Kritische Essays - 4: Das Rauschen der Sprache [Deutsche Erstausg., 1. Aufl.] 3-518-11695-9

Die Kritiscben Essays in Band IV unterscheiden sich nach Umfang, Stil, Anlaß und Zielsetzung: In sieben Abteilungen reic

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Kritische Essays - 4: Das Rauschen der Sprache [Deutsche Erstausg., 1. Aufl.]
 3-518-11695-9

Table of contents :
I. Von der Wissenschaft zur Literatur
Von der Wissenschaft zur Literatur ....................9
Schreiben, ein intransitives Verb? .....................18
Das Lesen schreiben ................................29
Über das Lesen ....................................33
Anhang
Überlegungen zu einem Lehrbuch ...................44
Gewähren wir die Freiheit des Schriftzugs ............52

II. Vom Wer/e zum Text
Der Tod des Autors .................................57
Vom Werk zum Text ................................64
Mythologie heute ..................................73
Abschweifungen ...................................78
Das Rauschen der Sprache ...........................88
Anhang
junge Forscher ...................................92

III. Über Sprachen und Stil
Der Kulturfrieden ..................................103
Die Spaltung der Sprachen ...........................109
Der Krieg der Sprachen .............................124
Die rhetorische Analyse .............................129
Der Stil und sein Bild _ ...............................136

IV. Von der Geschichte zum Wirklichen
Der Diskurs der Geschichte ..........................149
Der Wirklichkeitseffekt .............................164
Anhang
Das Schreiben des Geschehens ......................173

V. Der Zeichenliehhaher
Bewunderndes Staunen ............................
Ein sehr schönes Geschenk .........................
Warum ich Benveniste liebe .........................
Die Fremde .....................................
Die Rückkehr des Poetikers .........................
Lernen und lehren .................................

VI. Lektüren
Lektüren I
Wegstreichen ...................................
Bloy ..........................................
Drei Nachle/etiiren
Heute: Michelet .................................
Michelets Modernität ............................
Brecht und der Diskurs: Beitrag zu einer Untersuchung
der Diskursivität ..............................

Lektüren II
F. B ............................................
Die barocke Seite ...............................
Was dem Signifikanten widerfährt .................
Die Ausgänge des Textes .........................
Brillat—Savarin—Lektüre ..........................
Eine Forschungsidee .............................
>> Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen«.........
Vorwort zu Tricks von Renaud Camus ..............
Das ständige Scheitern des Sprechens über das Geliebte

VII. Umfelder des Bildes
Schriftsteller, Intellektuelle, Professoren ..............
An das Seminar ...................................
Der Prozeß, der den Intellektuellen immer wieder ......
Beim Verlassen des Kinos ...........................
Das Bild.........................................
Erwägung.......................................

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Roland Barthes Das Rauschen der Sprache (Kritische Essays [ V ) Aus dem Französischen von Dieter Hornig

Die Kritiscben Essays in Band IV unterscheiden sich nach Umfang, Stil, Anlaß und Zielsetzung: In sieben Abteilungen reicht die Spannweite der 46 Aufsätze aus den Jahren 1967 bis 1980 von den frühen Texten über Literatur und Wissenschaft, dem berühmten Aufsatz Der Tod des Autors, Arbeiten aus dem Umfeld der Mythen des Alltags über Sprache und Stil bis hin zu Lektüren u. a. von Brecht, Michelet, Brillat—Savarin oder Bataille. Kraftzentrum all dieser Texte aber sind die für Roland Barthes zentralen Problematiken der Sprache und des Schreibens — und mit fortschreitendem Alter immer dringlicher: des literarischen Schreibens, nicht zuletzt auch des eigenen. Und so steht am Ende der Vorlesung am College de France über Proust die nicht nur rhetorische Frage, ob er selbst nicht einen Roman schreibe. Roland Barthes ( 191 5 -I 980) ist einer der großen französischen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts. Sein Werk ist im Suhrkamp Verlag erschienen.

Suhrkamp

Titel der Originalausgabe: Essais Critiques IV. Le bruissement de la langue © Editions du Seuil, Paris 1984

Inhalt I. Von der Wissenschaft zur Literatur

Von der Wissenschaft zur Literatur .................... Schreiben, ein intransitives Verb? ..................... Das Lesen schreiben ................................ Über das Lesen .................................... Anhang Überlegungen zu einem Lehrbuch ...................

Gewähren wir die Freiheit des Schriftzugs ............

II. Vom Wer/e zum Text Der Tod des Autors ................................. Vom Werk zum Text ................................

Mythologie heute .................................. Abschweifungen ................................... Das Rauschen der Sprache ...........................

Anhang junge Forscher ...................................

9

18 29 33 44 52

57

64 73

78 88

92

III. Über Sprachen und Stil edition suhrkamp 1 695 Erste Auflage 2006 © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2005 Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Satz: Jung Crossmedia Publishing, Lahnau Druck: Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden Umschlag gestaltet nach einem Konzept von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt Printed in Germany ISBN

3-518-11695-9

123456—111009080706

Der Kulturfrieden .................................. Die Spaltung der Sprachen ........................... Der Krieg der Sprachen ............................. Die rhetorische Analyse ............................. Der Stil und sein Bild _ ...............................

103 109 124 129

136

IV. Von der Geschichte zum Wirklichen Der Diskurs der Geschichte .......................... 149 Der Wirklichkeitseffekt ............................. 164 Anhang Das Schreiben des Geschehens ...................... 173

V. Der Zeichenliehhaher Bewunderndes Staunen ............................ Ein sehr schönes Geschenk ......................... Warum ich Benveniste liebe ......................... Die Fremde ..................................... Die Rückkehr des Poetikers ......................... Lernen und lehren ................................. VI. Lektüren

Lektüren I Wegstreichen ................................... Bloy .......................................... Drei Nachle/etiiren Heute: Michelet ................................. Michelets Modernität ............................ Brecht und der Diskurs: Beitrag zu einer Untersuchung der Diskursivität ..............................

Lektüren II

F. B............................................ Die barocke Seite ............................... Was dem Signifikanten widerfährt ................. Die Ausgänge des Textes ......................... Brillat—Savarin—Lektüre .......................... Eine Forschungsidee ............................. >> Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen« ......... Vorwort zu Tricks von Renaud Camus .............. Das ständige Scheitern des Sprechens über das Geliebte

VII.

Umfelder des Bildes

Schriftsteller, Intellektuelle, Professoren .............. An das Seminar ................................... Der Prozeß, der den Intellektuellen immer wieder ...... Beim Verlassen des Kinos ........................... Das Bild Erwägung .......................................

.........................................

I. Von der Wissenschaft zur Literatur

Von der Wissenschaft zur Literatur »Der Mensch kann sein Denken nicht in Sprache bringen, ohne sein Sprechen zu überdenken« Bonald

Die französischen Universitäten verfügen über eine offizielle Li— ste der Sozial— und Humanwissenschaften, die Gegenstand einer anerkannten Lehre sind, und grenzen damit die Fachgebiete der von ihnen verliehenen Diplome ein: Man kann Doktor der Ästhe— tik, der Psychologie oder der Soziologie werden, nicht aber der Heraldik, der Semantik oder der Viktimologie. Damit determi— niert die Institution direkt die Natur des menschlichen \X/issens, indem sie ihre Einteilungs- und Zuordnungsweisen durchsetzt, genau wie eine Sprache durch ihre »obligatorischen Rubriken« (und nicht nur durch ihre Ausschließungen) auf eine bestimmte Art zu denken zwingt. Mit anderen Worten: Wissenschaft (mit diesem Wort ist hier die Gesamtheit der Sozial— und Humanwissenschaften gemeint) wird weder durch ihren Inhalt definiert (er ist oft nicht klar umrissen und wechselhaft) noch durch ihre Methode (sie variiert von einer Wissenschaft zur anderen: was hat die Geschichtswissenschaft mit der Experimentalpsychologie ge— mein?), noch durch ihre Ethik (weder Seriosität noch Strenge sind Alleinbesitz der Wissenschaft), noch durch ihre Kommunikati— onsweise (die Wissenschaft äußert sich in Büchern, wie alles übrige) — definiert wird eine Wissenschaft vielmehr allein durch ih— ren Status, das heißt durch ihre gesellschaftliche Bestimmung: Gegenstand von Wissenschaft ist jeglicher Stoff, dessen Weiter— gabe die Gesellschaft für wert befindet. Mit einem Wort: Wissenschaft ist das, was gelehrt wird. Die Literatur besitzt alle sekundären Merkmale der \Wissenschaft, das heißt alle Attribüte, die sie nicht definieren. Ihre In— halte sind die der Wissenschaft: Es gibt sicherlich keinen einzigen wissenschaftlichen Stoff, der nicht zu einem bestimmten Zeit— punkt von der Weltliteratur behandelt wurde: Die Welt des Werks ist eine totale Welt, in der jegliches Wissen (das gesellschaftliche, psychologische, historische) Platz hat, so daß die Literatur für uns jene große kosmogonische Einheit besitzt, deren sich die al— ten Griechen erfreuten, die uns der aufgesplitterte Zustand der Wissenschaften heutzutage jedoch versagt. Zudem ist die Litera9

