Kritik der Ungleichheit: Eine Rekonstruktion von Rousseaus Zweitem Diskurs 9783787338146, 9783787338139

In den vergangenen 25 Jahren hat die soziale Ungleichheit in nahezu allen Teilen der Welt dramatisch zugenommen. Nicht n

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Kritik der Ungleichheit: Eine Rekonstruktion von Rousseaus Zweitem Diskurs
 9783787338146, 9783787338139

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Kritik der Ungleichheit Eine Rekonstruktion von Rousseaus Zweitem Diskurs Frederick Neuhouser

Meiner

Frederick Neuhouser

Kritik der Ungleichheit Eine Rekonstruktion von Rousseaus Zweitem Diskurs

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Christiana Goldmann

Meiner

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-3813-9 ISBN eBook 978-3-7873-3814-6

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel Rousseau’s Critique of Inequality. Reconstructing the Second Discourse in der Cambridge University Press. © Frederick Neuhouser. © für diese Ausgabe Felix Meiner Verlag Hamburg 2020. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspei­cherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, s­ oweit es nicht §§  53, 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Satz: Jens-Sören Mann. Druck und Bindung: Druckhaus Nomos, Sinzheim. Werk­ druck­­ papier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.

Inhalt Abkürzungen der Schriften Rous­seaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Kapitel 1 Die Natur ist nicht die Quelle sozialer Ungleichheit . . . . . . . . . . . 25 Kapitel 2 Quelle der sozialen Ungleichheit ist der amour propre. . . . . . . . . 77 Kapitel 3 Die normativen Mittel der Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Kapitel 4 Beurteilung der Legitimität sozialer Ungleichheiten. . . . . . . . . . . 189 Kapitel 5 Rous­seaus Kritik und ihre Bedeutung für uns . . . . . . . . . . . . . . . 245 Danksagungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Personen- und Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297

Abkürzungen der Schriften Rous­seaus :

BvB

Briefe vom Berge, in Jean-Jacques Rous­seau. Schriften, Bd. 2, herausgegeben von Henning Ritter, Frankfurt am Main 1988.

DU

Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen, in Jean-Jacques Rous­seau. Schriften zur Kulturpolitik, eingeleitet, übersetzt und herausgegeben von Kurt Weiland, 5. Auflage, Hamburg 1995.

DU (a) Diskurs über die Ungleichheit, übersetzt und kommentiert von Heinrich Meier, Paderborn 1984. E

Emile oder über die Erziehung, übersetzt von Eleonore Sckommodau, Stuttgart 1978.

GV

Der Gesellschaftsvertrag, übersetzt von H. Denhardt, Stuttgart 1975.

KW

Über Kunst und Wissenschaft, in Jean-Jacques Rous­seau. Schriften zur Kulturpolitik, eingeleitet, übersetzt und herausgegeben von Kurt Weiland, 5. Auflage, Hamburg 1995.

OC

Œuvres Complétes, herausgegeben von Bernard Gagnebin und ­Marcel Raymond, 4 Bde., Paris 1959 – 69.



Abhandlung über die politische Ökonomie, in Politische Schriften, übersetzt und eingeführt von Ludwig Schmidts, Paderborn 1995.

RJJ

Rous­seau richtet über Jean-Jacques, in Jean-Jacques Rous­seau. Schrif ­ten, Bd. 2, herausgegeben von Henning Ritter, Frankfurt am Main 1988.

TES

Träumereien eines einsamen Spaziergängers, in Jean-Jacques Rous­seau. Schriften, Bd. 2, herausgegeben von Henning Ritter, Frankfurt am Main 1988.

Einleitung

 I

n diesem Buch möchte ich eine kurze, aber gehaltvolle philosophische Einleitung in eine der einflussreichsten Schriften in der Geschichte der europäischen Philosophie liefern, in Jean-Jacques Rous­seaus Diskurs über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen (1755) oder, wie er gemeinhin genannt wird, den Zweiten Diskurs. (Der ›Zweite‹, weil er auf einen früheren folgt, den Diskurs über die Wissenschaften und Künste [1751]. Beide Diskurse wurden in Beantwortung einer Preisfrage eingereicht, die unter der Schirmherrschaft der Akademie von ­Dijon stand.) Eine Einleitung ist dieses Buch insofern, als es keine nähere Vertrautheit mit der Schrift voraussetzt  – gelesen haben sollte man sie freilich ! –, und philosophisch ist es, weil es keinen Kommentar im üblichen Sinn des Wortes bereitstellt. Es möchte vielmehr das zentrale Argument des Zweiten Diskurses destillieren und rekonstruieren, eine Aufgabe, die sich als erstaunlich schwierig erweist. Die Entscheidung, dieses Buch zu schreiben, fiel an einem Tag, an dem ich zum vielleicht hundertsten Mal die Schrift in einem Proseminar besprach und erkannte, dass weder ich noch meine Studenten Rous­seaus Antworten auf die beiden scheinbar klaren Fragen formulieren konnten, die er sich vornimmt : Was ist die Quelle der Ungleichheit unter den Menschen und lässt sie sich rechtfertigen ? Die Schrift, so wurde mir deutlich, ist voller glänzender Einsichten und meisterlicher rhetorischer Kunstgriffe. Sie ist allerdings auch ein quälendes Labyrinth, dessen argumentativer Faden nur sehr schwer zu verfolgen ist. Infolge dessen ist der Zweite Diskurs eine der meistgelesenen Schriften im Kanon abendländischer Philosophie, und zugleich ist er der philosophisch am wenigsten verstandene. Das ist beklagenswert und das nicht nur, weil der Zweite Diskurs eine unterschiedliche Gruppe von Philosophen in den späteren Jahrhunderten beeinflusst hat (so Hegel, Marx, Nietzsche, Freud), sondern auch, weil er mit einer stimmigen Argumenta­tion aufwartet, die auf eine Reihe von Fragen, die im Mittelpunkt der heutigen politischen Philosophie und Sozial 7

