Kritische Gesamtausgabe: Band 13/1+2 Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt 9783110896800, 9783110166101

A critical edition of the second edition of the Christian Faith (Glaubenslehre) 1830/31 with the addition of the margina

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Kritische Gesamtausgabe: Band 13/1+2 Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt
 9783110896800, 9783110166101

Table of contents :
Einleitung des Bandherausgebers
I. Historische Einführung
II. Editorischer Bericht
Der christliche Glaube
Vorrede
Inhalt des ersten Bandes
Einleitung. § 1–31
Der Glaubenslehre erster Teil
Entwicklung des frommen Selbstbewußtseins, wie es in jeder christlich frommen Gemütserregung immer schon vorausgesetzt wird, aber auch immer mit enthalten ist
Einleitung. § 32–35
Erster Abschnitt. Beschreibung unseres frommen Selbstbewußtseins, sofern sich darin das Verhältnis zwischen der Welt und Gott ausdrückt. § 36–49
Zweiter Abschnitt. Von den göttlichen Eigenschaften, welche sich auf das fromme Selbstbewußtsein, sofern es das Verhältnis zwischen Gott und der Welt ausdrückt, beziehen. § 50–56
Dritter Abschnitt. Von der Beschaffenheit der Welt, welche in dem frommen Selbstbewußtsein, sofern es das allgemeine Verhältnis zwischen Gott und der Welt ausdrückt, angedeutet ist. § 57–61
Der Glaubenslehre zweiter Teil
Entwicklung der Tatsachen des frommen Selbstbewußtseins, wie sie durch den Gegensatz bestimmt sind. § 62–169
Einleitung. § 62–64
Des Gegensatzes erste Seite. Entwicklung des Bewußtseins der Sünde. § 65–85
Einleitung. § 65
Erster Abschnitt. Die Sünde als Zustand des Menschen. § 66–74
Zweiter Abschnitt. Von der Beschaffenheit der Welt in Beziehung auf die Sünde. § 75–78
Dritter Abschnitt. Von den göttlichen Eigenschaften, welche sich auf das Bewußtsein der Sünde beziehen. § 79–85
Privilegium gegen den Büchernachdruck
Inhalt des zweiten Bandes
Des Gegensatzes andere Seite. Entwicklung des Bewußtseins der Gnade. § 86–169
Einleitung. § 86–90
Erster Abschnitt. Von dem Zustande des Christen, sofern er sich der göttlichen Gnade bewußt ist. § 91–112
Zweiter Abschnitt. Von der Beschaffenheit der Welt bezüglich auf die Erlösung. § 113–163
Dritter Abschnitt. Von den göttlichen Eigenschaften, welche sich auf die Erlösung beziehen. § 164–169
Schluß. Von der göttlichen Dreiheit. § 170–172
Synopse der Leitsätze der zweiten und ersten Auflage
Abkürzungsverzeichnis
Literaturverzeichnis
Namensregister
Register der Bibelstellen

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Friedrich Schleiermacher Kritische Gesamtausgabe I. Abt. Band 13,1

W G DE

Friedrich Daniel Ernst

Schleiermacher Kritische Gesamtausgabe Im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen herausgegeben von Hermann Fischer und Ulrich Barth, Konrad Cramer, Günter Meckenstock, Kurt-Victor Selge

Erste Abteilung Schriften und Entwürfe Band 13 Teilband 1

Walter de Gruyter · Berlin · New York 2003

Friedrich Daniel Ernst

Schleiermacher Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt Zweite Auflage (1830/31) Teilband 1

Herausgegeben von Rolf Schäfer

Walter de Gruyter · Berlin · New York

2003

® Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 3-11-016610-0 Bibliografische

Information

Der Deutschen

Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über < h t t p : / / d n b . d d b . d e > abrufbar.

© Copyright 2003 by Walter de Gruyter G m b H & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Umschlaggestaltung: Rudolf Hübler, Berlin Rheingold-Satz, Flörsheim—Dalsheim Druck: Gerike G m b H , Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer G m b H , Berlin

Inhaltsverzeichnis

Einleitung des Bandherausgebers VII I. Historische Einführung VII 1. Dogmatik als Glaubenslehre VII 2. Leitfaden und Lehrbuch XIV 3. Druckmanuskript und Originaldruck XXXIX 4. Randbemerkungen im Handexemplar XLV 5. Die Dogmatikvorlesung Sommersemester 1830 und die Nachschrift von Johann Hinrich Wichern XLVII 6. Die Aufnahme der zweiten Auflage der Glaubenslehre L 7. Wiederabdrucke LXXVII II. Editorischer Bericht LXXX Der christliche

Glaube

Vorrede Inhalt des ersten Bandes Einleitung. § 1-31 Der Glaubenslehre erster Teil Entwicklung des frommen Selbstbewußtseins, wie es in jeder christlich frommen Gemütserregung immer schon vorausgesetzt wird, aber auch immer mit enthalten ist Einleitung. § 32-35 Erster Abschnitt. Beschreibung unseres frommen Selbstbewußtseins, sofern sich darin das Verhältnis zwischen der Welt und Gott ausdrückt. § 36-49 Einleitung. § 36-39 Erstes Lehrstück. Von der Schöpfung. § 40-45 Erster Anhang. Von den Engeln. 5 42—43 Zweiter Anhang. Vom Teufel. § 44-45 Zweites Lehrstück. Von der Erhaltung. § 46-49

3 7 11 199 201 201 218 218 230 241 250 264

VI

Inhaltsverzeichnis

Zweiter Abschnitt. Von den göttlichen Eigenschaften, welche sich auf das fromme Selbstbewußtsein, sofern es das Verhältnis zwischen Gott und der Welt ausdrückt, beziehen. § 50-56 Einleitung. § 50-51 Erstes Lehrstück. Gott ist ewig. §52 Zweites Lehrstück. Gott ist allgegenwärtig. § 53 Drittes Lehrstück. Gott ist allmächtig. § 54 Viertes Lehrstück. Gott ist allwissend. § 55 Anhang. Von einigen andern göttlichen Eigenschaften. §56 Dritter Abschnitt. Von der Beschaffenheit der Welt, welche in dem frommen Selbstbewußtsein, sofern es das allgemeine Verhältnis zwischen Gott und der Welt ausdrückt, angedeutet ist. s 57-61 Einleitung. § 57-58 Erstes Lehrstück. Von der ursprünglichen Vollkommenheit der Welt. § 59 Zweites Lehrstück. Von der ursprünglichen Vollkommenheit des Menschen. § 60-61 Der Glaubenslehre zweiter Teil Entwicklung der Tatsachen des frommen Selbstbewußtseins, wie sie durch den Gegensatz bestimmt sind, § 62—169 Einleitung. § 62-64 Des Gegensatzes erste Seite. Entwicklung des Bewußtseins der Sünde. § 65-85 Einleitung. § 65 Erster Abschnitt. Die Sünde als Zustand des Menschen. § 6674 Einleitung. § 66-69 Erstes Lehrstück. Von der Erbsünde. § 70—72 Zweites Lehrstück. Von der wirklichen Sünde. § 73—74.. Zweiter Abschnitt. Von der Beschaffenheit der Welt in Beziehung auf die Sünde. § 75-78 Dritter Abschnitt. Von den göttlichen Eigenschaften, welche sich auf das Bewußtsein der Sünde beziehen. § 79—85 Einleitung. § 79-82 Erstes Lehrstück. Gott ist heilig. §83 Zweites Lehrstück. Gott ist gerecht. §84 Anhang. Von der Barmherzigkeit Gottes. § 85

300 300 312 317 324 335 350

357 357 363 371 389 391 391 403 403 405 405 421 457 471 486 486 511 517 527

Einleitung des

Bandherausgebers

Der vorliegende Band in zwei Teilbänden enthält die zweite, gänzlich umgestaltete Auflage von Friedrich Schleiermachers theologischem Hauptwerk „Der christliche Glaube nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt", kurz „Glaubenslehre" genannt,1 Grundlage dieser kritischen Edition ist der Originaldruck von 1830/31. Er wird hier erstmals mit dem 1980 wieder aufgefundenen eigenhändigen Manuskript Schleiermachers verglichen. Dadurch konnten Fehler und Versehen im Text berichtigt werden, die sich seit dem Originaldruck unerkannt durch die späteren Ausgaben hindurchziehen. Dem Text des ersten Bandes sind die Randbemerkungen im Handexemplar Schleiermachers beigegeben, welche außer allgemeinen Zusätzen und Kommentaren vor allem die Präparationen für seine letzte Dogmatikvorlesung vom Sommer 1830 enthalten. Der textkritische Apparat ermöglicht einen Einblick in die Entstehungsgeschichte des Textes der Glaubenslehre, indem er über die im Manuskript sichtbaren Ergänzungen, Streichungen und Korrekturen Auskunft gibt. Im Sachapparat wird neben den notwendigen Erläuterungen und Quellennachweisen die einzige bisher aufgefundene Nachschrift der Vorlesung von 1830 ausgewertet: das Fragment zu § 1—13 aus der Feder von Johann Hinrich Wiehern, dem späteren Begründer des Rauben Hauses in Hamburg und der Inneren Mission.

I. Historische 1. Dogmatik als

Einführung

Glaubenslehre

Schleiermacher stellte seine Dogmatik unter den Titel „Der christliche Glaube". Mit dieser Formulierung machte er auf die in dem Buch durchgeführte Methode aufmerksam, daß nämlich die christliche Glaubenserfahrung den einzigen Zugang zum Gegenstand der Dogmatik gewährt.

1

Zitatnacbiveise Schleiermacher.

und Belegverweise

ohne Angabe des Autors beziehen

sich auf

Friedrich

VIII

Einleitung des

Bandherausgebers

Dieser methodische Zugang brach mit einer Voraussetzung, die bisher stillschweigend galt: daß nämlich die theologische Lehre — so wichtig in ihr auch das Kapitel Glaubenserfahrung sein mag — in einer objektiven Erkenntnis Gottes und seines Verhältnisses zur Welt und zum Glaubenden gründet. Zwar hatte auch die ältere Theologie den fragmentarischen Charakter, der aus der menschlichen Endlichkeit und noch mehr aus der Sünde resultiert, immer vorbehalten. Trotzdem war in ihr die natürliche Gotteserkenntnis und vor allem die Offenbarung als ein hinreichend tragfähiges Fundament und als das angemessene Koordinatensystem für die dogmatische Lehre von Gottes Wesen und Werk angesehen worden. Diese Voraussetzung der älteren Theologie war durch die Vernunftkritik Immanuel Kants zerstört worden. Schleier mach er hatte Kants Werke schon als Student kennengelernt und daraus die Schlußfolgerungen für den Grundriß einer Dogmatik mit solcher Selbstverständlichkeit gezogen, daß er die zwingende Notwendigkeit gar nicht mehr eigens begründete. Dies hatte zur Folge, daß viele seiner Zeitgenossen, aber auch viele seiner Schüler den methodischen Bruch außer acht ließen und seine Ergebnisse mit dem älteren Schema zu versöhnen suchten. Die sich dabei einstellenden Ungereimtheiten wurden dann wieder kritisch gegen Schleiermacher gewandt und als Gegenargumente vorgebracht. Schon in Halle benutzte er bei der Ankündigung seiner Dogmatikvorlesung für das Wintersemester 1805/06 den Begriff „Glaubenslehre", wie er später dann auch selbst sein Buch abkürzend zu bezeichnen pflegte. Indem er im Glauben den ausschließlichen Zugang zur Dogmatik sah, holte er die Theologie von der vermeintlichen Möglichkeit einer objektiven Gotteserkenntnis auf die allein gegebene Erfahrungsbasis zurück: auf den Inhalt des menschlichen, christlich geformten Abhängigkeitsbewußtseins oder „schlechthinigen Abhängigkeitsgefühls". Dessen Darstellung bildete für ihn die primäre Form der Theologie und bestimmte dadurch sowohl den Inhalt als auch die Grenze der Dogmatik. Daraus folgte zugleich, daß die Erfahrungsbasis der Dogmatik nicht unabhängig von der Geschichte gegeben ist. Die 1811 veröffentlichte „Kurze Darstellung des theologischen Studiums"1, auf die Schleiermacher bei der Ortsbestimmung der Glaubenslehre im Rahmen der theologischen Disziplinen hinweist,3 ordnete die Dogmatik der historischen Theologie zu und betrachtete sie als deren dritten Teil, der

2 3

KG A 1/6, 243-315. Vgl. unten 1, 12,23.

Einleitung des Bandherausgebers

IX

sich an die exegetische Theologie und an die Kirchengeschichte anschließt. Damit enthüllte sich die zeitlose Gültigkeit der Dogmatik als Schein. Der Untertitel beider Auflagen der Glaubenslehre — „nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt" — unterstreicht das Selbstverständnis der Dogmatik, daß sie bestimmt ist von der sie tragenden geschichtlichen Gemeinschaft der christlichen Kirche. Der Ursprung dieser Gemeinschaft wird von der Exegese der Bibel, ihre Entwicklung von der Kirchengeschichte näher untersucht, was in der Glaubenslehre seinen Niederschlag in der Christologie sowie in der besonderen Stellung der Bekenntnisschriften und der Kirchenväter findet. Im Unterschied zur ersten Auflage wird die Bedeutung der Bekenntnisschriften und der Kirchenväter dadurch hervorgehoben, daß ihre Aussagen nicht mehr über die Erläuterungen verstreut, sondern in besonderen Abschnitten zusammengfaßt ihnen vorangestellt werden. Den vorläufigen Endpunkt der Lehrentwicklung erreicht diese geschichtliche Betrachtung in der Dogmatik als der Darstellung der gegenwärtig geltenden Lehre. Dieser Endpunkt wird aber schon wieder für die künftige Entwicklung durchlässig, die beispielsweise bei der Vereinigung der beiden protestantischen Bekenntnisse zu einer „evangelischen" Kirche im Gange ist. Schleiermacher hielt an diesem geschichtlichen Selbstverständnis der Dogmatik, das er vom spekulativen Zugang zur Theologie scharf trennte, auch zur Zeit der Konzeption der zweiten Auflage der Glaubenslehre fest. Denn auch die im Herbst 1830 entstandene zweite Auflage der „Kurzen Darstellung"4 stellte Exegese, Kirchengeschichte und Dogmatik als ein Kontinuum dar und stand damit unter dem lebendigsten Eindruck der Glaubenslehre, über die Schleiermacher soeben gelesen hatte. Indem er den Glauben als „schlechthiniges Abhängigkeitsgefühl" interpretierte, knüpfte Schleiermacher an den Begriff des Gefühls an, den er schon 1799 in seinen Reden „Über die Religion"5 in die Mitte gestellt hatte. Weder damals noch in der Glaubenslehre verstand Schleiermacher darunter einen bewußtlosen Seelenzustand oder eine bloße Sentimentalität, sondern das unmittelbare Selbstbewußtsein, welches das Denken und das Wollen fundiert. In den Reden war es ihm darauf angekommen, dieses Gefühl von Metaphysik und Moral zu unterscheiden, um das metaphysische und das moralistische Mißverständnis der Religion aufzudecken. In der Glaubenslehre verstärkte sich nun das Interesse an der richtigen Zuordnung: Das Gefühl oder unmittelbare Selbstbewußtsein trägt und begleitet das Denken und das Wollen; beim

4 5

KG A 1/6, KG A 1/2,

317-446. 185-326.

χ

Einleitung des

Bandherausgebers

Übergang vom Denken zum Wollen oder beim Zurücktreten beider kann es auch unmittelbar zur Erfahrung kommen. Obwohl Schleiermacher dies klar und deutlich darstellte, wurde er doch so mißverstanden, als ob er die individuelle Empfindung des Menschen, der sich in vielfältiger Hinsicht unfrei und beschränkt vorfindet, zur Basis der Theologie mache. Seine Weigerung, die religiöse Erfahrung von Gott aus dem philosophischen Wissen über Gott herzuleiten, fand wenig Verständnis, noch weniger der von ihm eingeschlagene Weg, durch die religiöse Erfahrung zu einem zutreffenderen Gottesbegriff zu gelangen und Gott zu beschreiben als das im Selbstbewußtsein „mit gesezte Woher unseres empfänglichen und selbstthätigen Daseins"6. Allerdings mutete Schleier mach er seinen Lesern am Eingang der Glaubenslehre einen Erkenntnisweg zu, den offenbar nicht alle mitzugehen bereit waren. Er knüpfte bei der Erfahrung an, daß der Mensch als Erkennender und als Tätiger immer in Wechselwirkung mit seiner Umgebung steht. Diese Wechselwirkung erfährt er in seinem Selbstbewußtsein so, daß er sich partiell frei und partiell abhängig fühlt — frei nämlich, wo er selbsttätig auf die Umgebung einwirkt, und abhängig, wo er die Einwirkung der Umwelt erleidet. Nun kann der Mensch sich in der Weise als Teil seiner Umgebung verstehen, daß er sich und diese Umgebung zusammen als Inbegriff der wechselweisen und partiellen Freiheit und Abhängigkeit denkt. Im größten vorstellbaren Umfang genommen, ist dies die „Welt". Diese Erweiterung des individuellen Bewußtseins ist aber nicht nur für das Denken möglich, sondern auch für das Gefühl, das zum Mitfühlen werden kann. Indem der einzelne Mensch diese Fähigkeit des Mitfühlens auf die Welt im ganzen erweitert, erfährt er diese als den Inbegriff des geteilten Freiheitsgefühls und des geteilten Abhängigkeitsgefühls. Ein ungeteiltes, also schlechthiniges Freiheitsgefühl kommt hierbei nirgends vor, wohl aber ein schlechthiniges Abhängigkeitsgefühl - nicht des individuellen Menschen für sich, wohl aber mit der Welt zusammen, indem der Mensch so das gemeinsame „Woher" seiner selbst und der Welt einschließlich seiner Freiheit und seiner Abhängigkeit erfährt. Durch dieses in der Erfahrung zugängliche Woher wird der Gottesbegriff definiert. Wenn also das Koordinatensystem der Lehre im Glauben als dem schlechthinigen Abhängigkeitsgefühl zentriert wird, bedeutet dies nicht, daß allein das erkennende Subjekt mit seinen persönlichen Gefühlen übrig bliebe, während die Welt und Gott unsichtbar würden. Das christliche Abhängigkeitsbewußtsein setzt die Erkenntnis der

6

Unten 1, 39,1.

Einleitung des Bandherausgebers

XI

Wechselbeziehung zur Welt voraus und erreicht so erst die Erfahrung derjenigen Abhängigkeit, welche die Rede von Gott ermöglicht. Deshalb gewährt die Erkenntnisbasis, die sich im Abhängigkeitsbewußtsein öffnet, eine Erkenntnis der Welt und eine Erkenntnis Gottes, die damit zum Gegenstand der Theologie werden. Dabei darf der Erkenntnisweg durch das sich erweiternde Selbstbewußtsein nie in Vergessenheit geraten. Denn Aussagen über die Welt an sich oder Gott an sich sind nicht Sache der Theologie; dogmatische Sätze über Gott und über die Welt müssen aus der Perspektive und in den Grenzen der Glaubenserfahrung gewonnen werden. Aus diesen grundsätzlichen Erwägungen leitete Schleiermacher die Disposition seiner Glaubenslehre ab. Für die wissenschaftliche Darstellung der Dogmatik folgt, daß die theologischen Sätze in drei Formen auftreten: in der Grundform, die aus Sätzen über das Selbstbewußtsein besteht, und in zwei Nebenformen, nämlich in Sätzen über die Welt und in Sätzen über Gott. Jede dieser drei Formen enthält jeweils das Ganze der Dogmatik und darf deshalb nicht mit Sätzen aus einer der anderen Formen vermischt werden. Quer zu dieser dreifachen Darstellungsform, die für jede Religion gilt, steht eine inhaltliche Dreiteilung, bei der die christliche Unterscheidung von Sünde und Gnade leitend ist. Im christlich frommen Selbstbewußtsein kommen erstens Erfahrungen vor, bei denen der Gegensatz von Sünde und Gnade zurücktritt und die sich deshalb in jedem frommen Selbstbewußtsein finden, so vor allem im Glauben an den Schöpfer und Erhalter. Zweitens kann sich die Aufmerksamkeit auf die Erfahrung der Sünde richten. Und drittens wird die christliche Erfahrung der Gnade zum Gegenstand, so jedoch, daß darin die beiden vorher beschriebenen Erfahrungsbereiche einbezogen sind. Diese Unterscheidung führt zur Disposition des Stoffes der Glaubenslehre in einen ersten Teil und in einen nach zwei Seiten hin untergliederten zweiten Teil. In jedem dieser drei Bereiche ergeben sich von der Beschreibung des Selbstbewußtseins als der Grundform aus die Sätze über die Welt und die Sätze über Gott als die beiden Nebenformen. Somit entsteht für die Dogmatik ein klarer Aufbau in drei mal drei Abschnitte. Die beiden untergeordneten Darstellungsformen können dabei ihre Plätze vertauschen. Erst bei der zweiten Seite des zweiten Teils, wenn die Erfahrung der Gnade im Kontext des Schöpfungsglaubens und der Sündenerfahrung ausdrücklich in den Mittelpunkt rückt, läßt sich die Dogmatik überblicken. Was aus Gründen der Darstellung nacheinander beschrieben werden mußte, ist dann als Ganzes gleichzeitig erkennbar. Durch zahlreiche Querverweise in den Fußnoten versuchte Schleiermacher, es

XII

Einleitung

des

Bandherausgebers

seinen Lesern zu erleichtern, die Abschnitte, die zu jeder Darstellungsform gehören, ineinander zu denken. Daß die Beschreibung des frommen Selbstbewußtseins die Grundform der Dogmatik ist, kommt auch darin zum Ausdruck, daß Schleiermacher in ihrem Rahmen die Christologie darstellte. Das „Grundbewußtsein eines jeden Christen von seinem Gnadenstande"7 ist notwendig verbunden mit der Beschreibung des Selbstbewußtseins Jesu als dem eigentlichen Ort der christlichen Offenbarung, weil aus diesem alles gemeinschaftliche und individuelle christliche Leben fließt. Diesem Baugesetz gehorchen alle Abschnitte, die aus der Glaubenserfahrung genommen sind und damit im eigentlichen Sinne die Dogmatik ausmachen. Einleitung und Schluß des Werkes gehören aber ausdrücklich nicht dazu. Die vorangesetzte und in der zweiten Auflage neu gestaltete „Einleitung"8 führt ungeachtet ihres großen Umfangs nur von außen an die Dogmatik heran, ohne in sie einzutreten. Ebenso bleibt auch der Schluß ab schnitt „Von der göttlichen Dreiheit"9 überwiegend außerhalb der Dogmatik. Allerdings nicht ganz, denn in ihm findet sich auch die krönende Zusammenfassung der Dogmatik selbst, die den tatsächlichen trinitarischen Gehalt der Glaubenslehre - das Sein Gottes in Christus und das Sein Gottes in der Kirche und ihrem Gemeingeist — herausstellt. Andererseits jedoch wird dort auch scharf der Grenzstrich um die Glaubenslehre gezogen, welchen die überlieferte Trinitätslehre überschreitet, indem sie eine der Glaubenserfahrung unzugängliche und von ihr losgelöste Dreiheit in Gott zu beschreiben sucht. Obwohl die erste Auflage der Glaubenslehre für aufgeschlossene Leser auch außerhalb Schleiermachers Hörsaal ohne weiteres hätte verständlich sein müssen, ließen es jedoch die zahlreichen Mißverständnisse der Rezensenten geraten erscheinen, das Neue an der Glaubenslehre in der zweiten Auflage auch dadurch zu unterstreichen, daß die häufigsten Fehldeutungen schon durch die äußere Anlage des Werks ausgeschaltet würden. Durch die Umgestaltung der „Einleitung" wird bereits an den Uberschriften klar, daß sie kein Teil der Dogmatik ist. Sorgfältig wird die außerdogmatische Herkunft der „Lehnsäze" notiert. Außerdem werden in der gesamten Glaubenslehre mit dem Ausdruck „Zusaz" nicht mehr dogmatische Exkurse gekennzeichnet, sondern konsequent nur noch Seitenblicke meist abwehrenden Charakters. Denn Schleiermacher sah sich durch seinen neuartigen Grundansatz

7

Unten 2, 35,10. Unten 1, 11-197 (§ 1-31). » Unten 2, 514-532 (§ 170-172). 8

Einleitung des Bandherausgebers

XIII

in der Lage, eine Reihe von philosophischen, naturwissenschaftlichen und historischen Themen, die sich traditionellerweise durch die dogmatischen Lehrbücher ziehen und zu Kollisionen mit den nichttheologischen Wissenschaften führen, aus der Dogmatik zu entfernen. So nahe die beiden Auflagen einander im Gehalt stehen, so wenig gleichen sie einander im Wortlaut. Der von Carl Stange unternommene Versuch, eine Synopse nicht nur der Leitsätze, sondern des gesamten Textes herzustellen, erwies sich als so komplex, daß er abgebrochen werden mußte.10 Die Ursache dafür liegt in Schleiermachers Arbeitsweise. Er präzisierte die erste Auflage nicht dadurch, daß er an deren Formulierungen gefeilt und gebessert hätte, sondern indem er deren Inhalt Paragraph um Paragraph von Grund aus noch einmal durchdachte und aus einem Guß neu formulierte. Dadurch entstanden neue, der ersten Auflage parallel laufende Gedankengänge, in denen freilich zahlreiche Begriffe, Gedankenschritte und Zitate wiederkehren, so daß die beiden Auflagen einander gegenseitig kommentieren. Allerdings hatte diese Arbeitsweise auch die Folge, daß Schleiermacher sein Ziel, sich kurz und knapp zu fassen, bei der zweiten Auflage noch weniger erreichte als bei der ersten. Was so schon in der ersten Auflage der Glaubenslehre (1821/22) übersichtlich dargestellt worden war, führte Schleiermacher in der zweiten Auflage zu einem Abschluß, von dem er selbst wußte, daß er diesen Höhepunkt nicht würde übertreffen können. Er betrachtete das Werk, an welchem er zweieinhalb Jahrzehnte gearbeitet hatte, als „Ernte"11. Eine Ernte war es nicht nur insofern, als die in Vorlesungen entwickelten Entwürfe, die Studien zur theologischen Tradition und die Auseinandersetzung mit den Zeitgenossen von Grund auf neu reflektiert und dem Ganzen eingepaßt wurden, sondern auch in der entscheidenden Probe, die darin bestand, daß sich von der gewählten Erkenntnisbasis aus das gewaltige Material der gegenwärtigen Frömmigkeit, der kirchlichen Tradition und der biblischen Grundlage sinnvoll in das Koordinatensystem einordnen ließ, so daß sich ein umfassendes und klares Gesamtbild der christlichen Lehre ergab, ohne das die Leitung der Kirche weder im großen noch im kleinen möglich ist.

10

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Carl Stange: Schleiermachers Glaubenslehre, kritische Ausgabe, 1. (einzige) Abteilung: Einleitung, Leipzig 1910. Heinrici: D. August Twesten 412 (Schleiermacher an Twesten 31. 8. 1829); vgl. unten X V Anm. 20.

XIV

2. Leitfaden und

Einleitung des

Bandherausgebers

Lehrbuch

In der historischen Einführung zur kritischen Edition der ersten Auflage der Glaubenslehre12 wurde deren Entstehung ausführlich an Hand der Quellen dargestellt. Dies braucht hier nicht wiederholt zu werden. Trotzdem ist es nicht ganz vermeidbar, bei der Schilderung der Entstehung der zweiten Auflage, mit der Schleiermachers Arbeit an der Dogmatik ihren abschließenden Höhepunkt erreicht, den Weg vom kurzen Leitfaden zum ausführlichen Lehrbuch und insofern auch die erste Auflage als eine entscheidende Station ins Auge zu fassen. Schon die erste Auflage der Glaubenslehre verfolgte, wie Schleiermacher in der Vorrede ausführte, nicht nur ein einziges Ziel. Er benötigte für seine Vorlesungen einen Leitfaden, den er den Hörern in die Hand geben konnte. Was er aber nunmehr gedruckt vorlegte, war viel ausführlicher:13 Für einen Leitfaden hätte die Reihe der 190 Paragraphen oder Leitsätze — von Schleiermacher selbst meist nur „Säze" genannt - mit oder ohne erläuternde Anmerkungen ausgereicht,14 Schleiermacher wollte sich aber nicht auf den Hörsaal beschränken. Er sah voraus, daß — wie er in der Vorrede fortfuhr — über die Berliner Hörerschaft hinaus „auch noch manche Andere nach diesem Buch als nach einer öffentlichen Rechenschaft über meine Lehrart greifen würden, die ich endlich dem gesammten theologischen Publicum abgelegt hätte"15. Da die kurze Form eines Leitfadens für sich allein diese Rechenschaft nicht hätte liefern könnenwar er gezwungen, die ausführlichen Erläuterungen, die dem Leser den Kathedervortrag ersetzten, gleichfalls drucken zu lassen, so daß ein zweibändiges Lehrbuch entstand. Freilich sollte nun auch dieses umfangreiche Buch wieder im Kolleg Verwendung finden, denn Schleiermacher gab der Hoffnung Ausdruck: „... es soll mir, wenn ich meine dogmatischen Vorträge noch öfter wiederholen kann, ganz bequem sein, das, was in diesem Buch enthalten ist, bei meinen Zuhörern schon voraussezen zu dürfen, und dadurch Zeit zu Erörterungen zu gewinnen, welche sonst unter-

12 13 14

15 16

Vgl. KGA 1/7.1, XV-XXXV. Vgl. KGA 1/7.1, 3,21-27. Ein Beispiel für einen solchen Leitfaden bietet die „Kurze Darstellung des theologischen Studiums", die sich in der 1. Auflage 1811 (KGA 1/6, 243-315) ganz auf die Leitsätze beschränkt, in der 2. Auflage 1830 (KGA 1/6, 317-446) kurze, oft nur aus einem Satz bestehende Erläuterungen hinzufügt. KGA 1/7.1, 3,30. Schleiermacher ging davon aus, daß ein Leitfaden oder Handbuch für sich allein für Außenstehende unverständlich bliebe: „... ein Handbuch ist nur für die Zuhörer denen es in der Vorlesung erklärt wird ..." (Briefe an die Grafen zu Dohna 47; vgl. KGA 1/6, XLVI1I).

Einleitung des

Bandherausgebers

XV

bleiben müssen."17 Er gab seinem Buch den Wunsch auf den Weg, daß es „dazu gereichen möge, wozu es aufrichtig gemeint ist, nämlich zu immer hellerer Verständigung über den Inhalt unseres heiligen Glaubens"n. Diesen Wunsch stellte Schleiermacher in der Vorrede der zweiten Ausgabe an den Anfang.19 Er unterstrich damit, daß das Buch auch in seiner neuen Gestalt aus sich allein heraus verständlich sein soll. Es knüpfte zwar auch jetzt wieder an die Form des kurzen Leitfadens an, und unterteilte den Stoff in diesmal 172 Paragraphen, fügte ihnen aber wiederum gedruckte Erläuterungen bei, die in der Summe noch umfangreicher gerieten als bei der ersten Auflage. Bei den anderen, von Schleiermacher behandelten theologischen Disziplinen ist die Nachwelt auf Vorlesungsnachschriften angewiesen, weil Schleiermacher es in ihnen beim mündlichen Vortrag belassen hatte. Die Dogmatik jedoch war ihm so wichtig, daß er sie nicht nur selbst in den Druck gab, sondern auch noch in einer neu durchgearbeiteten Form selbst zusammenfassen wollte. Im Brief an Twesten vom 31. 8. 1829, auf den unten noch einzugehen ist, schrieb er: „Mein Gefühl sagt mir, daß ich nur noch eine kleine Anzahl frischer Jahre vor mir habe, und da scheint es mir pflichtmäßiger, die noch womöglich zum Schreiben zu verwenden, damit es noch eine Erndte gebe und nicht mein ganzes Feld bloß als Grünfutter abgeschnitten werde. "20 Die erste Auflage erschien ihm also nicht genügend, so daß er erst die zweite Auflage als Ernte ansehen wollte. Als monographische Darstellung und Lehrbuch der Dogmatik hat das Buch denn auch gewirkt. Die in sich schlüssige und vollständige Darstellung des evangelischen Glaubens konnte sehr wohl im Sinne ihres Verfassers in dieser Unabhängigkeit von ihren Entstehungsbedingungen und von ihrer Entstehungsgeschichte gelesen werden. Freilich hält die formale Aufteilung des Textes in „Säze" (Paragraphen, Leitsätze) und „Erläuterungen" die Erinnerung wach, daß erstere den Leitfaden oder das Gerüst der Vorlesung bilden, während die letzteren den Inhalt der Vorlesung über die Leitsätze wiedergeben oder vertreten. Deshalb ist es für das Verständnis der Glaubenslehre zweckmäßig, diese doppelte Wurzel zu beachten. Der aus „Säzen" oder Paragraphen bestehende Leitfaden steht formal relativ selbständig neben den Erläuterungen. Die Erläuterungen wiederum interpretieren die Paragraphen 17

18 19 20

KG A 1/7.1, 4,8. - Die Hoffnung auf öftere Wiederholung fehlt in der Vorrede der zweiten Auflage. KGA 1/7.1, 8,7. Vgl. unten 1,3,5. Heinrici: D. August Twesten 412 f; s. unten XXVII bei Anm. 63.

XVI

Einleitung des

Bandherausgebers

und machen sie für die Externen, die das darüber gelesene Kolleg nicht hören konnten, erst verständlich. Die zweite Auflage der Glaubenslehre ist die abschließende Stufe des Entwicklungsprozesses, den die beiden Formelemente in den 13 Dogmatikvorlesungen, die Schleiermacher von 1804/05 bis 1830 hielt, miteinander erfuhren.21 Als Schleiermacher zu Beginn dieses Prozesses einen Druck erwog, dachte er zunächst nur an einen kurzen, aus Leitsätzen bestehenden Leitfaden. Daß dieser einmal zum Gerüst nicht nur der Vorlesungen, sondern eines gedruckten, ausführlichen Lehrbuchs werden sollte, ergab sich erst verhältnismäßig spät. In seiner frühesten Vorlesung über die dogmatische Prinzipienlehre (Halle 1804/05) stand Schleiermacher noch kein eigenes oder fremdes Buch zur Verfügung, das ihm hätte als Leitfaden dienen können. Ein Jahr später zeigte er an, daß er die Dogmatik lesen wollte im Anschluß an das 1803 erschienene Kompendium von Christoph Friedrich Ammon: Summa theologiae christianae22. Doch scheint die Unterordnung unter einen fremden Gedankenverlauf in ihm den Wunsch geweckt zu haben, den er im Brief vom 1. 12. 1805 gegenüber dem Freund Ehrenfried von Willich äußert: „Durch die Dogmatik komme ich immer mehr auch für das Einzelne ins Reine mit meiner Ansicht des Christenthums, aber ich bin überzeugt, wenn ich nun in ein paar Jahren ein kleines Handbuch drucken lasse, so wird es den Juden ein Aergerniß und den Griechen eine Thorheit sein."2i Schleiermacher faßte also sehr früh, als von einer Monographie noch keine Rede sein konnte, den Plan für einen eigenen Leitfaden, von dessen Besonderheit er eine deutliche Vorstellung hatte, und behielt diesen Plan, auf den er in seinen Briefen bis zum Jahr 181824 oft zu sprechen kam, auch in den folgenden Jahren im Auge. Die Vorlesung vom Sommer 1811 brachte ihn, wie die inzwischen teilweise veröffentlichte Nachschrift der Leitsätze durch August Twesten zeigt,25 ein Stück vorwärts, aber noch nicht ans Ziel. Immer wie-

21 22

23

24 15

Vgl. die Liste KGA 1/7.1, XV f. Christoph Friedrich Ammon: Summa theologiae christianae, Göttingen 1803. - Vgl. KGA 1/7.1, X V und Hans-Friedrich Trauisen: Die Theologie Tochter der Religion. Zu Schleiermachers Auseinandersetzung mit der Dogmatik Christoph Friedrich Ammons. Briefe 4, 44. - Weitere briefliche Erwähnungen des Vorhabens aus dieser Zeit s. KGA 1/7.1, X X . Diese brieflichen Äußerungen sind in KGA 1/7.1, XX-XX1I zusammengestellt. Heinz Zimmermann-Stock: Schleiermachers Christologie nach seiner Vorlesung aus dem Jahr 1811, (Diss.) Kiel 1973, 277-298 (Einleitung) und 299-314 (Soteriologie); Matthias Wolfes: Friedrich Schleiermacher: Einleitung zur Vorlesung über Dogmatische Theologie (Sommersemester 1811) Nachschrift August Detlev Twesten, in: ZKG 109, 1998, 80-99.

Einleitung

des

Bandherausgebers

XVII

der mußte er seine Zeitpläne revidieren. Ein wesentlicher Fortschritt gelang ihm offenbar in der Dogmatikvorlesung vom Sommer 1816. Ihr Ergebnis bestand in einem „Heft", das er auch Nahestehenden in die Hand geben konnte. Am 13. 10. 1817 sandte er es an seinen Freund Ludwig Gottfried Blanc in Halle.26 Vier Monate später forderte er es im Brief vom 21. 2. 1818 dringlich zurück, weil er sich auf die im Sommer beginnende nächste Vorlesung vorbereiten wollteΡ Umfaßte ein „Heft" den bisherigen schriftlichen Niederschlag der Dogmatikvorlesungen, so weist dies auf einen knappen Inhalt und damit allem Anschein nach auf eine Reihe von „Säzen" hin. Hier scheint sich aber während der Vorlesung selbst, die im Wintersemester 1818/19 weitergeführt wurde, eine entscheidende Wandlung vollzogen zu haben. Dies geht aus der folgenden Stelle in dem Brief an Gaß vom 28. 12. 1818 hervor, wo Schleiermacher auf seinen 5 0 . Geburtstag Bezug nimmt, den er am 21. 11. 1818 begangen hatte: „Du hast mich so getriezt, lieber Freund, daß ich nun wirklich meine Dogmatik schreibe, aber freilich auf eine etwas närrische Art und so, daß noch eine ganze Weile drüber hingehen kann. Als ich im Sommer die Einleitung las, dachte ich noch an nichts, und erst im November, in der Aussicht auf meinen Geburtstag dachte ich, er solle mich in einem tüchtigen Werk finden. Ich fing also an, im ersten Theil nachzuarbeiten und zugleich an die Einleitung Hand anzulegen. Als ich aber den zweiten Theil anfing, war ich im ersten bedeutend zurükk, ließ ihn liegen und machte mich an den zweiten. Vom zweiten habe ich nun die erste Hälfte von der Sünde ausgelesen und habe auch im Schreiben nur so viel zurükk, daß ich in dieser Ferienwoche nachkomme. ... Was ich bisjezt gemacht habe, gefällt mir nicht übel: aber es sticht doch gar wunderlich gegen alle andern Dogmatiken ab, und ich glaube, die Leute werden sagen, ich hätte etwas Absonderliches machen wollen, worin sie mir doch sehr Unrecht thun werden; denn ich kann nun eben nicht anders."28 Hier hat offenbar der Schritt vom Leitfaden zum Lehrbuch stattgefunden. Die gewählten Begriffe — Dogmatik, tüchtiges Werk, Nacharbeiten

26

Vgl. Briefe 4, 224. - Eine Vorstellung von Art und Umfang dieses Heftes vermittelt das parallel dazu fortgeschriebene Kompendium zur Ethik, das Schleiermacher 1812 und 1813 brieflich mehrfach zusammen mit dem Kompendium der Dogmatik erwähnte (vgl. KG A 1/7.1, XXI) und das wohl mit der in SW 1/12 „Die christliche Sitte" im Anhang S. 1-101 abgedruckten Beilage Α „Die christliche Sittenlehre 1809" identisch ist. Dieses Heft wurde 1809 angelegt und umfaßt 252 Paragraphen, die in den folgenden Jahren mit kurzen Erläuterungen und Zusätzen erweitert wurden. Es entspricht formal der aus der Nachschrift Twesten zugänglich gewordenen Einleitung der Dogmatik von 1811.

27

Vgl. Briefe 4,231. Briefwechsel mit ]. Chr. Gaß 159.