tur, wie die Wissenschaft, methodisch: Sie hat ihre Forschungs— programme, die je nach Schulen und Epochen variieren (wie übrigens die der Wissenschaft), ihre Untersuchungsregeln und mitunter sogar ihre experimentellen Ansprüche. Die Literatur hat, wie die Wissenschaft, ihre Ethik, eine bestimmte Art und Weise, aus ihrem Selbstverständnis die Regeln ihres Tuns abzuleiten und folglich ihre Unternehmungen einem gewissen Geist des Absoluten zu unterwerfen. Ein letzter Zug vereint Wissenschaft und Literatur, trennt sie

zugleich aber auch zuverlässiger voneinander als jeder andere Unterschied: beide sind Diskurse (was in der Idee des antiken logos gut zum Ausdruck kam), aber zur Sprache, die beide konstituiert, stehen oder, wenn man lieber will, bekennen sich die Wissenschaft und die Literatur auf je andere Weise. Für die Wissenschaft ist die Sprache lediglich ein Instrument, das es so transparent, so neutral wie möglich zu gestalten und der wissenschaftlichen Materie (Operationen, Hypothesen, Resultate) zu unterwerfen gilt, die, so heißt es, außerhalb von ihr existiert und ihr vorgängig ist: Es gibt einerseits und zuerst die Inhalte der wissenschaftlichen Mitteilung, die alles sind, andererseits und danach die verbale Form, die diese Inhalte auszudrücken hat und nichts ist. Es ist kein Zufall, wenn ab dem 16. Jahrhundert der gemein— same Aufschwung des Empirismus, des Rationalismus und der religiösen Evidenz (mit der Reformation), das heißt des wissen— schaftlichen Geistes (im sehr weiten Sinn des Wortes) mit einem Rückgang der Autonomie der Sprache einherging, die nunmehr zum Instrument oder zum »schönen Stil« verkam, während sich im Mittelalter die menschliche Bildung in Gestalt des Septeniums beinahe gleichberechtigt die Geheimnisse des Sprechens und die der Natur teilte. Für die Literatur hingegen, zumindest für die von Klassik und Humanismus losgelöste, kann die Sprache nicht mehr das bequeme Instrument oder der luxuriöse Dekor einer gesellschaftlichen, gefühlsbewegten oder poetischen »Realität« sein, die ihr vorgängig wäre und deren Ausdruck sie mittels Unterwerfung unter Stilregeln zusätzlich zu besorgen hätte: Die Sprache ist das Wesen der Literatur, ihre eigentliche Welt: Die gesamte Literatur ist im Schreibakt enthalten, und nicht mehr in dem des »Denkens«, des »Ausmalens«, des »Erzählens« oder des »Fühlens«. Technisch gesehen und laut der Definition von Jakobson, be— IO

zeichnet das »Poetische« (das heißt das Literarische) jenen Typus

der Mitteilung, der seine eigene Form zum Gegenstand nimmt, und nicht seine Inhalte. Ethisch gesehen verfolgt die Literatur kraft des bloßen Durchgangs durch die Sprache die Zerrüttung der wesentlichen Begriffe unserer Kultur, und an erster Stelle des Begriffs des »Wirklichen«. Politisch gesehen ist die Literatur da— durch revolutionär, daß sie verkündet und veranschaulicht, daß keine Sprache unschuldig ist, und dadurch, daß sie das praktiziert, was sich als »integrale Sprache« bezeichnen ließe. Die Literatur trägt somit heute als einzige die gesamte Verantwortung für die Sprache; denn die Wissenschaft bedarf zwar der Sprache, ist aber nicht, wie die Literatur, in der Sprache; die eine wird gelehrt, also ausgesprochen und dargelegt; die andere wird eher vollführt als überliefert (gelehrt wird nur ihre Geschichte). Die Wissenschaft wird gesprochen, die Literatur wird geschrieben; die eine wird von der Stimme geleitet, die andere folgt der Hand; hinter beiden steckt weder der gleiche Körper noch das gleiche Begehren. Der Gegensatz zwischen der Wissenschaft und der Literatur, der im wesentlichen auf einer bestimmten Stellung zur Sprache beruht, die einmal unterschlagen, einmal einbekannt wird, ist besonders dem Strukturalismus wichtig. Gewiß deckt dieses mei— stens von außen aufgesetzte Wort derzeit sehr unterschiedliche, mitunter voneinander abweichende und sogar feindliche Unternehmungen ab, und niemand darf sich das Recht herausnehmen, in seinem Namen zu sprechen; der Autor dieser Zeilen versteigt sich nicht dazu; er hält nur vom gegenwärtigen »Strukturalismus Rhetorik>Bescheidenheit« des Schriftstellers bezeichnete. Schließlich gibt es zwischen der Wssenschaft und dem Schrei— ben einen dritten Randbereich, den die Wissenschaft zurückerobern muß: den der Lust. In einer Gesellschaft, die vom Mono— theismus völlig zur Vorstellung der >Schuld< abgerichtet ist, in der jeder Wert das Ergebnis einer Mühsal ist, hat dieses Wort einen schlechten Klang: ihm haftet etwas Leichtes, Triviales, Partielles an. Coleridge sagte: »A poem is that species of composition which is opposed to works of science, by purposing, for its immediate object, pleasure, not truth« — eine zweischneidige Erklärung, da sie sich zwar zur gewissermaßen erotischen Natur des Gedichts (der Literatur) bekennt, ihm aber nach wie vor einen aus gesparten und gleichsam überwachten, vom höheren Gebiet der Wahrheit abgehobenen Bezirk zuweist. Allerdings bedingt die »Lust« — das geben wir heute eher zu — eine weitaus umfassendere, weitaus signifikantere Erfahrung als die bloße Befriedigung des >>Ge— schmacks«. Nun wurde die Lust an der Sprache nie ernsthaft ge— achtet; die antike >Rhetorik< hatte, auf ihre Weise, eine Vorstellung davon, indem sie eine spezielle, der Zurschaustellung und Be— wunderung gewidmete Diskursgattung begründete, nämlich das epideiktische Genre; die klassische Kunst hat jedoch das Ergöt— zen, das sie deklarativ zu ihrem Gesetz erhob (Racine: »die erste Regel lautet gefallen. . .«) in alle Zwänge des »Natürlichen« ge— 15