theorie stehen sollten, noch stets einflussreiche und gewichtige Antworten anbietet. Wie ich behaupten werde, enthält Rous­seaus Schrift ein durchgängiges, umfassendes Argument, das nicht nur darlegen will, wodurch soziale Ungleichheiten verwerflich werden (sofern es der Fall ist), sondern auch, warum Ungleichheit ein so herausragendes und hartnäckiges Merkmal menschlicher Gesellschaften ist. Ein Grund, warum der Zweite Diskurs sich als so schwierig entpuppt, ist vielleicht der, dass die darin geäußerte Position weitaus verwickelter ist, als seine von Fachbegriffen freie Prosa und die scheinbare Einfachheit seiner Fragen den Leser erwarten lässt. Am Ende gibt Rous­seau nämlich erstaunlich vielschichtige Antworten auf seine beiden Leitfragen. Hinsichtlich der ersten erklärt er, Ungleichheit sei weder eine unmittelbare noch eine notwendige Folge der Natur des Menschen (oder der Natur im allgemeineren Sinn), und die grundlegenden Bedingungen des Lebens in einer Gesellschaft mache das Auftreten verderblicher Formen der Ungleichheit – wie auch anderer sozialer Übel – nahezu unvermeidlich. Hinsichtlich der zweiten behauptet er, dass zwar die meisten, wenn auch nicht alle bekannten Formen sozialer Ungleichheit moralisch verwerflich sind, nicht aber an sich von Übel. Dies sind sie lediglich bezogen auf gewisse, von ihnen erzeugte Folgen. Es mag schwerfallen, dies schon bei einer oberflächlichen Lektüre zu erkennen, aber dennoch bietet Rous­seau eine Reihe von Kriterien an, um annehmbare von unannehmbaren Formen der Ungleichheit zu unterscheiden, und umgeht so die grob vereinfachende utopische Ansicht, soziale Ungleichheit sei in all ihren Formen zu kritisieren. Die Bedeutung, die das für uns heute hat, ist kaum zu überschätzen. In den drei Jahrzehnten nach dem Ende des Kommunismus in Osteuropa hat die soziale Ungleichheit in nahezu allen Teilen der Welt dramatisch zugenommen. (Und was immer die Nutznießer des Kapitalismus uns glauben machen wollen, das Ende des europäischen Kommunismus hat, auch wenn er dadurch nicht vollständig erklärt wird, etwas mit diesem Trend zu tun.) Die am leichtesten auszumachende Form sozialer Ungleichheit ist die ökonomische, und wir verfügen über zahlreiche empirische Belege für die Behauptung, dass nicht nur in den sich entwickelnden Ländern, sondern auch in den reichsten und technisch fortgeschrittensten – 8 | Einleitung 

ein besonders schockierendes Beispiel dafür sind die USA  – die Ungleichheit größer ist, als sie zu jedem anderen Zeitpunkt in der jüngeren Vergangenheit war, und dass die Kluft zwischen Arm und Reich stetig zunimmt, sofern die von ihr Benachteiligten sich politisch nicht massiv dagegen zur Wehr setzen. Statistiken, die dies belegen, sind ohne weiteres zu finden : 2007 besaß ein Prozent der Bevölkerung über ein Drittel des Gesamtvermögens in den USA. Zwischen 2002 und 2007 lagen 65 Prozent des gesamten nationalen Einkommens in den Händen derer, die bereits zu dem einen Prozent der Reichsten gehörten, und 2010 verdiente der durchschnittliche Vorstandsvorsitzende 243 Mal so viel wie der normale Arbeitnehmer.1 Man könnte noch viele Statistiken anführen, um zu zeigen, dass die ökonomische Ungleichheit fast überall auf der Welt katastrophale Ausmaße angenommen hat, doch solche Tatsachen stumpfen schnell unsere Empfänglichkeit für ein Phänomen ab, das so offensichtlich geworden ist, dass praktisch jeder, der Augen hat und über eine minimale Fähigkeit verfügt, die soziale Wirklichkeit wahrzunehmen, darin einen Grund sehen muss, alarmiert zu sein. Im Allgemeinen fällt es nicht in die Domäne der Philosophie, empirische Daten zu erzeugen oder bestimmte ökonomische Trends von der gerade genannten Art zu erklären. Wohl aber kann die Philosophie zu verstehen suchen, warum die Ungleichheit, ganz allgemein, ein so allgegenwärtiges Merkmal der Gesellschaften ist, in denen wir leben, und dann untersuchen, wann – und warum – soziale Ungleichheiten moralisch verwerflich sind und zu einem berechtigten Gegenstand der Gesellschaftskritik werden. Genau das unternimmt Rous­seau im Zweiten Diskurs, und dieses Buch will zeigen, dass seine Antworten auf die beiden Fragenkomplexe noch heute überzeugend sind. Keine zeitgenössische Behandlung der Ungleichheit kann es sich meiner Meinung nach leisten, die Erklärung und Kritik eben dieses Phänomens zu übergehen, wie Rous­seau sie vor mehr als zweieinhalb Jahrhunderten geleistet hat. Obgleich das soziale Leben im Westen sich seitdem in vielerlei Hinsicht verändert hat, trifft das nicht auf alles zu, und wir würden uns törichterweise der Vorzüge unseres reichen philosophischen Erbes berauben, wenn wir uns auf den für uns schmeichelhaften Standpunkt stellten, unsere Vorfahren könnten uns nichts über die Pro­ Einleitung | 9

bleme lehren, mit denen sich heutige Gesellschaften herumschlagen müssen. Rous­seaus Zweiter Diskurs handelt, wie schon sein Titel sagt, vom Ursprung und von den Grundlagen der menschlichen Ungleichheit – wobei, wie unten deutlich werden wird, sich der letzte Ausdruck auf den normativen Rang der Ungleichheit bezieht. Die doppelte Stoßrichtung der Rous­seau’schen Schrift kommt in den beiden von der Akademie zu Dijon aufgeworfenen Fragen zum Ausdruck. Das Thema des ausgeschriebenen Wettbewerbs, für den der Zweite Diskurs verfasst wurde, lautete nämlich : Was ist der Ursprung der menschlichen Ungleichheit und ist sie vom natürlichen Gesetz autorisiert bzw. hat sie ihre Grundlagen in diesem ? (DU, 65 / OC III, 129).2 Die Annahme, unser erster Zugriff auf die Bedeutung dieser Fragen ziele bereits ins Schwarze von Rous­seaus Auffassung, ist das größte Hindernis, um das Argument des Zweiten Diskurses zu verstehen. Tatsächlich stellen sich seine beiden Hauptideen – jene über den »Ursprung« und darüber, was »vom natürlichen Gesetz autorisiert ist« – als sehr viel vertrackter und eigenwilliger heraus, als es auf den ersten Blick scheinen mag, und daher wird ein Großteil der auf den folgenden Seiten unternommenen Interpreta­tionsarbeit aufzuspüren suchen, wie diese Ideen im Zweiten Diskurs aufzufassen sind. Freilich sind viele Leser, auch ohne in die Interpreta­tionsarbeit eingestiegen zu sein, in der Lage, einen Eindruck von einem der philosophisch höchst erstaunlichen Aspekte des Zweiten Diskurses zu gewinnen : seiner nicht weiter erklärten Voraussetzung, dass diese beiden Untersuchungen eng miteinander verbunden sind  – das heißt, die anscheinend deskriptiven oder erklärenden Behauptungen über den Ursprung der Ungleichheit hängen mit den eindeutig normativen Behauptungen über die Legitimität und Rechtfertigung von Gleichheit zusammen (damit, ob sie vom natürlichen Gesetz »autorisiert« ist oder ihre »Grundlagen« darin hat). Für den zeitgenössischen Leser kann die Verbindung dieser zwei Fragen nur auf einer fatalen Vermischung von normativen und nichtnormativen Sachverhalten zu beruhen scheinen : Warum sollte eine Aussage über die Herkunft von etwas darüber befinden, ob es in irgendeiner Weise gut, moralisch erlaubt oder wertvoll ist ? Sowohl 10 | Einleitung 