28

XVIII

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des Gelesenen — weisen darauf hin, daß Schleier mach er nun die Erläuterungen der im „Heft" enthaltenen Leitsätze schriftlich ausarbeitete, während er bei der mündlichen Erläuterung dieser Leitsätze im Sommersemester 1818 „noch an nichts" dergleichen gedacht hatte. Veröffentlichungsreif war das Manuskript damit immer noch nicht. Es bedurfte der weiteren einjährigen Vorlesung im Wintersemester 1820/21 und Sommersemester 1821, um es so umzuarbeiten, daß es gedruckt werden konnte.29 Was aber jetzt schon als „wunderlich" erscheinen konnte, war der Aufbau, der mit den an Melanchthons Lokalmethode anknüpfenden Dogmatiken rings um Schleiermacher nur noch wenig gemein hatte. Als 1821 der erste, 1822 der zweite Band der Dogmatik mit dem Titel „Der christliche Glaube nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt" erschienen war, konnte Schleiermacher endlich seinen Studenten das Kompendium in die Hand geben, das seine nächste Vorlesung entlasten sollte. Seiner Ankündigung der Dogmatikvorlesung im Wintersemester 1823/24 fügte er deshalb hinzu, daß er seinem Buch „Der christliche Glaube" folgen werde,30 und stellte am 18.7. 1823 in einem Brief an Lücke befriedigt fest: „Was sagen Sie aber dazu daß ich nun das Buch da ist nächsten Winter 10 Stunden wöchentlich darüber lesen will, nemlich darüber, ohne das Buch selbst wieder mitzulesen wie Manche thun. Der Himmel gebe mir nur Zeit genug soviel Studien zu machen als ich wünsche um recht viel exquisitoria beizubringen."31 Was er mit „exquisitoria" meinte, wird aus den Randbemerkungen in seinem Handexemplar erkennbar, mit deren Sammlung er sofort begann. Ein solches Handexemplar hatte Schleiermacher schon geplant, als er eben erst mit dem Schreiben der Dogmatik anfing, wobei er schon lange vor dem Erscheinen der ersten Auflage an eine zweite dachte, mit der er freilich, wie er am 9. 1. 1819 an Blanc schrieb, zu seinen Lebzeiten nicht mehr rechnete: „Citirt wird nicht viel, und hier manches für das durchschossene Exemplar aufgespart, das nach meinem Tode zum Grunde der zweiten Auflage dienen kann"31. In Schleiermachers Nachlaß findet sich der erste, offenbar einzig erhaltene Band dieses Handexemplars. Durch die Edition in KG A 1/7.3, 1—207 sind die darin enthaltenen Eintragungen („Marginalien") nunmehr leicht zugänglich. Als Vorbereitung oder Nacharbeit der Dogmatikvorlesung waren sie weiterhin auf den Berliner Lehrbetrieb bezogen und Näheres dazu s. KGA 1/7.1, XXII-XXXII. Vgl. KGA 117.1, XVI; Arndt/Virmond: Schleiermachers Briefwechsel, " Christophersen: Friedrich Lücke, 2, 279; vgl. Briefe 4, 314. 32 Briefe 4, 244. 29 30

SchlA II,

319.

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XIX

notierten für diesen Zweck „erlesene" Zitate. Zugleich dienten sie aber auch der Neubearbeitung des Lehrbuches selbst und geben an vielen Stellen Einblick in die Motive, die schließlich zur Änderung der Disposition oder des Textes der zweiten Auflage führten. Trotz der langen und intensiven Vorbereitungen war Schleiermacher mit dem gedruckt vorliegenden Werk von Anfang an nicht ganz zufrieden. An August Twesten in Kiel sandte er den ersten Band nach dessen Auslieferung und schrieb dazu am 20. 8. 1821: „Was Sie wahrscheinlich in einige Verwunderung setzen wird ist die große Redseligkeit des Buches. Ich weiß nicht, steckt das Alter dahinter oder die Eile oder auch, daß Lesen33 und Schreiben zu nahe in einander geflossen sind. Ich kann aber nicht anders als den zweiten Theil in derselben Art auszuarbeiten, und muß mich mit der Hoffnung begnügen, wenn ich eine zweite Auflage erlebe, alsdann hier manches wegzuschneiden und dafür manche comparative Ausführungen hinzuzufügen, wozu ich in der Zwischenzeit nach Vermögen sammeln will."34 Hier wurde also gleich beim Erscheinen des ersten Bandes der ersten Auflage und noch während der Entstehung des zugehörigen zweiten Bandes daran gedacht, das Ganze für eine zweite Auflage neu zu bearbeiten. Obwohl es vorderhand dafür noch keinerlei Bedarf gab, verlor Schleier mach er, wie aus verschiedenen brieflichen Äußerungen hervorgeht, den Gedanken daran nicht aus den Augen. Allerdings schob sich die Fortsetzung der Piatonübersetzung, bei der sich Schleiermacher nun auf den Teilband „Der Staat" konzentrierte, vor die Neubearbeitung der Dogmatik. Im Juni 1825 schrieb er an Alexander Graf zu Dohna: „Mein geringer Uberschuß von Zeit ist jezt übrigens dem Piaton gewidmet; ich will ... wenigstens die Republik ans Licht fördern um meinen guten Willen zu zeigen. Zugleich soll ich die zweite Ausgabe der Dogmatik baldmöglichst fördern und bin also sehr beschäftigt."35 Das Wort „soll" klingt nicht nur nach eigenem, sondern auch nach fremdem Antrieb. Tatsächlich machte sich jetzt schon, wie aus dem Brief an Lücke vom 20. 8. 1825 hervorgeht, der Verleger bemerkbar: „Für jetzt bin ich da die 2. Auflage des Plato nun die erste eingeholt hat wieder zur Republik gegangen, und will sehn ob es mir gelingt sie hinter einander fertig zu arbeiten und dann werde ich an die zweite Ausgabe der Dogmatik gehen müssen um die Reimer schon lange gequält."36 Ahnlich lautet es drei Wochen später im Brief an

33 34 35 36

Gemeint ist die Vorlesung Dogmatik 1. Teil "Wintersemester 1820/21. Heinrici: D. August Twesten 370. Briefe an die Grafen zu Dohna 81 f. Christophersen, Friedrich Lücke 2, 292; vgl. Briefe 4, 337. Im Jahr 1825 kündigte Verleger schon eine Neuauflage an.

der

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Einleitung des

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Twesten vom 8. 9. 1825: „Dann wartet Keimer schon auf die Revision der Dogmatik, an die ich aber doch erst im Sommer kommen werde ... "37 In diesem Brief gab Schleiermacher auch seiner Hoffnung Ausdruck, daß der geplante Druck von Twestens Dogmatikvorlesung ihm Anregungen verschaffen würde: „Ihre dogmatischen Vorlesungen, hoffe ich, werden noch erscheinen ehe ich an die zweite Auflage gehe, und mir soll alles höchst willkommen sein was Sie mir zu beherzigen geben; ich wünsche aber besonders auch, daß Sie einmal Zeit fänden, da ich doch voraussetzen darf, daß Sie mit dem Buch genau bekannt sind, mir eine Reihe von Monitis zum Behuf der zweiten Auflage zukommen zu lassen. Ich selbst finde manches zu weitschweifig, manches nicht klar genug, und denke, daß Sie das noch an vielen Stellen gefunden haben, an denen ich es nicht gewahre, und eine solche Hilfsleistung würde mich zum größten Dank verpflichten. Da ich noch nicht absehen kann, daß ich bis Ostern mit der Republik fertig sein könnte, so haben Sie gut und zwar bis zu Pfingsten Zeit; und ich wollte, daß Sie sich meine Bitte recht ans Herz gehen ließen." Und mit einem Seitenblick auf die Rezensionen der ersten Auflage fuhr er fort: „... und so ist mir bis jetzt noch wenig Gutes geschehen — was ich um so mehr bedauere als die zweite Hand, die ich an das Werk lege, doch gewiß auch die letzte sein wird und ich doch nicht füglich noch länger warten kann."3S Wieder ein Jahr darauf ist Schleiermacher noch nicht viel weiter gekommen. Das Pfingstfest war verstrichen, ohne daß die Arbeit an Piatons Staat abgeschlossen werden konnte. Am 18. 8. 1826 schrieb Schleiermacher wiederum an Twesten: „Sie geben sich zwar viel Mühe, lieber Freund, mir etwas Sicherheit einzuflößen über meine Arbeit für die zweite Ausgabe, und das ist ein großes Verdienst, aber ganz ist das geheime Grauen, das ich davor habe, noch nicht überwunden. Sie würden mich vielleicht auslachen, wenn ich Ihnen das so sagen könnte aber ich wollte nur, ich hätte Sie hier und könnte Sie immer um Rath fragen. Diesen Winter wird nun wohl nichts werden, als daß ich die Republik fertig mache, und im Sommer hoffe ich dann ernstlich drüber zu gehen, damit hernach mit Gottes Hülfe neue Dinge gefördert werden können."*9 Daß der Winter 1826/27 durch die Arbeit an Piaton ausgefüllt war, geht auch aus einem Brief an Gaß hervor, von dem nur das Jahr 1827, nicht aber Monat und Tag bekannt ist. Es heißt dort: „Nun mache ich erst die Republik fertig, deren neuntes Buch endlich absolvirt ist; dann 37 38

39

Heinrici: D. Heinrici: D. von Braniß, Heinrici: D.

August Twesten 382. August Twesten 382 f ; der letzte Satz bezieht sich auf die Rezensionen Ratze, Wähner und Bretschneider, die Schleiermacher enttäuscht haben. August Twesten 388.

Einleitung des

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muß ich doch an die Dogmatik denken, die ich nächsten Winter lesen will auch ohne Compendium."40 Die Wendung „im nächsten Winter" läßt darauf schließen, daß der Brief in der ersten Hälfte des Jahres 1827 geschrieben wurde. Er weist auf die geplante Dogmatikvorlesung im Wintersemester 1827/28 hin und steuert dazu die Information bei, daß Schleiermacher sich darauf einrichten mußte, vor Hörern zu lesen, die kein Kompendium vor sich liegen haben. Offenkundig war die erste Auflage der Glaubenslehre vergriffen. Auch in Tübingen scheint sie gefehlt zu haben. Denn David Friedrich Strauß, der sich um dieselbe Zeit mit Schleiermacher zu beschäftigen begann, mußte sich des Reutlinger Nachdrucks bedienen.41 Eine zweite Auflage der Glaubenslehre wurde dadurch auch für den Lehrbetrieb der Universität erforderlich. Noch im Sommer wollte Schleiermacher die Arbeit daran aufnehmen und erhoffte sich dafür, wie er am 31. 3. 1827 aufs neue an Twesten schrieb, Hilfe und Anregung aus dem zweiten Teil von dessen Dogmatik: „Wäre nur der zweite Theil da, ehe ich an die zweite Auflage der Dogmatik zu gehen brauchte ... Doch hoffe ich endlich in der ersten Sommerhälfte mit der Republik fertig zu werden; und dann muß ich gleich an die zweite Ausgabe der Dogmatik gehen."41 Daß diese Zeitplanung schwer durchzuhalten war, weil sich zwischen die laufenden Pflichten noch dienstlicher Arger eindrängte, beklagte Schleiermacher am Ende des Sommersemesters im Brief an Lücke vom 22. 8. 1827: „Jetzt brauche ich jede Minute zum Plato um den endlich um einen Band weiter zu fördern, und dann muß ich an die 2te Ausgabe der Dogmatik gehen. Nehmen Sie nun alles übrige und die immer wieder eintretende liebenswürdige Correspondenz mit Ministerium und Consistorium ... hinzu: wie kann ich noch irgend etwas versprechen?"43 Die Tatsache, daß die erste Auflage vergriffen war, bewog offenbar den Verleger Georg Reimer im Frühherbst 1827, noch energischer auf eine zweite Auflage zu dringen. Dies scheint ihm auch deswegen eilbedürftig gewesen zu sein, weil er wohl schon zu dieser Zeit Kenntnis davon hatte, daß die J. J. Mäcken'sche Buchhandlung in Reutlingen (Württemberg) einen Nachdruck der ersten Auflage der Glaubenslehre veranstaltete, der dann 1828 auf dem Buchmarkt erschien. Um einen

40 41

42 43

Briefe 4, 385. Vgl. Gotthold Müller: Identität und Immanenz. Z-ur Genese der Theologie Friedrich Strauß, Zürich 1968, 87 Anm. ß. - Zum Reutlinger Nachdruck 1/7.1, LVUlf. Heinrici: D. August Twesten 399. Christophersen: Friedrich Lücke 2, 308 (Datierung nach Christophersen); 4, 388.

von David vgl. KGA

vgl.

Briefe

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Einleitung

des

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Raubdruck der zweiten Auflage rechtzeitig zu verhindern, leitete Reimer die nötigen Schritte zum Schutz des Urheberrechtes im Königreich Württemberg ein,44 Daß Reimer in keinem andern nichtpreußischen deutschen Staat um Schutz nachsuchte, ist wohl durch den Reutlinger Nachdruck, darüber hinaus aber durch die in Württemberg damals noch geltenden rechtlichen Regelungen zu erklären, die das Nachdruckwesen begünstigten. Reimer stellte den Antrag bei der württembergischen Regierung nicht selbst, sondern bediente sich der Vermittlung eines in Stuttgart wohnhaften angesehenen Juristen: des Obertribunalkurators Christian Albert Schott*5 Dieser hatte sich 1821 - wenngleich erfolglos - in der württembergischen Abgeordnetenkammer für ein Nachdruckverbot eingesetzt und war dadurch wohl auch in den Kreisen der geschädigten Verleger bekannt geworden.46 Schott beantragte am 1. 10. 1827 im Namen des Verlegers Georg Reimer beim württembergischen König ein Privilegium für sechs Jahre als Schutz gegen einen eventuellen Nachdruck. Offenbar hatte Reimer schon im Herbst 1827 mit dem baldigen Erscheinen der zweiten Auflage gerechnet, da der Antrag so formuliert war, daß die Sechs-Jahres-Frist sofort beginnen sollte. Daß das Privilegium erst am 19. April 1828 gewährt wurde, war durch die von Reimer nicht vorhersehbare Rückfrage betr. Umfang und Preis bedingt. Denn der Stuttgarter „Studienrath", der als Hochschulbehörde vom zuständigen Innenministerium gutachtlich herangezogen wurde, hatte bei der ersten Auflage den seiner Meinung nach zu hohen Preis von 9 Gulden bemängelt und in diesem die Ursache des Reutlinger Nachdrucks von 1828 gesehen.47 Schott brachte in Berlin in Erfahrung, daß die neue

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Die Einzelheiten nach den archivalischen Quellen, die im Hauptstaatsarchiv Stuttgart aufbewahrt sind (Signatur: Ε 146/1, Ministerium des Innern, Bü 5220); s. unten 2, 3-5 und Sachapparat. Christian Albert Friedrich Schott, geb. 30. 4. 1782 in Sindelfingen, gest. 6. 6. 1861 in Stuttgart, 1803 Studium der Rechtswissenschaften in Tübingen, 1803 Examen und Promotion, 1806 Rechtsanwalt in Stuttgart, 1818 Obertribunalkurator (Staatsanwalt), Landtagsabgeordneter (mit Unterbrechungen), 1848 Abgeordneter in der Frankfirter Nationalversammlung; ADB 32, 395-397; Frank Raberg: Biographisches Handbuch der württembergischen Landtagsabgeordneten 1815-1933, Stuttgart 2001, 829 f. - Bei seiner Herbstreise nach Süddeutschland 1830 traf Schleiermacher laut Tagebucheintrag vom 30. 9. 1830 (SN 450) am Vormittag kurz vor seiner Abfahrt aus Stuttgart mit Schott zusammen. Vgl. Hans Widmann: „Die Krisis des Deutschen Buchhandels". Bemerkungen zu Apologie für den Büchernachdruck aus dem Jahre 1815, in: Gutenberg-Jahrbuch 257-261, 261; dort weitere Informationen und Literatur, insbesondere zu der im genannten Apologie des Nachdrucks aus der Feder und dem Verlag von Johann Macken in Reutlingen. Den Vorsitz im Studienrat führte damals Oberkonsistorialrat Friedrich Gottlieb

einer 1968, Titel Jakob Süs-

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Auflage statt 70 nur 60-65 Bogen umfassen und daß der Preis statt 9 Gulden 20 Kreuzer nur zwischen 6 Gulden 40 Kreuzer und 8 Gulden liegen sollte.49 In dieser Nachricht spiegelt sich offenbar der Stand des Gesprächs zwischen Autor und Verleger, bei dem Schleiermacher den festen Vorsatz vertrat, sich in der zweiten Auflage erheblich kürzer zu fassen als in der ersten. Im Wintersemester 1827/28 las Schleiermacher die Dogmatik fünfmal in der Woche je zwei Stunden. Wenn Reimer gehofft haben sollte, daß dabei das Druckmanuskript für die zweite Auflage entstünde, muß er enttäuscht gewesen sein. Denn nach Ende der Vorlesung schrieb Schleiermacher an Karl Heinrich Sack am 11.4. 1828: „Ich muß nun mit Macht an die zweite Ausgabe meiner Glaubenslehre gehen. ... Auch diese Arbeit ist mir nicht erfreulich. Denn was hilft alles Schreiben wenn niemand lesen kann ? Ich wollte gern die Schuld allein an mir suchen, daß ich nämlich wie ich sehr gern zugebe auch nicht schreiben kann. Aber die Fälle kommen nur zu häufig wo das Gegentheil von dem was man als meine Behauptung aufstellt mit gar zu klaren Worten dasteht. Indessen es muß doch gemacht sein und wird mir eine Menge Mühe und Arbeit kosten."49 Offenbar bekümmerten ihn die Mißdeutungen der Rezensenten desto stärker, je näher er den Formulierungen kam, die sie für künftig ausschließen sollten. Sichtlich hatte sich Schleiermacher um diese Zeit die mittlerweile schon angejahrten Besprechungen wieder vorgenommen, um in irgend einer Form auf sie einzugehen. Im Sommer 1828 war Schleiermacher mit Vorlesungen über das Matthäusevangelium, über die Praktische Theologie und die Dialektik ausgefüllt. Erst im Herbst kehrte er zur Dogmatik zurück, wobei er sich jedoch inzwischen entschlossen hatte, alle Erwiderungen, zu denen er sich durch Rezensenten herausgefordert fühlte, in den beiden Sendschreiben an Lücke vorwegzunehmen und die Glaubenslehre dadurch zu entlasten. Der ihm nahestehende Friedrich Lücke hatte ihn zur Mitarbeit an der neuen Zeitschrift „Theologische Studien und Kritiken" eingeladen. Nach kurzem Zögern benutzte Schleiermacher diese Gelegenheit, sich der unfruchtbaren Auseinandersetzung mit den Mißver-

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kind, von dem die „Kurze Zusammenstellung der Hauptsätze der christlichen Glaubenslehre von Schleiermacher" stammt (KGA 1/7.1, L1V). Diese Beschäftigung mit der ersten Auflage der Glaubenslehre scheint auch den Anlaß für die umständliche Rückfrage nach dem Buchpreis zu bilden (s. unten 2, 3,1 Sachapp.), die ein gewisses Verständnis für die Motive des Nachdruckers verrät. So der Brief Schotts an das Königliche Ministerium des Innern 2. 4. 1828, Hauptstaatsarchiv Stuttgart: Ε 146/1, Ministerium des Innern, Bü 5220-4, S. 7; vgl. unten 2, 3,1 Sachapp.. Briefe an einen Freund (ed. Seifert) 31; Briefe 4, 388 f .

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Einleitung des

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ständnissen der Besprechungen auf elegante Weise zu entledigen und zugleich noch einige deutliche Akzente zu setzen, mit denen er den Lesern der zweiten Auflage seiner Glaubenslehre die Augen schärfen wollte. Am 21.8. 1828 kündigte er dem Verleger der „Theologische Studien und Kritiken", Friedrich Perthes, sein Vorhaben an; am 6. 12. 1828 war das erste Sendschreiben abgeschlossen, am 14. 4. 1829 das zweite.50 In den beiden Sendschreiben an Lücke51 bereitete Schleiermacher die Leser auf die zu erwartenden Veränderungen vor. Den Durchgang durch die Rezensionen benutzte er dazu, die Disposition der Glaubenslehre schärfer herauszuarbeiten. Weil sich an der Einleitung besonders viele Mißverständnisse entzündet hatten, sah er sich genötigt, durch Umgruppierung und verdeutlichende Zwischenüberschriften zu unterstreichen, daß er dort nur eine Hinführung zur Dogmatik hatte geben wollen, nicht aber einen Teil von ihr selbst. Wie an der Synopse der Paragraphen beider Auflagen anschaulich wird, gestaltete er dann auch den Aufbau der Einleitung völlig neu, um die innere Struktur des Gedankengangs klarer zum Ausdruck zu bringen. Dabei verließ er die in der Dogmatikvorlesung vom Wintersemester 1823/24 vorgetragene Disposition52 und gestaltete sie völlig neu. Daß § 1 den Eindruck erzeugt hatte, mit ihm begänne die Glaubenslehre selbst, betrachtete Schleiermacher nun seinerseits als nachteilig,53 so daß er ihn als § 19 ans Ende der wissenschaftstheoretischen Eingrenzung des Begriffs Dogmatik versetzte. Außerdem unterstrich er in den eingefügten Überschriften, daß bei dieser Eingrenzung „Lehnsätze" aus benachbarten Wissenschaften herangezogen werden, deren Verhältnis zur Dogmatik er u.a. in der „Kurzen Darstellung" entwickelt hatte. Waren damit die Rezensionen erledigt und die wichtigsten Veränderungen der zweiten Auflage begründet, so mochte Schleiermacher sich doch die Gelegenheit nicht entgehen lassen, im Zweiten Sendschreiben zwei Erwägungen mitzuteilen, die er offenbar als Hintergrundinformation bei den Lesern für wichtig hielt. Die erste Erwägung betrifft den Aufbau der Glaubenslehre selbst, in welcher der 1. Teil mit der Darstellung des frommen Selbstbewußtseins abgesehen vom Gegensatz Sünde!Gnade und der 2. Teil mit den beiden Seiten Sünde und Gnade eine Klimax bilden. Da erst die Zusammenschau aller Teile das Ganze des christlichen Glaubens erkennen lassen, wäre auch die umgekehrte Reihenfolge der Beschreibung vom Bestimmteren zum UnbeVgl. KG Α 1/10, LXX-LXXIII. KG A 1/10, 307-394. 52 Vgl. unten 2, 533. " Vgl. KG A 1/10, 377. 50 51

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stimmteren (Antiklimax) möglich gewesen. Trotzdem hielt Schleiermacher am bisherigen Aufbau fest, weil sonst der erste Teil mit der Lehre von Schöpfung und Erhaltung und der korrespondierenden Gotteslehre zu kurz abgehandelt worden wäre. Hier stand für ihn nämlich das Verhältnis des Glaubens zur Naturwissenschaft und zur Geschichtswissenschaft auf dem Spiel, wobei er nicht nur an die wissenschaftlich Gebildeten dachte, sondern an das Volk insgesamt, dem die Resultate der Wissenschaft nicht unbekannt bleiben würden. Er trat den konservativeren zeitgenössischen Theologen entgegen, die sich anschickten, die rationalistische Richtung wegen ihrer Offenheit für diese Resultate als unchristlich zu diffamieren und aus der Kirche hinauszudrängen. Indem er die scheinbar eindeutige Grenze zwischen Natürlichem und Übernatürlichem neu bestimmte, konnte er das Thema „Wunder", an dem Rationalisten und Supranaturalisten sich ineinander verbissen hatten, so lösen, daß die berechtigten Interessen beider Kontrahenten gewahrt blieben, ohne daß es zu Verwicklungen mit der Wissenschaft kommen mußte. Die zweite Erwägung betraf die drei Darstellungsformen der Dogmatik. Schleiermacher gestand ohne Scheu seine Neigung, nur noch die Grundform der Sätze über das Selbstbewußtsein beizubehalten und sowohl die Sätze über Gott als auch die Sätze über die Welt als Nebenformen wegzulassen. Da in allen drei Formen jeweils das Ganze der Dogmatik zu finden ist, hätte inhaltlich nichts gefehlt. Schleiermacher war sich aber im klaren, daß für diese wünschenswerte Endfassung die Zeit noch nicht gekommen war. Die Glaubenslehre würde sich zu unvermittelt aus dem wissenschaftlichen Gespräch und der kirchlichen Redeweise herauslösen, da dort — wenn auch weniger bewußt und geordnet — alle drei Formen benutzt würden. Dem zweiten Sendschreiben lief nun endlich auch die Arbeit am Manuskript der zweiten Auflage parallel, wie aus dem Brief vom 7. 2. 1829 an Gaß hervorgeht: „An die zweite Ausgabe der Dogmatik bin ich nun endlich gekommen. Nebenbei schreibe ich noch einen Aufsatz darüber an die Studien [und Kritiken], von dem Du bald den Anfang sehen sollst. "54 Möglicherweise hatte die Veröffentlichung der beiden Sendschreiben die größten Schreibhindernisse so weit beseitigt, daß die Neufassung der Einleitung in Angriff genommen werden konnte. Auch ins Tagebuch trug Schleiermacher unter dem Datum 19. 2. 1829 ein: „Dogmatik und Gesangbuch"55, wobei er mit letzterem die aufwendige Mitarbeit in der Kommission der Berliner Geistlichen meinte, die ein neues Gesangbuch vorbereitete. 54 55

Briefwechsel mit J. Chr. Gaß 209. S N 449 Tagebuch 1829, 19. Februar.

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Im Sommersemester 1829 las Schleiermacher jeweils fünfstündig über die „theologische Encyklopädie", über die „Einleitung in das Neue Testament" und über die „Lehre vom Staat".56 Damit war er bis Ende August doch wohl stärker gefordert, als daß er auch noch viel Zeit und Gedanken für die Glaubenslehre hätte erübrigen können. Im Tagebuch vermerkte er am 4. 5. 1829, dem ersten Vorlesungstag: „Alle 3 Collegia angefangen; etwas Dogmatik"57, wobei schon die Formulierung andeutet, daß die Dogmatik wohl hintanstehen mußte. So klagte er gegenüber Gaß am 30. 5. 1829: „Mit der Dogmatik geht es schauderhaft langsam ,.."58 Doch war er sich bewußt, daß die Einleitungsparagraphen größere Eingriffe verlangten als die dann folgende eigentliche Dogmatik, der er im selben Brief mit größerer Zuversicht entgegensah: „Habe ich nur erst die Einleitung hinter mir, dann denke ich, soll es rascher gehen." Uber Pfingsten zehrten die pfarramtlichen Pflichten, wie er am 8. 6. 1829 an Jonas schrieb, die wenigen vorlesungsfreien Tage fast auf: „... da wird also von diesen sogenannten Ferien nicht viel für die Dogmatik abfallen."59 Eigentlich hatte ja Schleiermacher die Neubearbeitung knapper fassen wollen. Wie wenig es ihm gelang, bekannte er später in dem Brief an Bleek vom 23. 4. 1830: „Die Einleitung mußte einmal umgeschrieben werden, und so war ich im Zuge. Ich sah auch wol daß wenn ich abkürzen wolle ich umschreiben müsse. Mit dieser Absicht fing ich jeden Abschnitt an, aber aus dem Abkürzen wurde immer nichts, beim Umschreiben aber blieb es. Ob nun die neue besser ist als die alte, darüber habe ich im Augenblick wenigstens kein Urtheil, will aber das beste hoffen. Wenn ich einen einzelnen Bogen vornehme, so kommt mir doch alles etwas klarer, leichter und weniger unbeholfen vor; und das halte ich für ein gutes Zeichen ... "60 Das Umschreiben war freilich neben der sonstigen Arbeit mehr als mühsam. Unmittelbar nach Ende des Sommersemesters, am 31.8. 1829, schrieb er an Twesten: „Ich will aber nun auch von heute an ... so ernsthaft als möglich an die Dogmatik; bisher hat es mir gar nicht gelingen wollen. Ich habe den ganzen Sommer über etwa nur vierzehn Paragraphen der Einleitung in Ordnung gebracht."61 Entsprechend heißt es im Tagebuch unter dem 1. 9. 1829: „Dogmatik angefangen."61

56 57 58 59 60 61 62

Arndt/Virmond: SchlA 11, 325 f. SN 449 Tagebuch 1829, 4. Mai. Briefwechsel mit ]. Chr. Gaß 214. Nachlaß Jonas (NJ) 8. 6. 1829. Briefe 4, 397. Heinrici: D. August Twesten 412. SN 449 Tagebuch 1829, 1. September.

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Twesten, der selbst sein Dogmatikkolleg für den Druck ausarbeitete, hatte ihm brieflich gestanden, daß Vorlesungen für ihn mehr Reiz hätten als die schriftstellerische Arbeit. Darauf erwiderte Schleiermacher in dem genannten Brief: „Es ist lange mein Fall auch gewesen, aber nun fange ich an umzusatteln. Mein Gefühl sagt mir, daß ich nur noch eine kleine Anzahl frischer Jahre vor mir habe, und da scheint es mir pflichtmäßiger, die noch womöglich zum Schreiben zu verwenden, damit es noch eine Erndte gebe und nicht mein ganzes Feld bloß als Grünfutter abgeschnitten werde. Aber die Sache ist leider schwierig, ich müßte alle meine Aemter aufgeben und mich — natürlich außerhalb Berlin — ganz zur Ruhe setzen, und ich werde wol noch eine Weile darüber laboriren, wie das am besten einzuleiten ist."6i An eine Aufgabe der Ämter (Universität, Akademie, Pfarramt, Armendirektion, Gesangbuchkommission) war natürlich ebensowenig zu denken wie an den Rückzug in die Einsamkeit. Es blieb nur der Ausweg, mit der verfügbaren Zeit zu geizen. Ein Beispiel liefert der Tagebucheintrag vom Sonntag, dem 20. 9. 1829: „Frühpredigt. Communion. Dogmatik."64 Eine Reise nach Preußen hätte zu viel Zeit verschlungen, so daß Schleiermacher am 5. 9. 1829 seine Absage an Alexander Graf zu Dohna damit begründete: „... ich muß in den Ferien noch recht tüchtig an meiner Dogmatik arbeiten, damit sie wo möglich doch im künftigen Jahre wieder gedruckt werden könne."65 Die vorlesungsfreie Zeit war ohnedies kurz genug, denn am 26. 10. 1829 begann das Wintersemester, für das Schleier mach er ein vierstündiges Kolleg über den „ersten Brief Pauli an die Korinther" und ein fünfstündiges über das „Leben Jesu" angekündigt hatte.66 Am 26. 10. 1829 trug Schleiermacher ins Tagebuch ein: „Beide Vorlesungen angefangen."67 Am 29. 10. 1829 starb Schleiermachers neunjähriger Sohn Nathanael an Scharlach. Dies war ein betäubender Schlag für den Vater. Am 12. 11. 1829 schrieb er an Gaß: „... das Leben geht seinen alten Zug fort, nur freilich geht alles langsamer und schwerer. ... Meine Dogmatik ... ist durch unser Unglükk sehr in Rükkstand gekommen. Indeß hoffe ich doch noch in diesem Jahre mit dem ersten Theil fertig zu werden. "68 Da Schleiermacher „mit dem ersten Theil" wohl den ersten Band meinte, erwies sich diese Planung als viel zu optimistisch. Die

Heinrici: D. August Twesten 412. μ SN 449 Tagebuch 1829, 1. September. 65 Briefe an die Grafen zu Dohna 87. 66 Vgl. Arndt/Virmond: Sehl A 11, 326. 67 SN 449 Tagebuch 1829, 26. Oktober. 68 Briefwechsel mit J. Chr. Gaß 219. 63

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Einleitung des

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Gründe dafür nannte er im gleichen Briefe selbst: „Bis jetzt ist noch kein Paragraph ganz stehen geblieben wie er war, sondern ich schreibe alles durchaus neu. In der Sache bleibt freilich alles dasselbe. Leider beschäftigen mich meine zwei Collegia auch mehr als billig ... Darum kann ich nicht daran denken, mit dem zweiten Theil der Dogmatik Ostern fertig zu werden."69 Die Vorlesungen des Wintersemesters, die erst am 26. 3. 1830 enden sollten, nahmen ihn also doch stärker in Anspruch, als er gerechnet hatte. Hinzu kam die nachhaltige Trauer über Nathanael. Selbst die Weihnachtstage brachten keine Entlastung. Unter dem 27. 12. 1829 findet sich der Tagebucheintrag: „Sonntag Frühpredigt hernach wenig Nuzen. Nachmittag wie an den folgenden Tagen Dogmatik mit mehrfachen Unterbrechungen."70 Zwar konnte er unter dem 9. 1. 1830 feststellen: „Den zweiten Abschnitt in der Dogmatik beendigt"71, womit er den zweiten Abschnitt des ersten Teils (§56) meinte. Aber die Vorlesungen nahmen noch fast das ganze erste Viertel des neuen Jahres ein. Erst am 26. 3. 1830 konnte er erleichtert ins Tagebuch schreiben: „Leben Jesu [mit der] 92. und 1. Cor [mit der] 86. [Stunde] abgeschlossen."72 Die Vollendung des zweiten Bandes bis Ostern hatte Schleiermacher ursprünglich deswegen angestrebt, weil er im Sommer semester 1830 über die Dogmatik im ganzen lesen und dabei beide Bände in der Hand der Hörer wissen wollte. Aber nicht einmal der erste Band sollte bis Ostern (11.4. 1830) verfügbar sein. Neben der Belastung durch Vorlesungen und Pfarramt ist ein weiterer Grund für die Verzögerung in der Arbeitsform zu suchen, deren Zeitbedarf Schleiermacher bei einem Werk dieses Umfangs wohl schwer abschätzen konnte. Auch dort, wo nicht so viel Änderungen wie in der Einleitung nötig waren, schrieb er doch alles um. Die Randbemerkungen des Handexemplars der ersten Auflage, von dem der erste Band erhalten geblieben ist,73 dokumentieren den Anfang des Prozesses der Neufassung, in die auch die Ergebnisse der zwischenzeitlichen Vorlesungen eingingen. Aber auch die dortigen Notizen gaben bei Zusätzen oder Umgruppierungen nur Aufgaben vor und überließen die Mühe der Formulierung ganz der abschließenden Niederschrift. Doch nicht genug damit, denn in den ersten Monaten des Jahres 1830 mußten auch die Korrekturen des ersten Bandes bewältigt werden.

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Briefwechsel mit J. Chr. Gaß 219. SN 449 Tagebuch 1829, 27. Dezember. SN 450 Tagebuch 1830, 9. Januar. SN 450 Tagebuch 1830, 26. März. Vgl. KG A 1/7.3, 1-207.

Einleitung des Bandherausgebers

XXIX

Hinzu kam eine Kontroverse, die sich schon längere Zeit angebahnt hatte. Wenn Schleiermacher gehofft hatte, sich durch die beiden Sendschreiben an Lücke einen inneren Freiraum zu schaffen, so sah er sich auch darin Anfang des Jahres 1830 getäuscht. Sein Berliner Kollege Ernst Wilhelm Hengstenberg, der seit 1827 die Evangelische Kirchenzeitung herausgab und darin die durch Claus Harms in seinen 95 Thesen 1817 gewiesene Richtung verfolgte, hatte seine Leser schon im Laufe des Jahrgangs 1829 durch polemische Artikel darauf eingestimmt, den Rationalismus als Feind des Christentums zu erweisen und aus der Kirche hinauszudrängen. Im Dezember 1829 veröffentlichte er unter dem Titel „Uber Schleiermacher. (Auch ein Sendschreiben.)"7* einen anonymen Gegenartikel gegen das Zweite Sendschreiben an Lücke, und benutzte darin Schleiermachers Haltung zu den außertheologischen Wissenschaften und seine Verteidigung des Rationalismus dazu, ihn selbst in die Nähe dieser Richtung zu rücken.75 Gleich zu Anfang des neuen Jahres schob er einen zweiten, ebenfalls anonym erscheinenden Artikel nach: „Uber Dr. Schleiermacher's Behauptung der Unkräftigkeit und Entbehrlichkeit der messianischen Weissagungen."76 Beide Artikel waren nach Inhalt, Niveau und Stil so beschaffen, daß Schleiermacher sich zunächst selbst bereden konnte, sie ignorieren zu wollen, zumal ihn in diesem Winter wichtigere Geschäfte drängten. Nicht mehr so gleichmütig nahm er die unmittelbar danach erscheinende Mitteilung hin, die im Januar 1830 unter der Rubrik „Nachrichten" wiederum anonym abgedruckt war: „Der Rationalismus auf der Universität Halle. "77 Diese Nachricht stammte aus der Feder eines Mitbegründers und Förderers der Evangelischen Kirchenzeitung, des Direktors des Landgerichts Halle Ludwig von Gerlach, und enthielt eine unverhüllte Denunziation der Professoren Gesenius und Wegscheider mit dem Ziel, den Staat zum Einschreiten gegen diese ungläubigen Rationalisten zu veranlassen. Daß damit auch Schleiermacher getroffen werden sollte, war zumindest die Auffassung von dessen Berliner Kollegen August Neander, der seit der Gründung bei der Evangelischen Kirchenzeitung mitgearbeitet hatte, nun aber aus Protest gegen deren

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Evangelische Kirchenzeitung 1829, Nr. 97-100 vom 5.-16. 12.; vgl. die ausführliche Darstellung dieser Vorgänge KGA 1/10, LXXIXff. und die dort genannte Literatur. Hier ist nur darauf hinzuweisen, um Art und Ausmaß der zusätzlichen Belastungen zu illustrieren, die das Werden der Glaubenslehre begleiteten. Näheres dazu s. KG A 1/10, LXXIXf. Evangelische Kirchenzeitung 1830, Nr. 3f vom 9. und 13. 1.; dazu KGA 1/10, LXXXf. Evangelische Kirchenzeitung 1830, Nr. 5 f vom 16. und 20. 1. - Über den „Hallischen Theologenstreit" vgl. KGA 1/10, LXXX1X-XC1I.

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Einleitung des

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Grundsätze sich durch eine öffentliche Erklärung78 förmlich von ihr lossagte. Noch mitten in der Arbeit am ersten Band der Glaubenslehre — am 14. 3. 1830 - schrieb Schleiermacher an Jonas, wobei die Wortwahl offenbart, daß er sich nur mühsam zügeln konnte: „Was es hier für Händel aller Art giebt von dem ungewaschenen Gewäsch über mein Sendschreiben an und dem polemischen Geklatsch was mir auch den heiligsten Schmerz verbittern wollte bis zu den Gesangbuchhändeln und den verfolgungssüchtigen Angebereien in der Kirchenzeitung und wie sich unser Neander als ein tapfrer Kämpe gestellt hat — sein leztes erst Gestern erschienenes Wort habe ich selbst noch nicht gesehn — ich weiß nicht wieviel Du davon weißt; aber Du kannst Dich auf jeden Fall glüklich preisen daß Du weit davon bist. Nicht als ob ich für meine Person es mich sehr anfechten ließe Gott sei Dank daß ich darüber hinaus bin. Es ist auch diesmal nicht sehr schwer; denn was mich persönlich betrifft ist zu schwach als daß ich in Versuchung gerathen könnte mich irgend in Bewegung zu sezen ... "79 Er vermied es deshalb, sich in der Glaubenslehre auf diese Vorgänge zu beziehen. Der Sache nach freilich verstärkte er seine Argumentation, indem er die Grenzen des Christlichen so beschrieb, daß Raum bleibt für die Formeln beider Parteien und daß keine ein Recht geltend machen kann, die andere aus der Kirche auszuschließen. Damit entzog sich Schleiermacher auch dem Drängen August Twestens, der ihm zwar als Schüler sehr nahe stand und später in Berlin sein Nachfolger wurde, in Kiel aber sichtlich sich dem Einfluß von Claus Harms nicht entziehen konnte. Twesten hatte Schleiermacher am 9. 10. 1829 im Blick auf die beiden Sendschreiben an Lücke geschrieben: „Was aber die Rationalisten betrifft, so gebe ich den Namen gerne preis; daß aber diejenigen, welche wie Röhr, Wegscheider und ihres gleichen denken, eine Partei bilden, mit der sich kein Vergleich schließen läßt, die in den wesentlichsten Stücken Ihrer, wie jeder wirklich evangelischen Ansicht entgegengesetzt ist, gegen die man nicht anders als ausschließend verfahren kann, wie sie es auch gegen uns macht: das ist mir, der ich dieselbe in ihrem Wesen und Wirken beständig vor Augen habe, so eindringlich, daß ich den Wunsch nicht unterdrücken kann, Sie möchten weniger friedfertig gegen selbige gesinnt sein."so Twesten mußte wohl nach dem Erscheinen des ersten Bandes der Glaubenslehre festgestellt haben, daß sein Wunsch nicht erfüllt 78 79 80

Vgl. Evangelische Kirchenzeitung 1830, Nr. 18 vom 3. 3.; näheres dazu KGA 1/10, LXXXI Anm. 405. N] 14. 3. 1830; vgl. KGA 1/10, LXXXIV. Heinrici: D. August Twesten 416; vgl. KGA 1/10, LXXIV-LXXV1.

