte zwischen Sahlins und Obeyesekere von hoher Bedeutung sind, insbesondere für die Frage, ob die Hawaiianer James Cook tatsächlich für einen Gott hielten; im Folgenden analysiere ich drei dieser Aspekte. Erstens geht es um den von Sahlins kritisierten Empirizismus, also seine Kritik an der These, die Hawaiianer hätten James Cook nicht mit ihrem Gott Lono ›verwechseln‹ können; zweitens beleuchte ich die westliche Trennung zwischen göttlicher und nicht-göttlicher Existenzsphäre, die in Sahlins’ Augen nicht auf die hawaiianische Kultur übertragen werden kann; der dritte Punkt ist die Unterscheidung zwischen ›Kultur‹ und ›Politik‹ für die Analyse sozialen Handelns. James Cook war, so Obeyesekere, »an English-speaking, un-Polynesian Lono with a smattering of Tahitian, accompanied by a large crew totally ignorant of the Hawaiian language and lifeways« (AP: 61). Darüber hinaus hält es Obeyesekere für unplausibel, dass die Hawaiianer keinen Unterschied machen konnten zwischen der physischen Form des Lono-Kanus und Cooks Schiffen (AP: 61). In den Augen Sahlins’ reduziert Obeyesekere allerdings die Hawaiianer auf europä-

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ische bourgeois empiricists und ignoriert nicht nur die kulturellen Grundlagen der Erfahrung, sondern auch die mythische Welt Hawaiis. In der hawaiianischen Mythologie sind Götter »transcendent, invisible, and originate in places beyond the horizon« (NT: 120); Götter haben für die Hawaiianer keine bestimmte Form, wie Sahlins argumentiert; deshalb ist es nicht möglich, Cook mit Lono zu ›vergleichen‹, wie Obeyesekere anregt, »to see if the percept matches the concept« (NT: 121). Nur weil Cook nicht aussah wie ein Hawaiianer, so Sahlins, kann man nicht schlussfolgern, er könne von den Hawaiianern nicht für einen ihrer Götter gehalten worden sein. Was für uns ein empirischer Widerspruch sein mag, musste für die Hawaiianer nicht als ein solcher erscheinen, da ihre kulturellen Schemata nicht ein bestimmtes Aussehen für ihre Götter ›vorschrieb‹ (siehe auch Thomas 1994: 119). Sahlins argumentiert, dass Wahrnehmungen immer rückgebunden werden an Konzepte, um bedeutungsvoll zu werden. Da Konzepte aber immer ›lokale‹ kulturelle Schemata sind, sind Wahrnehmungen kulturspezifisch und deshalb relativ zu einem gegebenen kulturellen Kontext (NT: 169, 179). An dieser Stelle tritt einmal mehr das Problem auf, dass es unklar ist, in welchem Maße kulturelle Konzepte Wahrnehmungen beeinflussen oder gar determinieren. »Sensory perceptions« sind nämlich keineswegs identisch mit »empirical judgments«, denn, so Sahlins, »the latter depends on criteria of objectivity which are never the only ones possible« (NT: 162-163). Sahlins vernachlässigt keineswegs die universalen Grundlagen menschlicher Erkenntnis, wie Obeyesekere ihm vorwirft. Er argumentiert, dass sensory perceptions vor dem Hintergrund kulturellen Wissens interpretiert werden; nur dadurch kommt ein – immer kulturspezifisches – ›empirisches Urteil‹ zustande.23 Auf konzeptioneller Ebene lässt Sahlins offen, in welchem Maße kulturelle Kosmologien tatsächlich die Wahrnehmungsfähigkeit von Menschen beeinflussen oder einschränken; auf empirischer Ebene argumentiert er allerdings eher für einen geringeren Wahrnehmungsspielraum für die Akteure. Sahlins’ Hawaiianer versuchen, die Ereignisse um James Cook mit ihren kulturellen Kategorien flexibel in Einklang zu bringen. Dies macht Sahlins aber noch nicht zu einem kulturellen Deterministen, denn in seinem Konzept kultureller Flexibilität gibt es keine strenge Kausalität zwischen kulturellen Kategorien und sozialer Praxis bzw. Wahrnehmung – der Streitpunkt ist eher, wie eng Kultur und Praxis bzw. Wahrnehmung tatsächlich miteinander verknüpft sind und ob es Potenziale kulturellen Lernens gibt.24 Vielmehr ist Sahlins’ These, dass unvorhergesehene Ereignisse wie James Cooks Erscheinen in Hawai’i 1778/79 vor dem Hintergrund der eigenen kulturellen Kategorien interpretiert werden, eine weiterführende Grundannahme, und Obeyesekeres empirischer Einwand ba23 Siehe dazu auch die Rekonstruktion des Zusammenhangs von sensory perceptions und empirical judgments in Sahlins’ How ›Natives‹ Think, die Stephen Reyna vorgenommen hat (Reyna 1999: 178-182). Reyna interpretiert Sahlins’ Modell als »neo-Lévi-Straussian because something new has been added, namely the realization that it is scanning that translates schema into practice« (Reyna 1999: 182). 24 Für eine diesbezügliche Kritik an Sahlins siehe Li 2001: 255.

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siert tatsächlich, wie Sahlins richtig hervorhebt, auf einem Empirizismus, der die kulturelle ›Färbung‹ von Wahrnehmungs- und Interpretationsweisen weitgehend ignoriert. Zum Problem wird eher Sahlins’ kultureller Holismus, der seinem Relativismus zu Grunde liegt. Sahlins argumentiert, dass Objektivität nichts Naturgegebenes ist, das sich direkt aus dem Objekt ableitet, sondern ein variabler sozialer Wert. Sahlins’ Betonung der kulturellen Kontextualität der Wahrnehmung basiert auf der Annahme einer lokalen kulturellen Ordnung, aus der sich Wahrnehmungsschemata ableiten. So genannte folk taxonomies sind, so Sahlins, eingebettet in eine lokale kulturelle Ordnung, währenddessen der westliche Realismus, den Sahlins in ›The Sadness of Sweetness‹ aus der christlichen Kosmologie herleitet, so tut, als sei er determinert durch die Dinge selbst (NT: 158). Die »folk classifications of plants and animals« sind mit vielen anderen Aspekten menschlicher Existenz eng verknüpft: »The categories are factored by their relationships to persons and purposes as socially constituted – to local distinctions of groups and genders, habitats and directions, times and places, modes of production and reproduction, categories of kinship, and concepts of spirit« (NT: 159).25

Dies ist eine kulturalistische Umformulierung von Mauss’ Paradigma der ›totalen sozialen Tatsache‹. Die Existenz kultureller Schemata wie indigene Klassifikationssysteme macht in Sahlins’ Augen nur Sinn, wenn diese im Kontext einer allgemeinen symbolischen Ordnung gesehen werden, die unterschiedliche Aspekte von Wahrnehmungsweisen und sozialer Praxis in einen übergreifenden, symbolisch konstituierten Kontext integriert. Sahlins’ These überbetont allerdings die fundamentale ontologische und epistemologische Eigenständigkeit unterschiedlicher kultureller Gebilde. Ontologisch ist Sahlins’ These, weil Sahlins davon ausgeht, dass es unterschiedliche Kulturen gibt, die sich jeweils durch eine eigene kulturelle Ordnung bedeutungsvoller Unterschiede definieren. Diese ontologische Differenz impliziert auch eine epistemologische Differenz, also die These, dass unterschiedliche Kulturen über jeweils unterschiedliche Interpretations- und Wahrnehmungsweisen verfügen. Wie ich bereits herausgearbeitet habe, ist Sahlins’ Ansatz kultureller Homogenität wenig weiterführend. Wenn Sahlins’ Modell kultureller Homogenität modifiziert wird, um die Überlappung unterschiedlicher, sich widersprechender kultureller Schemata sowie die daraus entstehenden interpretativen Konflikte der Akteure erfassen und konzeptualisieren zu können (siehe Reckwitz 2000), wird die Radikalität von Sahlins’ These unterschiedlicher Rationalitäten abgeschwächt. Doch auch wenn nicht mehr davon ausgegangen 25 Auch dies bedeutet für Sahlins eine kulturspezifische Abweichung von der westlichen Epistemologie, denn Sahlins argumentiert in ›The Sadness of Sweetness‹, dass die westliche native anthropology auf einer fundamentalen Trennung zwischen Subjekt und Objekt – also auch Mensch und Natur – basiert.

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wird, dass es homogene und radikal unterschiedliche kulturelle Ordnungen gibt, bleibt das Problem der Interpretation fremder Kulturen bestehen – denn die Hybridität von Kulturen impliziert ja nicht die Negation jeglicher kultureller Unterschiede. »Epistemologies vary in accord with worldviews (cultural ontologies)« (NT: 179), und obwohl world views nicht notwendigerweise in kulturell homogenen Gebilden aufgehen, erscheint mir Sahlins’ Kritik an Obeyesekeres Interpretationsstrategie berechtigt: In seiner Interpretation über die hawaiianische Wahrnehmung von James Cook repräsentiert Obeyesekere tatsächlich die empirizistische Tradition, die Sahlins in ›The Sadness of Sweetness‹ kritisiert.26 Die Frage, ob die Hawaiianer tatsächlich einen englischen Seemann mit einem ihrer Götter ›verwechseln‹ konnten, ist eng mit der Frage verknüpft, was ein ›Gott‹ im Kontext der hawaiianischen Kultur überhaupt ist. Für das Verständnis von Sahlins’ Position ist hier der zweite von mir in den Vordergrund gerückte Aspekt von ›The Sadness of Sweetness‹ relevant: die westliche Unterscheidung zwischen göttlicher und nicht-göttlicher Sphäre. In den Augen Obeyesekeres wurde Cook von den Hawaiianern nicht für einen Gott gehalten, sondern für einen Häuptling, und Obeyesekere kritisiert dementsprechend die These, dass die Hawaiianer davon ausgegangen seien, ihr Gott Lono sei persönlich zum Makahiki erschienen (Obeyesekere 1994: 147). Dies ist allerdings keineswegs Sahlins’ Argument, denn in den Augen Sahlins’ wurde Cook von den Hawaiianern für eine Manifestation ihres Gottes Lono gehalten.27 Der Unterschied zwischen Sahlins’ und Obeyesekeres empirischer Position ist weniger groß, als dies zunächst erscheint, denn »[f]or Polynesians, divinity was manifest in a variety of living things and people as well as in supreme deities; for them there was therefore nothing exceptional or outrageous in the identification of a priest, a chief or a powerful foreigner such as Cook with Lono or Ku« (Thomas 2003: 443). Nicholas Thomas und Anne Salmond halten Sahlins’ These, Cook sei von den Hawaiianern vergöttlicht worden, deshalb für plausibel (Salmond 2003: 485, Fn. 12; Thomas 2003: 443-444). Obeyesekere argumentiert sogar selbst, dass die hawaii26 Zwischen Obeyesekeres Interpretation des empirischen Materials, seinen konzeptionellen Aussagen in The Apotheosis of Captain Cook und denen in The Work of Culture gibt es bedeutende Unterschiede. Beispielsweise wendet Obeyesekere seine in The Work of Culture entwickelte psychoanalytische Position zumindest teilweise auf die Handlungsweise James Cooks und seiner Besatzungen an, nicht aber auf die hawaiianische Kultur. Darüber hinaus ist Obeyesekere vorsichtig genug, auf konzeptioneller Ebene in The Apotheosis of Captain Cook einen Empirizismus zu vermeiden, doch seine Interpretation des empirischen Materials kommt einem radikalen Empirizismus zuweilen bedenklich nahe. Obeyesekere argumentiert indes, dass er auch seinen Analysen in The Apotheosis of Captain Cook keineswegs einen universalistischen Empirizismus bzw. Utilitarismus zu Grunde legt: »in The Apotheosis itself I engage in the symbolic game much more than I do in the practical rationality game, in fact virtually everywhere!« (Obeyesekere 1994: 141) 27 Noch in seinem Nachwort zu The Apotheosis of Captain Cook, also 1997, wiederholt Obeyesekere die These, Sahlins würde behaupten, Cook sei von den Hawaiianern für »Lono in person« gehalten worden (Obeyesekere 1997: 212).

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anischen Häuptlinge etwas von einem göttlichen Status haben konnten (AP: 255), hält aber an seiner Interpretation fest, dass Cook – zumindest zu Lebzeiten – von den Hawaiianern nicht vergöttlicht wurde, also erst nach seinem Tod einen göttlichen Status erhielt (AP: 91). Valeri kritisiert an Obeyesekeres Argumentation, dass dieser die christliche Trennung zwischen göttlicher und nicht-göttlicher Sphäre in das hawaiianische Denken hineinprojiziert, um seine Argumentation voranzutreiben, die Hawaiianer hätten Cook nicht für einen Gott halten können. Die Beziehung zwischen Menschen und ›Göttern‹ – so Valeri – war in der hawaiianischen Mythologie hierarchisch und nicht dichotomisch. In den Augen Valeris wurde Cook als ein divine chief angesehen und hatte deshalb für die Hawaiianer göttliche Eigenschaften (Valeri 1985: 9-18, 144; Valeri 1994: 125-127).28 Insofern erscheint Obeyesekeres Sicht tatsächlich verfehlt, weil sie den lokalen kulturellen Kontext ignoriert, in dessen Rahmen eine Vergöttlichung von James Cook keineswegs ungewöhnlich anmutet. Wenn aber die hawaiianische Mythologie keinen fundamentalen Gegensatz zwischen göttlich und nicht-göttlich kennt – macht dann der Begriff ›Vergöttlichung‹ überhaupt noch einen Sinn? In Victor Lis Augen versucht Sahlins, die Hawaiianer zu exotisieren. Sahlins betone zunächst die Unterschiedlichkeit hawaiianischer und westlicher Glaubensvorstellungen. Die Idee der Vergöttlichung setzt für Li aber eine ontologische Trennung zwischen göttlicher und nicht-göttlicher Sphäre voraus, die Sahlins deshalb implizit wieder einführen muss. Die Vergöttlichung von James Cook seitens der Hawaiianer ist deshalb, so Li, ein Beispiel für die ethnologische Erfindung des Exotischen (Li 2001: 265). Aus der Sicht von Sahlins’ Konzept macht Lis Argumentation jedoch keinen Sinn, denn Sahlins operiert ja gerade nicht mit einem westlichen Begriff von Göttlichkeit, der eine ontologische Trennung von göttlicher und nicht-göttlicher Sphäre erfordern würde. Wie auch Dening argumentiert, nannten die Hawaiianer James Cook nicht ›Gott‹, sondern hielten ihn für einen akua (Dening 1996: 76). Wenn Sahlins also schreibt, die Hawaiianer hielten Cook für eine Manifestation ihres ›Gottes‹ Lono, impliziert der Begriff ›Gott‹ keine westlichen Assoziationen, sondern ist die Übersetzung eines hawaiianischen Begriffs. Nichtsdestotrotz sind die Assoziationen des Begriffs ›Vergöttlichung‹ problematisch, auch wenn dessen semantische Unvollkommenheit berücksichtigt wird. »Polynesians of 1778, having no vision of the supernatural as a separate sphere from the natural universe, could not have seen Cook as a ›god‹. To Westerners, ›god‹ means a supernatural being. An akua is a being of nature,

28 Siehe dazu auch Borofsky 1997: 259; Kane 1997: 265; Knauft 1993: 35; Tcherkézoff 2003. Auch Sahlins’ von mir in Kapitel IV analysiertes Konzept der heroic history impliziert, dass die westliche Unterscheidung zwischen göttlicher und nichtgöttlicher Existenzsphäre nicht auf die hawaiianische Kultur übertragen werden kann. – Kame’eleihiwa argumentiert demgegenüber, dass die Lono-Priester Cook für eine Manifestation von Lono hielten, der König und seine Krieger allerdings nicht (Kame’eleihiwa 1994a: 116-117).

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one of immense power, which may be an invisible spirit or a living person« (Kane 1997: 265).29 Lis Vorwurf, Sahlins würde die Hawaiianer exotisieren, ist eng mit einem alternativen Verständnis von Kultur und Praxis verknüpft, in dem Kultur und Politik voneinander weitgehend abgekoppelt werden. Dieser dritte Aspekt, den Sahlins in ›The Sadness of Sweetness‹ diskutiert, ist für die Frage nach der Relativität anderer Kulturen von besonderer Bedeutung. Die von Sahlins in ›The Sadness of Sweetness‹ kritisierte Trennung zwischen Kultur und Politik in der westlichen Kosmologie nimmt Li in seinem von Sahlins abweichenden interpretativen Ausgangspunkt vor: einer De-Exotisierung der Hawaiianer. Li argumentiert, dass die hawaiianische Weltsicht de-exotisiert werden könne, wenn die ungleichen Machtrelationen herausgearbeitet würden, die kulturelle Andersartigkeit lediglich verdecke. Kulturelle Differenzen entstehen, so Li, in spezifischen politischen und historischen Kontexten, sie werden produziert und sind nicht »culturally pregiven« (Li 2001: 266). Die Ethnologie soll sich demnach weniger auf das Studium des scheinbar Exotischen konzentrieren, sondern auf die diskursive und institutionelle Aufrechterhaltung und den Gebrauch kultureller Kosmologien. Dann würde auch klar, dass Auseinandersetzungen um Macht in der hawaiianischen Gesellschaft keine ritualisierten Ausdrucksweisen einer immer schon existenten Kosmologie seien, sondern »the worldly and pragmatic political practices to which we are accustomed« (Li 2001: 267). Sowohl Li als auch Obeyesekere interpretieren die hawaiianischen Handlungsweisen vor dem Hintergrund ihrer Handlungstheorien, die die Gemeinsamkeiten zwischen unterschiedlichen kulturellen Kontexten betonen. Obeyesekere stellt sein an Weber angelehntes Konzept der ›praktischen Rationalität‹ in den Vordergrund, währenddessen sich Lis Foucault’scher Blick auf die ungleichen Machtrelationen richtet, durch die kulturelle Differenzen sich erst artikulieren und die durch die scheinbare Fremdartigkeit sozialer Praktiken überdeckt werden. Kulturelle Schemata wie Mythen oder indigene Kosmologien sind für Li und Obeyesekere also eher die gesellschaftliche Oberfläche, die die eigentlichen Antriebe und Ursachen für soziales Handeln verdecken. Die relevante Interpretationsstrategie muss aus dieser Sicht soziale Praxis als Ausdruck ›praktischer Rationalität‹ (wie bei Obeyesekere) oder als Ausdruck der Schaffung und Aufrechterhaltung ungleicher Machtrelationen (wie bei Li) begreifen.30 Soziale Praktiken 29 Dieses Übersetzungsproblem wird dadurch verkompliziert, dass es im 19. Jahrhundert im Rahmen der Missionierung auf Hawaii zu deutlichen Verschiebungen in den Bedeutungen ›indigener‹ Konzepte gekommen ist. Kame’eleihiwa argumentiert beispielsweise, dass die Missionierung auf Hawaii im 19. Jahrhundert die Folge hatte, dass zwischen unterschiedlichen ›Sphären‹, wie ökonomisch/spirituell, unterschieden wurde, was für die Hawaiianer allerdings unverständlich blieb. Siehe zu diesem Problem insbesondere Kame’eleihiwa 1992; Mykkänen 2003; Silva 2004. 30 Obeyesekere steht Lis Kritik an Sahlins in vielen Punkten nahe; allerdings kritisiert Obeyesekere an Lis Argumention dessen Nähe zu Foucaults allumfassendem Machtbegriff (Obeyesekere 2001: 290).

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mögen ›uns‹ fremd erscheinen, basieren jedoch auf sozialen Mechanismen, die sich nicht fundamental von denen in ›unserer‹ Gesellschaft unterscheiden. Sahlins wiederum begreift soziale Praktiken vor dem Hintergrund symbolischer Ordnungen, die nicht ›nur‹ die Oberfläche der Gesellschaft sind, sondern den Praktiken zu Grunde liegen. Die jeweils unterschiedlichen Epistemologien von Sahlins auf der einen und Obeyesekere und Li auf der anderen Seite sind eng mit jeweils unterschiedlichen Ontologien verknüpft. Wenn es stimmt, dass Menschen ihrer Umwelt, sich selbst und ihrem Handeln nur im Rahmen eines lokalen kulturellen Kontexts einen Sinn abgewinnen können, müssen soziale Praktiken im Kontext der lokalen kulturellen Ordnung interpretiert werden (Sahlins 1997a: 274). Wenn aber kulturelle Schemata nur der Ausdruck ungleicher Machtrelationen sind oder eine Arena instrumenteller Kämpfe um Macht bilden, verlieren kulturelle Schemata ihre integrale Funktion als interpretativer Ankerpunkt.31 In meiner Diskussion von Sahlins’ Handlungstheorie habe ich bereits darauf hingewiesen, dass Obeyesekere auf einen problematischen Aspekt von Sahlins’ 31 In Obeyesekeres Interpretation der Ereignisse, die zu Cooks Tod führten, nehmen innerhawaiianische Machtkämpfe eine zentrale Rolle ein. »Kalani’opu’u, the ›king‹ of Hawai’i at the time of Cook’s arrival, as if following general Polynesian practice, tried to enlist Cook’s aid in his wars with Maui« (AP: 78). Mauis König, so Obeyesekere, wurde von einem Priester unterstützt, der seine Abstammung auf eine Gruppe von weißen Fremden zurückführte. Kalani’ǀpu’u befand sich in einer schwierigen Situation und schrieb den schlechten Kriegsverlauf den Fähigkeiten des gegnerischen Priesters zu. Deshalb sah er im Eintreffen der weißen Fremden eine einmalige Chance, mit den religiösen Kräften Mauis gleichzuziehen: »They [die Engländer] resemble very nicely the mythic image of the founders of the Oahu priesly lineage« (AP: 81). Für Obeyesekere ist es vor dem Hintergrund hawaiianischer Machtkämpfe nachvollziehbar, dass Cook von Kalani’ǀpu’u um Hilfe gebeten wurde. Dies war auch der Grund – so Obeyesekere –, warum Cook in einem Ritual als ein Häuptling installiert wurde; als Teil der hawaiianischen Aristokratie sollte Cook Kalani’ǀpu’u bei seinem Krieg gegen Maui unterstützen. Allerdings liegt die Vermutung nahe, so Obeyesekere, dass Cook das Hilfegesuch des hawaiianischen Königs ausschlug. »For this and other reasons, including the depletion of food supplies – a critical problem for these islands – people were anxious to see the English leave« (AP: 88). Die Rückkehr von James Cook stellte die Hawaiianer schließlich vor ein großes Problem, da die hawaiianischen Nahrungsvorräte begrenzt waren. An den Ereignissen, die folgten, war Cook für Obeyesekere nicht unschuldig: »what happened was that Cook’s rage and the fears of the Hawaiians for their chief escalated into violence resulting in Cook being stabbed to death« (AP: 89). Obeyesekeres alternative Erklärung über den Tod von James Cook ist weitgehend spekulativ – und Obeyesekere betont, dass ihm die Quellen fehlen, um seine Version zu ›beweisen‹. Allerdings gibt es, so Obeyesekere, eine ›indirekte‹ Plausibilisierung seiner Interpretation durch einen Vergleich mit Kontakten zwischen Cook und anderen polynesischen Kulturen, weil in Tahiti oder Tonga lokale Häuptlinge Cook in tribale Auseinandersetzungen hineinziehen wollten (AP: 78). Sahlins hält Obeyesekeres Argumentation allerdings genau so sehr für eine Spekulation wie Valerio Valeri: »Obeyesekere’s hypothesis that Kalani’ǀpu’u must have asked Cook to help him in his war against King Kahekili of Maui is based on no evidence whatsoever« (Valeri 1994: 131).

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Analysen aufmerksam macht. In Sahlins’ Ansatz fehlt eine Berücksichtigung der ungleichen Machtrelationen zwischen Hawaiianern und Europäern sowie eine Analyse der Rolle der Gewalt für diesen Kulturkontakt; hier trifft auch Victor Li einen wunden Punkt von Sahlins’ Studien. Sahlins’ Untersuchungen können allerdings durch Elemente seines eigenen Werks, insbesondere des humiliationAnsatzes, erweitert werden, ohne dass seine Handlungstheorie im Allgemeinen verworfen werden müsste. Denn aus einer epistemologischer Perspektive erscheint mir Sahlins’ Ansatz weiterführender zu sein als die von Obeyesekere und Li vorgelegten Alternativen, in denen das Kriterium der Plausibilität eine herausragende Rolle spielt und hawaiianische Handlungsweisen vorschnell auf ungleiche Machtrelationen reduziert oder auf Verträglichkeit mit ›unserem‹ common sense überprüft werden. Es macht nämlich wenig Sinn, den Hawaiianern Handlungsweisen zuzuschreiben, die ›uns‹ aus heutiger Sicht plausibel erscheinen mögen; vielmehr kommt es darauf an, eine Erklärung zu finden, die mit den britischen und hawaiianischen Überzeugungen während der Ereignisse, die zu Cooks Tod führten, so weit wie möglich übereinstimmt.32 Allerdings ist auch in Sahlins’ Ansatz bereits ein nicht vollständig ausformulierter universalistischer Aspekt sozialer Praxis angelegt, der möglicherweise eine große Bedeutung für die Frage hat, ob die Hawaiianer James Cook für eine Manifestation von Lono hielten. Steven Lukes argumentiert, dass »nothing said by Sahlins shows the Hawaiians to have been bereft of the power to think logically and draw inferences and of the ability to recognize material objects and human persons, even including Captain Cook, for what they were« (Lukes 2000: 13). In den Augen Lukes’ gibt es ungeachtet von kulturellen Differenzen eine universale Eigenschaft menschlicher Gruppen. »All cultures […] are […] settings within which their members, individually and collectively, engage in the cognitive enterprise of reasoning and face the common human predicament of getting the world right« (Lukes 2000: 15), und in unterschiedlichen Kulturen werden in den Augen Lukes’ unterschiedliche kosmologische Lösungen für dieses Problem gefunden. Unterschiedliche Rationalitäten sind in dieser Sichtweise also letztlich Ausdruck unterschiedlicher Lösungen eines universalen Problems – getting the world right, wie Lukes formuliert. Die Deutung von James Cook als ein hawaiianischer atua ist möglicherweise ein Beispiel für diese universale menschliche Kapazität. In der Literatur scheint sich der Konsens abzuzeichnen, dass James Cook für die Hawaiianer tatsächlich einen ›göttlichen‹ Status besaß, zumindest zu Beginn des europäisch-hawaiianischen Kulturkontakts. Warum aber musste James Cook sterben? In diesem Punkt scheinen die Unklarheiten wesentlich größer zu sein. Insbesondere ist keineswegs geklärt, ob es sich bei Cooks Tod um einen Ritualmord handelte, wie Sahlins annimmt, selbst dann nicht, wenn die Hawaiianer James Cook tatsächlich für eine Manifestation Lonos ansahen. Auf der Grundla32 Siehe dazu auch Borofsky 1997: 260; Lukes 2000: 16; Parker 1995; Tcherkézoff 2003. Als Antwort auf Parker 1995 siehe Obeyesekere 1995.

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ge der verfügbaren Quellen ist es kaum möglich, diese Frage eindeutig zu beantworten. Nicholas Thomas hält zwar Sahlins’ These einer Vergöttlichung von James Cook seitens der Hawaiianer für plausibel, kritisiert allerdings Sahlins’ Interpretation von Cooks Tod als Ritualmord. »If both the time of its arrival and its effect must remain uncertain – in so far as there is no direct testimony from anyone who was on the spot – these circumstances would do much to explain precisely how a tense stand-off broke down and sped up, as physical violence produced its own whirlwind of action and reaction« (Thomas 2003: 398-399). Sahlins konzentriert sich zu sehr auf die Frage, ob die Hawaiianer in James Cook eine Manifestation ihres Gottes Lono sahen und vernachlässigt deshalb die Rolle der Gewalt im europäisch-hawaiianischen Kulturkontakt.33 Thomas’ These ließe sich mit Sahlins’ eigenem Ansatz der ›Erniedrigung‹ konzeptionell stärken; dies würde die kulturellen Differenzen zwischen Hawaiianern und Europäern allerdings wiederum ein kleines Stück einziehen, denn wenn Gewalt und Erniedrigung tatsächlich eine große Rolle für die hawaiianischen Handlungsweisen gegenüber James Cook gespielt haben sollten, wird Sahlins’ These, dass der Tod von James Cook ein Ritualmord gewesen sein soll, brüchig. Obeyesekeres Einwand, Sahlins vernachlässige pragmatische Aspekte sozialer Praxis, erscheint mir hinsichtlich des Todes von James Cook also berechtigter als hinsichtlich Cooks Vergöttlichung seitens der Hawaiianer. Doch möglicherweise ist diese Kritik weniger weit von Sahlins’ Analyse entfernt, als es zunächst erscheint. Auf der Grundlage von Sahlins’ Handlungstheorie und seiner Untersuchung der westlichen Kosmologie kann nämlich argumentiert werden, dass die Unterscheidung zwischen pragmatischen und rituellen Aspekten sozialer Praxis bzw. sozialen Handelns selbst wiederum eine westliche ist, eine Differenz zwischen unterschiedlichen Handlungsaspekten also, die für die Hawaiianer möglicherweise eine weniger große Rolle als für ›uns‹ gespielt hat.

4. Die Indigenisierung der Moderne (III): Kulturalismus Die Auseinandersetzung über den Tod von James Cook zeigt, wie eng Deutungen historischer Ereignisse mit kulturtheoretischen Annahmen verknüpft sind. Zuweilen entsteht sogar der Eindruck, es komme Sahlins und Obeyesekere weniger darauf an, Theorien als heuristische Werkzeuge einzusetzen, um den Quellen einen Sinn abzugewinnen, sondern eher darauf, das empirische Material zur Illustration kulturtheoretischer und moralischer Thesen einzusetzen. Einen wichtigen Grund dafür habe ich herausgearbeitet: Sahlins’ und Obeyesekeres Interpretationsrahmen sind nicht flexibel genug angelegt. Erstens vernachlässigt Sahlins 33 Zur Bedeutung der Gewalt für ein Verständnis des hawaiianisch-europäischen Kulturkontakts siehe auch Borofsky /Howard 1989: 266.

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die Möglichkeit, dass europäische Vorstellungen über die Vergöttlichung weißer Entdecker durch die Entdeckten eine Rolle für den Verlauf des Kulturkontakts auf Hawaii sowie für die Entstehung der Quellen gespielt haben könnten. Obeyesekere rückt diesen Aspekt aber so sehr in den Mittelpunkt, dass er seine gesamte Interpretationsstrategie daraufhin ausrichtet. Zweitens überbetont Sahlins zuweilen die handlungsleitende Rolle von Kultur auf hawaiianischer Seite und geht von einer kulturell weitgehend homogenen hawaiianischen Gesellschaft aus. Demgegenüber rückt Obeyesekere die Handlungskategorie der ›praktischen Rationalität‹ zu sehr in den Vordergrund. Drittens droht Sahlins’ Ansatz zuweilen in einen radikalen kulturellen Relativismus umzuschlagen; Obeyesekere wiederum zieht kulturelle Differenzen vorschnell ein und versucht, hawaiianische Handlungspraktiken vor seinem kulturellen Hintergrund zu plausibilisieren. Die Einseitigkeit von Sahlins’ und Obeyesekeres Konzepten führt zu ebenso einseitigen Interpretationen des empirischen Materials. Ich habe darauf hingewiesen, dass bereits Sahlins Analysen von James Cooks Tod komplexer sind, als dies bisweilen in der Sekundärliteratur erscheint; dies gilt erst recht, wenn Sahlins’ Spätwerk im Allgemeinen in die Analyse einbezogen wird. Dennoch gibt es sowohl bei Sahlins als auch bei Obeyesekere zuweilen die Tendenz, empirische Ambivalenzen zugunsten einer vorgefassten Interpretationsperspektive zu unterdrücken. Sahlins’ Kulturalismus scheint letztlich Grundlage einer Argumentationsstrategie zu sein, für die spezifische empirische Einzelheiten nicht mehr von Bedeutung sind. »Although [Sahlins’s] broad generalizations are embedded in a historical narrative, at times he is selective concerning the evidence marshaled to support his points« (Borofsky/Howard 1989: 248). Alle historischen und ethnographischen Details, so Li, erhalten ihre Bedeutung in Sahlins’ Interpretationsrahmen erst vor dem Hintergrund eines kulturellen oder kosmologischen Schemas. Empirische Daten über Cooks Tod erscheinen für Sahlins in Lis Augen erst dann bedeutsam, wenn sie vor dem Hintergrund der hawaiianischen Mythologie interpretiert werden (Li 2001: 231). Valerio Valeri hat zu Recht darauf hingewiesen, dass ein vergleichbares Problem nicht nur bei Sahlins, sondern auch bei Obeyesekere auftritt. »Obeyesekere wants to see everything in terms of chiefly politics and strategic improvisation, Sahlins in terms of ritual enactment of the god Lono’s epiphany. Perhaps they are both too reductive for the complexity of the events and for the multiplicity of possible readings inherent in the situation – as seen in Hawaiian (and thus non-exclusionary) terms« (Valeri 1994: 126). Ich stimme zwar nicht mit Valeris Beobachtung überein, Sahlins würde die Handlungen der Hawaiianer auf eine bloße Anwendung ihrer Mythen reduzieren. Allerdings hat Valeri Recht, dass sowohl in Sahlins’ als auch in Obeyesekeres Erklärung die zu Grunde liegenden Konzepte eine fundamentale – zuweilen gar de-

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terminierende – Bedeutung für die jeweiligen Interpretationen der empirischen Daten erhalten.34 Es erscheint mir deshalb wünschenswert, im Rahmen empirischer Forschung an der Weiterentwicklung von flexibleren Konzepten zu arbeiten, die die weiterführenden Aspekte der Theorien von Sahlins und Obeyesekere miteinander verknüpfen. Man sollte allerdings nicht den Fehler begehen, Sahlins’ Analysen von James Cooks Tod als repräsentativ für sein Gesamtwerk zu betrachten; zudem finden sich auch in diesen Analysen, möglicherweise noch mehr in How ›Natives‹ Think als in Islands of History, Ansatzpunkte für ein handlungstheoretisch flexibles Konzept (siehe auch Borofsky 1997: 278). Wie ich bereits gezeigt habe, ist Sahlins’ Spätwerk sowohl empirisch als auch konzeptionell komplexer als es in seinen Analysen von Cooks Tod zuweilen erscheint. Allerdings ist die Debatte zwischen Sahlins und Obeyesekere natürlich nicht nur eine Auseinandersetzung über weiterführende methodologische, handlungstheoretische und epistemologische Probleme historisch-ethnologischer Forschung; von zentraler Bedeutung sind darüber hinaus politische und moralische Fragen, insbesondere die nach der ›angemessenen‹ Repräsentation der hawaiianischen Kultur im Besonderen und nicht-westlicher Kulturen im Allgemeinen.35 Sahlins repräsentiert das Paradigma dessen, was man die ›ethnologische Moderne‹ nennen könnte, auf dessen Grundlage davon ausgegangen wird, dass die Ethnologie und die Geschichtswissenschaft theoretisch und empirisch fundierte Aussagen über außereuropäische Kulturen machen können. Für Sahlins muss die nicht-westliche Kultur selbst im Mittelpunkt der Analyse interkultureller Kontakte stehen. Aus der Perspektive von Obeyesekeres eher ›postkolonialer‹ Position produziert Sahlins’ Diskurs über indigene Handlungsfähigkeit ethnozentrische Ergebnisse und erhält ungleiche Machtrelationen zwischen westlichen und nicht-westlichen Kulturen aufrecht. Beide Positionen und die Debatte insgesamt besitzen einen nur teilweise expliziten politischen Subtext, der die methodologischen, handlungstheoretischen und epistemologischen Fragen in eine moralisch-politische überführt. Obeyesekere greift immer wieder auf seine Kenntnisse über die Kultur und Geschichte Sri Lankas zurück, um seine These zu plausibilisieren, dass die Hawaiianer James Cook nicht für einen Gott hielten (z.B. AP: 8). Sahlins liest dies so, dass Obeyesekere behauptet, dieser habe als ein native einen exponierten Zugang zur kulturellen und historischen Realität Hawaiis; es gebe aber keinen Grund anzunehmen, dass die Kulturen in Südostasien einen privilegierten Zugang ermöglichten 34 Interessanterweise kritisiert Obeyesekere Valeri dafür, dass dessen Interpretationsstrategie der von Sahlins ähnelt. »All you need to know is Hawaiian thought, narrowed down to mean mythic thought, and you can ignore the Hawaiian voices that King recorded« (Obeyesekere 1994: 152). Für eine Diskussion von Valeris Kingship and Sacrifice (Valeri 1985) siehe Charlot 1987; Howard/Borofsky 1989b: 6-7; Valeri 1987. 35 Siehe dazu Abu-Lughod 1991; Allison 1997; Berg/Fuchs 1993; Bhaba 1994; Clifford/Marcus 1986; Därmann/Jamme 2002; Gottowik 1997; Loomba et al. 2005; Said 1979; Spivak 1999.

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zu den Kulturen Polynesiens. Sahlins hält die These, dass ein Ethnologe aus Sri Lanka einen überlegenen Zugang zur hawaiianischen Kultur hat, für unhistorisch, »a not-too-implicit notion that all natives so-called (by Europeans) are alike, most notably in their common cause for resentment« (NT: 5).36 Obeyesekere wehrt sich allerdings gegen Sahlins’ Unterstellung, behauptet zu haben, über einen privilegierten Zugang zur hawaiianischen Kultur zu verfügen. »Sahlins and several other critics have imputed to me the idea that I, as a native Sri Lankan, claim to have privileged access to Hawai’ian culture. I have never once asserted or implied this, though, being a native from a colonized nation, I might have insights into the lifeways of the colonized peoples« (AP: 223). Obeyesekere hat zwar zunächst Recht, dass er nicht explizit einen privilegierten Zugang zur hawaiianischen Kultur für sich beansprucht (siehe auch Howe 1996: 116). Allerdings finden sich in seiner Interpretationspraxis einige implizite Hinweise für einen solchen Anspruch, denn Obeyesekere interpretiert die hawaiianische Kultur oftmals aus der Perspektive oder unter Einbeziehung Sri Lankas. Bereits der Ausgangspunkt für Obeyesekeres Kritik ist die Kultur Sri Lankas. »I was completely taken aback at his [Sahlins’s] assertion that when Cook arrived in Hawai’i the natives believed that he was their god Lono and called him Lono. Why so? Naturally my mind went back to my Sri Lankan and South Asian experience. I could not think of any parallel example in the long history of contact between foreigners and Sri Lankans or, for that matter, Indians« (AP: 8).

Zwar weist Obeyesekere auf kulturelle Unterschiede zwischen Sri Lanka und Hawaii hin, doch erscheint seine Herkunft durchaus als ›kulturelles Kapital‹, das es in seiner Perspektive erleichtert, die angeblichen Fehlinterpretationen Sahlins’ hinsichtlich Hawaiis aufzudecken. Diese Fehlinterpretationen wurzeln in Obeyesekeres Augen in einem Akt symbolischer Gewalt, den Sahlins an den Hawaiianern begeht. »I find it utterly presumptuous that ethnographers should tell native peoples how they think or formulate their ›classical rules‹ for them without an iota of skepticism or tentativeness. My guess is that this kind of appropriation and arrogance, which refuses to acknowledge the invented nature of ethnography, has made it a ›pariah discipline‹ in the eyes of native Hawai’ian intellectuals« (AP: 224).

Dabei bestreitet Obeyesekere keineswegs, dass auch sein eigenes Konzept der praktischen Rationalität ein westliches Konzept ist (AP: 211). Obeyesekere schlägt deshalb die Verwendung anderer, auch nicht-westlicher, Epistemologien vor, um die jeder Kultur eigenen Multiplizität unterschiedlicher Standpunkte einzufangen (AP: 224) In Sahlins’ Augen negiert Obeyesekere allerdings die hawaiianische kulturelle Realität zugunsten eines universalistischen Modells prakti36 Siehe dazu auch Tcherkézoff 2003: 7; Trigger 1996: 1565.