die Philosophie als auch der gesunde Menschenverstand bestehen normalerweise auf der logischen Unabhängigkeit dieser Fragen, so dass zum Beispiel die (faktische) Frage, unter welchen historischen Umständen das Wahlmännerkollegium in den USA eingesetzt worden ist, weitgehend irrelevant für die (normative) Frage ist, ob wir es heute für ein gutes Verfahren zur Wahl des US-Präsidenten halten und darin eine Institution sehen, an der sich festzuhalten lohnt. Aus diesem Grund muss eine Rekonstruktion des Zweiten Diskurses es zu einer Hauptsache machen, kohärent zu erklären, warum diese Fragen so miteinander verbunden sind, wie Rous­seau es anscheinend glaubt. Ein Kriterium für den Erfolg einer solchen Rekonstruktion muss dann sein, ob der Sinn, den sie den beiden Hauptfragen des Zweiten Diskurses verleiht, deren angebliches Miteinanderverbundensein verständlich werden lässt. Oder, um es etwas anders zu formulieren : Nach Rous­seaus Auf­ fassung liefert der Zweite Diskurs eine Art Genealogie der menschlichen Ungleichheit, die unauflöslich mit dem Projekt der Bewertung – oder genauer der Kritik – eben jenes Phänomens verbunden ist, dessen Ursprünge seine Genealogie sich zu erhellen unterfängt.3 In dieser Hinsicht lässt sich der Zweite Diskurs als Gründungsschrift einer langen Tradition in der neuzeitlichen europäischen Philosophie betrachten, die eine Spielart des Projekts Genealogie für wesentlich hält, um den Gegenstand der genealogischen Untersuchung normativ zu bewerten. Um nur das offensichtlichste Beispiel zu nennen : Auf den Einleitungsseiten der Genealogie der Moral umreißt Nietzsche die Aufgabe, die er sich gesetzt hat, mit zwei Fragen, deren Ähnlichkeit zu den Rous­seau’schen unverkennbar ist : »[U]nter welchen Bedingungen erfand sich der Mensch jene Werturtheile gut und böse ? und welchen Werth haben sie selbst ?«4 Rous­seau hat, wie sich zeigen wird, seine eigene spezifische Auffassung davon, was es heißt, eine Genealogie für etwas so zu liefern, dass die Aufdeckung von dessen Ursprüngen für die Beurteilung seines Werts wesentlich ist. Auch wenn Rous­seaus Vorstellung davon, was es bedeutet, nach den Ursprüngen eines sozialen Phänomens, etwa der Ungleichheit unter den Menschen, zu suchen – als etwas, was von rein natürlichen Dingen oder Vorgängen verschieden ist –, sich substantiell von solchen der auf ihn folgenden philosophischen Genealogen unterscheidet, ist es von größter WichEinleitung | 11

tigkeit herauszufinden, wie Rous­seau die beiden zentralen Fragen des Zweiten Diskurses verknüpft, und das nicht nur, um seine eigenen, in sich wertvollen Ansichten über die Rechtmäßigkeit von Ungleichheit zu begreifen, sondern auch um zu verstehen, wie spätere Philosophen ähnlich konzipierte Genealogien in Angriff genommen haben. Diese beiden Fragen zu beantworten und zu formulieren, was sie verbindet, ist daher die oberste Aufgabe, die ich auf den folgenden Seiten angehen möchte. Sobald man feststellt, dass die Suche nach dem Ursprung von Gleichheit für Rous­seau auf die Frage hinausläuft, ob die Ungleichheit der Natur entspringt, haben wir einen Schritt hin zu dem Verständnis gemacht, wie diese beiden Fragen verknüpft sind. Diese Erkenntnis hilft uns, dem Doppelcharakter des Projekts im Zweiten Diskurs einen ersten Sinn zu verleihen, denn Natur hat, sogar für uns, häufig eine normative Konnota­tion. Wenn wir etwa sagen : »Es ist natürlich, dass Menschen sich mehr um ihr eigenes Wohlergehen als um das ihnen Fernstehender kümmern«, wollen wir typischerweise nicht nur eine Aussage über die tatsächliche Beschaffenheit der Menschen (wie sie aufgrund ihrer Natur sind) treffen, sondern ein solches Verhalten, und sei es nur implizit, auch als gerechtfertigt oder annehmbar billigen, eben weil es »natürlich« ist und weil wir übermäßig anspruchsvolle Forderungen an die Menschen richteten, würden wir, wo sie doch von Natur aus diese Art von Geschöpfen sind, ein anderes Verhalten von ihnen erwarten. Zu sagen : »Es ist für Menschen natürlich, sich am meisten um ihr eigenes Wohlergehen zu kümmern«, schließt normalerweise die Aussage ein : »Dass sie es tun, ist (größtenteils) okay, gerechtfertigt, vollkommen in Ordnung«. Wir sollten zudem daran denken, dass diese Neigung, ›Natur‹ und ›natürlich‹ mit normativer Bedeutung aufzuladen, für Rous­seau und seine Zeitgenossen noch stärker war, als sie es für uns ist. Als beispielsweise Locke die Naturgesetze formulierte, legte er ihnen genau die oben erwähnte Doppelbedeutung bei : Sie beschreiben, wie Menschen zu handeln geneigt sind (und im Allgemeinen handeln), und gleichzeitig billigen sie dieses ›natürliche‹ Verhalten als gut.5 Ähnlich ist Adam Smiths These, die »kommerzielle Gesellschaft« (der Kapitalismus) sei natürlich, logisch untrennbar von seinem Urteil, sie sei, angesichts ihrer Natur, ein geeignetes Wirtschaftssystem für die Menschen.6 Selbst12 | Einleitung 

verständlich erklärt oder rechtfertigt die bloße Nennung dieser Beispiele noch nicht die in ihnen enthaltene Mischung von deskriptiven (oder erklärenden) und normativen Elementen  – zu Rous­ seaus Verwendung von ›Natur‹ bleibt auf den folgenden Seiten noch sehr viel zu sagen –, doch könnte es helfen, die anfängliche Irrita­ tion zu verringern, die sich aus der angenommenen Verbindung der beiden Hauptfragen des Zweiten Diskurses unweigerlich ergibt. Wie ich oben angedeutet habe, ist ›Natur‹ nicht der einzige zentrale Begriff im Zweiten Diskurses, welcher der Klärung bedarf. ›Ursprung‹ ist ebenfalls ein potentiell irreführender Ausdruck, und zu verstehen, was Rous­seau bezweckt, wenn er den Ursprung von Ungleichheit untersucht, ist wesentlich für die Einschätzung der Kraft und Relevanz seines Arguments. Das landläufigste Missverständnis wird durch Rous­seaus eigene Beschreibung seiner Schrift als Genealogie befeuert, so wie auch durch das von mir oben angeführte Beispiel – das Wahlmännerkollegium in den USA. Ich wollte damit den Blick auf den irritierenden Charakter der angenommenen Verbindung zwischen den erklärenden und normativen Anstrengungen des Zweiten Diskurses lenken. Wenn wir normalerweise eine Genealogie erstellen, um den Ursprung von etwas zu erklären, glauben wir damit, eine kausale, historische Erklärung für eine Abfolge realer Ereignisse zu liefern, die zur ›Geburt‹ – zur Entstehung – des fraglichen Phänomens geführt haben. Das ist jedoch nicht das, worauf Rous­seau abzielt, wenn er den Ursprung menschlicher Ungleichheit untersucht – auch wenn er manchmal so redet, als würde er es tun (DU, 81, 236 ff., OC III, 133, 191 f.). Was manch einen Leser verständlicherweise verwirrt. Vor allem aber fragt er nicht danach, wie ein einzelnes Phänomen (zum Beispiel das Wahlmännerkollegium in den USA) an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit (in Philadelphia 1787) entstanden ist. Stattdessen geht seine Untersuchung von einer allgemeinen Beobachtung über die Allgegenwärtigkeit von Ungleichheit in verschiedenen menschlichen Gesellschaften aus – von denen er entweder aufgrund eigener Erfahrung wusste oder aus den Berichten von Reisenden, den Darstellungen der Historiker usw. – und fragt dann weiter nicht danach, wie es tatsächlich zur Ungleichheit gekommen ist, sondern, warum sie, sobald sie einmal existiert, so beharrlich und so verbreitet ist. Mit anderen Worten lässt sich die Einleitung | 13