Einleitung des Bandherausgebers

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worden war, so daß er - wohl im Blick auf den zweiten Band — am 21. 6. 1830 seinen Vorstoß wiederholte. Er distanzierte sich zwar von Hengstenberg und den „Berliner Pietisten", fürchtete aber, daß zwischen Schleiermacher und „den Rationalisten in Rohrs, Paulus und Wegscheiders Sinn" „eine widernatürliche Verbindung entstehen möge, wodurch die Verworrenheiten unserer Zeit nur zunehmen könnten ... das aber glaube ich, daß man mit den Waffen der Wissenschaft auf alle Weise gegen sie kämpfen und sich mit ihnen in Opposition setzen muß, weil das in ihnen wirkende Princip ein unserer Kirche feindseliges und sie störendes, ja zerstörendes ist ... "81 Doch beim zweiten Band blieb Schleiermacher genauso schwerhörig wie beim ersten. In diesem wiederholte er zwar die abgrenzende Fußnote gegen Bretschneider, strich aber zwei der drei Erwähnungen Wegscheiders und ließ Röhr und Paulus weiterhin unerwähnt, obwohl er ihre Werke in seine Bibliothek eingestellt und, wie vielfach durchscheint, auch benutzt hatte. In dem oben zitierten Brief an Jonas vom 14. 3. 1830 berichtete Schleiermacher, wie weit er zu diesem Zeitpunkt mit dem Druckmanuskript der Glaubenslehre gekommen war: „Ich hoffte vor Anfang der Ferien mit dem ersten Bande der Dogmatik fertig zu werden, in welchem aus dem zweiten noch die Lehre von der Sünde und was dazugehört noch mit hinein kommt und dann hätte ich gleich nach Ostern einen Abstecher nach Preußen gemacht. Allein die Rechnung war — auch wie gewöhnlich — ohne den Wirth angelegt; ich habe noch fast Acht Bogen zu bearbeiten und will froh sein mit Hälfte der Ferien zu Ende zu kommen,"82 Um den zu groß geratenen Umfang des zweiten Bandes, der in erster Auflage mit dem zweiten Teil begonnen hatte, zu reduzieren, nahm Schleiermacher bei der zweiten Auflage den Stoff der Sündenlehre in den ersten Band hinein. Wenn er Mitte März noch fast acht Bogen zu bearbeiten hatte, mußte er etwa bei § 69 angelangt sein.83 Gegenüber Graf Alexander von Dohna beschrieb er am 10. 4. 1830 seine Entschlossenheit, sich aus allen Kontroversen herauszuhalten: „Die Angriffe auf mich in der evangelischen Kirchenzeitung sind zu unanständig und zu wenig bedeutend, als daß mich auch nur eine

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Heinrici: D. August Twesten 419. N] 14. 3. 1830; die Ferien begannen am 27. 3. 1830, ihre Mitte lag um den 10. 4. 1830. Die Sündenlehre umfaßt in in der ersten Auflage der Glaubenslehre 153 Seiten oder ca. 9 1/2 Bogen, so daß Schleiermacher sich ζ. Z. des Briefes bei der Bearbeitung etwa in der Mitte des zweiten Bogens befunden haben mußte, wo bei S. 26 § 90 beginnt, der in der zweiten Auflage § 69 entspricht.

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Einleitung des

Bandherausgebers

leise Versuchung hätte anwandeln sollen darauf zu antworten. Ich liebe aber dergleichen Schriftwechsel ohne Ende überhaupt nicht sondern denke, ]eder kann sich ja nun selbst orientiren und sich seine Stelle zwischen uns beiden aussuchen. Ich werde es ebenso auch mit einem weit beachtenswerteren und bedeutenderen Mann halten, nämlich dem D. Steudel in Tübingen, der sich soeben auch über mein Sendschreiben hat vernehmen lassen. Ich halte es gar sehr mit dem Ausspruch des Apostels: ,Hinfort mache mir niemand Mühe' [Gal 6, 17] und ich will ihn so sehr als möglich in praxi auszuführen suchen."S4 Der Tübinger Supranaturalist Johann Christian Friedrich Steudeß5 hatte sich schon 1828 gegen Schleiermacher gewandt und Anfang 1830 erneut eines seiner umständlich bedächtigen Sendschreiben an ihn auf den Weg gebracht. Schleier mach er setzte sich im ersten Sendschreiben an LückeS6 und später auch in der Dogmatikvorlesung 1830 damit auseinander;87 ließ aber in der Glaubenslehre diesen Streit unerwähnt. Wenn wenigstens der erste Band noch vor Beginn der Vorlesung erscheinen sollte, dann war für vermeidbare Kontroversen ebensowenig Zeit wie für eine längere Erholungspause in den Osterferien. Den Verzicht auf seine Reise nach Preußen, den er schon Mitte März gegenüber Jonas erwähnt hatte, teilte er am 10. 4. 1830 auch Alexander Graf Dohna mit. In diesem Jahr könne er noch weniger daran denken als im Jahr zuvor: „Da ich im nächsten Semester Dogmatik lesen will und soll, so muß auch der erste Band vorher fertig und verkäuflich sein. Nun aber ist nicht nur der Druck noch bedeutend zurück, sondern ich bin auch selbst noch nicht ganz fertig, sondern werde noch fast die ganze Osterwoche zu arbeiten haben, und dann bleibt mir leider nicht Zeit genug, da ich doch einige Tage vor dem Anfang der Vorlesungen wieder zurück sein müßte."ss Er war sich darüber klar, daß seine Arbeitsweise sowohl die Fertigstellung des ersten Bandes verzögerte als auch für den zweiten Band Ahnliches befürchten ließ: „Von meiner Dogmatik kann ich sagen, daß wenigstens im ersten Theil kein Stein auf dem andern geblieben, und daß sie doch ganz dieselbige ist. Ob nun Andere sich des ersten wegen anders zu dieser neuen Ausgabe verhalten werden als zur ersten, oder des anderen wegen eben so, das muß ich lediglich erwarten. Wollte nur Gott, ich könnte diesen Sommer mit

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Briefe an die Grafen zu Dohna 89. Uber Steudel s. Heinrich Hermelink: Geschichte der evangelischen Kirche in Württemberg 309 f ; zu seinem Sendschreiben s. KG A 1/10, LXXX1V-LXXXVI. - Vgl. auch unten LXV-LXVUI. Vgl. KGA 1/10, 315.322 f. 353.383-385.392. Vgl. unten 1, 19f. 26.241.248. Briefe an die Grafen zu Dohna 89.

Einleitung des Bandherausgebers

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dem zweiten Theil fertig werden, um an andre Arbeiten zu gehen, aber ich muß es sehr bezweifeln,"89 Das Osterfest, das im Jahr 1830 auf den 11. April fiel, war wohl schon vorüber, als Schleier mach er die letzten Seiten des Manuskripts in höchster Eile fertigstellte. Dem Druck ist dies anzumerken. So hatte Schleiermacher beispielsweise den Manuskriptbogen, auf dem § 84 begann, sofort an den Setzer gegeben, ohne sich die Paragraphenzahl zu merken, so daß er auf dem nächsten Bogen die Zahl des dort beginnenden § 85 offen ließ. Als er mit dem Inhaltsverzeichnis begann, lagen ihm die 30 schon fertigen Druckbogen mit den Seiten 1-480 vor, so daß er jeweils Anfang und Ende der Teile und Paragraphen ermitteln und dem Inhaltsverzeichnis einfügen konnte. Da aber der Rest des Manuskripts beim Setzer lag, blieben die Paragraphen- und Seitenzahlen der letzten drei Druckbogen von Seite 481 an vorläufig weg; sie wurden später bei der Korrektur nachgetragen, wobei infolge des Zeitmangels mehrere Versehen stehenblieben. Auf dem letzten Blatt des Manuskripts brachte Schleiermacher schließlich die Vorrede unter mit dem Datum vom 22. 4. 1830, das er feierlich so ausdrückte: „Donnerstag nach Quasimodogeniti 1830". Für die Gestaltung des Titelblatts sparte sich Schleier mach er ein eigenes Manuskript und trug statt dessen nur auf dem Titelblatt des Handexemplars der ersten Auflage die nötigen Änderungen ein. Wahrscheinlich überließ er dann das Handexemplar für kurze Zeit dem Setzer, der auf diese Weise einen Anhalt für die Gestaltung bekam?0 Vorrede, Titel und Inhaltsverzeichnis wurden dann auf einem vorgesetzten Bogen gedruckt. Am Tage nach der Unterzeichnung der Vorrede, nämlich am 23. 4. 1830, konnte Schleiermacher erleichtert an Bleek schreiben: „Der erste Band der Dogmatik ist nun, was mich anbetrifft, fertig, ich habe gestern den letzten Strich gemacht und die Druckerei ist auch nur um ein paar Bogen zurück."91 Im Vorlesungsverzeichnis hatte Schleiermacher für das Sommersemester 1830 zwei Kollegs angezeigt. Über Psychologie wollte er an fünf Tagen in der Woche jeweils von 7 bis 8 Uhr lesen. Die Dogmatik hatte er folgendermaßen angekündigt: „Die dogmatische Theologie trägt nach seinem Buch: der christliche Glaube, fünfmal wöchentlich von 8—10 Uhr Hr. Prof. Dr. Schleiermacher vor." „Privatim theologiam dogmaticam tractabit duce libro suo: Der christliche 89 90

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Briefe an die Grafen zu Dohna 90. Auf diesem Wege wurde auch die fehlerhafte Abkürzung von Anselms Proslogion „Prosol." vom Titelblatt des ersten Bandes der ersten Auflage auf die Titelblätter beider Bände der zweiten Auflage übertragen. Briefe 4, 394.

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Einleitung

des

Bandherausgebers

Glaube, quinquies p. bebd. bora VIII—X."92 Während Schleiermacher in anderen Semestern, in denen er zwei oder drei Vorlesungen anbot, sie am gleichen Tage zu eröffnen pflegte, begann die Psychologievorlesung am 26. 4. 1830, die Dogmatikvorlesung jedoch erst eine Woche später am 3. 5. Dies läßt sich nur daraus erklären, daß die Glaubenslehre am 26. 4. noch nicht ausgeliefert war. Auch wenn Verleger, Setzer, Drucker und Buchbinder sich beeilten, konnten sie aus dem am Donnerstag (22. 4.) abgeschlossenen Manuskript auch beim besten Willen bis Montag früh (26. 4.) noch kein verkaufsfertiges Buch herstellen. So mußte Schleiermacher den Beginn der Dogmatikvorlesung, bei der er sein Buch zugrunde legen wollte, um eine Woche aufschieben. Der Erscheinungstermin des ersten Bandes kann mithin auf die zweite Hälfte der Woche vom 25. 4. bis 1. 5. 1830 eingegrenzt werden. Wie Schleiermacher in der Vorlesung vorging, ist aus der Nachschrift von Johann Hinrich Wichern zu erkennen. Obwohl die Universität nach Abschluß der Vorlesung dem Ministerium von 179 Hörern berichten konnte,93 ist bisher nur diese eine Nachschrift (Mitschrift) bekannt geworden. Sie ist, wie aus den stilistischen Ungleichmäßigkeiten zu erkennen ist, nicht durch nachträgliche Bearbeitung und Reinschrift geglättet worden, sondern gibt ziemlich unmittelbar — wenn auch gerafft - das wieder, was Schleiermacher erläuternd zu seinem Buch sagte. Allerdings hielt Wichern das Mitschreiben nur bis §13 durch. Offenbar begnügte er sich beim weiteren Hören mit dem, was er gedruckt in Händen hatte. Daß die Glaubenslehre nicht lange vor dem Beginn der Vorlesung zur Verfügung stand, stimmt damit überein, daß Schleiermacher am 5.5. 1830, also zwei Tage danach, seinem Freund Ludwig Blanc in Halle berichten konnte: „Von meiner Dogmatik ist endlich der erste Band vom Stapel gelaufen ... "9Λ, und daß er wiederum drei Tage später im Brief vom 8. 5. 1830 an Gaß schrieb: „Zweitens bitte ich nun um eine freundliche Aufnahme für die mitkommende Dogmatik in zweiter Auflage. Einige Tage früher hätte ich sie schon schikken können, aber ich konnte nicht zum schreiben kommen. Hoffentlich hast Du Dich nicht durch die Zeitungen täuschen lassen, als ob beide Bände da wären; diese unvorsichtige Anzeige hat mich sehr verdrossen. Du wirst sehen, ich habe viel und auch wieder nichts geändert. Wenn ich mich nur darin nicht täusche, daß die neue im einzelnen (ich meine das Verhältniß der Paragraphen zu den Abschnitten und der Erläuterungen zu

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Arndt/Virmond: SchlA 11, 326, vgl. KGA 1/7.1, XVI. Vgl. Arndt/Virmond: SchlA 11, 326. Briefe 4, 399.

Einleitung

des

Bandherausgebers

XXXV

den Paragraphen) etwas besser disponirt und im ganzen etwas deutlicher geschrieben und leichter zu lesen ist! Polemik habe ich nicht getrieben, sondern nur die Mißverständnisse im ersten Keim zu beseitigen gesucht. Und nun auch kein Wort weiter; ich will nicht Deinem Urtheil vorgreifen, aber Dich auch gar nicht auffordern, Dich geschwind daranzugeben. Denn es ist keine Freude mit solchem aufgewärmten Kohl, und ich wollte lieber, ich könnte Dir noch einmal eine frische Arbeit schikken."95 Das Erscheinen des ersten Bandes veranlaßte auch Reimer, durch Obertribunal-Kurator Schott in Stuttgart am 12. 5. 1830 einen Antrag auf Verlängerung des Privilegs um die zwei ]ahre einreichen zu lassen, die von dem 1828 genehmigten sechsjährigen Privileg ohne Nutzen verstrichen waren. Der Antrag wurde genehmigt96 Nach seinem Tagebuch beendete Schleiermacher die Vorlesung über den ersten Band in der 81. Stunde am 10. 7. 1830.97 Bis dahin war es für ihn nicht nötig, ein eigenes Manuskript für den Hörsaal auszuarbeiten. Vielmehr gab ihm das durchschossene Handexemplar (H), das er sich gleich bei Erscheinen des ersten Bandes anfertigen ließ, die Möglichkeit, in Form von Randbemerkungen das zu skizzieren, was er als Kommentar zu den gedruckten Paragraphen und Erläuterungen im Kolleg vortragen wollte. Das Handexemplar, das nach Schleiermachers Tod in der Familie weitervererbt wurde, ist heute verschollen. Die Randbemerkungen wurden aber 1873 durch Carl Thönes veröffentlicht.9S Im Unterschied zu den Randbemerkungen im Handexemplar der ersten Auflage dienten sie nicht zugleich der Vorbereitung einer Neubearbeitung, da Schleiermacher an eine solche nicht gedacht zu haben scheint, sondern enthalten lediglich die Präparationen für die Vorlesung, die dann auch, soweit sich dies in der Nachschrift Wicherns verfolgen läßt, immer wieder wörtlich zum Vorschein kommen. Da nun bis Anfang Juli für die Vorbereitung der zehnstündigen Dogmatikvorlesung hinreichend gesorgt war, konnte Schleiermacher wieder aufmerksamer von den Kontroversen Kenntnis nehmen, die inzwischen durch die Hallesche Denunziation ausgelöst worden waren und die ihn doch näher angingen, als er zunächst hatte wahrhaben wollen.99 Ludwig von Gerlach hatte gegen die rationalistischen Professoren in Halle Anklage erhoben, sie ließen es sich „angelegen seyn, was

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99

Briefwechsel mit J. Chr. Gaß 222. Vgl. unten 2, 4,9. Vgl. SN 450 Tagebuch 1830, 10. Juli. Vgl. Carl Thönes: Schleiermacher's handschriftliche der Glaubenslehre, Berlin 1873; vgl. unten XLVf. Zum folgenden s. KGA 1/10, LXXXVIU-CXU.

Anmerkungen

zum ersten

Theil

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Einleitung des

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die Evangelische Kirche in ihren Bekenntnißschriften als ewige göttliche Wahrheit anerkennt, als Irrthum darzustellen und zu bekämpfen"100. Weil die Theologieprofessoren ein Lehrprivilegium innehätten und weil die künftigen Geistlichen bei ihnen studieren und von ihnen geprüft werden müßten, dürfe es für sie keine Lehrfreiheit geben; vielmehr folge aus dem Privilegium, „daß damit die Pflicht der reinen Lehre nach den Bekenntnißschriften der Kirche verbunden seyn muß ... "101. Indem er den Staat zum Eingreifen aufforderte, vertiefte er die Kerbe, die schon Claus Harms mit seinen 95 Thesen 1817 geschlagen hatte. Nun näherte sich die Jahrhundertfeier der Ubergabe der Augsburgischen Konfession und damit die Gefahr, daß eine Verpflichtung auf den Buchstaben der Bekenntnisschriften der bisherigen Lehrfreiheit ein Ende machen könnte. Gegen solche Bestrebungen wandten sich die Breslauer Theologieprofessoren Daniel von Cölln und David Schulz mit der Streitschrift, die Schleiermacher im zweiten Drittel des Monats Mai zur Kenntnis102 kam: „Ueber theologische Lehrfreiheit auf den evangelischen Universitäten und deren Beschränkung durch symbolische Bücher".103 Obwohl Schleiermacher sich nicht direkt herausgefordert fühlen mußte, wollte er doch nicht schweigen. Während der Pfingstferien vom 30. 5. bis 8. 6. 1830, in denen die Vorlesungen ruhten, unternahm Schleiermacher eine Wanderung im Harz und faßte dort, wie er später an Jonas schrieb,104 den Plan zu einer Erwiderung in den „Theologischen Studien und Kritiken". Im Oktober 1830 erschien denn auch das Sendschreiben „An die Herren D. D. D. von Cölln und D. Schulz"105, wo er seine bisherige Haltung in der Bekenntnisfrage, die er schon im Streit um die Harmsschen Thesen eingenommen hatte, aufs neue bekräftigte. Auch vom Augustana-Jubiläum 1830 hielt Schleiermacher sich nicht fern, sondern beteiligte sich mit zehn Predigten, die er zwischen dem 20. 6. und 7.11. hielt und anschließend in Druck gab: „Predigten in Bezug auf die Feier der Uebergabe der Augsburgischen Confession"106. Diese von ihm als unerfreulich empfundene Diskussion kostete Zeit und Kraft. Zeitraubend war auch die Beteiligung an der Herausgabe und Rezeption des Berliner Gesangbuchs, dem Schleiermacher die

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Evangelische Kirchenzeitung, 1830, 38. Evangelische Kirchenzeitung 1830, 38. 102 Vgl. KG A 1/10, XCIIL 105 Breslau 1830; abgedruckt KGA 1/10, 486-503. «w Vgl. N] 14.11. 1830; KGA 1/10, XCIIL 105 KGA 1/10, 395-426. 10 « Berlin 1831; SW 11/2, 611-758 und 1/5, 703-725. 101

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XXXVII

umfangreiche Broschüre widmete: „Ueber das Berliner Gesangbuch. Ein Schreiben an Herrn Bischof Dr. Ritsehl in Stettin."107 Dies alles bewirkte, daß Schleiermacher während der Vorlesung über den Stoff des zweiten Bandes, mit dem er wohl von Montag 12.7. 1830 an begann, kaum an die Anfertigung eines Druckmanuskriptes denken konnte. Wie er im Kolleg selbst vorging, ist unbekannt, da die Hörer nicht einmal den Wortlaut der Leitsätze (Paragraphen) in Händen hatten. An Gaß berichtete er im Brief vom 23. 7. 1830 von den geplanten Schriften an v. Cölln und Schulz und fuhr dann fort: „Erst dann kann ich an den zweiten Theil der Glaubenslehre gehen. Es freut mich sehr, daß die Umarbeitung des ersten Dir zusagt, wenigstens was die Einleitung betrifft. Das nachherige ist freilich nicht mehr so wichtig: aber ich glaube doch, daß die neue Redaction den Vorzug einer größeren Gleichmäßigkeit in der Behandlung hat."m Am 27.8. 1830 trug Schleiermacher ins Tagebuch ein: „Colleg geschlossen Psychologie [mit der] 78., Dogmatik [mit der] 156. [und] 157. [Stunde]."109 Mit 76 Stunden fiel also die Vorlesung über den Stoff, der den zweiten Band bilden sollte, um fünf Stunden kürzer aus als die Vorlesung über den ersten Band.u0 Gleich nach Abschluß des Semesters begab sich Schleiermacher vom 30. 8. bis 7. 10. 1830 auf seine große Herbstreise nach Süddeutschland. Eine Woche nach der Rückkehr begann der Druck der zweiten Auflage der Enzyklopädie „Kurze Darstellung des theologischen Studiums"lu, wobei Schleiermacher schon vor der Reise mit der Niederschrift des Druckmanuskripts begonnen haben mußte. Die zusammenhängende Arbeit am zweiten Band wurde also angesichts der Fülle anderer Arbeiten während des Sommers 1830 immer wieder aufgeschoben. Am 1.11. 1830 begann das Wintersemester, an dem Schleiermacher sich mit zwei jeweils fünfstündigen Vorlesungen über den „zweiten Brief Pauli an die Korinther" und über die „praktische Theologie" beteiligte,ni Erst nach Semesterbeginn konnte er sich wieder dem liegengebliebenen Druckmanuskript zuwenden. Im Tagebuch heißt es unter dem 6. 11. 1830: „Den zweiten Theil der Dogmatik angefangen".U3 Gegenüber Ludwig Jonas kam er im Brief vom

Berlin 1830; abgedruckt KGA 1/9, 473-512. Briefwechsel mit J. Chr. Gaß 226. SN 450 Tagebuch 1830, 27. August. 110 Dem ersten Band hatte Schleiermacher 81 Stunden gewidmet, s. oben XXXV bei Anm. 97. 111 Vgl. KGA 1/6, LXIf. 112 Vgl. Arndt!Virmond: SchlA 11, 327. »' SN 450 Tagebuch 1830, 6. November. 107 108

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14. 11. 1830 darauf zurück, was ihn während und nach seiner Reise nach Süddeutschland beschäftigt hatte, „so daß ich nur eben anfange, an den zweiten Theil der Dogmatik zu gehen"U4. Am 16. 11. 1830 konnte er im Tagebuch vermerken: „Dogmatik § 86—90 geendigt".115 Daß ihm aber alles viel zu schleppend ging, erfahren wir aus einem Brief an Gaß vom 18. 11. 1830: „Jezt stekke ich wieder in der Dogmatik; aber es thäte Noth, daß ich mit dem Kolben dreinschlüge, denn so fluscht es nicht."116 Diese Zähflüssigkeit scheint in den folgenden Wochen nicht gewichen zu sein, da wir im Tagebuch unter dem 11. 12. 1830 lesen: „Alle diese Tage an der Dogmatik ohne besonderen Segen gearbeitet."117 Demgegenüber klingt der Eintrag vom 14. 12. 1830 fast zuversichtlich: „Arbeit an der Dogmatik."118 Uber Weihnachten und am Anfang des neuen Jahres näherte sich Schleier mach er dem Ende des zweiten Drittels, war aber damit noch nicht zufrieden, so daß er am 8. 2. 1831 an Gaß schrieb: „Der Drukk des zweiten Theils der Dogmatik soll nun anfangen; ich stehe aber mit der Arbeit noch an dem Artikel vom göttlichen Wort, und werde mich also grauen müssen, daß mich der Sezer nicht einholt."119 Indes zeigt der Brief an Jonas fünf Tage später vom Sonntag, dem 13. 2. 1831, daß die Befürchtung fürs erste noch nicht nötig war: „Die Dogmatik rückt sehr langsam vorwärts, ich bin mit der Umarbeitung erst bei dem Zusaz zu der Lehre von der h. Schrift [§ 132], und der Druck sollte schon vor acht Tagen beginnen, es ist aber noch nicht geschehen."120 Am darauf folgenden Montag 14. 2. 1831 war es indessen so weit, und er konnte ins Tagebuch eintragen: „Der Druk der Dogmatik geht die a n "i2i Freilich folgten damit wenig später auch die Korrekturen, neben der Fertigstellung des Druckmanuskriptes herlaufen mußten. „Erste Correctur"12Z wird im Tagebuch unter dem 17. 2. 1831 notiert. Zudem begann am 24. 4. 1831 das Sommersemester, das mit drei jeweils fünfstündigen Kollegs über den „Brief Pauli an die Römer", die

in N] 14. 11. 1830. SN 450 Tagebuch 1830, 16. November. 116 Briefwechsel mit ]. Chr. Gaß 228. 117 SN 450 Tagebuch 1830, 11. Dezember. 118 SN 450 Tagebuch 1830, 14. Dezember. 119 Johannes Bauer: Briefe Schleiermachers an 'Wilhelmine und Joachim Christian Gaß, in: ZKG 47, 1928, 276. Gemeint ist wohl nicht der Abschnitt „Vom Dienst am göttlichen Wort" (§ 133-135), sondern, wie der folgende Brief zeigt, der vorhergehende „Von der heiligen Schrift" (§ 128-132). Zu „mich ... grauen" im Sinne von „sich fürchten" s. Grimm 41115, 2133. 120 NJ 13.2. 1831. 121 SN 451 Tagebuch 1831,14. Februar. 122 SN 451 Tagebuch 1831. 17. Februar. 115

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des Bandherausgebers

XXXIX

„Christliche Sittenlehre" und die „Grundsätze der Dialektik" neue Belastungen brachte.123 Am 27. 5. 1831 besuchte Schleiermacher laut Tagebuch die auch sonst regelmäßig erwähnte „Griechische Gesellschaft bei Bekker", wobei man aber durch den lakonischen Satz hindurch die Erleichterung spürt, wenn er dieses Mal hinzusetzte: „Vorher die Dogmatik beendigt."124 Am 24. 6. 1831 war es schließlich so weit, daß er eintragen konnte: „Lezte Correctur der Dogmatik."125 Im Juli dürfte der zweite Band in den Buchhandel gelangt sein. Zwar fehlte der Zeitdruck, der das Erscheinen des ersten Bandes so stark beschleunigt hatte, weil der zweite Band weder 1831 noch später für eine Vorlesung benötigt wurde. Andererseits mußte dem Verleger am baldigen Verkauf des zweiten Bandes gelegen sein, zumal für ihn von dem württembergischen Privileg schon wieder ein Jahr nutzlos verstrichen war. Mit über 70 Bogen Umfang waren die beiden Bände doch stärker geworden, als der Verlag es der württembergischen Regierung vier Jahre zuvor angekündigt hatte, und mit dem Preis von 5 Reichstalern auch teurer als die erste Auflage, die 4 Reichstaler und 16 Groschen gekostet hatte.126 Als Honorar erhielt Schleiermacher, wie aus dem Hauptbuch des Verlegers hervorgeht, 1.775 Reichstaler, freilich nicht in bar, sondern in Verrechnung gegen die kontinuierlich durch den Verlag gelieferten Bücher.117

3. Druckmanuskript

und

Originaldruck

Das Manuskript der zweiten Auflage der Glaubenslehre wurde erst 1980 im Archiv des Verlags Walter de Gruyter, der den Verlag von Georg Reimer aufgekauft und deshalb auch dessen Verlagsarchiv übernommen hatte, wieder entdeckt,128 konnte also in der 1960 erschienenen 7. Auflage der Glaubenslehre von Martin Redeker noch nicht berücksichtigt werden. 123

Vgl. Arndt/Virmond: SchlA 11, 327. f 19 einrichten,] Ms.: einrichten 23 §. 38.] im Ms. korr. aus 38. 24 werden,] Ms.: werden 23 § 38 = CG1 § 44.46; die Umformung des Leitsatzes CG1 5 46 ist wohl durch Einspruch veranlaßt, s. KGA 1/7.3, 129 (Marg. 738). 513

Rohrs

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§38

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ten ist, wenn nur in beiden Gott eben so allein bestimmend gedacht wird, wie in jenem. C a l v i n . I n s t i t u t . I. 16, 1. „[...] in hoc praecipue nos a profanis hominibus differre convenit, ut non minus in perpetuo mundi statu quam in prima ejus origine praesentia divinae virtutis nobis eluceat." — N e m e s i u s d. n a t . h o m . p. 164. Ed. A n t . Ei γάρ λέγοι Tis, ότι κατά τήν έξ άρχής γένεσιν είρμώ προβαίνει τό πράγμα, τούτο άν εΐη λέγων, ότι τη κτίσει συνυπάρχει πάντως ή πρόνοια, τό γάρ εΐρμω προβαίνει τό κτισθέν, δηλοΤ τη κτίσει συγκαταβεβλήσθαι τήν πρόνοιαν [...] και ούτως ουδέν άν άλλο λέγοι, ή τόν αυτόν είναι ποιητήν άμα και προνοητήν των όντων.

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1. Wenn wir mit den symbolischen Ausdrükken, die sämmtlich 188 nicht von einem All, sondern von allen Dingen reden, den Begriff der 1917 Schöpfung zunächst auf die einzelnen Dinge beziehen, so ist was als Entstehen von diesen irgend uns zum Bewußtsein k o m m t , i m m e r nichts 15 anders als die Erhaltung der Gattungen, welche durch das Wiederentstehen der einzelnen Dinge bedingt ist. 1 Vertritt nun das hier zum Grunde liegende Selbstbewußtsein das g e s a m m t e endliche Sein: so liegt uns auch das Gattungsbewußtsein eben so nahe, als das des Einzellebens, weil wir uns in unserm Selbstbewußtsein i m m e r als M e n s c h e n 20 sezen, mithin wird auch der Ausdrukk, daß die Erneurungen durch G o t t beste|hen dem Inhalt jenes Selbstbewußtseins, was diesen Gegen- 206

1

So auch N e m e s i u s p. 164. πώς ouv [...] εκαστον έκ τοϋ οικείου σπέρματος φύεται και οΰκ έξ άλλου προνοίας άπούσης;

3 a) Das „non minus", b) γένεσις (κτίσις) und ειρμός (πρόνοια). | 11 1. Wie Η 31 sich Beides in einander verwandelt. // a) Erschaffen wird auf Erhalten zurückgeführt. 3 in] im Ms. und im OD: In 3 praecipue] M i . : praecipue 3 nos] im Ms. über

5 ejus] Ms.: eius 5 eluceat. - ] Ms.: eluceat. 6 p. 164. Ed.] Ms.: p. 1 6 4 Ed. 9 ή] so Ms., O D . ή 11 sämmtlich] Ms.: sämtlich 12 All,] M s . : All 13 beziehen,] Ms.: beziehen: 14 kommt,] M s . : kommt 1 5 f Wiederentstehen] im Ms. korr. aus Wiederbestehen 17 gesammte] Ms.: gesamte 18 nahe,] M s . : nahe 2 0 Ausdrukk,] Ms.: Ausdrukk 20 Erneurungen] M s . : Erneuerungen 21 bestehen] M s . : besteht 21 Selbstbewußtseins,] Ms.: Selbstbewußtseins 22 164.] Ms.: 1 6 3 OD: 163. 23 άπούσης] άττούοης

3 Calvin: lnstitutio 1,16,1, Leiden (1654) 59 a; CR 30, 144; ed. Barth 3, 187,12; statt quam in prima ... eluceat Q: quam prima ... illuceat 5 Nemesius von Emesa: De natura hominis 40, ed. Antwerpen 164; ed. Matthaei 339; MPG 40, 788 B. C; ed. Morani 123,16 22 Nemesius von Emesa: De natura hominis 40, ed. Antwerpen 164; ed. Matthaei 339; MPG 40, 788 B; ed. Morani 123,14

226

§38

stand betrifft, eben so vollkommen entsprechen wie der, daß die einzelnen Dinge durch Gott entstehn. Können wir nun aber auch nach unserer erweiterten Weltkenntniß die Weltkörper mit allem auf ihnen entwikkelten Leben als einzelne Dinge ansehen, die nicht nothwendig alle gleichzeitig entstanden sind: so ist doch offenbar ihr successives Entstehen auch anzusehen als das wirksame Fortbestehen bildender Kräfte, die in dem endlichen Sein müssen niedergelegt sein. Und so finden wir nichts, dessen Entstehen nicht unter den Begriff der Erhaltung zu bringen wäre, so weit nur immer unser Bewußtsein reicht, so daß die Lehre von der Schöpfung ganz in der von der Erhaltung aufgeht. Aber eben so, wenn wir die einzelnen Dinge als erschaffen ansehn und nun weiter hinabsteigen: so ist die Erhaltung derselben doch zugleich der Wechsel von Veränderungen und Bewegungen, in dem ihr Dasein abläuft. Allein indem diese immer mehr oder weniger zusammengehörige Reihen bilden, so wird mit jedem Anfang einer Reihe von Thätigkeiten oder aus dem Subject ausgehenden Wirkungen etwas neues gesezt, was vorher in demselben Einzelwesen nicht gesezt war; dies ist mithin ein neues Entstehen und kann als eine Schöpfung angesehen werden, um desto mehr 189 freilich, je mehr ein solcher Anfang als ein bedeutender Entwiklungsknoten erscheint; allein das mehr oder minder kann hier keinen bestimmten Abschnitt machen. Da nun jede einzelne Thätigkeit in sich selbst wieder eine Reihe bildet und ihr Anfang ein Entstehen ist: so fällt alles, so weit sich nur unser Bewußtsein erstrekkt, was wir gewöhnlich als Gegenstand der göttlichen Erhaltung ansehen, auch unter 1927 den Begriff der Schöpfung. Dieser also in seinem ganzen Umfang genommen macht jenen überflüßig, gerade wie wir es vorher umgekehrt gesehen haben; denn was in dem einen von beiden nicht aufgehen will, 207 ist uns auch für den andern nicht gegeben. Die | volksmäßige religiöse Mittheilung hält sich daher ohne Tadel an diese Freiheit, und betrachtet dieselbe Begebenheit bald als neue Schöpfung bald als gesezmäßige

Η 10 b) Erhalten wird auf Erschaffen zurückgeführt. 1 betrifft,] Ms.: betrifft 1 der,] Ms.: der 2 auch] im Ms. folgt 3 f mit ... Leben] im Ms. am Rand mit Einfügungszeichen 6 Kräfte,] Ms.: Kräfte 8 nichts,] Ms.: nichts 9 wäre,] Ms.: wäre 12 hinabsteigen:] Ms.: hinabsteigen 12 ist] im Ms. am Rand mit Einfügungszeichen statt (|bcdp 13 Bewegungen,] Ms.: Bewegungen 15 so wird] Ms.: und 15f oder ... Wirkungen] im Ms. am Rand mit Einfügungszeichen 15 aus] Ms.: von 16 etwas neues] Ms.: wird etwas 16 gesezt,] Ms.: gesezt 19 freilich,] Ms.: freilich 19 bedeutender] Ms.: Bedeutender 23 alles,] Ms.: alles 23 so ... erstrekkt,] so ... erstreckt im Ms. am Rand mit Einfügungszeichen 24 ansehen,] Ms.: ansehen 26 gerade] Ms.: grade 30 dieselbe] Ms.: dieselben

τη E r h a l t u n g , und die A n d a c h t wird sich schwerlich dazu verstehen, eine R a n g o r d n u n g festzustellen, als o b das eine v o l l k o m m n e r o d e r in e i n e m höheren Styl d e m schlechthinigen Abhängigkeitsgefühl e n t s p r ä c h e als das andere. 2. Diese Gleichheit ist i n d e ß allerdings dadurch bedingt, d a ß die göttliche B e g r ü n d u n g auf der einen und die A b h ä n g i g k e i t des endlichen Seins a u f der andern Seite gleich vollständig gedacht werde, m a n m ö g e nun etwas als von G o t t erschaffen oder als durch G o t t erhalten vorstellen. D e n k t m a n nun die S c h ö p f u n g der Welt als E i n e n göttlichen A c t , und mit diesem den ganzen N a t u r z u s a m m e n h a n g : so k a n n dieses ein v o l l k o m m n e r Ausdrukk des schlechthinigen A b h ä n g i g k e i t s g e f ü h l s sein, wenn m a n sich nur nicht jenen A c t denkt als a u f g e h ö r t h a b e n d , mithin a u f der einen Seite in G o t t einen Wechsel von T h ä t i g k e i t in Beziehung a u f die Welt und von Ruhe, a u f der a n d e r n a b e r in der Welt einen Wechsel zwischen e i n e m Bedingtsein des G a n z e n durch G o t t und einem Bedingtsein alles einzelnen jedes durch das andere. E b e n so, denkt man sich die E r h a l t u n g als eine a u f den ganzen W e l t e n l a u f sich beziehende göttliche T h ä t i g k e i t , und a u f dieser e b e n so den ersten A n f a n g beruhend wie jeden folgenden Z u s t a n d : so ist dieses ein vollk o m m n e r Ausdrukk des betreffenden S e l b s t b e w u ß t s e i n s , wenn m a n 190 sich nur nicht denkt auch vor und außer jener T h ä t i g k e i t n o c h etwas anderes den A n f a n g der Welt bedingend. D e n n sonst wäre auch in jedem Z u s t a n d e nur einiges von der göttlichen T h ä t i g k e i t a b h ä n g i g , anderes aber sei es auch n o c h so wenig durch das vorher gewesene bedingt, mithin auch die göttliche T h ä t i g k e i t , deren G e g e n s t a n d die ganze Welt sein soll, i m m e r vermischt mit Leiden. D a s s e l b e erfolgt a u f andere Weise, wenn m a n die erschaffende göttliche T h ä t i g k e i t zwar nicht momen|tan d e n k t , a b e r nur an einzelnen P u n k t e n und zu gewis- 208 sen Z e i t e n sich w i e d e r h o l e n d ; denn wenn dann auch die e r h a l t e n d e T h ä t i g k e i t zwischen diese P u n k t e tritt, d a m i t nie und nirgend göttliche 1937 T h ä t i g k e i t wechsle mit U n t h ä t i g k e i t , so tritt sie d o c h ein als eine andere von jener unterscheidbare, und indem sie e i n a n d e r begrenzend

5 2. Jede [der beiden Lehren] vollkommner Ausdruck der absoluten Abhängigkeit. 1 verstehen,] Ms.: verstehen 2 festzustellen, . . . ob] Ms.: festzustellen d a ß 2 vollk o m m n e r ] Ms.: vollkomner 3 entspräche] Ms.: entspreche 9 göttlichen] im Ms. am Rand mit Einfügungszeichen 11 vollkommner] Ms.: vollkomner 1 2 sein,] Ms.: sein 1 9 f vollkommner] Ms.: vollkomner 2 1 f noch . . . anderes] Ms.: etwas 26 soll,] Ms.: soll 2 7 Weise,] Ms.: Weise 2 8 denkt,] Ms.: denkt 3 0 tritt,] Ms.: tritt

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228

§39

ausschließen, bleibt die Welt zwar gänzlich abhängig von Gott aber ungleichmäßig und von sich gegenseitig hemmenden göttlichen Thätigkeiten. Und nicht minder, wenn man die erhaltende Thätigkeit zwar unvermischt mit Leiden denkt, aber entweder nur so auf eine rein erschaffende folgend, daß sie in dem was sich aus dieser entwikkelt einen Widerstand besiegen muß, oder so daß die erschaffende als eine andere an einzelnen Punkten wieder eintritt. Doch ist die Neigung zu solchen in der T h a t verkehrten Formeln, welche das reine Abhängigkeitsgefühl keinesweges ausdrükken sondern auf alle Weise entstellen, fast zu allen Zeiten unverkennbar vorhanden. Diese hat indeß natürlich ihre Wurzel nicht in der christlichen Frömmigkeit, sondern in einer verworrenen aber im gemeinen Leben nur allzugewöhnlichen Weltansicht, welche die Abhängigkeit von Gott nur als Erklärungsgrund des Weltlaufs zu Hülfe nimmt, wo sich der N a t u r z u s a m m e n h a n g verbirgt, also am meisten da, wo etwas vom früheren abgerissen und vom umgebenden getrennt, als ein anfangendes oder isolirtes erscheint.

§. 39. Die Lehre von der Schöpfung ist vorzüglich in der Hinsicht zu entwikkeln, daß fremdartiges abgewehrt 191 werde, damit nicht aus der Art wie die Frage nach dem Entstehen anderwärts beantwortet wird, etwas in unser Gebiet einschleiche, was mit dem reinen Ausdrukk des schlechthinigen Abhängigkeitsgefühls im Widerspruch 209 steht. Die Lehre | von der Erhaltung aber vorzüglich um daran jenes Grundgefühl selbst vollkommen darzustellen.

Η 17 Wie die Theilung gemacht wird. 1 ausschließen,] Ms.: ausschließen 3 minder,] Ms.: minder 4 denkt,] Ms.: denkt 5 folgend,] Ms.: folgend 9 entstellen,] Ms.: entstellen 12 allzugewöhnlichen] Ms.: allzu gewöhnlichen 14 nimmt,] Ms.: nimmt 15 da,] Ms.: da 16 getrennt,] Ms.: getrennt 17 §. 39.] Ms.: §. 39 korr. aus 39 18 entwikkeln,] Ms.: entwikkeln 20 wird,] Ms.: wird 21 einschleiche,] Ms.: einschleiche

17 § 39 = CG1 § 47; zur Neugliederung 746

gegenüber

CG' s. KGA 1/7.3, 129 f Marg. 741 f .