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scher Rationaltät, das kulturelle Unterschiede einzieht und eine westliche Selbstinterpretation auf andere Kulturen ausdehnt. Ein solches Vorgehen ist in Sahlins’ Augen nicht nur erkenntnistheoretisch falsch, sondern auch moralisch bzw. politisch fragwürdig. Obeyesekeres Ethnozentrismus gibt den Hawaiianern in Sahlins’ Augen keineswegs ›ihre Stimme‹ zurück; vielmehr eliminiert Obeyesekere – so Sahlins – die hawaiianischen Diskurse und die hawaiianische Kultur in seinem Text (NT: 8-9, 151). Tatsächlich analysiert Obeyesekere in erster Linie die europäische Produktion von myth models. Sahlins geht davon aus, dass die Ethnologie und die Geschichtswissenschaft theoretisch und empirisch fundierte Aussagen über außereuropäische Kulturen machen können; für Sahlins muss dabei die nicht-westliche Kultur selbst im Mittelpunkt der Analyse interkultureller Kontakte stehen. In den Augen Obeyesekeres produziert Sahlins’ Diskurs über indigene Handlungsfähigkeit ethnozentrische Ergebnisse und erhält ungleiche Machtrelationen zwischen einzelnen Kulturen aufrecht.37 Die Ironie dieser Debatte besteht allerdings darin, dass die ›indigenen Stimmen‹, um die es ja gehen soll, letztlich keine besondere Bedeutung zu haben scheinen. »In the end, I have a sense that what is most at issue in Obeyesekere’s book is a preoccupation with European pretensions. That is a worthwhile target, and yet, in the heat of the debate Hawaiians (and Maori), and what they (rather than Sahlins or Obeyesekere) thought about Cook are marginalised, while on occasion their accounts are contemptu37 Die Polemik der Kontroverse zwischen Sahlins und Obeyesekere, aber auch zwischen Obeyesekere und einigen seiner Kritiker, verdeutlicht die Gräben in der USamerikanischen Cultural Anthropology, welche die ›Postkolonialisierung‹ dieser Disziplin aufgeworfen hat. Beispielsweise argumentiert Knauft, dass sich Obeyesekere im Rahmen seiner Analyse der zunehmend irrationaleren Seiten von Captain Cook auf dessen dritter Reise vom Antikriegsfilm Apocalypse Now inspirieren ließ (Knauft 1993: 34). Obeyesekere antwortet darauf sichtlich sarkastisch und verletzt: »Obeyesekere really didn’t get his idea from Conrad (how could he have read Heart of Darkness?); he got it from watching a popular American movie. I suggest that this attitude also exemplifies a denigration of the Other, an issue that lies at the heart of my work« (Obeyesekere 1993: 71). Obeyesekere wirft zudem Sahlins eine politische und ethische Insensitivität vor, die sich, so Obeyesekere, unter anderem in Sahlins’ Aussagen über den tragischen Verlust von Obeyesekeres Freund Wijedasa äußern. »I could not even guess at the deeper motivation for making Cook and me somehow responsible for the tragedy of Obeyesekere’s friend. It seems an odd way to end the violence, by thus wildly displacing it« (NT: 193). Obeyesekere merkt dazu an: »Most readers saw the point of my story correctly; namely, that the violence that Cook initiated pales into insignificance in relation to the violent times we now live in« (AP: 236). Es ist deshalb in Obeyesekeres Augen kein Wunder, dass es in Sahlins’ Werk so wenig Analysen von Gewalt gibt »except as ›mythopolitics‹ or as the ›politics of the Makahiki‹« (AP: 237). Auch Borofsky betont die wichtige Rolle des ›politischen‹ Kontextes, in dem sich die Debatte bewegt: »several scholars have told me in private that they prefer Obeyesekere’s argument to Sahlins’s because it fits better with present-day postcolonial concerns. Even if Obeyesekere lacks the evidence, they suggest, he grasps the big picture; he understands the politics of oppression« (Borofsky 1997: 279).

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ously dismissed. I would not be surprised if for Hawaiians, as for many Maori, postcolonial humanism in such contexts seems about as pertinent to their interests as its colonial precursor« (Salmond 1993: 54).

Obeyesekere ist aus Sicht einiger hawaiianischer Forscher tatsächlich nur begrenzt dazu in der Lage, valide Aussagen über die hawaiianische Kultur zu treffen. LilikalƗ Kame’eleihiwa lobt zwar Obeyesekeres Versuch, Sahlins’ ethnologischen Ansatz zu dekonstruieren. »It is a wonderful quirk of fate, or perhaps after Edward Said, an inevitable historical progression, to find a person of color using the white man’s pseudoscience of anthropology to study white society […] As the object of intense anthropological observation, Natives have often wished that white people would study their own ancestors, whom they could at least know culturally, instead of us, whom they generally misunderstand and thus misrepresent« (Kame’eleihiwa 1994a: 112).

Allerdings akzeptiert Kame’eleihiwa nicht Obeyesekeres Analyse im Allgemeinen. Der Grund dafür scheint zu sein, dass Obeyesekere eben kein native ist und aus der Sicht Kame’eleihiwas dementsprechend nicht über genug Kenntnisse der hawaiianischen Kultur verfügt. Obeyesekere »is not a Hawaiian and does not know our culture, nor does he speak our language; thus he makes mistakes common to a foreign scholar. I applaud his critical analysis of his field of anthropology, of colonialist myths, and of Sahlins’s work, but before he ventures further into the writing of Hawaiian history, he should at least become fluent in my language« (Kame’eleihiwa 1994a: 117).

Wie bereits aus diesem Zitat hervorgeht, ist das eigentliche Ziel von Kame’eleihiwas Attacke nicht Obeyesekere, sondern Sahlins. Dies wird besonders deutlich in Kame’eleihiwas Rezension von Sahlins’ 1992 erscheinender Studie über Anahulu (Sahlins 1992a; Kame’eleihiwa 1994b). In Sahlins’ Analyse sind die ali’i, also die hawaiianischen Häuptlinge, mitverantwortlich für den Niedergang der traditionalen hawaiianischen Kultur und für die Errichtung eines westlichen Regierungssystems, denn in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts beuteten die Häuptlinge die hawaiianische Landbevölkerung aus, um ihre exzessiven Statusauseinandersetzungen zu finanzieren (Sahlins 1992a: 135). Dies hatte in Sahlins’ Augen auch den Effekt einer zunehmenden Entfremdung der Häuptlinge von ihren Untergebenen (siehe Kapitel IV.4). Kame’eleihiwa bestreitet allerdings, dass die Bevölkerung von den Häuptlingen ausgebeutet worden sei oder dass in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Bevölkerung ein negatives Bild von den hawaiianischen Häuptlingen entstand. »Sahlins misunderstands Hawaiian culture. The ali’i were like our parents, and while we may dislike the tasks they have given us, we love and cherish them nonetheless« (Kame’eleihiwa 1994b: 216). Sahlins’ Untersuchung hat für Kame’eleihiwa eine spezifisch poli-

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tische Dimension, denn durch Sahlins’ Repräsentation der hawaiianischen Geschichte entsteht ein in ihren Augen negatives Bild der hawaiianischen Gesellschaft, das die hawaiianische Souveränitätsbewegung gefährdet: »the Sahlins analysis of Hawaiian history […] will be used by the colonial powers, and their academic supporters, to attack the Hawaiian sovereignty movement« (Kame’eleihiwa 1994b: 214). Kame’eleihiwa empfiehlt deshalb, dass sich Hawaiianer gegenüber solch ihrer Ansicht nach falschen und politisch prekären Repräsentationen ihrer Kultur wehren sollten (Kame’eleihiwa 1994b: 218).38 Die Radikalität, mit der Kame’eleihiwa Sahlins’ Analysen der hawaiianischen Kultur ablehnt – also wohlgemerkt nicht nur seine Interpretation von James Cooks Tod – findet sich auch in einigen anderen ihrer Aktivitäten. 2002 protestiert Kame’eleihiwa gegen die Produktion eines Films über den hawaiianischen König Kamehameha. In einer E-Mail an den Drehbuchautor Greg Poirier schreibt Kame’eleihiwa, dass dieser sofort mit der Arbeit am Drehbuch aufhören solle. »For Hawaiians it is not acceptable that Hollywood should be allowed to misrepresent the history of our ancestors in any way. Nor do we want Hollywood’s warped sense of ›Hawaiiana‹ portrayed to the world. The story of Kamehameha should wait for a culturally knowledgeable Hawaiian to write the screen play, for a Hawaiian movie company to make the film, and for a Hawaiian descendant of Kamehameha to play the role« (zit. nach Burlingame 2002).

Die Geschichte über Kamehameha sei von den Vereinten Nationen garantiertes intellektuelles Eigentum der Hawaiianer, »and if you have any respect for Hawaiians you will stop your project now« (zit. nach Burlingame 2002). Ähnlich denkt Kame’eleihiwa scheinbar über Charles Brotman, der 2005 einen ›Grammy‹ für das beste hawaiianische Musikalbum gewinnt, obwohl er kein Hawaiianer ist. Kame’eleihiwa kritisiert diese Entscheidung dahingehend, dass Nicht-Hawaiianer einen Nicht-Hawaiianer für dessen Repräsentation der hawaiianischen Kultur auszeichneten. Offensichtlich ist Kame’eleihiwa der Ansicht, dass nur Hawaiianer einen Preis für das jeweils ›beste‹ hawaiianische Musikalbum gewinnen sollten, und dass die Auswahl ebenfalls von Hawaiianern getätigt werden sollte (Ryan 2005).

38 Kame’eleihiwa ist eine ehemalige Studentin von Sahlins: 1980/81 besuchte sie ein Seminar über die Geschichte Hawaiis, das Sahlins an der University of Hawaii hielt (siehe Sahlins 1992a: ix). – Kame’eleihiwas Kritik ist besonders interessant, wenn sie kontrastiert wird mit Greg Denings Rezension von Sahlins’ Buch in der gleichen Ausgabe von The Contemporary Pacific (Dening 1994). Dening findet Sahlins’ Analyse nämlich »brillant« (Dening 1994: 212) und bezeichnet Sahlins als einen »genius« (213) sowie Anahulu als »state-of-the-art-scholarship« (212). Vilsoni Hereniko fragt angesichts dieser konträren Beurteilung von Sahlins’ Werk: »How can two responses by two respected scholars […] be so different?« (Hereniko 2000: 87)

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Neben Kame’eleihiwa haben sich noch andere Hawaiianer zu Sahlins’ Arbeiten geäußert. Zu den interessantesten hawaiianischen Kommentaren von Sahlins’ Analysen zählt Haunani-Kay Traks 1985 erscheinende Rezension zu Islands of History. Zunächst merkt Trask zwar an, dass Sahlins für einen Nicht-Hawaiianer eine erstaunliche Sensibilität für die hawaiianische Kultur aufweise. Sie kritisiert allerdings, dass Sahlins die in ihren Augen verbrecherischen Handlungen von James Cook nicht stärker in den Mittelpunkt rückt. »To continue to brush aside Cook’s legacy, as Sahlins does, is to continue to excuse the effects of Western imperialism as accidental when they were, on the contrary, essential to the process of global white domination« (Trask 1985: 785). Noch bedeutsamer ist ihr Einwand gegen Sahlins’ Analyse ›performativer Strukturen‹ in der hawaiianischen Kultur. In den Augen Sahlins’ waren die kulturellen Strukturen Hawaiis nicht festgefügt, sondern einem ständigen Wandlungsprozess ausgesetzt. Trask stimmt dieser These zu, doch sie kritisiert ein bestimmtes ethnographisches Beispiel, das Sahlins anführt. Die hawaiianische Kategorie kama’Ɨina »refers to someone ›native‹ to a place. Yet one may equally be a kama’Ɨina by action or by prescription: by long-term residence or by birthright« (IH: 28) – und in Sahlins’ Analyse konnten sogar Europäer und Amerikaner einen einheimischen Status erlangen (IH: 30). Für Trask missrepräsentiert Sahlins damit die hawaiianische Kultur. »What Sahlins believes to be cultural evidence continuing through time and across vastly different historical periods is rather the increasing appropriation by foreigners of a source of legitimacy« (Trask 1985: 786). Was Sahlins also nicht verstanden hat, so Trask, ist die Aneignung einheimischer Sprachen von den Kolonisatoren »and the establishment of ideological control by foreigners for their own colonial ends« (Trask 1985: 786). Auch in Trasks Kommentar zu Sahlins geht es nicht einfach um eine ›wahre‹ Repräsentation der hawaiianischen Kultur und Geschichte; jedwede Repräsentation scheint vielmehr einen spezifisch politischen Charakter zu besitzen. Sahlins’ Analyse der hawaiianischen Geschichte erscheint in den Augen von Kame’eleihiwa und Trask als Legitimation für den zunehmenden Einfluss der haole auf Hawaii und unterminiert die hawaiianische Souveränitätsbewegung. Im Folgenden verknüpfe ich die politischen Aspekte der Diskussion über James Cooks Tod auf Hawai’i mit der invention-of-tradition-Debatte. Zunächst versuche ich, die politische Relevanz der invention-of-tradition-Debatte herauszuarbeiten; im Anschluss daran setze ich die Kontroverse über ›erfundene Traditionen‹ in Beziehung zu Sahlins’ Theorie über die ›Indigenisierung der Moderne‹, die als explizite Kritik an der invention-of-tradition-Literatur verstanden werden kann. »Is there a way to talk about making culture without making enemies?« Ende der 1980er Jahre stellt sich Jean Jackson diese Frage, weil die Angehörigen der Kulturen, die die Ethnologie traditionellerweise untersucht, zunehmend die Texte lesen, die über sie geschrieben werden. In der Ethnologie zeitweise beliebte Begriffe wie making culture – so Jackson – haben für Angehörige indigener Gruppen oftmals einen negativen Beiklang, und die Ethnologie

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sollte sich in ihren Augen dessen bewusst sein (Jackson 1989: 129). Jacksons Arbeit entsteht zu einer Zeit, in der zunehmend klar wird, dass es einen Konflikt gibt zwischen Ethnologen, die die unterschiedlichsten inventions of tradition untersuchen und indigenen Forschern, die auf die Authentizität ihrer jeweiligen kulturellen Traditionen bestehen.39 Die damit verknüpften Probleme bringt George E. Marcus in einer Rezension über Jocelyn Linnekins Buch Children of the Land auf den Punkt: »the conventional attitude of empathy and admiring sympathy usually displayed by ethnographers […] is difficult to reconcile with the full implications of an invention of culture approach that probes deception, demystification of ›tradition‹, and cultural struggle« (Marcus 1986: 133). Die ethnologische invention-of-tradition-Literatur scheint nationalistische Diskurse zu entmystifizieren und damit zu einer Untergrabung nationaler Subjektivität beizutragen; der Versuch, auf die Konstruktivität kultureller Traditionen aufmerksam zu machen, kann deshalb als Versuch gelesen werden, nationalistische Diskurse zu kritisieren. Richard Handler sieht einen gewissen Widerspruch zwischen dem Ziel der Ethnologie, ›kritisch‹ zu sein, also die Authentizität kultureller Traditionen zu hinterfragen, und der selbstverständlichen Einstellung der Ethnologie, ihren ›Untersuchungsobjekten‹ Respekt entgegenzubringen. Letztlich lässt sich für Handler dieser Widerspruch allerdings auflösen: Handler kommt zu dem Schluss, dass gerade eine genuine Kritik kultureller Traditionen den analysierten sozialen Gruppen Respekt entgegenbringt, weil deren Lebenswelten nicht romantisiert, sondern durch die ethnographische Analyse herausgefordert werden (Handler 1985: 181). Auch Roger Keesing geht davon aus, dass ein Dialog über indigene Traditionen möglich ist, und dass dieser Dialog einer bloßen Akzeptanz nationalistischer Rhetorik seitens der Ethnologie vorzuziehen ist (Keesing 1989). Inwiefern ist es aber möglich oder sinnvoll, einer von Keesing kritisierten ›nationalistischen Rhetorik‹ im Rahmen eines solchen Dialogs zu entgehen? Was halten ›indigene‹ Forscher von einem solchen Vorgehen? Im Folgenden beleuchte ich einen enorm einflussreichen Streit zwischen der Ethnologin Jocelyn Linnekin und der hawaiianischen Forscherin Haunani-Kay Trask über die Authentizität hawaiianischer Traditionen, um die Probleme, auf die diese Fragen hinweisen, zu veranschaulichen.40 Gegenstand des Streits zwischen Linnekin und Trask Anfang der 1990er Jahre ist Kaho’olawe, eine kleine hawaiianische Insel südlich von Maui. Das amerikanische Militär nutzte die Insel nach dem Angriff auf Pearl Harbor als Trainingsgebiet und setzte dies nach dem Zweiten Weltkrieg fort. 1976 reichte die hawaiianische Gruppierung Protect Kaho’olawe ’Ohana Protest beim Bundesgerichtshof ein, um die weitere Nutzung von Kaho’olawe seitens des amerikanischen Militärs zu verhindern. Sowohl Linnekin als auch Trask sind 39 Zur invention-of-tradition-Kontroverse siehe unter anderem Hobsbawn/Ranger 1983; Hanson 1989; Tobin 1994; Briggs 1997. 40 Siehe zu dieser Debatte Linnekin 1991; Trask 1990, 1991. Zur Bedeutung dieser Debatte siehe Tobin 1994; White/Tengan 2001: 399-400. Zum biographischen Hintergrund von Jocelyn Linnekin und Haunani-Kay Trask siehe Tobin 1994: 115-116.

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gegen die militärische Nutzung der Insel, doch ihre Ansichten über den heiligen Status der Insel für die Hawaiianer ist grundverschieden. Linnekin argumentiert, dass die Heiligkeit von Kaho’olawe wahrscheinlich eine relativ neue kulturelle ›Erfindung‹ ist. Die hawaiianische Tradition, in der Kaho’olawe einen heiligen Status erhält, wurde in Linnekins Augen als Antwort auf die Militärnutzung der Insel konstruiert (Linnekin 1983: 248). Linnekin argumentiert, dass die Insel im Rahmen des Protests gegen das amerikanische Militär eine neue Bedeutung gewann, die größer war als in der hawaiianischen Vergangenheit. Die Auseinandersetzung um Kaho’olawe ist für Linnekin ein Beispiel dafür, wie in nationalen und kulturellen Bewegungen Traditionen formuliert und verwendet werden, um politische Ziele zu erreichen. Haunani-Kay Trask argumentiert demgegenüber, dass die Hawaiianer gegen die militärische Nutzung Kaho’olawes protestierten, weil diese Insel von ihnen als heilig angesehen wird. Die Heiligkeit der Insel wurde nicht im Rahmen des politischen Protests konstruiert; vielmehr ist die Heiligkeit von Kaho’olawe, so Trask, die Grundlage des hawaiianischen Protests (Trask 1990: 15-16). Für Linnekin ist der politische Charakter von Kultur unvermeidbar, während Trask argumentiert, dass Kultur in bestimmten historischen Kontexten einen politischen Status erhalten kann, dass dies aber kein definierendes Element von Kultur ist. Der hawaiianische Nationalismus entsteht in Linnekins Augen im Kontext des Kolonialismus; Trask versteht ihren hawaiianischen Nationalismus als sekundär gegenüber ihrer Teilhabe an der hawaiianischen Kultur (Tobin 1994: 119). Linnekin stellt Trasks Darstellung der hawaiianischen Kultur explizit in Frage, denn sie hält kulturelles Wissen prinzipell für dynamisch und kreativ, währenddessen in ihren Augen die Tourismusindustrie, einige Forscher sowie Nationalisten ein Verständnis von Kultur besitzen, das deren Statik in den Vordergrund rückt (Linnekin 1992). Hawaiianische Nationalisten sehen ihre Kultur als weitgehend fixiert; sie konstruieren ihre Kultur als ein Produkt, währenddessen sie tatsächlich, so Linnekin, ein Prozess sei. Auch Trask unterscheidet ›falsche‹ von ›wahren‹ Kulturen, doch ihr entscheidendes Kriterium ist die Urheberschaft von Repräsentationen. Der Wahrheitsgehalt kultureller Repräsentationen über Hawaii ist für Trask eng verknüpft mit der Mitgliedschaft in der hawaiianischen Kultur. Sowohl hawaiianische Nationalisten als auch nicht-hawaiianische Ethnologen äußern sich über die hawaiianische Kultur, doch die hawaiianischen Nationalisten sind Hawaiianer, während die nicht-hawaiianischen Ethnologen haole sind (Tobin 1994: 122). Auch über die politischen Folgen ethnologischen Engagements besteht Uneinigkeit zwischen Linnekin und Trask. Linnekin hält den Einfluss der Ethnologie für vergleichsweise begrenzt; Ethnologen verfügen in ihren Augen nur über wenig Einfluss, öffentliche Repräsentationen ethnologischen Wissens zu kontrollieren. Dieses Wissen wird zumeist eingesetzt, so Linnekin, um politische Entscheidungen zu rationalisieren, die längst gefallen sind (siehe Linnekin 1991). Linnekin argumentiert, dass sich viele Ethnologen gegen Entwicklungsprojekte aussprechen oder sich für indigene Landrechtsbewegungen

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einsetzen; die eigentlichen bad guys sieht sie an anderen Universitätsinstituten. Für Trask sind Ethnologen allerdings »part of the colonizing horde« (Trask 1991: 162). Die Ethnologie gehört für Trask zum kolonialen System, das dazu beitrug, die Hawaiianer von ihrem Land zu enteignen; Ethnologen wie Sahlins helfen in ihren Augen durch falsche Repräsentationen der hawaiianischen Kultur heute dabei, diesen Zustand aufrecht zu erhalten. Trask macht darauf aufmerksam, dass ein Ethnologe, der für die United States Navy arbeitete, das Werk einiger Ethnologen verwendete, um nachzuweisen, »that the Hawaiian assertion of love and sacredness regarding Kaho’olawe was ›fakery‹« (Trask 1990: 16). In ihrer Antwort auf diese Kritik gibt Linnekin zwar zu, dass in diesem Fall ihre ethnologischen Arbeiten gegen die hawaiianische Selbstbestimmung verwandt wurden, doch sie kritisiert Trask dafür, nicht erwähnt zu haben, »[that] at the request of the Protect Kaho’olawe ’Ohana I wrote a lenghty critique of that report in a letter to the Navy« (Linnekin 1991: 175). Der Missbrauch ihrer Forschung zeigt für Linnekin nicht, dass sie der Nutzung der Insel seitens des amerikanischen Militärs zugestimmt habe; vielmehr zeige dieser Vorgang, wie wenig Einfluss die Ethnologie auf politische Prozesse habe. Für Trask liegt das Problem allerdings genau darin, dass Ethnologen über Macht verfügen: »what Linnekin or Keesing or any other anthropologist writes about Hawaiians has more potential power than what Hawaiians write about themselves« (Trask 1991: 166; siehe dazu auch Tobin 1994: 123). Vor dem Hintergrund dieser Kontroverse über den politischen Status ethnologischer Repräsentationen sollten die Kommentare von Kame’eleihiwa und Trask zu Sahlins gelesen werden. Im Unterschied zu Ansätzen, die die ›Erfindung von Traditionen‹ hervorheben, betont Sahlins die Lebendigkeit der Vergangenheit in der Gegenwart; die Akteure handeln auf der Grundlage habitueller Dispositionen und mythopoetischer Objektivierungen, die fundamentale Grundcharakteristika der jeweiligen Kultur ausdrücken. Sahlins geht zwar davon aus, dass sich kulturelle Schemata wandeln können, doch letztlich plädiert Sahlins für eine Theorie kulturellen Wandels, in dem kulturelle Kontinuität im Mittelpunkt steht. In Sahlins’ Ansatz gibt es eine enge Verknüpfung zwischen ›Geschichte‹ im Sinne von Vorstellungen über die Vergangenheit und der Realisierung sozialer Praktiken auf der Grundlage habitueller Dispositionen und mythopoetischer Objektivierungen. Im Gegensatz dazu argumentiert Jonathan Friedman, dass sich Mythologien nicht in sozialer Praxis sedimentieren, sondern dass soziale Praxis unter anderem als Prozess der Mythologisierung verstanden werden sollte (Friedman 1994: 141). Die Gegenwart wird für Friedman nicht auf der Grundlage einer imaginierten Vergangenheit geordnet; vielmehr wird die Konstruktion der Vergangenheit den Anforderungen der Gegenwart unterworfen (Friedman 1992: 196). Im Falle Hawaiis sieht Friedman indigene Vorstellungen über die hawaiianische Vergangenheit als ein Stück indigener Identitätspolitik (Friedman 1992: 207). Wie auch hawaiianische Intellektuelle lehnt es Sahlins ab, indigene kulturelle Traditionen auf den bloßen Ausdruck von Identitätspolitik zu reduzie-

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ren, die ihren Sinn erst vor dem Hintergrund des ›kapitalistischen Weltsystems‹ erhält.41 Doch obwohl Sahlins für die Authentizität kultureller Traditionen argumentiert und die These, indigene kulturelle Traditionen seien invented traditions, explizit kritisiert, wird auch Sahlins von einigen hawaiianischen Intellektuellen für seine Aussagen über die hawaiianische Kultur kritisiert. Ein Grund dafür ist, dass Sahlins, wie auch Linnekin, aus Sicht der Hawaiianer ein haole ist, also ein Repräsentant dessen, was Trask als »colonizing horde« bezeichnet hat, unabhängig davon, inwieweit sich die systematischen Positionen von Sahlins und seiner Schülerin Linnekin voneinander unterscheiden. Das empirische Phänomen, das Ansätzen, die die ›Erfindung von Traditionen‹ in den Mittelpunkt rücken, letztlich erst zu ihrer Popularität verholfen hat, ist auch von Sahlins registriert worden. Sahlins hält das sich entwickelnde kulturelle Selbstbewusstsein in vom Kolonialismus ehemals unterdrückten Kulturen für »one of the more remarkable phenomena of world history in the later twentieth century« (CP: 474; siehe auch Sahlins 1999a: 401). Sahlins greift die These an, dass kulturelle Revitalisierungsbewegungen einen Gegenentwurf zu westlichen Vorstellungen über diese Gesellschaften bilden, dass also kulturelle Traditionen letztlich das Ergebnis des colonial encounter seien. Darüber hinaus kritisiert er die Überlegung, der indigene Kulturalismus habe politische Grundlagen, dass also kulturelle Traditionen auf politische Motivationen zurückgehen (Sahlins 1999a: 403). Ansätze, die kulturelle Traditionen als ›erfunden‹ zu demaskieren suchen, führen sie, so Sahlins, auf praktische oder politische Erfordernisse bzw. Funktionen zurück. In der Ethnologie gibt es für Sahlins eine Tendenz, dass soziale Praktiken anderer Kulturen vor dem Hintergrund der eigenen politischen Moral interpretiert werden. Die ethnologischen Analysen über Genderprobleme, Widerstandsbewegungen, counterhegemonic discourses oder Rassismus, die sich auch in der Interpretation kultureller Revitalisierungsbewegungen niederschlagen, haben in Sahlins’ Augen mehr mit einem spezifisch westlichen moralischen Diskurs zu tun, weniger aber mit den sozialen Realitäten der Kulturen, die erforscht werden. Wenn kulturelle Praktiken beispielsweise als Ausdruck ungleicher Machtrelationen oder als Kämpfe um Macht gesehen werden, gehen für Sahlins die kulturellen Besonderheiten, die in der Ethnologie untersucht werden, verloren (Sahlins 1999a: 407). Sahlins wehrt sich letztlich nicht nur gegen die These, dass Traditionen ›erfunden‹ werden, sondern dass in den Erklärungen über invented traditions Bedeutung auf Funktion zurückgeführt wird. Auch den Begriff invented tradition hält Sahlins für verfehlt, denn Sahlins argumentiert nicht, dass kulturelle Traditionen erfunden werden, sondern dass sie über einen großen Erfindungsreichtum verfügen; Sahlins ersetzt den Begriff invention of tradition deshalb durch den 41 Sahlins hat immer wieder explizit den invention-of-tradition-Ansatz kritisiert. Von besonderer Bedeutung ist hier die Kontroverse zwischen Sahlins und Nicholas Thomas über die ›Erfindung‹ von kerekere auf Fidschi (Thomas 1993; Sahlins 1993b).

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Begriff inventiveness of tradition. Kulturelle Institutionen haben auch in Sahlins’ Ansatz Funktionen – wie auch in der invention-of-tradition-Literatur –, und sowohl die ›Form‹ als auch die ›Funktion‹ dieser Institutionen (sei es der hawaiianische hula oder der Makahiki) können sich ändern. Dennoch geht Bedeutung für Sahlins nicht auf praktische Erfordernisse zurück; im Gegenteil erhalten diese Erfordernisse ihren Sinn erst vor dem Hintergrund einer kulturellen Ordnung, sind also selbst bedeutungsvoll. Die ›Erfindung‹ von Traditionen als ein bedeutungsvoller Akt ist selbst ein Bestandteil kultureller Tradition (CP: 492). Sahlins beschreibt die Logik kultureller Revitalisierungsbewegungen nicht als eine ›Kultur des Widerstands‹ gegen den Westen, sondern als einen ›Widerstand der Kultur‹. Der gegenwärtige Kulturalismus ist für Sahlins gekennzeichnet von einer Dialektik von Assimilation und Differenzierung. Ein Beispiel für diesen Vorgang ist der Konsum westlicher Güter in nicht-westlichen Kulturen. Der Konsum westlicher Güter führt nicht zu einer bloßen Übernahme westlicher Lebensweisen, sondern kann traditionale Lebensweisen sogar unterstützen. Der Konsum ist für Sahlins Ausdruck einer Bewegung im kapitalistischen Weltsystem zu einem »World System of cultures, a Culture of cultures« (CP: 493): »Rather than the overthrow of the World System, which is now an irreversible fact of their existence, the local peoples’ inventions and inversions of tradition can be understood as attempts to create a differentiated cultural space within it« (CP: 494). Sahlins’ Analysen über kulturelle Revitalisierungsbewegungen sollten zunächst im Kontext seiner Untersuchungen über kulturelle Integrität und developman gelesen werden; doch zugleich eröffnen sie interessante Perspektiven auf die Sahlins-Obeyesekere-Debatte. Während Obeyesekere argumentiert, dass Sahlins jede Handlung der Hawaiianer kulturalisiert, geht Sahlins davon aus, dass Handlungen niemals allein ›politisch‹ motiviert sind, sondern dass das Konzept der Politik selbst bereits bedeutungsvoll, also kulturell ist. Diese These ist zugleich einer der wichtigsten Kritikpunkte von Sahlins an der invention-of-traditionLiteratur. Die Überlegung, kulturelle Traditionen seien das Ergebnis bewusster Manipulationen kultureller Schemata, um bestimmte politische Ziele zu erreichen, übersieht in Sahlins’ Augen, dass ›politische‹ Motivationen ihren Sinn erst vor dem Hintergrund einer kulturellen Ordnung beziehen können. Sahlins bestreitet keineswegs, dass bestimmte kulturelle Institutionen in bestimmten historischen Kontexten eine ›politische‹ Funktion haben, doch er argumentiert, dass Politik selbst kulturell ist. Wenn man dies übersieht, begeht man für Sahlins den Fehler, ein westliches Konzept auf nicht-westliche Gesellschaften zu übertragen und die kulturellen Besonderheiten der jeweiligen Gesellschaft zu übersehen. Die Trennung von Kultur und Politik ist nämlich für Sahlins Ausdruck einer westlichen kulturellen Kosmologie und kein konstituierendes Element der hawaiianischen Kultur des 18. Jahrhunderts. Sahlins’ Argument ist auch relevant für die Kontroverse zwischen Linnekin und Trask, denn während Linnekin Revitalisierungsbewegungen als Ausdruck politischer Auseinandersetzungen liest, argumentiert Trask, dass hawaiianische kulturelle Schemata nur in bestimmten histo-

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rischen Kontexten eine ›politische‹ Signatur erhalten. Sahlins’ Argumentation kommt hier also Trasks Kritik an Linnekin nahe, weil er die Reduktion hawaiianischer Revitalisierungsbewegungen auf politische Motivationen ablehnt. Sowohl für Sahlins als auch für Trask ist Kultur nicht ›politisch‹, sondern scheinbar ›politische‹ Motivationen sind kulturell. Doch ironischerweise wird Sahlins von Trask dafür kritisiert, die hawaiianische Kultur falsch zu repräsentieren und die Folgen des colonial encounter für die Hawaiianer zu unterschätzen. Für Trask können nicht nur die ethnologischen Forschungen von Linnekin gegen die Interessen der Hawaiianer verwendet werden, sondern auch Sahlins’ Argumente hinsichtlich der Frage, ob man durch soziale Praxis ein Mitglied der hawaiianischen Kultur werden kann. Sahlins und Linnekin vertreten hier vergleichbare Auffassungen, die sich von Trasks These, dass die Mitgliedschaft in der hawaiianischen Kultur durch die Geburt bestimmt sei, unterscheiden. Für Sahlins ist dies keine politische Frage, denn er will ja der cultural critique entkommen, die, so Sahlins, im Rahmen der ethnologischen Analyse anderer Kulturen politische und moralische Probleme westlicher Gesellschaften verhandelt. Aus Sicht hawaiianischer Intellektueller ist Sahlins’ Ethnologie allerdings sehr wohl ›politisch‹, weil sie als Teil der ›kolonialen Situation‹ erscheint, in der ungleiche Machtrelationen zwischen westlichem Zentrum und nicht-westlicher Peripherie aufrecht erhalten werden. Sahlins lehnt zwar eine Politisierung der Ethnologie ab, weil er verhindern will, andere Kulturen durch die Brille westlicher Moralität zu lesen, doch letztlich scheint er einer Politisierung seines Ansatzes nicht zu entkommen, weil hawaiianische Intellektuelle seinen Ansatz als Teil eines westlichen kolonialen Systems interpretieren. Die indigene Kritik an Sahlins scheint seinen Ansatz zunächst zu bestätigen, denn sie kann als Ausdruck dessen gelesen werden, was Sahlins als ›Indigenisierung der Moderne‹ bezeichnet, also als kulturelle Revitalisierungsbewegung. Allerdings scheint sie Sahlins’ Ethnologie zugleich deren Existenzberechtigung zu nehmen, weil Sahlins aus Sicht einiger Hawaiianer keine Legitimität besitzt, Aussagen über die hawaiianische Geschichte und Kultur zu treffen. Die Sahlins-Obeyesekere-Debatte erhält ihre Brisanz nicht nur vor dem Hintergrund der Diskussionen in der Cultural Anthropology über die ›Krise der ethnographischen Repräsentation‹, sondern vor allem unter Berücksichtigung indigener Wissenschaftskonzepte, auf deren Grundlage bezweifelt werden muss, dass eine westliche Repräsentation nicht-westlicher Kulturen möglich oder zumindest wünschenswert ist. Im nun folgenden Kapitel VI beleuchte ich die indigenen Wissenschaftskonzepte in Ozeanien und die ›Politik der Repräsentation‹ näher, um die Reichweite von Sahlins’ Ansatz besser einschätzen zu können.

Kapitel VI: Die Politik der Repräsentation

In der Debatte zwischen Sahlins und Obeyesekere geht es um eng miteinander verknüpfte methodologische, erkenntnistheoretische und handlungstheoretische Fragen; eine besondere Bedeutung kommt der ›Politik der Repräsentation‹ zu. Im Folgenden analysiere ich einige Aspekte der ›Politik der Repräsentation‹, die ein besseres Verständnis von Sahlins’ Werk im Kontext der Repräsentationsdebatten ermöglichen. Ausgangspunkt für meine Diskussion ist die Sahlins-ObeyesekereDebatte, denn sie zeigt wie kaum eine andere Auseinandersetzung in der Ethnologie, wie eng die ›Krise der ethnographischen Repräsentation‹ mit ›politischen‹ Aspekten verwoben ist. Allerdings wäre die Annahme, allein Sahlins’ Spätwerk sei für die Frage nach den Problemen ethnographischer Repräsentation relevant, irreführend, denn obwohl insbesondere Sahlins’ Spätwerk im Fokus der repräsentationstheoretischen Diskussionen steht (oder zumindest in den 1990er Jahren stand), sind die Probleme, mit denen sich Sahlins im Kontext seiner Debatte mit Obeyesekere auseinandersetzen muss, keineswegs neu; im Gegenteil erhält die Sahlins-Obeyesekere-Debatte erst vor dem Hintergrund von Sahlins’ Gesamtwerk ihre besondere Brisanz. Im Folgenden beleuchte ich einige Elemente der ›Politik der Repräsentation‹ näher, die für ein Verständnis von Sahlins’ Werk von Bedeutung sind. In Abschnitt eins setze ich Sahlins’ Konzept der Repräsentation, unter Berücksichtigung seiner politischen Kritik am Vietnamkrieg in den 1960er Jahren, in Beziehung zu indigenen Wissenschaftskonzepten in Ozeanien. Mein Augenmerk gilt insbesondere dem Universalitätsanspruch, der Sahlins’ Konzept ethnographischer Repräsentation zu Grunde liegt. Während es für Sahlins in seinem Protest gegen den Vietnamkrieg noch klar ist, dass die Repräsentation fremder kultureller Kontexte die Grundlage für universalistische politische Anliegen sein kann, sind im Kontext der ›Postkolonialisierung‹ und ›Indigenisierung‹ der Sozial- und Kulturwissenschaften seit den 1970er Jahren Repräsentationsweisen selbst ›politisch‹ geworden. Der Status von Sahlins’ Werk in den gegenwärtigen Debatten über die ›Krise der ethnographischen Repräsentation‹ ist also prekär, denn der Universalitätsanspruch ethnographischer Repräsentation,

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den Sahlins noch hat, lässt sich vor dem Hintergrund ›indigener‹ Wissenschaftskonzepte kaum aufrecht erhalten. Die westliche Repräsentation nicht-westlicher Kulturen verliert ihr Zentrum. Wie dieses repräsentationstheoretische Problem konzeptionell und empirisch fruchtbar verarbeitet werden kann, versuche ich ausschnittsweise in den folgenden Abschnitten zu beleuchten. In Abschnitt zwei geht es um die Narrativität historischer Forschungen. Wie ich in der Auseinandersetzung mit dem geschichtstheoretischen Werk Hayden Whites zeige, sind die narrativen Strukturen historischer Werke eng verknüpft mit der ›Politik der Repräsentation‹. In meiner Interpretation impliziert eine literaturwissenschaftliche Lesart historischer und ethnographischer Werke also keineswegs eine Verabschiedung empirischer Forschung, sondern kann inspirierende Impulse für die ›Politik der Repräsentation‹ liefern, insbesondere vor dem Hintergrund ›indigener‹ Repräsentationsweisen, die sich teilweise drastisch von westlichen Repräsentationstechniken unterscheiden. Im Anschluss daran kehre ich in Abschnitt drei zurück zu Sahlins’ Konzepten Kultur und Geschichte; eine exklusive Konzentration auf die Narrativität historischer und ethnologischer Werke verstellt nämlich den Blick auf die Bedeutung erkenntnisleitender Konzepte für die ›Politik der Repräsentation‹. Sowohl die Ethnologie als auch die Geschichtswissenschaft verwenden Konzepte, die die ›Realität‹ nur teilweise und unvollständig repräsentieren. So genannte concept-metaphors haben oftmals keinen unmittelbaren Referenten, obwohl sie sich auf reale Ereignisse beziehen. Die Spannungen zwischen unterschiedlichen Verwendungsweisen von concept-metaphors sind, wie ich vorschlagen möchte, ›politisch‹ und sollten dementsprechend als Teil der ›Politik der Repräsentation‹ systematisiert werden. In Abschnitt vier gehe ich auf die interkulturellen ›Argumentationsräume‹ ein, in denen sich die Debatten über die ›Politik der Repräsentation‹ zunehmend entfalten. Insbesondere stelle ich die Frage, ob ein Vermittlungsversuch zwischen westlichen und nicht-westlichen Wissenschaftskonzeptionen nicht Gefahr läuft, im Rahmen westlicher Wissenschaftsstandards zu verbleiben.

1. Ethnographische Repräsentation ohne Zentrum Die Kritik an Sahlins, ein Apologet des westlichen Universalismus zu sein, ist im Hinblick auf seine politische Kritik in den 1960er Jahren zumindest auf den ersten Blick erstaunlich, denn es geht Sahlins dort um eine Kritik am USamerikanischen Universalismus; zudem beruht Sahlins’ Kulturtheorie auf der These, dass es das Ziel der Ethnologie sein muss, kulturelle Andersartigkeit ›angemessen‹ zu repräsentieren. Gerade vor dem Hintergrund seiner political writings erscheint der Status von Sahlins’ Werk im Kontext der ›Politik der Repräsentation‹ ambivalent. Im Folgenden setze ich Sahlins’ Werk in Beziehung zu indigenen Wissenschaftskonzepten Ozeaniens; zuvor versuche ich, den Zusammenhang zwischen Sahlins’ ethnologischen Arbeiten und seinen political wri-

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tings ansatzweise zu ergründen. Erst dann lässt sich der Stellenwert von Sahlins’ Werk im Kontext der ›Politik der Repräsentation‹ einschätzen. Zunächst sollte angemerkt werden, dass eine zu enge biographische Kopplung zwischen Sahlins’ politischer Kritik und seinem ethnologischen Werk vermieden werden sollte – nicht, weil die Annahme unwahrscheinlich sei, dass der politische Protest gegen den Vietnamkrieg keine Auswirkungen auf Sahlins’ ethnologisches Werk gehabt hat, sondern weil die notwendigen Quellen, dies auf einer biographischen Ebene nachzuweisen, fehlen. Bei Sahlins’ Gesamtwerk sind wir leider nicht in einer solch komfortablen Situation wie beispielsweise bei Talcott Parsons, in dessen Fall eine argumentative Verknüpfung zwischen Biographie und Lebenswerk zu bemerkenswerten Ergebnissen geführt hat (siehe Wenzel 1990). Es gibt einige Zeitzeugenberichte, nach denen der Protest gegen den Vietnamkrieg eine große Bedeutung für Sahlins gehabt hat. Einer von Sahlins’ Schülern erinnert sich wie folgt: »I went to the University of Michigan in 1969 […] Marshall Sahlins’s economic anthropology, to become Stone Age Economics, blew me away. Marshall would stride up and down in front of the class, smoking a small cigar, talking antiwar and social justice, and crafting incredible images of traditional societies. This was a period of transition for him, turning 40 and questioning the evolutionary thought of his youth« (Earle 2002: viii).