hüllt; nur das Barock, eine literarische Erfahrung, die von unseren Gesellschaften, zumindest der französischen, nie mehr als geduldet wurde, hat eine gewisse Erforschung dessen gewagt, was man als >Eros< der Sprache bezeichnen könnte. Der wissenschaftliche Diskurs ist weit davon entfernt; akzeptierte er eine solche Vorstellung, so müßte er auf alle Privilegien verzichten, mit denen ihn die gesellschaftliche Institution umgibt, und bereit sein, in jenes »literarische Leben« einzutreten, von dem Baudelaire in Zusam— menhang mit Edgar Poe sagt, es sei »das einzige Element, in dern gewisse deklassierte Wesen atmen können«. Umwandlung des Bewußtseins, der Struktur und der Zwecke des wissenschaftlichen Diskurses, das muß man vielleicht heute fordern, wo allerdings die bestehenden, florierenden Humanwissenschaften einer gemeinhin des Irrealismus und der Unmenschlichkeit bezichtigten Literatur einen immer engeren Stellenwert einzuräumen scheinen. Aber gerade deshalb: Die Rolle der Literatur besteht darin, der wissenschaftlichen Institution aktiv vorzufiihren, was diese ablehnt, nämlich die Souveränität der Sprache. Und der Strukturalismus sollte in der Lage sein, diesen Skandal hervorzurufen; denn mit seinem hochgradigen Bewußtsein von der sprachlichen Natur der menschlichen Werke kann er heute als einziger das Problem des sprachlichen Status der Wissenschaft wieder eröffnen; dadurch, daß er die Sprache — sämt— liche Sprachen — zum Gegenstand hat, ist er sehr rasch so weit gekommen, sich als Metasprache unserer Kultur zu definieren. Diese Stufe muß allerdings überwunden werden, da der Gegen— satz zwischen Objektsprachen und ihren Metasprachen letztlich dem paternalistischen Modell einer Wissenschaft ohne Sprache unterworfen bleibt. Die Aufgabe, die sich dem strukturalen Diskurs anbietet, besteht darin, völlig homogen zu seinem Gegenstand zu werden; diese Aufgabe läßt sich nur auf zwei gleicher— maßen radikalen Wegen ausführen: entweder durch eine erschöpfende Formalisierung oder durch ein integrales Schreiben. In der hier vertretenen zweiten Hypothese wird die \Xfissenschaft in dem Maße zur Literatur, in dem die — übrigens einer zunehmenden Umwälzung der herkömmlichen Gattungen (Gedicht, Erzählung, Kritik, Essay) unterworfene — Literatur bereits Wissenschaft ist und immer schon war; denn was die Humanwissenschaften, in welchem Bereich auch immer, ob im soziologischen, psychologischen, psychiatrischen, linguistischen usw., heute ent16

decken, das hat die Literatur immer schon gewußt; der einzige

Unterschied liegt darin, daß sie es nicht gesagt, sondern geschrie—

ben hat. Angesichts dieser ganzen Wahrheit des Schreibens er— scheinen die übrigens spät, im Gefolge des bürgerlichen Positivis— mus entstandenen >>Humanwissenschaften« als die technischen Alibis, die unsere Gesellschaft vorschützt, um in ihr die Fiktion einer selbstherrlich — anmaßend —- von der Sprache losgelösten theologischen Wahrheit aufrechtzuerhalten. 1967, Times Literary Supplement

Schreiben, ein intransitives Verb? 1.

Literatur und Linguistik

Jahrhundertelang hat die abendländische Kultur die Literatur nicht — wie dies heute noch geschieht — anhand einer Praxis der Werke, Autoren und Schulen gedacht, sondern anhand einer regelrechten Theorie der Sprache. Diese Theorie besaß einen Namen: Rhetorik, die im Abendland von Gorgias bis zur Renais— sance, das heißt nahezu zwei Jahrtausende lang, dominierte. Die ab dem 16. Jahrhundert durch die Entstehung des modernen Ra— tionalismus gefährdete Rhetorik ist vollständig untergegangen, als sich dieser Rationalismus am Ende des 19. Jahrhunderts in den. Positivismus verwandelt hat. Zu diesem Zeitpunkt gibt es sozusagen keine gemeinsame Reflexionszone mehr zwischen Literatur und Sprache: Die Literatur empfindet sich nicht mehr als Sprache, außer bei einigen vorausweisenden Schriftstellern wie Mallarmé, und die Linguistik maßt sich über die Literatur nur sehr be— schränkte Rechte an, die in eine sekundäre philologische Dis— ziplin mit übrigens ungewissem Status eingeschlossen sind: die Stilkunde. Bekanntlich ändert sich diese Situation derzeit, und zum Teil sind wir, scheint mir, hier auch versammelt, um dies zur Kenntnis zu nehmen: Literatur und Sprache finden wieder zueinander. Die Faktoren dieser Annäherung sind mannigfaltig und komplex; ich nenne die offensichtlichsten: zum einen die Aktion gewisser Schriftsteller, die seit Mallarmé eine radikale Erforschung des Schreibens unternommen und ihr Werk zur Suche nach dem Totalen Buch gemacht haben wie Proust undJoyce; zum anderen die Entwicklung der Linguistik selbst, die nunmehr das Poetische oder die Ordnung der mit der Mitteilung und nicht mit deren Referenten verknüpften Wirkungen in ihr Feld aufnimmt. Es gibt also heute eine neue und, ich betone, der Literatur und der Linguistik, dem Literaturschöpfer und dem Kritiker gemeinsame Re— flexionsperspektive, deren bisher völlig abgesonderte Aufgaben zu kommunizieren und — zumindest auf der Ebene des Schriftstellers, dessen Aktion sich immer mehr als Sprachkritik definieren läßt — vielleicht sogar zu verschmelzen beginnen. Aus dieser Perspektive heraus möchte ich durch einige knappe, zukunfts18

gerichtete und nicht konklusive Bemerkungen andeuten, wie sich die Schreibtätigkeit heute mit Hilfe bestimmter linguistischer Ka— tegorien formulieren läßt. 2.

Die Sprache

Dieses neue Zusammentreffen von Literatur und Linguistik, von dem ich eben sprach, ließe sich vorläufig, und in Ermangelung eines besseren Ausdrucks, als Semio/eriti/e bezeichnen, da sie voraussetzt, daß das Schreiben ein System von Zeichen ist. Die Semiokritik läßt sich jedoch nicht mit der auch noch so umgewan— delten Stilistik gleichsetzen oder wird zumindest von der Stilistik bei weitem nicht ausgeschöpft. Es handelt sich um eine Perspek— tive von ganz anderer Tragweite, deren Gegenstand nicht aus bloß formalen Beiläufigkeiten bestehen kann, sondern aus den Bezie— hungen zwischen dem Schreibenden und der Sprache. Das be— dingt, daß man, falls man eine derartige Perspektive übernimmt, keineswegs das Interesse am Wesen der Sprache verliert, sondern, ganz im Gegenteil, ständig zu den wie immer vorläufigen »Wahr— heiten« der linguistischen Anthropologie zurückkehrt. Manche dieser Wahrheiten wirken angesichts einer gewissen landläufigen Vorstellung von Literatur und Sprache noch provokant, weshalb man nicht umhin kann, sie in Erinnerung zu rufen. 1. Ein Lehrsatz der derzeitigen Linguistik lautet, daß es keine archaische Sprache gibt oder zumindest, daß zwischen der Ein— fachheit und dem Alter einer Sprache keine Beziehung besteht: Die alten Sprachen können genauso vollständig und komplex sein wie die jüngeren Sprachen; es gibt keine Fortschrittsgeschichte der Sprache. Wenn wir also versuchen, im modernen Schreiben bestimmte grundlegende Kategorien der Sprache aufzufinden, so erheben wir nicht den Anspruch, einen gewissen Archaismus der »Psyche« freizulegen; wir sagen nicht, daß der Schriftsteller zum Ursprung der Sprache zurückkehrt, sondern daß die Sprache für ihn Ursprung ist. 2. Ein zweiter, im Hinblick auf die Literatur besonders wich— tiger Grundsatz lautet, daß die Sprache nicht als ein bloß zweckgerichtetes oder dekoratives Werkzeug des Denkens angesehen werden darf. Der Mensch existiert weder phylogenetisch noch ontogenetisch vor der Sprache. Wir stoßen niemals auf einen Zu— I9