Frage, die Rous­seaus Untersuchung über den Ursprung der Ungleichheit zugrunde liegt, wie folgt formulieren : Was erklärt die erstaunliche Tatsache, dass nahezu alle uns bekannten menschlichen Gesellschaften sich durch erhebliche Ungleichheiten hinsichtlich des Reichtums, der Macht und des Ansehens ihrer Mitglieder auszeichnen ? Welche Kräfte müssen – nicht nur zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort, sondern allgemeiner – am Werk sein, wenn Ungleichheit so verbreitet ist, dass sie ein dauerhaftes Merkmal der conditio humana zu sein scheint ?7 In den folgenden Kapiteln wird noch viel über die Art von genealogischer Erklärung zu reden sein, die der Zweite Diskurs zu konstruieren sich anschickt. Im Augenblick genügt es festzuhalten, dass er nicht bezweckt, den Ursprung der Ungleichheit in einem streng historischen Sinn des Wortes zu erklären. Wie wir unten sehen werden, muss die Frage nach dem Ursprung der Ungleichheit nicht als die Suche danach interpretiert werden, wie dieser oder jener besondere Fall von Ungleichheit faktisch zustande gekommen ist. Das Doppelprojekt des Zweiten Diskurses mutet uns vielleicht weniger merkwürdig an, wenn wir darin eine Reaktion auf die klassische griechische Behandlung des Ursprungs und der Grundlagen sozialer Ungleichheiten sehen. Sowohl Platon als auch Aristoteles zum Beispiel werfen Varianten derselben zwei Fragen auf und beantworten sie mit der Behauptung, es gebe ein Fundament der menschlichen Ungleichheit in der Natur. Da die Natur Menschen mit unterschiedlichen Fähigkeiten und Talenten ausstatte – Unterschiede, die eine natürliche Rangfolge unter den Menschen bewirken–, komme sie als Quelle oder Ursprung der Ungleichheit in Frage. Diese natürliche Ungleichheit sei zudem die Grundlage der sozialen Ungleichheit. Sie erkläre, warum Ungleichheiten in der Welt herrschen, und ganz allgemein, wer welche Position besetzen solle. In dem Maße, wie sie natürliche Ungleichheiten spiegeln, sind faktische soziale Ungleichheiten gerechtfertigt – von der Natur autorisiert. Für Aristoteles gibt es ebenso Herren und Sklaven von Natur aus, wie es natürliche, Ungleichheit rechtfertigende Unterschiede zwischen Griechen und Barbaren gibt. Platon unterscheidet drei Arten von Seelen, die den drei Metallen Gold, Silber und Bronze entsprechen. Solch natürliche Unterschiede rechtfertigen nach Ansicht von Aristoteles viele bestehende Ungleichheiten ; 14 | Einleitung 

in Platons Augen belegen sie die Unnatürlichkeit bestehender politischer Ordnungen und begründen die Notwendigkeit radikaler politischer Reformen, wenn die Gesellschaft so sein soll, wie Vernunft – und Natur – es fordern. Die Unterschiede als ›natürlich‹ zu bezeichnen, beinhaltet für beide, dass sie nicht Menschenwerk und daher unabänderlich sind ; nichts Menschliches könnte oder sollte daran etwas ändern wollen. Von einem modernen Blickwinkel aus ist es interessant, dass die Unterschiede, die für Platon und Aristoteles Ungleichheit rechtfertigen, von ihren Nutznießern nicht verdient sind. Sie spiegeln die natürlichen Vorzüge von Individuen und sind von ihren Besitzern nicht erworben worden. Viele zeitgenössische Philosophen  – die sogenannten ›luck egalitarians‹  – verbeißen sich in die Vorstellung, dass Ungleichheiten nur dann zu rechtfertigen sind, wenn die Bessergestellten verdient haben, was sie besitzen, wobei unter ›verdienten Vorzügen‹ normalerweise solche verstanden werden, die von den eigenen (metaphysisch) freien Handlungen abhängen, und nicht davon, was der glückliche Zufall ihnen in den Schoß gelegt hat : etwa reiche Eltern oder gute Gene.8 (Rous­seau teilt, wie wir sehen werden, diese Auffassung nicht.) Nicht weniger interessant ist der Umstand, dass sich gerechtfertigte Ungleichheiten bezüglich Macht, Autorität oder Ansehen für diese antiken Denker nicht notwendigerweise in gerechtfertigte Ungleichheiten bezüglich materieller Güter überführen lassen. Ganz offensichtlich ist das bei Platon, denn er schränkt das Streben nach Reichtum auf die unterste Klasse in der natürlichen Rangordnung der Seelen ein. Heute ist es nahezu unmöglich, sich vorzustellen, die Vorteile, die mit mehr Macht oder höherem Ansehen einhergehen, ließen sich von großem Reichtum trennen, und Rous­seau greift in einer Zeit zur Feder, wo sich dies auch für seine Welt zu bewahrheiten beginnt (DU, 183 f. / OC III, 189). Zu den entscheidenden Unterschieden zwischen der antiken und der neuzeitlichen Welt zählt, dass diese die Auffassung, man könne sich auf die Natur berufen, um soziale Ungleichheiten zu rechtfertigen, verwirft, eine Haltung, die normalerweise damit zusammenfällt, vom Standpunkt der Moral aus die fundamentale Gleichheit aller Menschen zu bekräftigen. Worin diese fundamentale Gleichheit freilich besteht und was sie für die Sozialphilosophie beinhalEinleitung | 15