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1. Unser Selbstbewußtsein, in der Allgemeinheit wie sich beide Lehrstükke darauf beziehn, kann das endliche Sein überhaupt nur sofern dieses ein fortbestehendes ist vertreten, weil wir uns selbst nur so finden, von einem Anfang des Seins aber kein Selbstbewußtsein haben. Es würde daher zwar, wie wir oben gesehen, nicht unmöglich sein aber doch großen Schwierigkeiten unterliegen dasselbe überwiegend oder ausschließend unter der Form der Schöpfungslehre zu ent- 194 wikkeln; und ein solcher Versuch würde eben so willkührlich sein als der Abzwekkung der Dogmatik unangemessen, da auch in der volksmäßigen religiösen Mittheilung die Lehre von der Erhaltung eine weit größere Bedeutung hat. Und da überhaupt die Frage nach dem Anfang alles endlichen Seins nicht in dem Interesse der Frömmigkeit entsteht sondern in dem der Wißbegierde, und also auch nur durch die Mittel, welche diese darbietet, beantwortet werden kann: so kann auch die Frömmigkeit immer nur ein mittelbares Interesse daran nachweisen, nämlich daß sie keine Beantwortung derselben anerkennt, welche den Frommen mit seinem Grundgefühl in Widerspruch brächte. Und eine solche Stellung hat auch die Lehre, sowol wo sie im neuen Testament vorkommt, als auch in allen eigentlichen Bekenntnißschriften. Wogegen das alttestamentische Fundament derselben in den Anfängen eines Geschichtsbuches liegt, welches also überwiegend dem Interesse der Wißbegierde dient. 2. Wenn wir nun bei der Lehre von der Schöpfung vornemlich zu verhüten haben, daß sich nicht fremdartiges aus dem Gebiet des Wissens einschleiche: so ist freilich auch die entgegengesezte Gefahr zu 192 berüksichtigen, daß nämlich auch die Entwiklung unseres frommen Selbstbewußtseins nicht so gefaßt werde, daß der Wißbegierige dadurch in Widerspruch gera|the mit den Principien seines Forschens auf 210

1 1. A n S c h ö p f u n g hat die Frömmigkeit nur ein mittelbares Interesse. Die Erhaltungslehre kann d e m Wissen nicht in d e n W e g treten.

2 3 2.

1 Selbstbewußtsein,] Ms.: Selbstbewußtsein 2 beziehn,] M s . : beziehn 3 fortbestehendes] im Ms. korr. aus Fortbestehendes 3 vertreten,] Ms.: vertreten 5f zwar, ... doch] im Ms. am Rand mit Einfügungszeichen 13 Mittel,] Ms.: Mittel 14 darbietet,] Ms.: darbietet 16 derselben] fehlt im Ms. 18 Lehre,] Ms.: Lehre 19 vorkommt,] Ms.: vorkommt 21 Geschichtsbuches] so Ms., OD: Geschichtbuches 21 liegt,] fehlt im Ms. 24 haben,] Ms.: haben 24 Gebiet] M s . : Gebiete 25 Gefahr] fehlt im Ms.

13 Zu Wißbegierde vgl. die Berufung auf Ziegler: Kritik über den Artikel von der Schöpfung, s. KGA 1/7.3, 130 (Marg. 744). 653 f

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230 dem Gebiet der Natur oder der Geschichte. Allein da das Selbstbewußtsein, auf welches hier zu reflectiren ist, schon dieses in sich schließt, daß wir in einen Naturzusammenhang gestellt sind: so wird die Lehre von der Erhaltung, welche hievon unmittelbar ausgehen kann, in der reinen Entwiklung dieses Selbstbewußtseins keinen Anlaß finden, jene Voraussezung zerstören zu wollen. Und dies wird auch irrthümlich um so weniger begegnen können, wenn die angegebene Behandlung der Schöpfungslehre schon voran gegangen ist. 3. Wenn nun das unmittelbare höhere Selbstbewußtsein, welches in beiden Lehrstükken dargestellt werden soll, nur eines und dasselbe ist; der Zwekk der christlichen Glaubenslehre aber theils der, die in den verschiedenen Gebieten der religiösen Mittheilung innerhalb unserer Kirche geltend gewordenen Darstellungen ihrem wesentlichen Inhalt nach anschaulich und normal zusammen zu fassen, theils auch 1957 Cautelen aufzustellen, um zu vermeiden, daß sich nichts einschleiche, was dem hiehergehörigen widersprechen könnte, ohne daß dies in jedem gegebenen Zusammenhang bewirkt würde: so werden beide Lehrstükke zusammengenommen die dogmatische Darstellung des hier zum Grunde liegenden schlechthinigen Abhängigkeitsgefühls erschöpfen, wenn wir bei dem einen vorzüglich die Aufstellung der nöthigen Vorsichtsregeln bewirken, bei dem andern aber überwiegend die positive Entwiklung im Auge haben.

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Erstes Lehrstükk.

Von der S c h ö p f u n g . §. 40. Dem hier zum Grunde liegenden frommen 25 Selbstbewußtsein widerspricht jede Vorstellung von dem

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2 4 §. 4 0 . A b w e h r der Verringerung der Abhängigkeit. / / §. 4 1 . Abwehr der Verendlichung Gottes.

17 bewirkt] Kj Kaftan (CG7 195) und Clemen

bemerkt

25 §40 = CG' § 50 s. KGA 1/7.3, 138 Marg. 800; zur Überlegung der Neugliederung ganzen Lehrstücks „Von der Schöpfung" s. KGA 1/7.3, 131 Marg. 7 5 1 ; 138 Marg. 800

des 795.

§40

231

Entstehen der Welt, durch welche irgend | etwas von dem 2ii ; 193 Entstandensein durch Gott ausgeschlossen, oder Gott selbst unter die erst in der Welt und durch die Welt entstandenen Bestimmungen und Gegensäze gestellt wird. 5

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Apostelg. 17, 24. Rom. 1, 19. 20. Hebr. 11, 3.

1. Die angezogenen neutestamentischen Stellen gehen darin voran, jede näher bestimmte Vorstellung von der Schöpfung abzuweisen. Auch der Ausdrukk ρήματι ist für jede nähere Bestimmung nur negativ, um nämlich alle Vorstellung irgend eines Werkzeuges oder Mittels auszuschließen. Es läßt sich auch in Uebereinstimmung damit und mit demselben Recht sagen, die Welt selbst sei, als durch das Sprechen geworden, das von Gott gesprochene 1 . Und so begnügen wir uns damit, diese negativen Charaktere aufzustellen als Regeln der Beurtheilung für das, was als nähere Bestimmung dieses Begriffs in die Glaubenslehre, aber unserer Ueberzeugung nach mit Unrecht, eingedrungen ist. Denn da unser unmittelbares Selbstbewußtsein das endliche Sein nur in der 1967 Identität des Entstehens und Fortbestehens repräsentirt: so finden wir in demselben zu der Entwiklung des ersteren für sich allein weder Veranlassung noch Anleitung, können also auch vermöge desselben keinen besonderen Antheil daran nehmen. Die weitere Ausbildung der Schöpfungslehre in der Dogmatik rührt aus der Zeit her, wo man auch naturwissenschaftlichen Stoff aus der Schrift holen wollte, und wo die Elemente aller höheren Wissenschaften noch in der Theologie verborgen lagen. Es gehört daher zur gänzlichen Trennung beider, daß wir diese Sache den rükwärts | gehenden Forschungen der Naturwissenschaft 212 übergeben, ob sie uns bis zu den die Weltkörper bildenden Kräften und Massen oder noch weiter hinauf führen kann, und daß wir unter der 194 obigen Voraussezung die Resultate ruhig abwarten, indem ohne irgend

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„[...] was ist die ganze Kreatur anders, denn ein Wort Gottes von Gott gesagt und ausgesprochen, ... daß also Gott das Schaffen nicht schwerer ankommt, denn uns das Nennen." L u t h . z. G e n e s . I. §. 51.

6 1. Abwehr näherer Bestimmung [ist] neutestamentisch.

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2 9 was] Was

2 9 Luther: Auslegung des Ersten Buchs Mosis, zu Kap. 1: 1,5, § 51, in: Sämtliche ten ed. Walch' 1, 33; vgl. WA 42, 17,25-31

Schrif-

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von der christlichen Glaubenslehre abhängig zu sein oder es hiedurch zu werden, jedes wissenschaftliche Bestreben, welches mit den Begriffen Gott und Welt arbeitet, sich durch dieselben Bestimmungen abgrenzen muß, wenn nicht diese Begriffe aufhören sollen zweie zu sein. 2. Wie nun die neutestamentischen Stellen so gar keinen Stoff an die Hand geben zur weiteren Ausbildung der Schöpfungslehre, und die Glaubenslehrer doch auch da, wo sie in jener Verwechselung ihrer Aufgabe mit der philosophischen begriffen waren, sich immer auf die Schrift zurükbezogen: so haben wir zunächst auf die mosaische Erzählung und die gewissermaßen doch sämmtlich von dieser abhängigen alttestamentischen Stellen zu sehen. Jene nun wurde unläugbar von den Reformatoren für eine eigentliche Geschichtserzählung genommen 2 . Luthers Ausspruch indeß ist vornehmlich der allegorischen Erklärung entgegengesezt, und Calvins Ansicht schließt doch schon einen Gebrauch dieser Erzählung zur Ausbildung einer eigentlichen Theorie 1977 aus. Auf jede Weise ist es der Sache zum Vortheil, daß hierüber nichts symbolisch geworden ist, zumal schon, wenn man nicht gewaltsamerweise die zweite Erzählung in der Genesis als eine recapitulirende Fortsezung der ersten ansehen will, die Verschiedenheit zwischen beiden so 213 bedeutend ist, daß man | ihnen einen eigentlich geschichtlichen Charakter schwerlich beilegen kann. Nehmen wir nun dazu, daß in den alttestamentischen Stellen, welche der Schöpfung erwähnen, theils dieselbe Einfachheit vorherrscht, wie in den neutestamentischen 3 theils die 185 mosaischen Säze zwar zum Grunde gelegt, aber doch sehr frei behan-

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2

L u t h . z . G e n e s . I. 3. §. 4 3 . „ [ . . . ] denn M o s e s schreibet eine Historie, und meldet geschehene Dinge [ . . . ] . " - C a l v i n . I n s t i t . I, 14, 3. „ [ . . . ] M o s e s vulgi ruditati se a c c o m o d a n s n o n alia Dei opera c o m m e m o r a t in historia creationis, nisi q u a e oculis nostris o c c u r r u n t [ . . . ] . "

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Jes. 4 5 , 1 8 . J e r e m . 10, 12.

6 2. Ueber die m o s a i s c h e Erzählung. 2 7 Klingt, als o b hier wohl m e h r mitgetheilt gewesen w ä r e ; er hätte aber eine Auswahl g e m a c h t .

26 denn] Denn

24 Luther: Auslegung des Ersten Buchs Mosis, zu Kap. 1:1,4, § 43, in: Sämtliche ten ed. Walch' 1, 28; vgl. WA 42, 15,32 27 Calvin: lnstitutio 1,14,3, Leiden 46 a; CR 30, 119; ed. Barth 3, 154,28

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delt werden 4 ; ferner daß ein rein didaktischer Gebrauch dieser Erzählung gar nicht vorkommt, und d a ß Philon, welcher die sechs Tage in buchstäblichem Sinne durchaus verwirft, doch gewiß Vorgänger gehabt haben wird: so können wir ziemlich sicher schließen, daß die buchstäbliehe Erklärung nie allgemein durchgedrungen ist in jener Zeit, sondern immer ein wenngleich dunkles doch gesundes Gefühl davon übrig geblieben, d a ß dies alte Denkmal nach unsern Vorstellungen von Geschichte nicht dürfe behandelt werden. Daher wir nicht Ursache haben über solchem geschichtlichem Verständniß strenger zu halten, als das Volk selbst in seinen besten Zeiten gethan hat. Gesezt aber auch man hätte volles Recht anzunehmen, die mosaische Beschreibung sei eine auf außerordentlichem Wege mitgetheilte Geschichtserzählung: so folgte daraus nur, d a ß wir auf diesem Wege eine anders nicht zu erwerbende naturwissenschaftliche Einsicht erlangt hätten, aber keinesweges würden die einzelnen Theile derselben deshalb Glaubenssäze nach unserm Sprachgebrauch sein, da unser schlechthiniges Abhängigkeitsgefühl dadurch weder einen neuen Gehalt noch eine andere Gestaltung noch irgend eine nähere Bestimmung erhält. Daher nun auch eine commentirende Auslegung derselben oder die Beurtheilung solcher Auslegungen gar kein Geschäft der Dogmatik sein kann. 3. Was aber die aufgestellten Bestimmungen selbst betrifft, so ist wol deutlich, daß unser schlechthiniges Abhängigkeitsgefühl nicht 214 könnte auf die allgemeine Beschaffenheit alles endlichen Seins bezogen werden, wenn in diesem irgend etwas von Gott unabhängig wäre oder

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4

Ps. 33, 6 - 9 . Ps. 104. Hiob 38, 4 flgd.

21 3. Rückgang auf das unmittelbare Selbstbewußtsein stamentliche Trinität.

25 NB. Ueber altte-

25 38, 4] so Η nach Thönes 31 Anm. 1; vgl. CG' KGA 1/7.1, 150,11; OD: 34, 4

2 Philo von Alexandria legt die sechs Schöpfungstage allegorisch auf die Sechszahl und ihre Vollkommenheit aus: "Οταν ούν λέγη, συνετέλησεν έκτη ήμερα τά εργα, νοητέον ότι ού πλήθος ήμερων παραλαμβάνει, τέλειον δέ αριθμόν τον εξ. „Ergo cum audis: Complevit sexto die opera, intelligere non debes de diebus aliquot, sed de senario perfecto numero ..." Legum allegoriae 1,3, ed. Pfeiffer 1, 124f; ed. Cohn/Wendland (Editio maior) 1, 62,3; weitere Stellen s. KGA 1/7.1, 150,8 f App. 25 Zu H: Nach Thönes 31 Anm. 1 hat Schleiermacher die alttestamentlichen Stellen (wohl als Gedächtnisstütze für die Vorlesung) „in ihren bezeichnenden Ausdrücken ausgeschrieben", darunter auch Hiob 38,4.

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1987 jemals gewesen wäre. Eben so gewiß aber auch ist, daß wenn in allem endlichen Sein als solchem irgend etwas wäre, das als von Gott unabhängig in die Entstehung desselben eingegangen wäre: so könnte, weil eben dies auch in uns sein müßte, das schlechthinige Abhängigkeitsgefühl auch in Beziehung auf uns selbst keine Wahrheit haben. Würde 196 hingegen Gott als schaffend auf irgend eine Weise beschränkt gedacht, also demjenigen ähnlich in seiner Thätigkeit, was doch schlechthin von ihm abhängig sein soll: so würde das diese Abhängigkeit aussagende Gefühl ebenfalls nicht wahr sein können, indem Gleichheit und Abhängigkeit sich gegenseitig aufheben, und also das Endliche, sofern es Gott gleich wäre, nicht könnte schlechthin von ihm abhängig sein. Unter einer andern als diesen beiden Formen aber ist ein Widerspruch irgend einer Theorie von der Schöpfung mit der allgemeinen Grundlage unseres frommen Selbstbewußtseins nicht zu denken. Mit dem christlichen Charakter desselben aber, da dieser eine Erfahrung schon voraussezt, kann eine Lehre von der bloßen Schöpfung, weil sie auf das Fortbestehen keine Rüksicht nimmt, auch nicht in Widerspruch stehen. Die christliche Frömmigkeit kann also bei diesen Forschungen kein anderes Interesse haben, als nur sie von diesen beiden Klippen entfernt zu halten. Ob nun aber dieses leicht sei, oder auch hier wer die eine vermeiden will nur zu leicht der andern nahe kommt, das muß sich aus der näheren Betrachtung der in die Glaubenslehre aufgenommenen Zusäze ergeben.

§. 41. Wenn der Begriff der Schöpfung weiter entwikkelt werden soll, so muß das Entstehen der Welt zwar ganz auf die göttliche Thätigkeit zurükkgeführt werden, aber 215 nicht so, daß diese nach | Art der menschlichen bestimmt werde; und das Entstehen der Welt soll als die allen Wechsel bedingende Zeiterfüllung dargestellt werden, aber nicht so, daß die göttliche Thätigkeit selbst eine zeitliche würde.

Η 24 Cautel für alle weitere Entwickelung. 24 § 41 — CG 1 § 49 30 Zu eine zeitliche vgl. das Lutherzitat „Kanon", s. KGA 1/7.3, 133 Marg. 764 oder als „klassische 761

unten 235,4 f ; es gilt als Stelle" ebd. 132 Marg.

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C o n f . B e l g . XII. „Credimus Patrem per verbum hoc est filium suum coelum et terram ceterasque creaturas omnes, quandoque ipsi visum fuit, ex nihilo creasse [ . . . ] . " - J o . D a m . d. o r t h . f. II, 5. . . . έκ του μή Ö V T O S eis τό είναι παραγαγών τά σύμπαντα. - L u t h . ζ. Gen. II, 2. §. 7. „ [ . . . ] und 1997 ist Gott in Summa außer allem Mittel und Gelegenheit der Z e i t . " — E b e n d . „[...] alles was Gott hat schaffen wollen, das hat er geschaffen dazumal, da er sprach, o b es wohl nicht alles plözlich allda vor unsern 197 Augen scheint . . . Ich zwar [ . . . ] bin etwas neues ... aber . . . für Gott bin ich gezeuget und gewahret bald am Anfang der Welt, und dies Wort, da er sprach, Lasset uns Menschen machen, hat auch mich geschaffen." H i l a r , de f. Tr. X I I , 40. „Nam etsi habeat dispensationem sui [...] firmamenti solidatio ... sed coeli terrae ceterorumque elementorum creatio ne levi saltem momento operationis discernitur [ . . . ] " . — A n s e l m . M o n o l . 9. „Nullo namque pacto fieri potest aliquid rationabiliter ab aliquo, nisi in facientis ratione praecedat aliquod rei faciendae quasi exemplum, sive ut aptius dicitur forma . . . quare cum ea quae facta sunt, darum sit nihil fuisse antequam fierent, quantum ad hoc quia non erant quod nunc sunt, nec erat ex quo fierent, non tarnen nihil erant quantum ad rationem facientis [ . . . ] . " - P h o t . B i b l . p. 302. B e k k . ότι ό 'ύύριγένης [ . . . ] ελεγε συνάί'διον είναι τω ... θεώ τό παν. Ει γαρ, εφασκε, ούκ εστί δημιουργός άνευ δημιουργημάτων . . . ουδέ παντοκράτωρ άνευ των κρατουμένων . . . ανάγκη έξ άρχής αύτά ϋπό τοϋ θεοΰ γεγενήσθαι, και μή είναι χρόνον, δτε ούκ ήν ταϋτα. εί γάρ ήν χρόνοξ, δτε ούκ ήν τά ποιήματα . . . και άλλοιοΰσθαι και μεταβάλλειν τόν άτρεπτον και άναλλοίωτον συμβήσεται θεόν εί γάρ ύστερον πεποίηκε τό παν, δήλον δτι άπό τοϋ μή ποιεΐν εις τό ποιεΐν μετέβαλε. -

2 Spur des Zeitlichen: ,quandoque' = prius non visum. 4 und] Und 6 alles] Alles 9 gewahret] Kj gemehret vgl. Luther (s. Sachapp.) und CG' KGA 1/7.1, 144,23 13 A n s e l m . M o n o l . ] A n s e l m . M o n o l 19 ό] δ 2 5 εις τό] είς το

1 Confessio belgtca XII, in: Corpus et syntagma 133; Corpus ed. Augusti 176; BSRK 237,2 3 Johannes Damascenus: De fide orthodoxa 2,5, ed. Lequien 1, 160 B; MPG 94, 880 A; ed. Kotter PTS 12, 50,3 4 Luther: Auslegung des Ersten Buchs Mösts, zu Kap. 2: 1,1 § 7, in: Sämtliche Schriften ed. Walch1 1, 136; vgl. WA 42, 58; s. KGA 1/7.3, 133 Marg. 764; vgl. oben 234,30 6 Luther: Auslegung des Ersten Buchs Mosis, zu Kap. 2: 1,1 § 7 in: Sämtliche Schriften ed. Walch' 1, 135 f ; vgl. WA 42, 57 8 Statt für G o t t . . . gewahret . . . da er sprach Q : vor G o t t . . . gemehret . . . Gott sprach 11 Hilarius: De trinitate 12,40, ed. Ben. 1133 D; MPL 10, 458f; CChr.SL 62 A, 611,18 13 Anselm von Canterbury: Monologion 9, ed. Gerberon (1721) 7 b D. E; MPL 158, 157; ed. Schmitt (1938) 1, 24,12; ed. Schmitt (1964) 66 19 Photius von Konstantinopel: Biblothecae codices cap. 235, ed. Hoeschelius 494, 29 ff (so CG' KGA 1/7.1, 145,15); ed. Bekker (1824) 302 a.b; MPG 103, 1140 C. D; ed. Henry 5, 109,30-43; zu Origenes vgl. Schleiermacher: Geschichte der christlichen Kirche, SW 1/11, 168; zu Photius ebd. 422; Boekels: Schleiermacher als Kirchengeschichtler 334,22 20 Statt Ε! γάρ, εφασκε, ούκ Q (Bekker): "Εφασκε γάρ, Ei ούκ

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§41

H i l a r , d. f. Tr. XII, 39. „ C u m enim p r a e p a r a r e t u r coelum aderat Deo. N u m q u i d coeli prae|paratio D e o est temporalis ? ut repens cogitationis m o t u s subito in mentem t a m q u a m antea t o r p i d a m ... subrepserit, h u m a n o q u e m o d o fabricandi coeli impensam et instrumenta quaesierit? ... Q u a e enim f u t u r a sunt, licet in eo q u o d creanda sunt a d h u c fient, D e o 5 t a m e n , cui in creandis rebus nihil novum ac repens est, iam facta sunt: d u m et t e m p o r u m dispensatio est ut creentur, et iam in divinae virtutis praesciente efficientia sint creata." - A u g u s t i n d . civ. D. XI. 4, 2. „ Q u i autem a D e o [...] factum fatentur, non t a m e n eum volunt temporis habere sed suae creationis initium, ut m o d o q u o d a m vix intelligibili sem- 10 per sit factus: dicunt quidem aliquid etc." i b i d . XII, 15. „Sed cum cogito cuius rei dominus semper fuerit, si semper creatura non fuit, a f f i r m a r e aliquid pertimesco [...]." — i b i d . 17. „[...] una eademque sempiterna et immutabili voluntate res, quas condidit, et ut prius non essent egit, [...] et ut posterius essent, q u a n d o esse coeperunt [...]." - I d e m d e civ. D. XI, 15 6. „[...] procul d u b i o non est m u n d u s factus in tempore sed c u m tempore." - Idem d e g e n e s , c. M a n . I, 2. „ N o n ergo possumus dicere fuisse aliquod tempus q u a n d o Deus n o n d u m aliquid fecerat." 1. D e r A u s d r u k k a u s N i c h t s l ä u g n e t , d a ß vor der E n t s t e h u n g der W e l t irgend e t w a s außer G o t t v o r h a n d e n g e w e s e n , w a s als Stoff in die 20 Weltbildung eingegangen wäre; und ohnstreitig würde die A n n a h m e e i n e s u n a b h ä n g i g v o n der g ö t t l i c h e n T h ä t i g k e i t v o r h a n d e n e n S t o f f e s d a s s c h l e c h t h i n i g e A b h ä n g i g k e i t s g e f ü h l zerstören, u n d die w i r k l i c h e Welt darstellen als eine M i s c h u n g aus d e m w a s durch G o t t u n d d e m w a s nicht durch G o t t d a wäre. I n d e m nun aber d i e s e Formel o h n l ä u g - 25 bar die A r i s t o t e l i s c h e K a t e g o r i e έξ ο υ z u r ü k r u f t u n d d e r s e l b e n n a c h g e bildet ist: s o erinnert sie auf der e i n e n Seite an d i e m e n s c h l i c h e A r t zu b i l d e n , w e l c h e e i n e m v o r h a n d e n e n Stoff die F o r m giebt, auf der a n d e r n Seite a n das Verfahren der N a t u r in der Z u s a m m e n s e z u n g der Körper a u s mehreren E l e m e n t e n . In s o fern nun h i e d u r c h alles w a s s c h o n 30

19 1. Aus Nichts. // a) Direct.

10 vix] via

13 una] Una

16 procul] Procul

1 Hilarius: De trinitate 12,39, ed. Ben. 1132 A. C; MPL 10, 457 A. C; CChr.SL 62 A, 609,3.22 8 Augustinus: De civitate Dei 11,4,2; ed. Ben. 7, 209 B; MPL 41, 319; CSEL 40/1, 515,18; CChr.SL 48, 324,27 11 Augustinus: De civitate Dei 12,15,1 (12,16); ed. Ben. 7, 238 B; MPL 41, 363; CSEL 40/1, 591,9; CChr.SL 48, 370,4 13 Augustinus: De civitate Dei 12,17,2 (12,18); ed. Ben. 7, 241 A; MPL 41, 367; CSEL 40/1, 598,14; CChr.SL 48, 374,63 15 Augustinus: De civitate Dei 11,6; ed. Ben. 7, 210 E; MPL 41, 322; CSEL 40/1, 519,18; CChr.SL 48, 326,16 17 Augustinus: De Genesi contra Manichaeos 1,2,3, ed. Ben. 1, 480 A; MPL 34, 175; CSEL 91, 69,(3)16

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§41

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Naturverlauf ist streng von der ersten | Entstehung geschieden und eben so die Schöpfung über die bloße Gestaltung hinaus gehoben wird, ist der Ausdrukk auch tadellos. Nur sieht man aus Hilarius und Anselmus wie leicht sich doch hinter die Verneinung des Stoffs ein Vorhersein der Gestalten vor den Dingen natürlich nicht außer Gott sondern in Gott verstekkt. Auch dieses erscheint an sich ganz unverfänglich; aber indem nun doch die beiden Glieder dieses Gegensazes Stoff und Form sich nicht gleich zu Gott verhalten, wird dieser doch aus der Indifferenz gegen den Gegensaz hinausgerückt und also gewissermaßen unter denselben gestellt. Daher auch natürlich dieses Sein der Formen in Gott vor dem Dasein der Dinge als doch schon auf dasselbe sich beziehend ein Vorbereiten genannt werden kann. Allein hiedurch wird sogleich die andere Regel verlezt und wir müssen dagegen Luthers Ausspruch geltend machen; denn Gott bleibt nicht mehr außer aller Berührung mit der Zeit, wenn es zwei göttliche Thätigkeiten giebt, die wie Vorbereitung und Schöpfung nur in einer bestimmten Zeitfolge gedacht werden können. Anselm spricht diese Zeitlichkeit nach seiner Art am trokkensten und unbefangensten aus. Hilarius möchte sie aufheben; aber dies gelingt ihm eigentlich doch nur mit dem, was jezt noch einzeln in der Zeit entsteht nicht aber mit der ursprünglichen Schöpfung; denn von dieser kann man nicht sagen, daß sie in der vorherwissenden W i r k s a m k e i t , schon ehe sie wurde, wäre geschaffen gewesen. - Nur beiläufig kann hier bemerkt werden, daß der Ausdrukk aus Nichts auch öfter vorkommt um die Erschaffung der Welt zu unterscheiden von der Erzeugung des Sohnes 1 . Wäre nun die lezte allgemein anerkannt eine ewige und die erste eben so allgemein anerkannt eine zeitliche, so wäre nicht nöthig noch einen andern Unterschied aufzustellen; oder auch wenn man nur auf diesem Gebiet vollkommen einig wäre über den Unterschied zwischen Erzeugen und Erschaffen. Doch ist auch so der Ausdrukk zu diesem Zwekk nicht nöthig, indem, wenn man auch Wort und Sohn gar nicht identificirt, schon der Ausdrukk

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„Fecisti enim c o e l u m et t e r r a m n o n de te, n a m esset aequale unigenito t u o . . . et aliud praeter te n o n erat unde faceres ea, [ . . . ] et ideo de nihilo fecisti c o e lum et t e r r a m [ . . . ] . " A u g u s t i n . C o n f . X I I , 7.

3 Ueber das Präformirtsein in G o t t .

13 Zu andere Regel oben 234,30 D; MPL 32, 828; CSEL 33, 314,8;

2 2 b) Indirect.

32 Augustinus: Confessiones CChr.SL 27, 219,7

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12,7,7,

ed. Ben. 1, 159

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§41

durch das Wort gemacht sein 2 jeder Verwechselung dieser Art hinlänglich vorbeugt, selbst wenn man den Unterschied zwischen Schaffen und Erzeugen nicht hervorhebt. 2. Wenn wir nun so streng wie oben angedeutet ist die erste Entstehung sondern, daß wir alles nicht schlechthin primitive schon zu 5 dem in der Entwiklung begriffenen Naturlauf rechnen, und also unter den Begriff der Erhaltung bringen: so ist die Frage, ob die Schöpfung selbst eine Zeit eingenommen, schon verneinend erledigt. Die Unterscheidung einer ersten und zweiten Schöpfung oder einer unmittelbaren und mittelbaren kommt immer zurükk entweder im allgemeinen, 10 2027 auf das Werden des zusammengesezten aus dem einfachen 3 , oder auf 200 das des organischen aus dem elementarischen 4 . Hier aber wieder eine Schöpfung eintreten lassen hebt entweder den Unterschied zwischen Schöpfung und Erhaltung ganz wieder auf, oder es sezt differente Stoffe ohne alle ihnen einwohnende Kräfte voraus, welches ein völlig 15 219 lee|rer Gedanke ist. Sondern wenn man auch bei Schöpfung zunächst an Stoffe denkt, wiewol vollkommen eben so nahe liegt an Kräfte zu denken: so muß doch von da an ein lebendiges bewegliches Sein bestanden und sich weiter fort entwikkelt haben, sonst wäre die Schöp-

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„Denn es sind alle Dinge durch G o t t e s W o r t also g e m a c h t , d a ß sie billiger 20 geboren, denn geschaffen o d e r e r n e u e r t heißen m ö g e n , denn da ist kein Instrument o d e r W e r k z e u g h i n z u g e k o m m e n . " L u t h . Τ. V. S. 1 1 0 2 . Tfj μέν π ρ ώ τ η ημέρα έττοίησεν ό θεός δσα έττοίησεν έκ μη ό ν τ ω ν ταΐς δέ άλλαις ούκ έκ μή όντων, άλλ' έξ ών έττοίησε τή ττρώτη ήμερα μετέβαλεν ώς ήθέλησε. H i p p o l y t , in Genes. 25 τά μέν ουκ έκ ττροϋττοκειμένης Οληξ, οίον ούρανόν, w o ουρανός die aristotelische fünfte Substanz ist, γήν άέρα ττΰρ ΰδωρ· τά δέ έκ τούτων [ . . . ] , οίον ζωα φυτά etc.

4 2 . Zeitlichkeit. // a) Schöpfung als d a u e r n d . | ten sie schon w i r k s a m gewesen sein.

22 T.] Th.

24 έξ ών] εξ ών

26 τά] OD: Τά

1 5 N ä m l i c h als Kräfte m ü ß -

27 δέ] δε

27 ζώα] ζώα

20 Luther: Auslegung des 90. Psalms, Sämtliche Schriften ed. Walch1 5, 1102 f (zu Ps 90,2); vgl. WA 4013, 509; s. KGA 1/7.3, 134 Marg. 773; statt erneuert ... hinzugekommen. Q: formiret ... darzu gekommen. 23 Hippolyt: Fragmenta, excerpta ex commentariis in Genesin 1,6, ed. Fabricius 2,22; MPG 10, 585 A ; GCS 1/2, 72,5; gleichlautend: Severianus Gabalensis: De mundi creatione 1,3, MPG 56, 433; ed. Zellinger 69 26 Johannes Damascenus: De fide orthodoxa 2,5, ed. Lequien 1, 160 B; MPG 94, 880 A; ed. Kotier PTS 12, 50,4 f ; s. KGA 1/7.3, 134 Marg. 772

§41

239

fung des bloßen Stoffes doch auch nur eine Vorbereitung gewesen, eine äußere materielle entsprechend jener inneren formellen. Wir dürfen daher diese Bestimmungen einer Zeit zurükk geben, die sich in solchen Abstractionen gefallen konnte, weil von einer dynamischen Ansicht der Natur keine Rede war. Eine andere auch gar nicht in unserm Gebiet einheimische Frage über das Verhältniß der Weltschöpfung zur Zeit ist die, ob eine Zeit vor der Welt gewesen oder ob die Zeit erst mit der Welt begonnen habe. Nehmen wir aber Welt in dem weitesten Sinne: so dürfen wir das erste nicht bejahen lassen, weil eine Zeit vor der Welt sich nur könnte auf Gott bezogen haben, und dieser also in die Zeit versezt würde. Die Conf. belg. mit ihrem ,quando ipsi visum fuit' fällt aber offenbar in diesen Fehler, und wir müssen uns dagegen auf die Formeln des Augustinus zurükziehn. - Der Streit endlich über eine zeitliche und ewige Schöpfung der Welt, den man auf die Frage zurükkführen kann, ob ein Sein Gottes ohne Geschöpfe gedacht werden könne oder müsse, betrifft ebenfalls keinesweges den unmittelbaren Gehalt des schlechthinigen Abhängigkeitsgefühls, und es ist daher an und für sich gleichgültig, wie er entschieden wird. Nur in sofern man mit der Vorstellung einer Schöpfung in der Zeit den eines Anfangs der göttlichen Thätigkeit nach außen oder eines Anfangs göttlicher Herrschaft 2037 verbinden muß, wie Origenes die Sache darstellt, so würde dadurch 201 Gott in das Gebiet des Wechsels gestellt, also zeitlich, mithin der Gegensaz zwischen ihm und dem endlichen Sein verringert, wodurch denn freilich die Reinheit des Abhängigkeitsgefühls gefährdet wird. Wenn Augustin um dies zu | vermeiden doch nur Einen göttlichen Wil- 220 lensact für das frühere Nichtsein und das spätere Sein der Dinge aufstellt: so genügt dies wol schwerlich. Dann gehört ein gleich wirksamer göttlicher Wille dazu, damit die Welt früher nicht sei: so muß man annehmen, daß sie ohne diesen göttlichen Willen früher werde geworden sein, mithin daß ein Vermögen ins Dasein zu treten unabhängig von Gott vorhanden sei. Ist aber derselbe Eine göttliche Wille doch während des Nichtseins der Dinge auch ein unwirksamer, indem er eben so wenig etwas verhindert als hervorbringt: so bleibt doch das

5 b) Zeit vor der Welt. Formel dafür.

13 c) Zeitliche oder ewige [Schöpfung]. // NB. Andere

21 Origenes] Origines

14 Zu ewige Schöpfung s. KG A 1/7.3, 136 Marg. 786 Adelung: Wörterbuch 1, 1255

TJ dann im Sinne von „denn" s.

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§41

Uebergehen aus dem Nichthandeln in das Handeln, wenn man es auch anders ausdrükt als Uebergang aus dem Wollen in die Wirksamkeit 5 , wogegen sich nicht denken läßt wie die Vorstellung, daß Gott nicht ohne von ihm schlechthin abhängiges ist, auf irgend eine Weise sollte das fromme Selbstbewußtsein schwächen oder verwirren können. Wie denn auch die hier noch gar nicht zu behandelnde Zurükführung des Wortes, wodurch Gott die Welt geschaffen, auf das Wort welches von Ewigkeit bei Gott war, sich nie zur rechten Klarheit bringen läßt 6 , wenn nicht durch das ewige Wort auch ewig geschaffen wird. 2047 Z u s a z . Man kann hieher auch noch die Bestimmung rechnen, daß Gott die Welt durch einen f r e i e n Beschluß geschaffen. Nun versteht sich zwar von selbst daß derjenige schlechthin frei ist von wel202 chem alles schlechthin abhängig ist. Nur wenn man sich bei dem freien Beschluß eine Berathung vorhergehend denkt, auf welche eine Wahl 221 folgt, | oder wenn man jene Freiheit so ausdrükkt, daß Gott die Welt auch eben so gut nicht hätte schaffen können, weil man meint es sei nur entweder dieses möglich, oder daß Gott die Welt habe schaffen müssen: so hat man schon vorher sich Freiheit nur im Gegensaz mit Nothwendigkeit gedacht, und also, indem man Gott eine solche Freiheit zuschreibt, ihn in das Gebiet des Gegensazes gestellt.

„ A d d a m u s e u m a b a e t e r n o id voluisse. Quicquid enim vult, id voluit ab a e t e r n o [ . . . ] . J a m q u o d voluerat a b a e t e r n o id aliquando t a n d e m f a c t u m est. N u n wirkte er also und w a r thätig d a ß die Welt entstand [ . . . ] . " M o r u s C o m m e n t . Τ. 1. §. 2 9 2 . « Vgl. L u t h e r W. Α. I. S. 2 3 . - 2 8 . u. III. S. 3 6 . - 4 0 . 5

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8 Statt „ n u r " lies „ n i e " .

8 nie] so Η ; OD: nur

14 Bei Berathung ist u.a. auch an Zwingli gedacht, s. KGA 1/7.3, 137 Marg. 793 21 Morus: Commentarius 1, 292; s. KGA 1/7.3, 137 (Marg. 790). 439; statt eum ... voluisse Q: eum ab aeterno voluisse 25 Luther: Auslegung des Ersten Buchs Mosis, zu Gen 1,3-5, in: Sämtliche Schriften ed. Walch1 1, 23-28; vgl. WA 42, 13-15; Luther: Predigten über das I. Buch Mosis (1527), in: Sämtliche Schriften ed. Walch1 3, 36-41; vgl. WA 24, 28,31-32,34

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§42

Erster Anhang.

Von den

Engeln.

§. 4 2 . D a diese in den alttestamentischen Büchern einheimische Vorstellung auch in das neue Testament hinübergekommen ist, und auf der einen Seite weder etwas un5 mögliches in sich schließt, noch mit der Grundlage alles 2057 gottgläubigen Bewußtseins im Widerspruch steht, auf der andern Seite aber nirgends in den Kreis der eigentlichen christlichen Lehre hineingezogen ist: so kann sie auch ferner in der christlichen Sprache vorkommen, ohne jedoch 10 daß wir verpflichtet wären etwas über ihre Realität festzustellen. 1. D i e E r z ä h l u n g e n von A b r a h a m , L o t h , J a k o b , von d e r B e r u f u n g des M o s e s u n d G i d e o n , d e r V e r k ü n d i g u n g des S i m s o n , t r a g e n d a s G e p r ä g e d e s s e n , w a s w i r S a g e zu n e n n e n pflegen, s e h r d e u t l i c h a n 15 sich, ja in m e h r e r e n d e r s e l b e n w e r d e n G o t t selbst u n d die E n g e l d e s H e r r n so m i t e i n a n d e r v e r w e c h s e l t , d a ß d a s G a n z e a u c h k a n n als eine T h e o p h a n i e g e d a c h t w e r d e n , w o d a n n d a s z u r sinnlichen W a h r n e h m u n g g e l a n g e n d e g a r nicht b r a u c h t die E r s c h e i n u n g eines von G o t t v e r s c h i e d e n e n s e l b s t ä n d i g e n W e s e n s zu sein. In dieser U n b e s t i m m t h e i t 20 a l s o ist die V o r s t e l l u n g älter als | diese E r z ä h l u n g e n , ja vielleicht n o c h als die e r z ä h l t e n B e g e b e n h e i t e n , u n d d a n n a u c h nicht a u s s c h l i e ß e n d

1 Warum hier und nicht nach dem 2. Lehrstück? / / S t e u d e l : Bios kosmologisch. / / Da sie in der Schöpfung fehlen, so schwanken sie zwischen Ewigsein (Theophanie) und Nichtsein (Träger des Befehls). 12 1. Alttestamentisches Vorkommen. / / a) Darstellung. 1 Zu Erster Anhang, s. KGA 1/7.3, 139 Marg. 809: „Ich kann hier meinem letzten Vortrag der noch nicht geordnet genug war auch nicht folgen"; diese Bemerkung zu den letzten Vorlesungen an Hand von CG1 bereitet die Neuordnung des Stoffs in CG2 vor. - Zu H: Auf Schleiermachers Frage im Zweiten Sendschreiben an Lücke, KGA 1/10, 384 f, ob die Vorstellungen von Engeln oder Teufeln religiös oder kosmologisch seien, antwortet Steudel 1830 in seinem Sendbrief an Schleiermacher (Ueber das ... Verfahren 11) : „...ich habe einen ... biblisch begründeten Begriff von göttlicher Offenbarung, nach welchem es für mich allerdings undenkbar ist, daß sie sich an Irrthümer auch über Gegenstände der Naturlehre und Naturgeschichte anknüpfte." S. oben zu 19,16 und unten zu 248,7 2 § 42 = CG1 § 53-53 12 Gen 18,2.16.22; 19,1.15; 24,7; 28,12; 32; Ex 2,2; Ri 6,11.20-22; 13; in CG' ging die Besprechung der Bekenntnisse (§ 52) den biblischen Erörterungen (§ 53) noch voran, vgl. KGA 1/7.3, 141 Marg. 820

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§42

203 hebräisch im engeren Sinne, welches auch aus mancherlei andern Spuren, z.B. der Geschichte des Bileam hervorzugehen scheint. Dichterische Ausführungen mancher Art in den Psalmen und Propheten leiten auch darauf, daß alles, was ein Träger eines göttlichen Befehls ist, auch Engel kann genannt werden; so daß bisweilen bestimmte besondere Wesen unter diesem Ausdrukk zu denken sind, bisweilen auch nicht. Jenes nun haben wir wol zunächst nicht anders zu erklären, als wie überhaupt verschiedene Völker unter verschiedenen Formen sich geistige Wesen mannigfaltiger Art gebildet haben, weil nämlich das Bewußtsein von der Gewalt des Geistes über den Stoff immer, je weniger die Aufgabe noch gelöst ist, um desto mehr eine Neigung in sich schließt, mehr Geist vorauszusezen als der sich in der menschlichen Gattung manifestirt, und andern als wie die thierischen lebendigen Kräfte und Kunsttriebe die erst selbst mit ihrer Gewalt über den Stoff sollen als Stoff in unsere Gewalt gebracht werden. Wir nun, welchen die Mehrheit der Weltkörper bekannt ist, befriedigen jenes Verlangen durch die uns geläufige Voraussezung, daß diese großentheils oder alle mit nach verschiedenen Stufen beseelten Wesen erfüllt sind. Vorher aber blieb nichts anders übrig, als entweder die Erde selbst mit uns ver2067 borgenen geistigen Wesen zu bevölkern oder den Himmel. Das jüdische Volk scheint sich entschieden mehr an das lezte gehalten zu haben, zumal seit das höchste Wesen zugleich als der König des Volks gedacht wurde, also Diener in seiner Nähe haben mußte, um sie beliebig an jeden Punkt seines Reichs zu senden, und sie in jeden Zweig der Verwaltung eingreifen zu lassen, und dies ist auch gewiß die am meisten ausgebildete Vorstellung von Engeln. Wir müßten sie demnach gänzlich trennen von unserer Vorstellung des auf andern Weltkörpern ihrer 223 Natur gemäß in Verbindung mit einem Organismus entwikkelten geistigen Leben; denn die biblische Vorstellung kann man hierauf nicht

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2 0 b) Wie sie d e m g e m ä ß zu denken sind. lung intellektueller, organischer Wesen.