Eine solche Einschätzung wird im Grunde durch Sahlins’ Einleitung zu Culture in Practice unterstützt. Sahlins bezeichnet den teach-in in Michigan als »a privileged anthropological experience, if only because it could always be replayed afterward for insights, hindsights, and reality checks whenever Big Issues of culture and agency, structure and event came up academically« (CP: 24-25). Eine Schlussfolgerung, die Sahlins nach eigener Aussage aus den teach-ins gezogen hat, war seine Erkentnis, dass »historical agency« in einer bestimmten Beziehung zur kulturellen Ordnung steht: »an embodiment of collective powers in individual persons, whether this instantiation is effected by the situational felicity of an action (as in the case of the teach-in) or constituted in the structural authority of the actor (such as Fijian or Hawaiian divine chiefs« (CP: 25). Während für einige der Vietnamkrieg zudem der Ausgangspunkt für die Entwicklung einer Analyseperspektive war, die interkulturelle Machtasymmetrien in den Mittelpunkt rückt, war Sahlins nach eigener Aussage nachhaltig beeindruckt vom Versuch der Vietnamesen, ihre kulturelle Integrität zu wahren. Möglicherweise verweist Sahlins hier implizit auf die Werkentwicklung von Eric Wolf. Wolf und Sahlins arbeiten in den 1960er Jahren gemeinsam an der University of Michigan, beide sind entscheidend am zwischenzeitlichen Aufstieg des teach-in als akademische Protestform beteiligt – doch die individuellen Werkentwicklungen der beiden Ethnologen gehen in konträre Richtungen. Wolf arbeitet an einem politökonomischen

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und weltsystemtheoretischen Paradigma, während Sahlins den kulturellen Relativismus mit dem französischen Strukturalismus verknüpft. Biographisch inspirierte Bemerkungen, wie sie sich in der Einleitung zu Culture in Practice finden, sind zwar aufschlussreich, aber letztlich nur Indizien dafür, dass Sahlins’ politisches Engagement in den 1960er Jahren tatsächlich für die Entwicklung seines ethnologischen Werks eine große Bedeutung gehabt hat. Gerade für eine biographische Analyse gibt es nahezu kein verwertbares Quellenmaterial, und inwieweit Sahlins’ Anmerkungen in Culture and Practical Reason zumindest teilweise eine nachträgliche Rationalisierung seiner Werkentwicklung sind, ist eine offene Frage, die auf der Grundlage des verfügbaren Materials nicht geklärt werden kann. Um Sahlins’ Werkentwicklung besser zu verstehen, erscheint es gewinnbringend, biographische Elemente, den historisch-politischen Kontext und die theoriegeschichtliche Entwicklung besser miteinander in Beziehung zu setzen, als es mir in dieser Arbeit möglich gewesen ist. An dieser Stelle ist für mich ein anderes Vorgehen relevant: Es lohnt sich nämlich, nicht nur auf die biographische Verknüpfung zwischen Sahlins’ politischer Kritik und seiner Werkentwicklung einzugehen, sondern auch auf theoriesystematische Verbindungen. Während es auf der biographischen Ebene darum geht, welche Rolle Sahlins’ Protest gegen den Vietnamkrieg für sein ethnologisches Werk gespielt hat – und, umgekehrt, welche Bedeutung seine ethnologischen Entwürfe für sein politisches Engagement gespielt haben und spielen –, steht auf der theoriesystematischen Ebene die konzeptionelle Beziehung zwischen Sahlins’ politischer Kritik und seiner Ethnologie im Mittelpunkt. Beachtet werden sollte nur, dass eine unmittelbare Verknüpfung zwischen der biographischen und der theoriesystematischen Ebene nicht zulässig ist; die These, dass es konzeptionelle Anknüpfungspunkte zwischen Sahlins’ politischer Kritik und seiner Ethnologie gibt, ist noch keine Bestätigung für die biographische These, dass diese politische Kritik tatsächlich determinierend auf seine Ethnologie gewirkt hat, wenn eine solche Annahme auch durchaus plausibel ist. Aus einer systematischen Perspektive sticht ein Unterschied zwischen Sahlins’ political writings und seinen ethnologischen Werken ins Auge. Hinsichtlich des Konzepts der Kritik erweisen sich die politischen Arbeiten, die Sahlins in den 1960er Jahren veröffentlicht, nämlich nicht als unmittelbar programmatisch für Sahlins’ Gesamtwerk, denn Sahlins’ Denken geht gerade nicht in die Richtung einer ›kritischen‹ oder ›politisch engagierten‹ Ethnologie, zumindest nicht im Sinne des Marxismus oder der ›Frankfurter Schule‹. In seinem im engeren Sinne ethnologischem Werk plädiert Sahlins nicht dafür, dass nicht-westliche Kulturen politisch autonom sein sollten, sondern dafür, dass Kulturen autonomer sind, als dies, wie er glaubt, gemeinhin angenommen wird. Auch hinsichtlich der Analyse moderner Gesellschaften geht es ihm nicht, wie in der ›Frankfurter Schule‹, um gesellschaftliche Emanzipation, sondern um ethnologische Erkenntnis (wenn eine solche Unterscheidung im Rahmen der Kritischen Theorie auch sinnlos sein mag). Die einzige Arbeit, in der Sahlins dezidiert Kritik an der ›westlichen Zivi-

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lisation‹ übt, ist seine wirtschaftsethnologische Arbeit über ›The Original Affluent Society‹, die interessanterweise erstmals kurz nach Sahlins’ Arbeiten im Kontext seines Protests gegen den Vietnamkrieg und gegen Project Camelot erscheint (Sahlins 1968b, 1968d, SAE: 1-39). ›Kritisch‹ ist sein Werk höchstens dahingehend, dass Sahlins den seiner Ansicht nach in der westlichen Kultur sowie in den Sozialwissenschaften höchst einflussreichen Utilitarismus kritisiert. Diese Kritik ist allerdings nicht unmittelbar mit seiner Kritik am Vietnamkrieg verknüpft, denn die Utilitarismuskritik durchzieht Sahlins’ Gesamtwerk, prägt also bereits seine frühesten Veröffentlichungen. Der theoriesystematische Status seines politischen Protests im Kontext seines Gesamtwerks bleibt also ambivalent. Sahlins erkennt den Einfluss seines politischen Protests gegen den Vietnamkrieg auf sein ethnologisches Werk an, doch dieses Werk selbst ist für ihn in erster Linie Ausdruck seines Versuchs, andere Kulturen in ihrer Distinktivität zu repräsentieren. Es mag also tatsächlich sein, dass Sahlins’ Plädoyer für den kulturelle Relativismus gewissermaßen ein wissenschaftlicher Ausdruck seines politischen Protests gegen den US-amerikanischen Universalismus ist. Aus einer systematischen Perspektive sollte aber der konzeptionelle Übergang von einer Kritik der US-amerikanischen Politik zu einer Kritik des westlichen Utilitarismus beachtet werden, den Sahlins vollzieht. Obwohl also sowohl Sahlins’ politisches Engagement als auch sein ethnologisches Werk dezidiert antimodernistisch sind, fallen beide Aspekte von Sahlins’ Gesamtwerk nicht zusammen. Dennoch gibt es zwischen Sahlins’ political writings und seiner Ethnologie eine konzeptionelle Parallele, die auch für ein Verständnis der Sahlins-Obeyesekere-Kontroverse von hoher Bedeutung ist: Gemeint ist das Konzept der ethnographischen Repräsentation, das sowohl Sahlins’ politischer Kritik als auch seiner Ethnologie zu Grunde liegt. Das Konzept ethnographischer Repräsentation, das Sahlins verfolgt, ändert sich im Laufe seiner werkgeschichtlichen Entwicklung, denn spätestens seit seiner kulturalistischen Wende rückt immer mehr der interpretative Aspekt der Repräsentation in den Vordergrund. Sahlins thematisiert in Culture and Practical Reason allerdings weniger das Problem ethnographischer Repräsentation, sondern die Relation zwischen Kultur und ›Realität‹. Der von Sahlins in Culture and Practical Reason entwickelte ethnographische Realismus ist auch für seine späteren Schriften konstitutiv, wenn er auch in der Kontroverse mit Obeyesekere verstärkt auf das Problem der Interpretation anderer Kulturen eingeht. Sahlins argumentiert hier im Anschluss an Michel de Certeau, es müsse das Ziel der Ethnologie sein, »[to develop] a true heterology or science of the other, which begins, as Certeau says, just where the specificity of another society ›resists Occidental specifications‹. It begins with the apparent incongruities of the voyaging account, the shocks to our own categories, logic and common sense« (NT: 118). Fremdheit steht am Beginn ethnologischer Erkenntnis (NT: 62), und die Ethnologie ist in Sahlins’ Augen besonders gut dafür geeignet, die universalen Verständnisprobleme zwischen ihrem Wesen nach ethnozentrischen Kulturen zu überbrü-

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cken. Sahlins plädiert für eine ›ethnographische Autorität‹, die zwei miteinander verknüpfte Bewegungen enthält: »submission to the understandings of the others and the integration of what is thus learned in a general anthropological understanding« (Sahlins 1997a: 273). Im Anschluss an Todorov und Bakhtin nennt Sahlins den ersten Schritt ethnologischen Verstehens, das dem Einfühlen nahekommt, »entopy« und unterscheidet dies von »exotopy«, also »the inclusion of what is said in an alien cultural context, thus revealing rather than repeating a meaning by setting it in novel positional relationships« (Sahlins 1997a: 274). Dadurch wird der Abstand zwischen »the thought of the knower and the nature of the known« verringert: »By virtue of the shared humanity of anthropologists and their interlocutors, which is also to say their common symbolic capacity, the former replicate in mind, as the meaningful significance of custom, what the latter express in practice« (Sahlins 1997a: 275). Obwohl Sahlins also nicht die These aufstellt, es sei möglich, die hawaiianische Kultur im Rahmen von Texten einfach zu ›beschreiben‹, hält er an einer prinzipiellen Referenz zwischen Text und Erkenntnisgegenstand fest. Das Konzept der Referenz scheint notwendig zu sein, um einem radikalen Textualismus, der in Sahlins’ kulturalistischem Entwurf angelegt ist, zu entkommen, denn es ist ja nur ein kleiner Schritt von der These, Kultur stehe in einem arbiträren Verhältnis zur ›Welt‹, zu der Überlegung, der Text konstituiere Bedeutung nicht durch eine Referenz auf die ›Welt‹, sondern durch textimmanente diskursive Strategien. Wie nahe Sahlins in seiner theoriegeschichtlichen Entwicklung einem solchen epistemologischen Textualismus zeitweise gekommen ist, zeigt seine höchst unvollständige Rezeption von Jean Baudrillards Frühwerk, die ich in Kapitel III untersucht habe. Was sich in Sahlins’ Werk nicht ändert, ist die Überzeugung, dass es für einen westlichen Ethnologen möglich, legitim und auch wünschenswert ist, nichtwestliche Kulturen zu erforschen. Sahlins kämpft um diese Autorität, und bereits die Formalismus-Substantivismus-Kontroverse in der Wirtschaftsethnologie der 1960er Jahre kann als eine frühe innerwestliche Debatte über ›angemessene‹ Formen ethnographischer Repräsentation aufgefasst werden. Während formalistische Wirtschaftsethnologen ihren Analysen ein universalistisches Handlungsmodell zu Grunde legen, das an der ökonomischen Neoklassik angelehnt ist, betonen Substantivisten die institutionellen Unterschiede zwischen modernen und vormodernen Gesellschaften. Formalisten und Substantivisten stimmen aber darin überein, dass es für westliche Ethnologen möglich ist, wissenschaftliche Aussagen über andere Kulturen zu machen, und dass Ethnologen auch über eine dementsprechende ›Autorität‹ verfügen. Sahlins’ politische Kritik am Vietnamkrieg ist von einem ähnlichen repräsentationstheoretischen Optimismus geprägt. Sahlins thematisiert in seinen Analysen des Vietnamkriegs nicht die Unsicherheiten ethnographischer Repräsentation, sondern leitet aus seiner Analyse der Situation in Südostasien eine politische Kritik am Vietnamkrieg ab. Die Repräsentation der vietnamesischen Kultur, der Handlungsweisen der US-Amerikaner in Vietnam sowie des weltpolitischen Kontextes selbst sind in Sahlins’ Schriften über Viet-

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nam für ihn nicht fragwürdig. Es geht Sahlins nicht um das Infragestellen des Repräsentationsvorgangs oder um die Frage, ob ein westlicher Ethnologe Aussagen über die vietnamesische Kultur machen sollte (oder kann); vielmehr repräsentiert Sahlins die US-amerikanische Politik sowie die vietnamesische Kultur und macht diese Repräsentation zu einer bedeutenden Grundlage seiner politischen Kritik am Vietnamkrieg. Im Kontext der Kontroversen über den colonial encounter, der writing-culture-Debatte, der Kontroverse zwischen Sahlins und Obeyesekere und dem Aufkommen indigener Wissenschaftskonzepte wird nun allerdings der Repräsentationsvorgang selbst ›politisch‹. Die westliche Repräsentation anderer Kulturen wird immer weniger selbstverständlich, geschweige denn eine daraus abgeleitete Kritik politischer Zusammenhänge. Aus der Perspektive von Haunani-Kay Trask ist auch Sahlins Teil der colonizing horde, obwohl er den Vietnamkrieg explizit kritisiert. Beachtet werden sollte natürlich, dass Sahlins in seiner Kritik an Project Camelot zunächst ähnlich argumentiert wie beispielsweise Trask, denn für Sahlins werden im Rahmen dieses Projektes die Sozialwissenschaften für den US-amerikanischen Expansionismus instrumentalisiert: »the least we can do is protect the anthropologist’s relation to the Third World, which is a scholarly relation. Fieldwork under contract to the U.S. Army is no way to protect that relation« (CP: 263). Aus Sicht einiger ozeanischer Wissenschaftler ist diese scholarly relation, die Sahlins in seiner Kritik an Project Camelot einfordert, aber selbst politisch und hält ungleiche Machtrelationen zwischen einzelnen Kulturen aufrecht, und dies schließt auch Sahlins’ Konzept ethnologischer Forschung ein. Die westliche Repräsentation anderer Kulturen scheint damit ihr legitimes erkenntnistheoretisches Zentrum verloren zu haben. Im Folgenden stelle ich einige eng miteinander verknüpfte Grundcharakteristika ozanischer Wissenschaftsformen vor, die in den letzten Jahren entwickelt worden sind und die eine enorme Herausforderung für die westlichen Sozial- und Kulturwissenschaften im Allgemeinen und Sahlins’ Werk im Besonderen sind. Angesichts der Vielfalt von ›Stimmen‹, Texten und anderen Vermittlungsformen beschränke ich mich insbesondere auf Arbeiten von Houston Wood, Vilsoni Hereniko, David Welchman Gegeo und Konai Helu Thaman.1 Im Anschluss daran versuche ich, die von diesen Autoren entwickelten Gedanken mit Sahlins’ Werk zu konfrontieren. Eine erste Forderung, die von vielen ozeanischen Wissen1

Die Zeitschrift The Contemporary Pacific ist eine wichtige Plattform für diese Debatten über ozeanische Wissenschaftsformen und –praktiken, an denen sich natürlich nicht nur indigene Wissenschaftler beteiligen. Houston Wood beispielsweise ist kein indigener Wissenschaftler, verfolgt aber ebenso wie viele indigene Wissenschaftler das Ziel, die pacific studies gewissermaßen zu dekolonisieren. Die ethnische oder kulturelle Identität der an den Kontroversen über indigene Wissenschaftsformen beteiligten Akteure ist in diesen Debatten aber keineswegs nebensächlich. Zu den bedeutendsten jüngeren Arbeiten und Überblicken gehören Gegeo 2001a, 2001b; Gegeo/Watson-Gegeo 2001; Hanlon 2003; Hereniko 2000; Hviding 2003; Huffer/Qalo 2004; Smith 1999; Thaman 2003; Trask 1993; White/Tengan 2001; Wood 1999, 2003, 2006.

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schaftlern erhoben wird, ist die explizite Einbeziehung ozeanischer ›indigener Epistemologien‹, also »a cultural group’s ways of theorizing knowledge« (Gegeo 2001b: 491), in den Forschungsprozess und die Darstellung der Forschungsergebnisse, weil indigene Epistemologien als gegenüber westlichen Denkweisen grundverschieden angesehen werden (Smith 1999: 187-188). Es geht nicht mehr darum, indigene Epistemologien oder Kosmologien zu untersuchen und über sie zu schreiben, sondern diese zumindest in die Grundlegung des Wissenschaftskonzepts selbst einzubeziehen, wenn nicht sogar sie zur exklusiven Grundlage des ›angemessenen‹ Wissenschaftsverständnisses zu erheben (Wood 2003: 355).2 Vilsoni Hereniko kritisiert, dass durch die westliche Betonung auf das geschriebene Wort die Ambiguität und Vielfältigkeit der indigenen Vergangenheit zugunsten einer ›wahren‹ Interpretation eingezogen wird. »Besides undermining oratory, the written word encourages the view that there is but one truth, and this truth can be discovered through rigorous research« (Hereniko 2000: 84-85; siehe auch Wood 2003: 360). Westliche Ethnologen oder Historiker vernachlässigen in Herenikos Augen die ›emotionale Wahrheit‹, »which is the essence of literature, oral or written […] novelists are concerned with the unseen as well as the seen and, if they are good at their craft, give better insights into history in its totality than social scientific accounts in textbooks« (Hereniko 2000: 85). Hereniko kritisiert die Vorgehensweise, westliche Theorien auf nichtwestliche Kulturen anzuwenden; deshalb sind viele westliche Diskurse über ozeanische Gesellschaften in Herenikos Augen intellektuelle Spielereien, die eher den westlichen Wissenschaftlern zu Gute kommen als den ›untersuchten‹ Gesellschaften und wenig Aussagekraft über diese Gesellschaften besitzen. Westliche Epistemologien werden im Rahmen indigener Wissenschaftskonzepte also eher als ein Hindernis angesehen: »we need once and for all to eliminate the AngloEuropean categories that still tend to imprison us in outdated, meaningless terminologies that divide rather than unite us« (Gegeo 2001a: 179). Ein Hindernis, das in Houston Woods Augen überwunden werden muss, ist die große Bedeutung westlicher Konzepte wie ›Melanesien‹ und ›Polynesien‹, die eine Bildung überregionaler ozeanischer Identitäten erschwert. »One aim of the new cultural studies for Oceania is to assist in the discrediting and retiring of imported concepts that build barriers to cooperation across and beyond the region« (Wood 2003: 347).3 Viele indigene Wissenschaftler halten das von ihnen identifizierte westliche Streben nach universaler Wahrheit für verfehlt und argumentieren, dass indigene Wissensformen nicht universalisiert werden können, sondern in lokalen Kontexten entstehen und nur in diesen Kontexten gültig sind (siehe Meyer 2001). Ein weiteres Beispiel für westliche Kategorien, die im Rahmen ozeanischer Wissenschaftskonzepte kritisiert werden, ist die westliche Differenzierung gesell2 3

Siehe dazu auch Gegeo 2001b; Gegeo/Watson-Gegeo 2001; Huffer/Qalo 2004; Meyer 2001. Siehe dazu auch Smith 1999: 38; Thaman 2003: 2.

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schaftlicher ›Sphären‹ oder Funktionen, also die Unterscheidung zwischen Politik, Religion oder Ökonomie. »Questions about what Hawaiians call pono, about how to harmonize all aspects of life, should be foremost, for both Native and non-Native researchers« (Wood 2003: 351).4 Als ein zentrales epistemologisches Kennzeichen der ozeanischen cultural studies sieht Wood die fortwährende Kombination unterschiedlicher Stile und Ausdrucksmöglichkeiten. Ein Gedicht ist für Wood ebenso legitim und weiterführend wie ein im engeren Sinne ›wissenschaftliches‹ Werk, das westlichen Standards genügt. »While westerners generally accept the Aristotelian distinction between rhetorical and poetic texts, no such dichotomy of fact and fiction, of persuasion and entertainment, should limit a cultural studies for Oceania as it evolves its region-serving perspectives« (Wood 2003: 362). Der Mix von Fiktion und Kulturkritik ist für White und Tengan charakteristisch für weite Teile indigenen Forschens (White/Tengan 2001: 402); tatsächlich haben viele ozeanische Forscher wie Trask, Hau’ofa oder Thaman neben ihren im engeren Sinne ›wissenschaftlichen‹ Texten auch poetische Werke veröffentlicht. Besondere Aufmerksamkeit muss, wie Wood argumentiert, neben literarischen Formen auch mündlichen Ausdruckmöglichkeiten geschenkt werden, weil dies vielen Menschen in der pazifischen Region näher liegt als das Schreiben. Zudem wird Schreiben, wie Wood ausführt, in ozeanischen Gesellschaften immer noch als eng verknüpft gesehen mit dem Kolonialismus, der ja gerade überwunden werden soll.5 Im Rahmen der indigenen Wissenschaftsformen in Ozeanien werden also traditionelle (also westliche) Wissenschaftsformen zugunsten einer größeren Vielfalt an Epistemologien und Ausdrucksformen aufgebrochen. Mit Blick auf die Geschichtsschreibung bezeichnet David Hanlon diesen Prozess als eine Dezentrierung der Geschichte. »History, it seems to me, can be sung, danced, chanted, spoken, carved, woven, painted, sculped, rapped as well as written. […] A decentering of history in Oceania also requires an awareness of the local knowledges and epistemologies that inform the many varied and particular practices of history in the region« (Hanlon 2003: 30).

Zweitens fordern viele indigene Wissenschaftler, dass der historische und kulturelle Kontext, in dem wissenschaftliche Diskurse entstehen, stärker als bislang berücksichtigt wird. Ein Vorwurf seitens vieler ozeanischer Forscher an den westlichen Sozial- und Kulturwissenschaften ist, dass diese die ›koloniale Situation‹ nicht bekämpfen, sondern im Gegenteil den Kolonialismus mit anderen Mitteln fortführen. »What good is political independence if we remain colonized epistemologically?« (Gegeo 2001a: 182) Auch Vilsoni Hereniko argumentiert, 4 5

Siehe dazu auch Diaz/Kauanui 2001: 321; Huffer/Qalo 2004: 102-103. Siehe dazu auch folgende Aussage von LilikalƗ Kame’eleihiwa: »We have evolved from a complex oral society and mistrust the power that the written words seems to wield« (Kame’eleihiwa 1992: 380, Fn. 25).

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dass der Kolonialismus im Pazifik eine wichtige Rolle für den Verlust indigener Kultur gespielt hat. Dieser Verlust, so Hereniko, spielt eine besondere Rolle in der Marginalisierung indigener Wissenschaftskonzepte, denn durch die westlichen Institutionen Kirche und Schule wurde das indigene Bewusstsein kolonisiert, was zur Folge hatte, dass indigene Epistemologien mehr und mehr an Bedeutung verloren haben (Hereniko 2000: 83; siehe auch Thaman 2003). Die Forderung indigener Wissenschaftler, dass westliche Epistemologien in der Erforschung ozeanischer Gesellschaften vermieden werden sollten, hat also auch mit der Furcht zu tun, durch den Gebrauch westlicher Epistemologien die von Hereniko identifizierte Kolonialisierung des Bewusstseins zu festigen (Wood 2003: 354). Dass an Schulen oder Universitäten in der pazifischen Region das geschriebene Wort gegenüber anderen, indigenen, Wissensformen immer noch den Vorzug erhält, hat für Hereniko nicht nur die Folge, dass indigene Wissenschaftskonzepte weiterhin unterdrückt werden, sondern dass viele indigene Studenten ihr Studium nicht beenden können oder wollen. »Many island students fail not because they are stupid, but because the formal education system works against indigenous ways of learning or evaluating knowledge« (Hereniko 2000: 84). Aus der Kritik an der Verknüpfung von Kolonialismus und westlichen Epistemologien ziehen viele indigene Wissenschaftler und Intellektuelle in Ozeanien die Forderung, indigene Epistemologien stärker als bislang in den Mittelpunkt der Bildung zu rücken. »Institutions of high education must recognize ownership and control of indigenous knowledge by indigenous peoples rather than by the academy. Pacific studies centers and programs need indigenous cultural knowledge in order to validate and legitimize their work, particularly in the eyes of indigenous peoples« (Thaman 2003: 11).

Drittens gehen viele indigene Forscher von einer Unterscheidung zwischen islanders und outlanders aus. Eine wichtige Implikation dieser Unterscheidung ist die Frage nach der Legitimität von outlanders, Aussagen über pazifische Kulturen zu machen. Hereniko beklagt sich darüber, dass westliche Wissenschaftler davon ausgehen, sich über alles und jedes, inklusive pazifische Kulturen, äußern zu dürfen. Zum Mindesten, was westliche Wissenschaftler in Herenikos Augen tun sollten, gehört es, indigene Wissenschaftler einzuladen »to share the space with them, either as copresenters or as discussants or respondents. Not to do is to perpetuate unequal power relations between colonizer and colonized« (Hereniko 2000: 86). Hereniko beklagt sich auch über den Verlauf der SahlinsObeyesekere-Kontroverse, in der indigene Stimmen weitgehend marginalisiert wurden. »Both Sahlins and Obeyesekere say their ultimate desire is that native voices be heard, but how can we hear those voices when they are screaming at each other so loudly?« (Hereniko 2000: 87) Ein eng damit verknüpftes Thema ist die Legitimität des Zugriffs westlicher Wissenschaftler auf indigenes Wissen. Beispielsweise stellt Houston Wood das Recht westlicher Wissenschaftler in

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Frage, Zugang zu ozeanischem Wissen zu erlangen (Wood 2003: 342). Dies bedeutet allerdings keineswegs, dass indigene Wissenschaftler nicht-indigene ›Stimmen‹ einfach unterdrücken wollen. Zwar können die Aussagen einiger ozeanischer Wissenschaftler tatsächlich so interpretiert werden, dass sie die Erforschung ihrer Gesellschaften durch westliche Wisenschaftler rundweg ablehnen. Dies ist aber nicht die Haltung der meisten ozeanischen Wissenschaftler und Intellektuellen. Beispielsweise gibt Hereniko zu, dass ein westlicher Ethnologe, der lange Zeit in einer ozeanischen Kultur gelebt hat, möglicherweise besser über viele Zusammenhänge indigener Lebensweisen Bescheid weiß als Hereniko selbst, auch wenn dies seine Heimatkultur ist. Doch dieses Wissen hält Hereniko für begrenzt: »there are certain matters, largely to do with intuition, emotion, and sensibility, that the outsider may never fully grasp, for these are things in the realm of the unseen, acquired through early socialization in the formative years, and perhaps inherent in the Rotuman gen pool« (Hereniko 2000: 90). Hereniko plädiert deshalb dafür, dass insiders und outsiders zusammen arbeiten sollten, allerdings »on equal terms« (Hereniko 2000: 90). Welche Grundlagen hat die Unterscheidung insiders vs. outsiders, auf denen diese Forderungen ozeanischer Wissenschaftler beruhen? Zunächst ist für viele ozeanische Wissenschaftler und Intellektuelle keineswegs sicher, wer für wen als ›indigen‹ oder ›einheimisch‹ gilt und ob solche Unterscheidungen nicht letztlich Teil des kolonialen Systems sind, das überwunden werden soll (Gegeo 2001b: 502).6 Für White und Tengan ist gerade die Ethnologie mitverantwortlich für die zuweilen kategorische Unterscheidung zwischen insider und outsider. Mit Blick auf die invention-of-tradition-Kontroverse im Allgemeinen und Haunani-Kay Trasks radikaler Ablehnung der westlichen Ethnologie im Besonderen argumentieren White und Tengan, »that this kind of separation has been fostered by anthropology’s mythos of otherness and related practices that intensify native wari6

Die in diesen Kontroversen verwandten Begriffe sind umkämpft und können in unterschiedlichen Kontexten ihre jeweiligen Bedeutungen verändern. Die Wahl zwischen den Begriffen ›pazifisch‹ und ›ozeanisch‹ wird beispielsweise zuweilen ebenso wenig als arbiträr betrachtet wie die Wahl zwischen den Begriffen ›einheimisch‹ und ›indigen‹. Der Begriff native gilt beispielsweise, wie Gegeo berichtet, im Gegensatz zu indigenous in Melanesien als eine Beleidigung (Gegeo 2001b: 505). »Indigenous now has two meanings among Pacific Island scholars and activists. First, it refers to fourth-world people such as Maori, Hawaiians, and Aborigines – people who were colonized and are still colonized in their own society; this is a political definition. Second, someone who is not of mixed blood. Native now means people who are of mixed ancestry living in the place of one or other parent. For example, persons of part-Hawaiian ancestry who were born and live in California can call themselves ›native Hawaiian‹ but not ›indigenous‹« (Gegeo 2001a: 183, Fn. 1). Diaz und Kauanui verwenden die Begriffe native und indigenous als Synonyme, erkennen aber an, dass diese Begriffe in unterschiedlichen Kontexten gänzlich unterschiedliche Bedeutungen haben können (Diaz/Kauanui 2001: 333, Fn. 1). – Für den Zusammenhang zwischen Identität und Kolonialismus siehe auch White/Tengan 2001: 395 und Wood 2003: 343.

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ness of research practices associated with the colonial past« (White/Tengan 2001: 400). In Houston Woods Augen waren indigene Identitäten in Ozeanien immer schon ambivalenter und fluider als dies im Rahmen westlicher Repräsentationen ozeanischer Gesellschaften oftmals erscheint (Wood 2003: 343). Indigene Identitäten unterliegen für Wood einem permanenten Wandlungsprozess und sind vielfach eng verknüpft mit westlichen Lebensweisen, beispielsweise im Falle von Migranten, die in westlichen Gesellschaften leben. Auch White und Tengan machen darauf aufmerksam, dass die Identität vieler so genannter ›indigener‹ Wissenschaftler ambivalent ist. »At present, most of the indigenous authors who are producing scholarly work and cultural criticism are located in metropolitan communities in Fiji, Guam, Hawai’i, Aotaroa, and around the Pacific rim« (White/Tengan 2001: 386).7 Dies macht für die meisten indigenen Forscher eine Offenlegung des eigenen Identitätshintergrunds im Rahmen wissenschaftlicher Forschung allerdings nicht obsolet, denn, wie Wood argumentiert, »it is now evident that scientistic, continentally imported methods were never value neutral; in fact they systematically undermined the prestige and legitimacy of the many Native methods of knowing that preceded the entry of non-Natives into Oceania« (Wood 2003: 344). Fragen nach dem Identitätsstatus von Wissenschaftlern, die ozeanische Gesellschaften untersuchen, haben im Rahmen indigener Wissenschaftskonzepte eine befreiende Implikation. Allerdings wird auch anerkannt, dass eine identitätsstiftende Unterscheidung zwischen islanders und outlanders nicht zwangsläufig emanzipative Folgen hat, denn sie kann dazu führen, dass interne Machtdifferenzen übersehen werden. »Important differences, fragmentations, and hybridities existed (and continue to exist) within island communities, particularly in relation to subaltern groups. We must be alert to essentializing discourses of authenticity, for more often than not they end up alienating the very people they claim to represent« (Balawanilotu et al. 2003: 201). Viertens sind viele indigene Wissenschaftler in Ozeanien davon überzeugt, dass Wissenschaft eine politische Komponente aufweist.8 Dieser Punkt ist eng mit den anderen Aspekten indigener Wissenschaft verknüpft, die ich bereits benannt habe, denn sowohl die Forderung, indigene Epistemologien zu verwenden als auch die insider/outsider-Unterscheidung sind Ausdruck für das emanzipative Ziel indigener Wissenschaftskonzepte, also ihr Selbstverständnis als dekolonisierende Praxis (Diaz/Kauanui 2001: 318). In Houston Woods Vision der ozeani7

8

White und Tengan argumentieren zudem, dass sich ozeanische Identitäten zwischen den Begriffen roots und routes bewegen. »There is an uncanny resonance between these contrastive styles of cultural analysis and different forms of identity evident in the Pacific today: on the one hand, native identities based primarily in attachments to land and ancestors and, on the other, identities formed in experiences of travel, relocation, and dislocation« (White/Tengan 2001: 388). Dies sollte nicht mit der These verwechselt werden, Kultur habe immer einen politischen Status. Im Rahmen indigener Wissenschaftskonzepte wird diese These, die insbesondere in der invention-of-tradition-Literatur eine große Rolle gespielt hat, explizit kritisiert (Diaz/Kauanui 2001: 323).

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schen cultural studies dient Wissenschaft in erster Linie der Identitätsbildung, nicht aber dem ›globalen‹ wissenschaftlichen Fortschritt (Wood 2003: 347). Darüber hinaus wird dem Wohlergehen der Menschen, die erforscht werden, eine besondere Bedeutung beigemessen. Ein Wissenschaftler, der ozeanische Gesellschaften untersucht, sich aber nicht für das Wohlergehen der Menschen interessiert, deren Lebensweisen und Geschichte er untersucht, ist für Vilsoni Hereniko letztlich ein Stabilisator des neokolonialistischen Status Quo (Hereniko 2000: 88). Houston Wood plädiert nicht für die Konzentration auf Forschungsergebnisse, wie dies in der westlichen Wissenschaft üblich sei, sondern für Forschungsprozesse zum Wohle der Menschen, deren Lebensweisen erforscht werden (Wood 2003: 351). Dabei erheben viele Vertreter indigener Wissenschaftskonzepte in Ozeanien den Anspruch, ethische Richtlinien für Forscher vorzugeben (Huffer/Qalo 2004: 89). Eng damit verknüpft ist auch eine Kritik des Wissensstransfers, der mit der westlichen Erforschung nicht-westlicher Gesellschaften verknüpft ist. »The scholarly practice that says that the first to publish certain facts or information about a culture has ›ownership‹ over that material ensures that knowledge that belonged to indigenous people, like their land in many cases, is slowly appropriated by the colonizers« (Hereniko 2000: 88).9

Sahlins’ Ansatz über die ›Indigenisierung der Moderne‹ und die von mir vorgestellten indigenen Wissenschaftskonzepte in Ozeanien stehen in einer eigentümlichen Beziehung zueinander. Auf der Grundlage von Sahlins’ Ansatz über die ›Indigenisierung der Moderne‹ lassen sich indigene Souveränitätsbewegungen als kulturelle Revitalisierungsbewegungen interpretieren, die sich von westlichen Einflüssen befreien wollen. Von einigen ozeanischen Intellektuellen und Wissenschaftlern wird Sahlins’ Ethnologie allerdings als Fortsetzung des Kolonialismus angesehen. Sahlins ist ein outsider, also kein Ozeanier oder Hawaiianer; für viele indigene Forscher ist Sahlins’ Anspruch, Aussagen über die hawaiianische Kultur treffen zu können, deshalb zumindest zweifelhaft. Darüber hinaus reflektiert Sahlins in seinen ethnologischen Arbeiten nicht die Verknüpfungen zwischen Wissenschaft und Kolonialismus sowie die Machtasymmetrien zwischen ›Einheimischen‹ und Ethnologen. Die Ethnologie ist in Sahlins’ Augen nicht Teil eines kolonialen Systems, sondern die Grundlage interkultureller Verständigung (siehe Sahlins 1997a). Ethnographische Repräsentation westlicher Wissenschaftler ist aus einer indigenen Perspektive ein politischer Akt, der Machtasymmetrien stabilisiert oder zumindest stabilisieren kann; Sahlins verteidigt die Ethnologie demgegenüber als ein im weitesten Sinne kosmopolitisches Projekt. Insofern verfolgt auch Sahlins mit seiner Ethnologie ein ›politisches‹ Ziel, das auf einem hu9

Hinsichtlich der Erforschung der Maori argumentiert Linda Tuhiwai Smith: »researchers have to share their ›control‹ of research and seek to maximize the participation and the interest of Maori« (Smith 1999: 190).

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manistischen Konzept der Ethnologie beruht. »So criticize the anthropologists and their culture concepts as you will for ethnocentrism and imperialism, there have always been contradictory human relationships in their project« (Sahlins 1997a: 276). Für Sahlins liegt das Problem ethnographischer Repräsentation nicht in der Frage, wer für die Hawaiianer oder andere indigene Gruppen ›sprechen‹ kann. »To assume the right to speak for Hawaiians would be morally repugnant as well as epistemologically mad. Nor is the problem whether they […] can speak. The problem is whether they can be heard and understood« (Sahlins 1997a: 273). Allerdings bestehen seitens einiger ozeanischer Forscher Zweifel darüber, ob die indigenen ›Stimmen‹ von Sahlins ›gehört‹ werden; viele ozeanische Wissenschaftler möchten über die westlich-ethnologischen Diskurse ›interkulturellen Verstehens‹ hinausgehen und eigene Wissenschaftskonzepte entwickeln, in denen nicht das Verstehen fremder Kulturen im Mittelpunkt steht, sondern das Wohlergehen der eigenen Gesellschaft. Das kosmopolitische Projekt interkulturellen Verstehens, das Sahlins im Auge hat, muss aus der Perspektive einiger ozeanischer Forscher als ein neokoloniales Projekt erscheinen, das – einmal mehr – indigene Perspektiven zugunsten eines westlichen Universalismus unterdrückt, obwohl Sahlins ja gerade gegen einen westlichen Universalismus argumentiert.

2. Die Narrativität der Repräsentation Die Forderung nach ›neuen‹ narrativen Ausdrucksformen wird nicht nur von indigener Seite an die westlichen Sozial- und Kulturwissenschaften herangetragen; vielmehr gibt es in der Geschichtswissenschaft und in der Ethnologie seit längerer Zeit eine Diskussion über die Narrativität historischer und ethnographischer Werke. Die writing-culture-Kontroverse in der Ethnologie der 1980er Jahre hat dazu geführt, dass sich die Problematik zeitweise vom empirischen Erkenntnisgegenstand der Ethnologie zum ethnologischen Forschungsprodukt verschoben hat, ohne dass immer klar geworden wäre, was die Wahl eines spezifischen ethnographischen Stils mit der ›Wahrheit‹ oder ›Plausibilität‹ der ethnographischen Repräsentation zu tun hat (siehe Rabinow 1993). Dennoch eröffnet gerade der vielgescholtene ›Textualismus‹ interessante Perspektiven für die ›Politik der Repräsentation‹ im Allgemeinen und Sahlins’ Werk im Besonderen. Im Folgenden beleuchte ich das Verhältnis von ethnographischem Stil, Referentialität sowie den politischen Implikationen der Repräsentation. Mein Referenzpunkt ist Hayden Whites Geschichtstheorie, die der literarischen Wende in der Ethnologie besondere Impulse gegeben hat.10 In seiner monumentalen Studie Metahistory über die ›historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa‹ sowie in mehreren Aufsatzsammlungen (White 1986, 1987, 1994 [M], 1999) entwickelt 10 Siehe beispielsweise Marcus/Cushman 1982; Thornton 1993; Webster 1982.