tet, das sind knifflige Fragen, auf die neuzeitliche Philosophen unterschiedliche Antworten bereithalten. Wie auch immer die Frage beantwortet wird, die fundamentale moralische Gleichheit aller Menschen zu behaupten wirft ein großes Pro­blem auf, vor dem die Alten mit ihrer Antwort auf den Ursprung der Ungleichheit nicht gestanden haben : Wie ist soziale Ungleichheit, ein offenbar dauerhaftes Merkmal moderner Gesellschaften, zu rechtfertigen, wenn sie nicht darauf zurückzuführen ist, wie die Natur – oder Gott – die Welt eingerichtet hat, und es stattdessen die Prima-Facie-Annahme gibt, kein Individuum könne beanspruchen, von der Gesellschaft besser als ein anderes behandelt zu werden ? Beinhaltet die Bejahung der moralischen Gleichheit aller Menschen, dass allein eine Gesellschaft ohne Ungleichheiten zu rechtfertigen ist ? Und wenn dem so ist, folgt dann daraus, dass moderne Gesellschaften hoffnungslos verdorben sind ? Es lohnt sich zu betrachten, wie der ›gesunde Menschenverstand‹ von heute diese Fragen zu beantworten geneigt ist. Fragt man ihn danach, was die Allgegenwart von Ungleichheit in menschlichen Gesellschaften erklärt, wird ›der Mann [ oder die Frau ] auf der Straße‹ vermutlich die eine oder andere Version der Behauptung anführen, Ungleichheit sei eine mehr oder weniger notwendige Folge der grundlegenden Bedürfnisse und Triebe, die das menschliche Verhalten überall und seit jeher motivieren, was in Verbindung mit gewissen gleichbleibenden Eigenschaften der conditio humana ›von Natur aus‹ dahin tendiert, eine große Bandbreite von Ungleichheiten hervorzubringen. Einige, die diese Auffassung vertreten, werden Ungleichheiten einfach einem angeborenen Konkurrenzdrang zuschreiben – einem Trieb, sich gegenüber anderen einen Vorteil zu verschaffen, einfach nur um sich selbst als überlegen zu erfahren und sich damit auch anderen um uns herum als überlegen zu betrachten. Nach dieser Ansicht ist Ungleichheit deshalb ein herausstechendes Merkmal menschlicher Gesellschaften, weil sich anderen als überlegen zu erweisen einen allgemeinen und grundlegenden Trieb der menschlichen Natur befriedigt, und damit würde diese Antwort als eine Version der Auffassung gelten, dass Ungleichheit  – um Rous­seaus Worte zu verwenden  – ihren Ursprung in der Natur hat. (Selbstredend unterscheidet sich diese Berufung auf die Natur – auf den Konkurrenztrieb der menschli16 | Einleitung 

chen Natur – immer noch grundlegend von der antiken Auffassung.) Vielleicht würde man häufiger zur Antwort bekommen : Der Wunsch, Überlegenheit um ihrer selbst willen zu erreichen, sei zwar keineswegs selten, aber er sei weder allgemein, noch wohne er der Natur des Menschen inne, und daher kann dies nicht die grundlegendste Erklärung der weitverbreiteten Ungleichheit sein, die wir um uns herum erleben. Tatsächlich – so diese zweite Antwort – ist die weitverbreitete Ungleichheit hauptsächlich die unbeabsichtigte, aber unvermeidliche Folge einer Verknüpfung mehrerer Faktoren, von denen alle mehr oder weniger dauerhafte Merkmale der conditio humana bilden : eine ungleiche Verteilung natürlicher Begabungen, der allgemeine Wunsch, so weit wie möglich das eigene Wohl zu fördern, und Güterknappheit. Individuen, die ausgestattet mit ungleichen Begabungen daran gehen, ihr Wohlergehen zu maximieren, werden unweigerlich in Positionen enden, in denen sie anderen entweder überlegen oder unterlegen sind, und das selbst dann, wenn ihr Bestreben im Grund nicht darauf abzielt, ihre Mitmenschen zu übertreffen, sondern bloß darauf, das Bestmögliche für sich selbst zu erreichen. Zudem liefert die Güterknappheit solchen Individuen einen Anreiz, tatsächlich ihre Mitmenschen in den Schatten zu stellen, nicht weil es sie an sich nach Überlegenheit verlangt, sondern weil Überlegenheit, unter der Bedingung von Knappheit, oft das einzige Mittel ist, überhaupt das zu bekommen, was man sich zuallererst wünscht (das eigene, nicht im Vergleich zu anderen betrachtete Niveau an Wohlbefinden zu erhöhen). So gesehen würde die zweite Antwort den Ursprung der Ungleichheit ebenfalls in der Natur, so wie Rous­seau diesen Begriff versteht, verorten. Die Mehrzahl derer, die diesen Weg einschlagen, werden jedoch vermutlich noch einen Schritt weiter gehen – nämlich in Richtung auf den ›luck egalitarianism‹ – und noch ein weiteres, nicht-natürliches Element einführen, um zu erklären, warum einige Individuen ihre natürlichen Gaben mehr als andere entwickeln und ausüben. Dieses zusätzliche Element ist die individuelle ›Anstrengung‹, die für gewöhnlich als eine Wirkung des freien Willens der Individuen begriffen wird, und aus diesem Grund geht das neue Element in der Erklärung von Ungleichheit über den Bereich des rein Natürlichen hinaus. (In den folgenden Kapiteln wird deutlich werden, dass Rous­seau diese scharfe TrenEinleitung | 17

nung zwischen natürlichen Phänomenen und solchen, die vom freien Willen abhängen, anerkennt, ohne sich aber dabei auf das Verdienst als Quelle legitimer Ungleichheiten zu beziehen.) Nach dieser höchst differenzierten Ansicht des gesundes Menschenverstands ist die Allgegenwart sozialer Ungleichheit weitgehend natürlichen, der menschlichen Kontrolle sich entziehenden Faktoren geschuldet – ungleichen Begabungen, natürlichem Eigeninteresse und Güterknappheit –, wo aber genau einzelne Individuen sich am Ende im bestehenden System von Ungleichheit wiederfinden und wie groß die Disparitäten ausfallen, das hängt auch davon ab, was Individuen mit ihren natürlichen Gaben anfangen, wobei ihr Handeln das Ergebnis ihrer freien Wahl ist und damit nicht bloß eine natürliche Ursache der Ungleichheit. Man sieht leicht, wie diese Antwort auf die Frage nach dem Ur­ sprung der Ungleichheit, vor allem durch ihre Einführung der Freiheit, so ausgelegt werden kann, dass sie Folgen für das zweite Hauptanliegen des Zweiten Diskurses hat : ob und, wenn ja, bis zu welchem Grad ist Ungleichheit gerechtfertigt. Insofern von der Un­gleichheit geglaubt wird, sie habe ihren Ursprung ganz und gar in natürlichen Faktoren – in einer Verbindung von angeborenem Konkurrenzverhalten, natürlichem Eigeninteresse, ungleichen Begabungen und Güterknappheit –, scheinen die meisten (obgleich nicht notwendig alle) der beträchtlichen, für moderne Gesellschaften charakteristischen Ungleichheiten nur dann vermeidbar oder auflösbar zu sein, wenn extreme Maßnahmen ergriffen werden, Maßnahmen, die der Natur unweigerlich Zwang antun. (So gesehen scheint beispielsweise das sozialistische Ziel der Aufhebung aller ökonomischen Klassenunterschiede utopisch zu sein, die Natur zu unterdrücken und ihr zuwiderzulaufen.) Individuelle Anstrengung ins Spiel zu bringen kann jedoch auch dazu dienen, bestehende Ungleichheiten zu rechtfertigen : Welchen Platz wir am Ende in der sozialen Hierarchie einnehmen, hängt auch von der Ausübung unserer Freiheit ab, und daher werden einige Vorteile als verdient oder rechtmäßig erworben erscheinen und folglich als legitim. (Im 4. Kapitel werde ich zeigen, dass Rous­seaus Kritik der sozialen Ungleichheiten nichts mit der These zu tun hat, bessergestellte Mitglieder der Gesellschaft verdienten ihre vorteilhafte Stellung nicht.) Um festzustellen, welche Ungleichheiten gerechtfertigt 18 | Einleitung 