stand, in dem der Mensch von der Sprache getrennt wäre, die er dann entwickelte, um »auszudrücken«, was in ihm vorgeht: Die Sprache lehrt die Definition des Menschen, nicht umgekehrt. 3. Zudem gewöhnt uns die Linguistik, vom methodologischen Standpunkt aus, an einen neuen Typus der Objektivität. Die bislang in den Humanwissenschaften erforderte Objektivität ist eine Objektivität des Gegebenen, das es vollinhaltlich zu akzeptieren gilt. Die Linguistik lädt uns einerseits ein, Ebenen der Analyse zu unterscheiden und die distinktiven Elemente jeder einzelnen Ebene zu beschreiben, kurz, die Unterscheidung des Sachverhalts zu begründen und nicht den Sachverhalt selbst; und andererseits fordert sie uns auf anzuerkennen, daß die kulturellen Sachver— halte, im Gegensatz zu den physikalischen und den biologischen Tatsachen, doppelseitig sind, daß sie auf etwas anderes verweisen: dies ist, wie Benveniste angemerkt hat, die Entdeckung der »Duplizität« der Sprache, die den ganzen Wert der Reflexion Saus— sures ausmacht. 4. Diese wenigen Vorbemerkungen sind in einem letzten Satz enthalten, der die gesamte Semiokritik rechtfertigt. Die Kultur er— scheint uns immer mehr als ein allgemeines System von Symbo— len, das den gleichen Operationen gehorcht: Es gibt eine Einheit des symbolischen Feldes, und. die Kultur ist in allen ihren Aspekten eine Sprache. Es läßt sich also heute die Herausbildung einer einzigen Wissenschaft von der Kultur absehen, die sich zwar auf verschiedene Disziplinen stützen wird, die jedoch allesamt auf verschiedenen Beschreibungsebenen bestrebt sind, die Kultur als eine Sprache zu analysieren. Die Semiokritik wird natürlich nur ein Teil dieser Wissenschaft sein, die im übrigen in jedem Fall ein Diskurs über die Kultur bleiben wird. Uns berechtigt diese Ein— heit des menschlichen Symbolfeldes, mit einem Postulat zu arbeiten, das ich als Homologiepostulat bezeichne: die Struktur des Satzes, Gegenstand der Linguistik, findet sich homolog in der Struktur der Werke wieder: Der Diskurs ist nicht bloß eine Aneinanderreihung von Sätzen, er ist sozusagen selbst ein großer Satz. Aus dieser Arbeitshypothese heraus möchte ich bestimmte Kategorien der Sprache mit der Situation des Schriftstellers be— züglich seines Schreibens konfrontieren. Ich verhehle nicht, daß diese Gegenüberstellung keine Beweiskraft besitzt und ihr Wert vorläufig im wesentlichen metaphorisch bleibt: Aber vielleicht besitzt die Metapher in dem Gegenstandsbereich, der uns be— 20

schäftigt, mehr methodologische Existenz und heuristisches Vermögen, als wir denken. 3. Die Zeitlichkeit Wir wissen, es gibt eine spezifische Zeit der Sprache, die sich glei— chermaßen von der physikalischen Zeit unterscheidet und von dem, was Benveniste die »chronische« Zeit oder Kalenderzeit nennt. Diese sprachliche Zeit wird je nach den Sprachen sehr un— terschiedlich unterteilt und ausgedrückt (vergessen wir nicht, daß zum Beispiel manche Idiome wie das Chinook mehrere Vergan— genheiten, darunter eine mythische Vergangenheit, aufweisen), aber eines erscheint gesichert: der treibende Mittelpunkt der sprachlichen Zeit ist immer das Präsens der Äußerung. Dadurch wird uns die Frage nahegelegt, ob es, homolog zu dieser sprach— lichen Zeit, nicht auch eine spezifische Zeit des Diskurses gibt. Zu diesem Punkt schlägt uns Benveniste eine erste Klärung vor: In zahlreichen Sprachen, insbesondere im Indoeuropäischen, gibt es ein zweifaches System: 1. ein erstes System oder Diskurssystem im eigentlichen Sinn, das der Zeitlichkeit des Aussagenden ange— paßt ist, dessen Äußerung explizit das treibende Moment bleibt; 2. ein zweites System oder System der Geschichte, der Erzählung, das zur Schilderung vergangenen Geschehens ohne Auftreten des Sprechers geeignet ist, folglich kein Präsens und kein Futurum (außer einem periphrastischen) aufweist und als spezifische Zeit den Aorist besitzt (oder eines seiner Äquivalente, etwa unser Prä— teritum), eine Zeit, die eben im Diskurssystem als einzige fehlt. Die Existenz dieses unpersönlichen Systems steht nicht im \V1— derspruch zur wesenhaft logozentrischen Natur der sprachlichen Zeit, die vorhin behauptet wurde: Dem zweiten System fehlen bloß die Merkmale des ersten; beide hängen durch die Opposition mer/emaltragend/nicht mer/emaltragend zusammen — sie haben folglich an derselben Relevanz teil. Die Unterscheidung zwischen den zwei Systemen deckt sich keineswegs mit der traditionell getroffenen zwischen einem ob— jektiven Diskurs und einem subjektiven Diskurs, da man die Beziehung zwischen dem Aussagenden und dem Referenten nicht mit der Beziehung eben dieses Aussagenden zur Äußerung ver— wechseln darf, und nur die letztgenannte Beziehung determiniert 21

das Zeitsystem des Diskurses. Diese sprachlichen Sachverhalte waren kaum spürbar, solange die Literatur als der gefügige und gleichsam transparente Ausdruck entweder der sogenannten objektiven (oder chronischen) Zeit oder der psychologischen Subjektivität aufgetreten ist, das heißt, solange sie unter einer totali— tären Ideologie des Referenten stand. Heute jedoch entdeckt die Literatur in der Entfaltung ihres Diskurses das, was ich als grundlegende Feinheiten bezeichne: zum Beispiel erscheint das aoristisch Erzählte keineswegs in die Vergangenheit, in das »Stattgefundene« eingetaucht, sondern bloß in die Nichtperson, die weder die Geschichte noch die Wissenschaft und noch weniger das man der sogenannten anonymen Schriften ist, denn was an diesem man zählt, ist nicht die Abwesenheit der Person, sondern die Unbestimmtheit: man ist mer/emaltragend, er ist dies nicht. Am anderen Ausläufer der Erfahrung des Diskurses kann sich der derzeitige Schriftsteller, scheint mir, nicht mehr damit begnügen, sein eigenes Präsens anhand eines lyrischen Projekts auszudrükken: er muß lernen, das Präsens des Sprechers, das auf einer psychologischen Fülle aufgebaut bleibt, vom Präsens des Sprechens zu unterscheiden, das genauso beweglich ist und in dem Ereignis und Schreiben absolut zur Deckung kommen. Dadurch schlägt die Literatur, zumindest die experimentelle, den gleichen Weg ein wie die Linguistik, wenn sie mit Guillaume die operative Zeit oder Zeit der Äußerung als solche untersucht. 4. Die Person

Dies führt uns zu einer zweiten, in der Linguistik und in der Literatur gleichermaßen wichtigen grammatikalischen Kategorie: der

der Person. Man muß zunächst mit den Linguisten in Erinnerung rufen, daß die Person (im grammatikalischen Sinn des Wortes) durchaus universal und an die eigentliche Anthropologie der Sprache gebunden zu sein scheint. Wie Benveniste gezeigt hat, gliedert jegliche Sprache die Person in zwei Oppositionen: eine Persönlichkeitskorrelation, die die Person (ich oder du) der Nichtperson (er), dem Zeichen des Abwesenden, der Abwesenheit, gegenüberstellt, und innerhalb dieser ersten großen Opposition stellt eine Subjektivitätskorrelation das ich der Person nicht ich (das heißt dem du) gegenüber. In unserem Zusammenhang 2.2.