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White eine literaturwissenschaftliche Perspektive auf die Geschichtswissenschaft, die sich auch in der Debatte über die ›Politik der Repräsentation‹ als relevant erweisen kann. Ich stelle zunächst Whites Ansatz vor und versuche anschließend, die von White entwickelte Perspektive für eine neue Sichtweise von Sahlins’ historisch-anthropologischem Entwurf fruchtbar zu machen. Dabei mache ich auch auf die konzeptionellen Grenzen von Whites Ansatz aufmerksam.11 Um den Entwurf Whites zu verstehen, ist möglicherweise ein Hinweis auf Roland Barthes hilfreich, von dem White beeinflusst worden ist. Barthes argumentiert (Barthes 1967), dass die erzählende Geschichtswissenschaft keineswegs eine außertextuelle Wirklichkeit einfach ›abbildet‹; eine solche Vermutung hält Barthes für das Ergebnis eines ›Wirklichkeitseffekts‹, der zunächst darauf basiert, dass das erzählende ›Ich‹, also der Autor, im Text selbst nicht vorkommt. Auf diese Weise wird die Illusion erzeugt, dass der außersprachliche Referent im historischen Text gewissermaßen für sich selbst ›spricht‹; damit suggeriert die Geschichtsschreibung, dass die Wirklichkeit selbst die Form einer historischen Erzählung hat. Die Geschichte hat einen Sinn, so wird suggeriert, und dieser Sinn wird nicht durch die Narration erst hergestellt und konstruiert, sondern wiedergegeben. Dieser Wirklichkeitseffekt basiert in Barthes’ Konzeption zudem nicht allein auf der narrativen Ausschaltung des erzählenden Ichs, sondern auch auf der in Barthes’ Augen irreführenden Annahme, ein Text repräsentiere einen außersprachlichen Referenten. Tatsächlich täuscht der historische Realismus in Barthes’ Augen vor, dass der Signifikant (also der Text) sich auf den Referenten (die außersprachliche Realität) bezieht, obwohl das ›Reale‹ nicht der Referent, sondern das unterschlagene Signifikat sei.12 Barthes’ These bezieht sich in erster Linie auf ältere historiographische Vorgehensweisen (siehe Rüth 2005: 31-32), hat sich allerdings in der jüngeren literatur- und geschichtstheoretischen Forschung als enorm einflussreich erwiesen. Im Anschluss an Barthes erscheint es nicht mehr zwingend notwendig, ethnographisch-historische Texte dahingehend zu untersuchen, ob sie ›wahr‹ im Sinne einer Referenz auf die Realität sind, weil die ›Wirklichkeitseffekte‹, die die Texte erzeugen, nicht daher stammen, dass die Realität so repräsentiert ist, ›wie sie wirklich (gewesen) ist‹. White schließt an diese Idee an, wenn er auch nicht alle Implikationen von Barthes’ Ansatz übernimmt; grundlegend für Whites Ansatz ist dementsprechend die These, dass die Bedeutung eines Textes nicht durch die Referenz auf eine außertextliche Realität abgeleitet werden kann. Die Aussagen eines historischen Textes sind in Whites Augen bedeutungsvoll, weil sie in einer bestimmten Weise 11 White übernimmt den Begriff metahistory von Northrop Frye, der ihn als Synonym für ›spekulative Geschichtsphilosophie‹ verwendet (White 1986: 65, Fn. 2). Zu Whites Ansatz siehe Bahners 1992; Jenkins 1995: 134-179; Kansteiner 1993; Lorenz 1997: 170-187; Roth 1992; Stückrath/Zbinden 1997; Vann 1998. Für eine Weiterentwicklung von Whites Ansatz siehe Ankersmit 1994. 12 Barthes’ Argumentation kommt hier der von Baudrillard sehr nahe (siehe Baudrillard 1972).

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sprachlich organisiert sind. ›Fakten‹ bestimmen nach White nicht den ›Inhalt‹ von Texten; die Vorstellung, dass der historische Text in erster Linie Fakten beschreibe und in diesem Sinne ›wahr‹ sei, bezeichnet White als die ›Fiktion des Faktischen‹ (White 1986: 145-160).13 Eine der Folgen von Whites Konzentration auf den historischen Text ist, dass sich White zwar für das historische Forschungsprodukt interessiert, nicht aber für den Forschungsprozess, also beispielsweise die Arbeit von Historikern in Archiven, die Auswahl von Quellen, Gespräche mit Zeitzeugen etc. All dies ist für White nur von sekundärem Interesse, denn er geht von einer fundamentalen Trennung zwischen ›historischer Forschung‹ und ›Geschichtsschreibung‹ aus und analysiert allein das historische Forschungsprodukt, also den historischen Text, der nicht vom Forschungsprozess bestimmt wird (siehe Lorenz 1997: 171). Für White gibt es eine begrenzte Anzahl möglicher Darstellungsformen historischer Zusammenhänge; in Metahistory entwirft er eine Typologie literarischer Darstellungsformen, die in seinen Augen sowohl für im engeren Sinne historische Werke (White analysiert beispielsweise Werke von Michelet, Ranke, Tocqueville oder Burckhardt) als auch Werke der spekulativen Geschichtsphilosophie (wie etwa Hegel, Marx oder Nietzsche) grundlegend sind. In Whites Konzeption gibt es drei eng miteinander verknüpfte Ebenen historischen Erzählens. Die erste Ebene ist die ›Erklärung durch narrative Modellierung‹ (M: 21-25). Diese Ebene des emplotment bestimmt die ›Art‹ der erzählten Geschichte, die jeweilige Erzählstruktur. »In der historischen Erzählung (narrative) verhält sich die Geschichte (story) zum Plot wie die Beschreibung dessen, was in der Vergangenheit ›geschehen ist‹, zur synoptischen Darstellung dessen, was die gesamte in der Erzählung enthaltene Ereignisfolge ›bedeuten‹ oder für einen ›Sinn‹ haben könnte« (White 1986: 75). Im Anschluss an Northrop Frye unterscheidet White vier unterschiedliche Geschichtsarten, die einen archetypischen Charakter haben: Romanze, Tragödie, Komödie sowie Satire.14 Die Romanze erzählt »vom Triumph des Guten über das Böse, der Tugend über das Laster, des Lichtes über die Finsternis und des endlichen Sieges des Menschen über die Welt, in die er infolge des Sündenfalls verbannt war« (M: 22). Im Gegensatz dazu bestimmt White die Satire als ein Trennungsdrama, in dem die Einsicht vorherrscht, der Mensch sei eher ein Gefangener der Welt als ihr Meister. In der Satire wird das Böse nicht besiegt, und der Mensch bleibt gefangen in der Endlichkeit und Unzulänglichkeit seines Wesens. Komödie und Tragödie »legen 13 An dieser Stelle wird die Nähe von Whites Ansatz zu Roland Barthes’ These über den ›Wirklichkeitseffekt‹ deutlich, die historische Texte entfalten, denn sowohl für White als auch für Barthes verweisen historische Erzählungen nicht auf einen außertextlichen Referenten. Für den systematischen und theoriegeschichtlichen Zusammenhang der Entwürfe von Barthes und White siehe Kansteiner 1993: 275-277. Siehe auch White 1987: 35-37. Für eine Analyse von Barthes’ Ansatz im Diskurs über historische Referentialität siehe auch Ankersmit 1994: 125-161. 14 Zum Zusammenhang zwischen Frye und White siehe Burke 1997: 77.

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die Möglichkeit einer wenigstens teilweisen Befreiung von der Erbsünde und einer einstweiligen Erlösung aus dem Zustand der Entzweiung, in dem sich die Menschen in der Welt befinden, nahe« (M: 23), wenn sich Komödie und Tragödie auch im Ausdruck dieser Befreiung voneinander unterscheiden. In der Komödie gibt es eine gelegentliche Aussöhnung der entzweienden Kräfte, es gibt Hoffnung für einen zumindest befristeten Triumph des Menschen über seine Unzulänglichkeit; in der Tragödie ist der Untergang des Protagonisten demgegenüber unvermeidlich, doch offenbart der Kampf, der zum Untergang des Protagonisten führt, möglicherweise das Gesetz, das der menschlichen Existenz zu Grunde liegt. In Whites Augen können unterschiedliche archetypischen Erzählmuster miteinander kombiniert werden, doch diese Kombinationsmöglichkeiten sind begrenzt – beispielsweise ist für White eine romantische Satire weniger vorstellbar als eine satirische Romanze. Auf einer zweiten Ebene historischer Erzählungen verortet White die ›Erklärung durch formale Schlussfolgerung‹ (M: 25-38). Diese Erklärungsform »erschließt das Geschehen anhand von Kombinationsprinzipien, die als mutmaßliche Gesetze der historischen Exegese dienen« (M: 25). White unterscheidet zwischen einer formativistischen, einer organizistischen, einer mechanistischen sowie einer kontextualistischen Erklärungsweise. Im Formativismus werden unverwechselbare Merkmale der historischen Realität identifiziert. Die Strategie des Formativismus ist im Gegensatz zum Organizismus eher ›zerstreuend‹ als ›integrativ‹. Organizisten strukturieren ihre historischen Erzählungen so, dass eine Fülle von Einzelphänomenen zu einem integrativen Ganzen verdichtet wird, dessen Bedeutung über die individuellen Sachverhalte und Phänomene hinausgeht. Die organizistische Strategie vermeidet die Suche nach kausalen Beziehungen im Sinne der Newtonschen Mechanik; im Mittelpunkt stehen Ideen und Prinzipien, »die den im historischen Feld erkannten Einzelfall sowie die Entwicklungen in ihrer Gesamtheit prägen« (M: 31). Der Mechanismus verfährt zwar ähnlich integrativ wie der Organizismus, operiert allerdings eher reduktiv als synthetisch und konzentriert sich auf die Kausalgesetze, die die Ereignisse im historischen Feld determinieren. Der Kontextualismus erklärt die untersuchten Phänomene durch deren Einbettung in den ›Kontext‹ ihres Erscheinens. Dabei versucht die kontextualistische Strategie, sowohl die zerstreuenden Merkmale des Formativismus zu vermeiden als auch die Tendenz des Organizismus sowie des Mechanisms zur Abstraktion. Vielmehr strebt der Kontextualismus »nach einer relativen Integration der im historischen Feld erkannten Phänomene in endliche Teilbereiche des historischen Geschehens nach Art von ›Trends‹ oder allgemeinen Physiognomien von Perioden und Epochen« (M: 33-34). Der Kontextualist will nicht den Phänomenen zu Grunde liegende Gesetze aufdecken wie der Mechanist oder allgemeine teleologische Prinzipien annehmen wie der Organizist, sondern die ›tatsächlichen‹ Gegebenheiten beschreiben, ohne dass es notwendig, sinnvoll oder überhaupt möglich wäre, nach einer ›letzten Ursache‹ dieser Phänomene zu suchen.

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Auf einer dritten Ebene des Erzählens verortet White die ›Erklärung durch ideologische Implikation‹ (M: 38-47). Die ideologischen Dimensionen historischer Darstellungen »sind Ausdruck des ethischen Elements in den standortabhängigen Annahmen des Historikers über das Wesen historischer Erkenntnis und die Schlüsse, die sich aus der Analyse vergangener Ereignisse für das Verständnis gegenwärtiger ziehen lassen«. Unter Ideologie versteht White »ein Bündel von sozialen Verhaltensregeln und Handlungsgeboten […], die mit einer bestimmten Position gegenüber der gegenwärtigen Gesellschaft und im Hinblick auf soziales, an Veränderung oder Aufrechterhaltung des Status quo orientiertem Handeln verbunden sind« (M: 38). Im Anschluss an Karl Mannheim unterscheidet White zwischen Anarchismus, Konservativismus, Radikalismus sowie Liberalismus. Alle vier Ideologien implizieren einen Anspruch auf Vernunft, Wissenschaft oder Realismus, unterscheiden sich untereinander allerdings hinsichtlich ihrer jeweiligen Position über die Form und Erwünschtheit sozialen Wandels. Während Konservative den Status quo vor allem erhalten wollen und davon ausgehen, dass Veränderungen nur schritthaft erfolgen sollten, betrachten Liberale Gesellschaft als einen Mechanismus, dessen Fortbestehen von teilweisen Veränderungen geradezu abhängt. Konservative und Liberale stimmen allerdings überein in ihrer positiven Auffassung über die gesellschaftliche Grundverfassung. Im Unterschied dazu sind Anarchisten und Radikale von der Notwendigkeit fundamentaler gesellschaftlicher Umwälzungen überzeugt. Radikale wollen die Gesellschaft neu errichten, während Anarchisten die Gesellschaft am liebsten ›abschaffen‹ möchten. White ist nicht daran interessiert, historische Werke als ideologische Projektionen zu analysieren; vielmehr geht es ihm darum zu klären, »auf welche Weise ideologische Überlegungen in die Erklärungsversuche eines Historikers und in seine Bemühungen Eingang finden, im Rahmen einer Erzählung ein sprachliches Modell der Vorgänge im historischen Feld zu konstruieren« (M: 44). Ideologische Implikationen sind in Whites Augen eng mit den anderen beiden von White aufgeführten Ebenen historischen Erzählens verwoben. »Ich behaupte, dass sich das ethische Moment einer Geschichtsdarstellung in der Art der ideologischen Implikation spiegelt, durch die eine ästhetische Wahrnehmung (die Modellierung der Erzählstruktur) und eine kognitive Operation (die formale Schlußfolgerung) so miteinander kombiniert werden, daß sich normative Aussagen aus Feststellungen ableiten lassen, die zunächst rein deskriptiv oder analytisch zu sein scheinen« (M: 44). Die Ebenen historischen Erzählens sind miteinander verknüpft und konstituieren einen historiographischen Stil; zwischen Erzählstruktur, Argumentation und ideologischer Implikation gibt es »Wahlverwandtschaften« (M: 48):15 15 Die in Abbildung 3 dargestellten Kombinationen sind, wie White betont, zwar typisch, doch in vielen historischen Werken finden sich in Whites Augen andere Kombinationen zwischen Erzählstruktur, Argumentation und ideologischer Implikation. Zudem ist es für White möglich, mehrere Erzählstrukturen in einem historischen Werk miteinander zu kombinieren (White 1986: 115).

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Abbildung 3: Ebenen der historischen Erzählung Art der Erzählstruktur

Art der Argumentation

Art der ideologischen Implikation

Romantisch

Formativistisch

Anarchistisch

Tragisch

Mechanistisch

Radikal

Komisch

Organizistisch

Konservativ

Satirisch

Kontextualistisch

Liberal

Quelle: M: 48 Der Historiker ordnet eine Anzahl überlieferter Ereignisse und kreiert eine Geschichte, die den historischen Quellen nicht entnommen werden kann. Kein Ereignis ist an sich tragisch oder komisch; dies hängt vielmehr von der Wahl der Plotstruktur ab. »Entscheidend ist, daß die meisten historischen Ereignisfolgen verschiedene Arten von Plotstrukturen erhalten können, so daß sich daraus verschiedene Interpretationen jener Ereignisse ergeben und ihnen verschiedene Bedeutungen verliehen werden« (White 1986: 105). Wenn ein Historiker als emplotment die Erzählstruktur der Tragödie wählt, erinnert er uns an die Plotstruktur, die in westlichen Gesellschaften als Tragödie gilt; dadurch erschafft der Historiker Sinn. »Richtig verstanden sollten Geschichtswerke niemals als eindeutige Zeichen der Ereignisse, von denen sie berichten, gelesen werden, sondern vielmehr als symbolische Strukturen, als fortgesetzte Metaphern, die die in ihnen berichteten Ereignisse mit einer bestimmten Form, mit der wir in unserer literarischen Kultur schon vertraut sind, ›vergleichen‹« (White 1986: 112). Historische Erzählungen funktionieren in Whites Augen ähnlich wie Metaphern. »Die Metapher bildet nicht die Sache, die sie beschreiben will, ab, sie gibt Anweisungen dafür, diejenige Folge von Bildern zu finden, die mit jener Sache assoziiert werden soll« (White 1986: 113). Die von White unterschiedenen Ebenen historischen Erzählens verweisen auf eine noch fundamentalere Ebene des Bewusstseins, nämlich »die Sprache selbst, die […] auf Gebieten wie der Geschichte tropologisch verfährt, um ein Wahrnehmungsfeld in einer bestimmten Modalität von Beziehungen vorzustrukturieren« (White 1986: 95). White unterscheidet vier Haupttropen, die den einzelnen historischen Stilen zu Grunde liegen: Metapher, Metonymie, Synekdoche sowie Ironie. Durch die Vorstrukturierung, die von der Wahl einer Haupttrope bestimmt wird, »bringt der Historiker seinen Untersuchungsgegenstand hervor und legt gleichzeitig vorab die begriffliche Strategie fest, der er sich bei seinen Erklärungen bedienen will« (M: 50). Diese Vorgehensweise ist poetisch, denn die Formen historischer Stile sind tropologisch und deshalb letztlich in der Sprache verwurzelt; White spricht von den »Tiefenstrukturen der historischen Einbildungskraft«, die dem historischen Stil zu Grunde liegen und ihn bestimmen (M:

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50).16 Die einzelnen Tropen unterscheiden sich voneinander hinsichtlich der Form der Reduktion oder Integration, die sie auf der Ebene wörtlicher Bedeutung herstellen. »Die Metapher ist wesentlich darstellend, die Metonymie reduktionistisch, die Synekdoche integrativ, die Ironie negatorisch« (M: 51). Die metaphorische Darstellungsweise ist formativistisch, die Metonymie ist mechanistisch, die Synekdoche organizistisch, und die Darstellungsweise der Ironie ist kontextualistisch. Ein bestimmter historischer Stil geht dementsprechend auf die Verwendung einer bestimmten Haupttrope zurück. Große historische Werke sind also nicht einfach ›widerlegbar‹ oder ›falsifizierbar‹, weil der Sinn, den sie den untersuchten Phänomenen verleihen, nicht auf der Ebene der Fakten, sondern auf der sprachlichen Ebene existiert (White 1999: 29). Auch die historische Erzählung ist literarisch, und sie widerlegt nicht frühere historische Werke, die andere Geschichten erzählen, sondern dekodiert Ereignisfolgen und Phänomene auf einer anderen tropologischen Grundlage. Deshalb ist es für White nicht möglich, auf einer sprachlichen Ebene zwischen Literatur und Geschichte zu unterscheiden, denn die Geschichtsschreibung muss, genau wie Literatur, auf einer tropologischen Grundlage Sinn erzeugen, weil Geschichtswerke sprachliche Konstrukte sind. Ein zentraler Unterschied zwischen Literatur und Geschichtsschreibung ist für White nicht die jeweilige sprachliche Form, sondern die Natur der Fakten, die im Rahmen einer historischen oder literarischen Erzählung zu einer Geschichte geordnet werden. In der Geschichtsschreibung beziehen sich Fakten für White auf reale Ereignisse, in der Literatur ist dies keine notwendige Voraussetzung; White wendet sich damit insbesondere gegen die These, dass sich der Sinn historischer Werke in einer bloßen Beschreibung von Fakten erschöpfe (White 1999: 6). Es geht White nicht um den Nachweis, dass Historiker ihre Analysen ›erfinden‹, ohne dass es eine reale Grundlage für ihre Werke gäbe; vielmehr argumentiert White, dass ›reale‹ Ereignisse nur auf der Grundlage einer tropologischen Vorgehensweise erzählt werden können (Young 1997: 144). Diese tropologische Verarbeitung der historischen Informationen im Rahmen eines Diskurses ist die historische Interpretation; Form und Inhalt eines historischen Werks sind untrennbar miteinander verknüpft (siehe White 1999: 8). Die Überlegung, dass historischer Sinn erst durch die Ordnung von Informationen im Rahmen eines historischen Stils entsteht, ist von einigen Historikern kritisiert worden. Insbesondere wird White vorgeworfen, durch seine Konzentration auf die Rhetorik historischer Werke die Referentialität geschichtswissen16 Siehe auch White 1986: 8. Die von White in den Vordergrund gerückten Tropen sind nicht einfach ein optionaler stilistischer ›Zusatz‹, sondern konstituieren Bedeutung in der Alltagssprache (siehe auch Jenkins 1995: 167). – Jenkins weist darauf hin, dass die Theorie der Tropen einen zentralen Stellenwert in Whites Ansatz aufweist, dass dies aber nicht immer erkannt wird, weil White seinen Entwurf so präsentiert, als ob das Konzept der Tropen ein bloßer ›Zusatz‹ wäre (Jenkins 1995: 174).

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schaftlicher Werke zu negieren. Da hilft der Hinweis wohl wenig, dass die Nähe der Geschichtswissenschaft zur Literatur noch Anfang des 19. Jahrhunderts sehr viel weniger anstößig erschien als heute (siehe Rüth 2005: 3-4). Beispielsweise argumentiert Richard Evans, dass eine Analyse historischer Texte als Texte zwar interessant sei, dass der historische Text aber letztlich nicht seiner Form wegen von Interesse sei, sondern als ein Ergebnis historischer Forschung. Evans hält eine literarische Analyse historischer Texte des 19. Jahrhunderts zwar für angemessen, weil deren empirischer Ertrag aus heutiger Perspektive eher vernachlässigenswert sei. Doch die Weiterentwicklung der Geschichtswissenschaft lässt in Evans’ Augen eine literarische Analyse historischer Texte, die heute produziert werden, als verfehlt erscheinen, denn diese Texte müssten sich in erster Linie hinsichtlich ihrer empirischen Angemessenheit bewähren (Evans 1997). Natürlich ist dies ein Missverständnis, denn obwohl sich White in Metahistory auf historische Werke des 19. Jahrhunderts konzentriert, ist seine Konzeption nicht auf diese geschichtswissenschaftliche Phase beschränkt; in Whites Augen ist die Verknüpfung von Form und Inhalt vielmehr für jedes historische Werk konstitutiv. Während für White der ›historische Stil‹ den jeweiligen Inhalt eines historischen Werks erst konstituiert, ist für Evans eine Analyse historischer Stile zwar interessant, sagt aber nichts über den Inhalt historischer Werke aus (siehe Rüth 2005: 5). Die Bedeutung der Tropologie für den Inhalt historischer Werke lässt sich wohl nicht so leicht beiseite schieben, wie es in Evans’ Argumentation erscheint. Ein Problem von Whites Ansatz ist allerdings ironischerweise gerade ein latenter Positivismus. Die historische Interpretation setzt nicht erst in der narrativen Anordnung historischer ›Fakten‹ an, sondern bereits im Forschungsprozess selbst. »Aufgrund der Mitteilung in den Quellen und in der Fassung, den der Überlieferungsgang den Nachrichten gibt, haftet den Tatsachen bereits ein Bedeutungskoeffizient an, der mehr transportiert als nur die Feststellung der Tatsächlichkeit […] Die Spuren eines Bedeutungs- und Verwendungszusammenhangs gehören nicht zum Faktum an sich, sie werden an das Faktum herangetragen und haften seither an ihm« (Goertz 2001: 22).

Diese an White gerichtete Kritik lässt sich an der Sahlins-Obeyesekere-Debatte illustrieren. Einer der zentralen Streitpunkte zwischen Sahlins und Obeyesekere ist die Interpretation eines Ereignisses, das nicht als ›historische Information‹ vorliegt, die erst nachträglich in eine tropologische Plotstruktur eingeordnet werden müsste, damit das historische Werk Sinn erzeugt. Bereits die Frage, um welches Ereignis es überhaupt geht, ist nicht leicht zu beantworten, denn während niemand bezweifelt, dass James Cook tatsächlich am 14. Februar 1779 in der Kealakekuabucht von Hawai’i starb, sind die ›Umstände‹ von Cooks Tod ungeklärt. Um welches Ereignis geht es also? Ist das ›Ereignis‹ Cooks Tod an sich, oder geht es auch darum, wer Cook tötete und warum? Whites Unterscheidung zwischen der Ebene des Faktums und der Ebene des historischen Stils erscheint

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mir nicht weiterführend, denn bereits die Wahl dessen, was als historische Information gelten soll, ist ein interpretativer Prozess, nicht erst die Verarbeitung von ›Informationen‹ zu einer narrativen Struktur.17 In Whites Konzept erscheint die narrative Struktur als eine nachträgliche Anordnung historischer Fakten, doch bereits die Auswahl und Interpretation von ›Fakten‹ – also letztlich die Auswahl und Interpretation historischer Quellen – konstituiert einen Sinn und ist auch auf bestehende Sinnzusammenhänge, also beispielsweise einer Rezeptionsgeschichte, angewiesen (Goertz 2001: 26). Ob der Historiker den Tod von James Cook als eine Tragödie erzählt oder als eine Satire, ist also keine Frage, die ausschließlich auf der narrativen Ebene geklärt wird, sondern kann ebenso gut eine Arbeitshypothese sein, die bereits die Auswahl und Interpretation von Quellen beeinflusst. Dennoch ist Whites These über die narrative Dimension historischen Schreibens relevant, denn sie problematisiert die oftmals vernachlässigte narrative Struktur historischer Werke. Sowohl Sahlins als auch Obeyesekere erzählen Geschichten mit unterschiedlichen Handlungen und teilweise unterschiedlichen ›Hauptpersonen‹; die Akzente sind jeweils anders gesetzt, bestimmte Ereignisse werden wenn nicht unterdrückt, so doch im Rahmen narrativer Strukturen marginalisiert, weil sie die Kohärenz der ›Geschichte‹ gefährden könnten; und doch beziehen sich sowohl Obeyesekere als auch Sahlins auf die gleiche ›Realität‹. Für Sahlins sind die Verhaltensweisen von James Cook nicht zentral, für Obeyesekere steht gerade die angeblich zunehmende Gewaltbereitschaft Cooks im Mittelpunkt seiner Interpretation. Es geht in der Sahlins-Obeyesekere-Debatte nicht ausschließlich um die Interpretation der Ereignisse, die zu James Cooks Tod geführt haben, sondern auch um die narrativen Strategien, die zu einer kohärenten Interpretation der Geschehnisse beitragen. Wie kohärent darf eine historische Erzählung sein, um die komplexe Realität nicht zu sehr zu ›begradigen‹? Andererseits: Wenn die historische Realität nicht per se den Regeln einer Tragödie oder eine Satire folgt und der Historiker gar nicht anders kann als Ereignisse tropologisch zu ›ordnen‹ und damit einen Sinn zu produzieren, der den Ereignissen nicht immanent ist, warum sollte eine solche narrative Ordnung als ein Nachteil angesehen werden? Welche Maßstäbe gibt es überhaupt, um eine solche Frage zu beantworten?

17 Vilsoni Hereniko hat ein vergleichbares Argument vorgebracht. Er kritisiert die Ausführungen von Eric Hobsbawn, der 1993 in einer Vorlesung an der Central European University in Budapest die These aufstellte, dass die Fähigkeit, Fakten von Fiktionen zu unterscheiden, für einen Historiker zentral sei; dass beispielsweise Elvis Presley tot sei, stehe historisch außer Frage. Darauf entgegnet Hereniko, dass dies tatsächlich so sein mag, doch dass eine solche Beschränkung des Historikers »dull history« sei. »The more important question therefore is not whether Elvis Presley is dead, but how he died, where he died, his motivations for taking his life (if indeed it was a suicide), and the impact of his death on his family and the music world« (Herenko 2000: 85).

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White selbst hat sich mit diesen Fragen intensiv auseinandergesetzt und ist zu einem möglicherweise überraschenden Ergebnis gekommen. Das Konzept, das White in Metahistory entwirft, lässt sich als ein radikaler historischer Relativismus lesen – die narrative Ebene, die White für die Aussagekraft historischer Werke für entscheidend hält, ist in dieser Lesart nicht mit der Realität verknüpft. In seinem Beitrag über die Repräsentation des Holocaust problematisiert White sein eigenes Konzept, denn nun stellt er die Frage, ob die Natur des Holocausts dessen Repräsentation Grenzen setzt.18 »Can it be said that sets of real events are intrinsically tragic, comic, or epic, such that the representation of those events as a tragic, comic, or epic story could be assessed as to its factual accuracy?« (White 1999: 29) White argumentiert zwar zunächst, dass die ›Tatsachen‹ den Arten von Geschichten nur dann enge Grenzen setzen, wenn davon ausgegangen wird, dass die Ereignisse selbst eine narrative Form sowie eine plotförmige Bedeutung besitzen. Allerdings schreibt er nur wenig später: »In the case of an emplotment of the events of the Third Reich in a comic or pastoral mode, we would be eminently justified in appealing to the facts in order to dismiss it from the lists of competing narratives of the Third Reich« (White 1999: 30). White zieht sogar die Überlegung in Betracht, dass es möglicherweise gar nicht möglich ist, narrativ über den Holocaust zu schreiben, schlägt aber schließlich eine in seinen Augen angemessene Repräsentationsweise vor. Der historische Realismus des 19. Jahrhunderts ist für White nicht geeignet für die Repräsentation des Holocaust, weil sich eine neue historische Realität herauskristallisiert hat: »the history that modernism confronts is not the history envisaged by nineteenth-century realism. And this is because the social order that is the subject of this history has undergone a radical transformation – a change that permitted the crystallization of the totalitarian form that Western society would assume in the twentieth century«. Kulturelle Modernität erscheint in dieser Interpretation sowohl als Widerspiegelung als auch als Antwort auf die historischen Erfahrungen des 19. und 20. Jahrhunderts: »literary modernism was a product of an effort to represent a historical reality for which the older, classical realist modes of representation were inadequate, based as they were on different experiences of history or, rather, on experiences of a different history« (White 1999: 41). Der ›literarische Modernismus‹ scheint damit noch am ehesten eine angemessene Repräsentationsweise des Holocaust zu sein. »In fact, I do not think that the Holocaust, Final Solution, Shoah, Churban, or German genocide of the Jews is any more unrepresentable than any other event in human history. It is only that its representation, whether in history or in fiction, requires the kind of style, the modernist style, that was developed in order to represent the kind of experiences which social modernism made possible« (White 1999: 42). In seiner Analyse der Repräsentation des Ho18 Hier zeigen sich systematische Verschiebungen in Whites intellektueller Entwicklung von Metahistory (1973) über Tropics of Discourse (1978) und The Content of the Form (1987) zu Figural Realism (1999). Für eine exzellente Analyse von Whites Gesamtwerk siehe Kansteiner 1993.

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locaust scheint White damit von seinem in Metahistory entwickelten Textualismus ein Stück abzurücken und Narrativität und Referentialität enger miteinander zu verknüpfen (Kansteiner 1993: 285). Vor dem Hintergrund von Whites zuvor geschriebenem Essay über ›The Politics of Historical Interpretation‹ werden seine Thesen über die Repräsentation des Holocaust noch konturierter. Im Mittelpunkt dieser Analyse steht die ›Politik der Interpretation‹. »The activity of interpreting becomes political when a given interpreter claims authority over rival interpreters« (White 1987: 225, Fn. 1). White untersucht diesen Prozess am Beispiel der Institutionalisierung der Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert. In ihrer Absatzbewegung von der als metaphysisch geltenden Geschichtsphilosophie versuchte sich die Geschichtswissenschaft als empirische Disziplin mit einer spezifischen Methodik zu behaupten. Das politische Element dieses Analyseverfahrens bestand in den Augen Whites darin, dass ein wissenschaftlich fundiertes historisches Paradigma dem utopischen Denken entgegengesetzt werden sollte. White analysiert die Disziplinierung und Professionalisierung der Geschichtswissenschaft also als einen Prozess der Negation, insbesondere des utopischen Denkens. Die Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts war von einem Verständnis der historischen Forschung geprägt, so White, welches den Eindruck erweckte, über der Politik zu ›schweben‹. Der historische Realismus war für White in seiner Ablehnung des Utopischen dezidiert konservativ, obgleich er vorgab, sich nur für die objektive Analyse der Vergangenheit zu interessieren. Gerade die angebliche Entideologisierung der Geschichtswissenschaft beruht in Whites Augen auf einer ›Politik der Interpretation‹, deren Überzeugungskraft sich daraus speiste, dass sie vorgab, unpolitisch zu sein. Teil dieser Professionalisierung der Geschichtswissenschaft war eine Disziplinierung der Imagination, insbesondere ein Zurückdrängen des Begriffs des Erhabenen, auf dessen Grundlage Geschichte weniger verstanden oder erklärt werden sollte, sondern in erster Linie eine Inspiration für visionäre politische Projekte war. Selbst angeblich utopische Geschichtstheorien wie der Marxismus sind in Whites Augen antiutopisch, denn der Marxismus teilt mit seinem bürgerlichen Gegenstück die Auffassung, dass Geschichte ein versteh- oder erklärbarer Prozess sei; damit zieht er die Komplexität, die Widersprüchlichkeit und die Ambivalenz historischer Gegebenheiten ein. Der literarische Modernismus und die Postmoderne – White verweist hier auf die Werke Jaques Derridas – gibt den historischen Prozessen demgegenüber wieder ihre fundamentale Kontingenz und Ambivalenz zurück, die im Verlauf der Disziplinierung der Geschichtswissenschaft immer weiter aus dem Blickfeld der Historiker entschwand. Eine angemessene historische Referentialität ist höchst komplex, denn sie muss, so könnte man meinen, ihren eigenen Interpretationen immer wieder selbst den Boden entziehen, um den Ambivalenzen und Paradoxien historischer Prozesse und den Kontexten, in denen historische Repräsentationen entstehen, gerecht zu werden.

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Lässt sich Whites Vorschlag, dass der Holocaust am angemessensten vom literarischen Modernismus repräsentiert werden könnte, auf andere historische Phänomene übertragen? Zunächst eröffnet bereits die von Goertz an White geübte Kritik die Möglichkeit, einem relativistischen Dilemma zu entgehen, nach dem narrative Strukturen in keiner Relation zur ›Realität‹ stehen, denn die tropologische Strukturierung des Forschungsergebnisses kann wesentlich enger mit dem Forschungsprozess verknüpft sein, als dies White nahelegt. Damit ist die tropologische Struktur eines historischen oder ethnographischen Werks keineswegs arbiträr, denn sie ist eng mit der Auswahl und Interpretation von Ereignissen verknüpft. Geklärt ist das Verhältnis von narrativer Struktur und ›Realität‹ aber noch nicht, und man sollte vorsichtig sein, ein allgemeines Konzept zu entwickeln, das auf alle historischen und ethnographischen Werke gleichermaßen angewandt werden könnte. Sicher ist aber, dass eine radikale Entreferentialisierung narrativer Strukturen historischer Werke nicht aufrecht erhalten werden kann. Historische und ethnographische Werke sind komplexe sprachliche Strukturen, in denen sich beschreibende, interpretierende und narrative Elemente gegenseitig durchdringen und ein im Einzelnen sehr schwer aufzulösendes Konglomerat bilden. Bereits die Interpretation eines Ereignisses kann die ›Wahl‹ einer Plotstruktur beeinflussen, ebenso sehr wie die Wahl einer Plotstruktur eine Rolle für die Auswahl der ›relevanten‹ Informationen spielen kann. Historische und ethnographische Texte sind ›fiktiv‹, doch zugleich beanspruchen sie, Ausschnitte der Realität zu repräsentieren. Dabei liegt es wohl in der Natur der Sache, dass nicht alle Quellen gesichtet, nicht alle Stimmen gehört oder repräsentiert werden können und dass nicht alle historisch überlieferten Sichtweisen gleichermaßen Eingang in die narrative Struktur finden. Whites Hinweis auf die Ambivalenz und Komplexität der Realität ist also berechtigt, doch es ist unklar, welches Potenzial sein Lösungsvorschlag hat. Für die Kontroverse zwischen Sahlins und Obeyesekere ist Whites Einwand aber sehr wohl fruchtbar, denn an Sahlins und Obeyesekere kann die Kritik gerichtet werden, historische Ambivalenz zugunsten narrativer Kohärenz zu unterdrücken. Die Wahl einer narrativen Strategie kann dabei ebenso sehr ›politisch‹ sein wie die Auswahl und Interpretation von ›Ereignissen‹. Bereits der Sinnzusammenhang, den ein Rezeptionskontext konstituiert, ist ›politisch‹, wenn dessen Bedeutungsebenen auch nicht darauf reduziert werden können. Im Falle von Cooks Tod beginnt die Rezeptionsgeschichte bereits mit den unterschiedlichen Augenzeugenberichten (siehe dazu Howe 1996), und in den Jahren nach Cooks Tod entwickelte sich eine weitreichende, komplexe und widersprüchliche Mythologisierung und Politisierung von Cooks Person und von seinem Tod (Edmond 1997). So sollte die Mythologisierung von Cooks Tod im England des ausgehenden 18. Jahrhunderts nicht nur der Legitimation kolonialer Gewalt dienen, sondern war auch Ausgangspunkt für die antikoloniale Auffassung, es sei besser gewesen, wenn Cook den Pazifik niemals erforscht hätte (Edmond 1997: 41). In Australien und Neuseeland diente die Person Cooks im 20. Jahrhundert als sym-

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bolischer Bezugspunkt für die angelsächsisch geprägten nationalen Identitäten (Edmond 1997: 47); auf der Seite der an den Rand der australischen Gesellschaft gedrängten Aborigines reflektierten Erzählungen über James Cook hingegen eher hegemoniale Beziehungen zwischen der ›weißen‹ Nation und den indigenen Außenseitern (Rose 1991). Diskurse über James Cook waren immer schon eng verknüpft mit einer moralischen Bewertung der europäischen Expansion; heute sind sie mehr denn je untrennbar verwoben mit indigener Identitätspolitik in einer zunehmend globalisierten Welt. Aus der Sicht einiger ozeanischer Intellektueller ist es bereits politisch zweifelhaft, sich überhaupt mit James Cooks Tod noch einmal zu beschäftigen. Hereniko wirft diese Frage auf, wenn er sie auch nicht beantwortet. »Do studies of Cook’s death, by their very nature and focus, inevitably objectify or reduce Hawaiians, thus perpetuating racism and racial stereotypes?« (Hereniko 2000: 87) Zudem erscheint Obeyesekere sowie einigen hawaiianischen Intellektuellen die Entscheidung, Gewalt nicht in den Mittelpunkt der historischen Erzählung zu rücken, als eine Verharmlosung der ›kolonialen Situation‹. Selbst wenn politische Implikationen in narrative Formen verwoben sind, sind diese politischen Implikationen also nicht immer identisch mit den von den Lesern wahrgenommenen politischen Aussagen. Hinsichtlich der Narrativität historischer und ethnographischer Werke stellt sich ein weiteres Problem. White argumentiert in Tropics of Discourse, dass Historiker aus dem Reservoir von zur Verfügung stehenden mythoi schöpfen müssen, um die Fakten so zu ordnen, dass sie eine Geschichte ganz bestimmter Art bilden. »Die Typen von Geschichten, die über die Französische Revolution erzählt werden können, beschränken sich auf die Anzahl der Formen von Plotstrukturen (modes of emplotment), die durch die Mythen der abendländischen literarischen Tradition als angemessene Weisen, menschlichen Prozessen Bedeutung zu verleihen, sanktioniert sind« (White 1986: 78). Die möglichen Folgen für die westliche Geschichtsschreibung über nicht-westliche Kulturen bleiben bei White im Dunkeln, wenn er auch die Universalität von Narrativität betont (White 1999: 22). Warum aber, so ließe sich fragen, sollte die Geschichte Hawaiis als eine Tragödie oder als eine Satire angelegt werden, wenn diese narrativen Formen westlichen Ursprungs sind? Eine Implikation dieses Arguments wäre, dass beispielsweise eine historische Erzählung über die hawaiianische Geschichte nicht auf westliche, sondern auf hawaiianische mythoi und Plots zurückgreifen sollte. Whites von vielen als zu formalistisch kritisiertes Viererschema unterschiedlicher Tropen bzw. historischer Stile liefert aber keine Anhaltspunkte dafür, wie eine solche narrative Struktur aussehen könnte.19 Auch Sahlins’ historische Anthropologie folgt einem solchen Verfahren im Grunde nicht, denn Sahlins verarbeitet zwar hawaiianische Mythologien und Sinnsysteme, doch er schreibt nur über sie, die narrativen Strukturen selbst sind wohl nicht ›hawaiianisch‹. Eine Vorgehensweise, welche nicht-westliche Sinnsysteme in die narrativen Strukturen ein19 Siehe zu diesem Problem auch Burke 1997: 82 und Stückrath 1997.

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baut, könnte nun als eine ›Politik der Interpretation‹ aufgefasst werden, die die Autorität der westlichen Geschichtswissenschaft, dazu ermächtigt zu sein, die Geschichte nicht-westlicher Gesellschaften erzählen zu können, in Frage stellt. Genau ein solches Vorgehen ist konstitutiv für die ›indigenen Wissenschaftskonzepte‹ des Pazifiks: »writing history is a deeply political process. The past is not a virgin arena waiting for the historian’s objective pen to bring it to life. Rather, it is an intensely conflictual and contentious battleground. Furthermore, it does not transmit itself in a single voice […] We see literature and the creative imagination as legitimate vehicles to explore, review and refine niu approaches to Pacific history. In a region where oral history carried knowledge across hundreds of years of history, Albert Wendt’s bold decision to choose poetry rather than academic prose to write history is commendable and adds an exciting dimension to the representations of ourselves and our past« (Balawanilotu et al. 2003: 199-200).

White wird immer wieder vorgeworfen, durch die Konzentration auf den historischen Stil die Referentialität des Textes zu negieren. Allerdings geht White, zumindest in seinen späteren Werken, nicht nur auf der Ebene des ›Faktums‹ von einer historischen Referentialität aus, sondern auch auf der Ebene des Narrativen. Diese Referentialität ist ambivalent, denn die Wirklichkeit scheint so komplex zu sein, dass es schon Techniken des literarischen Modernismus und der Postmoderne bedarf, um die Realität ›angemessen‹ zu repräsentieren. Es kommt White nicht darauf an, in einer historischen Repräsentation die Komplexität der Vergangenheit zu ›begradigen‹, sondern die Widersprüchlichkeit, die Ambivalenz und die niemals gänzlich zu erfassende ›Erhabenheit‹ historischer Prozesse zu erhalten und, wie unvollständig auch immer, zu repräsentieren. Diese Konsequenz ließe sich zumindest aus Whites Analyse der Repräsentation des Holocaust ziehen. Historische Erzählungen sollen Sinnhorizonte aufzeigen, die Geschichte aber nicht auf einen Sinn festlegen. In dieser Perspektive erschließen auch neue poetische Repräsentationstechniken der hawaiianischen oder ozeanischen Geschichte Sinnhorizonte, die jenseits der westlichen Repräsentation der pazifischen Geschichte liegen. Sie gehen auch über Whites Ansatz hinaus, denn es ist fraglich, inwieweit sich indigene schriftliche Ausdrucksformen in die von White in Metahistory entwickelte Systematik pressen lassen. Ein solches Vorgehen entspricht aber ohnehin kaum den jüngeren Arbeiten Whites, denn hier plädiert White ja explizit für experimentellere historische Repräsentationsformen. Aus dieser Perspektive steht selbst die Forderung ozeanischer Forscher, nach Ausdrucksmöglichkeiten jenseits des schriftlichen Textes zu suchen, wohl nicht vollkommen jenseits des White’schen Denkens. Anstatt diese indigenen Ausdrucksformen also nur als ›unwissenschaftlich‹ beiseite zu wischen oder sie als bloßen Ausdruck indigener Identitätspolitik zu betrachten, sollte zumindest auch die Frage gestellt werden, inwieweit diese neuen Wissenschaftsformen die Vielfalt

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ethnographischer und historischer Repräsentation erweitern und damit zu einem reichhaltigeren Verständnis ozeanischer Kulturen und deren Vergangenheit beitragen. Damit verliert beispielsweise Sahlins’ Geschichtstheorie nicht ihren Wert, doch sie ist nur noch eine unter mehreren mehr oder weniger weiterführenden Erzählungen, deren Gehalt und politische Implikation in unterschiedlichen kulturellen und historischen Kontexten immer wieder neu hinterfragt werden muss.