2 6 Differenz von unserer Vorstel-

l f Spuren,] Ms.: Spuren 3 f leiten ... darauf] im Mi. am Rand mit Einfügungszeichen statt 18 bevorsteht,] Ms.: bevorsteht 19 aber,] Ms.: aber 20 Ende,] Ms.: Ende 20 ist] isi 23 Religion,] Ms.: Religion 2 4 f Gemeinschaften,] Ms.: Gemeinschaften 26 ruhen,] Ms.: ruhen 27 ausgegangen,] Ms.: ausgegangen 28 Impulses,] Ms.: Impulses 33 12, 28.] 12, 27.

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161

Schrift fleischliche Motive sind. Theokratien hingegen sind solche fromme Gemeinschaften, welche als solche den bürgerlichen Verein unter sich gebracht haben, in welchen daher der bürgerliche Ehrtrieb darauf wirkt etwas ausgezeichnetes in der religiösen Gemeinschaft zu 5 sein, und die Voraussezung zum Grunde liegt, die fromme Gemeinschaft oder die göttliche Offenbarung auf welcher sie beruht, könne auch den bürgerlichen Verein hervorgerufen haben, welches in diesem Sinn nur bei volksthümlich beschränkten frommen Gemeinschaften möglich ist. Beiden also, politischen Religionen sowol als Theokratien, 10 macht Christus durch seine rein geistige Herrschaft des Gottesbewußtseins ein Ende; und je mehr sich sein Reich befestigt und verbreitet, um desto bestimmter sondern sich Kirche und Staat, so daß in der gehörigen äußeren Trennung beider, die freilich unter sehr verschiedenen Gestalten bestehen kann, die Zusammenstimmung beider sich immer 15 vollkommner ausbildet. Z u s a z zu d i e s e m H a u p t s t ü k k . Erst nachdem wir die ganze 1457 Lehre von Christo abgehandelt haben, läßt sich übersehen, was für eine Bewandniß es habe mit den bei|den ihm beigelegten entgegengesezten 173 S t ä n d e n der E r n i e d r i g u n g und der E r h ö h u n g , indem sich die Aus20 drükke, so genau genommen als es ein Ort in dem System mit sich bringt, weder auf die Verhältnisse der Person an sich oder des Geschäfts an sich, noch auf das Verhältniß des Geschäfts zur Person anwenden lassen. Zuerst nun sezt genau genommen der Ausdrukk 159 Erniedrigung ein früheres höher gewesen sein voraus, welches, wenn 25 wir bei der Einheit der Person stehen bleiben, nicht heraus zu finden ist. Denn Erhöhung kann man es zwar nennen, wenn Christus der Erstling der Auferstehung geworden ist und zur Rechten Gottes sizt, und im Vergleich damit kann der irdische Zustand ein niedriger genannt werden, aber da die Person Christi doch erst mit seiner Menschwer30 dung anfing, nicht eine Erniedrigung. Man theilt also die Person Christi, und indem man das göttliche in ihm als ein von Ewigkeit her be-

2 Gemeinschaften,] Ms.: Gemeinschaften 5 liegt,] M i . : liegt 6 göttliche ... beruht,] Ms.: ihr zum Grunde liegende göttliche Offenbarung 7 haben,] Ms.: haben 9 also,] Ms.: also 9 Theokratien,] Ms.: Theokratien 11 verbreitet,] Ms.: verbreitet 15 vollkommner] Ms.: vollkomner 15 ausbildet.] im Ms. folgt Einfügungszeichen; am Rand dazu die Druckanweisung NB Hieher das mit Α bezeichnete Blatt auf dessen Vorder- und Rückseite der Einschub Z u s a z ... werden. 161,16-164,12 nachgetragen ist 16 Z u s a z ... H a u p t s t ü k k ] Ms.: Zusaz zu diesem Hauptstükk 17 haben,] Ms.: haben 17 übersehen,] Ms.: übersehen 18 habe] Ms.: hat 19f Ausdrükke,] Ms.: Ausdrükke 21 bringt,] Ms.: bringt 21 oder] Ms.: noch 22 sich,] Ms.: sich 26 nennen,] Ms.: nennen 27 sizt,] Ms.: sizt 30 anfing,] Ms.: anfing 3 0 f Christi,] Ms.: Christi

162

5 105

sonderes ansieht, erscheint das H e r a b k o m m e n desselben a u f die Erde als eine Erniedrigung. Allein d e m schlechthin h ö c h s t e n und ewigen, mithin nothwendig sich selbst gleichen, läßt sich doch keine Erniedrigung zuschreiben. Es würde auch daraus folgen, d a ß von demselben G e s i c h t s p u n k t aus die E i n w o h n u n g des heiligen Geistes in der G e m e i n schaft der G l ä u b i g e n noch um so m e h r m ü ß t e eine Erniedrigung sein, als die menschliche N a t u r in uns nicht rein und unsündlich ist wie in der Person Christi. J a auch die S c h ö p f u n g m ü ß t e wegen des allgegenwärtigen Seins G o t t e s in allem endlichen eine E r n i e d r i g u n g sein, da ja gegentheils die Verherrlichung G o t t e s als Z w e k k der S c h ö p f u n g angegeben wird. Lassen wir uns aber den Ausdrukk Erniedrigung gefallen statt des genaueren Z u s t a n d der Niedrigkeit, bleiben a b e r dann bei der Einheit der Person s t e h e n : so zeigt sich doch auch so der G e g e n s a z als eine bloße T ä u s c h u n g , oder wenigstens als nur ein Schein für Andere, aber nicht eine W a h r h e i t für C h r i s t u m selbst. D e n n wie k a n n sich der | 174 einer Niedrigkeit seines Z u s t a n d e s b e w u ß t gewesen sein, der von seinem Verhältniß zu G o t t d e m Vater a u f eine solche Weise redet 1 6 , d a ß auch das Geseztsein zu seiner R e c h t e n nicht als eine E r h ö h u n g angesehen werden k a n n ? D e n k t m a n weiter an die gewöhnliche Vorstellung 160 von zwei N a t u r e n und von einer gegenseitigen M i t t h e i l u n g der Eigen1467 schaften beider, so k a n n m a n die Erniedrigung nur beziehen nicht a u f die Vereinigung beider N a t u r e n , denn diese bleibt j a , wenn doch die M e n s c h h e i t Christi zur Rechten G o t t e s e r h ö h t ist, sondern nur auf die göttliche N a t u r , entweder sofern sie sich des G e b r a u c h s ihrer Eigenschaften e n t h ä l t , o d e r sofern sie die der menschlichen mit a n n e h m e n m u ß . D a s lezte Verhältniß nun bleibt ebenfalls unverändert. D e n n da der A b s t a n d zwischen G o t t und j e d e m endlichen Wesen unendlich ist: so wird er auch nicht verändert, o b m a n sich die M e n s c h h e i t in ihrem gegenwärtigen Z u s t a n d e denkt oder in ihrer fortgeschrittenen E n t wiklung. D a s erste a b e r hat auch nur um ein weniges m e h r Schein für sich. D e n n w e n n , was mit derselben D a r s t e l l u n g z u s a m m e n h ä n g t , auch in dem Stande der Niedrigkeit vermöge des freien Willens Christi Aus-

16

Joh. 1,51.

4,34.

5, 17. 20 flgd. 6 , 5 7 .

8,29.

10, 30. 36. u. a. v. a. O.

1 ansieht,] M i . : ansieht 2 ewigen,] Ms.: ewigen 3 gleichen,] Ms.: gleichen 4 folgen,] Ms.: folgen 6 sein,] Ms.: sein 12 Niedrigkeit,] Ms.: Niedrigkeit 14 Andere,] Ms.: Andere 21 beider,] Ms.: beider 23 Rechten] Ms.: rechten 23 ist,] Ms.: ist 23f auf ... entweder] im Ms. umgestellt aus entweder auf die göttliche Natur 25 enthält,] Ms.: enthält 26 Verhältniß nun] Ms.: aber 26 unverändert. ... da] Ms.: unverändert stehen. Da 27 ist:] Ms.: ist 28 verändert,] Ms.: verändert 30f um ... sich] Ms.: etwas mehr Schein 31 zusammenhängt,] Ms.: zusamenhängt

5

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§105

5

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163

nahmen statt gefunden haben 1 7 : so muß ja die Entsagung auch freiwillig gewesen sein. Und eben dies müssen wir auch ohne auf die Ausnahmen Rüksicht zu nehmen dennoch behaupten, da der göttlichen Natur kein Zwang kann angethan werden. So daß vielmehr eine Nöthigung, Gebrauch von denselben zu machen wider den freien Willen, eine Erniedrigung gewesen wäre. Aber wir können uns auch nicht einmal in dem Stande der Erhöhung einen vollständigeren | Gebrauch derselben 175 denken. Denn sind alle Eigenschaften der göttlichen Natur ununterbrochen thätig in der menschlichen, so müssen alle Thätigkeiten der menschlichen Natur ununterbrochen ruhen, was doch immer heißen würde, die menschliche Natur wäre was ihre Thätigkeit betrifft von der göttlichen absorbirt, und es bliebe nur das leidentliche derselben übrig ganz gegen die ursprüngliche Voraussezung. Wie soll aber auch ein ununterbrochener Gebrauch der göttlichen Eigenschaften denkbar sein, wenn wir uns doch Christum denken sollen uns beim Vater vertretend und für uns bittend der Sünde wegen, also auch ihn in mitfühlender Theilnahme mit den Kämpfen der streitenden Kirche? so daß auch hier 161 nur ein mehr oder weniger übrig bleibt, welches den Gebrauch solcher Ausdrükke nicht rechtfertigen kann. Und nun darf kaum noch gesagt werden, daß dieser Gegensaz auch auf die Verrichtungen Christi nicht kann bezogen werden. Denn wenn man auch sagen wollte, die königliche sei bei weitem die höchste: so waren doch die prophetische und die 1477 hohepriesterliche dieser die nächsten, aber nicht ihr als niedrige entgegengesezt, ja auch die Art, wie Christus die prophetische Thätigkeit ausübte, war keine niedrige Stellung. - Fragen wir nun bei der gänzlichen Unhaltbarkeit dieser Formel nach dem Ursprung derselben: so

17

S o l . d e c l . p. 7 6 7 . „ [ . . . ] divinam s u a m m a j e s t a t e m p r o Uberrima voluntate q u a n d o et q u o m o d o ipsi visum fuit [ . . . ] etiam in statu exinanitionis manifestavit."

1 statt gefunden] M s . : stattgefunden 1 haben:] Ms.: haben 3 behaupten,] M s . : behaupten 4 Nöthigung,] M s . : Nöthigung 5 Willen,] Ms.: Willen 9 menschlichen,] Ms.: menschlichen 9 Thätigkeiten] Ms.: thätigen Eigenschaften 11 würde,] M s . : würde 12 absorbirt,] M s . : absorbirt 16 wegen,] M s . : wegen 20 werden,] M s . : werden 21 wollte,] M s . : wollte 22 höchste:] Ms.: höchste 23 nächsten,] M s . : nächsten 24 Art,] M s . : Art 25 ausübte,] Ms.: ausübte 27 p. 767.] M s . : p. 7 6 7 . 27 majestatem] Ms.: maiestatem

27 Formula

concordiae,

Sol. decl. VUI 25; Concordia

767; BSLK

1024,44

164

5 106

hat sie ihr einziges Fundament in einer Schriftstelle 18 , deren asketischer und im ganzen Zusammenhang betrachtet rhetorisirender Charakter die Absicht nicht verräth, daß dort vorkommende Ausdrükke didaktisch sollten fixirt werden. Es würde auch daraus folgen, daß die Erhöhung Christi eine nur für die Erniedrigung ihm von Gott bestimmte Belohnung sei, ohne unmittelbaren Zusammenhang weder mit seiner eigenthümlichen Würde noch mit der Vollendung sei|nes Werkes. Die Art aber, wie Paulus hier Christum als Vorbild aufstellt, verträgt sich sehr gut damit, daß er nur von dem Schein der Niedrigkeit in dem Leben sowol als im Tode ausgegangen ist. Daher denn diese Formel mit allem Recht bei der Ueberlieferung der Lehre füglich kann bei Seite gestellt und der Geschichte zur Aufbewahrung übergeben werden.

Zweites Hauptstükk.

Von der Art, wie sich die Gemeinschaft mit der Vollkommenheit und Seligkeit des Erlösers in der einzelnen Seele ausdrükkt. §. 106. Das dem in die Lebensgemeinschaft Christi aufgenommenen eigenthümliche Selbstbewußtsein wird dargestellt unter den beiden Begriffen der Wiedergeburt und der Heiligung. 1. Wenn das Wesen der Erlösung darin besteht, daß in der menschlichen Natur das vorher schwache und unterdrükkte Gottes-

18

Phil. 2, 6—9. Alle andern Stellen, welche hierüber angeführt werden, tragen gar nichts zur Sache bei.

1 Schriftstelle,] M i . : Schriftstelle 3 verräth,] Ms.: verräth 4 folgen,] M i . : folgen 6 sei,] M i . : sei 8 aber,] Ms.: aber 8 aufstellt,] Ms.: aufstellt 9 damit,] Ms.: damit 13-16 H a u p t s t ü k k . / Von ... ausdrükkt] Ms.: H a u p t s t ü k k . Von der A r t , wie sich die G e m e i n s c h a f t mit der V o l l k o m m e n h e i t und S e l i g k e i t des E r l ö s e r s in der e i n z e l n e n Seele a u s d r ü k k t 17 §. 106.] Ms.: 106. 17 in] im Ms. korr. aus ihn 21 daß] im Ms. folgt 23 Stellen,] Ms.: Stellen

17 § 106 α CG' § 127

5 106

5

10

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30

165

bewußtsein durch den Eintritt und die lebendige Einwirkung Christi gehoben und zur Herrschaft gebracht werde: so muß der Einzelne, auf welchen diese Einwirkung sich äußert, eine religiöse Persönlichkeit erlangen, die er vorher noch nicht hatte. Nämlich vorher äußerte sich das Gottesbewußtsein nur gleichsam in einzelnen Blizen, welche nicht zündeten, weil es nicht im Stande war auf stätige Weise die einzelnen Lebensmomente zu bestimmen, so daß auch die einzeln wirklich durch 1487 dasselbe bestimmten immer sehr bald durch die von entgegengesezter Art wieder aufgehoben wurden. Unter einer frommen Persönlichkeit aber | ist eine solche zu verstehen in welcher jeder überwiegend leident- 177 liehe Moment nur durch die Beziehung auf das in der Einwirkung des Erlösers gesezte Gottesbewußtsein beschlossen wird, und jeder thätige von einem Impuls eben dieses Gottesbewußtseins ausgeht. Das Leben steht also unter einer andern Formel, und ist mithin ein neues; daher die Ausdrükke neuer Mensch, neues Geschöpf 1 , welche dem unsrigen neue Persönlichkeit gleichbedeutend sind. Natürlich aber da der Mensch als psychische Lebenseinheit derselbe bleibt, und dieses neue Leben also nur auf das alte gleichsam gepfropft wird, ist auch dieses neue Leben in der Erscheinung nur ein werdendes. Dennoch kann der Zustand in welchem dasselbe ein werdendes ist, wenn in der Erinnerung auf den bezogen, in welchem es auch noch kein werdendes war, nur angeknüpft werden und mit dem vorigen zu der zeitlichen Stetigkeit derselben Person nur verbunden werden durch die Voraussezung eines Wendepunktes, mit welchem die Stetigkeit des alten aufhörte und die des neuen zu werden begann; und dies ist das wesentliche des 163 Begriffs der Wiedergeburt. So wie auf der andern Seite die wachsende Stätigkeit des neuen, worin die der Formel desselben angemessenen Momente immer mehr aneinander treten, die das alte Leben repräsentirenden aber immer schwächer und seltener wiederkehren, durch den Ausdrukk Heiligung bezeichnet wird. — Gehn wir hiebei auf das obige zurükk, daß das Verhältniß Christi zu der übrigen menschlichen Natur genau dasselbe ist, wie in seiner Person das Verhältniß ihres göttlichen

1

2 Kor. 5, 17.

Eph. 4, 24.

2 Einzelne,] Ms.: Einzelne 3 äußert,] Ms..· äußert 5 Blizen,] Ms.: Blizen 12 wird,] Ms.: wird 14 Formel,] Ms.: Formel 17 bleibt,] Ms.: bleibt 20 ist,] Ms.: ist 20 wenn] im Ms. am Rand mit Einfügungszeichen 21 auf ... bezogen,] auf ... bezogen im Ms. umgestellt aus bezogen auf den 24 Wendepunktes,] Ms.: Wendepunktes 25 begann;] Ms.: begann 31 zurükk,] Ms.: zurükk 32 ist,] Ms.: ist 30 Zu obige s. oben

107,9-108,6

166

S 106

zu ihrem menschlichen: so stellen auch beide Begriffe genau die Analogie dar mit dem Act der Vereinigung und dem Zustand des Vereintseins. Nur daß dort eine Person erst rein entstand und daher auch der 178 Zustand der Vereinigung eine ununterbrochene | Stetigkeit war und eine eben solche Verbreitung in der menschlichen Natur, welches daher auch hier der Fall sein müßte wenn nicht vermöge der Identität des Subjects mit der früheren Persönlichkeit immer noch Elemente aus dem Leben der Sündhaftigkeit her als hemmend vorhanden wären. Und eben so wenig wie dort eines ohne das andere sein konnte, eben so wenig läßt sich auch hier die Wiedergeburt isoliren oder die Heiligung. 1497 2. Ist nun die Construction dieses Hauptstükks hiedurch im allgemeinen gerechtfertigt: so ist nur noch einiges über die Stellung desselben zu dem schon gesagten 2 hinzuzufügen. Was wir nämlich zulezt abgehandelt von dem königlichen Amt Christi, das hätte uns an und für sich auf die natürlichste Weise zu der Darstellung des neuen Gesammtiebens, über welches er herrscht, hinführen können. Und allerdings wie jezt jedem nur aus diesem Gesammtieben die Anregungen kommen, aus denen sein Aufgenommen werden in die Lebensgemeinschaft mit Christo hervorgeht, und wie von den Einwirkungen der Gesammtheit auf den Einzelnen auch dessen Heiligung abhängt: so 164 hätten sich sehr gut diese Lehrstükke auch unter dem folgenden Abschnitt abhandeln lassen. Eben so gut aber findet auch das umgekehrte statt. Denn wie der Eintritt Christi in die Menschheit die zweite Schöpfung derselben ist, sie also dadurch eine neue Kreatur wird: so kann man diesen Eintritt auch als die Wiedergeburt des menschlichen Geschlechts ansehn, welche aber doch nur unter der Form der Wiedergeburt der Einzelnen wirklich zu Stande kommt. Und wie die Gemeinschaft der Gläubigen ihrem wahren Wesen nach doch nur besteht aus der Gesammtheit der Heiligungsmomente aller in die Lebensgemein-

2

Oben §. 90, 1. und 91, 2.

2 mit dem] im Ms. über der (zwischen) 2 f Vereintseins. Nur] Ms.: Vereintseins; nur 5 - 8 welches ... wären.] im Ms. am Rand mit Einfügungszeichen 14 zu ... hinzuzufügen] im Ms. umgestellt aus hinzuzufügen zu dem schon gesagten 16 f Gesammtiebens,] Ms.: Gesammtiebens 17 herrscht,] Ms.: herrscht 18 Gesammtieben] leben im Ms. am Rand mit Einfügungszeichen zur Korrektur von Gcsammt(|thun]) 19 kommen,] Ms.. kommen 20 hervorgeht,] Ms.: hervorgeht 21 auch] fehlt im Ms. 21 abhängt:] so im Ms. korr. aus abhängt; OD: abhängt; 25 wird:] Ms.: wird 31 Oben 32,13;

37,5

5

10

15

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25

30

5

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10

15

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106

167

schaft Christi aufgenommenen Einzelnen: so schließt auch wieder die H e i l i g u n g des Einzelnen alles in sich, wodurch die Gemeinschaft ge- 179 knüpft, zusammengehalten und verbreitet wird. Bei dieser vollkommnen Gegenseitigkeit nun rechtfertigt sich diese Stellung dadurch, daß doch ursprünglich Einzelne von Christo ergriffen wurden, und auch jezt noch es immer eine durch die geistige Gegenwart im W o r t vermittelte Wirkung Christi selbst ist, wodurch die Einzelnen in die Gemeinschaft des neuen Lebens aufgenommen werden; vorzüglich aber dadurch, daß die frühere Stelle mehr für dasjenige geeignet ist, was auf der einen Seite auf das alte Gesammtieben der allgemeinen Sündhaftigkeit sich zurükkbezieht, auf der andern Seite aber dem neuen Gesammtieben unter der Gnade zum Grunde liegt. Und das gilt von beiden in diesem Hauptstükk zu erörternden Begriffen. Wenn die Wiedergeburt für den Einzelnen der Wendepunkt ist, an dem das frühere Leben gleichsam abbricht und das neue beginnt: so stellt sie uns also das Verschwinden des Alten auf, wie es nur durch die erlösende Thätigkeit Christi zu begreifen ist, aber nur so, daß die Kraft des neuen zugleich der Seele muß eingepflanzt worden sein. Und wie auf diese 1507 Weise die Behandlung auf das vorige Hauptstükk zurükksieht: so enthält sie auch die Grundlage zu dem nächsten Abschnitt, indem diese Kraft des neuen Lebens zugleich auch der Gemeingeist ist, welcher das Ganze beseelt. Die Heiligung hat aber ebenfalls zwei Seiten. Von der einen angesehen ist ihr M a a ß die allgemeine Sündhaftigkeit, wie sie 165 schneller oder langsamer in der einzelnen Seele überwunden wird; von der andern angesehen ist ihr M a a ß das Verhältniß der einzelnen Seele zu dem neuen Gesammtieben, wie sie nämlich schneller oder langsamer in dem Dienst desselben fortschreitet. I

2 sich,] Ms.: sich 2 f geknüpft,] Ms.: geknüpft 3 f vollkommnen] Ms.: vollkomnen 4 dadurch,] Ms.: dadurch 5 wurden,] Ms.: wurden 7 ist,] Ms.: ist 8 werden;] Ms.: werden, 9 dadurch,] Ms.: dadurch 9 die ... mehr] Ms.: diese Stelle vorzüglich 9 ist,] Ms.: ist 11 zurükkbezieht,] Ms.: zurükbezieht 11 Seite] fehlt im Ms. 14 ist,] Ms.: ist 15 beginnt:] Ms.: beginnt 16 auf,] Ms.: auf 17 zu begreifen] im Ms. am Rand mit Einfügungszeichen statt {[begriffen]) 17 ist,] Ms.: ist 17 so,] Ms.: so 18 sein. Und] Ms.: sein, und 19 zurükksieht:] Ms.: zurükksieht, 20 zu] im Ms. korr. aus ]des] 21 ist,] Ms.: ist 22 Von] im Ms. über 24 wird;] Ms.: wird, 26 Gesammtieben,] Ms.: Gesammtieben

168

5

180

107

Erstes Lehrstükk.

Von d e r W i e d e r g e b u r t . §. 107. Das Aufgenommenwerden in die Lebensgemeinschaft mit Christo ist als verändertes Verhältniß des Menschen zu Gott betrachtet seine Rechtfertigung, als ver- 5 änderte Lebensform betrachtet seine Bekehrung. 1. Da wir es hier nur mit dem Zustand des Einzelnen im Uebergang aus dem Gesammtieben der Sündhaftigkeit zur Lebensgemeinschaft mit Christo zu thun haben: so haben wir uns auch nur aus diesem die nothwendige Zusammengehörigkeit der beiden hier bezeichneten M o m e n t e zu erklären. Unter der Lebensform ist hier nichts anderes zu verstehen, als die Art und Weise, wie die einzelnen Zeittheile des Lebens werden und sich aneinander reihen; und das Selbstbewußtsein wird also betrachtet in seinem Uebergang in Thätigkeit, das heißt als Grund des Willens. In dem verlassenen Zustande nun waren die Erregungen des Selbstbewußtseins, in welchen das Gottesbewußtsein mitgesezt war, nicht willenbestimmend sondern nur durchlaufend, und nur das sinnliche Selbstbewußtsein war willenbestimmend. Der Lebenszusammenhang mit Christo aber bringt eine Umwandlung dieses Verhältnisses beider Elemente hervor, und dies wird durch den Ausdrukk Bekehrung bezeichnet. Ein Verhältniß zu Gott haben wir nur wirklich in unserm ruhenden Selbstbewußtsein, wie es sich im Gedan166 ken reflectirt festhält, und nur sofern das Gottesbewußtsein darin mitgesezt ist. N u n kennen wir, als dem Leben im Zustand der Sündhaftigkeit eigen, nur ein Verhältniß des Menschen zu der göttlichen Heilig1517 keit und Gerechtigkeit, und dieses ist nichts anderes als das Selbstbe181 wußtsein der | Schuld und der Strafwürdigkeit 1 . D a ß nun dieses mit

1

V g l . §. 83. 84.

l f L e h r s t ü k k . / V o n ... W i e d e r g e b u r t ] M s . : L e h r s t ü k k . Von der Wiedergeburt 3 §. 107.] M s . : 107. 8 aus ... Sündhaftigkeit] im Ms. am Rand mit Einfügungszeichen 12 verstehen,] M s . : verstehen 12 Weise,] M s . : Weise 13 reihen;] M s . : reihen, 16 Selbstbewußtseins,] Ms.: Selbstbewußtseins 17 war,] M s . : war 20 hervor,] M s . : hervor 22 Selbstbewußtsein,] Ms.: Selbstbewußtsein 23 festhält,] M s . : festhält 24 wir,] M s . : wir 25 eigen,] M s . : eigen 26 Gerechtigkeit,] Ms.: Gerechtigkeit

3 § 107 = CG1 § 128

28 Oben 1, 511,13;

1, 517,6

10

15

20

25

5

5

10

15

20

25

107

169

dem Anfang der Lebensgemeinschaft Christi aufhören muß, und nicht etwan erst mit irgend einem Grade der Vollkommenheit in derselben, leuchtet von selbst ein, da beides gar nicht mit einander bestehen kann, und es kein wahres Bewußtsein von Gemeinschaft mit Christo geben kann, so lange jenes Bewußtsein noch fortbesteht. - Offenbar ist aber auch, daß beide Momente nicht können von einander getrennt werden, so daß eine Bekehrung gedacht werden könnte ohne Rechtfertigung, oder eine Rechtfertigung ohne Bekehrung. Das erste wäre entweder nur ein Entschluß sich selbst zu vergeben um der Unvermeidlichkeit der Sünde willen, ein Aufhören des alten Verhältnisses zu Gott ohne daß ein neues entstanden, statt der Rechtfertigung also ein gänzliches Aufhören des Gottesbewußtseins im Selbstbewußtsein, also Verstokkung. Denn ein neues Verhältniß kann nur entstehn durch das Einswerden mit Christo, wodurch auch die Bekehrung entsteht. Eben so wenig läßt sich denken, eine von dem Einsgewordensein mit Christo ausgehende neue Willensrichtung, bei welcher doch das Bewußtsein der Schuld und Strafwürdigkeit fortdauerte; denn der neue Mensch müßte dann ein bewußtloser sein, oder anders ausgedrükkt, es müßte geben eine Aufnahme in die Gemeinschaft der Vollkommenheit Christi ohne eine in die Gemeinschaft seiner Seligkeit. Vielmehr wo dies vorzukommen scheint, ist entweder das Schuldbewußtsein nur noch eine täuschende Vergegenwärtigung der Vergangenheit, oder die Bekehrung ist nur ein Besserwerdenwollen aus eignen Mitteln ohne wahre Lebensgemeinschaft mit Christo. Ist nun beides, Bekehrung und Rechtfertigung, unzertrennlich von einander: so müssen auch beide als gleichzeitig ge- 167 dacht werden, und jede ist das untrügliche Kennzeichen der andern. |

2. Was die Bezeichnung dieser Gegenstände betrifft: so findet sich 182 darin eine große Mannigfaltigkeit bei den Glaubenslehrern, indem dieselben Ausdrükke von Andern in anderer Bedeutung genommen wer30 den, und so kann auch die hier gewählte willkührlich erscheinen. Denn vergleicht man die Ausdrükke Wiedergeburt und Bekehrung: so ist

1 muß,] Ms.: muß 3 ein,] Ms.: ein 3 kann,] so Ms., OD: kann; 5 kann,] Ms.: kann 6 werden,] Ms.: werden 7 Rechtfertigung,] Ms.: Rechtfertigung 8 - 1 0 entweder ... willen,] entweder ... willen im Ms. am Rand mit Einfügungszeichen 11 entstanden,] Ms.: entstanden 11 f statt ... Verstokkung.] statt ... Verstokkung im Ms. am Rand mit Einfügungszeichen 13 Verhältniß] im Ms. am Rand mit Einfügungszeichen 14 Christo,] Ms.: Christo 15 denken,] Ms.: denken 18 sein,] Ms.: sein; 18 ausgedrükkt,] Ms.: ausgedrükkt 21 scheint,] Ms.: scheint 22 Vergangenheit,] Ms.: Vergangenheit 24 Ist] im Ms. am Rand mit Einfügungszeichen statt {[Sind sie]) 24 beides,] Ms.: beides 24 Rechtfertigung,] Ms.: Rechtfertigung 26 werden,] Ms.: werden 28 Glaubenslehrern] so Ms., O D : Glaubenslehren, 31 Bekehrung:] Ms.: Bekehrung,

170

5

107

1527 keine rechte Anzeige vorhanden, daß der lezte Begriff nur ein Theil des ersten sein sollte, sondern man könnte eben so leicht es umgekehrt vermuthen. Noch weniger liegt in dem Ausdrukke Rechtfertigung irgend etwas auf den Anfang einer neuen Lebensform hindeutendes; und denkt man daran daß der ablaufende Zustand der unter dem Gesez ist, so läßt der Ausdrukk eher vermuthen, daß dieser Zustand noch fortdauern solle, als daß er eingehe. Eben so ließen sich dem Ausdrukk Bekehrung andere nicht minder bedeutungsvolle und eben so biblische 2 vorschieben. Ein solches Schwanken ist bei dem großen Reichthum meist bildlicher Ausdrükke, deren sich die heiligen Schriftsteller für diesen Ort bedienen, nicht zu vermeiden; und es kommt dann mehr auf die genaue Erklärung dessen an, was bei den Ausdrükken gedacht werden soll, als auf die Wahl der Wörter selbst. Die hier getroffene rechtfertigt sich indessen auf der einen Seite dadurch, daß doch Wiedergeburt am bestimmtesten den Anfang eines zusammenhängenden Lebens ausdrükkt, auf der andern Seite dadurch, daß die Beziehung auf das Vorhergegangene, welche in dem allgemeinen Ausdrukk sehr zurükktritt, in den beiden partiellen das vorherrschende ist. Von dem Wort Bekehrung für Umwendung, Umkehr zum Besseren, leuchtet unmittelbar ein, daß es Anfang einer Reihe ist im Gegensaz zu einer früheren. Aber auch Rechtfertigung sezt etwas voraus in Beziehung 183; 168 worauf jemand gerechtfertigt wird; und da in dem höchsten Wesen kein Irrthum möglich ist, so wird angenommen, zwischen dem vorher und jezt sei dem Menschen etwas begegnet, wodurch das frühere göttliche Mißfallen aufgehoben wird, und ohne welches er nicht habe können ein Gegenstand des göttlichen Wohlgefallens werden. Es schien aber nicht rathsam noch mehrere von den bildlichen Ausdrükken der

2

ζ. B . E r l e u c h t u n g E p h . 3 , 9 . Tit. 3, 5. Hebr. 6, 6.

5, 14.

H e b r . 6 , 4—6. E r n e u e r u n g E p h . 4 , 2 3 .

3 Ausdrukke] Ms.: Ausdrukk 6 vermuthen,] vermuthen im Mi. korr. aus vermuth[liche] 7 solle,] Ms.: solle 10 Ausdrükke,] Ms.: Ausdrükke 10 deren] Ms.,: dessen 11 bedienen,] Ms.: bedienen 12 an,] Ms.: an 13 soll,] Ms.: soll 13 als] im Ms. über der Zeile mit Einfügungszeichen 14 dadurch,] Ms.: dadurch 17 Vorhergegangene,] Ms.: Vorhergegangene 18 zurükktritt,] Ms.: zurükktritt 19 Umwendung,] Ms.: Umwendung 19 Besseren,] Ms.: Besseren 20 ein,] Ms.: ein 20 zu] so Ms., fehlt im OD 2 0 f einer früheren.] einer früheren im Ms. am Rand mit Einfügungszeichen statt «([vorherigen]) 22 wird;] Ms.: wird, 23 ist,] Ms.: ist 23 angenommen,] Ms.: angenommen 24 begegnet,] Ms.: begegnet

27 CG' KGA 1/7.2, 107,35 App. verweist

auf Hollaz:

Examen

795

5

10

15

20

25

171

S 108

Schrift in diesen Kreis aufzunehmen; denn ohne spizfindig zu werden und unnüze Verwiklungen herbeizuführen lassen sich in dem, was selbst reiner Anfangspunkt, M o m e n t ist, nicht noch mehrere Beziehungen unterscheiden, ungerechnet noch d a ß Erleuchtung und E r n e u e r u n g 5 auch eben so gut von dem fortdauernden und also für das Gebiet der Heiligung können gebraucht werden. - Die O r d n u n g scheint bei der Gegenseitigkeit der Beziehungen völlig gleichgültig, es wird aber in vieler Hinsicht bequemer sein die Bekehrung voranzuschikken.

Erster Lehrsaz. Von der B e k e h r u n g .

is37

ίο

§. 108. Die Bekehrung, als der Anfang des neuen Lebens in der Gemeinschaft mit Christo, bekundet sich in jedem Einzelnen durch die B u ß e , welche besteht in der Verknüpfung von Reue und Sinnesänderung, und durch den G l a u b e n , welcher besteht in der Aneignung der Voll15 kommenheit und Seligkeit Christi.

20

25

C o n f . Aug. XII. „Constat autem poenitentia proprie his duabus partibus, altera est contritio seu terrores incussi conscientiae agnito peccato, altera est fides [ . . . ] . " - A p o l . C o n f . V. „Nos igitur [...] constituimus duas partes poenitentiae videlicet contritionem et fidem. Si quis volet addere tertiam videlicet ... mutationem totius vitae ac morum in melius non refragabimur." - E x p o s , s i m p l . X I V p. 36. „Per poenitentiam autem in|telligimus mentis in homine peccatore resipiscentiam verbo evangelii et 184 spiritu s. excitatam fideque vera acceptam, qua protinus homo [...] agna- 169 tam sibi corruptionem peccataque omnia sua ... agnoscit ac de his ex corde dolet, eademque coram Deo [...] deplorat et ... execratur cogitans iam sedulo de emendatione. [...] Et haec quidem est vera poenitentia, sincera nimirum ad Deum et omne bonum conversio, sedula vero a diabolo

2 unnüze] Ms.: unüze 3 Anfangspunkt,] so Ms., O D : Anfangspunkt 3 ist,] M s . : ist 3 nicht] im Ms. über der Zeile mit Einfügungszeichen 4 unterscheiden,] Ms.: unterscheiden 7 Beziehungen] so Ms., O D : Beziehung 10 §. 108.] M s . : 108 10 Bekehrung,] Ms.: Bekehrung 11 Christo,] Ms.: Christo 12 B u ß e , ] M s . : B u ß e 14 G l a u b e n , ] Ms.: G l a u b e n

10 § 108 = CG1 § 130 16 Confessio Augustana XII, in: Symbola ed. Twesten 29; BSLK 66,15 18 Apologia confessionis XII,28; Concordia 165; ed. Lücke 286 (Kap. „V. De poenitentia"); BSLK 257,1 21 Confessio helvetica posterior (Expositio simplex) XIV, in: Corpus ed. Augusti 36; BSRK 188,43

172

5 108 et o m n i m a l o aversio. Diserte vero dicimus h a n c p o e n i t e n t i a m m e r u m esse Dei d o n u m et n o n virium n o s t r a r u m o p u s . " - i b i d . XV. p. 4 2 . „ Q u a p r o p t e r loquimur in h a c c a u s a . . . de fide viva vivificanteque, quae p r o p ter C h r i s t u m [ . . . ] q u e m c o m p r e h e n d i t viva est [ . . . ] . " - R e p e t i t . c o n f . p. 1 4 7 . Twesten. „ O s t e n d i m u s [ . . . ] supra, fide significari fiduciam a c q u i e s c e n t e m in filio Dei [ . . . ] , p r o p t e r q u e m recipimur et placemus [ . . . ] . " — „Fides est fiducia applicans nobis beneficium Christi . . . " „ [ . . . ] fiducia est m o t u s in voluntate [ . . . ] , q u o voluntas in C h r i s t o asquiescit [ . . . ] . " M e l a n c h t h . l o c . s. t. de voc. fides. —„[...] quibuscunque verbis alii uti volent, rem retinere c u p i m u s . " i b i d .