müssen wir, mit Benveniste, drei Bemerkungen machen. Zunächst dies: die Polarität der Personen, diese Grundvoraussetzung der Sprache, ist allerdings sehr eigenartig, da diese Polarität weder Symmetrie noch Gleichheit aufweist: ego besitzt immer eine Position der Transzendenz gegenüber du, da ich im Ausgesagten steckt und du außerhalb davon bleibt; und dennoch sind ich und du umkehrbar, kann ich immer da werden und umge— kehrt; das ist bei der Nichtperson (er) nicht der Fall, die sich nie zur Person umkehren kann. Darm, und dies ist die zweite Bemerkung, kann und muß das sprachliche ich apsychologisch definiert werden: ich ist nichts anderes als >>die Person, die die vorliegende Diskursinstanz, die die sprachliche Instanz ich enthält, aussagt« (Benveniste).1 Und schließlich, als letzte Bemerkung, reflektiert das er oder die Nichtperson niemals die Instanz des Diskurses, außerhalb der es sich befindet; man muß großen Nachdruck auf die Empfehlung von Benveniste legen, der sagt, man dürfe sich das er nicht als eine mehr oder weniger geschrumpfte oder entfernte Person vorstellen: er ist absolut die Nichtperson, die durch die Abwesenheit dessen gekennzeichnet ist, was spezifisch (das

heißt sprachlich) ich und. du ausmacht. Dieser linguistischen Klarstellung werden wir einige Anregun— gen zu einer Analyse des literarischen Diskurses entnehmen. Zunächst meinen wir, daß, wie die Zeitlichkeit, auch der Diskurs des Werks, so unterschiedlich und oft schlau die Merkmale auch sein mögen, die die Person beim Übergang vom Satz zum Diskurs an— nimmt, einem zweifachen System, dem der Person und der Nichtperson, unterworfen ist. Geblendet wird man dadurch, daß der klassische Diskurs (im weiten Sinne), an den wir gewöhnt sind, ein gemischter Diskurs ist, der, oft in sehr schnellem Rhythmus (zum Beispiel innerhalb eines Satzes), anhand eines komplexen Wechselspiels von Pronomen und deskriptiven Verben zwischen der personalen Äußerung und der unpersonalen Äußerung springt. Dieser gemischte Einsatz der Person und der Nichtperson erzeugt ein zwiespältiges Bewußtsein, dem es gelingt, die persönliche Eigentümlichkeit des Ausgesagten zu wahren und dabei periodisch die Beteiligung des Aussagenden an der Aussage auszusetzen. 1

Emile Benveniste, »La nature des pronoms«, in: Problémes de linguistique ge'ne'rale, I, Paris 1966, S. 252. [A. d. U.] 23

Kehren wir zur linguistischen Definition der ersten Person zurück (ich ist derjenige, der in der vorliegenden Instanz des Diskurses ich sagt), so verstehen wir vielleicht das Bestreben bestimmter zeitgenössischer Schriftsteller (ich denke an Drame von Sollers) besser, wenn sie auf der Ebene der Erzählung versuchen, zwischen der psychologischen Person und dem Autor des Schreibens zu unterscheiden: Im Gegensatz zur gängigen Illusion der Autobiographien und der traditionellen Romane kann das Sub— jekt der Äußerung niemals mit dem identisch sein, das gestern agiert hat — das ich des Diskurses kann nicht mehr der Ort sein, an dem sich eine zuvor angesammelte Person unbedarft wieder zusammenfügt. Der absolute Rückgriff auf die Diskursinstanz zur Bestimmung der Person, den man mit Damourette und Pichon als »Nynegozentrismus« bezeichnen könnte (erinnern wir an den beispielhaften Beginn von Robbe—Grillets Roman Dans le [aby— rinthe (Die Niederlage von Reichenfels): »Ich bin allein hier, jetzt«),2 dieser Rückgriff erscheint also, so unvollkommen er auch noch vollzogen sein mag, durchaus als Waffe gegen die allgemeine Unaufrichtigkeit eines Diskurses, der die literarische Form bloß zum Ausdruck einer vor und außerhalb der Sprache herausgebil— deten Innerlichkeit macht oder machen würde. Rufen wir schließlich diese Klarstellung der linguistischen Analyse in Erinnerung: im Kommunikationsprozeß ist der Weg des ich nicht homogen: Wenn ich das Zeichen ich freisetze, be— ziehe ich mich auf mich selbst als Sprechenden, und dabei handelt es sich immer um einen neuen Akt, selbst wenn er wiederholt wird, dessen »Sinn« immer neuartig ist; gelangt nun dieses ich ans Ziel, so wird es von meinem Gesprächspartner als ein stabiles, ei— nem vollen Code entstammendes Zeichen rezipiert, dessen In— halte rekurrent sind. Mit anderen Worten, das ich desjenigen, der ich schreibt, ist nicht das gleiche wie das ich, das vom du gelesen wird. Diese grundlegende Asymmetrie der Sprache, die von Jes— persen und Jakobson unter dem Begriff shifter bzw. Verschieber oder Überlappung von Mitteilung und Code erhellt wurde, stiftet endlich Unruhe in der Literatur, indem sie ihr vorführt, daß die Intersubjektivität oder, vielleicht besser ausgedrückt, die Inter— lokution, sich nicht durch ein frommes Herbeiwünschen der Vor2

24

Alain Robbe—Grillet, Die Niederlage von Reichenfels. Aus dem Franzö— übertragen von Elmar Tophoven, Reinbek bei Hamburg 1967, S. 7. sischen [A. d. U.]

Züge des »Dialogs« vollziehen läßt, sondern durch ein tiefes, ge— duldiges und oft umweghaftes Hinabsteigen in das Labyrinth des Sinns.

;. Die Diathese Es gilt noch einen letzten grammatikalischen Begriff zu erwäh— nen, der unseres Erachtens Licht ins Innere der Schreibtätigkeit bringen kann, da er sich auf das Verb schreiben selbst bezieht. Es wäre interessant zu erfahren, zu welchem Zeitpunkt man begon— nen hat, das Verb schreiben intransitiv zu verwenden, und der Schriftsteller nicht mehr der war, der etwas schreibt, sondern je—

mand, der schlechterdings schreibt: Dieser Übergang ist sicher— lich das Anzeichen einer wichtigen Veränderung der Mentalität. Aber handelt es sich tatsächlich um Intransitivität? Kein Schrift— steller, welcher Zeit er auch angehören mag, kann davon absehen, daß er immer etwas schreibt; man könnte sogar sagen, daß paradoxerweise gerade in dem Augenblick, in dem schreiben intransi— tiv wird, sein Gegenstand unter der Bezeichnung Buch oder Text eine besondere Wichtigkeit erlangt. Die Suche nach der Defini— tion des modernen Schreibens darf also nicht, zumindest nicht in erster Linie, bei der Intransitivität ansetzen. Ein anderer linguisti— scher Begriff liefert uns vielleicht den Schlüssel: die Diathese (oder, wie es in den französischen Grammatiken heißt, »voix«, »Stimme«, also Aktiv, Passiv oder Medium). Die Diathese bezeichnet, auf welche Weise das Subjekt des Verbs vom Vorgang in Mitleidenschaft gezogen wird; beim Passiv liegt dies auf der Hand; dennoch lehren uns die Linguisten, daß die Diathese, zu— mindest im Indoeuropäischen, eigentlich nicht Aktiv und Passiv gegenüberstellt, sondern Aktiv und Medium. Nach dem klassi— schen, von Meillet und Benveniste angeführten Beispiel steht das Verb (rituell) opfern im Aktiv, wenn der Priester an meiner Stelle und für mich das Opfer darbringt, und im Medium, wenn ich dem Priester sozusagen das Messer aus den Händen nehme und für mich selbst das Opfer begehe; beim Aktiv vollzieht sich der Vorgang außerhalb des Subjekts, da der Priester zwar das Opfer aus— führt, aber davon nicht in Mitleidenschaft gezogen wird; beim Medium hingegen zieht sich das Subjekt handelnderweise selbst in Mitleidenschaft, es bleibt, mag der Vorgang auch einen Gegen— 25