3. Die ›Bedeutung‹ von Concept-Metaphors Die These, ethnographisch-historische Werke seien narrativ strukturiert, muss nicht zwangsläufig implizieren, dass diese Werke eine ›Geschichte‹ erzählen. Robert Thornton argumentiert zwar zunächst im Anschluss an Hayden White, dass die Frage danach, was eine Ethnographie auszeichnet, zugleich eine Frage »nach der rhetorischen Konstruktion des Texts [ist], da der spezifisch ethnographische Blick und das spezifisch ethnographische Wissen eher auf der Ebene der Rhetorik als auf der des deskriptiven Details in Erscheinung treten« (Thornton 1993: 245). Allerdings weist Thornton darauf hin, dass ›klassische‹ Ethnographien keine ›Geschichte‹ mit einer Handlung erzählen, sondern im Rahmen einer narrativen Struktur die Ganzheit einer sozialen Gruppe entwerfen. In ethnologischen Monographien gibt es für Thornton zwar auch Erzählungen, doch diese beziehen sich in erster Linie auf das Eintauchen des Ethnographen in die fremde kulturelle Realität. »Während die Erzählung einen Schluß durch eine erfolgreiche Konklusion ihrer Handlung erreicht, erreicht die Ethnographie dies vermittels einer erfolgreichen Beschreibung einer sozialen Struktur. Sozialstruktur also ist […] das Bild von Kohärenz und Ordnung, welches vom Schreiben erzeugt wird« (Thornton 1993: 241). Erst die Vorstellung einer Ganzheit verleiht einer Ethnographie ihren erfüllenden Abschluss; diese Ganzheit ist nicht ›real‹, sondern Produkt einer Imagination – zunächst im Geiste des Ethnographen, dann im Geiste des Lesers. Der Wirklichkeitseffekt, den gute ethnographische Texte erzielen, geht für Thornton auf die rhetorische Konstruktion einer Ganzheit zurück. Der ethnographische Holismus nimmt dabei »auf eine verborgene Wesenheit« Bezug: »Wir haben lediglich die Wahl zwischen dem moralischen Imperativ der Gesellschaft, dem ›Geist‹ der Geschichte, dem textilähnlichen ›Text‹, der kein Text im besonderen ist, oder der ›Natur‹ des Menschen« (Thornton 1993: 247). Holistische Argumentationsfiguren sind nach dieser Interpretation Werke der Imagination, sie sind fiktiv, also ›gemacht‹, weil sie über das hinausgehen, was empirisch beobachtbar ist. Thornton bezieht sich noch auf Ethnographien wie Evans-Pritchards The Nuer oder Meyer Fortes’ Analysen der Tallensi – also in erster Linie auf klassische Werke der britischen Social Anthropology, die in den 1940er und 1950er Jahren erschienen sind. In diesen Werken spiegeln bereits die Anzahl und die Titel der jeweiligen Kapitel Grundcharakteristika der zu analysierenden ›Sozial-

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struktur‹ wider; die Klassifikation des ethnographischen Materials in items ist eine rhetorische Konstruktion des Textes, der die Imagination einer Ganzheit erzeugt. Natürlich ist gerade dieser ›Abschluss‹, der einer Ethnographie erst ihre Überzeugungskraft verleiht, nicht zuletzt durch die writing-culture-Debatte in den Mittelpunkt der Kritik geraten; spätestens seit den 1980er Jahren wird die rhetorische Konstruktion einer ethnographischen Ganzheit vermieden, denn Ganzheiten erzeugen keine ›Wirklichkeitseffekte‹ mehr. Man muss Thornton wohl nicht folgen in seiner These, dass Whites Schema unterschiedlicher historischer Stile nicht auf die Ethnologie übertragen werden kann, doch er macht darauf aufmerksam, dass sich die narrative Struktur eines Textes keineswegs darin erschöpfen muss, eine bestimmte ›Geschichte‹ mit einem bestimmten ›Plot‹ zu erzählen. Und dies gilt nicht nur für im engeren Sinne ethnographische Werke, sondern auch für kulturtheoretische Abhandlungen wie Stone Age Economics oder Culture and Practical Reason, in denen es nicht um die narrative Interpretation historischer Ereignisse geht oder um die rhetorische ›Erschaffung‹ einer Sozialstruktur, sondern um die Entwicklung eines allgemeinen kulturtheoretischen Instrumentariums. Natürlich ist auch die Strukturierung dieser Texte bereits ein Anzeichen für die theoretischen Grundlagen, die textimmanent entwickelt werden; beispielsweise weist bereits die Kapiteleinteilung von Stone Age Economics darauf hin, dass das hier entwickelte Konzept der Ökonomie in die Teilbereiche Produktion, Konsum und Verteilung gegliedert wird; Narration und Inhalt sind eng miteinander verknüpft. Autoren wie White und Thornton, die die Textualität ethnographischer oder historischer Werke in den Mittelpunkt rücken, weisen zu Recht darauf hin, dass Konzepte eng verknüpft sind mit narrativen Strukturen. Allerdings sollte berücksichtigt werden, dass Konzepte wie Kultur, Geschichte, Moderne oder Politik, um nur einige der wichtigsten zu nennen, die hier von Interesse sind, nicht nur im Rahmen narrativer Strukturen von ›Bedeutung‹ sind. Beispielsweise ist Sahlins’ Konzept der Ökonomie nicht untrennbar verknüpft mit der narrativen Struktur von Stone Age Economics, wenn diese Struktur die Entwicklung des Konzepts auch unterstützt. Die Frage nach der Referenz sozial- und kulturwissenschaftlicher Konzepte kann auch unabhängig von den narrativen Strukturen gestellt werden, in denen diese Konzepte eingebunden sind, wenn dies die große Bedeutung, die narrative Strukturen haben, auch nicht obsolet werden lässt. In welcher Beziehung stehen also Konzepte wie Kultur oder Geschichte zu ihrem Erkenntnisgegenstand? Und warum sollte man überhaupt solche Begriffe verwenden, wenn viele indigene Wissenschaftler in Ozeanien die Anwendung indigener Epistemologien fordern? Ich nähere mich diesen Fragen an, indem ich zunächst nochmals einen Blick auf Sahlins’ wirtschaftsethnologisches Konzept der Ökonomie und Appadurais Entwurf der global flows werfe. Sahlins kritisiert in Stone Age Economics den wirtschaftsethnologischen Formalismus, dass dieser das westliche Konzept des Utilitarismus, also die Vorstellung, dass menschliche Bedürfnisse unerschöpflich seien, auf nicht-westliche

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Kulturen anwendet und deshalb die kulturellen Charakteristika dieser Kulturen systematisch verfehlt. Allerdings fällt Sahlins’ Polemik gegenüber der ökonomischen Neoklassik und der formalistischen Wirtschaftsethnologie letztlich auf ihn selbst zurück, denn wenn der wirtschaftsethnologische Formalismus tatsächlich ethnozentrisch sein sollte, kann auch Sahlins’ Konglomerat unterschiedlichster Theoriepositionen einem Ethnozentrismus nicht entgehen, da Sahlins zumindest teilweise ebenfalls neoklassisch argumentiert. Diesem Einwand ließe sich zunächst entgegnen, dass Sahlins’ Ansatz in einer systematischen Perspektive zwar in sich widersprüchlich ist, dass Sahlins in seiner Kritik an der Anwendung neoklassischer Terminologie auf vormoderne Gesellschaften aber möglicherweise Recht hat. Deshalb wäre es notwendig, Sahlins’ Ansatz von der neoklassischen Terminologie gewissermaßen zu ›befreien‹. Doch sobald ein weiteres Problem in die Analyse einbezogen wird, erscheint ein solches Vorgehen zweifelhaft zu sein. Warum sollte Sahlins’ wirtschaftsethnologischer Ansatz den Problemen des Ethnozentrismus entgehen, die er dem Formalismus vorwirft? Sahlins’ Argument besteht in dem Vorwurf, der Formalismus übertrage das Konzept des nutzenmaximierenden Individuums auf vormoderne Gesellschaften. Diese Kritik trifft aber nur dann zu, wenn zugestanden wird, dass vormoderne Gesellschaften sich tatsächlich nicht auf einer formalistischen Grundlage untersuchen lassen. Warum aber sollte Sahlins’ Ansatz der Reziprozität einen plausibleren Zugang zur ethnographischen Realität vormoderner Gesellschaften eröffnen? Sahlins interpretiert nämlich die Gabe, »als ob die Gegenseitigkeit das wesentliche Anliegen jedes Individuums, jeder Gesellschaft und jeder Kultur wäre« (Papilloud 2006: 261; siehe dazu auch MacCormack 1976: 99). Hinsichtlich der Analyse vormoderner Gesellschaften gleichen sich deshalb die Vorgehensweisen des wirtschaftsethnologischen Formalismus und des Substantivismus: Westliche Analyseinstrumente bzw. Theorien werden auf nicht-westliche Gesellschaften angewendet. Strittig ist die Plausibilität der jeweiligen Entwürfe, doch der Ethnozentrismusvorwurf, den Sahlins gegenüber dem Formalismus erhebt, ließe sich auch auf seinen eigenen Ansatz anwenden, weil auch Sahlins mit einem westlichen Analyseinstrumentarium arbeitet, selbst wenn seine neoklassische Argumentationsweise ignoriert wird. Dieser Gedanke lässt sich an einem Ankerpunkt von Sahlins’ Ansatz spezifizieren. Warum verwendet Sahlins in seinem Ansatz den Begriff Ökonomie, wenn sich in vormodernen Gesellschaften noch kein ökonomisches Subsystem ausdifferenziert hat? Welchen Status hat der Begriff Ökonomie überhaupt? Wenn für die Menschen vormoderner Gesellschaften die Unterscheidung zwischen Ökonomie, Politik oder Religion keinen Sinn macht, ist der Begriff Ökonomie ein Konzept, das nicht der so genannten ›Perspektive des Akteurs‹ entspricht, also den Selbstbeschreibungen der Akteure, sondern der Systematisierung sozialer Prozesse dient, die die Akteure selbst wahrscheinlich in ganz anderen Termini beschreiben würden. Der Begriff Ökonomie ist ein westliches Konzept, unabhängig davon, ob damit substantivistische, formalistische oder marxistische Kon-

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zepte verknüpft sind. Wenn das Ziel aber darin besteht, nach Möglichkeit die Anwendung westlicher Begriffe auf vormoderne Gesellschaften zu vermeiden, müsste auch auf den Begriff Ökonomie verzichtet werden, insbesondere dann, wenn auf konzeptioneller Ebene davon ausgegangen wird, dass die Unterscheidung zwischen Ökonomie, Politik und Religion für Menschen in vormodernen Gesellschaften sinnlos ist. Letztlich destabilisiert dieses Problem Sahlins’ Ziel, einen eigenständigen wirtschaftsethnologischen Ansatz zu entwickeln. Sahlins’ besonderes Augenmerk gilt Prozessen der Reziprozität, insbesondere hinsichtlich der normativen Stabilisierung vormoderner Gesellschaften. Sahlins geht von Polanyis Substantivismus aus, entwickelt diesen Ansatz aber in eine ›Hobbesianische‹ Richtung weiter, die die Existenz einer Wirtschaftsethnologie letztlich in Frage stellt. Wenn ökonomische Prozesse in ›primitiven‹ Gesellschaften in soziale Zusammenhänge eingebettet sind, und wenn diese Prozesse – insbesondere Austauschbeziehungen – entscheidend sind für die Etablierung politischer Hierarchien und sozialer Integration, welchen Sinn hat es dann noch, einen Unterschied zwischen der Wirtschaftsethnologie und anderen Subdisziplinen der Ethnologie zu machen? Sahlins’ Projekt in Stone Age Economics dient nicht nur der Entwicklung eines Modells ›primitiver‹ Ökonomien; sein Ziel ist die Entwicklung einer Theorie ›primitiver‹ Gesellschaften. Da Sahlins die These entwickelt, dass ökonomische Prozesse in soziale Kontexte eingebettet sind, macht es letztlich auch keinen Sinn mehr, gesellschaftliche Prozesse wie Stratifizierung oder sozialen Zusammenhalt durch ökonomische Prozesse zu erklären, weil beide ohnehin nicht voneinander unterschieden werden können. Stone Age Economics bietet deshalb Ansatzpunkte für die Weiterentwicklung einer relationalen Theorie des Sozialen, wirft aber zugleich die Frage auf, welchen Erkenntnisgegenstand Sahlins’ Projekt einer ›Wirtschaftsethnologie‹ im Anschluss an Mauss und Hobbes überhaupt haben kann. Dieses Problem stellt sich in Polanyis Substantivismus noch nicht so dringlich, denn obwohl Polanyi Mauss in dessen These der ›Einbettung‹ natürlich folgt, entwickelt er nicht – wie Sahlins – ein Modell sozialen und politischen Zusammenhalts, nach dem ›ökonomische‹ Austauschbeziehungen den Naturzustand des Krieges aller gegen alle überdecken und verhindern. Sahlins will einerseits nachweisen, dass ›ökonomische‹ Prozesse in vormodernen Gesellschaften nicht existieren, weil sie in soziale Zusammenhänge eingebettet sind; dennoch hält Sahlins am Begriff Ökonomie fest, obwohl er eine Theorie des Ökonomischen nicht mehr entwickeln kann, ohne zugleich eine Theorie des Sozialen zu entwerfen. Die logische Folge wäre, das Konzept des Ökonomischen gewissermaßen zu universalisieren, also die These aufzustellen, dass jede Ethnologie eigentlich Wirtschaftsethnologie sei. Doch es bleibt unklar, warum eine nicht-ethnozentrische Ethnologie einen westlichen Begriff zur zentralen erkenntnisleitenden Kategorie erheben sollte. Der Status des Ökonomischen scheint in Sahlins’ Versuch, einen nicht-ethnozentrischen ethnologischen Ansatz zu entwickeln, also höchst prekär zu sein.

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Überraschenderweise tritt in Arjun Appadurais globalisierungstheoretischem Konzept der global flows ein ähnliches Problem auf. Denn von was ist eigentlich die Rede, wenn wir von ›globalen Flüssen‹ sprechen, wenn auch die Kategorie Globalität, wie Appadurai andeutet, eine phänomenologische Kategorie ist? Appadurai betont, dass die global flows nicht einfach out there existieren; vielmehr ist ihre Repräsentation radikal beobachter- und kontextabhängig: »these [scapes] are not objectively given relations that look the same from every angle of vision but, rather, […] they are deeply perspectival constructs, inflected by the historical, linguistic, and political situatedness of different sorts of actors« (Appadurai 1996: 33). Im Anschluss an Appadurais Entwurf ließe sich wohl argumentieren, dass auch Appadurais Konzept selbst und die Diskussionen darüber ein Teil globaler Flüsse geworden sind. Damit unterscheidet sich Appadurais Ansatz im erkenntnistheoretischen Sinne zunächst deutlich von Sahlins’ Ethnologie, denn Sahlins berücksichtigt die soziale und kulturelle Perspektivität weder in Stone Age Economics noch in Culture and Practical Reason; zudem sind die multilocal cultures bei Sahlins beobachterunabhängige Entitäten, anders als die globalen Flüsse bei Appadurai. Das Plädoyer für die Beobachterabhängigkeit der global flows hat allerdings auch Grenzen, denn Appadurais These der radikalen Perspektivität auf die global flows und deren Verschränktheit und Disjunktion müsste auch das Konzept der globalen Flüsse selbst destabilisieren. Aus einer anderen sozialen oder kulturellen Perspektive gibt es eventuell andere globale Flüsse; sogar die Existenz von globalen Flüssen im Allgemeinen müsste beobachterabhängig sein, doch Appadurai möchte so weit wohl nicht gehen. Scheinbar wird Globalisierung in Appadurais Augen tatsächlich durch globale Flüsse konstituiert, die genaue ›Form‹ der einzelnen Flüsse sowie deren Verschränkung sind allerdings beobachterabhängig. Die Frage, warum die Existenz der global flows aber letztlich beobachterunabhängig sein soll, wird bei Appadurai nicht expliziert. In Appadurais Konzeption findet sich deshalb eine Ironie, die bereits in Sahlins’ Wirtschaftsethnologie auftritt. Sahlins argumentiert bekanntlich, dass in vormodernen Gesellschaften die ›moderne‹ Unterscheidung zwischen Wirtschaft, Religion und Politik keinen Sinn macht; die von Mauss untersuchte Gabe ist eine ›totale soziale Tatsache‹, weil sie die in der kapitalistischen Moderne ausdifferenzierten Lebensbereiche in einer Handlungsform transzendiert. Allerdings versucht Sahlins in Stone Age Economics weiterhin, eine anthropological economics zu entwickeln. Zunächst ist dies auch verständlich, denn Sahlins fasst den Begriff des Ökonomischen viel weiter als in der neoklassischen Ökonomie üblich: Auch die Gabe als ›primitiver Gesellschaftsvertrag‹ ist Erkenntnisgegenstand der anthropological economics. Doch warum sollte ein westlicher Begriff wie der der Ökonomie Grundlage einer nicht-ethnozentrischen Theorie sozialer Prozesse in vormodernen Gesellschaften sein? Appadurai argumentiert zunächst ganz ähnlich wie Sahlins, denn er stellt fest, dass Begriffe wie ›Demokratie‹ oder ›Menschenrechte‹ keine universalen Konzepte sind, sondern Ideen, die global zirkulieren und in unterschiedlichen Kontexten gänzlich unterschiedliche Bedeutungen

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annehmen können. Sollte dies dann aber nicht auch auf Appadurais eigene Konzeption zutreffen? In Appadurais Augen sind ideoscapes – wie auch mediascapes – »concatenations of images«, aber im Unterschied zu mediascapes sind die images von ideoscapes »often directly political and frequently have to do with the ideologies of states and the counterideologies of movements explicitly oriented to capturing state power or a piece of it« (Appadurai 1996: 36). Was aber ist gemeint mit den Begriffen political und ideology? Appadurai geht mit diesen Begriffen so um, als seien diese den globalen Flüssen gewissermaßen entzogen und ließen sich universalistisch eingrenzen, und tatsächlich definiert sich ja die ›Landschaft‹ der ideoscapes über die Begriffe political und ideology. Auf der einen Seite argumentiert Appadurai also, dass viele (›politische‹) Konzepte ihren jeweiligen Bedeutungsgehalt in unterschiedlichen Kontexten radikal ändern können, doch auf der anderen Seite gilt dies scheinbar nicht für die Funktionalität der ideoscapes: Diese sind ›politisch‹, und die Repräsentationen sind ›Ideologien‹. Wie auch in Sahlins’ Wirtschaftsethnologie überschneiden sich in Appadurais Konzeption deshalb auf eine irritierende Weise Perspektivismus und Universalismus. Was also ist der epistemologische Status von Appadurais ›globalen Flüssen‹, von Sahlins’ ›Ökonomie‹ und ›Kultur‹ oder auch von Lila Abu-Lughods lived lives? Sind dies Konzepte, die die empirische Realität so beschreiben, wie sie ›wirklich‹ sind? Abu-Lughod scheint einer solchen Vorstellung zumindest nahezukommen, wenn sie schreibt: »the effects of extralocal and long-term processes are only manifested locally and specifically, produced in the actions of individuals living their particular lives, inscribed in their bodies and their words. What I am arguing for is a form of writing that might better convey that« (Abu-Lughod 1991: 150). Als in ihren Augen kritikwürdige Beispiele ethnographischen Schreibens hat sie hier vielleicht rhetorische Argumentationsfiguen im Sinn, die Kultur als ein ›Ensemble von Texten‹ begreifen, die ›gelesen‹ werden können, in dem man den Eingeborenen ›über die Schulter schaut‹ (siehe Geertz 1973: 412453). Die writing-against-culture-Debatte könnte man zunächst in einer konstitutionstheoretischen Perspektive lesen. Dann ginge es um die Frage, ob Kulturen tatsächlich existieren, ob sie tatsächlich voneinander abgegrenzt oder in sich homogen und ob sie tatsächlich statisch sind. Der Status von Konzepten wie global flows, ›Globalität‹, ›Lokalität‹ oder auch ›Kultur‹ erschöpft sich aber nicht in der Frage, ob diese Konzepte die Realität so abbilden (also repräsentieren), wie sie ›tatsächlich‹ ist. Die Beschränkung der Diskussion auf einer konstitutionstheoretischen Ebene impliziert, dass eine unproblematische Repräsentation der ›Realität‹ in wissenschaftlichen Texten möglich ist. Dies ist allerdings nicht nur vor dem Hintergrund der Narrativität wissenschaftlicher Texte problematisch, sondern auch bei der Berücksichtigung von Konzepten, die keinen unmittelbaren Referenten zu haben scheinen: Welche empirische Referenz haben Begriffe wie ›menschlicher Geist‹, ›Gender‹ oder ›Struktur‹? Sozialwissenschaftliche Konzep-

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te scheinen sich zwar auf eine soziale Realität zu beziehen, doch oftmals scheinen sie diese Realität ebenso erst zu erzeugen. Henrietta Moore nennt sozialwissenschaftliche Konzepte wie ›Globalisierung‹ oder ›Gender‹ concept-metaphors: »Concept-metaphors like global, gender, the self and the body are a kind of conceptual shorthand, both for anthropologists and for others […] Concept-metaphors are examples of catachresis, i.e. they are metaphors that have no adequate referent. Their exact meanings can never be specified in advance […] and there is a part of them that remains outside or exceeds representation« (Moore 2004: 73).

Der präzise Zusammenhang zwischen Begriff und der sozialen Realität ist, so Moore, unspezifisch und kann sich auch in unterschiedlichen Kontexten und Verwendungsweisen verändern. Allerdings ist dies möglicherweise auch ihre Stärke: »the role of concept-metaphors, like gender or the global, is not to resolve ambiguity, but to maintain it. Their purpose is to maintain a tension between pretentious universal claims and particular contexts and specifics« (Moore 2004: 74). Einer der Gründe dafür ist, dass Konzepte wie the global nicht nur Teil der sozialwissenschaftlichen Sprache sind, sondern auch Teil der Alltagssprache. »It is a feature of the social sciences that concept-metaphors are shared – to greater or lesser extents – between practicing academics and the individuals who are the subject of academic enquiry« (Moore 2004: 74). Concept-metaphors sind in Moores Augen eng verknüpft mit pre-theoretical commitments. Beispielsweise ist die ethnologische ›Konzeptmetapher‹ des ›Lokalen‹ eng verbunden mit der ethnologischen Methode der teilnehmenden Beobachtung; dies ist in Moores Augen auch der Grund, warum die Möglichkeit, eine Ethnographie des ›Lokalen‹ zu schreiben, in der Ethnologie kaum in Zweifel gezogen wird, wohingegen eine Ethnographie des ›Globalen‹ kaum betrieben wird. In vielen Ethnographien des Lokalen gibt es in Moore Augen allerdings ein weiteres definierendes pre-theoretical commitment der concept-metaphor des Lokalen: »the implicit image is of a system, and of parts that together make sense within a whole« (Moore 2004: 76). Auch die Konzeptmetapher ›Fragmentierung‹ beruht auf dem pre-theoretical commitment des Holismus. »In this view, what globalization has done is to break the whole down into parts, but without us being able to tell how the parts could be fitted back together again« (Moore 2004: 76). Einige globalisierungstheoretische Ansätze in der Ethnologie entkommen in Moores Augen allerdings der Gefahr, in einen Holismus zurückzufallen; Moore nennt hier insbesondere Arjun Appadurais Ansatz der ›globalen Flüsse‹. »One of the great strengths of Appadurai’s new concept-metaphor of ›scape‹ is its pre-theoretical commitment to the idea of processes, interconnections, experiences and imagination at the expense of units, entities, systems amd sub-systems« (Moore 2004: 79). Moores Begriff der concept-metaphors scheint mir in den Kontroversen über ethnographische Repräsentation weiterführend zu sein, denn der Begriff vermittelt zwischen einer

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Perspektive, die die Rhetorik von Texten in den Mittelpunkt rückt, die keine empirischen Referenten zu haben scheinen und einer Perspektive, in der Begriffe bzw. Texte die soziale Realität so repräsentieren, wie sie ›tatsächlich‹ ist. Kulturwissenschaftliche Begriffe können erstens in einer systematischen Perspektive verwendet werden, in der die Frage danach, ob die Akteure diese Begriffe außerhalb der Wissenschaft verwenden, zweitrangig ist. Manchmal wird die Verwendung von Begriffen, die auch in der Alltagssprache verwendet werden, gerade vermieden. Sahlins’ Begriff der Ökonomie kann zunächst in einem solchen Sinne verstanden werden, aber auch seine Begriffe Kultur und Geschichte, darüber hinaus natürlich Appadurais Konzept der global flows. In einer systematischen Perspektive bezieht sich beispielsweise Sahlins’ Kulturbegriff auf die Eigenschaft des Menschen, in Netze bedeutungsvoller Zeichen eingebunden zu sein; es ist deshalb zunächst zweitrangig, ob die Menschen auch in ihrer Alltagssprache den Begriff Kultur verwenden. Komplementär dazu bezieht sich der Begriff Geschichte in Sahlins’ Werk auf die fundamentale Handlungsfähigkeit des Menschen. Die Konzepte Kultur und Geschichte verweisen in Sahlins’ Spätwerk auf soziale Prozesse, die allgemeine Gültigkeit besitzen, also die symbolische Organisation der Realität und die Dynamik dieser symbolischen Ordnungen. Aus einer solchen Perspektive ist auch Sahlins’ frühere Verwendung des Begriffs Ökonomie nicht zu beanstanden, denn dieses Konzept bezieht sich nicht auf die Verwendung dieses Begriffs seitens der Akteure, deren Gesellschaften untersucht werden, sondern auf die Systematisierung von sozialen Prozessen, die sich prinzipiell auch mit anderen Termini ausdrücken ließen. Warum also – so könnte man in Verteidigung von Sahlins’ Wirtschaftsethnologie fragen – sollte es überhaupt wichtig sein, ob die Akteure in vormodernen Gesellschaften selbst den Begriff Ökonomie verwenden? Die zunehmende Berücksichtigung der symbolischen Dimension in Sahlins’ Werk macht darauf aufmerksam, dass die Verwendung von Konzepten nicht nur für die Sozial- und Kulturwissenschaften zentral sind, sondern auch für alltägliche soziale Praxis. Insofern ist die ›kulturalistische Wende‹, die Sahlins in Culture and Practical Reason vollzieht, ein bedeutender systematischer Fortschritt gegenüber seiner Wirtschaftsethnologie, denn die Verwendung von Konzepten wie beispielsweise Metaphern ist ein symbolischer Prozess, lässt sich also auf der Grundlage von Sahlins’ anthropological economics nur unzureichend systematisieren. Auch Sahlins’ Geschichtstheorie berücksichtigt die alltägliche Verwendung von Begriffen und Konzepten wie beispielsweise Metaphern, auf die bereits George Lakoff und Mark Johnson in ihrer wegweisenden Studie Metaphors We Live By aufmerksam gemacht haben: »our conceptual system is largely metaphorical […] the way we think, what we experience, and what we do every day is very much a matter of metaphor […] The essence of metaphor is understanding and experiencing one kind of thing in terms of another« (Lakoff/Johnson 1980: 3, 5). Mir geht es an dieser Stelle nicht um die Frage, ob die menschliche Wahrnehmung tatsächlich metaphorisch strukturiert ist oder ob, wie Naomi Quinn in ihrer

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kritischen Auseinandersetzung mit dem Ansatz von Lakoff und Johnson argumentiert, »metaphors, far from constituting understanding, are ordinarily selected to fit a preexisting and culturally shared model« (Quinn 1991: 60).20 Vielmehr möchte ich auf die möglicherweise selbstverständliche Tatsache hinweisen, dass die Verwendung von Konzepten, Begriffen und Schemata in alltagssprachlichen Kontexten grundlegend ist für Sahlins’ Geschichtstheorie, denn kosmologische Konzepte dienen der Interpretation gegenwärtiger Ereignisse und sind in diesem Sinne handlungsleitend. Zu den Begriffen, die in kulturellen Revitalisierungsbewegungen eine große Rolle spielen, gehören interessanterweise die Begriffe Kultur und Geschichte selbst. Diese zweite Dimension von concept-metaphors führt gewissermaßen zu einer referentiellen Verdopplung der Konzepte Kultur und Geschichte: Diese beziehen sich nun nicht mehr auf die symbolische Seite menschlicher Existenz und die metaphorische (oder allgemeiner tropologische) Verfasstheit von Geschichte allein, sondern auch auf die Verwendung dieser Begriffe und eng damit verknüpfter Konzepte seitens der ›untersuchten‹ Akteure. Beispielsweise betont Sahlins immer wieder, dass die Ethnologie ihren Kulturbegriff zu ›entsorgen‹ trachtet, währenddessen immer mehr Menschen in allen Teilen der Welt entdecken, dass sie über eine ›Kultur‹ verfügen (und, eng damit verknüpft, über eine ›Geschichte‹). Es ist allerdings zweifelhaft, ob der Begriff Kultur, den Sahlins verwendet, bedeutungsgleich mit dem Begriff Kultur ist, der in Revitalisierungsbewegungen wie der hawaiianischen Souveränitätsbewegung verwendet wird. Der ethnologische Kulturbegriff, den Sahlins verwendet, bezieht sich auf die symbolische Dimension menschlicher Existenz und auf den Gebrauch von Konzepten, unter diesen möglicherweise ›Kultur‹, in unterschiedlichen Kontexten, doch dessen Bedeutung in diesen Kontexten fällt nicht notwendigerweise mit Sahlins’ Kulturbegriff zusammen. Unter anderem aus diesem Grund wird die Anwendung westlicher Konzepte auf nicht-westliche kulturelle Kontexte seitens vieler ozeanischer Wissenschaftler kritisiert. Gegeo weist beispielsweise ausdrücklich darauf hin, dass er zwar westliche Begriffe verwendet, dass diese Verwendungsweisen jedoch mit denen der Akteure, die er untersucht, zusammenfallen sollen. »When I use terms such as indigeneity, culture, place, or space, I am not drawing on a postmodern vocabulary. I am instead using these terms as the Kwara’ae understand and use them« (Gegeo 2001b: 493). Diese Unterscheidung zwischen zwei unterschiedlichen Ebenen der Referenz ist natürlich idealtypisch, und bereits Sahlins’ Kultur- und Geschichtstheorie zeigt, dass beide Ebenen fließend ineinander übergehen können. Beispielsweise hat Sahlins wesentliche Elemente von Epeli Hau’ofas Arbeiten über die Bedeutung des Ozeans für pazifische Lebenswelten, insbesondere ›Our Sea of Islands‹ (Hau’ofa 1993), in sein Konzept über die ›Indigenisierung der Moderne‹ integ20 Zudem sollte eine Diskussion über den kulturellen Gebrauch von Metaphern andere tropologische Ausdrucksformen nicht vernachlässigen (Fernandez 1991).

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riert. Auch Hau’ofa plädiert für ein Konzept kultureller Systematizität und des Holismus, denn die Migrationsbewegungen, die von vielen als Ausdruck kultureller Entterritorialisierung und des Verlusts kultureller Integrität angesehen werden, stehen für Hau’ofa in einer starken Kontinuität zu indigenen Traditionen, sind also selbst Ausdruck ozeanischer kultureller Integrität. Darüber hinaus ist Sahlins’ Konzept des develop-man eine Abwandlung des melanesischen Begriffs divelopman: »the word […] ostensibly corresponds to the Western category ›development‹, but giving the persisting differences in meaning I prefer to gloss it as it actually sounds in English: ›develop man‹, the development of people« (Sahlins 2000b: 172). Schließlich plädiert Sahlins, wie auch viele ozeanische Forscher und Intellektuelle, für eine holistische Sichtweise auf ozeanische Lebenswelten: Die Unterscheidung zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Sphären ist eine spezifisch westliche Sichtweise, die nicht auf die hawaiianische Kultur angewendet werden kann. Sahlins wendet also in seiner Theorie über die ›Indigenisierung der Moderne‹ zwar westliche Konzepte wie Kultur oder Geschichte auf nicht-westliche Gesellschaften an, doch Elemente indigener Epistemologien bzw. die Bedeutungen indigener Begrifflichkeiten finden durchaus Eingang in Sahlins’ konzeptionelles Instrumentarium, wenn er seine Ethnologie auch nicht auf indigene Epistemologien gründet. Die Wahl einer concept-metaphor oder auch einer narrativen Struktur hängt drittens nicht nur mit dem analysierten Erkenntnisgegenstand zusammen, sondern auch mit dem jeweiligen Diskussionskontext; dies ist ein Punkt, auf den bereits Hayden White mit seinem Konzept der ›Politik der Interpretation‹ hingewiesen hat. Im Falle von Sahlins’ Begriff der Ökonomie liegt beispielsweise die Vermutung nahe, dass dessen Verwendung mit Sahlins’ Positionierung in einer wirtschaftsethnologischen Debatte zu tun hatte. In der Formalismus-Substantivismus-Debatte eröffnete Sahlins’ Konzept der anthropological economics einen Argumentationsraum, der spätestens Anfang der 1970er Jahre in sich zusammengefallen ist. Ich glaube, dass ähnliches für die meisten, wenn nicht für alle, sozial- und kulturwissenschaftlichen Konzepte gilt, die zu bestimmten Zeiten und in bestimmten Kontexten Kontroversen hervorrufen oder in diesen entstehen. Der Begriff anthropological economics hat damit gewissermaßen zwei unterschiedliche Referenten: Einerseits bezieht er sich auf soziale Praktiken in vormodernen Gesellschaften, in denen sich noch kein ökonomisches Subsystem herausgebildet hat, andererseits ist er ein antimodernistischer Begriff, der als Kritik am Universalismus von Modernisierungstheorien oder der ökonomischen Neoklassik verstanden werden kann. Auch Sahlins’ kulturhistorischer Ansatz steht nicht nur in einer referentiellen Beziehung zu (in erster Linie) nicht-westlichen Lebenswelten, sondern auch in einer Beziehung zu spezifisch westlichen theoriegeschichtlichen Entwicklungen wie dem Siegeszug des Strukturalismus in Frankreich, der Ausarbeitung der interpretativen Ethnologie in den USA oder auch der historischen Wende in der Ethnologie der 1970er Jahre. Sahlins hat die Vorgehensweise kritisiert, politisch ›aufgeladene‹ Begriffe wie ›Gender‹ oder ›Widerstand‹ auf

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andere Kulturen anzuwenden, nur weil uns diese Konzepte als wichtig erscheinen. Doch tatsächlich entgeht auch Sahlins einer solchen Vorgehensweise nicht, denn auch der Kulturbegriff, den Sahlins verwendet, ist in einer ähnlichen Weise ›politisch‹ aufgeladen, wie bereits die Theorien von Franz Boas und Claude Lévi-Strauss, die Sahlins weiterentwickelt. Sozial- und kulturwissenschaftliche Theorien verweisen oftmals zumindest implizit auch auf die soziohistorischen Kontexte, in denen sie entstanden sind. Konzepte wie Kultur und Geschichte beziehen sich auf soziale Prozesse, sie können sich auf Verwendungsweisen von Konzepten in alltagssprachlichen Lebenswelten beziehen und diese in ihre eigene Begrifflichkeit integrieren, und sie können (zumeist implizit) auf die Kontexte verweisen, in denen sie entstanden sind. Diese komplexe dreischichtige Referentialität ist eng verknüpft mit dem Kampf um wissenschaftliche Autorität, ›angemessene‹ Aussagen zu treffen sowie mit den politischen Implikationen dieser Aussagen und narrativen Strukturen seitens der Autoren selbst sowie seitens der Rezipienten in unterschiedlichen historischen und kulturellen Kontexten. Aufgrund der Vielfältigkeit dieser Kontexte können sich unterschiedliche politische Implikationen sozial- und kulturwissenschaftlicher Theorien in unterschiedlichen Kontexten gegenseitig überschneiden, durchdringen und einander widersprechen. Im Kontext der hawaiianischen Souveränitätsbewegung kann Sahlins’ historische Anthropologie andere politische Implikationen besitzen als im Kontext der US-amerikanischen Cultural Anthropology oder auch der deutschen Soziologie. Allein die universalistische Verwendungsweise von Begriffen wie global flows, Ökonomie oder Kultur, die in bestimmten alltagsweltlichen Kontexten, auf die sich die Begriffe beziehen, möglicherweise keine Entsprechung haben oder anders verwendet werden, wirft die Frage nach der ›angemessenen‹ Verwendung wissenschaftlicher concept-metaphors auf; die Auseinandersetzungen über diese Fragen sind in einem immer weitreichenderen Maße interkulturell.

4. Jenseits des Universalismus? Ausgangspunkt meiner Analyse über die ›Politik der Repräsentation‹ war die Sahlins-Obeyesekere-Kontroverse. Ich habe argumentiert, dass die Kritik seitens Obeyesekere sowie einiger hawaiianischer Forscher, Sahlins sei ein Vertreter des US-amerikanischen akademischen Imperialismus, überraschend ist, weil Sahlins’ Ansatz eine Kritik am westlichen Universalismus darstellt und er in den 1960er Jahren gegen den Vietnamkrieg und die Instrumentalisierung der amerikanischen Sozialwissenschaften für den amerikanischen Expansionismus protestierte. Aus der Sicht einiger ozeanischer Wissenschaftler ist Sahlins jedoch ein Vertreter des westlichen Expansionismus, denn Sahlins arbeitet mit westlichen narrativen Ausdrucksmöglichkeiten, wendet westliche Konzepte auf nicht-westliche Kulturen an, ist ein outsider und unterschätzt aus der Perspektive indigener Wissen-

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schaftler die Verknüpfung zwischen Ethnologie und Kolonialismus. In meiner Auseinandersetzung mit der Narrativität der Repräsentation sowie der Verwendung von Konzepten und Begriffen bin ich zu dem Ergebnis gekommen, dass es aus einer systematischen Perspektive durchaus Anknüpfungspunkte zwischen westlichen und indigenen Wissenschaftskonzepten gibt; insbesondere Sahlins’ Verwendung indigener Konzepte im eigenen Analyserahmen ist weiterführend und bricht eine spezifisch westliche Perspektive auf die Geschichte nichtwestlicher Gesellschaften auf. Ein interkultureller Dialog scheint notwendig zu sein, um die Probleme, die mit der ›Politik der Repräsentation‹ verknüpft sind, zu lösen – allerdings kommt ein konstruktiver Dialog manchmal gar nicht erst zu Stande, beispielsweise dann, wenn Haunani-Kay Trask die Ethnologie als Teil der colonizing horde betrachtet. Bedacht werden sollte aber darüber hinaus, dass es zwar viele Unterschiede zwischen ozeanischen und westlichen Wissenschaftsformen gibt, dass diese Differenzen aber nicht überbetont werden sollten – Wissenschaftsformen sind letztlich ebenso wenig essentialistisch wie Kulturen. Viele indigene Wissenschaftler betonen ja gerade die Lokalität und Kontextualität indigener Wissenschaftsformen; es gibt also eine Vielzahl dieser Formen, die in einem konfliktiven Verhältnis zueinander stehen, wenn es hier auch deutliche Überlappungen geben mag – dem Versuch, diese Überlappungen zu systematisieren, liegen ja Woods Entwurf der cultural studies for Oceania oder Huffers/Qalas Systematisierung eines ›pazifischen theoretischen Denkens‹ zu Grunde (siehe Wood 2003; Huffer/Qala 2004), doch diese Projekte sollten nicht in einem essentialistischen Sine verstanden werden. Ein Beispiel dafür ist der explizit politische bzw. emanzipative Charakter indigener Wissenschaftskonzepte in Ozeanien, denn genau betrachtet gibt es hier große Unterschiede – die Kritik am US-amerikanischen ›Neokolonialismus‹ ist nicht zwangsläufig gleichzusetzen mit der Kritik an autoritären Regimen.21 Ebenso sehr wie es deutliche Unterschiede zwischen einzelnen ozeanischen Wissenschaftskonzepten gibt, gibt es auch Gemeinsamkeiten zwischen ozeanischen und westlichen Ansätzen. »Islanders and Outlanders share overlapping standards for assessing credibility in the Pacific as well as more than three centuries of overlapping pasts. Together these offer a foundation for meaningful conversations across differences of representation, differences of silence, differences of perspective« (Borofsky 2000: 20). Beispielsweise hat Sahlins bedeutende indigene Wissenschaftskonzepte in seinen Ansatz eingebaut, unter anderem Gedanken von Epeli Hau’ofa; Hau’ofa wiederum hat Sahlins’ ›Goodbye to Tristes 21 Stewart Firth weist darauf hin, dass sich Wissenschaftskonzepte in Hawai’i oder Neuseeland, also Regionen, in denen es bedeutende indigene Souveränitätsbewegungen gibt, von solchen in politisch unabhängigen Regionen Ozeaniens, also beispielsweise Fidschi, teilweise drastisch unterscheiden. Im einen Fall ist wissenschaftliche Praxis eng mit politischen Souveränitätsbewegungen verknüpft, im anderen Fall eher mit Entwicklungsprojekten, die möglicherweise autoritäre Regime stützen (Firth 2003: 139-140).