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1. Die Bezeichnung in den angeführten Stellen der Bekenntnißschriften scheint freilich nicht dieselbe zu sein wie die in unserm Saz, indem das Wort ,poenitentia' eher nur der Buße also einem Theil entspricht, und in dem schweizerischen Bekenntniß das Wort ,conversio', 1547 welches unserm Bekehrung entspricht, nur einen Theil der poenitentia 15 ausdrükken soll. Und wenn wir auch bevorworten, daß wir den bei uns wörtlich fehlenden andern Theil, nämlich die Abwendung vom Bösen mit einverstanden haben: so würde dann beides zusammen, Abwendung vom Bösen und Hinwendung zu Gott und dem Guten, doch nur den Theil umfassen, den wir durch Sinnesänderung bezeichnen. Allein 20 wenngleich dort beides zusammen aversio und conversio der poenitentia also dem Ganzen gleichgesezt wird: so sind doch vorher zu diesem auch gerechnet sowol die schmerzliche Anerkennung der Sünde, welche 185 der Abwen|dung, als auch der Glaube, welcher der Hinwendung vorangehen muß, so daß Abwendung und Hinwendung für sich doch nicht 25 das Ganze ausmachen. In der Augsb. Conf. finden wir außer dem Glauben nur die Zerknirschung, welche nur unserer Reue gleichzustel-

2 ibid.] Ms.: ibid. 2 42.] so Ms., OD: 48 2 f Qua propter] Ms.: Quapropter 4-6 R e p e t i t . ... placemus.] im Ms. am Rand mit Einfügungszeichen 5 T w e s t e n . ] Ms.: Twesten 9 quibuscunque] Ms. und OD: Quibuscunque 11 in den] Ms.: ] im Ms. über (unse) 12 Saz,] Ms.: Saz 13 das Wort] im Ms. am Rand mit Einfügungszeichen 14 Bekenntniß] Ms.: Bekentniß 14 conversio,] Ms.: conversio 15 entspricht,] Ms.: entspricht 16 bevorworten,] Ms.: bevorworten 17 Theil,] Ms.: Theil 19 Guten,] Ms.: Guten 22 gleichgesezt] Ms.: gleich gesezt 24 Abwendung,] Ms.: Abwendung 24 Glaube,] Ms.: Glaube 27 Zerknirschung,] Ms.: Zerknirschung

2 Confessio helvetica posterior XV, in: Corpus ed. Augusti 42; BSRK 192,35 4 Repetitio confessionis, in: Symbola ed. Twesten 147; CR 28,391; ed. Stupperich 6,104,26 7 Melanchthon: Loci (1559) 230; CR 21,744; ed. Stupperich 212, 406,6; statt Fides ... applicans Q : Necesse est igitur fide intelligi fiduciam applicantem 7 Melanchthon: Loci (1559) 230 sub titulo „De vocabulo fidei"; CR 21, 744; ed. Stupperich 2/2, 399,10 9 Melanchthon: Loci (1559) 230; CR 21, 749; ed. Stupperich 2/2, 405,36; statt volent Q: volunt

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len ist; aber in der Apologie wird die Veränderung zum Besseren hinzugefügt, die freilich als fortdauerndes betrachtet der Heiligung gleich- 170 kommt, als Anfang aber doch hieher gehört, und dann unserm Ausdrukk Sinnesänderung entspricht. Sieht man also auf die Gesammtheit der Elemente: so enthalten die Bekenntnißschriften ganz dasselbe mit unserm Saz. Unsere allgemeine Bezeichnung aber ist durch den herrschenden asketischen Sprachgebrauch als solche hinreichend gerechtfertigt, und dem Ausdrukk ,poenitentia', im Deutschen Buße, zu diesem Behuf gewiß weit vorzuziehen, da dieser keine Andeutung von dem wirklichen Anfang einer neuen Lebensform enthält, und es auch sehr befremdlich klingt, den Glauben — daß wir aber diesen Ausdrukk ganz so gebrauchen wie die Bekenntnißschriften, leuchtet von selbst ein - als einen Theil der Buße aufzählen zu hören. Daher denn auch anderwärts in der Apologie 1 die Ausdrükke Buße und Bekehrung verwechselt werden. Eine andere Verschiedenheit entdekkt sich am besten an andern symbolischen Stellen, wo die beiden Haupttheile Zerknirschung und Glaube auch beschrieben werden als Ertödtung und Belebung 2 . Denn wenn offenbar die erste die Reue oder Zerknirschung ist, und die andere eben so offenbar der Glaube: so fällt, was wir die | Sinnesände- 186; J557 rung genannt haben, aus. Indessen kann ohne eine solche Aenderung des innersten Strebens das wirkliche Ergreifen Christi im Glauben nicht

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V. p. 168. „[...] ostendendum est quod scriptura in p o e n i t e n t i a s e u c o n v e r s i o n e [...] has duas partes ponit." A p o l . C o n f . i b i d . „Paulus fere ubique cum describit conversionem [...] facit has duas partes mortificationem et vivificationem ..." „Sunt ergo hic duae partes contritio et fides."

1 Apologie] im M i . am Rand mit Eitifügungszeicben statt 2f gleichkommt] M s . : entspricht 3 g e h ö r t , ] Ms.: g e h ö r t 6f herrschenden] M s . : allgemeinen 7f gerechtfertigt,] Ms.: g e r e c h t f e r t i g t 8 p o e n i t e n t i a , ] Ms.: p o e n i t e n t i a 8 im . . . Buße,] im ... B u ß e im Ms. am Rand mit Einfügungszeichen 11 klingt,] Ms.: k l i n g t 11 f - d a ß . . . ein —] im Ms. am Rand mit Einfügungszeichen 12 B e k e n n t n i ß s c h r i f t e n , ] Ms.: Bekenntnißschriften 16 Stellen,] M s . : Stellen 18 ist,] M s . : ist 22 p o e n i t e n tia] Ms.: p a e n i t e n t i a 2 4 C o n f . ] im M s . folgt [V] 25 S u n t ] M s . und OD: s u n t 25 hic] so M s . , OD: h a e

2 2 Apologia confessionis XU 44; Concordia 168: „Sed quia confutatio damnat nos, quod has duas partes poenitentiae posuerimus, ostendendum est, quod scriptura in poenitentia, seu conversione impii ponat has praecipuas partes."; ed. Lücke (Kap. „V. De poenitentia" mit gleichem Wortlaut) 292.294; BSLK 259,48 2 4 Apologia confessionis XII 46; Concordia 168; ed. Lücke (Kap. „V. De poenitentia") 294; BSLK 260,28 25 Apologia confessionis Xll 47; Concordia 169; ed. Lücke (Kap. „V. De poenitentia") 296; BSLK 260,51

§108

174

gedacht werden, und auch die Zerknirschung wäre ohne sie nur eine durchlaufende Erregung, mithin ist die Sinnesänderung auch stillschweigend in beiden mit gesezt. Endlich ist noch zu bemerken, daß sowol unser allgemeiner Ausdrukk Bekehrung, als auch die besonderen Buße, Reue und Sinnesänderung in der kirchlichen Sprache nicht allein als Bezeichnung für den Anfang des neuen Lebens gebraucht werden, sondern auch für das, was in Bezug auf die noch übrige Sünde in der Fortsezung desselben vorkommt. Allein aus dem oben 3 auseinandergesezten folgt, daß ein sehr großer Unterschied sein muß zwischen dem, was zum Umkehren von der Sünde gehört für die noch nicht, und was für die schon in der Gemeinschaft mit dem Erlöser lebenden. Den lezteren kann der Zusammenhang mit dem Erlöser und die dem gemäß geänderte Gesinnung zwar verdunkelt worden sein und in ihrer Wirksamkeit gehemmt, aber verloren gegangen ist keines von beiden. Daher wird ihnen zwar keine Sünde zum Bewußtsein kommen ohne Reue, aber weder werden sie das neue Leben wieder von vorn anzufangen brauchen, noch werden sie einer Sinnesänderung im strengsten Sinne nöthig haben. Was hingegen den Glauben betrifft: so ist wol offenbar, daß der Glaube ein beständig fortdauernder Gemüthszustand ist, und daß hier in der Lehre von der Bekehrung genau genommen nur von der Entstehung des Glaubens die Rede sein kann. Denn Aneignung, Besizergreifung 4 , ist ein einmaliger Act; der Glaube in seiner Währung gedacht ist hingegen das mit jenem Act beginnende beharrliche Bewußtsein des Besizstandes. Ist so|nach der Anfang des göttlich bewirkten Glaubens schon wesentlich in der Bekehrung, seine Währung aber der bleibende Grundzustand des neuen Lebens: so wird dadurch zugleich bei der relativen Trennung von Wiedergeburt und Heiligung

3 4

$. 7 4 . Expos,

s i m p l . X V . p. 4 2 . „ . . . fides Christum [ . . . ] recipit [ . . . ] . "

4 Bekehrung,] Ms.: Bekehrung 5 Buße,] Ms.: Buße 6 werden,] Ms..· werden 7 das,] Ms.: das 9 folgt,] Ms.: folgt 9 ein ... großer] Ms.: auch der größte 9 dem,] Ms.: dem 10 von] fehlt im Ms. 10 nicht,] Ms.: nicht 10 was] fehlt im Ms. 12 Zusammenhang] Ms.: Zusamenhang 13 Gesinnung] Ms.: Gesinung 14 gehemmt,] Ms.: gehemmt 14 beiden. Daher] Ms.: beiden; daher 15 Reue,] Ms.: Reue 17 brauchen,] Ms.: brauchen 18 offenbar] Ms.: Offenbar 21 f Besizergreifung,] Ms.: Besizergreifung 23 beharrliche] im Ms. am Rand mit Einfügungszeichen 25 Bekehrung,] Ms.: Bekehrung 29 E x p o s . ... XV.] so Ms., OD: Expos, simpl. XV. 29 ... fides] so Ms., OD: fides

28 Oben 1, 460,17 BSRK 192,17

29 Confessio

helvetica

posterior

XV, in: Corpus

ed. Augusti

42;

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die nothwendige Zusammengehörigkeit von beiden und die Stätigkeit des göttlichen Wirkens in dem ganzen Verlauf der neuen Schöpfung vorläufig dargestellt. - Daß aber die römische Kirche den Glauben nicht mit zur Bekehrung rechnet, statt dessen aber Bekenntniß und Genugthuung, wovon das erste recht verstanden schon in der Reue 256 7 liegt, die andere aber unmöglich ist, dies hat theils seinen Grund in ihrer Lehre von der Kirche, theils darin, daß diese Kirche das Wort Glauben anders gebraucht, indem sie nur die göttlich mitgetheilte und 172 von uns angenommene Kenntniß von des Menschen Bestimmung darunter versteht, weshalb sie denn auch behauptet, der Glaube gehe der Buße und Bekehrung voran 5 . Nun ist freilich diese Verschiedenheit des Sprachgebrauchs unangenehm, weil sie die Auseinandersezung der Differenzpunkte erschwert: so wie auch das unangenehm ist, daß im gemeinen Leben dasselbe Wort so oft von einer nicht nur ebenfalls keine Bewegung des Willens in sich schließenden, sondern auch unzureichend begründeten Ueberzeugung gebraucht wird. Demohnerachtet dürfen wir das Wort nicht fahren lassen, sondern müssen es bei seinem wohlerworbenen Recht um so mehr schüzen, als einerseits die Sprachgemäßheit unserer Gebrauchsweise | leicht nachzuweisen und der Aus- 188 drukk unter uns völlig einheimisch geworden ist als Uebersezung des Wortes, wodurch die Ursprache der Schrift den Gemüthszustand des Menschen bezeichnet, welcher sich in der Gemeinschaft Christi zufriedengestellt und kräftig fühlt, andrerseits aber er im Streit gegen die Werkthätigkeit der römischen Kirche einen neuen geschichtlichen Werth für uns gewonnen hat.

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C a t e c h . r o m . p r a e f . 2 7 . „ C u m enim finis qui ad beatitudinem h o m i n i propositus est altior sit, q u a m ut h u m a n a e mentis acie perspici possit, necesse ei erat ipsius a D e o cognitionem a c c i p e r e . H a e c vero cognitio nihil aliud est nisi fides [ . . . ] . " - i b i d . P. II. d e p o e n i t . 8. „Verum in eo q u e m poenitet, fides p o e n i t e n t i a m antecedat necesse est . . . e x q u o fit, ut nullo m o d o p o e n i t e n t i a e p a r s recte dici p o s s i t . "

4 Bekehrung] so Ms., OD: Belehrung 4 rechnet,] Ms.: rechnet 5 das] die 6 liegt,] Ms.: liegt 6 ist,] Ms.: ist 7 darin,] Ms.: darin 11 und Bekehrung] im Ms. am Rand mit Einfügungszeichen 15 schließenden,] Ms.: schließenden 18 schüzen,] Ms.: schüzen 19 unserer] im Ms. korr. aus unseres 21 Wortes,] M s . : Wortes 22 bezeichnet,] Ms.: bezeichnet 26 enim] im Ms. folgt 27 humanae] so Ms., O D : humana 28 nisi] im Ms. über ( q u a m ) 30 poenitentiae] M s . : paenitentiae

26 Catechismus romanus, Praefatio q 27; Loewen (1678) 8 f ; ed. Rodriguez 14,220 29 Catechismus romanus pars 2 de poenitentia q 8; Loewen (1678) 223; ed. Rodriguez 289,76 (pars 2 c 5)

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2. Betrachten wir Buße und Glaube in ihrer Bedeutung als das Ganze der Bekehrung umfassend: so muß in beiden zusammen, wie jeder Wendepunkt zugleich das Ende der einen Richtung ist und der Anfang der entgegengesezten, auch das Sein des Menschen in dem Gesammtieben der Sünde aufhören und das Sein desselben in der Gemeinschaft Christi anfangen. Da wir aber in beiden nur als Selbstthätige sein können, entgegengesezte Thätigkeiten aber nur nach einander sein können: so ist der Wendepunkt zwischen beiden eine zwiefa173 che Unthätigkeit in der Form eines Nichtmehrthätigseins in jener und Nochnichtthätigseins in dieser. Für sein geistig lebendiges Sein bleibt 1577 daher dem Subject nur übrig statt der verschwindenden Thätigkeit der leidentliche Nachklang derselben im Gefühl, und in Bezug auf die noch nicht begonnene als leidentliche Vorahnung das Verlangen. Das erste nun ist die Reue, welche allerdings das Sein in der Gemeinschaft der Sünde aussagt, aber nicht als selbstthätig, denn Reue ist immer nur wo der bereute Zustand abgestoßen wird, sondern als Festhalten eines vergangenen im Selbstbewußtsein. Dieses Bewußtsein ist in jedem Moment, welcher auch nur Annäherung an den Uebergang sein soll nur Aussage einer Störung und Hemmung des eigentlichen Lebens, also Unlust; und die der Bekehrung angehörige Reue, welche sich nicht auf einzelnes sondern auf den Gesammtzustand bezieht, und ihn für immer abstößt, ist mithin für sich allein betrachtet die reinste und voll189 kommenste Unlust, welche in ungestörter Steigerung ge|dacht allerdings das Leben auflösen könnte 6 . Und hier ist zu bemerken, daß die Reue, welche mit der aus dem Gesez entstehenden Erkenntniß der Sünde zusammenhängt, nicht die unmittelbar der Bekehrung angehörige sein kann. Denn einestheils vereinzelt das Gesez seiner Natur nach, und so kann auch die Reue nur auf die einzelnen Richtungen

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Apol. C o n f . V. p. 1 6 9 . „ [ . . . ] m o r t i f i c a t i o significat veros terrores . . . quos sustinere n a t u r a n o n posset, nisi erigeretur fide. Ita hie (Col. 2 , 11.) exspolia- 30 t i o n e m c o r p o r i s p e c c a t o r u m v o c a t , q u a m nos usitate dicimus c o n t r i t i o n e m , quia in illis doloribus concupiscentia naturalis e x p u r g a t u r . "

1 2.] Ms.: 2 2 Bekehrung] im Ms. korr. aus Versöhnung 11 dem Subject] fehlt im Ms. 12 Gefühl,] Ms.: Gefühl 22 und] so Ms., fehlt im OD 25 Reue,] Ms.: Reue 26 zusammenhängt,] Ms.: zusammenhängt 28 nach,] Ms.: nach 29 Apol. ... 169.] Ms.: A p o l . C o n f . V p. 29 mortificatio] Ms. und OD: Mortificatio 30 2,11.] Ms.: 2

29 Apologia confessionis 294; BSLK 260,42

XII 46; Concordia

169; ed. Lücke (Kap. „V. De

poenitentia")

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§108

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gehen nicht auf den Gesammtzustand und seinen innersten Grund; anderntheils ist in diesem Zusammenhang nichts, woraus sich eine entgegengesezte Richtung entwikkeln könnte, und diese Reue müßte also in ihrer Fortentwiklung ertödten oder verzweifeln machen. Wieviel also auch von dieser Reue voran gegangen sein mag, die wahre Bekehrungsreue muß immer zulezt entstehn aus der Anschauung der Vollkommenheit Christi, und so auch dieser Anfang der Wiedergeburt auf seiner erlösenden Thätigkeit beruhen. Und nur unter dieser Voraussezung ver- 174 steht sich auch die Zusammengehörigkeit von Buße und Glaube, indem sich beide aus derselben Quelle entwikkeln. Christus kann nur die vollkommenste Reue erwekken, indem seine sich mittheilende Vollkommenheit uns in ihrer Wahrheit entgegentritt, welches eben geschieht in der Entstehung des Glaubens; und er kann uns nur mit seiner aufnehmenden Thätigkeit wirklich ergreifen, wenn in Folge seiner uns bewegenden Selbstdarstellung unser bisheriger Zustand gänzlich abgestoßen wird. Scheinen nun gleich auf diese Weise Reue und Glaube unmittel- 1587 bar zusammenzuhängen: so beginnt doch auch das Sein in der Lebensgemeinschaft mit Christo, weil wir uns dabei nicht anders verhalten können als die menschliche Natur Christi | sich in dem Act der Vereini- 190 gung verhielt mit dem ruhenden Bewußtsein des Aufgenommenseins, welches nicht nur ursprünglich ein freudiges und im Gegensaz gegen die Reue aufrichtendes ist 7 , sondern sich auch durch stetige Fortbewegung, indem es eine Anregung des Willens schon in sich schließt, zur Willensthätigkeit ausbildet, weshalb auch mit der Entstehung des Glaubens die Bekehrung sich vollendet. Doch aber tritt zwischen jenes ruhende Bewußtsein und die wirkliche Thätigkeit das Verlangen, und zwar in zwei zusammengehörigen Formen als das fortwährende von der Reue zurükkbleibende Abstoßen der Gemeinschaft des sündlichen Lebens und als das Aufnehmenwollen der von Christo ausgehenden Impulse. Und dieses zweistrahlige Verlangen ist die von Christo gewirkte Sinnesänderung welche Reue und Entstehung des Glaubens

7

Ibid. „Et vivificatio intelligi debet ... consolatio quae vere sustentat fugientem vitam in contritione."

2 nichts,] Ms.: nichts 7 Christi,] Ms.: Christi 9 Glaube,] Ms.: Glaube 11 erwekken,] Ms.: erwekken 12 entgegentritt,] Ms.: entgegentritt 13 Glaubens;] Ms.: Glaubens, 17 beginnt] im Ms. am Rand mit Einfügungszeichen statt "(hängt) 20 Aufgenommenseins,] Ms.: Aufgenommenseins 2 2 f Fortbewegung,] Ms.: Fortbewegung

32 Apologia 294; BSLK

confessionis 260,48

XII 46; Concordia

169; ed. Lücke

(Kap. „V. De

poenitentia")

S 108

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verbindend die wahre Einheit der Bekehrung darstellt. M a n kann sie daher mit gleichem Recht, wenn man sich mehr an den ersten abstoßenden Strahl hält, mit der Reue unter dem Begriff der Buße befassen oder wenn man sich an den positiveren anziehenden Strahl hält mit zur 275 Belebung ziehen, als man sie auch als ein eignes Mittelglied aufstellen 5 kann. — Gehen wir aber etwas weiter zurükk in das Gesammtieben der Sündhaftigkeit, so finden wir mancherlei Reue in dem Gebiet der christlichen Frömmigkeit - denn von anderer außerhalb des Christenthums oder gar ohne Bezug auf das Gottesbewußtsein kann hier nicht die Rede sein — welche also näher oder entfernter auch auf die An- 10 schauung Christi zurükkgeht, und nicht immer auf einzelnes sich beschränkt, sondern sich als Unlust an der allgemeinen menschlichen Sündhaftigkeit, wie diese in der eignen Person zum Vorschein kommt, 191 wirklich bewährt, sich aber doch nicht in einer Stetigkeit der | inneren Bewegungen bis zur Entstehung des lebendigen Glaubens fortentwik- 15 kelt. Demohnerachtet sind solche vom Einfluß des christlichen Gesammtiebens ausgehende Erregungen, wenn sie auch nur eine unzusammenhängende und als zufällig erscheinende Mannigfaltigkeit von 1597 Momenten bilden, dennoch als göttlich gewirkt anzusehen und zwar im Zusammenhang mit der göttlichen Ordnung nach welcher alle 20 Menschen in Beziehung mit dem Erlöser sollen gesezt werden, und in diesem Sinn werden solche Zustände der z u v o r k o m m e n d e n g ö t t l i c h e n G n a d e zugeschrieben 8 . Auf dieselbe Weise erscheint auch Sinnesänderung vor dem stetigen Z u s a m m e n h a n g mit der Bekehrung, die ebenfalls, um so mehr als die Einsicht welche vorher angestrebtes ver- 25 wirft auf das Bild und die Lehre Christi zurükk sieht, als ein Werk der vorbereitenden Gnade zu betrachten ist. Und nicht immer vereinzelt finden wir beides, sondern solche Reue und solche Sinnesänderung

8

Der Ausdrukk ist immer ungenau, da unserm allgemeinen Typus zufolge alle göttliche Gnade immer zuvorkommend ist, und richtiger wäre vorbereitende 30 zu sagen.

2 Recht,] Ms..· Recht 3 hält,] Ms.: hält 5 ziehen,] Ms.: ziehen 13 Sündhaftigkeit,] Ms.: Sündhaftigkeit 13 diese] Ms.: sie 13 kommt,] Ms.: kommt 14 inneren] Ms.: innern 16 Demohnerachtet] so Ms., OD: Demohngeachtet 17 Erregungen,] Ms.: Erregungen 17f unzusammenhängende] Ms.: unzusamenhängende 19 bilden,] Ms.: bilden 19 anzusehen] so Ms., OD: anzusehen; 24 Zusammenhang] Ms.: Zusamenhang 25 ebenfalls,] Ms.: ebenfalls 29 ungenau,] Ms.: ungenau

16 Zu Demohnerachtet und demohngeachtet s. Adelung: Stichwort „Ungeachtet"

Wörterbuch

4, 1235f

zum

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beziehen sich auch auf einander, ohne d a ß der C h a r a k t e r des vorbereitenden deshalb aufhörte. D a h e r jener höhere C h a r a k t e r beider nur an der gleichzeitigen Entstehung des Glaubens kann erkannt werden, und die vollkommne w i r k s a m e göttliche G n a d e sich nur in der Einheit aller dreier zeigt. Allerdings aber giebt es auch solche vorläufige Anna- 176 herungen an den Glauben. Denn ein solches Durchdrungensein von der wenn auch nur für menschlich erkannten Vollkommenheit des Erlösers, daß ihm nicht mehr andere Weise oder G o t t b e g a b t e positiv gleich gestellt werden, ein solches Wohlgefallen an der Idee seines Reiches, wodurch es über andere menschliche Versuche gestellt wird, hat man Unrecht als ein Aburtheilen menschlicher Vernunft über ihn anzusehen, indem eine Ahnung seiner höheren | Würde darin schon verborgen lie- 192 gen und eine innigere Hingebung sich daraus gestalten kann. Vielmehr ist auch dieses vorbereitende Gnade, und es gilt mithin auch von dem Glauben, daß der höhere Charakter desselben in seinem Entstehen nur an der Einheit mit den andern beiden M o m e n t e n zu erkennen ist. Hieraus folgt von selbst, da ja auch mit einer höheren Vorstellung von dem Erlöser, welche sich in der Seele erzeugt, gar leicht nur unvollkommne Reue und Sinnesänderung verbunden sein k a n n , daß die Bekehrung nicht an und für sich oder gar an irgend einem einzelnen bestimmten Zeichen von den Wirkungen der vorbereitenden G n a d e unterschieden werden k a n n , sondern nur allmählig kann das eigne Bewußtsein darüber sicher und der Friede des Herzens fest werden. Denn auch schon Annäherungen an den Glauben müssen auf die Handlungsweise einen Einfluß haben, welcher von den ersten Anfängen der Heiligung um so 1607 weniger mit Sicherheit zu unterscheiden ist, als auch das wahre Leben Christi in uns sich nach den Gesezen der organischen N a t u r anfangs nur in schwachen unterbrochenen Regungen verkündigt, und erst allmählig eine zusammenhängende Thätigkeit sich daraus bildet. Wir sind also hiemit nur auf die stetigen Fortschritte in der Heiligung, nur daß wir diese in ihrem ganzen Umfange nehmen müssen, und auf unsere T h e i l n a h m e an der Verbreitung des Reiches Christi gewiesen. Denn auf der einen Seite ist das unvollkommne seiner N a t u r nach am meisten schwankend, auf der andern Seite läßt sich nicht denken, d a ß ein Mensch in die Einheit des Lebens mit Christo aufgenommen sei,

1 einander,] Ms.: einander 2 beider] im Ms. am Rand mit Einfügungszeichen statt

15 Gemeinschaft,] Ms.: Gemeinschaft 16 ihrem Zusammensein] Ms.: ihres Zusammenseins 16 unterscheidet,] Ms.: unterscheidet 18 kann,] Ms.: kann 18 aber - ] Ms.: aber, 19 dieselbe - ] Ms.: dieselbe 20 unveränderliche] Ms.: (unveränderliche 20 darauf,] Ms.: darauf 22 kann,] Ms.: kann 22 ist;] Ms.: ist, 23 zurükk,] Ms.: zurükk 25 Hälften,] Ms.: Hälften 2 6 f und ... unveränderlichen] im Ms. am Rand mit Einfügungszeichen

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Erste Hälfte.

326

Die wesentlichen und unveränderlichen Grundzüge der Kirche. §. 127. Die christliche Gemeinschaft ist ohnerachtet des 5 von ihrem Zusammenbestehen mit der Welt unzertrennlichen Wandelbaren doch immer und überall sich selbst gleich, insofern erstlich das Zeugniß von Christo in ihr immer dasselbige ist, und dies findet sich in der h e i l i g e n S c h r i f t und im D i e n s t am g ö t t l i c h e n W o r t ; zweitens ίο insofern die Anknüpfung und Erhaltung der Lebensgemeinschaft mit Christo auf denselben Anordnungen Christi beruht, und diese sind die T a u f e und das A b e n d m a h l ; endlich insofern der gegenseitige Einfluß des Ganzen auf den Einzelnen und der Einzelnen auf das 15 Ganze immer gleich geordnet ist, und dieser zeigt sich im A m t d e r S c h l ü s s e l und im G e b e t im N a m e n J e s u . 1. Zuvörderst ist wol nothwendig, den Einwurf zu beseitigen, wie 2797 doch die Einheit und Selbigkeit der Kirche auf diesen Stükken beruhen solle, unter denen es keines giebt, was nicht ebenfalls ein Gegenstand 20 des Streites geworden wäre, ja unter denen mehrere sich so verschieden gestaltet haben in verschiedenen Gegenden der Christenheit, daß sie eben deshalb besondere sich gegenseitig ausschließende | Gemein- 346 Schäften bilden, andere wiederum von einzelnen Gemeinschaften verworfen werden, die doch ebenfalls für Christen wollen geachtet sein. 25 Zunächst ist dies freilich nur die unmittelbarste Bekräftigung des oben gesagten, daß es nicht möglich ist, das eine von beiden Elementen ganz abgesondert vom andern darzustellen. J a nach dem, was in der Einlei-

1 - 3 E r s t e H ä l f t e . / D i e . . . K i r c h e ] M s . : Erste Hälfte. Die wesentlichen und unveränderlichen Grundzüge der Kirche korr. aus Erste Hälfte. / Die . . . Kirche 4 §. 127.] M s . : 127. 6 Wandelbaren] M s . : wandelbaren 7 gleich,] M s . : gleich 17 nothwendig,] M s . : nothwendig 19 giebt,] M s . : giebt 26 ist,] fehlt im Ms. 27 nach dem,] M s . : nachdem

4 § 127 = C G ' § 146

25 Oben

307,29

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317 tung 1 über das Verhältniß des Katholizismus und Protestantismus angedeutet worden, wird es ganz natürlich erscheinen, daß die evangelische Lehre über fast alle diese Gegenstände sich im Widerspruch finden muß gegen die römische. Dasselbe findet aber auch statt in Bezug auf mehrere kleine dem Wesen nach allerdings protestantische Kirchen- 5 gemeinschaften, welche uns in dem Gegensaz gegen die römische Kirche weit hinter sich ließen. Es ist aber hier allerdings zu unterscheiden das innere und das äußere. Denn keine christliche Gemeinschaft wird zugeben, daß eine solche bestehen könne ohne Zeugniß von Christo, und zwar so daß das wesentliche desselben überall dasselbige sei; eben 10 so wenig ohne eine Stetigkeit der Lebensgemeinschaft mit Christo, wozu bei dem Wechsel der Geschlechter auch die Anknüpfung derselben in dem neuentstandenen Leben gehört; und wo irgend die Rede ist von einer vollkommnen in einem Gemeingeist beruhenden Gemeinschaft, da muß auch ein gegenseitiger Einfluß des Ganzen und Einzel- 15 nen auf einander vorausgesezt werden. Die Verschiedenheiten treffen also nur theils die Art und Weise, das Aeußere zu diesem Inneren zu gestalten, theils die Vorstellungen von der Nothwendigkeit und Genauigkeit des Zusammenhanges zwischen diesem Innern und einem irgendwie gestalteten Aeußeren überhaupt. In Beziehung auf diese Ver- 20 schiedenheiten ist dann das wichtigste dieses, daß man richtig beurtheile, ob sie in den räumlichen und zeitlichen Verschiedenheiten der 347 geistigen Natur des | Menschen gegründet und also unvermeidlich sind, oder ob sie, weil in den Eingriffen der Welt in die Kirche begründet, für fehlerhaft zu achten sind. Die lezten sind dann um so standhafter zu 25 2807 bekämpfen, je mehr sich diese Eingriffe bis in das innerste Heiligthum der Kirche erstrekken. Die ersten aber heben sich durch die gegenseitige Anerkennung von selbst auf. 2. Demnächst wird über die Beziehung, in welche diese kirchlichen Institutionen hier gesezt sind, und über die Art und Weise ihrer 30

1

$. 24.

9 zugeben,] Ms.: zugeben 10 sei;] Ms.: sei, 14 vollkommnen] Ms.: vollkomnen 14£ Gemeinschaft,] Ms.: Gemeinschaft 16 auf einander] Ms.: aufeinander 17 Weise,] Ms.: Weise 18 gestalten,] Ms.: gestalten 21 dieses ... man] fehlt im Ms. 21 f beurtheile,] Ms.: richtig zu beurtheilen 22 räumlichen] OD: räum / liehen 24 sie] so Ms., fehlt im OD 25 sind] so Ms., fehlt im OD 25 lezten] so Ms., OD: lezteren 26 bis] fehlt im Ms. 27 erstrekken. Die] so Ms., OD: erstrekken, die 27 ersten] so Ms., OD: ersteren 29 Beziehung,] Ms.: Beziehung 31 Oben 1, 163,22

§ 127

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Zusammenstellung noch einiges zu erläutern sein. Wenn wir von dem Grundsaz ausgehn, daß unser Christenthum dasselbe sein soll, wie das 318 der Apostel: so muß auch das unsrige, da geistige Zustände nicht unabhängig sind von ihrer Entstehungsart, durch die persönlichen EinWirkungen Christi entstehen. Diese aber können jezt nicht unmittelbar von ihm ausgehn, weil sie dann niemals mit einer solchen Gewißheit als auf übernatürliche Weise von ihm ausgegangen erkannt werden könnten, daß sie nicht doch einer bestätigenden Nachweisung ihrer Identität mit jenen ursprünglichen bedürfen sollten, so daß wir immer auf jene, wie sie uns in den Darstellungen der Persönlichkeit Christi gegeben sind, zurükkgeführt würden. Und wie ohne diese Einwirkungen auch in den Jüngern eine Selbstthätigkeit für das Reich G o t t e s durch die Mittheilung des Geistes nicht hätte zu Stande k o m m e n können: so wird die Wirksamkeit jener Darstellungen Christi immer eine unerläßliche Bedingung sein, wenn der h. Geist soll mitgetheilt werden. Nun scheint dieses freilich weder die ganze neutestamentische Schrift zu umfassen, noch auch dürfte sich alles was über sie gelehrt wird, hieraus entwikkeln lassen. Aber indem wir das lezte dem weiteren Verfolg überlassen, ist über das erste zu bemerken, daß für den angegebenen Z w e k k nicht einmal überhaupt der stehende geschriebene Buchstabe wesentlich zu sein scheint, sondern die Möglichkeit auch einer mündlichen Fortpflanzung muß zugegeben werden, so fern nur für die | unverlezte Identität der Ueberlieferung Gewähr kann geleistet werden. 348 Und in sofern können wir es uns gefallen lassen, daß diese Form, in welcher uns die Persönlichkeit Christi dargestellt ist, nicht unumgänglich zum Sein sondern mehr zum Wohlsein der Kirche gehört. Was aber den größeren nicht eigentlich evangelistischen Theil der neutestamentischen Schriften anlangt: so enthalten diese auf der einen Seite den Beweis, daß aus den Einwirkungen Christi selbst und dem von ihm gebotenen Zeugniß seiner Jünger die von ihm verheißene kirchenbildende Selbstthätigkeit wirklich hervorgegangen ist; und in sofern sind sie die eigentliche Urkunde für unsern Besiz. Auf der anderen Seite sind sie eine Ergänzung jener unmittelbaren Aeußerungen Christi, indem wir 281

2 ausgehn,] Ms.: ausgehn 2 soll,] Ms.: soll 3 Apostel:] Ms.: Apostel 4 f persönlichen Einwirkungen] Ms.: persönliche Einwirkung 6 ausgehn,] Ms.: ausgehn 6 sie dann] Ms.: diese 8 könnten,] Ms.: könnten 8 doch] fehlt im Ms. 9 immer] Ms.: doch 11 würden] Ms.: werden 15 sein,] Ms.: sein 17 umfassen,] Ms.: umfassen 22 mündlichen] Ms.: rhapsodierenden 22 fern] Ms.: wie 24 in sofern] M s . : insofern 24 Form,] Ms.: Form 26 Sein] Ms.: Sein, 27 nicht ... Theil] im Ms. am Rand mit Einfügungszeichen statt (O'hcil)) 28 anlangt:] Ms.: anlangt, 29 Beweis,] Ms.: Beweis 31 ist;] Ms.: ist, 31 in ... sie] Ms.: sind insofern 33 Christi,] Ms.: Christi

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§127

319 aus den Anordnungen und Handlungen der Jünger auf Belehrungen und Willensäußerungen Christi als auf ihre Quelle zurükkschließen können. Die Schrift aber, wie sie ist, sowol jedes einzelne Buch für sich als auch die Sammlung, ein für alle späteren Geschlechter der Kirche aufgesparter Schaz, ist immer ein Werk des h. Geistes als Gemeingeist 5 der Kirche, und ist nur ein einzelner Fall zu dem in unserm Saz allgemein ausgedrükten Zeugniß von Christo. Denn mündliches und schriftliches Lehren sowol als Erzählen von Christo war doch ursprünglich dasselbe und nur zufällig verschieden. Jezt ist die Schrift ein besonderes, weil die unveränderte Aufbewahrung derselben auf eine 10 eigenthümliche Weise die Identität unseres und des ursprünglichen Zeugnisses von Christo verbürgt. Aber sie wäre doch nur ein todter Besiz, wenn diese Aufbewahrung nicht eine sich immer erneuernde Selbstthätigkeit der Kirche wäre, die sich zugleich in dem lebendigen auf die Schrift zurükkgehenden oder mit derselben in Sinn und Geist 15 übereinstimmenden Zeugniß von Christo kund giebt. Und nur dieses in seiner Allgemeinheit als Pflicht und Beruf aller Mitglieder der Kirche 349 soll hier - abgesehen vorläufig von aller beistimmten Gestaltung unter dem Ausdrukk Dienst am göttlichen Wort verstanden werden. In dieser Allgemeinheit aber betrachtet und so auf einander bezogen sind 20 diese beiden ersten Stükke nothwendig, weil sonst der Glaube nur durch unmittelbare Einwirkungen entstehen könnte, wobei denn weder Selbigkeit zu erwarten noch Wahrheit zu verbürgen wäre. Doch beweist sich dieser Dienst nicht etwa nur nach außen wirksam, sondern auch innerhalb der Kirche angesehen ist er eine von Christo selbst herrüh- 25 rende organische Constitution zum Behuf belebender und stärkender Mittheilung. — Aus demselben Grunde, daß wir nichts mehr von persönlichen unmittelbaren Einwirkungen Christi zu erwarten haben, muß jezt auch das Anknüpfen und Erneuern der Lebensgemeinschaft mit Christo von der Kirche ausgehn, und auf Handlungen derselben zu- 30 rükkgeführt werden, aber nur auf solche, die zugleich als Thätigkeiten 320 Christi anzusehen sind, damit auf keine Weise Christus sich dabei leidentlich verhalte, und gegen die Kirche im Schatten stehe. Und diese Gemeinschaftlichkeit ist die eigenthümliche Natur beider Sakramente. Denn wenn gleich die Taufe ihrer ursprünglichen Einsezung nach nicht 35

3 aber,] Ms.: aber 3 ist,] Ms.: ist 3 sowol ... sich] im Ms. am Rand mit Einfügungszeichen 5 Schaz,] Ms.: Schaz 14 wäre,] Ms.: wäre 15f auf ... übereinstimmenden] im Ms. am Rand mit Einfügungszeichen 15 oder] im Ms. über (und) 18 hier - ] Ms.: hier 18 Gestaltung - ] Ms.: Gestaltung 23 beweist] im Ms. am Rand mit Einfügungszeichen statt (begreift) 24 sich] im Ms. mit aufgehobener Streichung 24 wirksam,] Ms.: wirksam 27 Grunde,] Ms.: Grunde 30 ausgehn,] Ms.: ausgehn 32 sind,] Ms.: sind 33 verhalte,] Ms.: verhalte

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der erste Anfang des Verhältnisses zwischen der Kirche und dem Einzelnen war: so erlangt doch alles frühere erst durch sie so seine Bestäti- 282 gung, daß die Stetigkeit der bewußten Lebensgemeinschaft mit Christo erst mit derselben beginnt. Und wenn das Abendmahl auch nicht das einzige Mittel ist, um die Lebensgemeinschaft mit Christo zu unterhalten, und auch schon hier vorläufig diese Handlung nicht als eine solche gefaßt werden soll, die sich isoliren läßt, und auch so noch eine bestimmte Wirkung hervorbringt: so sezen wir sie doch als das Höchste in dieser Art, und befassen allen andern Genuß Christi mit darunter als Annäherung dazu oder Fortsezung davon; daher halten wir uns hier mehr an diese zum Grunde liegende Idee als an die äußere Form, unter welcher sie sich realisirt. - Auf | dieselbe Weise concentrirt sich aller 350 Einfluß des Ganzen auf den Einzelnen in dem Vergeben der Sünde. Denn dem gemäß wie die Sünden und die guten Werke der Wiedergebohrnen sich gegen einander verhalten, können die lezteren nur in dem M a a ß anerkannt werden, als die daran haftende Sünde aufgehoben wird. Aber die guten Werke sind zugleich die Frucht und der Keim der Gaben des Geistes, die sich in Jedem entwikkeln; so daß die Vergebung der Sünde auch diesen erst ihren Ort in der Gemeinschaft der Gläubigen anweiset. Was endlich das Gebet im Namen Jesu betrifft, wodurch mithin der Einfluß der Einzelnen auf das Ganze repräsentirt werden soll, ohne welchen es in einem von einem Gemeingeist beseelten und in sofern in sich abgeschlossenen Ganzen keinen Fortschritt geben kann: so kann es kein Gebet im Namen Jesu geben, außer in den Angelegenheiten seines Reichs; die Wirksamkeit desselben, die Christus auch der kleinsten Vereinigung von Einzelnen verheißt, begründet also einen Einfluß derselben auf das Ganze. Wenn wir es aber als den Repräsentanten alles solchen Einflusses ansehn, so beruht dies auf der einem 321 jeden Christen unmittelbar einleuchtenden Voraussezung, daß das

2 war:] Ms.: war 2 doch] Ms.: dabei 2 f Bestätigung,] Ms.: Bestätigung 4 erst] fehlt im Ms. 4 beginnt. Und] Ms.: beginnt; und 5 ist,] Ms.: ist 5 f unterhalten, und] Ms.: unterhalten: so soll 7 soll,] fehlt im Ms. 7 läßt,] Ms.: läßt 7 noch] fehlt im Ms. 8 f Höchste] Ms.: höchste 9 Art,] Ms.: Art 10 davon; daher] Ms.: davon und 10 wir] fehlt im Ms. 11 Form,] Ms.: Form 14 dem gemäß] fehlt im Ms. 14f Wiedergebohrnen] Ms.: Wiedergebohrenen 15 verhalten, ... lezteren] Ms.: verhalten so können auch die guten Werke derselben 16 werden,] Ms.: werden 18 Geistes,] Ms.: Geistes 18 entwikkeln;] Ms.: entwikkeln 20 betrifft,] Ms.: betrifft 24 geben,] Ms.: geben 25 Reichs;] Ms.: Reichs, 25 desselben,] Ms.: desselben 26 verheißt,] Ms.: verheißt 28 Einflusses] Ms.: Einflußes 28 ansehn,] Ms.: ansehn 29 jeden] Ms.: Jeden 29 Voraussezung,] Ms.: Voraussezung