sind, muss man sich nicht auf die hoffnungslose – und moralistische – Aufgabe einlassen herauszufinden, welches Individuum was verdient. Es sieht so aus, als erwarte Rous­seau von seinen Lesern, an den Zweiten Diskurs mit der stillschweigenden oder ausdrücklichen Befürwortung einer Variante dieser Commonsense-Auffassung heranzutreten, nach der die allgegenwärtige Ungleichheit grundlegend für die Beschaffenheit des Menschen ist – ein notwendiges Ergebnis sowohl der menschlichen als auch der allgemeineren Natur – und die die meisten bestehenden Ungleichheiten als legitim oder zumindest als moralisch nicht verwerflich betrachtet. Wenn dem so ist, bezweckt Rous­seau, seine Leser von der weitgehenden Falschheit dieser Commonsense-Auffassung zu überzeugen. Stattdessen wird er behaupten, Ungleichheit entspringe nicht der Natur– oder, um es genauer zu sagen, der Beitrag der Natur zur Ungleichheit sei so gering, dass man ihn ruhig vernachlässigen dürfe. Das bedeutet für Rous­seau, die weitverbreitete Ungleichheit ist keine notwendige, unabänderliche Eigenschaft menschlicher Gesellschaft und lässt sich daher nicht bloß durch die Berufung auf die Beschaffenheit der Menschen und der Welt rechtfertigen, womit auch die Implikation hinfällig ist, jeder Versuch, die Ungleichheit abzuschaffen oder zu verringern, stelle eine Vergewaltigung der Natur dar. Die Behauptung, Ungleichheit entspringe nicht der Natur, beinhaltet zudem, dass sie stattdessen – auf eine noch zu erklärende, verwickelte Weise – der menschlichen Freiheit entstammt, die sich von der Natur dadurch unterscheidet, dass sie eine unberechenbare Quelle des Neuen und Zufälligen ist. Wenn aber, so Rous­seaus Überlegung, die Ungleichheit tatsächlich ein zufälliges Phänomen ist, das durch den Menschen in die Welt kommt – wenn ihr dauerhaftes Vorliegen auf uns zurückgeht (in unsere Verantwortung fällt) –, dann wächst der Frage, ob es sie geben sollte (ob sie gut oder zu rechtfertigen ist), eine neue Bedeutung oder Brisanz zu, die sie nicht hat, wenn sich am Ende sehr wenig machen lässt, um daran etwas zu ändern. Anders gesagt : Zu begründen, dass Ungleichheit nicht den Rang des Natürlichen hat, läuft für Rous­seau darauf hinaus, sie aus dem Bereich dessen, was ist – was notwendig ist und was daher lediglich akzeptiert werden muss –, in den Bereich des Normativen zu rücken, wo sie ein möglicher Gegenstand Einleitung | 19

der Bewertung und Kritik wird. Zugleich ist unbedingt festzuhalten, dass sich die normative Frage nach Rous­seaus Ansicht nicht von selbst beantwortet, indem die Ungleichheit einfach als von Menschen gemacht betrachtet wird. Beispielsweise ist damit nicht gesagt, dass Menschen, als Urheber der sozialen Hierarchie, ihre Stellung darin verdienen, und ebenso wenig beinhaltet die bloße Künstlichkeit der Ungleichheit – der Umstand, dass sie Ergebnis menschlicher Tätigkeit ist – schon ihre Unrechtmäßigkeit. Wie wir unten ausführlicher sehen werden, fällt Rous­seaus Antwort auf die normative Frage unerwartet subtil aus und verwirft nicht alle kontingenten und künstlichen Ungleichheiten in Bausch und Bogen als unrechtmäßig. Letztlich entspringt seine Antwort einer weitreichenden Vorstellung davon, was für die sozialen Einrichtungen gezeigt werden muss, um ihre Rechtmäßigkeit oder moralische Fundierung zu begründen, einer Vorstellung, die ihre normativen Kriterien nicht bei der reinen Natur sucht, sondern in der Freiheit – wenngleich nicht im Verdienst. Meine Darlegung des Rous­seau’schen Gedankengangs im Zweiten Diskurs wird folgendermaßen aufgebaut sein : Im 1. Kapitel rekonstruiere ich Rous­seaus negative These, dass Ungleichheit – bzw. die ihn am meisten interessierende Art von Ungleichheit  – ihre Quelle nicht in der Natur hat, weder in der Natur des Menschen noch in den natürlichen Bedingungen menschlicher Existenz. Im 2. Kapitel untersuche ich Rous­seaus komplexe positive Antwort auf die Frage, woher die Ungleichheit stammt : Sie hat ihren Ursprung hauptsächlich in einer charakteristisch menschlichen, wenngleich ›künstlichen‹ Leidenschaft, wie auch in gewissen sehr üblichen, aber dennoch kontingenten sozialen Umständen, für deren Entstehen die Menschen verantwortlich sind. Das 3. Kapitel geht daran, Rous­seaus Antwort auf die normative Frage bezüglich der menschlichen Ungleichheit zu formulieren. Es wird dort gezeigt, dass Rous­seau zwar eine einfache Antwort auf die Frage hat, ob ein Großteil der uns wohlbekannten Ungleichheit vom Naturgesetz autorisiert ist – das ist nicht der Fall –, dass aber diese negative Antwort seine Haltung zur Legimitität der Ungleichheit nicht erschöpft. Stattdessen gibt er uns Mittel an die Hand, um einen anderen Typ von Legitimität zu konzipieren, der in der Zustimmung gründet – allerdings auch in einem sehr sorgfältig zu expli20 | Einleitung 