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Tropes‹ (Sahlins 1993a; CP: 471-500) explizit gelobt als »essential reading for all of us who are concerned with the constructions of our pasts, our cultures, and with our future prospects« (Hau’ofa 2000: 471). Auch Trasks Kritik, Hawaiianer hielten Ethnologen für »part of the colonizing horde« (Trask 1991: 162), repräsentiert möglicherweise nicht die Haltung der meisten Hawaiianer. »What is left unsaid in Trask’s statement is that diverse voices exist within the Hawaiian community, and many take strong exception to her views« (Borofsky 2000: 17). Die Gefahr ist groß, Aussagen wie die von Trask oder auch Kame’eleihiwa über Sahlins (Kame’eleihiwa 1994a, 1994b) zu verallgemeinern und damit zu essentialisieren – wobei dies nicht heißen soll, diese Kritiken an Sahlins’ kulturhistorischem Spätwerk seien zu vernachlässigen. Allerdings ist die Situation komplexer, als sie durch eine einfache Dichotomie westliche/nicht-westliche Wissenschaftler bzw. Wissenschaftskonzepte erfasst werden könnte. Der Eindruck eines solchen Gegensatzes ergibt sich oftmals eher aus essentialisierenden Repräsentationen der jeweils anderen Seite – ein Phänomen, das bereits zu argumentativen Verzerrungen in der Sahlins-Obeyesekere-Kontroverse beigetragen hat. Aus einer solchen Perspektive erscheint ein interkultureller Dialog zwischen westlichen und ozeanischen Wissenschaftsformen keineswegs ein Aufeinanderprallen unterschiedlicher ›Welten‹ zu sein, wenn ein solcher Dialog auch voller Fallen sein mag. Auf jeden Fall sollte akzeptiert werden, dass die Legitimität westlicher Wissenschaftler, nicht-westliche Kulturen zu erforschen, nicht selbstverständlich ist. Im Grunde war dies noch nie der Fall, und die Kritik an der Ethnologie, indigene Bedürfnisse einfach zu ignorieren, ist ebenso übertrieben wie die Forderung, westliche Wissenschaftler sollten aufhören, nicht-westliche Kulturen zu erforschen. Richtig ist aber auch, dass Ethnologen und andere Sozialund Kulturwissenschaftler zuweilen indigene Wünsche nach der Wahrung intellektuellen Eigentums ignorieren und dass ethnologisches Wissen von dritter Seite missbraucht werden kann. Im Einzelnen bedeutet dies oftmals eine Gratwanderung, denn welche Konsequenzen sollten beispielsweise aus der Forderung einiger hawaiianischer Wissenschaftler gezogen werden, dass westliche Wissenschaftler nicht nochmals den Tod von James Cook untersuchen sollten? Der in vielen Fällen verständliche Protest indigener Forscher gegen den ›ethnologischen Imperialismus‹ kann sehr leicht umschlagen in eine nationalistische Dogmatik, die die Fronten verhärtet, anstatt zu einem sinnvollen Dialog beizutragen. Die Ethnologie, wie überhaupt jede Sozial- und Kulturwissenschaft, die interkulturelle Zusammenhänge untersucht, sollte sich deshalb ›neuen‹, nicht-westlichen Methodologien, Vermittlungformen, Theorien und Zielen wissenschaftlichen Forschens öffnen; der zuweilen vorherrschende Dogmatismus indigener Wissenschaftsformen sollte gleichsam aufgebrochen werden. Wohlgemerkt geht es mir nicht um ein Plädoyer für wissenschaftliche Beliebigkeit, sondern um ein gegenseitiges Anerkennen unterschiedlicher Wissenschaftsformen – und auch um eine möglicherweise produktive Erweiterung der Grundlagen, auf denen die jeweils eigenen Forschungen beruhen. Dies mag tatsächlich ein erster Schritt sein in

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Richtung einer nachhaltigen Öffnung der westlichen Sozial- und Kulturwissenschaften zu neuen Theorien, Methodologien und Ausdrucksformen, also hin zu einem Prozess, den viele ozeanische Wissenschaftler vielleicht als eine ›Dekolonialisierung‹ der westlichen Wissenschaften bezeichnen würden.22 Sahlins selbst plädiert explizit für einen solchen Dialog (siehe Sahlins 1997a: 276). Ein solcher interkultureller Dialog, den Sahlins im Auge hat und für den ich hier plädiert habe, setzt sich allerdings dem Vorwurf aus, bestehende Machtasymmetrien zu festigen und nicht-westliche Wissenschaftskonzepte noch weiter an den Rand zu drängen. Beispielsweise entsprechen bedeutende Foren des interkulturellen Dialogs wie die Zeitschrift The Contemporary Pacific oder der von Robert Borofsky herausgegebene Sammelband Remembrance of Pacific Pasts (Borofsky 2000a) dem westlichen textlastigen Wissenschaftsverständnis; hier kann also nur über neue Ausdrucksmöglichkeiten und Argumentationsräume nachgedacht werden. Dies hat notwendigerweise Auswirkungen auf die indigenen Wissenschaftskonzepte im Pazifik selbst. Gegeo beobachtet, dass oftmals die indigenen Wissenschaftler oder Schriftsteller im ozeanischen Raum am bekanntesten sind und über den größen Einfluss verfügen, deren Texte sich im angloeuropäischen Raum am besten verkaufen. Die bekanntesten ozeanischen Intellektuellen scheinen oftmals jene zu sein, so Gegeo, die die westlichen ›Sprachspiele‹ des Schreibens und Forschens am besten beherrschen. »It is rather hypocritical of us to argue for a Pacific islander voice while we uncritically employ the standards and evaluations of Anglo-Europeans« (Gegeo 2001a: 179). Es ist also nicht überraschend, dass es im Rahmen indigener Wissenschaftskonzepte im ozeanischen Raum unklar ist, ob ozeanische Wissenschaftler ihre Arbeiten weiterhin auf Englisch publizieren oder ob sie gar überhaupt schreiben sollten, ob dies also bereits eine Anpassung an westliche Diskursformen darstellt, oder ob der von vielen wahrgenommene westliche Kolonialismus am besten mit den Mitteln und im Rahmen westlicher Wissenschaftsformen durchbrochen werden kann. Ironischerweise werden solche Diskussionen zumindest teilweise in englischsprachigen Medien geführt, beispielsweise der Zeitschrift The Contemporary Pacific. Ein interkultureller Dialog über indigene, also nicht-westliche Wissenschaftsformen, läuft also Gefahr, die Standards westlicher Wissenschaft nicht zu untergraben, sondern im Gegenteil zu stabilisieren, denn die Argumentationsräume, in denen ein solcher Dialog ausgefochten wird, können sich nicht vollständig jenseits westlicher wissenschaftlicher Standards bewegen. Robert Borofsky hebt die große Bedeutung poetischer Ausdrucksformen für die pazifische Geschichts22 Angemerkt sei, dass auch westliche sozial- und kulturwissenschaftliche Theorien nicht-westlichen Wissenschaftlern wertvolle Ansatzpunkte für neue (poetische) Ausdrucksmöglichkeiten wissenschaftlicher Forschung liefern können. Ein Beispiel dafür bietet Sahlins’ kulturhistorischer Ansatz, denn der aus Guinea stammende Historiker Saidou Mohamed N’Daou hat Sahlins’ Geschichtstheorie unter Berücksichtigung afrikanischer Epistemologien visualisiert und damit neu interpretiert (siehe Shipley 2004).

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schreibung hervor, und er räumt diesen Ausdrucksformen in Remembrance of Pacific Pasts einen großen Raum ein. Dennoch ist der Dialog darüber, inwieweit beispielsweise poetische Ausdrucksformen eine legitime Grundlage für die Geschichtsschreibung sein können, auf westliche institutionelle Faktoren des ›wissenschaftlichen Feldes‹ angewiesen: westliche Verlage, Forscher, die über Aufnahme von Beiträgen in Büchern und Fachzeitschriften entscheiden, Universitätsinstitute, die die konzeptionelle Ausrichtung ganzer Disziplinen über Stellenbesetzungen beeinflussen. Ozeanische Wissenschaftler müssen, frei nach Bourdieu, das wissenschaftliche Spiel ›mitspielen‹, um an Einfluss in der scientific community zu gewinnen; genau dies entspricht aber wohl nicht zwangsläufig den emanzipativen Zielen ozeanischer Wissenschaftsformen. Ähnliches gilt auch für meine eigene Arbeit: Ich habe dafür plädiert, dass ozeanische und westliche Wissenschaftsformen sich gegenseitig befruchten könnten; doch auch meine Arbeit ist ein Produkt des westlichen Wissenschaftssystems, in dem spezifische narrative, konzeptionelle und kontextuelle Anforderungen erfüllt werden müssen, um wissenschaftliche Legitimation zu erlangen. Mein Plädoyer für eine Berücksichtigung indigener Ausdrucksformen ist also keine ›Überschreitung‹ westlicher Wissenschaftsstandards, wie immer man diese auch definieren mag. Das gilt auch für die ›Politik der Repräsentation‹ selbst, denn bereits der Begriff ›Politik‹ ist ein westliches Konzept, das in bestimmten nicht-westlichen kulturellen Kontexten möglicherweise keinen Sinn ergibt. Letztlich haben wir aber gar keine andere Wahl, als unterschiedlichen Variationen von Selbstreflexivität zu vertrauen und den interkulturellen Dialog über die konzeptionellen Grundkategorien interkultureller Forschung nicht aufzugeben, auch wenn diese Vorgehensweisen die Probleme der ›Politik der Repräsentation‹ nicht obsolet werden lassen, sondern möglicherweise nur verschieben.

Kultur, Geschichte und die Indigenisierung der Moderne

Die Lektüre der frühen Texte von Marshall Sahlins ist ein bisweilen verwirrendes Erlebnis – zumindest, wenn man sein Spätwerk kennt, in dem er für kulturelle Distinktivität, lokale Historiographien und die symbolische Verfasstheit von Gesellschaft plädiert. Der ›frühe‹ Sahlins ist demgegenüber materialistisch, evolutionistisch und funktionalistisch. Sahlins’ intellektuelle Entwicklung spiegelt zu einem gewissen Grad die intellektuelle Entwicklung der US-amerikanischen Ethnologie wider, und ein Blick auf sein Gesamtwerk zeigt, wie sehr sich die Ethnologie in den letzten 50 Jahren gewandelt hat. Sahlins hat zu dieser Entwicklung zu einem gewissen Grad selbst beigetragen; in den frühen 1960er Jahren ist er einer der ›Stars‹ des US-amerikanischen Neoevolutionismus, in den späten 1960er Jahren entwickelt er Elemente eines wegweisenden wirtschaftsethnologischen Ansatzes, und Mitte der 1970er Jahre macht er den Strukturalismus von Claude Lévi-Strauss für die Entwicklung einer semiotischen Kulturtheorie fruchtbar. Nachdem er diese Theorie in Culture and Practical Reason vorgelegt hat, sensibilisiert er seinen kulturalistischen Entwurf handlungs- und geschichtstheoretisch. Diese Verknüpfung von Kultur und Geschichte in Sahlins’ Spätwerk hat sich als enorm einflussreich für die Annäherung zwischen Ethnologie und Geschichtswissenschaft herausgestellt. In den letzten Jahren scheint die Bedeutung von Sahlins’ Werk in der Ethnologie aber rückläufig zu sein. Die Frage liegt deshalb nahe, welche konzeptionellen Impulse die Verknüpfung der erkenntnisleitenden Kategorien Kultur und Geschichte in Sahlins’ Spätwerk für die Ethnologie und angrenzenden Disziplinen, für die die interkulturelle Analyse von besonderer Relevanz ist, in der Zukunft noch haben kann. In der vorliegenden Arbeit habe ich den Versuch unternommen, die konzeptionelle Plausibilität und empirische Reichweite von Sahlins’ kulturhistorischem Spätwerk auf der Grundlage einer Analyse von Sahlins’ Gesamtwerk einzuschätzen. Mein Referenzpunkt war die von Sahlins seit den späten 1980er Jahren entwickelte Theorie über die ›Indigenisierung der Moderne‹, die Sahlins als Alterna-

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tive zu poststrukturalistischen, postkolonialen und weltsystemtheoretischen Ansätzen versteht. Drei systematische Elemente der Verknüpfung von Kultur und Geschichte in Sahlins’ Spätwerk standen im Mittelpunkt: erstens Sahlins’ Plädoyer für kulturelle Kontinuität; zweitens die handlungstheoretische Grundlegung von Sahlins’ Geschichtstheorie; drittens die ›Politik der Repräsentation‹, also die Frage nach dem politischen Status ethnographischer und historischer Repräsentationen, der Legitimität westlicher Wissenschaftler, Aussagen über nicht-westliche Kulturen zu machen und dem emanzipativen Potenzial der interkulturellen Analyse. Diese Schwerpunktbildung liegt nahe, weil sich Sahlins in seinem Spätwerk mit diesen Fragen auseinandergesetzt hat oder mit ihnen konfrontiert wurde. Allerdings habe ich mich nicht auf Sahlins’ Spätwerk beschränkt, sondern sein Gesamtwerk in meine Untersuchung mit einbezogen. Ein erster Grund dafür sind die Kontinuitäten in Sahlins’ Gesamtwerk, deren Kenntnis ein besseres Verständnis von Sahlins’ kulturhistorischem Spätwerk ermöglichen. Darüber hinaus eröffnet eine Analyse von Sahlins’ Gesamtwerk überraschende Kontinuitäten zwischen ›alten‹ und ›neuen‹ sozialwissenschaftlichen Ansätzen, deren Kenntnis für eine Einschätzung des Potenzials von Sahlins’ Spätwerk fruchtbar gemacht werden kann. Drittens erlaubt eine Analyse von Sahlins’ Gesamtwerk ein Urteil darüber, in welchem Maße sich sein Spätwerk gegenüber seinem Frühwerk konzeptionell weiterentwickelt hat, welchen Problemen sich Sahlins also gegenübersah und wie er sie zu lösen versucht hat. Schließlich ist Sahlins’ Gesamtwerk ein intellektueller ›Knotenpunkt‹ ethnologischer Diskussion, und Sahlins hat nicht nur eine Unmenge an Impulsen von konkurrierenden Kulturtheorien übernommen, sondern auch einige enorm einflussreiche Debatten geführt, in denen es um die konzeptionellen Grundlagen der Ethnologie geht. In seiner evolutionistischen bzw. wirtschaftsethnologischen Werkphase, die ihren krönenden Abschluss mit Stone Age Economics erfährt, entwickelt Sahlins zunächst eine Theorie kultureller Evolution, aus der im Laufe der 1960er Jahre schließlich die anthropological economics von Stone Age Economics hervorgeht. In seinen ersten Arbeiten ist Sahlins noch sehr stark vom amerikanischen Neoevolutionismus beeinflusst. In seiner Dissertation über Social Stratification in Polynesia arbeitet Sahlins ein neoevolutionistisches Forschungsprogramm aus, das Elemente der neoevolutionistischen Theorien von Leslie White und Julian Steward miteinander kombiniert. Aus biographischen Gründen liegt dies auch nahe, denn Sahlins studiert an der University of Michigan in Ann Arbor und an der New Yorker Columbia University, den damaligen Zentren des US-amerikanischen Neoevolutionismus. In ›Evolution. Specific and General‹ verallgemeinert Sahlins seine empirischen Ergebnisse aus Social Stratification in Polynesia und entwickelt im Anschluss an White und Steward ein allgemeines Konzept kultureller Evolution. In einem Artikel, der 1961 erscheint, wendet Sahlins dieses Modell auf segmentäre Lineage-Gesellschaften in Afrika an, die in den 1940er und 1950er Jahren insbesondere von britischen Ethnologen untersucht wurden. Sahlins kritisiert die paradigmatischen strukturfunktionalistischen Analysen von

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Evans-Pritchard und Fortes und interpretiert die Sozialstrukturen segmentärer Lineage-Gesellschaften als evolutionäre Anpassungen an kulturelle Umwelten. In den folgenden Jahren entwickelt Sahlins sein evolutionstheoretisches Programm weiter; insbesondere versucht er, seinen Ansatz kultureller Evolution auf der Grundlage von Karl Polanyis Substantivismus zu fundieren. Die Arbeit über ›Political Types in Melanesia and Polynesia‹ ist ein Meilenstein in der Verknüpfung von Neoevolutionismus und Polanyis Substantivismus; zugleich offenbart diese Arbeit allerdings auch konzeptionelle Verschiebungen in Sahlins’ Werk, die sich bereits zuvor in einigen seiner wirtschaftsethnologischen Arbeiten ankündigen und die sich im Laufe der 1960er Jahre fortsetzen. Das neoevolutionistische Paradigma verliert für Sahlins seine Anziehungskraft, wenn er sich in Stone Age Economics auch noch nicht vollständig von ihm verabschiedet. In ›The Original Affluent Society‹ kritisiert Sahlins den Fortschrittsoptimismus moderner Gesellschaften, und in einigen anderen Arbeiten, insbesondere in ›The Spirit of the Gift‹, wird die normative sowie symbolische Seite des Kulturellen zunehmend ›bedeutsam‹. Gleichzeitig rückt Sahlins von funktionalistischen, evolutionstheoretischen sowie ökologischen Argumentationsfiguren ab; doch in Stone Age Economics stehen unterschiedliche Theorietraditionen noch nebeneinander, ohne dass es Sahlins gelingt, diese disparaten Ansätze systematisch kohärent miteinander zu verbinden. Dominiert wird die Sammlung von Sahlins’ Ziel, eine anthropological economics zu entwerfen, doch das spezifisch ›Ökonomische‹ an Sahlins’ Ethnologie verschwindet in einem Ansatz der sozialen Reziprozität. Obwohl sich in Stone Age Economics eine Unmenge an konzeptionellen Ideen finden, wie eine am Substantivismus sowie am kulturellen Relativismus orientierte Wirtschaftsethnologie aussehen könnte, erscheint der Begriff der Ökonomie zu ausgreifend und zu ›global‹, beschreitet Sahlins’ Wirtschaftsethnologie zu viele unterschiedliche und schwer miteinander verknüpfbare konzeptionelle Pfade, vom Evolutionismus über die ecological anthropology, Polanyis Substantivismus, Marcel Mauss’ Ansatz über die ›Gabe‹ bis hin zur ökonomischen Neoklassik. Die Aufsätze in Stone Age Economics entstehen über einen längeren Zeitraum seit Mitte der 1960er Jahre und offenbaren deshalb weniger eine immanente Systematizität von Sahlins’ Wirtschaftsethnologie, sondern eher die konzeptionelle Dynamik seines Denkens. Als sich die Protestkultur der 1960er Jahre zu den Maiunruhen 1968 ausweitet, hält sich Sahlins am Collège de France in Paris auf. Stone Age Economics erscheint erst 1972, und bereits in Sahlins’ wirtschaftsethnologischem Hauptwerk finden sich Spuren seiner Auseinandersetzung mit der französischen Ethnologie, die zur damaligen Zeit von Lévi-Strauss’ Strukturalismus dominiert wird. Noch bevor Sahlins nach Paris aufbricht, erscheint eine Rezension zu Lévi-Strauss’ Das wilde Denken, die allerdings eher Sahlins’ Irritation offenbart als den Versuch, seinen eigenen Ansatz strukturalistisch umzuformulieren. Auch in Stone Age Economics argumentiert Sahlins nicht ›strukturalistisch‹, und seine Verwendung des Reziprozitätsbegriffs offenbart fundamentale Unterschiede zu Lévi-

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Strauss’ Paradigma. Lévi-Strauss’ Einfluss offenbart sich in Sahlins’ zuerst 1968 und 1970 erscheinenden Arbeiten über den ›Geist der Gabe‹, in der Sahlins Marcel Mauss’ Die Gabe neu liest und auf diese Weise seinen eigenen Ansatz der anthropological economics konzeptionell neu fundiert. Sahlins’ Lesart steht in einer Kontinuität zu seinem in ›On the Sociology of Primitive Exchange‹ entwickelten reziprozitätstheoretischen Argument, und doch gibt es hier, insbesondere in ›The Spirit of the Gift‹ aus dem Jahr 1970, eine neue kulturtheoretische Färbung, die seinen früheren Arbeiten fehlt. Der ›Sinn‹, die symbolische Organisation der Wirklichkeit, wird in den Vordergrund gerückt, das mechanistisch erscheinende reziprozitätstheoretische Paradigma kulturtheoretisch erweitert. Sahlins schlägt auch in ›The Spirit of the Gift‹ eine andere konzeptionelle Richtung ein als Lévi-Strauss, und dessen Einfluss auf Sahlins offenbart sich weniger in der Theoriesystematik, sondern eher in der großen Bedeutung, die Mauss’ Ansatz über die Gabe für Sahlins hat. Sahlins’ Auseinandersetzung mit Mauss ist nicht nur die konzeptionelle Krönung seiner Wirtschaftsethnologie, sondern auch der Beginn seiner Wende zur Kultur, die zugleich eine ›französische Wende‹ in seinem Denken ist. Diese zunehmende Berücksichtigung der symbolischen Verfasstheit von Gesellschaft gerät aber in einen Konflikt mit dem auch noch in Stone Age Economics vorherrschenden latenten Evolutionismus sowie mit dem ökologischen Funktionalismus von ›The Original Affluent Society‹. Auch der Einfluss eines anderen französischen Ethnologen auf Sahlins’ Wirtschaftsethnologie ist nachweisbar, wenn jener bei Sahlins auch weniger im Vordergrund steht als Marcel Mauss. Insbesondere in seiner Kritik an utilitaristischen Denkfiguren macht Sahlins Gebrauch von Maurice Godeliers ›strukturellmarxistischem‹ Frühwerk, ohne aber die marxistischen Implikationen von Godeliers Ansatz zu übernehmen. ›Marxistisch‹ ist Sahlins’ Ethnologie noch am ehesten in ›The Domestic Mode of Production‹, doch auch hier operiert Sahlins eher mit marxistischen Termini als mit den Ideen des Althussers Marxismus nahestehenden strukturellen Marxismus in der französischen Ethnologie. In der Formalismus-Substantivismus-Kontroverse in der angelsächsischen Ethnologie der 1960er Jahre ergreift Sahlins explizit Partei für die substantivistische Position, wenn sein eigener Ansatz auch konzeptionell reichhaltiger ist und wohl eher als Beispiel für eine konzeptionelle Öffnung dieser Kontroverse angesehen werden sollte. Während der Substantivismus zu Beginn der 1970er Jahre merklich an Bedeutung in der Ethnologie verliert, nimmt die Relevanz einer ›dritten‹ wirtschaftsethnologischen Schule schnell zu und gewinnt auch außerhalb der Wirtschaftsethnologie an Bedeutung. Der Marxismus versteht sich als ›kritische‹ Alternative sowohl zum Formalismus als auch zum Substantivismus, und während weltsystemtheoretische sowie politökonomische Ansätze in den 1970er Jahren internationale Verflechtungen sowie Machtasymmetrien des ›kapitalistischen Weltsystems‹ untersuchen, analysiert der strukturelle Marxismus um Godelier oder Terray kleinräumige Gesellschaften und versucht, ungleiche Machtverteilungen und Produktionsweisen innerhalb dieser Gesellschaften herauszuarbeiten.

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Sahlins rezipiert Godeliers Denken zur Ausarbeitung seines wirtschaftsethnologischen Ansatzes, obwohl es bedeutende konzeptionelle Unterschiede zwischen beiden Entwürfen gibt. Wie ich in Kapitel II argumentiert habe, sticht aus einer systematischen Perspektive die beinahe exklusive Rolle ins Auge, die in Sahlins’ anthropological economics Reziprozität spielt, und die von Annette Weiner und Maurice Godelier entwickelte Idee, dass nicht nur Reziprozität und die Gabe zentral für soziale Kohäsion und die Aufrechterhaltung von Hierarchien von Bedeutung sind, sondern dass im Gegensatz das Behalten von ›Dingen‹ identitätsstiftend und damit fundamental für sozialen Zusammenhalt sein kann, bleibt in Sahlins’ Wirtschaftsethnologie weitgehend ausgespart. Als Godelier Annette Weiners Kritik der ethnologischen Reziprozitätstheorie aufgreift und weiterentwickelt, hat sich Sahlins längst von seiner wirtschaftsethnologischen Synthese verabschiedet. In Sahlins’ kulturtheoretischem Hauptwerk Culture and Practical Reason, das ich in Kapitel III analysiert habe, verknüpft Sahlins Franz Boas’ kulturellen Relativismus mit Claude Lévi-Strauss’ Strukturalismus und Ferdinand de Saussures strukturaler Linguistik. Sahlins versucht nicht nur nachzuweisen, dass der Marxismus nicht auf ›klassenlose‹ Gesellschaften angewandt werden kann, sondern dass auch moderne westliche Gesellschaften ›Kulturen‹ sind. Aus einer heutigen Perspektive mag Sahlins’ Fragestellung, ob marxistische Forschungsprogramme auf Gesellschaften übertragen werden können, in denen sich noch kein ökonomisches Subsystem ausdifferenziert hat, antiquiert anmuten; die mögliche Lösung, die Sahlins zur Diskussion stellt – der Marxismus läßt sich auf moderne Gesellschaften anwenden, während die unterschiedlichen Versionen des Strukturalismus in der Ethnologie die ›passenden‹ Theorien für die Analyse von segmentären Gesellschaften sind –, ist auf den ersten Blick zu abwegig, um eine weiterführende Diskussionsgrundlage zu sein. Es ist unklar, inwieweit Sahlins diese Alternative ernsthaft in Erwägung gezogen hat, denn es geht ihm letztlich um den Nachweis, dass der Marxismus weder auf vormoderne noch auf moderne Gesellschaften angewandt werden kann; tatsächlich ist der Marxismus für Sahlins ein Beispiel für die unterschiedlichen in den westlichen Sozialwissenschaften besonders erfolgreichen Versionen des Utilitarismus. Sahlins’ in Culture and Practical Reason schließlich von ihm selbst verworfener Vorschlag einer ›kulturellen Arbeitsteilung‹ zwischen Strukturalismus und Marxismus ist aber möglicherweise mehr als nur ein rhetorischer ›Kniff‹, denn seine ›kulturalistische Wende‹ entsteht in einer Atmosphäre heftiger Auseinandersetzungen zwischen Anhängern von Strukturalismus und Marxismus, insbesondere in Frankreich. Wie aus Culture and Practical Reason hervorgeht, interpretiert Sahlins die französischen Debatten zwischen Strukturalismus und Marxismus vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen in der nordamerikanischen Cultural Anthropology zwischen Boas’ kulturellem Relativismus und dem Neoevolutionismus. Sahlins interpretiert beide Kontroversen als Ausdruck für die seiner Meinung nach fundamentale Gespaltenheit der Ethnologie zwischen ›Kul-

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tur‹ und ›praktischer Vernunft‹. Lévi-Strauss führt in Sahlins’ Lesart Boas’ kulturalistisches Forschungsprogramm fort, während Malinowski, die ecological anthropology und selbst Durkheim Morgans utilitaristischer Ethnologie nicht entkommen. Auch der strukturelle Marxismus und Marx’ Werk selbst sind für Sahlins Beispiele einer die symbolische Organisation der Wirklichkeit letztlich negierenden ›praktischen Vernunft‹. Auch Sahlins’ Wirtschaftsethnologie scheint vor dem Hintergrund von Culture and Practical Reason utilitaristisch zu sein, denn Sahlins’ anthropological economics führt soziale Institutionen und kulturelle Ideen auf soziale Erfordernisse zurück. In Culture and Practical Reason kritisiert Sahlins insbesondere Marcel Mauss’ Konzept des ›primitiven Gesellschaftsvertrags‹, also die Reduktion sozialer Reziprozität auf die Funktion sozialen Zusammenhalts. Charakteristischerweise kritisiert Sahlins seinen eigenen wirtschaftsethnologischen Ansatz in Culture and Practical Reason nicht, doch seine Kritik an Ansätzen, die sich für seine anthropological economics als bedeutsam erwiesen haben, kann als indirekte Kritik an seiner eigenen Wirtschaftsethnologie angesehen werden. Hinsichtlich der Absatzbewegung, die Sahlins von seiner Wirtschaftsethnologie vollzieht, ist es zudem bemerkenswert, dass der master term von Sahlins’ Entwurf nun nicht mehr ›Ökonomie‹ ist, sondern ›Kultur‹. Zur Zeit der Formalismus-Substantivismus-Kontroverse erscheint die Wirtschaftsethnologie noch als ein legitimer ›Ort‹, Fragen über kulturelle Relativität und die Universalisierbarkeit westlicher Rationalität zu verhandeln. Doch die institutionelle Bedeutung der Wirtschaftsethnologie nimmt seit den späten 1960er Jahren ab, und auch Sahlins rückt von seinem Ziel ab, eine anthropological economics zu entwickeln. Auf der Grundlage von Culture and Practical Reason ist es nun möglich, alle Gesellschaften auf einer einheitlichen konzeptionellen Grundlage zu analysieren, und Sahlins hat mit seiner Neuausrichtung auch die Paradoxie seiner Wirtschaftsethnologie überwunden, die darin besteht, einerseits ein wirtschaftsethnologisches Paradigma zu entwickeln, dieses Paradigma aber zumindest implizit als Grundlage für die Ethnologie im Allgemeinen anzusehen. Diese Neuausrichtung impliziert zwar, dass Sahlins nicht mehr an der Ausarbeitung eines spezifisch ›wirtschafts‹ethnologischen Ansatzes interessiert ist, doch einige seiner ›kulturalistischen‹ Arbeiten sind für die Wirtschaftsethnologie durchaus von Interesse. Lévi-Strauss’ Strukturalismus ist für Sahlins’ Kulturtheorie von großer Bedeutung, doch der Einfluss von Ferdinand de Saussures strukturaler Linguistik auf Sahlins ist noch größer. Insbesondere rückt Sahlins von Lévi-Strauss’ These über die universalen Strukturen des menschlichen Geistes ab und überträgt Saussures Konzept der Sprache auf Kultur. Die symbolische Organisation der Wirklichkeit erscheint im Rahmen von Sahlins’ Ansatz als ein Netzwerk miteinander verknüpfter Zeichen. Zeichen sind arbiträr, sie bilden also nicht einfach eine objektive Realität ab, sondern erhalten ihren jeweiligen ›Sinn‹ erst in Abgrenzung zueinander. An dieser Stelle folgt Sahlins Benvenistes Bestimmung der Arbitrarität zwischen Zeichen und Referent; erst diese Arbitrarität eröffnet die Möglich-

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keit, Kultur als ›unabhängig‹ von der ›objektiven‹ Realität zu interpretieren. Sahlins steht aber vor dem Problem, dass dieser an Saussure und Benveniste anschließende Entwurf für die Ausarbeitung einer allgemeinen Kulturtheorie nur bedingt geeignet ist, denn sein Verständnis der Kultur scheint die symbolische Organisation der Wirklichkeit von den handelnden Menschen und der objektiven Realität abzukoppeln. So sinnvoll also Sahlins’ Versuch zunächst ist, einer Abbildtheorie zu entgehen, so prekär erweist sich die Theorie der Arbitrarität für die Konzeptualisierung des Verhältnisses von Kultur und ›materieller‹ Realität. Sahlins ist sich dieser Gefahr jedoch bewusst und versucht, die ›Welt‹ in seinen kulturalistischen Ansatz zu verankern. Paradigmatisch dafür ist seine Analyse über die Universalität der Farbwahrnehmung, die im selben Jahr erscheint wie Culture and Practical Reason. Die Entdeckung von Berlin und Kay, dass es interkulturell gültige basic color terms gibt, ist gerade für Sahlins’ kulturalistischen Ansatz eine große Herausforderung, denn Berlin und Kay scheinen nahezulegen, dass die Universalität der basic color terms eng mit der Universalität des menschlichen Wahrnehmungsapparats verknüpft ist, wenn sie diese Schlussfolgerung in ihren Basic Color Terms auch noch nicht ziehen. In einem enorm einflussreichen Artikel, der 1978 erscheint, argumentieren allerdings Kay und McDaniel, dass die Semantik der Farbwahrnehmung sprachliche Universalien ausdrückt, die wiederum auf eine universale menschliche Physiologie zurückgehen. Auch Sahlins macht den menschlichen Wahrnehmungsapparat zum Ausgangspunkt seiner Argumentation, doch er unterscheidet, anders als Kay und McDaniel, zwischen ›Bedeutung‹ und ›Referenz‹. Basic color terms sind in Sahlins’ Augen in erster Linie semiotische Codes, in denen ›natürliche‹ Unterschiede mit Bedeutung aufgeladen werden. Es gibt im Rahmen von Sahlins’ Ansatz also durchaus eine Beziehung zwischen Kultur und ›objektiver‹ Realität, denn die Kultur kann die natürlichen Eigenschaften der Welt nicht gewissermaßen ›ignorieren‹; welche Bedeutung die Welt allerdings erlangt, wird von dieser nicht bestimmt. Erst dann, wenn die ›natürliche‹ Realität von Kultur ›angeeignet‹ wird, erscheint sie für den Menschen ›bedeutsam‹. Sahlins’ Umformulierung von Saussures strukturaler Sprachwissenschaft ist die Grundlage für sein Kulturkonzept, das nicht mehr, wie noch seine anthropological economics, nur auf vormoderne, sondern auf alle Gesellschaften angewendet werden kann; auch die moderne (amerikanische) Gesellschaft ist in Sahlins’ Augen eine ›Kultur‹, und im letzten Kapitel von Culture and Practical Reason entwickelt Sahlins Grundzüge einer Ethnologie des Konsums. Bemerkenswerterweise greift Sahlins hier auf Jean Baudrillards Frühwerk zurück, und vor dem Hintergrund von Sahlins’ späteren Attacken gegen ›postmoderne‹ oder ›poststrukturale‹ Ansätze in der Ethnologie erscheint dieses Vorgehen zumindest erklärungsbedürftig. Allerdings zeigt eine nähere Analyse von Culture and Practical Reason, dass Sahlins Baudrillards Frühwerk nur höchst selektiv rezipiert. Während Baudrillard nämlich in seinen Veröffentlichungen bis einschließlich Der symbolische Tausch und der Tod eine ›kritische‹ Perspektive auf moderne

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Gesellschaften entwickelt, geht es Sahlins nicht um eine Kritik moderner sozialer Praktiken, sondern um die Entwicklung einer universalistischen Kulturtheorie. Während für Sahlins der an Saussure angelehnte semiotische Kulturbegriff die einzige Alternative zur marxistischen Gesellschaftstheorie darstellt, sind für Baudrillard sowohl der Marxismus als auch die Semiotik Ausdruck der zu überwindenden kapitalistischen ›Logik‹. Eine gesellschaftliche Logik jenseits des Kapitalismus – also auch jenseits der semiotischen ›Bedeutung‹ – ist für Baudrillard der ›symbolische Tausch‹. Aus der Perspektive von Sahlins’ Ansatz macht Baudrillards Konzept allerdings keinen Sinn, denn Sahlins geht es ja um den Nachweis, dass alle sozialen Praktiken ›sinnhaft‹ sind, auch die von Mauss beschriebene Gabe, die für Baudrillard ein Beispiel für den ›symbolischen Tausch‹ darstellt. Baudrillards Konzept des ›symbolischen Tauschs‹ geht insbesondere auf Georges Batailles Konzept der ›allgemeinen Ökonomie‹ zurück, in dem das von Marcel Mauss analysierte Phänomen des Potlatsch als Paradigma der unproduktiven Verausgabung gilt. Das von Bataille entwickelte Konzept der ›allgemeinen Ökonomie‹ steht allerdings im Gegensatz zu Mauss’ rationalistischer Interpretation der Gabe und damit im Gegensatz zu Sahlins’ Interpretation der Gabe als ›primitiver Gesellschaftsvertrag‹ in Stone Age Economics. Auch in Culture and Practical Reason geht es Sahlins nicht um eine radikale ›Überschreitung‹ des Kapitalismus, sondern um eine Kritik des Utilitarismus, der eng mit dem Kapitalismus verwoben ist. In der Interpretationslinie von Mauss über Bataille zu Baudrillard wird Sahlins’ strukturaler Kulturalismus in Richtung eines symbolischen Tauschs negiert, der jenseits aller semiotischen ›Signifikation‹ und damit, zumindest aus Baudrillards Sicht, zugleich jenseits der repressiven kapitalistischen Logik liegt. Dieser radikale Unterschied zwischen den Konzeptionen von Sahlins und Baudrillard zeigt sich auch bei Baudrillards Kritik an der Differenz zwischen Zeichen und Referent, denn diese Unterscheidung impliziert in Baudrillards Augen eine Metaphysik des Referenten und sollte in seinen Augen überwunden werden; Sahlins’ Kulturtheorie basiert allerdings gerade auf dieser ›metaphysischen‹ Unterscheidung. Die Interpretation, Sahlins übernehme durch seine Rezeption von Baudrillards Frühwerk dessen ›poststrukturalistische‹ Implikationen, ist deshalb irreführend – allerdings kann Sahlins dafür kritisiert werden, durch seine eklektizistische Rezeption von Baudrillards Frühwerk dieses Missverständnis erst ermöglicht zu haben. In seiner Marx-Interpretation macht Sahlins Gebrauch von Jürgen Habermas’ Erkenntnis und Interesse, und er entwickelt seine Konsumtheorie unter anderem in Anschluss an Jean Baudrillards Frühwerk. Dennoch ist Culture and Practical Reason kein Paradigma für eine ›kritische‹ Gesellschaftstheorie. Möglicherweise ist es Sahlins nicht bewusst gewesen, wie sehr die jeweils radikal unterschiedlichen Entwürfe von Habermas und Baudrillard sein eigenes Projekt gefährden. Insbesondere Baudrillards Kritik an der Semiotik als Verkörperung der kapitalistischen repressiven Logik untergräbt Sahlins’ Erkenntnistheorie, die bis heute all seinen Analysen zu Grunde liegt. Zumindest zwischen den Zeilen ist Sahlins’

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Ansatz natürlich durchaus ›kritisch‹, denn er betont immer wieder, dass der kapitalistische Utilitarismus nicht einfach auf andere Gesellschaften angewendet werden kann, dass die kapitalistische Kultur genauso bizarr ist wie jede andere auch, und dass ›uns‹ scheinbar nicht bewusst ist, dass der Utilitarismus nur universal zu sein scheint, es aber nicht ist. Diese Kritik ist in erster Linie erkenntnistheoretisch; eine Kritik an gesellschaftlichen Institutionen, ungleichen Machtverhältnissen oder Hierarchien ist nicht damit verbunden. Das gilt auch für seine Analysen moderner Konsumpraktiken, und Sahlins ist dafür kritisiert worden, dass seine ›Ethnologie des Konsums‹ letztlich eine bloße Apologetik des Kapitalismus ist. Diese Lesart von Sahlins’ Theorie des Konsums zeigt, wie vieldeutig und ambivalent Sahlins’ Analyse des Kapitalismus ist. In meiner Analyse von Culture and Practical Reason bin ich der Frage nachgegangen, wie Sahlins’ dort vertretene These der Systematizität von Kultur und des kulturellen Holismus vor dem Hintergrund der Kritik am ethnologischen Kulturbegriff seit den 1980er Jahren zu beurteilen ist. Ich habe zwei paradigmatische Arbeiten in der Ethnologie analysiert, die als Kritik an den von Sahlins in Culture and Practical Reason entwickelten Kulturbegriff interpretiert werden können. Lila Abu-Lughod lehnt in ›Writing against Culture‹ den ethnologischen Kulturbegriff ab, weil er andere soziale Gruppen exotisiere und eine Hierarchie zwischen westlichen und nicht-westlichen Gesellschaften impliziere. In ihren Augen muss die Ethnologie die Partikularität einzelner Diskurse und individueller Lebensläufe einfangen und vermeiden, die Vielfältigkeit sozialer Praktiken, Diskurse und Lebensschicksale unter einem homogenisierenden Kulturbegriff zu subsumieren. Nur durch die Hinwendung zum Partikularen kann, so AbuLughod, der ethnologische Essentialismus vermieden werden. Ich habe in meiner Analyse darauf hingewiesen, dass das Forschungsprogramm, das Abu-Lughod vorschlägt, ohne ein Konzept von Kultur schwer vorstellbar ist, denn wie sonst wäre es zu erklären, dass Menschen Begriffe wie ›Ehre‹ verwenden, wenn es keine symbolischen Ressourcen gibt, vor deren Hintergrund solche Begriffe ihren ›Sinn‹ erhalten? Abu-Lughod berücksichtigt nicht, dass generalisierte Begriffe nicht nur vom Forscher entwickelt, sondern auch von den Menschen in ihrem Alltagshandeln angewandt werden – und dies impliziert die Existenz (zu einem gewissen Grad) geteilter kultureller Ordnungen. Darüber hinaus kritisiert AbuLughod zwar Sahlins’ Essentialismus, doch ihr Konzept des Akteurs erzeugt letztlich einen noch umfassenderen Essentialismus eines generalisierten Individuums, für das spezifische kulturelle Kontexte nur noch eine untergeordnete Bedeutung haben. Dies heißt nicht, dass Abu-Lughod nicht auf eine bedeutende Schwäche von Kulturkonzepten aufmerksam gemacht hat, für die Culture and Practical Reason ein paradigmatisches Beispiel ist. Sahlins ignoriert in seiner Analyse die Vieldeutigkeit und Ambivalenz kultureller Ordnungen, die Komplexität sich überkreuzender ›Stimmen‹, und Sahlins kann tatsächlich dafür kritisiert werden, kulturelle Vieldeutigkeit und Komplexität durch die Annahme einer allgemein geteilten kulturellen Ordnung zu unterdrücken. Allerdings verdeutlichen