25 Vgl. Mt 18,19

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Gebet nothwendig die eigne Thätigkeit, um das erbetene herbeizuführen, schon in sich schließt und voraussezt. M i t h i n wäre in dem Gesammtieben ohne diese beiden lezten Institutionen weder Ordnung noch Fortschritt oder Gelingen. 3. D a ß aber hier auch alles vollständig zusammengestellt ist, worauf die Einheit und Selbigkeit der christlichen Kirche zu allen Zeiten und an allen O r t e n beruht, das wird sich am besten zeigen, wenn wir auf das Verhältniß der Kirche zu Christo zurükkgehen. Indem sie näm2837 lieh auf der einen Seite als der Organismus Christi — welches gemeint ist, wenn sie in der Schrift der Leib Christi heißt - sich zu Christo ver351 hält wie das Aeußere zu dem Inneren, so muß sie in ihren | wesentlichen Thätigkeiten auch das Abbild der Thätigkeiten Christi sein; und indem das was durch sie bewirkt wird nichts anderes ist, als die fortschreitende Verwirklichung der Erlösung in der Welt, so müssen ihre Thätigkeiten zugleich die Fortsezung der Thätigkeiten Christi sein. Auf dieselbe Weise also, wie wir diese auf das Schema der drei Aemter zurükkgeführt haben, muß sich auch Abbild und Fortsezung von diesen an den aufgestellten wesentlichen Thätigkeiten der Kirche nachweisen lassen. — D a s Gebet im N a m e n J e s u , sofern es die vollständige berufsmäßige Thätigkeit jedes Einzelnen in sich schließt, ist das Abbild der königlichen Thätigkeit Christi sowol an und für sich als auch das Verhältniß seines Regiments zu dem des Vaters betreffend; lezteres sofern es in dem G o t t anheimstellenden Aussprechen der Gedanken eines Jeden über die Verbreitung des Reiches Gottes oder über die Eingriffe der Welt endet; erstes indem darin alle von der Kräftigkeit des Gottesbewußtseins ausgehenden Zwekkbegriffe mit enthalten sind. Und ist in dem A m t der Schlüssel alles, was zur Ordnung und der vom Gesammtbewußtsein ausgehenden Schäzung der Personen in der Kirche gehört, an die recht verstandene Vergebung der Sünden ange322 knüpft: so haben wir hier die Fortsezung der königlichen Thätigkeit Christi, welche mit der Auswahl seiner Jünger und den Ordnungen für die künftige Gemeinschaft begann. - Besteht ferner die profetische Thätigkeit Christi in seiner Selbstdarstellung und in seiner Aufforde-

1 Thätigkeit,] Ms.: Thätigkeit l f um ... herbeizuführen,] um ... herbeizuführen im Ms. am Rand mit Einfügungszeichen 5 alles] im Ms. am Rand mit Einfügungszeichen 7 zeigen,] Ms.: zeigen 9 Christi - ] Ms.: Christi, 10 heißt - ] Ms.: heißt 15 Fortsezung] so Ms., OD: Fortsezungen 17 haben,] Ms.: haben 17 Abbild ... von] im Ms. am Rand mit Einfügungszeichen statt 19 sofern es] Ms.: so wie hier als 20 schließt,] Ms.: schließend 21 Christi] fehlt im Ms. 22 Regiments] Ms.: Regimentes 22 betreffend;] Ms.: betreffend, 23 es] Ms.: sie 25 endet;] Ms.: endet 25 erstes] so Ms., OD: ersteres 25 der] Ms. und OD: den 25 Kräftigkeit] so Ms., OD: Kräftigkeiten 27 alles,] Ms.: alles 27 zur] fehlt im Ms. 27 der] fehlt im Ms. 28 ausgehenden] Ms.: ausgehende 29 gehört,] Ms.: ist

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r u n g f ü r d a s R e i c h G o t t e s : s o ist d i e h e i l i g e S c h r i f t , s o f e r n sie i h r e r A b f a s s u n g u n d A u f b e w a h r u n g n a c h als W e r k der Kirche die u n m i t t e l b a r s t e V e r g e g e n w ä r t i g u n g C h r i s t i ist, a u c h d a s f e s t s t e h e n d e A b b i l d seiner profetischen Thätigkeit; den Dienst a m W o r t aber k ö n n e n wir n u r als d i e F o r t s e z u n g d e r s e l b e n a n s e h n , d a a n w e n d e n d e M i t d a r s t e l l u n g C h r i s t i u n d A u f f o r d e r u n g in s e i n e m N a m e n d i e w e s e n t l i c h e n E l e m e n t e d e s s e l b e n s i n d . - Ist e n d l i c h d a s w e s e n t l i c h e d e s h o h e n p r i e | s t e r l i c h e n 352 A m t e s Christi, w e n n m a n diese T h ä t i g k e i t möglichst von d e m profetischen u n d königlichen A m t e s o n d e r t , vorzüglich d a r i n zu f i n d e n , d a ß er die G e m e i n s c h a f t d e r M e n s c h e n m i t G o t t v e r m i t t e l t : so w e r d e n w i r k e i n e n A n s t a n d n e h m e n in b e i d e n S a k r a m e n t e n e i n e B e z i e h u n g h i e r a u f a n z u e r k e n n e n ; u n d zwar so d a ß die T a u f e wegen ihres m e h r symbolis c h e n C h a r a k t e r s sich m e h r als A b b i l d v e r h ä l t , d a s A b e n d m a h l a b e r w e g e n s e i n e s m e h r r e a l e n G e h a l t e s als F o r t s e z u n g . — D i e s e Z u s a m m e n - 2847 S t e l l u n g e r g i e b t z u g l e i c h , d a ß alles, w a s w e s e n t l i c h z u r T h ä t i g k e i t C h r i sti g e h ö r t , h i e r s e i n A b b i l d u n d s e i n e F o r t s e z u n g f i n d e t ; i n d e m a u c h die drei ersten eben so der erlösenden T h ä t i g k e i t a n g e h ö r e n wie die drei a n d e r n d e r v e r s ö h n e n d e n . Auch w e r d e n w i r in unserer evangelischen A u f f a s s u n g des C h r i s t e n t h u m s nichts a u f z u z e i g e n h a b e n in d e r c h r i s t l i c h e n K i r c h e , w a s w i r in g l e i c h e n R a n g m i t d i e s e n I n s t i t u t i o n e n stellen m ö c h t e n . Vielmehr wollen w i r w e d e r die U e b e r l i e f e r u n g n e b e n die Schrift stellen, n o c h d e n Dienst a m W o r t irgend s y m b o l i s c h e n H a n d l u n g e n u n t e r o r d n e n ; weder die S a k r a m e n t e vervielfältigen lassen, noch durch A n n a h m e magischer W i r k u n g e n derselben ihre Analogie mit den übrigen Punkten zerstören; weder durch Fürbitten der Heiligen das Gebet im N a m e n Christi beschränken, noch für das A m t der S c h l ü s s e l e i n e s p e c i e l l e g l e i c h v i e l o b e i n z e l n e o d e r c o l l e g i a l i s c h e Stellvertretung Christi gelten lassen.

1 heilige Schrift,] Mi.: h. Schrift 3 ist,] Mi.: ist 4 Thätigkeit;] Ms.: Thätigkeit, 6f die ... sind.] im Ms. am Rand mit Einfügungszeichen 8 Christi,] Mi.: Christi 9 sondert,] Ms.: sondert 12 anzuerkennen;] Ms.: anzuerkennen, 15 zugleich,] Ms.: zugleich 15 alles,] alles im Ms. über ([nichts]) 16 gehört,] Ms.: gehört 16 findet;] Ms.: findet 20 Kirche,] Ms.: Kirche 22 Schrift stellen,] Ms.: Schrift O D : Schriftstellen, 23 unterordnen;] Ms.: unterordnen 23 lassen,] Ms.: lassen 25 Punkten] fehlt im Ms. 26 beschränken,] Ms.: beschränken

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S 128

323

Erstes

Lehrstükk.

Von der h e i l i g e n S c h r i f t . §. 128. Das Ansehen der heiligen Schrift kann nicht den Glauben an Christum begründen, vielmehr muß dieser schon vorausgesezt werden um der heiligen Schrift ein 5 besonderes Ansehen einzuräumen. | 353

1. Die polemische Einleitung dieses Sazes beruht lediglich darauf, daß das wirklich behauptet wird, was wir hier in Abrede stellen; und es mag in der That noch weit häufiger angenommen werden, als es bestimmt behauptet wird, indem alle Lehrbücher und alle BekenntnißSchriften, welche die Lehre von der Schrift als der Quelle des christlichen Glaubens voranstellen, eben dieses bestimmt zu begünstigen scheinen. - Deshalb nun ist es nöthig das hiebei zum Grunde liegende Mißverständnis recht ins Licht zu sezen. Wenn nämlich der Glaube an Jesum als den Christ oder als den Sohn Gottes und den Erlöser der Menschen auf das Ansehn der Schrift soll gegründet werden: so fragt sich, auf welche Weise will man dieses Ansehn begründen, da es doch offenbar so geschehen muß, daß man ungläubigen Gemüthern die Ueberzeugung aufdringe, damit sie auf diesem Wege auch zu dem Glauben an den Erlöser kommen. Wenn man nun keinen andern Ausgangspunkt hat als die gemeine Vernunft: so müßte zunächst aus blo2857 ßen Vernunftsgründen das göttliche Ansehen der Schrift erwiesen werden können; und dagegen ist zweierlei zu erinnern. Zuerst daß dieses auf jeden Fall einen kritischen und wissenschaftlichen Verstandesgebrauch voraussezt, dessen nicht alle Menschen fähig sind; also könnten auch nur so befähigte den Glauben auf ursprüngliche und ächte Weise überkommen, alle Andern hätten ihn nur aus der zweiten Hand und

l f E r s t e s L e h r s t ü k k . / Von ... S c h r i f t ] Ms.: E r s t e s L e h r s t ü k k . Von der heiligen Schrift 3 §. 128.] Ms.: 128. 5 heiligen] Ms.: h. 7 darauf,] Ms.: darauf 8 stellen;] Ms.: stellen, 9 werden,] Ms.: werden 10 wird,] Ms.: wird 10f Bekenntnißschriften,] Ms.: Bekenntnißschriften 15 Sohn ... den] im Ms. am Rand mit Einfügungszeichen 17 sich,] Ms.: sich 19 aufdringe] Ms.: aufdringt 22 Vernunftsgründen] Ms.: Vernunftgründen 23 können;] Ms.: können, 27 überkommen,] Ms.: überkommen

3 § 128 = CG' § 148

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nur auf das Ansehn von jenen Sachkundigen. Nun können wir eine solche Abstufung zwar annehmen auch auf unserm Gebiet, wenn von der Einsicht in die Lehre und von Beurtheilung der verschiedenen Fassun- 324 gen derselben die Rede ist aber für den Besiz des eigentlich selig machenden Glaubens eine solche anzunehmen, das stimmt gar nicht mit der Gleichheit der Christen, welche die evangelische Kirche ausspricht, und würde vielmehr nach Art der römischen Kirche den Laien einen unbedingten gehorsamen Glauben an die|jenigen zumuthen, wel- 354 che allein der Gründe des Glaubens mächtig sind. Denn das Recht, das wir allen Christen an das göttliche Wort geben, und der Eifer mit welchem wir es in lebendigem Umlauf zu erhalten suchen, bezieht sich keinesweges darauf, daß jeder soll den Beweis führen können, daß diese Bücher eine göttliche Offenbarung enthalten. Zweitens, wenn sich ein solcher Beweis führen und der Glaube sich auf diese Art begründen ließe, mithin auch bei einem gewissen Grade von Geistesbildung andemonstrirt werden könnte: so könnte er auf diesem Wege auch in solchen sein, die gar kein Bewußtsein von Erlösungsbedürftigkeit haben, also auch unabhängig von Buße und Sinnesänderung, und wäre also vermöge dieser Entstehungsart nicht der wahre lebendige Glaube. Mithin wäre diese durch Beweis erlangte Ueberzeugung an und für sich von keinem Nuzen; denn sie schlüge von selbst nicht zu der wahren Lebensgemeinschaft mit Christo aus; wo sich aber das Bedürfniß der Erlösung geltend macht, da entsteht der lebendig machende Glaube auch aus einer solchen Kunde von Christo, die gar nicht an die Ueberzeugung von einer besonderen Beschaffenheit dieser Bücher gebunden ist, sondern auf jedem andern Zeugniß verbunden mit einer Anschauung der geistigen Wirkungen Christi mithin auch auf der mündlichen Ueberlieferung ruhen könnte.

1 Sachkundigen.] im Ms. folgt Einfügungszeichen; am Rand dazu die Druckanweisung NB. Hieher gehört die einige Zeilen weiter in [] eingeschlossene Stelle 1 - 5 Nun ... das] im Ms. nach Z. 13 enthalten, anschließend in eckige Klammern gesetzt und hier eingefügt statt (Diese Abstufung in dem Besiz des Glaubens) 2 Gebiet,] Ms.: Gebiet 4 für den] Ms.: in dem 5 stimmt] im Ms. folgt (aber) 6 Christen,] Ms.: Christen 7 nach ... Kirche] im Ms. am Rand mit Einfügungszeichen 8 gehorsamen] im Ms. am Rand mit Einfügungszeichen 8 zumuthen,] Ms.: zumuthen 9 sind. Denn] Ms.: sind; und 9 Recht,] Ms.: Recht 12 darauf,] Ms.: darauf 13 enthalten.] im Ms. folgt das nachträglich in eckige Klammern gesetzte und nach oben Z. 1 - 5 umgestellte Stück Nun ...das 13 Zweitens,] Ms.: Zweitens 15 ließe] Ms.: ließ 15 Geistesbildung] im Ms. folgt (sich) 15 f andemonstrirt] im Ms. korr. aus andemonstriren 16 werden könnte] werden könnte im Ms. am Rand mit Einfügungszeichen statt (ließ) 17 sein,] Ms.: sein 17 haben,] Ms.: hätten 21 Nuzen; denn] Ms.: Nuzen. Denn 22 aus;] so Ms., O D : aus: 23 macht,] so Ms., OD: macht; 24 Christo,] Ms.: Christo 24 an] so Ms., OD: in 2 6 - 2 8 jedem ... könnte.] im Ms. am Rand mit Einfügungszeichen

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§128

2. Eben so wenig nun als wir, wo es auf den Grund des Glaubens ankommt, einen Unterschied zwischen verschiedenen Klassen zugeben 2867 können: eben so wenig auch einen Unterschied zwischen verschiedenen Zeiten; sondern er muß bei uns derselbe sein wie bei den ersten Christen. Wollte man nun sagen, bei diesen wäre er von den Aposteln an 325 allerdings entstanden aus ihrem Glauben an die Schrift, nämlich an die alttestamentische und besonders an die darin enthaltenen Weissagun355 gen von Christo: so ist zu dem was hierüber schon oben 1 gesagt ist, hier nur noch hinzuzufügen, daß wenn auch die Apostel gleich zu Anfang ihres Verhältnisses mit Jesu 2 ihn als den bezeichnen, von welchem die Profeten geweissagt, dies keinesweges so kann verstanden werden, als ob sie durch das Studium dieser Weissagungen und durch Vergleichung ihres Inhaltes mit dem, was sie an Jesu sahen und von ihm hörten, zum Glauben an ihn wären gebracht worden. Vielmehr hatte der unmittelbare Eindrukk in ihren durch das Zeugniß des Täufers vorbereiteten Gemüthern den Glauben erwekt, und jenes war nur eine Aussage dieses Glaubens mit ihrem Glauben an die Profeten verbunden. Den nämlichen Gang schlagen sie auch selbst bei ihrer Verkündigung ein, indem sie zuerst auf die Thaten und Reden Jesu zurükkgehend ihren Glauben mittheilend aussprechen, und dann die prophetischen Zeugnisse als Bestätigung anführen. Und so wie ihr Glaube aus der eignen Predigt Christi von sich entstanden war, so entstand aus ihrer Predigt von ihm und aus der Predigt vieler Anderer der Glaube in Andern. Sofern nun die neutestamentischen Schriften eine solche auf uns gekommene Predigt sind, entsteht der Glaube auch aus ihnen; aber keinesweges unter der Bedingung daß vorher eine besondere Lehre über diese Schriften, als seien sie aus besonderer göttlicher Offenbarung oder Eingebung entstanden, müßte aufgestellt und ange-

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§. 14. Zusaz. Joh. 1, 45.

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1 2.] Ms.: 2 1 wir,] Ms.: wir 2 ankommt,] M i . : ankommt 4 Zeiten;] Ms.: Zeiten 5 sagen,] Ms.: sagen 6 Schrift,] Ms.: Schrift 8 dem] im Ms. am Rand mit Einfügungszeichen statt {dies) 8 ist,] Ms.: ist 10 bezeichnen,] Ms.: bezeichnen 11 geweissagt,] Ms.: geweissagt 12 durch] fehlt im Ms. 13 dem,] Ms.: dem 14 hörten,] Ms.: hörten 20 aussprechen,] Ms.: aussprechen 21 prophetischen] Ms.: profetischen 22 entstanden war] Ms.: entstand 23 Anderer] so Ms., OD: Andern 25 sind,] Ms.: sind 26 ihnen;] Ms.: ihnen 27 Schriften,] Ms.: Schriften 28 oder Eingebung] im Ms. am Rand mit Einfügungszeichen 29 Oben 1, 119,12, besonders

5

1,

123,1-125,24

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319

nommen worden sein. Vielmehr würde er auf dieselbe Weise entstehen können, wenn uns auch nur solche Zeugnisse übrig geblieben wären, von denen man nicht läugnen könnte, daß sie neben den wesentlichen Zeugnissen Christi von sich selbst und neben den ursprünglichen Pre5 digten seiner Jünger doch zugleich im einzelnen manches enthielten, was mißverstanden wäre oder unrichtig aufgefaßt oder durch Verwechselungen des Gedächtnisses in ein unrichtiges Licht gestellt. — Be|dür- 356; 326 fen wir also, um zum Glauben zu gelangen, einer solchen Lehre nicht; und hat es niemals gelingen wollen, die Ungläubigen vermittelst einer 10 solchen Lehre zum Glauben zu nöthigen: so folgt, daß wie die Apostel den Glauben schon hatten, ehe sie in einen von dem Glauben selbst 2877 noch verschiedenen Zustand kamen, in welchem sie ihren Antheil an diesen Büchern hervorzubringen vermochten, so auch bei uns der Glaube schon vorangehen muß, ehe wir durch die Lesung dieser Schrif15 ten darauf geführt werden einen solchen Zustand in welchem sie geschrieben worden und eine darauf gegründete Beschaffenheit dieser Bücher anzunehmen, und daß eine solche Lehre immer nur den schon Gläubigen wird annehmlich gemacht werden können. 3. Daher haben wir bei der ganzen bisherigen Entwiklung des 20 Glaubens nur diesen selbst als in einem erlösungsbedürftigen Gemüth, vermittelst welcher Kunde es auch sei entstanden, vorausgesezt, die Schrift aber nur als denselben Glauben aussagend einzeln angeführt; und hier erst wird von ihr besonders in ihrer natürlichen Beziehung zur christlichen Kirche gehandelt, und die Frage über ihren Unterschied 25 von andern Büchern in Betracht gezogen. Demohnerachtet soll jene Methode, welche die Lehre von der Schrift voranstellt, geschehe es nun in Bekenntnißschriften oder in Lehrbüchern, nicht schlechthin getadelt werden, wenn man nur unter dem Erweisen der Lehrsäze aus der Schrift nichts anders versteht als die Nachweisung, daß ein so belegter 30 Saz ein ächtes und ursprüngliches Element christlicher Frömmigkeit aussage; und wenn nur gehörige Vorsicht angewendet wird, damit es nicht scheine, eine Lehre solle deshalb zum Christenthum gehören, weil sie in der Schrift enthalten ist, da sie doch vielmehr nur deshalb in

2 wären,] Ms.: wären 5 enthielten,] Ms..· enthielten 8 also,] Ms.: also 8 gelangen,] Ms.: gelangen 8 nicht;] Ms.: nicht, 9 wollen,] Ms.: wollen 10 folgt,] Ms.: folgt 11 hatten,] Ms.: hatten 13 vermochten,] Ms.: vermochten: 14 muß,] Ms.: muß 17 Lehre] im Ms. folgt {(der]) 20 Gemüth,] Ms.: Gemüth 21 entstanden,] Ms.: entstanden 22 angeführt;] Ms.: angeführt, 24 gehandelt,] im Ms. am Rand mit Einfügungszeichen statt (gehalten.) 26 Methode,] Ms.: Methode 26 voranstellt,] Ms.: voranstellt 27 Lehrbüchern,] Ms.: Lehrbüchern 28 unter] im Ms. am Rand mit Einfügungszeichen statt 29 Nachweisung,] Ms.: Nachweisung

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der Schrift enthalten ist, weil sie zum Christenthum gehört. Begnügen wir uns mit jenem, so bleibt auch die dogmatische Theologie nur ein 357 Aggregat von einzelnen Säzen, de|ren innerer Zusammenhang nicht ins Licht gestellt wird. Ihr Verhältniß zum gemeinen Glauben der Kirche 327 ist dann entweder jenes, daß die wahre und vollkommne Gewißheit des 5 Glaubens nur da ist, wo die Fähigkeit ist, die Göttlichkeit der Schrift zu beweisen, alle nicht so weit wissenschaftlich Gebildeten aber nur auf Autorität glauben, und also die Frömmigkeit von der Wissenschaft ausgeht und abhängt; oder inwiefern die Laien sich losreißen und ihren Glauben auf ihre Erfahrung gründen und sich der Lebendigkeit dessel- 10 ben erfreuen, wird die wissenschaftliche Darstellung etwas für die kirchliche Gemeinschaft nuzloses und leeres. Darum war es für diese Darstellung von Wichtigkeit, die wahre Abzwekkung derselben aufzu2887 fassen unabhängig von der Schrift, und der Lehre von dieser erst hier ihren Ort anzuweisen, wo nunmehr das eigenthümliche Ansehn dersel- 15 ben in der Beziehung des sich selbst gleichen auf das Wandelbare und in dem rechten Zusammenhang mit den andern wesentlichen Elementen der Kirche zum klaren Bewußtsein kommen kann.

§. 129. Die heiligen Schriften des neuen Bundes sind auf der einen Seite das erste Glied in der seitdem fortlau- 20 fenden Reihe aller Darstellungen des christlichen Glaubens; auf der andern Seite sind sie die N o r m für alle folgenden Darstellungen. 1. Daß die heiligen Schriften das erste Glied sind in der angegebenen Reihe sezt voraus, daß die folgenden Glieder dem ersten gleichartig 25 sind, und dies gilt sowol die Form als den Gehalt. Theilt man die neutestamentischen Schriften gewöhnlich in Geschichtsbücher und Lehr-

1 ist,] Ms.: ist 2 jenem,] Ms.: jenem 3 Säzen,] M s . : Säzen 5 jenes,] Ms.: jenes 5 vollkommne] M s . : vollkomne 6 da ist,] Ms.: da ist 6 Fähigkeit ist,] M s . : Fähigkeit ist 7 alle] M s . : Alle 8 glauben,] M s . : glauben 1 0 f desselben] so Ms., O D : derselben 11 erfreuen,] M s . : erfreuen 13 Wichtigkeit,] M s . : Wichtigkeit 15 anzuweisen,] Ms.: anzuweisen 15 nunmehr] Ms.: erst 16 und] u. im Ms. über der Zeile mit Einfügungszeichen 19 §. 129.] M s . : 129 25 voraus,] M s . : voraus 26 die] Kj CG7 für die; doch s. Sachapp.

19 § 129 = CG1 § 147 Wörterbuch 2, 536

26 Zu gilt ... die Form statt „gilt ... für die Form" s.

Adelung:

§129

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bücher: so ist dies nur in sofern eigentlich richtig, als man sie nicht nach dem vorherrschenden Inhalt, sondern nach der äußeren Form trennt. Denn in den Geschichtbüchern bilden die | Lehrreden Christi 358 und der Apostel einen sehr bedeutenden T h e i l ; und die Briefe der Apostel sind mit wenigen Ausnahmen nur insofern verständlich, als sie entweder geschichtliche Elemente geradezu enthalten, oder als wir uns geschichtliche Verhältnisse aus ihnen construiren können. Behalten wir 328 nun diese Eintheilung bei, oder legen wir sie bei Seite, und achten mehr auf die Form der einzelnen Elemente in diesen Büchern, immer werden wir sagen müssen, daß alles, was sich als Darstellung christlicher Frömmigkeit durch die Sprache in den späteren Zeiten der christlichen Kirche geltend gemacht hat, sich innerhalb derselben ursprünglichen Formen bewegt, oder sich als erläuternde Begleitung an sie anschließt. Denn auch die religiöse Dichtkunst in der allein wahrhaft kirchlichen lyrischen Form hat schon ihren Keim im neuen Testament; und auf der andern Seite sind alle erklärenden und systematischen Werke, welche als Darstellungen christlicher Frömmigkeit weniger Ursprünglichkeit und Selbständigkeit haben, nur Hülfsmittel für jene ursprünglichen Erzeugnisse und Zusammenstellungen aus denselben. - Was aber den Gehalt anlangt: so ist auch hier zunächst die allgemeine Regel anzuwenden, daß in jeder Gemeinschaft jedes einzelne sich nur in dem 289 M a a ß geltend macht, als es den Gemeingeist ausspricht. Auch hierin werden wir also alles dieser Art, was neben den heiligen Schriften noch fortwirkend besteht, als ihnen gleichartig ansehen müssen, was aber nicht noch fortwirkt, das können wir auch nicht in der Reihe nachweisen.

2. Soll sich aber in der geschichtlichen Entwiklung der christlichen Kirche die Erlösung immer mehr zeitlich verwirklichen, mithin auch der heilige Geist das Ganze immer vollkommner durchdringen: so 30 scheint wiederum nicht, daß das erste Glied dieser oder einer anderen Reihe zugleich N o r m für alle folgenden sein kann, wenn doch in einer solchen Entwiklung jedes spätere vollkommner sein soll als | sein frü- 359 heres. Dies hat auch seine Richtigkeit, aber nur wenn man zwei ganze M o m e n t e jeden in seiner Vollständigkeit zusammenstellt. Denn be35 trachten wir die christliche Kirche während des apostolischen Zeitalters als Einheit: so kann auch nicht die G e s a m m t h e i t ihrer Gedankenerzeugung die N o r m für die der späteren Zeitalter abgeben. D e n n bei der natürlicherweise sehr ungleichen Vertheilung des göttlichen 329

1 sofern] Ms.: so fern 1 richtig,] Ms..· richtig 5 verständlich,] Ms.: verständlich 6 enthalten,] Ms.: enthalten 8 bei,] Ms.: bei 8 Seite,] Ms.: Seite 9 Büchern,] so Ms., OD: Büchern; 10 alles,] Ms.: alles 13 bewegt,] Ms.: bewegt 31 kann,] kann;

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5 129

Geistes in derselben, und da auch nicht J e d e r nur nach dem M a a ß seiner T h e i l n a h m e an diesem G e m e i n g e i s t productiv war in religiösen Vorstellungen, k o n n t e n d a m a l s am leichtesten, weil noch jüdische und heidnische Ansichten und M a x i m e n eingewurzelt waren, und der Widerspruch derselben gegen den christlichen G e i s t erst allmählig ane r k a n n t werden k o n n t e , religiöse Darstellungen entstehen, welche genau g e n o m m e n m e h r vom christlichen afficirtes J u d e n t h u m o d e r Heid e n t h u m als wahres C h r i s t e n t h u m waren, mithin als christliche betrachtet im höchsten G r a d e unrein. D i e s e m unvollkommensten gleichzeitig aber waren die verkündigenden D a r s t e l l u n g e n der unmittelbaren Schüler Christi, bei denen die G e f a h r eines unwissentlichen verunreinigenden Einflusses ihrer früheren jüdischen D e n k - und L e b e n s f o r m e n a u f die D a r s t e l l u n g des christlichen in W o r t und T h a t , in dem M a a ß als sie C h r i s t o n a h e gestanden h a t t e n , abgewehrt wurde durch den reinigenden Einfluß der lebendigen E r i n n e r u n g an den ganzen Christus. D e n n dadurch m u ß t e sich ihnen in allem, was sich zu einer solchen K l a r h e i t des B e w u ß t s e i n s entwikkelte, wie sie der D a r s t e l l u n g durch die Rede vorangehen m u ß , jeder Widerspruch gegen den G e i s t des Lebens und der L e h r e Christi sogleich e n t d e k k e n . Dies gilt mithin zunächst von ihren Erzählungen der Reden und T h a t e n Christi selbst, 2907 durch welche dasjenige festgestellt wurde, was den allgemeinsten reinigenden Einfluß ausüben sollte. D a n n a b e r auch gilt es vorzüglich von allem, was die Apostel für christliche G e m e i n d e n lehrten und anord360 ne|ten, weil sie da in Christi N a m e n h a n d e l t e n ; wiewol auch wo sie mehr nur als Einzelne a u f t r a t e n , doch auch J e d e r seine E r g ä n z u n g nicht nur sondern auch seine C o r r e c t i o n f a n d an einem A n d e r n 1 . So stand also in dem apostolischen Z e i t a l t e r das v o l l k o m m e n s t e und das unvollkommenste als k a n o n i s c h e s und a p o k r y p h i s c h e s neben ein330 ander, beide W ö r t e r in dem Sinn g e n o m m e n , der sich aus der bisherigen E r ö r t e r u n g ergiebt, als zwei E x t r e m e welche in keinem späteren Z e i t a l t e r a u f die gleiche Weise w i e d e r k o m m e n k ö n n e n . D e n n die kirchlichen D a r s t e l l u n g e n müssen sich von dem apokryphischen i m m e r mehr entfernen, weil der Einfluß f r e m d a r t i g e r religiöser E l e m e n t e a u f die Kirche, wiewol ihr im einzelnen i m m e r n o c h neue T h e i l e aus dem G e b i e t des J u d e n t h u m s zuwachsen, doch in demselben M a a ß a b n i m m t , als der g r ö ß t e T h e i l der Christen schon im S c h o o ß der Kirche geboren und erzogen wird. Dagegen k o n n t e aber auch die Kirche seitdem das k a n o n i s c h e nicht m e h r erreichen, weil die lebendige A n s c h a u u n g Christi nicht m e h r a u f dieselbe Weise unmittelbar, sondern nur aus jenen Schriften e n t n o m m e n also von ihnen a b h ä n g i g , alle verunreinigenden

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Vgl. Gal. 2, llflgd.

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Einflüsse abwehren kann. Nehmen wir daher beides zusammen, kanonisches und apokryphisches, so steht auch das apostolische Zeitalter unter der allgemeinen Regel, denn die Wirksamkeit des kanonischen erscheint gewisser und sein Einfluß verbreiteter, wenn das apokryphisehe auch an den Grenzen der Kirche sich verliert, und so ist im Ganzen betrachtet die spätere Darstellung auch die vollkommnere. Nehmen wir dagegen das kanonische für sich: so trägt dieses eine normale Würde für alle Zeiten in sich. Wir schreiben diese nicht allen Theilen unserer heiligen Schriften gleichmäßig zu, sondern nur in dem M a a ß als die Verfasser sich in dem eben beschriebenen Zustande befanden, 361 so daß gelegentlichen Aeußerungen und bloßen Nebengedanken nicht derselbe Grad von Normalität zukommt, wie dem was zum jedesmaligen Hauptgegenstande gehört. Wir verstehen sie auch nicht so, als ob alle spätere Darstellung gleichmäßig müßte aus dem Kanon abgeleitet 2917 werden, und in ihm schon dem Keime nach enthalten sein. Denn seitdem der Geist ausgegossen ist auf alles Fleisch, ist auch kein Zeitalter ohne eine eigenthümliche Ursprünglichkeit christlicher Gedanken. Aber auf der einen Seite darf alles nur in sofern für ein reines Erzeugniß des christlichen Geistes angesehen werden, als sich nachweisen läßt, daß es mit jenen ursprünglichen Erzeugnissen in Uebereinstimmung steht; und auf der andern Seite kommt keinem späteren Erzeug- 331 niß ein gleiches Ansehn zu wie jenen ursprünglichen Schriften, wenn es darauf ankommt für die Christlichkeit einer Darstellung Gewähr zu leisten und unchristliches kenntlich zu machen.

§. 130. E r s t e r L e h r s a z . Die einzelnen Bücher des neuen Testamentes sind von dem h. Geist eingegeben, und die Sammlung derselben ist unter der Leitung des h. Geistes entstanden. C o n f . H e l v . I. (p. 94.) „Scriptura canonica, verbum Dei Spiritu s. tradita et . . . mundo proposita e t c . " — C o n f . G a l l . V. (p. 111.) „Credimus verbum his libris comprehensum ab uno Deo esse profectum [ . . . ] . " - C o n f . S c o t . XVIII. p. 159. „ [ . . . ] Spiritus dei per quem s. scripturae litteris sunt m a n d a t a e . " — C o n f . b e l g . III. p. 171. „Confitemur [ . . . ] sanetos Dei viros divino afflatos spiritu locutos esse [ . . . ] . Postea vero Deus . . . servis

25 § 130 = CG1 § 150 29 Confessio helvetica prior I, Corpus ed. Augusti 94; BSRK 101,9 30 Confessio gallicana V, Corpus ed. Augusti 111; vgl. BSRK 222,32 31 Confessio scotica Will, Corpus ed. Augusti 159; vgl. BSRK 257,42 33 Confessio belgica 111, Corpus ed. Augusti 171; BSRK 233,23

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5 130 suis [...] mandavit, ut sua ilia oracula scriptis consignarent." - D e e l . T h o r . p. 411. „Profitemur ... nos amplecti sacras canonicas ... scripturas ... instinetu spiritus s. primitus scriptas etc."

362

1. Dem kirchlichen Ausdrukk der Eingebung im allgemeinen eine genaue Umgrenzung zu geben, ist nicht leicht, und wir wollen vor der speciellen Behandlung der Sache hier über das Wort nur folgendes vorläufig bemerken. Der Ausdrukk θεόπνευστος, der von den alttestamentischen Schriften 1 gebraucht wird, und diesem Sprachgebrauch geschichtlich wol am bestimmtesten zum Grunde liegt, führt allerdings 2927 sehr leicht darauf, sich ein Verhältniß des heiligen Geistes zu dem Schreiber zu denken, welches sich auf diesen Act besonders bezieht und außerdem nicht besteht. Weniger mit dieser Nebenvorstellung behaftet ist der Ausdrukk υ π ό πνεύματος άγίου φερόμενοι2 . Denn hier ist die 332 Auslegung, daß sie schon immer getrieben waren, und in diesem Zustande dann auch redeten und schrieben, an und für sich eben so natürlieh, als die d a ß sie erst zum Reden und Schreiben getrieben wurden. Da nun der kirchliche Ausdrukk nicht genau schriftmäßig und dabei bildlich ist: so wird es nöthig sein, ihn durch Beziehung auf verwandte Ausdrükke zu bestimmen, welche auch eine Art bezeichnen, wie man zu Vorstellungen kommt. Hier steht nun auf der einen Seite das eingegebene mit dem erlernten gegenüber dem ersonnenen, wie dem ganz aus der eigenen Selbstthätigkeit hervorgegangenen das worauf eine fremde Einfluß gehabt; auf der andern Seite ist wieder das eingegebene dem erlernten entgegengesezt, indem dieses abgeleitet ist aus einem von außen mitgetheilten, jenes aber als ein für Andere ursprüngliches, nur von einer innerlichen Mittheilung abhängig hervorgeht. Daher die Darstellung des erlernten sich beliebig dem mechanischen annähern darf, in dem Hervortreten des eingegebenen aber sich die ganze Freiheit der eigenen Productivität zu Tage legen kann. - Die allgemeine Gewohnheit aber, die heilige Schrift auch die Offenbarung zu nennen, ver-

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363 ursacht, daß beide Begriffe nicht selten verwechselt werden, was nicht ohne Verwirrung abgehen kann. Denn wenn man dies so versteht, als sei den heiligen Schriftstellern, indem sie aus Eingebung schrieben, der Inhalt göttlicherweise besonders kund gemacht: so ist dies eine ganz unbegründete Behauptung, mag man nun mehr auf den Act der Abfas- 35 sung eines heiligen Buches selbst oder mehr auf die ihr vorangehende 1 2

2 Tim. 3, 16. 2 Petr. 1, 21.

1 Declaratio Thorunietisis (Generalis professio), Corpus ed. Augusti canonicas ... scripturas Q : s a c r a s c a n o n i c a s ... s c r i p t u r a s

411; statt

sacras

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und zum Grunde liegende Gedankenerregung sehen. Weil nämlich alles was sie lehren auf Christum zurükkgeführt wird: so muß auch in Christo selbst die ursprünglich göttliche Kundmachung alles in den heiligen Schriften enthaltenen sein, keinesweges aber vereinzelt nach der Weise der Eingebung, sondern Eine untheilbare, aus der sich alles einzelne organisch entwikkelt. Das Reden und Schreiben der vom Geist getriebenen Apostel war also auch nur ein Mittheilen aus der göttlichen Offenbarung in Christo. - Wenn aber nun unser Saz nicht nur das Abfassen der einzelnen Bücher, sondern auch die Zusammenstellung der- 333 selben, um den neutestamentischen Kanon zu bilden, dem heiligen Geiste zuschreibt, und sich für dieses leztere eines andern Ausdrukks 2937 bedient: so beruht diese Unterscheidung zunächst darauf, daß wir die Abfassung eines Buchs als einen Willensact eines Einzelnen ansehen, die Zusammenstellung des Kanon aber ist das Ergebniß eines vielseitigen Zusammenwirkens und Gegeneinanderwirkens in der Kirche, so daß nicht alles was dazu mitgewirkt hat, auf gleichmäßige Weise dem h. Geist kann zugeschrieben werden. Es wird aber nicht allgemein jedem dieser beiden Ausdrükke derselbe Werth beigelegt wie hier, sondern Einige wollen sich auch für die Abfassung nur mit einer leitenden Thätigkeit des Geistes begnügen, Andere auch die bei der Z u s a m m e n stellung bis zur Eingebung steigern.