zierenden Sinn von ›Natur‹. Im 4. Kapitel wird dargelegt, wie sich gestützt auf die in den ersten drei Kapiteln entwickelten Positionen eine alternative Auffassung von Recht – Recht innerhalb der Gesellschaft anstelle des Naturgesetzes – entwerfen lässt und wie diese Auffassung auf eine bestimmte, ganz besonders zeitgemäße Frage bezüglich der Grenzen einer legitimen ökonomischen Ungleichheit anwendbar ist. (Das Kapitel schließt mit einer methodischen, oben bereits aufgeworfenen Frage : Wie geht Rous­seaus Genealogie im Einzelnen vor, um sowohl die normativen Fragen als auch jene des Erklärungsmodells zu beantworten, die den Anlass für die Abfassung des Zweiten Diskurses geboten haben.) Schließlich verfolgte Rous­seau mit dem Zweiten Diskurs die klare Absicht, uns dabei zu helfen, »den jetzigen Zustand richtig beurteilen zu können« (DU, 67 / OC III, 123), und indem wir betrachten, welchen Gewinn die zeitgenössische politische Philosophie aus den Einsichten des Zweiten Diskurses ziehen könnte, soll im 5. Kapitel gezeigt werden, dass er auch heute noch relevant ist. Bereits an dieser Stelle sei bemerkt, dass das vorliegende Buch mit diesem Konzept keine vollständige Interpreta­tion des Zweiten Diskurses wird vorlegen können. Möglicherweise kann kein Buch das glaubhaft für sich beanspruchen, ganz sicherlich aber nicht dieses. Der Zweite Diskurs ist viel zu reichhaltig, als dass man alles darin Wertvolle mit einem Ansatz wie dem meinigen zu fassen bekommt, der sich darauf beschränkt, die beiden Fragen zu beantworten, die ausdrücklich als sein Gegenstand benannt werden. Dass ich mich ausschließlich auf das Thema der Ungleichheit konzentriere, obschon es zweifellos das zentrale Anliegen des Zweiten Diskurses ist, wird notwendig viele wichtige Gedanken außer Acht lassen, für welche die Schrift zu Recht berühmt ist. Meine Interpreta­tion sollte daher von anderen ergänzt werden, die beispielsweise den Themen Entfremdung, Sozialpathologie, Übel des Privateigentums oder den Mängeln liberalen Denkens und liberaler Gesellschaften mehr Aufmerksamkeit schenken. Doch auch wenn man sich nur auf die vom Zweiten Diskurs »offiziell« aufgeworfenen Fragen konzentriert, lässt sich dies mit großem Gewinn tun – jedenfalls hoffe ich, den Beweis dafür hier anzutreten. Obgleich ich versucht habe, mein Augenmerk nur auf eine der Hauptschriften Rous­seaus, den Zweiten Diskurs, zu richten, hat es Einleitung | 21

sich als notwendig erwiesen, auch die Gedanken anderer Schriften aufzunehmen, um das Hauptargument des Zweiten Diskurses zu rekonstruieren. Meiner Ansicht nach ist dies kein Manko meiner Interpreta­tion, sondern ein Zeugnis für die wesentliche Einheit des philosophischen œuvres Rous­seaus. Dass die beiden Schriften, die ich am ausgiebigsten mit herangezogen habe, der Gesellschaftsvertrag und der Emile sind, erstaunt wohl nicht : Der Gesellschaftsvertrag wegen seiner Vorstellung über die Grundlagen des Rechts innerhalb der politischen Gesellschaft und der Emile vor allem wegen seiner Behandlung der menschlichen Natur. Mehr als einmal haben die Hörer oder die Leser von Teilen dieses Buches bemerkt und mitunter kritisch, dass meine Lesart von Rous­seau zu hegelianisch oder kantianisch ist. Richtig daran ist, dass der von mir hier dargestellte Rous­seau in hohem Maße zur deutschen Tradition der politischen und der Gesellschaftsphilosophie im 18. und 19. Jahrhundert gehört – ja er ist tatsächlich ihr Begründer ! –, doch halte ich dies eher für eine Stärke als für eine Schwäche meiner Interpreta­tion. Für eine Stärke halte ich es aus zwei Gründen : Erstens ist die Behauptung, Rous­seau sei der Urheber dieser großen deutschen Tradition (Rous­seaus Einfluss auf Kant, Fichte, Hegel, Marx und sogar Nietzsche ist überall spürbar und geht in die Tiefe), nicht allein historisch richtig, sie steckt uns auch manch ein Licht auf, und zweitens sind die überzeugend­sten philosophischen Positionen, die sich Rous­seau zuschreiben lassen, diejenigen, die zutage treten, wenn man seine Schriften mit Blick drauf liest, wie seine deutschen Nachfolger sich seine Ideen angeeignet und weiterentwickelt haben  – ohne, hoffentlich, dass Rous­seau dadurch von ihnen ununterscheidbar würde. Ich bin mir bewusst, dass zumindest die zweite These umstritten ist und dass viele Leser des Zweiten Diskurses und dieses Buches ihr nicht zustimmen werden. Einige werden sagen – und haben gesagt –, meine Interpreta­tion Rous­seaus sei historisch falsch, weil sie nicht nur die vielen nicht-deutschen Einflüsse auf sein Denken ignoriert oder unterschätzt – zum Beispiel die Platons, der Stoiker, Machiavellis und Montesquieus, sondern auch die historische Besonderheit der Pro­bleme, auf die er in seinen gesellschaftlichen und politischen Gedanken eine Antwort sucht. Andere werden ohne Zweifel behaupten, Hegel und Kant hätten durch ihre Aneignung der Rous­ 22 | Einleitung 

seau’schen Ideen diesen ihre Brillanz und Originalität geraubt und zudem ihren wahren Schatz verdunkelt, indem sie sie einer philosophischen Einstellung anbequemen, die großen Wert auf Systematik und logische Kohärenz legt. Diese Bedenken über das Fazit meines Buches verdienen eine nähere Betrachtung : Zweifelsohne enthalten sie ein Körnchen Wahrheit. Statt direkt auf diese Kritik einzugehen, werde ich jedoch in den folgenden Kapiteln meine Lesart von Rous­seau, mehr oder weniger für sich genommen, anbieten und meinen Lesern die Entscheidung überlassen, ob meine Art, den Zweiten Diskurs zu lesen, erhellend, entstellend oder – vielleicht notwendigerweise – eine Mischung aus beidem ist. Ein weiteres Merkmal meiner Rekonstruktion des Zweiten Diskurses ist unbedingt noch zu nennen. Die von Philosophen, Politikwissenschaftlern und Literaturkritikern verfasste Sekundärliteratur zu Rous­seau ist hochgradig vielfältig, unübersehbar groß und meistenteils sehr gut. Obwohl ich von der Lektüre eines großen Teils dieser Literatur profitiert habe, ist es mir unmöglich gewesen, meine Schulden hier im Detail anzuerkennen. In meinem früheren Buch über Rous­seau9 habe ich mich sehr viel ausführlicher mit der Sekundärliteratur auseinandergesetzt, doch diesmal habe ich mich entschlossen, das zu vermeiden, um eine schlankere, in erster Linie philosophische (argumentzentrierte) Einleitung in den Zweiten Diskurs zu verfassen, die sich vor allem auf das Interpretieren und Rekonstruieren von Rous­seaus klassischer Schrift konzentriert. Dieses Versäumnis habe ich dadurch ein wenig zu korrigieren versucht, dass ich eine sehr knappe Liste der »Vorschläge zur weiteren Lektüre« bereitstelle, die den Leser anregen soll, sich mit einem Teil der Sekundärliteratur näher zu beschäftigen, die für meine Interpreta­tion des Zweiten Diskurses einschlägig ist. Niemand kann beanspruchen, zu irgendeiner der Schriften Rous­seaus das letzte Wort zu haben, und dass ich die Sekundärliteratur in diesem Buch vergleichsweise vernachlässigt habe, sollte nicht dahingehend verstanden werden, dass ich dies stillschweigend für mich beanspruche.