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die Probleme von Abu-Lughods eigenem Ansatz, dass die Verabschiedung des ethnologischen Kulturbegriffs und damit der Idee kultureller Systematizität wohl vorschnell ist. In eine andere Richtung geht die Kritik von Arjun Appadurai an ›klassischen‹ ethnologischen Kulturtheorien. Appadurai entwickelt in seiner Arbeit über ›Disjuncture and Difference in the Global Cultural Economy‹ eine Theorie der Globalisierung, die Vorstellungen von Kultur als homogen, geschlossen und statisch kritisiert und für ein Kulturverständnis plädiert, in dem nicht die ›Ordnung‹, sondern das ›Chaos‹ im Mittelpunkt der Analyse steht. Kulturelle Ordnungen werden in Appadurais Theorie durch globale kulturelle Flüsse bedroht, die in einem zutiefst disjunktivem Verhältnis zueinander stehen. Appadurai entwickelt allerdings nur scheinbar eine Theorie, die als Gegenentwurf zu ›klassischen‹ ethnologischen Theorien verstanden werden kann. Aus einer systematischen Perspektive verweist nämlich auch Appadurais Konzept auf die Existenz geteilter Sinnsysteme, wenn sein Entwurf auch dynamischer und handlungstheoretisch ›sensibler‹ ist als die von Sahlins in Culture and Practical Reason entwickelte Kulturtheorie. Aus einer werkgeschichtlichen Perspektive fällt zudem auf, dass Appadurais Globalisierungstheorie in einer auffallenden Kontinuität zu Sahlins’ Wirtschaftsethnologie steht, denn Appadurais Konzept der ›Landschaften‹ ist eine konzeptionelle Weiterentwicklung von Sahlins’ Reziprozitätstheorie. Damit weist Appadurais globalisierungstheoretischer Entwurf vergleichbare Probleme auf wie Sahlins’ Wirtschaftsethnologie. Die Unterscheidung zwischen einzelnen globalen Flüssen, die Appadurai vornimmt, ist in gewisser Weise willkürlich und vermischt die jeweilige ›Art‹ des Flusses mit seiner Funktionalität. Beispielsweise unterscheidet Appadurai zwischen zwei unterschiedlichen globalen Flüssen von Repräsentationen, mediascapes und ideoscapes, wobei ideoscapes eine spezifisch ›politische‹ Funktion haben. Doch es bleibt unklar, warum es gerade einen globalen Fluss von ›politischen‹, aber nicht etwa ›religiösen‹ Repräsentationen gibt, oder durch was das ›Politische‹ überhaupt konstituiert wird. Ein vergleichbares Problem hinsichtlich der Vermischung der ›Art‹ einer jeweiligen Reziprozitätsbeziehung und ihrer Funktion findet sich auch in Sahlins’ reziprozitätstheoretischem Ansatz. Darüber hinaus habe ich argumentiert, dass die These, Globalisierung werde durch ›globale Flüsse‹ erzeugt, letztlich dazu führt, dass soziale Phänomene, die den globalen Zirkulationen entzogen sind, so verstanden werden, als ob diese nicht Teil der Globalisierung seien. Dieses Problem ist äquivalent zu Sahlins’ Reduktion des Sozialen auf Reziprozität. Weiners und Godeliers Hinweis darauf, dass es soziale Phänomene jenseits der Reziprozität gibt, die für die Entstehung sozialer Identitäten und Hierarchien sowie sozialer Kohäsion von entscheidender Bedeutung sind, lässt sich deshalb auch modifiziert auf Appadurais Ansatz der Globalisierung anwenden. Sahlins’ in den 1990er Jahren entwickelter Ansatz der translocal societies kann als eine konzeptionelle Ergänzung zu Appadurais Ansatz der ›globalen Flüsse‹ gelesen werden, denn Sahlins plädiert

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für die fortgesetzte Relevanz kultureller Ordnungen und rückt das Phänomen ›globaler Flüsse‹ nicht so sehr in den Mittelpunkt wie Appadurai. Sahlins’ in Culture and Practical Reason entwickelter Kulturalismus ist allerdings statisch und scheint das individuelle Handlungspotenzial systematisch zu ignorieren. Diese Kritik ist aus einer systematischen Perspektive zwar weitgehend berechtigt, doch ignoriert sie eine zentrale Motivation, die Culture and Practical Reason zu Grunde liegt und die sich erst in einer theoriehistorischen Perspektive erschließt, die das Werk in seinen intellektuellen Kontext einbettet. Es geht Sahlins unter anderem um den Nachweis der fundamentalen Handlungsfreiheit des Menschen gegenüber biologischen Faktoren; Sahlins’ Kulturbegriff, in dem die Arbitrarität der Zeichen im Mittelpunkt steht, soll die Handlungsfreiheit des Menschen sicherstellen, denn Bedeutung ist für Sahlins keine Reflexion ›materieller‹ Faktoren, sondern von diesen unabhängig. Konsequenterweise muss Sahlins von einer gewissen Systematizität von Kultur ausgehen, weil sich die Bedeutung von Zeichen in Relation zu anderen Zeichen definiert. Doch obwohl Sahlins in Culture and Practical Reason für die fundamentale Handlungsfreiheit des Menschen plädiert, entwickelt er hier noch keine genuine Handlungstheorie, die ein dynamisches Element in seinen Kulturalismus integriert; erst in seinen Veröffentlichungen nach Culture and Practical Reason macht Sahlins seine Kulturtheorie für die Analyse kulturellen Wandels fruchtbar. Dabei schließt Sahlins an ein Element von Lévi-Strauss’ Geschichtstheorie an, das sich bereits in Culture and Practical Reason findet: ›Geschichte‹ sollte nämlich nicht verwechselt werden mit der Abwesenheit kultureller Kontinuität; vielmehr ist die Persistenz von Strukturen, wie Sahlins in Historical Metaphors and Mythical Realities sowie in Islands of History argumentiert, ein zentrales Element von ›Geschichte‹. Doch natürlich reduziert sich Sahlins’ Geschichtstheorie nicht auf die Annahme, Geschichte bestehe aus einer endlosen kulturellen Reproduktion. Kulturelle Kategorien verleihen der menschlichen Erfahrung und ihren Gegenständen Sinn, doch zugleich werden die Kategorien durch das Handeln der Akteure ›gefährdet‹. Sahlins unterscheidet zwei Arten von ›Gefährdung‹: Auf einer subjektiven Ebene kann das interessegeleitete Handeln der Akteure kulturelle Sinnsysteme verändern; auf einer objektiven Ebene kann ein Missverhältnis zwischen Worten und Dingen entstehen, denn wenn kulturelle Begriffe ›angewendet‹ werden, ist die Gefahr immer gegeben, dass Bedeutungen sich als gewissermaßen überholt herausstellen und demzufolge umgewertet werden. Insbesondere in ›performativen‹ Gesellschaften – so Sahlins – werden kulturelle Kategorien im Handeln von Akteuren permanent verändert. Sahlins entwickelt eine allgemeine handlungstheoretische Konzeption von ›Geschichte‹, konzentriert sich in seinen empirischen Arbeiten aber auf eine bestimmte ethnographische Region: Gesellschaften im Pazifik, insbesondere Fidschi und Hawai’i. Von besonderem Interesse ist für Sahlins die historische Entwicklung ozeanischer Gesellschaften im Kontext der europäischen Expansion. Geradezu als paradigmatisch für Sahlins’ Ansatz hat sich seine Analyse der Er-

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eignisse, die zu James Cooks Tod auf Hawai’i 1779 geführt haben, erwiesen. Sahlins entwickelt die These, dass James Cook von den Hawaiianern als eine Manifestation ihres Gottes Lono angesehen wurde. Cooks Landung an der hawaiianischen Küste 1779 erfolgte zur Zeit der Makahikifeiern, in deren Verlauf in der hawaiianischen Mythologie der Gott Lono über das Meer kommt, um das Land wieder für sich zu beanspruchen und die Herrschaft des rivalisierenden Gottes Knj zeitweilig aufzuheben. James Cook war in Sahlins’ Interpretation zur richtigen Zeit am richtigen Ort, um als Lono empfangen und verehrt zu werden; zudem verließ er Hawai’i ungefähr zu der Zeit, als die Makahikifeiern endeten. Als jedoch ein Mast der Resolution brach und Cook deshalb gezwungen war, nach Hawai’i zurückzukehren, wurde die Manifestation Lonos von der hawaiianischen Aristokratie als Bedrohung für die eigene Macht wahrgenommen; Cook wurde Opfer eines Ritualmordes. Anders als in einigen früheren Interpretationen über Cooks Tod interpretiert Sahlins die Geschehnisse, die zu Cooks Tod führten, dezidiert aus der Perspektive der hawaiianischen Kultur. Von besonderer Bedeutung für Sahlins’ Ansatz erweist sich, wie ich in Kapitel IV gezeigt habe, Pierre Clastres Machttheorie. Clastres entwickelt die These, dass indianische Gesellschaften in Südamerika politische Macht aus sich ausschließen; diese Gesellschaften sind deshalb ›Staatsfeinde‹, weil politische Macht kein genuiner Bestandteil dieser Gesellschaften ist. Auch die Menschen, die in ozeanischen Gesellschaften leben, sind, so Sahlins, ›Staatsfeinde‹, doch im Unterschied zu Clastres geht es Sahlins in erster Linie um eine Analyse mythologischer Sinnsysteme. In der polynesischen Mythologie kommt der König ursprünglich von außerhalb der Gesellschaft; politische Macht wird als etwas erfahren, das seinen Ursprung außerhalb der Gesellschaft hat. Kosmologie und Politik sind für die Hawaiianer untrennbar miteinander verknüpft, und die hawaiianische Theorie der Usurpation ist deshalb sowohl ›politisch‹ als auch ›religiös‹; die Makahikifeiern, in denen der verlorene Gott zurückkehrt, repräsentieren nicht nur ein kosmologisches, sondern auch ein politisches Drama. In seiner Geschichtstheorie, insbesondere in Islands of History, schließt Sahlins explizit an Pierre Bourdieus Theorie der Praxis an. In meinem Vergleich der beiden Ansätze bin ich allerdings zu dem Ergebnis gekommen, dass es deutliche Unterschiede zwischen den Entwürfen von Sahlins und Bourdieu gibt. Zwar stehen sowohl Sahlins als auch Bourdieu dem Strukturalismus nahe und kritisieren den Utilitarismus, doch während Sahlins als Alternative in Culture and Practical Reason einen semiotischen Kulturalismus entwickelt, entwirft Bourdieu ein praxistheoretisches Konzept, in dem nicht Kultur, sondern der Habitus handlungsleitend und welterschließend ist. Auch Sahlins’ Geschichtstheorie weicht in entscheidenden Punkten von Bourdieus Theorie der Praxis ab, denn obwohl Sahlins Bourdieus Habituskonzept rezipiert, ist der Habitus bei Sahlins die Inkorporierung symbolischer Differenzen, nicht aber die Verkörpung sozialer Differenzen wie bei Bourdieu. Zudem spielen mythopoetische Objektivierungen bei Sahlins eine größere Rolle für das Handeln der Akteure als im Rahmen von Bourdieus

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Theorie der Praxis. Darüber hinaus erscheinen Selbstreflexivität und Intentionalität in Sahlins’ Ansatz als fundamental für soziales Handeln, währenddessen diese Faktoren in Bourdieus Ansatz weniger bedeutsam sind als habitusbasierte Praxis. Der master term in Sahlins’ Ansatz ist nicht ›Praxis‹, sondern ›Kultur‹, obwohl Kultur bei Sahlins ausschließlich eine virtuelle Existenz besitzt und sich erst in den sozialen Praktiken der Akteure ›realisiert‹. Sahlins’ Aneignung von Bourdieus Theorie der Praxis kann deshalb zwar als ein Ausdruck der handlungstheoretischen Dynamisierung von Sahlins’ Ansatz gelesen werden, doch es sollte beachtet werden, dass Sahlins’ Geschichtstheorie in einer konzeptionellen Kontinuität zu seiner kulturalistischen Wende steht. Seit den späten 1980er Jahren entwickelt Sahlins seine in Mythical Realities und Islands of History entwickelte Geschichtstheorie weiter und entwickelt in einer Reihe konzeptionell miteinander verknüpfter Arbeiten Elemente einer Theorie über die ›Indigenisierung der Moderne‹. Ein erstes Element dieser Theorie habe ich in Kapitel III vorgestellt: Im Rahmen seiner Arbeit über translocal societies plädiert Sahlins für die Systematizität und Integrität von Kultur. Dieses Element von Sahlins’ Theorie über die ›Indigenisierung der Moderne‹ kann als systematische Weiterentwicklung des Ansatzes kultureller Ordnung interpretiert werden, den Sahlins in Culture and Practical Reason entwirft. In Kapitel IV habe ich ein zweites Element von Sahlins’ Ansatz analysiert. In seinen Arbeiten über das develop-man-Konzept kritisiert Sahlins insbesondere weltsystemtheoretische Ansätze, die kulturinterne Entwicklungen auf überlokale Faktoren zurückführen. Sahlins argumentiert, dass überlokale Elemente des ›kapitalistischen Weltsystems‹ eine große Rolle für kulturelle Wandlungsprozesse in nicht-westlichen Gesellschaften spielen, weil diese kulturspezifisch angeeignet werden; diesen Prozess sucht Sahlins mit dem Begriff develop-man zu umschreiben, also der Weiterentwicklung eigener Kulturelemente mithilfe kulturexterner Faktoren, im Gegensatz zu development, des Wandels nicht-westlicher Kulturen nach westlichem Vorbild. Allerdings ist der Prozess, dem das develop-man-Phänomen zu Grunde liegt, für Sahlins nicht immerwährend oder in jeder nicht-westlichen Kultur anzutreffen. Einen wichtigen Grund für die Existenz von development sieht Sahlins im Vorgang der humiliation, also der bewussten Absatzbewegung von der eigenen Kultur und der Aneignung ›westlicher‹ Kultur, weil die eigene Kultur als minderwertig angesehen wird. Westliche Kultur wird für Sahlins erst dann angeeignet, wenn die eigene Kultur nicht mehr als wertvoll erscheint; diesen Vorgang der ›Erniedrigung‹ sieht Sahlins als einen notwendigen Bestandteil im Prozess der Modernisierung, verstanden als Verwestlichung. Während Sahlins’ Konzept des develop-man als eine konzeptionelle Weiterentwicklung seiner Geschichtstheorie angesehen werden kann, markiert das Konzept der humiliation eine deutliche Erweiterung von Sahlins’ Konzeption kulturellen Wandels, denn hier steht nicht kulturelle Kontinuität im Mittelpunkt, sondern der explizite Bruch mit überkommenen kulturellen Kategorien.

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Sahlins analysiert den Prozess der humiliation nur in einigen wenigen Arbeiten, am ehesten noch in ›The Economics of Develop-man in the Pacific‹. Dennoch kommt Sahlins’ Ansatz der humiliation in seinem Gesamtwerk eine besondere Relevanz zu, weil er sein Konzept kulturellen Wandels um ein Element erweitert, das ansonsten nicht im Mittelpunkt seines Interesses steht. Im Anschluss an die ethnographischen Analysen in Robbins/Wardlow (2005) und der Theorie der Praxis von Pierre Bourdieu habe ich in Kapitel IV den Versuch unternommen, Sahlins’ Geschichtstheorie handlungstheoretisch neu zu systematisieren. Ein wichtiger Ausgangspunkt dafür ist die in den meisten der Aufsätzen in Robbins/Wardlow (2005) entwickelte These, dass der Prozess der humiliation nur auf den ersten Blick mit einem vollständigen Bruch mit indigenen kulturellen Kategorien gleichzusetzen ist, denn das Konzept der ›Erniedrigung‹ kann selbst ein Ausdruck indigener Traditionalität sein. Diese Implikation von Sahlins’ Ansatz der ›Erniedrigung‹ wird allerdings erst deutlich, wenn dieser mit Sahlins’ Handlungstheorie verknüpft wird, insbesondere auch mit Sahlins’ in Islands of History entwickeltem Konzept des Habitus; Sahlins selbst leistet diese Verbindung nicht. Ein systematischer Anknüpfungspunkt, den ich gewählt habe, ist die Kritik an Bourdieus Konzeptualisierung von Selbstreflexivität und Kreativität. In Bourdieus Ansatz findet sich nämlich keine Verknüpfung von Selbstreflexivität und Kreativität auf der einen sowie habitusbasierter Praxis auf der anderen Seite. Vielmehr argumentiert Bourdieu, dass Selbstreflexivität und Kreativität nur in Ausnahmefällen, beispielsweise in Krisensituationen, handlungsgenerierend sind. Im Anschluss an Analysen von Crossley sowie Noble und Watkins lässt sich allerdings argumentieren, dass Selbstreflexivität und habitusbasiertes Handeln keine voneinander unabhängigen Handlungsmodi sind, sondern als eng miteinander verknüpft analysiert werden können, sei es im Sinne unterschiedlicher Bewusstseinsstufen oder dahingehend, dass Selbstreflexivität selbst als Teil des Habitus angesehen wird. Im Anschluss an diese Studien habe ich eine neue Systematisierung von Sahlins’ Handlungstheorie vorgeschlagen, in der zwischen alltäglichen sozialen Routinen, der Inkorporierung neuer handlungsorientierender Elemente in die eigenen kulturellen Kategorien sowie der bewussten Ablehnung der eigenen Kategorien unterschieden wird. Darüber hinaus habe ich argumentiert, dass die Weiterentwicklung des Habituskonzepts im Rahmen von Sahlins’ Geschichtstheorie dazu beitragen kann, das spannungsreiche Verhältnis zwischen habituellen Dispositionen und mythopoetischen Objektivierungen genauer zu untersuchen. In seinen Veröffentlichungen nach Islands of History geht Sahlins auf die von ihm analysierten habituellen Dispositionen nicht mehr ein; im Anschluss an Bourdieus Theorie der Praxis kann allerdings argumentiert werden, dass sich soziales Handeln erst erschließt, wenn das Spannungsverhältnis zwischen habituellen Dispositionen und ›kulturellen Feldern‹ angemessen analysiert wird. Dies eröffnet auch die Möglichkeit, die Überlagerung und Widersprüchlichkeit unterschiedlicher Sinnsysteme sowohl auf der Ebene individuellen sozialen Handelns als auch auf der Ebene ›öffentlicher‹ Repräsentationen zu konzeptualisieren und

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empirisch zu analysieren. All diese von mir in den Vordergrund gerückten Elemente von Sahlins’ Handlungstheorie sind bereits in seinem Werk vorhanden, wenn auch nur ansatzweise systematisiert; eine sorgfältige Analyse von Sahlins’ Werk offenbart also eine überraschende konzeptionelle Komplexität, die in den meisten Arbeiten über Sahlins unter den Tisch fällt. In den 1990er Jahren gerät Sahlins’ Ansatz in den Mittelpunkt einer weitreichenden Debatte, die im Mittelpunkt von Kapitel V steht. In seiner wirkungsmächtigen Kritik an Sahlins stellt Gananath Obeyesekere die These auf, dass Cook von den Hawaiianern nicht als ein Gott angesehen wurde und für seinen Tod aufgrund seines eigenen aggressiven Verhaltens selbst verantwortlich war. Sahlins’ Interpretation ist für Obeyesekere der Ausdruck eines in westlichen Kulturen endemischen jahrhundertealten Mythos, wonach die westlichen Entdecker von den natives für Götter gehalten werden. In den Augen Obeyesekeres essentialisiert und kulturalisiert Sahlins die hawaiianische Gesellschaft des späten 18. Jahrhunderts und übersieht die Rezeption der westlichen myth models seitens der Hawaiianer im 19. Jahrhundert. Ich habe in Kapitel V die Sahlins-ObeyesekereDebatte unter vier miteinander verknüpften Perspektiven analysiert. Erstens geht es in der Debatte um die angemessene Interpretation der zur Verfügung stehenden Quellen. Während Obeyesekere sowohl westliche als auch hawaiianische Quellen dahingehend interpretiert, dass sie von westlichen myth models beeinflusst sind, argumentiert Sahlins, dass sowohl Quellen europäischer oder amerikanischer Beobachter als auch hawaiianische Quellen, die im 19. Jahrhundert unter missionarischem Einfluss entstanden sind, weiterführende Informationen über die Vergöttlichung Cooks liefern können. Sahlins vernachlässigt zwar die Möglichkeit, dass europäische Vorstellungen über die Vergöttlichung der ›weißen Entdecker‹ eine Bedeutung für die Entstehung der Quellen gespielt haben; allerdings rückt Obeyesekere diesen Aspekt seiner Interpretationsstrategie zu deutlich in den Mittelpunkt. Sahlins’ und Obeyesekeres Interpretationsstrategien verhalten sich also spiegelbildlich zueinander; ihre jeweiligen interpretativen Schwächen verweisen auf die Stärken des anderen Ansatzes. Ich habe deshalb für offenere Interpretationsstrategien plädiert, die die Existenz von myth models berücksichtigen, ohne sie zur fast alleinigen Grundlage der Interpretation von Quellen zu machen. Der zweite Streitpunkt ist das handlungstheoretische Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis. Sahlins rückt die handlungsorientierende und welterschließende Kategorie der Kultur in den Mittelpunkt, währenddessen Obeyesekere ein die pragmatischen Aspekte des Handelns betonendes Konzept ›praktischer Rationalität‹ entwirft. Auch hier weist die Kritik von Obeyesekere auf einige Probleme in Sahlins’ Handlungstheorie hin. Insbesondere habe ich die Tendenz in Sahlins’ Studien über James Cooks Tod kritisiert, die hawaiianische Gesellschaft als weitgehend kulturell homogen zu analysieren. Zudem betont Sahlins zwar die Fähigkeit der Hawaiianer, kulturell kreativ auf neue Ereignisse zu reagieren, doch diese Kreativität bezieht sich in Sahlins’ Ansatz eher darauf, kulturelle Ka-

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tegorien nicht aufzubrechen, sondern neue Ereignisse interpretativ kreativ in den eigenen kulturellen Rahmen zu integrieren. Allerdings überbetont Obeyesekere, zumindest in seinen Analysen über James Cooks Tod, die pragmatischen Aspekte sozialer Praxis und vernachlässigt die welterschließende und handlungsleitende Bedeutung kultureller Schemata. Darüber hinaus habe ich argumentiert, dass Sahlins’ Spätwerk konzeptionell komplexer ist als seine Analysen über Cooks Tod vermuten lassen. Insbesondere der von mir in Kapitel IV analysierte Ansatz der humiliation weicht deutlich von Sahlins’ Beiträgen über James Cooks Tod ab. Sahlins’ Konzept der humiliation lässt sich zudem fruchtbar machen für eine Weiterentwicklung eines Aspekts von Obeyesekeres Kritik: Sahlins vernachlässigt in seinen Analysen über Cooks Tod nämlich die große Bedeutung gewalttätiger Auseinandersetzungen zwischen den Hawaiianern und den Europäern, die sich unter anderem auf der Grundlage von Sahlins’ humiliation-Konzepts analysieren lassen. Der dritte Streitpunkt zwischen Sahlins und Obeyesekere, den ich analysiert habe, ist die Frage nach der kulturellen Distinktivität der hawaiianischen Gesellschaft. Sahlins betont, dass unterschiedliche Kulturen jeweils unterschiedliche Rationalitäten aufweisen, wohingegen Obeyesekere gerade die Gemeinsamkeiten zwischen westlicher und hawaiianischer Kultur hervorhebt. In meiner Analyse von Sahlins’ kulturellem Relativismus habe ich darauf hingewiesen, dass Sahlins in seinem Gesamtwerk mehrmals kulturelle Grundcharakteristika westlicher Gesellschaften untersucht hat, deren Berücksichtigung ein besseres Verständnis seines kulturellen Relativismus ermöglicht. In ›The Original Affluent Society‹ übt Sahlins Kritik am exzessiven Konsumismus in modernen Gesellschaften; in Culture and Practical Reason versteht er moderne Gesellschaften als Kulturen, die sich in erster Linie über den Konsum definieren; in seiner Arbeit über ›The Sadness of Sweetness‹ bettet er den westlichen Konsumismus in die jüdischchristliche Kosmologie ein. In Sahlins’ Augen ist der biblische Sündenfall gewissermaßen ein origin myth des jüdisch-christlichen Verständnisses der Unvollständigkeit des Menschen, und im Utilitarismus wird diese tragische Unvollkommenheit positiv gewendet in eine Wissenschaft darüber, wie unstillbare Bedürfnisse am besten zu befriedigen sind. Sahlins’ Analyse über ›The Sadness of Sweetness‹ kann für ein reichhaltigeres Verständnis von Sahlins’ kulturellem Relativismus fruchtbar gemacht werden. Auf drei dieser Elemente habe ich hingewiesen: Sahlins’ Kritik an Obeyesekeres Empirizismus, die Hawaiianer hätten Cook nicht mit ihrem Gott Lono ›verwechseln‹ können; die westliche Trennung zwischen göttlichem und nicht-göttlichem Existenzbereich, die für Sahlins nicht auf die hawaiianische Kultur übertragen werden kann; schließlich die Unterscheidung zwischen Politik und Kultur in der Analyse sozialen Handelns, die für Sahlins eine westliche Verzerrung nicht-westlicher Handlungsweisen ist. Sahlins’ Kritik an Obeyesekeres Analyseperspektive ist zwar berechtigt, doch Sahlins selbst kann dafür kritisiert werden, die hawaiianische Kultur und den hawaiianisch-europäischen Kulturkontakt bisweilen zu exotisieren. Wie auch in meiner

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Untersuchung des Zusammenhangs von Kultur und sozialer Praxis habe ich auf die von Sahlins vernachlässigte Rolle von Gewalt hingewiesen, insbesondere in seiner Analyse von Cooks Tod. Demgegenüber ist Sahlins’ These der Vergöttlichung von James Cook seitens der Hawaiianer, auch vor dem Hintergrund der verfügbaren Quellen und der Sekundärliteratur, weiterführend. Viertens steht in der Kontroverse zwischen Sahlins und Obeyesekere die ›Politik der Repräsentation‹ im Mittelpunkt, denn sowohl Sahlins als auch Obeyesekere sind davon überzeugt, dass der jeweils andere ethnozentrisch argumentiert. In den Augen Obeyesekeres essentialisiert und exotisiert Sahlins die Hawaiianer, währenddessen Obeyesekere für Sahlins den westlichen Utilitarismus auf die vorkoloniale hawaiianische Kultur überträgt. Sahlins und Obeyesekere kritisieren die jeweils andere Position nicht nur als ein erkenntnistheoretisch fragwürdiges Vorgehen, sondern auch für ihr moralisches Scheitern. Die Ironie der Kontroverse zwischen Sahlins und Obeyesekere besteht allerdings darin, dass die indigenen Stimmen, um die es gehen soll, weder für Sahlins noch für Obeyesekere im Mittelpunkt stehen. Tatsächlich werden sowohl Obeyesekere als auch Sahlins von einigen hawaiianischen Intellektuellen für ihre Analysen über die hawaiianische Geschichte kritisiert. Beispielsweise kritisieren LilikalƗ Kame’eleihiwa und Haunani-Kay Trask Sahlins dafür, die hawaiianische Kultur falsch zu verstehen und letztlich die ungleichen Machtrelationen zwischen hawaiianischer und westlicher Seite zu stabilisieren. Hawaiianische Intellektuelle wie Trask und Kame’eleihiwa kritisieren nicht nur Sahlins’ Ethnologie, sondern auch den in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren sehr einflussreichen ethnologischen Forschungsansatz über ›erfundene Traditionen‹. Ich habe eine enorm einflussreiche Debatte zwischen Trask und Jocelyn Linnekin über den politischen Status von ›erfundenen Traditionen‹ nachgezeichnet und darauf hingewiesen, dass Sahlins selbst im Rahmen seiner Theorie über die ›Indigenisierung der Moderne‹ kulturelle Revitalisierungsbewegungen analysiert hat. In Sahlins’ Augen handelt es sich hier aber um keine invented traditions; sein Ansatz ist eine explizite Kritik an der These, Revitalisierungsbewegungen seien ›erfunden‹. Dennoch wird auch Sahlins’ Ansatz von einigen hawaiianischen Intellektuellen dafür kritisiert, zu einer falschen Repräsentation der hawaiianischen Geschichte beizutragen und dem emanzipativen Ziel der hawaiianischen Souveränitätsbewegung nicht dienlich zu sein. Die Ironie dieses Spannungsverhältnisses besteht freilich darin, dass Sahlins’ Studien über kulturelle Revitalisierungsbewegungen durch die Entwicklung ›indigener‹ Wissenschaftsformen in gewisser Weise bestätigt werden, weil diese Wissenschaftsformen als ein Ausdruck für die ›Indigenisierung der Moderne‹ interpretiert werden können. Die neuen ozeanischen Wissenschaftskonzepte sind eine große Herausforderung für Sahlins’ kulturhistorisches Spätwerk; auch die Debatte zwischen Sahlins und Obeyesekere sollte nicht allein als eine innerwestliche akademische Kontroverse analysiert werden, sondern auch im Kontext der hawaiianischen Kritik an der westlichen Ethnologie.

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Vor dem Hintergrund von Sahlins’ politischer Kritik am Vietnamkrieg sowie an der Instrumentalisierung der Sozialwissenschaften für den US-amerikanischen Expansionismus erscheint die Kritik der Hawaiianer, Sahlins sei gewissermaßen ein ›akademischer‹ Vetreter des US-Imperialismus, zumindest auf den ersten Blick überraschend. Sahlins ist 1965, wie ich in Kapitel I beleuchtet habe, maßgeblich an der Entwicklung einer neuen Protestform beteiligt: des akademischen teach-in, der wesentliche Elemente der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung sowie der Free Speech Movement in sich aufnimmt. Auslöser für den teach-in an der University of Michigan in Ann Arbor ist die Bombardierung Nordvietnams, also das berüchtigte Projekt Rolling Thunder, mit dem Präsident Johnson viele seiner ehemaligen politischen Anhänger verprellt. Der teach-in in Ann Arbor erweist sich als so erfolgreich, dass es binnen Kürze an vielen anderen USamerikanischen Universitäten vergleichbare Veranstaltungen gibt, es folgt im Mai 1965 ein medial viel beachteter National Teach-In in Washington D.C. mit geschätzten 20.000 Teilnehmern. Wie aus einem Kommentar hervorgeht, den Sahlins nach dem National Teach-In schreibt, geht es ihm nicht um einen radikalen Protest gegen die demokratischen Institutionen, sondern um einen konstruktiven politischen Dialog, um nachhaltig die Politik der Vereinigten Staaten in Südostasien zu ändern. Im August 1965 hält sich Sahlins sechs Tage lang als Repräsentant des Inter-University Committee for a Public Hearing on Vietnam in Vietnam auf. Sahlins kritisiert das Projekt der Amerikaner, in Vietnam sowohl den Kommunismus zu bekämpfen als auch freie Wahlen zu garantieren. Er hält das südvietnamesische Regime weder für demokratisch legitimiert noch glaubt er, es handele zum Wohle der Mehrheit der Bewohner. Im Gegenteil beobachtet Sahlins geradezu eine ›Zerstörung des Bewusstseins‹ in Vietnam, denn die Existenz eines korrupten Regimes und unzähliger Kriegstoter wird in Sahlins’ Augen durch die Imagination eines transzendenten Kriegszieles gerechtfertigt – also durch die angebliche Notwendigkeit des Kampfes gegen die kommunistische Bedrohung. Da scheint den Amerikanern, wie Sahlins beobachtet, geradezu jedes Mittel recht zu sein, und sie schrecken nicht einmal vor Folter zurück. Sahlins’ Interview mit dem geheimnisvollen ›Mr. X‹, der bereitwillig über Techniken der mental torture Auskunft gibt, gehört sicherlich zu den verstörenderen Elementen seines Vietnam-Kommentars. Sahlins repräsentiert eine in den Sozialwissenschaften keineswegs selbstverständliche ›kritische‹ Haltung gegenüber dem Vietnamkrieg. In der amerikanischen Ethnologie wird Mitte der 1960er Jahre darüber diskutiert, ob sich Ethnologen als Ethnologen über den Vietnamkrieg kritisch äußern sollten, oder aber, wenn überhaupt, als aufgeklärte Bürger. Paradigmatisch für die gegensätzlichen Haltungen darüber, ob die Ethnologie in diesem Sinne eine ›kritische‹ Wissenschaft sein sollte, ist die Debatte über die so genannte Anti-Warfare-Resolution von 1966. Während Anhänger der Resolution die Ethnologie als politisch engagierte Wissenschaft betrachten, rücken viele von der Vorstellung ab, es gehöre zur Aufgabe der Ethnologie, sich in politische Auseinandersetzungen einzumi-

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schen. Diese Debatte ist wichtig, weil hier unter anderem die Frage verhandelt wird, wie eng Wissenschaft und Politik miteinander verflochten sind. Und dass es hier letzten Endes um mehr geht als ›nur‹ um eine erkenntnistheoretische Auseinandersetzung, die im akademischen Elfenbeinturm geführt wird, offenbart Project Camelot, ein vom US-amerikanischem Militär geplantes Forschungsprojekt zum ›revolutionären Potenzial‹ von lateinamerikanischen und anderen ›unterentwickelten‹ Staaten. Project Camelot erscheint dabei nicht gewissermaßen aus dem Nichts, sondern ist der vorläufige Höhepunkt eines US-amerikanischen military-industrial-academic complex, dessen Wurzeln bis in die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg zurückreichen. Project Camelot wird nicht durchgeführt, denn es gibt heftige Proteste gegen das Projekt, interessanterweise besonders in Chile, das eigentlich kein bevorzugter Erkenntnisgegenstand des Projektes werden sollte. Im Juli 1965 wird das Projekt offiziell gestoppt, doch dies ändert nichts daran, dass es in der Folge auch in den USA polemische Debatten über Project Camelot gibt, und es geht hier nicht nur um das Projekt an sich, sondern auch um den Status der Sozialwissenschaften, die sich in finanzieller Abhängigkeit vom Staat befinden. In seiner Kritik an Project Camelot entwickelt Sahlins die These, dass die Auffassung von Wissenschaft, die in diesem Projekt deutlich wird, mit der US-amerikanischen Politik in Südostasien vergleichbar ist. Der USamerikanische Interventionismus greift – so Sahlins – in die autonomen Entwicklungen anderer Länder ein und wird von Sozialwissenschaftlern unterstützt; die Sozialwissenschaften verkommen in diesem Kontext in Sahlins’ Augen zu einer bloßen Scholastik des ›Kalten Krieges‹. In Kapitel VI habe ich einige Elemente der ›Politik der Repräsentation‹ vor dem Hintergrund von Sahlins’ politischem Engagement, der Sahlins-Obeyesekere-Kontroverse sowie ozeanischer Wissenschaftskonzepte analysiert. In einem ersten Schritt habe ich Sahlins’ Konzept der Repräsentation, einschließlich der politischen Kritik, die er in den 1960er Jahren geübt hat, zu ›neuen‹ ozeanischen Wissenschaftskonzepten in Beziehung gesetzt. Dabei bin ich zunächst der Frage nachgegangen, welcher Zusammenhang zwischen Sahlins’ Ethnologie und seinen political writings besteht. Eine zu enge biographische Kopplung von politischer Kritik und Werkentwicklung sollte vermieden werden, da es keine Quellen gibt, die diesen Zusammenhang ermitteln könnten. Zwar liegt die Vermutung nahe, dass Sahlins’ Kritik am US-amerikanischen Expansionismus zu seiner kulturalistischen Wende beigetragen hat, doch beweisen lässt sich dies nicht. Allerdings gibt es einige systematische Gemeinsamkeiten von Sahlins’ politischer Kritik und seiner Ethnologie: Beispielsweise sind sowohl Sahlins’ Ethnologie als auch seine politischen Schriften Ausdruck einer Kritik am amerikanischen Universalismus. Beachtet werden sollte allerdings, dass Sahlins in seiner Kritik am Vietnamkrieg einen politischen Expansionismus anprangert, während er in seiner Ethnologie einen erkenntnistheoretischen ›Imperialismus‹ kritisiert, also eine Übertragung des Utilitarismus auf nicht-westliche Gesellschaften. Der Repräsentationsvorgang selbst ist für Sahlins weder in seiner politischen Kritik noch in

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seiner Ethnologie politisch; vielmehr vertritt Sahlins eine universalistische Position, der zufolge es für einen Ethnologen möglich und wünschenswert ist, Aussagen über nicht-westliche Kulturen zu machen. Von vielen Vertretern ozeanischer Wissenschaftskonzepte wird die Ethnologie allerdings dafür kritisiert, zu ungleichen Machtrelationen zwischen westlichen und nicht-westlichen Gesellschaften beizutragen. Einige ozeanische Wissenschaftler und Intellektuelle fordern demgegenüber, dass die Erforschung ozeanischer Gesellschaften den untersuchten Gesellschaften selbst zugute kommen muss, nicht der Weiterentwicklung der westlichen Wissenschaften. Indigene Wissenschaftskonzepte sind anti-kolonial und verstehen sich zumeist als identitätsstiftend. Viele Vertreter dieser Konzepte fordern, dass der Erforschung ozeanischer Gesellschaften indigene Epistemologien zu Grunde gelegt werden sollen; zudem werden westliche Ausdrucksweisen der Ethnologie und benachbarter Disziplinen dafür kritisiert, dass sie indigene Darstellungsformen negieren. Schließlich wird zuweilen gefordert, dass nur noch indigene Wissenschaftler Aussagen über ozeanische Gesellschaften machen sollten; die Legitimität westlicher Wissenschaftler wie Sahlins, ozeanische Gesellschaften zu analysieren, wird von vielen Vertretern ozeanischer Wissenschaftskonzepte angezweifelt. Die westliche Repräsentation nicht-westlicher Gesellschaften hat, wie ich argumentiert habe, ihr selbstverständliches Zentrum verloren, und indigene Wissenschaftskonzepte stellen deshalb eine große Herausforderung für die Ethnologie und für angrenzende Disziplinen dar, die nicht ignoriert werden sollte. Im Anschluss an meinen Vergleich von Sahlins’ Werk mit ozeanischen Wissenschaftskonzepten habe ich die Frage diskutiert, in welcher Weise neue Ausdrucksformen für die Repräsentation nicht-westlicher Gesellschaften fruchtbar gemacht werden können. Die Kritik, die seitens ozeanischer Wissenschaftler an westlichen Darstellungsformen geübt wird, ist nicht gänzlich neu, denn auch in den westlichen Sozialwissenschaften selbst gibt es Kontroversen über ›angemessene‹ Darstellungsformen; ein Beipiel dafür ist die writing-culture-Debatte in der Ethnologie der 1980er Jahre. Mein Ausgangspunkt war der geschichtstheoretische Ansatz von Hayden White, der auch in der writing-culture-Kontroverse eine Rolle gespielt hat. White entwickelt in einer Reihe von Veröffentlichungen seit seiner monumentalen Studie Metahistory eine literaturwissenschaftliche Perspektive auf die Geschichtswissenschaft, auf deren Grundlage ein historisches Werk nicht mehr als Darstellung einer externen Realität erscheint, sondern als ein der erzählenden Literatur nahestehendes sprachliches Konstrukt. White unterscheidet drei Ebenen historischen Erzählens: Erstens nennt White das so genannte emplotment, also die ›Art‹ einer historischen Erzählung, zweitens die ›Erklärung durch formale Schlussfolgerung‹ und drittens die ›Erklärung durch ideologische Implikation‹. Diese drei Ebenen sind eng miteinander verknüpft und verweisen auf eine fundamentalere Ebene historischen Erzählens: die tropologische Verfasstheit von Sprache. Problematisch an Whites Ansatz ist, wie ich argumentiert habe, sein positivistisches Verständnis des historischen Faktums; historische In-