2. Gehen wir auf den Begriff des h. Geistes als Gemeingeist der christlichen Kirche zurükk, daher auch als Quelle aller Geistesgaben und guten Werke: so ist auch alle | Gedankenerzeugung, sofern sie dem 364 25 Reich Gottes angehört, auf ihn zurükkzuführen und also von ihm eingegeben. Die des apostolischen Zeitalters aber so, daß sie die beiden Gegensäze des apokryphischen und kanonischen in sich schließt, so daß in jenem nur die einzelnen Spuren von Z u s a m m e n h a n g mit dem christlichen Gesammtieben von ihm herstammen, in diesem seine 30 Wirksamkeit nur durch das Individuum näher bestimmt wird, fast ohne durch dasselbe geschwächt oder alterirt zu sein, so jedoch, daß in keinem Einzelnen der Unterschied von Christo ganz aufgehoben ist. Ist nun der K a n o n zwischen diesen beiden durch allmählige Uebergänge ausgefüllt, so wird diese Wirksamkeit des Geistes am vollkommensten 35 sein und am meisten zusammengedrängt in dem von Petrus auch mit Zustimmung der ganzen Gemeine 3 besonders ausgezeichneten Kreise 334

3

Ap. Gesch. 1, 2 1 flgd.; vgl. J o h . 15, 2 7 . - W e n n Paulus diesem Kreise nicht a n g e h ö r t ; und die Kirche ihn d o c h auch in Bezug a u f die Eingebung nie hin-

33 Kanon] Kj Clemen

Gegensatz

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§130

derer, die mit Christo bald vom Anfang seines öffentlichen Lebens an gewandelt waren. Denn in dieser apostolischen Klasse, wie man sie nennen darf, wurden die Einzelnen einander so gleich gehalten, daß ohne Gewissensverlezung die Zahl der ursprünglichen Apostel aus ihnen durch das bloße Loos ergänzt werden konnte, indem diese Beharrlichkeit sowol die Reinheit ihres Eifers als die Vollständigkeit ihrer 2947 Auffassung verbürgte. Niemand aber wird auch in diesem Kreise den bedeutenden Unterschied verkennen zwischen solchen Momenten, welche nur zum Privatleben der Einzelnen gehörten, und solchen die in der Leitung der christlichen Angelegenheiten verwendet wurden; denn in den ersten wird auch bei den Aposteln das menschliche am leichtesten 365 hervorgetreten sein, wogegen in | den lezten der Wille, den Geist des Ganzen ausschließend walten zu lassen, weit entschiedener sein mußte, und daher was in diesen geredet und gethan wurde, in einem weit strengeren und bestimmteren Sinn eingegeben genannt werden kann. Dagegen würde man die Einheit des Lebens dieser apostolischen Männer auf die abentheuerlichste Weise zerstören, wenn man, um die Eingebung der heiligen Schrift recht vorzüglich herauszuheben, behaupten wollte, sie wären in andern Theilen ihres apostolischen Amtes weniger von dem h. Geist beseelt und getrieben worden, als in den Akten des Schreibens, und wiederum weniger in der Abfassung solcher auch den Dienst der Gemeinen betreffenden Schriften, welche nicht vorher bestimmt waren in den Kanon aufgenommen zu werden, und eben so auch ausgezeichnet mehr bei denjenigen öffentlichen Reden oder Theilen von Reden, welche hernach in der Apostelgeschichte aufbewahrt worden sind, als bei allen übrigen; und mit oder ohne ihr Wissen sei dieser Unterschied darin begründet, daß diese Reden und Schriften bestimmt waren, außer ihrer unmittelbaren Abzwekkung sich auch auf 335 alle künftigen Zeiten zu beziehen. Mithin ist die eigenthümliche apostolische Eingebung nicht etwas den neutestamentischen Büchern ausschließend zukommendes; sondern diese participiren nur daran, und die Eingebung in diesem engeren Sinn, wie sie durch die Reinheit und Vollständigkeit der apostolischen Auffassung des Christenthums bedingt ist, erstrekkt sich auch so weit als die von dieser ausgehende amtliche apostolische Wirksamkeit. — Betrachtet man nun die Eingebung der Schrift in diesem Zusammenhang als einen besonderen Theil des überhaupt aus der Eingebung geführten apostolischen Amtslebens: so

ter den andern Aposteln zurükkgesezt hat: so erkennt sie ihm dieselben Vorzüge zu, wenn er sie auch gewissermaßen auf anderem Wege erworben hat. 31 participiren] participirt

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wird man schwerlich dazu kommen, alle die schwierigen Fragen über die Ausdehnung der Eingebung aufzuwerfen, die so lange auf eine Weise beantwortet worden sind, wodurch der Gegenstand aus dem Gebiet der erfahrungsmäßigen | Beurtheilung ganz hinausgerükkt 366 5 wird. N u r eine ganz todte scholastisirende Ansicht kann entweder auf 2957 dem Wege von dem ersten Impuls zum Schreiben bis zum geschrieben da stehenden Wort irgendwo eine bestimmte Grenze ziehen, oder auch das lezte in seiner Aeußerlichkeit für sich als ein besonderes Erzeugniß der Eingebung darstellen wollen. Der natürliche Kanon ist hier die 10 Analogie mit der Lehre von der Person Christi, wenn davon ausgegangen wird, daß in dem Berufsleben der Apostel die Wirksamkeit des in der Kirche waltenden Gemeingeistes in ihrer Gesammtheit jener personbildenden Vereinigung des göttlichen Wesens mit der menschlichen Natur, welche die Person Christi constituirt hat, so nahe gekommen 15 ist, als gedacht werden kann, ohne den specifischen Unterschied zwischen beiden Vereinigungsweisen aufzuheben; und daß nur nach dieser M a a ß g a b e in jenen apostolischen Akten das Aeußere zum Theil eines anderen Ursprungs sein kann als von dem Inneren her, zu dessen Darstellung es bestimmt ist. Die Verneinung der Frage, ob die heiligen 20 Bücher der göttlichen Eingebung wegen eine von den allgemein geltenden Regeln abweichende hermeneutische und kritische Behandlung erfordern, versteht sich von diesen Voraussezungen aus ohne weiteres; und hieraus erledigen sich alle andern Schwierigkeiten von selbst. 3. Wird auf diese Weise die Eingebung der Schrift zurükkgeführt 336 25 auf den Einfluß des heiligen Geistes in die apostolische Amtsthätigkeit: so kann es leicht das Ansehen gewinnen, als sei dies nur eine Bestimmung für die Lehrbücher und nicht eben so auch für die Geschichtsbücher, indem hiebei gar nicht von eigenen Gedanken, welche mitgetheilt werden sollen die Rede ist, sondern alles nur darauf ankommt getreue 30 Erinnerungen auch zwekkmäßig zusammen zu stellen und zu sondern. Allein auf der einen Seite wenn die Gedanken der Apostel doch nur Entwikklungen der Aeußerungen Christi sein durften, diese aber nur in | ihrem jedesmaligen Zusammenhang, wie sie durch die Umstände 367 herbeigeführt wurden, vollkommen verstanden werden konnten, da ja 35 die Reden Christi großentheils auch gelegentlich waren: so erscheint eine reine und vollständige Auffassung der Lebensmomente Christi als eine nothwendige Bedingung für die gesammte apostolische Amtsthätigkeit. Und da zugleich kein M o m e n t des öffentlichen Lebens Christi ganz abgesondert von belebender und belehrender Rede gedacht wer40 den kann, zugleich aber auch alle seine Handlungen Selbstdarstellun-

34 vollkommen] vvllkommen

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2967 gen waren und als solche fruchtbar für die Verkündigung des Reiches Gottes durch ihn, diese M o m e n t e aber auf das verschiedenste aufgefaßt werden konnten, so wahr von Einigen daß der natürliche Eindrukk ihnen auch zu einem Element der Anerkennung der göttlichen Würde Christi gedeihen mußte, so verkehrt von Andern, daß er sich zu einem apokryphischen Zerrbild umgestaltete, oder gar als ein Beweis gegen die messianische Würde Christi gebraucht werden konnte: so finden wir natürlich die richtigste auch schon in einem gewissen Sinn dem göttlichen Geist beizulegende Auffassung der Lebensmomente Christi in demselben Kreise derer, die dem öffentlichen Leben Christi von Anfang an mit dem wachsenden Vertrauen folgten, in ihm den Verheißenen gefunden zu haben, so daß in demselben Kreise die richtige Auffassung Christi und die richtige Fortentwiklung seiner Lehre und seiner Vorschriften unzertrennlich zusammengehören. D e m n ä c h s t aber war es aus demselben Grunde eine für die ganze Kirche höchst bedeutende 337 Aufgabe, die richtigen Erinnerungen aus dem Leben Christi sicher zu stellen nach M a a ß g a b e wie jeder M o m e n t mit der Anschauung von dem Reiche Gottes durch Christum zusammenhing; und daher müssen wir auch das Gedächtniß im Dienst dieses allgemeinen apostolischen Zwekkes unter dem Einfluß des heiligen Geistes stehend denken, und können einen Unterschied in dieser Hinsicht zwischen dem aposto368 li|schen Lehren und dem evangelischen Erzählen nicht annehmen, wie wir denn auch die Apostel selbst erzählend finden mündlich und schriftlich. Denn wenn auch das Lehren von bestimmten Amtsverhältnissen, mithin von der Berufsthätigkeit im engeren Sinn ausgeht: so begründete sich doch auch das Erzählen in einem das Ganze der Kirche umfassenden gemeinnüzigen Bestreben, also in der Berufsthätigkeit im weiteren Sinn; und es k o m m t auf die Entscheidung der Frage, o b das evangelistische Erzählen ein besonderes der apostolischen Verkündigung bei oder untergeordnetes Kirchenamt gewesen oder nicht, gar nicht an. Das Wiedergeben der Erinnerung aber ist auf keinen Fall mündlich eben so wenig als schriftlich von historischer Composition ganz zu trennen, wenn wir auch nur an die Erzählung einer einzelnen Thatsache denken; und das Bestreben den Erlöser darin ganz so erscheinen zu machen, wie er wirklich war, ist ebenfalls das Werk des Geistes der Wahrheit, und nur sofern sie dieses war kann eine solche Erzählung in der heiligen Schrift einen Plaz einnehmen. Denken wir 2977 uns auf der andern Seite die Mittheilung solcher einzelnen Erzählungen als das ursprüngliche, und hernach das Zusammentragen derselben zu solchen Ganzen, wie unsre drei Evangelien sind: so muß auch

30 nicht,] Ms.: nicht 33 trennen,] Ms.: trennen 34 denken;] M i . : denken, 35 war,] Ms.: war 39 hernach] fehlt im Ms. 40 Ganzen,] Ms.: Ganzen 40 sind:] Ms.: sind

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die Möglichkeit zugegeben werden, daß eben sowohl einer nur das selbst erlebte in einem gewissen Zusammenhang darstellt, als daß er von Andern glaubhaft vernommenes unter das selbsterlebte vermischt; ja auch daß einer, der nichts davon selbst erlebt hat, doch das aus ursprünglicher und reiner Auffassung überkommene aus demselben Bestreben und von demselben Geiste getrieben eben so fruchtbar zusammenträgt, wie es ein ursprünglicher Augenzeuge nur vermocht hätte. Gilt es nun aber hiebei vornehmlich die richtige Auswahl und 338 Zusammenstellung der schon vorhandenen historischen Elemente: so ist die Wirksamkeit des heiligen | Geistes bei diesem Geschäft ganz in 369 der Analogie mit der bei der Auswahl der einzelnen Bücher für den Kanon. 4. Was also endlich den Antheil des heiligen Geistes an der Sammlung dieser Bücher betrifft: so ist die erste Differenz die jedem ins Auge fallen muß die, daß wenn auch alle einzelnen Bücher dieser Sammlung dem apostolischen Zeitalter angehören, die Sammlung derselben ihm doch gewiß nicht angehört, und uns also keine rein apostolische Begrenzung des kanonischen und normalen überliefert worden sein kann. Für diese bleibt also kaum eine andere Analogie übrig als die, daß wir uns den heiligen Geist in der Gedankenwelt der christlichen Gesammtheit auf dieselbe Weise schaltend denken, wie jeder Einzelne in der seinigen. Denn Jeder weiß seine ausgezeichneten Gedanken zu unterscheiden, und so aufzubewahren daß ihre Vergegenwärtigung sicher gestellt wird, die andern aber legt er theils zur weiteren Verarbeitung zurükk, oder übersieht auch andere ganz und überläßt es dem Zufall, ob sie sich ihm wieder darstellen werden oder nicht; wie denn auch Jeder wol in den Fall kommt einige ganz zu verwerfen, theils gleich wenn sie entstanden sind theils späterhin. So ist auch die treue Aufbewahrung der apostolischen Schriften das Werk des seine eignen Erzeugnisse anerkennenden göttlichen Geistes, der das was unverändert bleiben soll von dem unterscheidet was sich in der weiteren Entwiklung christlicher Lehre mannigfaltig umgestaltet, und dagegen das apokryphische theils gleich wie es entstanden ist zurükkstößt, theils

1 werden,] Ms.: werden 2 selbst erlebte] Ms.: selbst / erlebte Kj selbsterlebte 3 selbsterlebte] so Ms., OD: selbstverlebte 3 vermischt;] Ms.: vermischt, 10 heiligen] Ms.:h. 11 mit der] so Ms., korr. aus mit den O D : mit den 13 heiligen] Ms.: h. 16 angehören,] Ms.: angehören 17 apostolische] im Ms. folgt 19 die,] fehlt im Ms. 20 heiligen] Ms.: h. 20 christlichen] fehlt im Ms. 21 Gesammtheit] im Ms. am Rand mit Einfügungszeichen statt (Kirche) 23 unterscheiden,] Ms.: unterscheiden 25 zurükk,] Ms.: zurükk 26 nicht;] Ms.: nicht, 27 verwerfen,] Ms.: verwerfen 33 zurükkstößt,] Ms.: zurükkstößt

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wenigstens bewirkt, daß sowol diese Art von Productivität als auch der Geschmakk an solchen Producten sich in der Kirche allmählig verliert. 2987 Das einzige was hiebei schwierig erscheinen kann ist dieses, daß in Beziehung auf einzelne Bücher in der Geschichte entgegengesezte Momente auf einander folgen, indem sie erst als kanonisch angenom339 men und späterhin als unkanonisch verworfen wurden oder umge370 kehrt. Allein einestheils ist es | nicht das Urtheil der ganzen Kirche gewesen, welches sich so geändert hat; sondern was früher in einer Gegend angenommen war und in einer andern verworfen, das wurde späterhin allgemein entweder verworfen oder angenommen. Und manches kann für die als große Einheit organisirte Kirche und in Verbindung mit den übrigen Büchern gedacht verwerflich sein, was unter isolirten Gemeinen und durch sich allein wirkend annehmlich war oder umgekehrt. Anderntheils geht hieraus nur hervor, daß die heilige Schriftsammlung als solche nur allmählig und durch Annäherung zu Stande kommt; wie denn dieselbe Thätigkeit noch immer fortdauert in der sorgfältigen Abwägung des verschiedenen Grades normaler Dignität, den man einzelnen Theilen der Schrift zuzugestehen hat, und in der Entscheidung über Lükken und Interpolationen aller Art, so daß das Urtheil der Kirche sich nur immer mehr dem völligen Ausstoßen alles apokryphischen und dem reinen Heilighalten alles kanonischen nähert. Was nun diese Annäherung unmittelbar fördert, leitet auch den ganzen Gang des Verfahrens, und dies ist nur der in der Kirche waltende heilige Geist; alle Schwankungen aber, und was die Annäherung hemmt, kann nur irgend wie in dem Einfluß der Welt auf die Kirche begründet sein. — Will man daher in dieser Beziehung eine Scheidung machen zwischen einigem, was für immer abgemacht sei, und anderem womit die Kirche sich noch beschäftigen könne: so ist nicht Vorsicht genug zu empfehlen. Denn auch der Sinn für das wahrhaft apostolische ist, wie die Geschichte lehrt, eine in der Kirche sich allmählig steigernde Geistesgabe; und so kann sich in die heiligen Bücher zeitig durch Versehen Einzelner manches eingeschlichen haben, was erst eine spätere Zeit als unkanonisch zu erkennen und bestimmt nachzuweisen vermag. Aber auch was die ganze Sammlung betrifft, so verbürgt die Thatsache, daß 371 seitdem sie als solche in der Kirche besteht, | sie auch immer sich selbst

1 bewirkt,] Ms.: bewirkt l f als ... Kirche] im Ms. umgestellt aus in der Kirche als auch der Geschmakk an solchen Producten sich 3 dieses,] Ms.: dieses 5 folgen,] Ms.: folgen 5 indem] Ms.: wo 5 erst] fehlt im Ms. 8 gewesen,] Ms.: gewesen 8 hat;] Ms.: hat, 16 kommt;] Ms.: kommt, 1 7 f Dignität,] Ms.: Dignität 18 hat,] Ms.: hat 22 fördert,] Ms.: fördert 2 3 f heilige] Ms.: h. 24 aber,] Ms.: aber 24 hemmt,] Ms.: hemmt 27 einigem,] Ms.: einigem 27 sei,] Ms.: sei 28 könne:] Ms.: könne, 29 ist,] Ms.: ist 30 lehrt,] Ms.: lehrt 32 haben,] Ms.: haben

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gleich geblieben ist, noch nicht daß diese Bestimmung auch unwiderruflich sei. Vielmehr ist diese Bestimmung, die wir um so weniger 340 Recht hätten als ein absolutes Wunder und ein völlig isolirtes Werk des heiligen Geistes zu betrachten, da sie uns ihrem Ursprünge nach ganz unbekannt ist, auch nur als Ein Moment anzusehen, der sich nur wenn 2991 die Kirche in diesem Geschäft noch immer begriffen bleibt durch ihre sich immer erneuernde Bestätigung immer vollkommner bewähren kann, sonst aber auch dem unterworfen bleibt, berichtigt werden zu können. Daher auch, wenn manche symbolische Schriften unserer Kirche den Kanon bestimmen 4 , die weitere freie Untersuchung über denselben dadurch nicht soll gehemmt werden; sondern die kritische Forschung muß immer wieder aufs neue die einzelnen Schriften darauf prüfen, ob sie ihren Ort in der heiligen Sammlung auch mit Recht einnehmen. Denn aus der Anzweiflung des ächten kann nur eine immer größere Gewißheit entstehn. Auch der Umstand, daß unläugbar ohnedies schon apostolische und sich nahe an sie anschließende Schriften untergegangen sind, kann hiegegen nicht einwirken; denn wir sind zu dem Glauben berechtigt, daß nichts zur Erhaltung und zum Wohl der Kirche wesentliches uns durch jene Verluste ist entzogen worden, und wenigstens eben so sehr auch zu dem, daß das Wohl der Kirche nur gefördert werden kann, wenn das was der heiligen Schrift nicht wahrhaft angehört auch davon unterschieden wird.

§. 131. Z w e i t e r L e h r s a z . Die neutestamentischen Schriften sind ihrem Ursprung nach authentisch und als 25 N o r m für die christliche Lehre zureichend.

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C o n f . G a l l . III. C o n f . A n g l . VI. C o n f . B e l g . IV

4 heiligen] Ms.: h. 7 vollkommner] Ms.: vollkomner 9 auch,] Ms.: auch 13 prüfen,] Ms.: prüfen 15 entstehn] Ms.: entstehen 15 Umstand,] Ms.: Umstand 17 sind,] Ms.: sind 17 hiegegen] so Ms., OD: hingegen 18 berechtigt,] Ms.: berechtigt 23 §. 131.] Ms.: 131 23 L e h r s a z . ] Ms.: L e h r s a z 23 § 131 = CG' § 149 26 Confessio gallicana III, Corpus ed. Augusti 111; vgl. BSRK 222,5; Confessio anglicana VI, Corpus ed. Augusti 128; BSRK 507,9; Confessio belgica IV, Corpus ed. Augusti 171; BSRK 233,31

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A r t . S m a l e . II. „Regulam a u t e m aliam habemus, ut videlicet verbum Dei condat articulos fidei et praeterea ne|mo, ne angelus q u i d e m . " - G a l l . C o n f . IV. p. 111. „ H o s libros agnoseimus esse canonicos, id est, ut fidei nostrae n o r m a m et regulam habemus, idque non t a n t u m ex c o m m u n i ecclesiae consensu, sed etiam multo magis ex testimonio et intrinseca Spiritus saneti persuasione [ . . . ] . " - E x p o s , s i m p l . Cap. I. p. 3. „Credimus ... scripturas canonicas ... ipsum verum esse verbum Dei, et auetoritatem sufficientem ex semetipsis n o n ex hominibus habere. ... Et in hac script u m ... habet ... ecclesia plenissime exposita, quaecunque pertinent cum ad salvificam fidem t u m ad vitam Deo placentem recte i n f o r m a n d a m . " C o n f . A n g l . VI. p. 128. „Scriptura sacra continet omnia quae ad salutem sunt necessaria, ita ut quiequid in ea nec legitur, neque inde probari potest, non sit a q u o q u a m exigendum ut t a m q u a m articulus fidei credatur [...]." - B e l g . C o n f . VII. p. 172. „Credimus sacram hanc scripturam Dei voluntatem perfecte complecti, et q u o d e u n q u e ... credi necesse est, in illa sufficienter edoceri ... Idcirco toto a n i m o reiieimus quiequid cum certissima hac regula non convenit [...]." — C o n f . m a r c h . II. p. 371. „Anfänglich ... bekennen sich ... zu dem wahren unfehlbaren und allein seligmachenden Wort Gottes, wie dasselbe ... in der heiligen Bibel verf a ß t , welches aller Frommen einige Richtschnur ist und sein soll ... vollk o m m e n und genugsam ist zur Seligkeit, auch allen Religionsstreit zu unterscheiden, und bleibet ewiglich [...]."

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1. Aus d e m e b e n a u s e i n a n d e r g e s e z t e n g e h t s c h o n hervor, d a ß es für die A u t h e n t i e der Schrift g a r nicht darauf a n k o m m t , d a ß jedes B u c h v o n der e i n z e l n e n Person w i r k l i c h herrühre, der es b e i g e l e g t wird. 25 S o n d e r n eine Schrift k ö n n t e in allen u n s n o c h ü b r i g e n H a n d s c h r i f t e n durch ein späteres Urtheil e i n e m b e s t i m m t e n Verfasser fälschlich zugeschrieben w e r d e n , m i t h i n in d i e s e m Sinne nicht a u t h e n t i s c h sein, u n d d o c h d e m Kreise a n g e h ö r e n , in w e l c h e m allein w i r k a n o n i s c h e Schriften zu s u c h e n h a b e n , u n d bliebe d a h e r d o c h ein integrirender B e s t a n d - 30 373 theil der h e i l i g e n Schrift. Ja | a u c h gleich bei ihrer E r s c h e i n u n g k ö n n t e e i n e Schrift d e n N a m e n e i n e s A n d e r n als ihres e i g e n t l i c h e n Verfassers an der Spize g e t r a g e n h a b e n , w e n n d a b e i nur eine v o n d e m sittlichen G e f ü h l des Verfassers ü b e r e i n s t i m m e n d mit d e m sittlichen G e m e i n g e -

l l omnia] Ms.: omnia, 13 potest,] Mi.: potest 17 371.] so Ms., korr. aus 372. OD: 372. 25 wirklich] im Ms. folgt 25 herrühre,] Ms.: herrühre 28 werden,] Ms.: werden 30 haben,] Ms.: haben

1 Articuli Smalcaldici Secunda pars 11, Concordia 308; BSLK 421,40 2 Confessio gallicana III, Corpus ed. Augusti III; vgl. BSRK 222,26; statt canonicos Q: c a n o n i c o s 6 Confessio helvetica posterior 1, Corpus ed. Augusti 3; BSRK 170,26 11 Confessio anglicana VI, Corpus ed. Augusti 128; BSRK 506,33 14 Confessio belgica VII, Corpus ed. Augusti 172; BSRK 234,35; 235,6; statt perfecte ... sufficienter Q: p e r f e c t e ... s u f ficienter 17 Confessio marchica II, Corpus ed. Augusti 371 f

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fühl seiner Zeitgenossen für unschuldig geachtete Fiction zum Grunde gelegen, könnte auch ein so beschaffenes Buch immer authentisch sein als Theil der Bibel. Nur wenn eine solche Bezeichnung ein absichtliches Irreleiten gewesen wäre, würde diese Schrift nicht berufen sein können, die normale Darstellung des Christenthums zu ergänzen. Wenn sich 342 daher auch manche gegen die Richtigkeit in den Angaben der Verfasser einzelner heiliger Bücher erhobene Zweifel noch näher bestätigen sollten: so würde daraus noch kein Recht, vielweniger eine Pflicht entstehen, diese Bücher aus der Sammlung auszuschließen. - Auf keine Weise aber will sich ein Verzeichniß von Verfassern anfertigen lassen, 3017 denen einzelne Schriften zugehören müßten, um kanonisch zu sein, oder eine Klasse angeben, deren Productionen sämmtlich ein bestimmtes Recht dazu hätten. Vielmehr wenn jezt noch Schriften entdekkt würden, die mit der größten menschlichen Gewißheit einem unmittelbaren Schüler Christi oder selbst einem Apostel zuzuschreiben wären, würden wir sie doch nicht ohne weiteres dem neuen Testament einverleiben, sondern sie ihm höchstens als Anhang beifügen. Da nun auch die erste Kirche, zumal sie eine apostolische Sanction der einzelnen Schriften nicht nachzuweisen vermag 1 , uns durch ihre Festsezung nicht binden kann, wenn auch deren Weise den Kanon zu bestimmen übereinstimmend gewesen wäre: so kann die erste Hälfte unseres Sazes wol schwerlich etwas genaueres aussagen wollen, als worauf auch die 374 angeführten symbolischen Schriften hinausgehen, daß wir nämlich der allgemeinen christlichen Erfahrung als dem Zeugniß des heiligen Geistes vertrauen, daß in den von der Kirche uns überlieferten Kanon nicht durch Betrug auf der einen und Unkunde auf der anderen Seite solche

1

W a s Iren. III, 1. und Euseb. Η . Ε. II, 15. III, 2 4 . 3 9 . V, 8. u. a. a. O. berichten, wird m a n w o l je länger je weniger als eigentliche N a c h r i c h t e n ansehen wollen.

4 können,] Ms.: können 8 Recht,] Ms.: Recht 8 f entstehen,] Ms.: entstehen 10 lassen,] Ms.: lassen 11 müßten,] Ms.: müßten 11 sein,] Ms.: sein 12 angeben,] Ms.: angeben 14 würden,] Ms.: würden 1 6 f einverleiben,] Ms.: einverleiben 18 Kirche,] Ms.: Kirche 1 8 f zumal ... vermag,] zumal ... vermag im Ms. am Rand mit Einfügungszeichen 23 hinausgehen,] im Ms. folgt ( a l s )

27 Irenaeus: Contra haereses 3,1, ed. Massuet 173; MPG 7/1, 844 A; SC 211, 20-25 27 Eusebius Caesariensis: Historia ecclesiastica 2,15 über Mk und 1 Petr; 3,24 über die Evangelien, die Briefe des Paulus des Johannes und die Apk; 3,39 über Mk, Mt, 1 Joh und 1 Petr (nach Papias); 5,8 über den Bericht des Irenaeus betr. die heiligen Schriften; ed. Valesius 52.94.110.172; MPG 20, 172 B, 264 B, 296 A, 448 C; ed. Schwartz 56.101.119.189

334 Bestandtheile aufgenommen worden, welche einer apokryphischen oder des häretischen verdächtigen Region des Christenthums angehören, und denen daher nicht ohne Gefahr eine so ausgezeichnete Würde beigelegt werden könnte; wobei wir jedoch zugeben, daß nicht alle diese Bücher durch Inhalt und Form gleich geeignet sind, ihre kanonisehe Würde auch wirklich geltend zu machen. — D a nun aber diese 343 Bestimmung des Kanon auch nur allmählig zu Stande gekommen ist, und wir überdies wissen, daß alle Unvollkommenheiten und Irrthümer in der Kirche nur allmählig durch die Wirksamkeit des h. Geistes ans Licht gezogen und weggebracht werden können: so muß sich jenes Vertrauen durch die größte Freiheit eben sowol als durch die strengste Gewissenhaftigkeit in der Behandlung des K a n o n bewähren. Dahin gehört erstlich, daß alles, was zur richtigen Ausmittelung der Verfasser 3027 unserer Schriften und der Aechtheit oder Unächtheit einzelner Stellen abzwekkt, seinen ungestörten Fortgang behalte, und kein Zweifel weleher sich erhebt mit ungünstigem Vorurtheil aufgenommen oder ungeprüft verworfen werde; indem dies nicht nur zur Vollständigkeit unserer Schriftkenntniß gehört, sondern auch auf die Auslegung und den Gebrauch einzelner Stellen nicht ohne Einfluß ist. Zweitens daß wir uns in dem reinsten hermeneutischen Verfahren durch nichts irre machen lassen, und etwa lieber wissentlich in der Auslegung künsteln, als ein Resultat aufstellen, welches eine minder reine Auffassung des christlichen Glaubens verrathen könnte. N u r unter diesen Bedingungen können wir uns rühmen, eben so — wenngleich auf einen geringeren 375 Umfang streitiger | Fragen beschränkt und mit größeren Hülfsmitteln und einem ausgebildeteren Sinn ausgerüstet — im Anerkenntniß der Schrift thätig begriffen zu sein, wie diejenigen Christen es waren, welche zuerst die heilige Schrift aus der G e s a m m t m a s s e christlicher Schriftwerke ausschieden und feststellten.

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2. Soll nun der zweite Saz in seinem ganzen Umfang verstanden 30 werden, so müssen wir zunächst auf die ursprüngliche Wirksamkeit dieser Schriften zurükkgehen. Wenn nun die Lehrbücher in die bestehenden Lebensverhältnisse der Christen eingreifen sollten, so daß die apostolischen Aeußerungen auf die Bildung der leitenden Gedanken sowol als der Zwekkbegriffe der Christen bestimmend einwirkten, und 35

4 konnte;] Ms.: könnte, 4 wobei ... jedoch] Ms.: wenn wir gleich 5 sind,] Ms.: sind 5 f ihre kanonische] Ms.: diese 7 ist] fehlt im Ms. 13 alles,] Ms.: alles 13 Ausmittelung] Ms.: Ausmittlung 15 abzwekkt,] Ms.: abzwekkt 15 behalte,] Ms.: behalte 15-17 und ... werde;] und ... werde, im Ms. am Rand mit Einfügungszeichen 21 künsteln,] Ms.: künsteln 24 rühmen,] Ms.: rühmen 31 werden,] Ms.: werden 33 sollten,] Ms.: sollten 35 bestimmend] so Ms., fehlt im OD 35 einwirkten,] Ms.: einwirkten

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die G e s c h i c h t b ü c h e r auch n u r die ä h n l i c h w i r k e n d e n R e d e n u n d T h a t e n C h r i s t i u n d d e r A p o s t e l w i e d e r h o l e n s o l l t e n : s o s o l l e n sie n u n a u c h f ü r u n s e r e r e l i g i ö s e G e d a n k e n e r z e u g u n g d e r r e g e l g e b e n d e T y p u s w e r - 344 d e n , v o n w e l c h e m sie sich v o n s e l b s t n i c h t w i e d e r e n t f e r n t . U n d w e n n d i e h. S c h r i f t in d i e s e r H i n s i c h t als z u r e i c h e n d b e s c h r i e b e n w i r d : s o ist d a m i t g e m e i n t , d a ß d e r h. G e i s t u n s m i t t e l s t d e s G e b r a u c h s d e r s e l b e n e b e n s o in a l l e W a h r h e i t l e i t e n k a n n , w i e d i e A p o s t e l s e l b s t u n d A n dere, die sich der u n m i t t e l b a r e n U n t e r w e i s u n g e n Christi e r f r e u t e n ; so d a ß , w e n n d e r e i n s t in d e r K i r c h e d a s v o l l s t ä n d i g e A b b i l d v o n d e r l e b e n d i g e n G o t t e s e r k e n n t n i ß C h r i s t i v o r h a n d e n sein w i r d , w i r d i e s m i t v o l lem R e c h t als die Frucht der Schrift a n s e h e n k ö n n e n , o h n e d a ß irgend etwas ihr ursprünglich fremdes b r a u c h t h i n z u g e k o m m e n zu sein. N u r d a ß natürlich die W i r k u n g dessen, was selbst s c h o n von der S c h r i f t g e b i l d e t w o r d e n ist, a u f d a s s p ä t e r e i h r m i t z u g e r e c h n e t w i r d . A u f d i e s e W e i s e e n t s t e h e n d i e r i c h t i g e n A e u ß e r u n g e n c h r i s t l i c h e r F r ö m m i g k e i t in G e m ä ß h e i t des e i g e n t h ü m l i c h e n D e n k - u n d S p r a c h g e b i e t e s e i n e s J e d e n 3037 a l s s e i n i n d i v i d u a l i s i r t e s S c h r i f t v e r s t ä n d n i ß . U n d w a s s i c h in j e d e m Z e i t r a u m als durch die Schrift hervorgerufene Auffassung des christl i c h e n G l a u b e n s g e l t e n d m a c h t , d a s ist a u c h d i e | d i e s e m M o m e n t 376 angemessenste Entwiklung der ächten und ursprünglichen Auffassung Christi und seines Werkes, und c o n s t i t u i r t für Z e i t u n d O r t die g e m e i n s a m e christliche Rechtgläubigkeit. — Z u dieser constitutiven W i r k s a m k e i t d e r S c h r i f t v e r h ä l t sich n u n d i e z w e i t e , k r i t i s c h e , w e l c h e m a n oft g a n z allein im Auge h a t , w e n n m a n von der n o r m a l e n W ü r d e d e r S c h r i f t r e d e t , d o c h n u r als e i n e u n t e r g e o r d n e t e u n d f a s t a l s e i n S c h a t t e n v o n ihr. A l l e r d i n g s n ä m l i c h l ä ß t sich e i n e v o n d e r W i r k s a m k e i t des h . G e i s t e s d u r c h d i e S c h r i f t u n a b h ä n g i g e u n d d o c h i h r e m I n h a l t nach religiöse und ihrer ursprünglichen B e g r ü n d u n g n a c h christliche Gedankenerzeugung denken, deren Produkte aber geringhaltig und unf r u c h t b a r sind, o d e r irrig u n d an das häretische streifend. J e d e s o l c h e , d i e in d e m n o c h u n e n t w i k k e l t e n o d e r g e t r ü b t e n Z u s t a n d e d e r A u f n e h menden und Verarbeitenden ihren Ursprung hat, m u ß nun an der S c h r i f t g e p r ü f t w e r d e n , u n d k a n n nur, d a ß sie w e n i g s t e n s c h r i s t l i c h s e i n w i l l , d a r a n b e w ä h r e n , w e n n sie sich s e l b s t a u f d i e S c h r i f t zu s t ü z e n s u c h t u n d a l s o e i n e s o l c h e P r ü f u n g a n e r k e n n t . O f f e n b a r a b e r m u ß d i e s e 345

2 sollten:] M^.: sollten; 7 kann,] Ms.: kann 7 f Andere,] Ms.: Andere 8 erfreuten;] Ms.: erfreuten, 9 daß,] Ms.: daß 12 ursprünglich] im Ms. korr. aus ursprüngliches 14 ist,] Ms.: ist 15 entstehen] Ms.: werden 19 macht,] Ms.: macht 20 angemessenste] so Ms., OD: angemessene 21 Werkes,] Ms.: Werkes 22 Zu] im Ms. korr. aus ] ] 24 ganz] Ms.: fast 25 redet,] Ms.: redet 29 Produkte] Ms.: Producte 30 sind,] Ms.: sind 30 Jede] im Ms. am Rand mit Einfügungszeichen statt {Eine) 30 solche,] Ms.: solche 32 hat,] Ms.: hat 34 bewähren,] Ms.: bewähren

336 kritische Seite des normalen Gebrauchs der Schrift um desto mehr abnehmen, je mehr die productive Raum gewinnt, und zugleich die zur Vollkommenheit gediehene Auslegung der Schrift das Mißverstehen derselben erschwert. - Was aber den wissenschaftlichen Ausdrukk des christlichen Glaubens in der eigentlichen Glaubenslehre betrifft, so kommt er allerdings nur in wissenschaftlichen Individuen zu Stande, aber auch immer nur in solchen welche von dem in der Schrift wirksamen Geist ergriffen Organe sein wollen um das fragmentarische in diesen Aeußerungen zusammen zu bringen und die verschiedenen Darstellungen die ursprünglichen und die gegen das Judenthum und Heidenthum gewendeten auf einander zurükkzufiihren und durch einander zu vervollständigen; und so zeigt sich auch hier die productive 377 normale Kraft der | Schrift, wiewol in ihr selbst der Unterschied zwischen einem mehr volksmäßigen und einem mehr wissenschaftlichen Sprachgebiet kaum angedeutet ist. Dagegen muß sogleich viel Beden3047 ken entstehn gegen eine Glaubenslehre, welche, nachdem sie ganz ihren eignen Weg genommen hat, nur einen kritischen Gebrauch der Schrift gestatten will, um nachzuweisen daß sich einiges einzelne in ihr eben so wiederfindet, wie das Lehrgebäude es aufgestellt hat, und daß nichts in diesem den richtig verstandenen Aussprüchen der Schrift widerstreitet. Nur kann auch in jenem Fall nicht verlangt werden daß jeder einzelne dogmatische Ort auch in der Schrift sollte durch eine ihm besonders gewidmete Stelle repräsentirt sein. 3. Nimmt man es genau mit dem Ausdrukk, daß die Schrift als Norm zureichend sein soll: so müßte in derselben auch nichts überflüßig sein. Denn das überflüßige ist als verwirrend immer nur eine negative Größe, und nimmt das vergleichende Bestreben in erfolglosen Anspruch. Die Schrift aber enthält vieles, was fast nur Wiederholung und zwar öftere von anderem ist; und dieser Schein des Ueberflusses ist bei der im Vergleich mit einem Lehrgebäude scheinbar eben so großen 346 Unvollständigkeit um so auffallender. Allein dies ist, da die Schrift nicht als ein ganzes entstanden ist, der Natur der Sache gemäß; und unser Saz spricht in dieser Hinsicht die Ueberzeugung aus, welche

2 abnehmen,] Ms.: abnehmen 2 gewinnt,] M i . : gewinnt 6 Stande,] Ms.: Stande 7 aber ... solchen] im Mi. am Rand mit Einfügungszeichen 9 zusammen zu bringen] Ms.: zusammenzubringen 12 vervollständigen;] Ms.: vervollständigen, 16 entstehn] Ms.: entstehen 16 welche,] Ms.: welche 16f nachdem ... hat,] nachdem ... hat im Ms. am Rand mit Einfügungszeichen 18 will,] Ms.: will 19 wiederfindet,] Ms.: wiederfindet 20 Aussprüchen] im Ms. am Rand mit Einfügungszeichen statt (Darstellungen) 24 genau] fehlt im Ms. 27 Größe,] Ms.: Größe 28 vieles,] Ms.: vieles 29 ist;] Ms.: ist 29 Ueberflusses] Ueberflußes im Ms. am Rand mit Einfügungszeichen statt «(Widerspruches) 32 ganzes] Ms.: Ganzes

§132

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schon allem richtigen Schriftgebrauch zum Grunde liegt und sich durch eine richtige hermeneutische Behandlung auch immer wieder bestätigt, daß die Wiederholungen in den geschichtlichen Büchern eine um so bessere Gewähr leisten für die Authentie der Ueberlieferung, ohne 5 jedoch auszuschließen, daß sie einander ergänzen. Dasselbe gilt von den öfteren Behandlungen derselben Gegenstände in den Lehrbüchern; indem dadurch, wenn auch nicht das eine Mal eine Einwirkung auf andere Zustände und Verhältnisse bezwekkt würde als das | andere, die 378 Identität des Geistes in verschiedenen Momenten und Individuen desto 10 besser bezeugt wird.

§. 132. Z u s a z zu d i e s e m L e h r s t ü k k . Die alttestamentischen Schriften verdanken ihre Stelle in unserer Bibel theils den Berufungen der neutestamentischen auf sie, theils dem geschichtlichen Zusammenhang des christlichen 15 Gottesdienstes mit der jüdischen Synagoge, ohne daß sie deshalb die normale Dignität oder die Eingebung der neutestamentischen theilen. 1. Die Darstellung dieses Lehrstükks weicht schon darin von dem 3057 gewöhnlichen ab, daß in den beiden Lehrsäzen nur von den neutesta20 mentischen Schriften gehandelt worden ist, und dieser Zusaz soll die Abweichung begründen und bestimmt aussprechen. Absichtlich aber ist er nur als ein Zusaz angekündigt, weil er nur polemisch ist, und daher überflüßig wird, sobald die Differenz zwischen beiderlei Schriften allgemein anerkannt sein wird. J e weiter aber dieser Zeitpunkt noch ent25 fernt zu sein scheint, um desto gewagter wäre es auch, in einem kirchlichen Lehrgebäude einen so ganz abweichenden Saz als einen Lehrsaz aufzustellen. Zumal auch außerhalb der Schule dieselbe Ansicht 347 herrscht, indem sehr häufig ja nicht selten mit besonderer Vorliebe bei der christlichen Erbauung alttestamentliche Stellen zum Grunde gelegt

6 Lehrbüchern;] Lehrbüchern im Ms. am Rand mit Einfügungszeichen statt 5 hängt,] Ms.: hängt 6 der] im Ms. korr. aus dem 6 Theilnahme] im Ms. am Rand mit Einfügungszeichen statt

9 Christenthums,] Ms.: Christenthums 9 angehört,] Ms.: angehört 11 liebe] Ms.: liebt 12 Beschränkung,] Ms.: Beschränkung 13 ausgeht,] Ms.: ausgeht 14—18 Sie ... eigenen.] im Ms. am Rand mit Einfügungszeichen 15 Voraussezung,] Ms.: Voraussezung 17 ist,] Ms.: ist 19 dürfen,] Ms.: dürfen 23 werde,] Ms.: werde 24 welcher] im Ms. korr. aus welchem 25 Kirchengemeinschaft,] Ms.: Kirchengemeinschaft 25 angehört,] Ms.: angehört 26 kann,] Ms.: kann 28 das,] Ms.: das 30 als auch] Ms.: und 32 gegründet,] Ms.: gegründet

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§ 153

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Frömmigkeit wahrnehmen; ja da die vorher erwähnte partheiische Vor- 398 aussezung eben dieses im allgemeinen annimmt, so organisirt sich von ihr aus dasselbe Bestreben mit gutem Recht als ein allgemeines, und wir dürfen es auch den Gliedern der gegenüberstehenden Kirchenge5 meinschaft nicht als ein unchristliches anrechnen. Sondern die eigentlich verwerfliche Proselytenmacherei ist die, welche sich die Erweiterung der Kirchengemeinschaft zum unbedingten Zwekk macht, und den Einzelnen nur als Mittel hiezu in Anspruch nimmt. |

Zweites Lehrstükk.

ίο

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Von der I r r t h u m s f ä h i g k e i t der s i c h t b a r e n K i r c h e in B e z u g a u f d i e Untrüglichkeit der u n s i c h t b a r e n .

§. 153. Wie in jedem Theil der sichtbaren Kirche der Irrthum möglich, mithin auch irgendwie wirklich ist: so 457 15 fehlt es auch in keinem an der berichtigenden Kraft der Wahrheit. 1. Wiewol aller Irrthum, sofern er ein mit Wissen und Willen abgeschlossener und doch dem Gedachten nicht entsprechender Denkact ist, Antheil hat an der Sünde, und ihm also im allgemeinen abge20 holfen oder vorgebeugt werden muß durch die zunehmende Wirksamkeit des heiligen Geistes, nicht unmittelbar aber sofern er jener sündlichen Grundlage entgegenarbeitet: so ist doch hier zunächst nur die Rede von Wahrheit und Irrthum auf dem religiösen Gebiet. M u ß

1 wahrnehmen;] Ms.: wahrnehmen, 1 da ... erwähnte] im Ms. am Rand mit Einfügungszeichen statt {auch wo dies nicht der Fall ist kann es doch) 2 annimmt,] Ms.: annimmt 7 macht,] Ms.: macht 8 den] so Ms., OD: die 8 nimmt.] im Ms. folgt