stand bedingen, immer innerhalb des Geschehens, so daß das Me— dium die Transitivität nicht ausschließt. So definiert, entspricht die Handlungsrichtung Medium gänzlich dem Zustand des mo— dernen Schreibens: Schreiben heißt heute, sich zum Zentrum des Redevorgangs machen, das Schreiben vollziehen und sich selbst in Mitleidenschaft ziehen, Aktion und Affekt zur Deckung bringen, den Schreibenden nicht als psychologisches Subjekt (der indoeuropäische Priester konnte bei der aktiven Opferung für seinen Kunden durchaus vor Subjektivität überborden), sondern als Agens der Aktion innerhalb des Schreibens belassen. Man kann die diathetische Analyse des Verbs schreiben noch weiter treiben. Bekanntlich besitzen im Französischen manche Verben in der einfachen Form Aktivbedeutung (aller, arrioer, rentrer, sor— tir), erfordern jedoch in den Formen der zusammengesetzten Vergangenheit (je suis alle, je suis arrivé) das Hilfszeitwort des Passivs; um diese zutiefst mediale Aufspaltung zu erklären, unterscheidet Guillaume eben zwischen einem oerbindungslösenden zusammengesetzten Perfekt (mit dem Hilfszeitwort avoir), das eine Unterbrechung des Vorgangs aufgrund der Initiative des Sprechers voraussetzt (je marche, je m’arréte de marcher, j’ai marché) und ein integrierendes zusammengesetztes Perfekt (mit dem Hilfszeitwort étre, das für Verben typisch ist, die ein semantisches Ganzes bezeichnen, das sich durch die bloße Initiative des Subjekts nicht aufstückeln läßt (je suis sorti, il est mort verweisen nicht auf eine verbindungslösende Unterbrechung des Ausgehens oder des Sterbens). Schreiben ist traditionell ein aktives Verb mit verbindungslösendem Perfekt: ich schreibe ein Buch, ich beende es, ich habe es geschrieben; aber in unserer Literatur wechselt das Verb den Status (wenn nicht die Form): Schreiben wird in dem Maß zu einem medialen Verb mit integrierendem Perfekt, in dem schreiben zu einem unteilbaren semantischen Ganzen wird; so daß das wahre Perfekt, das rechte Perfekt dieses neuen Verbs nicht ich habe geschrieben lautet, sondern eher ich bin geschrieben, wie es heißt, ich bin geboren, er ist gestorben, sie ist erbliiht usw., lauter Ausdrücke, in denen trotz des Verbs étre natürlich keine Vorstellung eines Passivs vorhanden ist, da sich ich bin geschrieben nicht ohne weiteres in man hat mich geschrieben um— wandeln ließe. Somit nimmt im medialen Schreiben die Distanz zwischen dem Schreibenden und der Sprache asymptotisch ab. Man könnte so26

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gar sagen, daß die Schreibweisen der Subjektivität wie das romantische Schreiben aktiv sind, da in ihnen das Agens nicht im, son— dern zeitlich vor dem Schreibvorgang liegt: Der Schreibende schreibt darin nicht für sich selbst, sondern, kraft einer ungebührlichen Vollmacht, für eine außerhalb liegende und vorangegangene Person (mögen sie auch beide denselben Namen tragen), während sich beim medialen Schreiben der Moderne das Subjekt unmittelbar zeitgleich zum Schreiben konstituiert, sich durch das Schreiben vollzieht und in Mitleidenschaft zieht — das gilt beispielhaft für den Erzähler bei Proust, der trotz der Bezugnahme auf eine Pseudoerinnerung nur während des Schreibens existiert.

6. Die Instanz des Diskurses

Wie man gesehen hat, wollen diese Bemerkungen nahelegen, daß sich das zentrale Problem des modernen Schreibens genau mit dem deckt, was man als die Problematik des Verbs in der Lingui— stik bezeichnen könnte: Genauso wie die Zeitlichkeit, die Person und die Diathese das Positionsfeld des Subjekts abstecken, ge— nauso ist die moderne Literatur bestrebt, mittels verschiedener Experimente eine neue Position des Agens des Schreibens im Schreiben selbst einzusetzen. Der Sinn oder, wenn man das vor— zieht, das Ziel dieser Suche besteht darin, die Instanz der Realität (oder Instanz des Referenten), das mythische Alibi, das für die Vorstellung von Literatur beherrschend war und nach wie vor ist, durch die eigentliche Instanz des Diskurses zu ersetzen: Das Feld des Schriftstellers ist nur das Schreiben als solches, nicht als reine »Form«, wie eine Ästhetik des L’art pour l’art sie zu begreifen vermochte, sondern, weitaus radikaler, als einziger möglicher Raum des Schreibenden. Man muß diejenigen, die diese Forschungsrichtung des Solipsismus, des Formalismus oder des Szientismus bezichtigen, daran erinnern; indem wir auf die grundlegenden Kategorien der Sprache wie Person, Zeit und Dia— these zurückkommen, befinden wir uns im Zentrum einer Pro— blematik der Gesprächssituation, da sich die Beziehungen zwischen dem ich und dem, was nicht das Merkmal ich trägt, gerade in jenen Kategorien knüpfen. In dem Maße, in dem die Person, die Zeit und die Diathese, die Verschieber, diese bemerkenswerten sprachlichen Wesen, implizieren, zwingen sie uns, die Sprache 27

und den Diskurs nicht mehr in Begriffen einer instrumentellen und folglich verdinglichten Nomenklatur zu denken, sondern als Ausübung des Sprechens: Das Pronomen zum Beispiel, vermut— lich der fesselndste unter den Verschiebern, gehört struktural (ich betone es) zur Rede; darin besteht, wenn man so will, sein Skandal, und über diesen Skandal müssen wir heute literarisch und linguistisch arbeiten: Wir suchen den »Sprechpakt« zu ergründen, der den Schriftsteller dergestalt an den anderen bindet, daß jeder Augenblick des Diskurses zugleich absolut neu ist und absolut verstanden wird. Mit einer gewissen Kühnheit können wir dieser Forschung sogar eine historische Dimension verleihen. Man weiß, daß das mittelalterliche Septenium in der grandiosen Klassifizierung, die es vornahm, dem Anwärter auf das Menschsein zwei große Orte zur Erforschung zuwies: zum einen die Geheimnisse der Natur (Quadrivium), zum andern die Geheimnisse des Sprechens ( Trivium: Grammatica, Rhetorica, Dialectica); diese Gegenüberstellung ging am Ende des Mittelalters und bis in unsere Zeit verloren, die Sprache wurde nur mehr für ein Werkzeug im Dienst der Vernunft oder des Herzens gehalten. Heute jedoch lebt etwas von dieser antiken Opposition wieder auf: Der Erforschung des Kosmos entspricht von neuem die von der Linguistik, der Psychoanalyse und der Literatur betriebene Erforschung der Sprache. Denn die Literatur selbst ist, wenn man so sagen kann, nicht mehr die Wissenschaft vom »menschlichen Herzen«, sondern vom menschlichen Sprechen; ihr Forschen gilt allerdings nicht mehr den sekundären Formen und Figuren, die Gegenstand der Rhetorik waren, sondern den grundlegenden Kategorien der Sprache: Genauso wie in unserer abendländischen Kultur die Grammatik erst sehr lange Zeit nach der Rhetorik entstanden ist, genauso kann sich die Literatur erst nachdem sie jahrhundertelang durch das literarische Schöne gewandelt ist, die grundlegenden Probleme der Sprache stellen, ohne die sie nicht da wäre. 1966, Johns Hopkins Kolloquium. Englisch in: The Languages of Criticism and the Sciences of Mani the Structuralist Controversy. © Johns Hopkins Press, London und Baltimore, 1970, S. 134—145. Auf französisch unveröffentlicht.