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formationen sind enger mit den Darstellungsweisen verknüpft, als es in Whites Ansatz erscheint. Daraus sollte aber nicht gefolgert werden, dass Whites literaturwissenschaftliche Perspektive auf die Geschichtsschreibung nicht für die empirische Erforschung nicht-westlicher Gesellschaften fruchtbar gemacht werden könnte. Zunächst weist auch White auf die politischen Implikationen von Repräsentationsweisen hin; darüber hinaus kann Whites Plädoyer für komplexere Darstellungsweisen einer in sich ambivalenten historischen Realität für die Repräsentation ozeanischer Gesellschaften in historischen oder ethnographischen Texten fruchtbar gemacht werden. Im Anschluss an White habe ich argumentiert, dass die Forderung ozeanischer Wissenschaftler, poetische Ausdrucksmöglichkeiten zur Grundlage der Repräsentation ozeanischer Gesellschaften zu machen, nicht vorab als unwissenschaftlich angesehen werden sollte, sondern als Chance begriffen werden könnte, ethnographische und historische Darstellungsformen nicht-westlicher Gesellschaften experimentell zu erweitern und damit zu einem erweiterten Verständnis fremder Lebenswelten beizutragen. Die Repräsentation anderer Gesellschaften oder der Vergangenheit erschöpft sich natürlich nicht in bestimmten narrativen Strukturen; ich bin deshalb der Frage nachgegangen, welche Rolle die Verwendung wissenschaftlicher Konzepte für die ›Politik der Repräsentation‹ spielt. Dass diese Verwendung problematisch sein kann, habe ich zunächst am Beispiel von Sahlins’ Wirtschaftsethnologie sowie Arjun Appadurais Globalisierungskonzept gezeigt. Es erscheint fragwürdig, warum Sahlins eine anthropological economics entwickeln will, obwohl der Begriff Ökonomie in den von ihm analysierten Lebenswelten keine Bedeutung hat. Bei Appadurais Konzept der global flows tritt das gleiche Problem auf, doch hier kommt noch hinzu, dass Appadurai die von ihm vorgestellten scapes als phänomenologische Konstrukte versteht; doch er entwirft trotzdem ein universalistisches Modell unterschiedlicher ›globaler Flüsse‹ mit jeweils unterschiedlichen Eigenschaften, obgleich die Flüsse beobachterabhängig sein sollen. Im Anschluß an Henrietta Moores Entwurf der concept-metaphors lässt sich argumentieren, dass viele sozialwissenschaftliche Begriffe keinen konkreten Referenten zu haben scheinen und dass die Verwendung dieser Begriffe im Rahmen sozialwissenschaftlicher Forschung teilweise radikal abweichen kann von ihrer Verwendung in der Alltagssprache. Ich habe drei Formen der Referentialität von Begriffen beleuchtet: Erstens können sich Begriffe auf soziale Prozesse beziehen, ohne dass die Verwendung dieser Begriffe selbst seitens der Akteure von Bedeutung wäre. Zweitens kann die Verwendung von wissenschaftlichen Konzepten auf die Verwendung von Begriffen im Alltag verweisen – ein Beispiel dafür ist Sahlins’ Kulturtheorie, denn die symbolische Organisation der Wirklichkeit basiert unter anderem auf der Verwendung von Begriffen und Konzepten in der Alltagsprache; diese Verwendung kann aber in Konflikt geraten mit der wissenschaftlichen Verwendung dieser Begriffe. Ich habe darauf hingewiesen, dass Sahlins’ Kulturtheorie aus dieser Perspektive problematisch ist, denn seine Verwendung der Begriffe Kultur und Geschichte weicht teilweise von deren Ge-

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brauch in ozeanischen Gesellschaften ab. Allerdings bietet gerade Sahlins’ kulturhistorisches Spätwerk weiterführende Impulse, wie indigene Begriffe und Epistemologien in westlichen sozialwissenschaftlichen Ansätzen produktiv verwendet werden können. Drittens können sich Begriffe auf die jeweiligen soziohistorischen und theoriegeschichtlichen Kontexte beziehen, in denen sie entstanden sind. Diese Referentialität ist zumeist implizit, doch sie erklärt manchmal, warum bestimmte Begriffe und Konzepte überhaupt verwendet werden. Ein Beispiel dafür ist Sahlins’ Begriff der anthropological economics, dessen Verwendung aus der Formalismus-Substantivismus-Debatte in der Wirtschaftsethnologie der 1960er Jahre abgeleitet werden kann. Diese komplexe dreischichtige Referentialität sozialwissenschaftlicher Begriffe und Konzepte erzeugt Spannungen zwischen unterschiedlichen Verwendungsweisen in unterschiedlichen Kontexten; diese Spannungen können einen ›politischen‹ Status besitzen und sollten dementsprechend als Bestandteil der ›Politik der Repräsentation‹ angesehen werden. Diese ›Argumentationsräume‹, in denen sich die ›Politik der Repräsentation‹ entfaltet, sind in einem immer größeren Maße interkulturell. Die Probleme, die mit der ›Politik der Repräsentation‹ verknüpft sind, können möglicherweise nur im Rahmen eines interkulturellen Dialogs gelöst werden. Ich habe allerdings darauf hingewiesen, dass es ungeklärt ist, ob nicht dieser Dialog selbst (und auch die vorliegende Arbeit) Eigenschaften dessen aufweist, was seitens ozeanischer Wissenschaftler als westlicher Neo-Imperialismus kritisiert wird, inwieweit es also möglich ist für die Vertreter ozeanischer Wissenschaftskonzepte, westliche Standards wissenschaftlicher Forschung nachhaltig zu überschreiten. Dennoch gibt es für eine solche Vorgehensweise keine Alternative; zudem ist der Hinweis, dass ein interkultureller Wissenschaftsdialog asymmetrische Machtverhältnisse etabliert oder zumindest stabilisiert, zwar nicht gänzlich von der Hand zu weisen, doch ebenso sehr erscheint es möglich, dass solche Aushandlungsprozesse Machtasymmetrien aufbrechen und zu einem beiderseitigen Lernprozess beitragen können. Aus der Kritik ozeanischer Wissenschaftler und Intellektueller an westlichen Wissenschaftskonzeptionen und Vorgehensweisen sollte also nicht der relativistische oder auch der ›postkoloniale‹ Schluss gezogen werden, dass eine westliche Erforschung nicht-westlicher Lebenswelten nicht mehr wünschenswert oder sogar nicht mehr möglich wäre; eine solche Erforschung impliziert aber eine größere Selbstreflexivität über die politischen Aspekte ethnographischer, soziologischer oder historischer Repräsentation sowie über die Machtasymmetrien des ›interkulturellen Dialogs‹ sowie die Bereitschaft, sich mit nichtwestlichen Wissenschaftsentwürfen auseinanderzusetzen. Im Folgenden möchte ich abschließend auf einige Aspekte kulturhistorischer Forschung hinweisen, deren Weiterentwicklung durch eine Auseinandersetzung mit Sahlins’ Werk profitieren könnte. Erstens hat meine Untersuchung von Sahlins’ Spätwerk gezeigt, wie bedeutend die ›Politik der Repräsentation‹ für die interkulturelle Analyse ist. Es scheint schwer, wenn nicht sogar unmöglich zu sein, den Implikationen dieser Thematik zu entkommen. Die ›Politik der Repräsentati-

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on‹ ist nicht notwendigerweise mit interkultureller Analyse verknüpft; die Fragen nach der Legitimität, Aussagen über einen bestimmten Sachverhalt zu treffen, ob diese Aussagen für konkrete politische Projekte gebraucht bzw. missbraucht werden können oder ob eine emanzipative Absicht mit der jeweiligen Analyse verknüpft ist, betreffen alle Bereiche der Sozial- und Kulturwissenschaften, auch und insbesondere die Theorie kultureller Globalisierung, denn die Argumentationsräume, in denen die ›Politik der Repräsentation‹ verhandelt wird, werden selbst in einem zunehmenden Maße interkulturell. Was ist nun eigentlich das ›Politische‹ der Repräsentation? Im Anschluss an meine Analyse von Sahlins’ Werk schlage ich vor, dass es zumindest drei eng miteinander verknüpfte politische Ebenen der Repräsentation gibt. Zunächst kann eine sozialwissenschaftliche Theorie oder eine bestimmte Analyseperspektive eine immanente politische Komponente aufweisen; dies ist die von White analysierte ›ideologische Implikation‹ geschichtswissenschaftlicher Werke oder das emanzipative Ziel, das viele ozeanische Wissenschaftler mit indigenen Wissenschaftskonzepten verbinden. Auch in Sahlins’ kulturhistorischem Spätwerk gibt es eine solche ›ideologische Implikation‹, und zwar das von ihm verfolgte Ziel, durch die Ethnologie zu einer interkulturellen Verständigung beizutragen, an deren vorläufigem Ende eine Culture of Cultures stehen soll. Analysen über die ›Politik der Repräsentation‹ können also von einer Berücksichtigung der ideologischen Implikationen sozialwissenschaftlicher Paradigmen profitieren. Diese Implikationen stehen oftmals explizit im Vordergrund – wie bei vielen ozeanischen Wissenschaftskonzepten oder auch Jürgen Habermas’ Theorie kommunikativen Handelns –, sie können aber auch weitgehend implizit sein, wie im Fall von Sahlins’ kulturhistorischem Spätwerk. Sahlins hat wiederholt betont, es komme ihm darauf an, andere Kulturen in ihrer Distinktivität zu untersuchen, also letztlich so, wie sie ›tatsächlich (gewesen) sind‹. Doch dieses Ziel ist mit der ideologischen Implikation von Sahlins’ Spätwerk verknüpft, dass die Ethnologie ein kosmopolitisches Unternehmen ist. Die zweite politische Ebene der Repräsentation sind Auseinandersetzungen innerhalb des ›wissenschaftlichen Feldes‹ über die Autorität oder Legitimität, wissenschaftliche Aussagen über bestimmte Sachverhalte überhaupt treffen zu ›dürfen‹. Am Beispiel der Kontroverse zwischen Sahlins und Obeyesekere wird deutlich, dass diese Argumentationsräume in zunehmendem Maße interkulturell und disziplinenübergreifend werden; darüber hinaus ist immer weniger klar, was unter einer ›wissenschaftsimmanenten‹ Auseinandersetzung überhaupt verstanden werden kann, denn mit der Kontroverse zwischen Sahlins und Obeyesekere sind auch im engeren Sinne nichtwissenschaftliche Probleme und Fragestellungen verknüpft. Hinsichtlich der Frage nach der Autorität der beteiligten Akteure innerhalb des ›wissenschaftlichen Feldes‹ würde sich eine Analyse im Anschluss an Pierre Bourdieus Feldtheorie lohnen, in der klar wird, in welcher Weise dieses Feld strukturiert ist und welche Positionen die beteiligten Akteure innerhalb dieses Feldes einnehmen. Eine solche Untersuchung wäre eine große Herausforde-

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rung, denn die Argumentationsräume, die durch diese Debatte entfaltet wurden und in denen sie stattfand, umspannen unterschiedliche Disziplinen und Vertreter unterschiedlicher akademischer ›Kulturen‹. Die Globalisierung der Argumentationsräume führt dazu, dass vormals selbstverständliche wissenschaftliche Legitimitäten in Frage gestellt werden. Beispielsweise hat die Ethnologie ihr Selbstverständnis lange Zeit eng mit ihrer Methode der teilnehmenden Beobachtung in fremden kulturellen Kontexten verknüpft, doch gerade dieses Selbstverständnis wird von ozeanischen Wissenschaftlern explizit in Frage gestellt. In diesen interkulturellen Diskussionskontexten gibt es keine ›natürliche‹ wissenschaftliche Autorität mehr, sondern muss immer wieder neu verhandelt werden, ohne dass klar wäre, welche ›Spielregeln‹ einen solchen Diskurs strukturieren können. Was in einigen Ansätzen kultureller Globalisierung betont wird, trifft auch auf die interkulturellen wissenschaftlichen Felder zu: Sie sind, in der Terminologie Arjun Appadurais, ›Landschaften‹, in denen es zu einem ständigen Transfer an Menschen, Ideen oder Artefakten kommt, ohne dass ein ›Zentrum‹ erkennbar wäre, in dem die Eigenschaften des Feldes klar vorgegeben würden. In unterschiedlichen kulturellen Kontexten werden teilweise die gleichen wissenschaftlichen Begriffe verwendet, doch die jeweiligen Verwendungsweisen und Aneignungen können, wie auch Appadurai in seiner Diskussion der scapes betont, radikal voneinander abweichen. Eine nachhaltige Auseinandersetzung mit der ›Politik der Repräsentation‹ sollte deshalb diese sich wandelnden wissenschaftlichen Kontexte berücksichtigen, in denen wissenschaftliche Kontroversen eingebettet sind und in denen die Frage nach der Legitimität und Autorität, wissenschaftliche Aussagen zu treffen, verhandelt wird. Auf einer dritten Ebene der ›Politik der Repräsentation‹ geht es um die Folgen, die im engeren Sinne wissenschaftliche Debatten auf nichtwissenschaftliche Kontexte haben. Auf diese Problematik hat unter anderem Andreas Reckwitz hingewiesen. »Eine sozialwissenschaftliche Identität, die in ihrer Forschungsroutine die Frage nach den Effekten ihrer Diskurse außerhalb des wissenschaftlichen Feldes ständig ›mitlaufen‹ lässt, hebt nicht die postempiristische Konstellation aus den Angeln, aber handhabt sie nicht nur ästhetisch, sondern auch ethischpolitisch« (Reckwitz 2003b: 96). Reckwitz plädiert für ein ›reflexives Kontingenzbewusstsein‹ wissenschaftlicher Praxis, durch das eine ständige Selbstpositionierung intellektueller Tätigkeit in einem gesellschaftlichen Kontext politischer wie ethischer Bezüge ermöglicht wird. Reckwitz weist nicht nur darauf hin, dass die Sozial- und Kulturwissenschaften Lebenswelten erforschen, deren Angehörige sich selbst und ihre Kontexte interpretieren, sondern auch, dass die moderne Gesellschaften bestimmenden Praktiken und Diskurse »in der Regel nicht selbst auf jenem anti-realistischen Kontingenzbewusstsein [beruhen], das die post-empiristischen Sozialwissenschaften für sich anerkannt haben« (Reckwitz 2003b: 97). ›Kulturelle Codes‹ erscheinen also nicht als prinzipiell kontingent, sondern als selbstverständliche ›Struktur der Dinge‹. Reckwitz argumentiert, dass das post-empiristische ›reflexive Kontingenzbewusstsein‹ die Sozialwissenschaf-

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ten dazu motiviert, »in die gesellschaftlichen Diskurse zu intervenieren und die dort betriebenen Invisibilisierungen von Kontingenz gewissermaßen wieder (oder erstmals) ›sichtbar‹ zu machen« (Reckwitz 2003b: 98). Reckwitz interessiert sich in seiner brillanten Analyse in erster Linie für die Rolle, die die Sozialwissenschaften in modernen Gesellschaften spielen. Das von Reckwitz beleuchtete Vorgehen ist aber auch in der Ethnologie angewandt worden, insbesondere im Rahmen der invention-of-tradition-Forschung, in der Ethnologen auf die Konstruktivität angeblich ›authentischer‹ indigener Traditionen hingewiesen haben. Weil dieses Vorgehen aber indigenen Souveränitätsbewegungen ihre Legitimation zu nehmen scheint, haben diese Forschungen Wirkungen, die weit über den wissenschaftlichen Rahmen hinausgehen. Die Sozial- und Kulturwissenschaften sind nicht ›nur‹ Unternehmen, in denen es um die Ermittlung von ›Wahrheit‹ geht, was auch immer im Einzelnen darunter verstanden werden soll; sie sind auch in der Lebenswelt verankerte Praktiken, die ebenso politische Folgen haben können wie jede andere soziale Praxis auch. In interkulturellen Analysen kommt als Komplikation dazu, dass eine westliche wissenschaftliche Praxis politische Konsequenzen für nicht-westliche Kulturen haben kann; der soziohistorische Kontext, in dem die westlichen Sozialwissenschaften verankert sind, kann sich von den Kontexten radikal unterscheiden, die von den sozialwissenschaftlichen Analysen politisch beeinflusst werden. Das ›reflexive Kontingenzbewusstsein‹ muss also die politische Rolle berücksichtigen, die sozial- und kulturwissenschaftliche Analysen in wechselnden soziohistorischen Kontexten spielen können. Dies kann letztlich auch die Konsequenz haben, dass sich die Ziele sozialwissenschaftlicher Analyse verlagern, beispielsweise unter Berücksichtigung der Forderung indigener Wissenschaftler, die das ›Wohlergehen‹ indigener kultureller Kontexte als zentrales Ziel der Sozialwissenschaften ansehen. Die drei von mir unterschiedenen Ebenen der ›Politik der Repräsentation‹ sind also eng miteinander verwoben. Eine notwendige Konsequenz für die interkulturell orientierten Sozialwissenschaften ist eine zunehmende Selbstreflexivität über die ideologischen Implikationen der jeweils eigenen Analyseperspektive, über die akademischen und soziohistorischen Kontexte, in denen sozialwissenschaftliche Analysen eingebettet sind sowie über die Folgen, die diese Analysen für unterschiedliche soziohistorische Kontexte haben können. Die Analyse von Sahlins’ Spätwerk zeigt also, dass ein reflexives Bewusstsein über diese Elemente der ›Politik der Repräsentation‹ selbst Teil der interkulturellen Analyse sein und nicht allein als ein ›ergänzendes‹ Element verstanden werden sollte. Eng mit der ›Politik der Repräsentation‹ ist ein zweites Problem der interkulturellen und Globalisierungsforschung verknüpft, für das sich Sahlins’ Werk als fruchtbar erweisen kann. Sahlins’ Ansatz über die ›Indigenisierung der Moderne‹ wirft nämlich die Frage auf, welche empirische Reichweite ein Ansatz kultureller Globalisierung überhaupt haben sollte. Auf den ersten Blick erscheint eine Antwort auf diese Frage eindeutig zu sein: Die empirische Reichweite eines Ansat-

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zes kultureller Globalisierung ist ›global‹, weil es der Erkenntnisgegenstand verlangt. Henrietta Moore argumentiert indes, dass in vielen Ansätzen kultureller Globalisierung explizit oder implizit ein Konzept des globalen Holismus vorausgesetzt wird, vor dessen Hintergrund Analysen über ›Fragmentierung‹, ›Hybridisierung‹ oder ›Westernisierung‹ erst ihren Sinn erhalten: »partiality becomes part of a part/whole relationship, where comparison will reveal how local situations fit into larger wholes, how new structures are taking particular shape in specific contexts, and how the global connects to the local […] In such writing, the implicit image is of a system, and of parts that together make sense within a whole« (Moore 2004: 76).

Zu den bleibenden Herausforderungen der Globalisierungsforschung gehört es in ihren Augen deshalb, den Sinn zu schärfen für konzeptionelle Alternativen, die der concept-metaphor des globalen Holismus und der Unterteilung global/lokal entgehen. Diese weiterführenden Gedanken Moores implizieren natürlich auch eine Problematisierung des ›globalen‹ Erkenntnisgegenstands der Globalisierungsforschung. Wie kann Globalisierung konzeptualisiert werden, ohne schematische global/local-Metaphern oder die Metapher des globalen Holismus zu verwenden? Moore nennt die Globalisierungstheorie Arjun Appadurais als ein Beispiel für einen Ansatz, in dem andere concept-metaphors eine tragende Rolle spielen, insbesondere Chaos, Prozessualität oder Imagination. Man kann natürlich Moores Fragestellung, wie es möglich sein soll, eine Theorie der Globalisierung zu entwerfen, ohne die Metapher des Holismus zu verwenden, für sinnlos halten, wenn tatsächlich die These vertreten wird, dass es ein globales System gibt, vor dessen Hintergrund lokale kulturelle, ökonomische und politische Zusammenhänge erst ihren Sinn erhalten. In der gegenwärtigen Ethnologie werden solche Theorien allerdings mit gutem Grund sehr kritisch gesehen, denn die Metapher des globalen Systems birgt die Gefahr, die Spezifik ›lokaler‹ soziohistorischer Kontexte zu vernachlässigen und sie als bloßen Ausdruck bestimmter Determinierungen eines globalen Systems zu begreifen. Wie schwer es aber ist, der Metapher des globalen Systems zu entkommen, wird auch von Moore betont, denn viele Konzepte, die das Ziel verfolgen, einem allumfassenden Begriff des globalen Systems zu entkommen, fallen letztlich in einen impliziten Holismus zurück. Die Frage, welchen Erkenntnisgegenstand die Globalisierungsforschung hat, ist also eng verknüpft mit den konzeptionellen Grundlagen des jeweiligen Ansatzes. Was die Wahl dieser Grundlagen bestimmt, ist im Einzelnen höchst unterschiedlich, doch ich habe in meiner Analyse über die ›Politik der Repräsentation‹ in Kapitel VI darauf hingewiesen, dass Analysen über fremde kulturelle Realitäten zu einem gewissen Grad indigene Kosmologien, Begrifflichkeiten und Darstellungsformen berücksichtigen sollten – also nicht allein als Erkenntnisgegenstand, sondern als zumindest partielle Analysegrundlage. Insbesondere hinsicht-

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lich der Verwendung indigener Kosmologien sind Sahlins’ kulturhistorisches Spätwerk und seine Studien über die ›Indigenisierung der Moderne‹ weiterführend, denn Sahlins verarbeitet indigene Konzepte und macht sie zu einer argumentativen Grundlage seines Ansatzes über die ›Indigenisierung der Moderne‹. Sein Konzept des develop-man, seine These, dass für die Hawaiianer die Unterscheidung zwischen unterschiedlichen ›Sphären‹ sozialer Praxis bedeutungslos war sowie sein Plädoyer für die große Bedeutung kultureller Systematizität profitieren von ozeanischen Begriffen und Konzepten, wenn Sahlins diese auch nicht einfach zur alleinigen Grundlage seiner Analyse erhebt; vielmehr verknüpft Sahlins indigene Begriffe mit der von ihm entwickelten kulturhistorischen Systematik. Ich habe in Kapitel VI argumentiert, dass eine solche Vorgehensweise sich als weiterführend für die interkulturelle Analyse erweisen kann, denn sie berücksichtigt die Forderung ozeanischer Wissenschaftler und Intellektueller, indigene Kosmologien für die Grundlegung sozialwissenschaftlicher Analyse zu berücksichtigen. Natürlich bedeutet dieses Vorgehen aber eine Gratwanderung, denn wenn beispielsweise hawaiianische Epistemologien zur Grundlage der Erforschung der hawaiianischen Kultur gemacht werden, ist die von Andreas Reckwitz beleuchtete ›Entzauberung‹ der als selbstverständlich angesehenen kulturellen Konstrukte in lebensweltlichen Kontexten seitens der Sozialwissenschaften kaum noch möglich. Ein gewisser erkenntnistheoretischer ›Abstand‹ zwischen sozialwissenschaftlicher Analyse und empirischem Erkenntnisgegenstand scheint notwendig zu sein, um westliche wissenschaftliche Standards nicht aufzugeben. Sahlins’ kulturhistorisches Spätwerk befindet sich also auf einem schmalen Grad zwischen der Übertragung westlicher Konzepte auf nicht-westliche Gesellschaften einerseits und der Übernahme indigener Epistemologien in das Analysedesign andererseits. Sahlins hält an der traditionellen ethnologischen wie historischen Methodologie fest, doch er reichert seinen kulturhistorischen Ansatz mit ozeanischen Begriffen an. Sein Spätwerk kann deshalb als ein vorsichtiger Versuch angesehen werden, westliche und nicht-westliche Analyseperspektiven miteinander zu verknüpfen. Sahlins’ Vorgehen hat Folgen für die Frage nach dem Erkenntnisgegenstand der Theorie über die ›Indigenisierung der Moderne‹. Eine konsequente Übernahme indigener (also beispielsweise ozeanischer) Epistemologien und Vorgehensweisen in das sozialwissenschaftliche Analysedesign kann nämlich das Ziel, Prozesse kultureller Globalisierung zu untersuchen, nachhaltig unterminieren. In ozeanischen Wissenschaftskonzepten ist eine Analyse weltweiter Prozesse kultureller Globalisierung weitgehend bedeutungslos; vielmehr werden in den Cultural Studies for Oceania ozeanische Gesellschaften unter identitätspolitischen Gesichtspunkten analysiert. Diesen identitätspolitischen Zug indigener Epistemologien hat Sahlins nicht übernommen, doch es ist unklar, in welcher Weise sich indigene Epistemologien im Rahmen eines sozialwissenschaftlichen Ansatzes universalisieren lassen, um Prozesse weltweiter Verflechtungen zu analysieren. Diese Frage ist auch unmittelbar für Sahlins’ Ansatz über die ›Indigenisierung der

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Moderne‹ relevant. In Kapitel III habe ich Sahlins’ Übernahme von Epeli Hau’ofas Ansatz über ›Our Sea of Islands‹ untersucht und als Weiterführung seines in Culture and Practical Reason entwickelten Ansatzes kultureller Systematizität interpretiert. Sahlins’ These, dass Migrationen keine Negation kultureller Kontinuität und Systematizität implizieren müssen, sondern als Ausdruck ozeanischer kultureller Traditionalität angesehen werden können, habe ich als weiterführende Ergänzung zu Appadurais Ansatz kultureller Entgrenzung interpretiert. Ist Sahlins’ Ansatz aber tatsächlich ein allgemeiner Ansatz kultureller Verflechtung oder repräsentiert er in erster Linie einen ›ozeanischen‹ Blickwinkel auf Prozesse kultureller Globalisierung? Sahlins hat seine ethnologischen Konzepte in erster Linie anhand ozeanischer Gesellschaften entwickelt; auch sein Entwurf einer ›Indigenisierung der Moderne‹ hat enorm profitiert von seinen empirischen Analysen von Kulturkontakten und kulturellem Wandel in ozeanischen Gesellschaften im Rahmen der europäischen Expansion seit dem 18. Jahrhundert. Sahlins’ Ansatz einer ›Indigenisierung der Moderne‹ bezieht sich in erster Linie auf ozeanische Gesellschaften, wenn er auch in einigen seiner Arbeiten empirische Beispiele von außerozeanischen Gesellschaften anführt. Sein Ansatz ist also sowohl empirisch als auch konzeptionell eng verflochten mit der ozeanischen Region, weil Sahlins ozeanische Gesellschaften untersucht und ozeanische Begriffe bzw. Konzepte in seinen Ansatz eingebaut hat. Allerdings ist fraglich, ob Sahlins’ Konzepte, die sich in der Analyse kulturellen Wandels in Ozeanien als weiterführend erweisen, auch auf Gesellschaften außerhalb Ozeaniens angewendet werden können. Impliziert Sahlins’ Vorgehensweise nicht, dass eine sozialwissenschaftliche Analyse einer bestimmten kulturellen Region kulturspezifische Begrifflichkeiten in das Analysedesign einbauen sollte? Und bedeutet dies nicht eine Partikularisierung regionalspezifischer Analysen, die nicht mehr ohne weiteres zu einer übergreifenden Theorie kultureller Globalisierung verknüpft werden können? Ein vergleichbares Problem gab es in der Ethnologie bereits in den 1950er und 1960er Jahren, als sich in der britischen Social Anthropology eine strukturfunktionalistische Schule mit Afrika als regionaler Schwerpunkt einer Schule gegenüberstand, die asiatische Gesellschaften auf der Grundlage des Strukturalismus analysierte. Als produktiv hat sich diese ›Arbeitsteilung‹ nicht erwiesen. Die Globalisierungsforschung steht nun vor dem Problem, eine kulturell ›sensible‹ Analyseperspektive zu entwickeln, die dennoch zu einem gewissen Grad verallgemeinerungsfähige Aussagen machen kann. Eine Gefahr der Partikularisierung lokalspezifischer Analyseperspektiven gibt es aber nur, wenn indigene Epistemologien tatsächlich zur exklusiven Untersuchungsgrundlage erhoben werden. Dies ist, wie ich argumentiert habe, auch in Sahlins’ Ansatz nicht der Fall. Das Vorgehen, Sahlins’ Ansatz über die ›Indigenisierung der Moderne‹ auf außerozeanische kulturelle Kontexte anzuwenden, erscheint mir deshalb durchaus weiterführend, doch das Problem, dass eine externe sozialwissenschaftliche Perspektive, die auf einen bestimmten kulturellen Kontext angewandt wird, Gefahr läuft, die

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kulturellen Spezifika dieses Kontextes zu verfehlen, bleibt bestehen. Es gehört zu den bleibenden Herausforderungen der Forschung über kulturelle Globalisierung, diese Spannung zwischen ›lokalen‹ und externen Epistemologien produktiv zu verarbeiten. Henrietta Moore empfiehlt in ihrer Arbeit über ›Global Anxieties‹, dass sich die Globalisierungsforschung neuen Metaphern aus der Bio- und Computertechnologie, der Physik oder der Mathematik öffnen sollte (Moore 2004: 85). Als Ergänzung möchte ich vorschlagen, dass auch concept-metaphors aus nicht-westlichen Epistemologien für die Globalisierungsforschung bereichernd sein können. Bereits Sahlins’ kulturhistorisches Spätwerk zeigt, dass es hier durchaus Anknüpfungspunkte zwischen westlichen und nicht-westlichen concept-metaphors und Untersuchungsperspektiven geben kann. Der dritte weiterführende Aspekt von Sahlins’ Werk, auf den ich hinweisen möchte, ist, dass Sahlins’ kulturhistorisches Spätwerk keineswegs auf seinen Ansatz über die ›Indigenisierung der Moderne‹ reduziert werden sollte. Die Grundlagen für Sahlins’ Ansatz sind sein semiotischer Kulturbegriff und dessen handlungstheoretische Umformulierung in seiner Geschichtstheorie. Sahlins’ Verknüpfung von Kultur und Geschichte erweist sich damit auf drei eng miteinander verwobenen Ebenen als weiterführend. Erstens entwickelt Sahlins ein allgemeines kultur- und handlungstheoretisches Instrumentarium, das auf eine Vielzahl unterschiedlicher empirischer Sachverhalte angewandt werden kann. Zweitens analysiert Sahlins auf der Grundlage seines kulturhistorischen Ansatzes die ›historische Tiefe‹ von Prozessen kultureller Globalisierung. Drittens verlängert er diese kulturhistorische Perspektive in die heutige Zeit und argumentiert, dass die von ihm analysierten ›langen Linien‹ kulturellen Wandels ozeanischer Gesellschaften auch in der heutigen Zeit noch höchst lebendig sind. Sahlins’ Ansatz über die ›Indigenisierung der Moderne‹ hat also nicht nur eine empirisch-historische, sondern auch eine kultur- und handlungstheoretische Grundlegung. Eine Analyse über das Potenzial von Sahlins’ Spätwerk sollte also nicht auf die Frage reduziert werden, ob Sahlins’ Theorie den Herausforderungen der ›Politik der Repräsentation‹ gerecht wird oder ob er möglicherweise die kulturelle Kontinuität ozeanischer Gesellschaften überschätzt. Vielmehr verweisen die historischen und konzeptionellen Fundamente von Sahlins’ Theorie über die ›Indigenisierung der Moderne‹ auf die Notwendigkeit, Analysen über Globalisierungs- und Verflechtungsprozesse sowohl konzeptionell als auch historisch zu fundieren. Ein Kennzeichen von Sahlins’ Gesamtwerk ist die besondere Bedeutung, die Konzepte wie Kultur und Geschichte, aber auch Ökonomie und Moderne, in seinen ethnologischen Analysen spielen. Die Konzepte Kultur und Geschichte stehen erst seit etwa Mitte der 1970er Jahre im Mittelpunkt von Sahlins’ Interesse. Aus einer heutigen Perspektive muten die Theorien, die Sahlins in seinem evolutionistischen Frühwerk entwickelt hat, überholt an, doch es sollte nicht vergessen werden, dass auch damals Sahlins die konzeptionellen Debatten in der Ethnologie geprägt hat und maßgeblich an der konzeptionellen Weiterentwicklung der Ethnologie und verwandter Disziplinen beteiligt gewesen ist. Bis heute hat Sah-

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lins an seinem Ziel festgehalten, empirische Analysen über Kulturkontakte, kulturellen Wandel und kulturelle Verflechtungen kultur- und handlungstheoretisch zu fundieren. In einer Zeit, in der die ›große Theorie‹ in den Sozialwissenschaften immer weniger Anhänger findet, arbeitet Sahlins nach wie vor an einer Ausarbeitung der konzeptionellen Grundlagen interkultureller Analyse, auch wenn diese für ihn kein Selbstzweck sind, sondern ein Hilfsmittel für ein besseres Verständnis der Realität. Dabei offenbart Sahlins’ Gesamtwerk in seiner fundamentalen Wandelbarkeit eine gewisse Selbstreflexivität, die zumeist ignoriert wird: Sein Werk verdeutlicht wie nur wenige andere ethnologische Werke des 20. Jahrhunderts, wie wichtig eine selbstreflexive Sensibilität ist, auf veränderte akademische und weltpolitische Strömungen zu antworten und nicht auf einem einmal entwickelten Ansatz unflexibel zu beharren. Sozial- und kulturwissenschaftliche Forschungsansätze müssen sich in veränderten Kontexten immer wieder neu beweisen, die Frage muss immer wieder neu gestellt werden, ob eine Theorie, so sinnvoll und weiterführend sie auch in der Vergangenheit gewesen sein mag, auf die drängenden Probleme und Fragen der heutigen Zeit noch Antworten zu geben vermag. Auch Sahlins’ Spätwerk ist weniger hermetisch und ›weltabgewandt‹ als oftmals vermutet. Tatsächlich offenbart Sahlins’ Denken in seiner Wandelbarkeit eine tiefsitzende Sensibilität für veränderte weltpolitische und akademische Stimmungslagen. Dies bedeutet nicht, dass ›neuere‹ Theorien und Konzepte notwendigerweise ›besser‹ sind als ›alte‹ Theorien; ansonsten wäre die Auseinandersetzung mit Sahlins’ Wirtschaftsethnologie tatsächlich nur noch von historischer Natur. Vielmehr glaube ich, dass man nicht jedem turn in Sahlins’ Werk bedingungslos folgen muss, dass die Vielfältigkeit seines Gesamtwerks vielmehr auch als Chance angesehen werden sollte, einige seiner ›alten‹ Ideen in den heutigen akademischen und weltpolitischen Kontexten neu zu ›denken‹. Dies gilt nicht nur für sein im engeren Sinne ethnologisches Werk, sondern auch für seine politischen Schriften der 1960er Jahre, wenn sich diese auch nicht einfach auf die heutigen Verhältnisse übertragen lassen. Doch inwieweit gibt es tatsächlich Parallelen zwischen dem Vietnam- und dem Irakkrieg? Welche Gemeinsamkeiten existieren zwischen dem ›Kampf gegen den Kommunismus‹ und dem ›Kampf gegen den Terror‹? Wie hat sich der military-industrial-academic complex entwickelt, seit Sahlins in den 1960er Jahren Project Camelot kritisierte? Diese Fragen sind nicht in einem rhetorischen Sinne zu verstehen, vorschnelle Antworten verbieten sich hier. Doch Sahlins’ politische Kritik der 1960er Jahre regt zumindest dazu an, diese Fragen zu stellen. Allein die Tatsache, dass solche Fragen immer noch oder wieder aufkommen, zeigt, wie aktuell und inspirierend Sahlins’ Denken auch heute noch ist.

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Kultur und soziale Praxis Martina Grimmig Goldene Tropen Zur Koproduktion natürlicher Ressourcen und kultureller Differenz in Guayana

Birgit Glorius Transnationale Perspektiven Eine Studie zur Migration zwischen Polen und Deutschland

Dezember 2007, ca. 320 Seiten, kart., ca. 34,80 €, ISBN: 978-3-89942-751-6

Oktober 2007, 340 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-745-5

Helmut König, Manfred Sicking (Hg.) Europäische Identität, nationale Erinnerungen? Das neue Europa fünfzig Jahre nach den Römischen Verträgen

Christian Berndt, Robert Pütz (Hg.) Kulturelle Geographien Zur Beschäftigung mit Raum und Ort nach dem Cultural Turn

Dezember 2007, ca. 180 Seiten, kart., ca. 18,80 €, ISBN: 978-3-89942-723-3

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Alexander Jungmann Jüdisches Leben in Berlin Der aktuelle Wandel in einer metropoletanen Diasporagemeinschaft

Constanze Pfeiffer Die Erfolgskontrolle der Entwicklungszusammenarbeit und ihre Realitäten Eine organisationssoziologische Studie zu Frauenrechtsprojekten in Afrika

Oktober 2007, ca. 550 Seiten, kart., ca. 39,80 €, ISBN: 978-3-89942-811-7

Valentin Rauer Die öffentliche Dimension der Integration Migrationspolitische Diskurse türkischer Dachverbände in Deutschland Oktober 2007, ca. 295 Seiten, kart., ca. 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-801-8

September 2007, 236 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-771-4

Karsten Kumoll Kultur, Geschichte und die Indigenisierung der Moderne Eine Analyse des Gesamtwerks von Marshall Sahlins September 2007, 430 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN: 978-3-89942-786-8

Antje Gunsenheimer (Hg.) Grenzen. Differenzen. Übergänge. Spannungsfelder interund transkultureller Kommunikation Oktober 2007, ca. 340 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN: 978-3-89942-794-3

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Kultur und soziale Praxis Peter Kreuzer, Mirjam Weiberg Zwischen Bürgerkrieg und friedlicher Koexistenz Interethnische Konfliktbearbeitung in den Philippinen, Sri Lanka und Malaysia August 2007, 602 Seiten, kart., 40,80 €, ISBN: 978-3-89942-758-5

Ulrike Joras Companies in Peace Processes A Guatemalan Case Study Juni 2007, 310 Seiten, kart., 30,80 €, ISBN: 978-3-89942-690-8

Katharina Zoll Stabile Gemeinschaften Transnationale Familien in der Weltgesellschaft

TRANSIT MIGRATION Forschungsgruppe (Hg.) Turbulente Ränder Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas (2. Auflage)

August 2007, 244 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-670-0

Mai 2007, 252 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-781-3

Martin Baumann, Jörg Stolz (Hg.) Eine Schweiz – viele Religionen Risiken und Chancen des Zusammenlebens

Magdalena Nowicka (Hg.) Von Polen nach Deutschland und zurück Die Arbeitsmigration und ihre Herausforderungen für Europa

August 2007, 410 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN: 978-3-89942-524-6

Reinhard Johler, Ansgar Thiel, Josef Schmid, Rainer Treptow (Hg.) Europa und seine Fremden Die Gestaltung kultureller Vielfalt als Herausforderung Juli 2007, 216 Seiten, kart., 21,80 €, ISBN: 978-3-89942-368-6

Daniel Münster Postkoloniale Traditionen Eine Ethnografie über Dorf, Kaste und Ritual in Südindien

Mai 2007, 312 Seiten, kart., 30,80 €, ISBN: 978-3-89942-605-2

Klaus Müller-Richter, Ramona Uritescu-Lombard (Hg.) Imaginäre Topografien Migration und Verortung Mai 2007, 244 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-594-9

Dieter Haller Lone Star Texas Ethnographische Notizen aus einem unbekannten Land Mai 2007, 224 Seiten, kart., zahlr. Abb., 22,80 €, ISBN: 978-3-89942-696-0

Juli 2007, 250 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-538-3

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Kultur und soziale Praxis Pascal Goeke Transnationale Migrationen Post-jugoslawische Biografien in der Weltgesellschaft März 2007, 394 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN: 978-3-89942-665-6

María do Mar Castro Varela Unzeitgemäße Utopien Migrantinnen zwischen Selbsterfindung und Gelehrter Hoffnung Januar 2007, 304 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-496-6

Halit Öztürk Wege zur Integration Lebenswelten muslimischer Jugendlicher in Deutschland März 2007, 282 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-669-4

Elias Jammal, Ulrike Schwegler Interkulturelle Kompetenz im Umgang mit arabischen Geschäftspartnern Ein Trainingsprogramm Februar 2007, 210 Seiten, kart., 21,80 €, ISBN: 978-3-89942-644-1

Holger Michael Kulturelles Erbe als identitätsstiftende Instanz? Eine ethnographischvergleichende Studie dörflicher Gemeinschaften an der Atlantik- und Pazifikküste Nicaraguas Februar 2007, 230 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-602-1

Corinne Neudorfer Meet the Akha – help the Akha? Minderheiten, Tourismus und Entwicklung in Laos Februar 2007, 300 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-639-7

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