Das Lesen schreiben Ist es Ihnen noch nie passiert, daß Sie beim Lesen eines Buchs nicht aus Desinteresse, sondern, im Gegenteil, aufgrund von Gedanken, Erregungen und Assoziationen in Ihrer Lektüre ständig innehalten? Mit einem Wort, ist es Ihnen nicht passiert, daß Sie aufblic/eend lesen? Diese zugleich respektlose, weil den Text unterbrechende, und vernarrte, weil ständig zu ihm zurückkehrende und. sich aus ihm speisende Lektüre habe ich zu schreiben versucht. Um sie niederzuschreiben, um aus einer Lektüre wieder den Gegenstand einer weiteren Lektüre (die der Leser von S/Z) zu machen, mußte ich natürlich darangehen, alle diese Augenblicke des >>Aufblickens« zu systematisieren. Anders ausgedrückt, hieß der Versuch, meine eigene Lektüre zu hinterfragen, nichts anderes, als die Form aller Lektüren (die Form: einziger Ort der Wissenschaft) zu erfassen oder: eine Theorie der Lektüre herbeizurufen. Ich habe also einen kurzen Text genommen (das war für die Gründlichkeit des Unterfangens nötig), Sarrasine von Balzac, eine nicht sehr bekannte Novelle (aber wird Balzac nicht gerade als der Unerschöpfliche definiert, der, von dem man, außer man fühlt sich zur Exegese berufen, nie alles gelesen hat?), und habe bei der Lektüre dieses Textes fortwährend innegehalten. Die Kritik funktioniert gewöhnlich (und dies ist kein Vorwurf ) entweder mikroskopisch (indem sie geduldig das philologische, autobiographische oder psychologische Detail beleuchtet) oder teleskopisch (indem sie den großen historischen Raum rund um den Autor auslotet). Ich habe auf diese zwei Werkzeuge verzichtet: Ich habe weder von Balzac noch von seiner Zeit gesprochen, keine Psychologie der Personen, keine Thematik des Textes und keine Soziologie der Anekdote betrieben. Mich auf die frühesten Leistungen der Kamera beziehend, die den Trab eines Pferdes zu zerlegen vermochte, habe ich gewissermaßen versucht, die Lektüre von Sarrasine in der Zeitlupe zu filmen: Das Resultat ist, glaube ich, weder eine richtige Analyse (ich habe nicht das Ge— heimnis dieses eigenartigen Textes zu erfassen versucht) noch ein richtiges Bild (ich denke nicht, daß ich mich in meine Lektüre hineinprojiziert habe — oder wenn dem so ist, dann von einem unbe29

wußten Ort aus, der weit unter meinem »Selbst« liegt). Was ist S/Z folglich? Bloß ein Text, jener Text, den wir in unserem Kopf schreiben, wenn wir aufblicken. Dieser Text, den man mit einem Wort bezeichnen können müßte: als Lese-Text, ist schlecht bekannt, da wir uns seit Jahr— hunderten maßlos für den Autor und überhaupt nicht für den Leser interessieren; die meisten literaturwissenschaftlichen Theorien suchen zu erklären, warum, aufgrund welcher Triebe, wel— cher Zwänge und welcher Grenzziehungen der Autor sein Werk geschrieben hat. Dieses horrende, dem Ausgangsort des Werks (Person oder >GeschichteMetalektüreAnalyse< der Lektüre, der ana— gnosis, der Anagnose, zu entwickeln: eine >Anagnosologie< — warum nicht? Leider ist die Lektüre noch nicht ihrem Propp oder ihrem Saussure begegnet; diese ersehnte Relevanz, das Bild einer Entlastung des Wissenschaftlers, finden wir nicht — wenigstens noch nicht: Die alten Relevanzen eignen sich nicht für die Lektüre, oder zumindest geht diese weit über sie hinaus. 1. Im Feld des Lesens gibt es keine Objektrelevanz: Das Verb lesen, das anscheinend weitaus stärker transitiv ist als das Verb sprechen, läßt sich mit tausend Objektergänzungen sättigen, katalysieren: ich lese Texte, Bilder, Städte, Gesichter, Gesten, Szenen usw. Diese Objekte sind so mannigfaltig, daß ich sie weder in einer inhaltlichen noch in einer formalen Kategorie vereinheit— lichen kann; ich kann an ihnen nur eine intentionale Einheit fin— den: Das Objekt, das ich lese, ist nur durch meine Leseabsicht begründet: es ist bloß: zu lesen, legendum, und fällt unter eine Phänomenologie, nicht unter eine Semiologie. 2. Im Feld des Lesens gibt es auch —was schwerer wiegt — keine Relevanz der Ebenen, besteht keine Möglichkeit, Ebenen der Lektüre zu beschreiben, weil keine Möglichkeit besteht, die Liste 34

dieser Ebenen abzuschließen. Zwar gibt es einen Ursprung der graphischen Lektüre: das Erlernen der Buchstaben, der geschriebenen Wörter; aber zum einen gibt es Lektüren ohne Lernphase (die Bilder) — zumindest ohne technische, wenn schon nicht kulturelle Lernphase —, und zum anderen — diese techne einmal erworben — weiß man nicht, wo es die Tiefe und. die Streuung der Lektüre anzuhalten gilt: bei der Erfassung des Sinns? Welchen Sinns? Des denotierten? Des konnotierten? Das sind, würde ich sagen, ethische Artefakte, weil der denotierte Sinn dazu neigt, als einfacher, wahrer Sinn aufzutreten und ein Gesetz zu begründen (wie viele Menschen sind für einen Sinn gestorben?), während die Konnotation gestattet (darin liegt ihr moralischer Vorteil), ein Recht auf den mehrfachen Sinn anzumelden und die Lektüre zu befreien _ aber bis wohin? Unendlich weit: Es gibt keinen struk— turalen Zwang zum Abschließen der Lektüre — ich kann genausogut die Grenzen des Lesbaren unendlich weit zurückversetzen, beschließen, daß letztlich alles lesbar ist (so unlesbar es auch erscheinen mag), aber umgekehrt auch beschließen, daß am Grunde jedes Textes, so sehr er auch auf Lesbarkeit angelegt ist, Unlesbares bestehenbleibt. Das Lesen/ec'innen läßt sich in seinem Anfangsstadium bemessen und verifizieren, wird aber sehr rasch boden— los, regellos, stufenlos und endlos. Für diese Schwierigkeit, eine Relevanz zu finden, die eine zu— sammenhängende Analyse des Lesens begründen würde, können wir uns, aus mangelnder Genialität, verantwortlich halten. Aber wir können auch vermuten, daß die Ir-Relevanz, die Im-Perti— nenz gewissermaßen mit der Lektüre wesensverwandt ist: Irgend etwas würde qua Status die Analyse der Objekte und der Ebenen des Lesens unscharf werden lassen und nicht nur jede Suche nach einer Relevanz in der >Analyse< des Lesens zum Scheitern bringen, sondern vielleicht auch den Begriff Relevanz selbst (scheint doch das gleiche Abenteuer derzeit der Linguistik und der Narratologie zuzustoßen). Dieses Etwas glaube ich (auf übrigens banale Weise) benennen zu können: das >BegehrenBegehren< (oder vom >AbscheuAna— gnosologie< schwierig, vielleicht unmöglich — und könnte sich jedenfalls dort vollziehen, wo wir sie nicht erwarten oder zumindest nicht genau dort, wo wir sie erwarten: Aufgrund einer — jungen — Tradition erwarten wir sie auf seiten der Struktur; und haben zum Teil sicherlich recht: Jede Lektüre geschieht innerhalb 35



einer (wenn auch mannigfaltigen, offenen) Struktur und nicht im angeblich freien Raum einer angeblichen Spontaneität — es gibt keine »natürliche«, »wilde« Lektüre: Die Lektüre übersteigt die Struktur nicht; sie ist ihr unterworfen: Sie bedarf ihrer, sie respek— tiert sie; aber sie pervertiert sie. Die Lektüre wäre die Geste des Körpers (denn man liest selbstverständlich mit seinem Körper), der im selben Zug seine Ordnung setzt und pervertiert: ein inner— licher Zusatz an Perversion. 2.

Verdrängung

Ich gehe nicht den Wandlungen des Begehrens nach Lektüre im eigentlichen Sinn auf den Grund; namentlich diese irritierende Frage kann ich nicht beantworten: Warum wünschen die Fran— zosen heutzutage nicht zu lesen? Warum lesen angeblich fünfzig Prozent von ihnen nicht? Was uns einen Moment lang beschäf— tigen kann, das ist die Spur an Begehren — oder Nichtbegehren —, die es innerhalb einer Lektüre gibt, vorausgesetzt, das Lesen— wollen ist bereits einbekannt. Und zunächst die Verdrängungen. Davon fallen mir zwei ein. Die erste ergibt sich aus allen sozialen oder durch tausend Re— lais verinnerlichten Zwängen, die die Lektüre zur Pflicht machen, worin der Akt des Lesens als solcher durch ein Gesetz determiniert ist: der Akt des Lesens oder aber, wenn man so sagen kann, der Akt des Gelesenhabens, die beinahe rituelle Spur einer Initiation. Ich spreche also nicht von den »instrumentellen« Lektüren, die für die Aneignung eines Wissens, einer Technik erforderlich sind und in denen die Geste des Lesens unter dem Lernakt ver— schwindet: man muß gelesen haben (die Princesse de Cléves, den Anti-Ödipus). Das Gesetz kommt woher? Aus verschiedenen Instanzen, die jeweils als Wert, als Ideologie begründet sind: Als en— gagierter Avantgardist muß man Bataille und Artaud gelesen haben. Lange Zeit hindurch, als das Lesen streng elitär war, gab es universale Pflichtlektüren; ich vermute, daß der Untergang der humanistischen Werte diesen Lesepflichten ein Ende gesetzt hat; an ihre Stelle sind besondere, mit der »Rolle«, die sich das Subjekt in der heutigen Gesellschaft zuerkennt, verknüpfte Pflichten getreten; das Lesegesetz entstammt nicht mehr einer Ewigkeit der Kultur, sondern einer bizarren oder zumindest rätselhaften, an

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der Grenze zwischen >Geschichte< und >Mode< angesiedelten In— stanz. Ich meine, es gibt Gruppengesetze, Mikrogesetze, von de— nen man sich freimachen dürfen muß. Oder: die Lesefreiheit ist, so hoch der Preis dafür auch sein mag, auch die Freiheit, nicht zu lesen. Wer weiß, ob manche Dinge, manche wichtige Dinge (in der Arbeit, in der Geschichte des historischen Subjekts), sich nicht bloß aufgrund von Lektüren verändern oder ereignen, son— dern aufgrund von Leseversäumnissen — aufgrund dessen, was man als die Lockerheiten des Lesens bezeichnen könnte? Oder: in der Lektüre kann das >BegehrenBibliothekBibliothek< steckt: in ihrer Künstlichkeit. Die Künst— lichkeit ist an sich kein Weg der Verdrängung (die >Natur< hat nichts besonders Befreiendes an sich); wenn die Künstlichkeit das >Begehren< nach Lesen scheitern läßt, so aus zwei Gründen. 1. Die >Bibliothek< ist, wie umfänglich auch immer, ihrem Sta— tus nach unendlich, insofern sie (mag sie auch noch so gut ange— legt sein) immer zugleich hinter der Nachfrage zurückbleibt und ihr voraus ist: tendenziell ist das gewünschte Buch nie dort, wird einem jedoch ein anderes Buch vorgeschlagen: Die >Bibliothek< ist der Raum des Wunschersatzes; angesichts des Leseerlebnisses ist sie das Reale, insofern es das >Begehren< zur Ordnung ruft: als immer zu große und zu kleine, ist sie dem >Begehren< grundlegend unangepaßt: Um einer >Bibliothek< Freude, Erfüllung oder Lust abzugewinnen, muß das Subjekt auf das Verströmen seines >Ima— ginären< verzichten; es muß seinen Ödipus hinter sich haben — ] e— nen Ödipus, den es nicht bloß im Alter von vier Jahren zu machen gilt, sondern an jedem Tag meines Lebens, an dem ich begehre. Das Gesetz, die Kastration, hier ist es die Überfülle der Bücher. 2. Die >Bibliothek< ist ein Raum, den man besichtigt, aber mitnichten bewohnt. Es müßte in unserer angeblich doch so un— tadeligen Sprache zwei verschiedene Wörter geben: eines für das >Bibliotheksbuch< und ein anderes für das Buch-zu—Hause (setzen 37

wir Trennstriche, dies ist ein autonomes Syntagma mit einem spezifischen Objekt als Referent); eines für das — meistens über Vermittlung einer Bürokratie oder eines Lehrers — »entliehene« Buch, das andere für das Buch, das erfaßt, an sich geklammert, an sich gezogen, herausgegriffen wird, als wäre es bereits ein Fetisch; das eine für das Buch als Gegenstand einer Schuld (man muß es zurückgeben), das andere für das Buch als Gegenstand eines Begehrens oder eines unmittelbaren (unvermittelten) Anspruchs. Der häusliche (nicht öffentliche) Raum nimmt dem Buch jegliche Funktion des gesellschaftlichen, kulturellen oder institutionellen Scheins (außer bei den mit Buchmüll überladenen cosy-corners). Zwar ist das Buch—zu-Hause kein Stück gänzlich reinen Begeh— rens: es hat (gewöhnlich) eine Vermittlung durchlaufen, die nicht besonders rein ist: das Geld; es mußte gekauft werden, und die an— deren also nicht; aber so liegen eben die Dinge, und das Geld als solches ist eine Abreaktion — was die >Institution< nicht ist: Beim Kaufen kann man sich austoben, beim Ausleihen sicherlich nicht: In der Utopie Fouriers sind die Bücher beinahe nichts wert, ver— laufen aber dennoch über die Vermittlung einiger Groschen: sie sind durch eine >Ausgabe< abgedeckt, und damit funktioniert das >BegehrenBegehren< steckt in der Lektüre? Das >Begehren< läßt sich nicht benennen, ja (im Gegensatz zum >AnspruchImaginären< fortger'issenes Subjekt ist; seine gesamte Lustökonomie besteht darin, seine duale Beziehung zum Buch (das heißt zum Bild, zur >ImagoMutter< klebt und der >Liebende< am geliebten Antlitz hängt. Die kleine, nach Iris duftende Toilette ist die Einfriedung des >SpiegelsBildImago< — dem Buch — vor sich geht. Der zweite, für das begehrende Lesen grundlegende Zug ist — wie uns in der Toilettenepisode ausdrücklich gesagt wird — folgender: beim Lesen sind, vermischt, schlingernd, alle Empfindungen des Körpers vorhanden: Faszination, Fernsein, Schmerz, Wollust; die Lektüre erzeugt einen aufgewühlten, aber unzerstii/e— keiten Körper (andernfalls fiele sie nicht unter das >ImaginäreBildImago< des Lesens das lesende Subjekt fesseln kann. Im ersten Typus unterhält der Leser zum gelesenen Text eine fetischistische Beziehung: er gewinnt den Wörtern, bestimmten Wörtern, bestimmten Wortanordnungen Lust ab; im Text zeichnen sich Gefilde, Isolate ab, in deren Bann das lesende Subjekt versinkt, abhanden kommt: Dabei handelte sich es um einen Typus der metaphorischen oder poetischen Lektüre; bedarf es, um diese Lust auszukosten, einer langen Sprachkultur? Das ist nicht sicher: Selbst das Kleinkind im Lallstadium kennt die Erotik des Wortes, die dem Trieb dargebo— tene orale und sonore Praxis. Im zweiten und entgegengesetzten Modus wird der Leser von einer Kraft, die, mehr oder weniger versteckt, immer die Spannung ist, gleichsam durch das ganze Buch vorwärts gezogen: Das Buch tritt nach und nach zurück, und die Lust liegt in diesem ungeduldigen, stürmischen Zerschleiß; es handelt sich natürlich hauptsächlich um die metonymi— sche Lust jeglicher Erzählung, ohne zu übersehen, daß sich auch das Wissen oder die Idee erzählen, einem Spannungsbogen unter— werfen lassen; und weil diese Lust sichtlich mit der Überwachung des Geschehens und mit der Enthüllung des Verborgenen zusam— menhängt, kann man annehmen, daß es in gewisser Beziehung zum Belauschen der Urszene steht; ich will überraschen, ich werde fast ohnmächtig vor lauter Warten: reines Bild, Imago der Lust, insofern sie nicht der Ordnung der Befriedigung angehört; umgekehrt müßte man übrigens auf die Lesehemmungen und -abneigungen eingehen: Warum lesen wir ein Buch nicht weiter? Warum kann Bouvard, der beschließt, sich für die >Geschichtsphilosophie< zu interessieren, »die berühmte Rede Bossuets nicht zu Ende lesen«?2 Liegt die Schuld bei Bouvard oder bei Bossuet? Gibt es universale Anziehungsmechanismen? Gibt es eine erotische Logik der >NarrationErzählung