Einleitung | 23

Kapitel 1 Die Natur ist nicht die Quelle sozialer Ungleichheit Natürliche und soziale Ungleichheiten

Im vorliegenden Kapitel soll zum einen geklärt werden, ­welche Frage Rous­seau zu stellen meint, wenn er den Ursprung der menschlichen Ungleichheit untersucht, und zum anderen, wie der erste negative Teil dessen beschaffen ist, was er als Antwort auf jene Frage betrachtet. Mit anderen Worten : Es sucht, sein Argument für die These zu rekonstruieren, Ungleichheiten – oder genauer die besonderen, ihn vor allem interessierenden Arten von Ungleichheit – hätten ihren Ursprung nicht in der Natur, weder in der mensch­lichen noch in den natürlichen Bedingungen menschlicher Existenz und auch nicht in einer Kombination von beidem. Am Ende dieses Kapitels wird uns deutlich geworden sein, warum Rous­seau sich für berechtigt hält, am Schluss des Zweiten Diskurses zu erklären, er habe gezeigt, dass die Ungleichheit »im Naturzustand fast gleich null war« (DU, 267 / OC III, 162). Bevor wir sein Argument rekonstruieren, müssen wir uns jedoch darüber klar werden, welches besondere Phänomen Rous­ seau im Auge hat, wenn er im Zweiten Diskurs von Ungleichheit spricht. Bereits die ersten Seiten des Zweiten Diskurses zeigen deutlich, dass Rous­seau nicht nach dem Ursprung der Ungleichheit im Allgemeinen fragt, sondern nur nach dem Ursprung dessen, was er moralische Ungleichheit nennt. Moralische – oder politische – Ungleichheiten unterscheiden sich, wie behauptet, von natürlichen – oder physischen  – Ungleichheiten in zwei wichtigen Hinsichten. Erstens sind sie nicht das Produkt der Natur, vielmehr sind sie – um einen Begriff zu verwenden, den Rous­seau wiederholt im Zweiten Diskurs anführt – künstlich, was so viel heißt wie : Sie entstehen durch eine Art Konvention, die letztlich auf der Zustimmung der Menschen beruht (DU, 77 / OC III, 131). Zweitens sind moralische Ungleichheiten in dem Sinn sozial, dass sie darin bestehen, dass  25

ein Einzelner  – oder eine Gruppe  – eine Art von Macht ausübt oder eine Art Vorteil gegenüber einem anderen besitzt. Wie Rous­ seau erklärt, besteht Ungleichheit nicht im »Unterschied des Alters, der Gesundheit, der Körperkraft und der Eigenschaften des Geistes oder der Seele«, sondern in »den verschiedenen Privilegien, die einige zum Nachteil der andern genießen, wie etwa reicher, angesehener, mächtiger zu sein als andere oder gar Gehorsam von ihnen verlangen zu können« (DU, 77 / OC III, 131). Da »moralisch« für uns nicht mehr dieselbe Bedeutung hat wie für Rous­seau10 und »politisch« zu eng ist, um all die Ungleichheiten zu erfassen, die er untersuchen möchte, werde ich von jetzt an den Gegenstand der Untersuchung im Zweiten Diskurs als soziale Ungleichheiten bezeichnen. Ich verwende diesen Ausdruck, um anzuzeigen, dass die zu untersuchenden Ungleichheiten hier sowohl einen sozialen Ursprung haben (in menschlichen »Konventionen«) und ihrer Natur nach sozial sind, insofern sie in den relativen Vorteilen oder Privi­ legien bestehen, die einige Menschen gegenüber anderen genießen. Der erste der beiden Punkte wird uns den größten Teil dieses Kapitels beschäftigen, doch wenn wir ein deutliches Bild der Arten von Ungleichheiten gewinnen wollen, mit denen sich der Zweite Diskurs beschäftigt, sollten wir auch den zweiten nicht aus dem Blick verlieren. Es ist entscheidend, sich zu vergegenwärtigen, dass soziale Ungleichheiten für Rous­seau stets Privilegien sind – Vorteile, die einige zum Nachteil anderer genießen  – und dass seine üblichen Beispiele Unterschiede hinsichtlich des Reichtums, des Ansehens (oder Prestiges), der Macht (über andere) und der Autorität (die Fähigkeit, anderen zu befehlen und Gehorsam einzufordern) sind. Rous­seaus Sprache und Beispiele weisen auf einen Punkt hin, dessen Bedeutung später deutlicher werden wird : Bei den Merkmalen, durch die soziale, im Gegensatz zu natürlichen Ungleichheiten gekennzeichnet sind, handelt es sich um stark relative oder stellungsabhängige Eigenschaften und nicht um »absolute« Qualitäten. Die Stärke von Körper, Geist und Charakter – Unterschiede, welche die natürlichen Ungleichheiten ausmachen – sind Eigenschaften, die Individuen haben können und zu haben wünschen können, ohne sich darum zu kümmern, ob andere weniger, mehr oder auch nur dieselbe Menge davon haben. Beispielsweise ist das Ausmaß der 26 | Kapitel 1 

Klugheit einer Person unabhängig davon, wie klug ihre Mitmenschen sind, und die Wünschbarkeit ihrer Klugheit hängt nicht davon ab, ob andere sie besitzen oder nicht. Soziale Ungleichheiten bestehen demgegenüber aus Ungleichgewichten in Qualitäten, bei denen der Faktor Privileg (gegenüber anderen) eine entscheidende Rolle spielt. Man sieht dies leicht im Fall der Autorität : Von jemandem lässt sich nur dann sagen, er habe Autorität, wenn es einen anderen gibt, der ihm gehorchen muss. Autorität ist immer Autorität gegenüber einem anderen, der  – in dieser besonderen Hinsicht – keine Autorität hat und daher – in dieser besonderen Hinsicht – »unter« einem anderen steht. Etwas Ähnliches gilt für Macht, jedenfalls solange wir darunter mehr als physische oder geistige Stärke verstehen, denn Ungleichgewichte in dieser zählen zu den natürlichen Ungleichheiten. Ein sozial mächtiges Individuum – eines, das imstande ist, andere so zu manipulieren oder zu zwingen, dass sie seine Wünsche und Ziele ausführen, ist nur insofern mächtig, als es weniger mächtige Individuen gibt, die als Werkzeug seines Willens herhalten müssen. Die Relativität (oder Stellungsabhängigkeit) des Ansehens ist für Rous­seaus Genealogie der Ungleichheit von zentraler Bedeutung und wird weiter unten ausführlich erörtert werden. Und schließlich ist das Privileg gegenüber anderen selbst für den Reichtum entscheidend, zumindest wenn wir Adam Smiths berühmter Darlegung über das »wahre Maß« des Reichtums »nach der Arbeitsteilung« folgen : Ein Mensch »ist arm oder reich, je nach der Menge der Arbeit, über die er verfügen oder deren Kauf er sich leisten kann.«11 In all diesen Fällen lässt sich der Besitz eines Gutes – Reichtum, Ansehen, Macht oder Autorität – nicht davon trennen, dass jemand benachteiligt ist, weil ein anderer es besitzt. Die Güter, aus denen der Stoff der sozialen Ungleichheiten gemacht ist, sind solche, die sich nur »zum Nachteil« eines anderen genießen lassen. Festzuhalten ist, dass uns Rous­seau durch die Definition der ihn beschäftigenden Art von Ungleichheit bereits etwas Wichtiges darüber mitgeteilt hat, wie er die Frage nach deren Ursprung zu beantworten beabsichtigt : Soziale Ungleichheit hat ihren Ursprung nicht in der Natur, wohl aber in den Meinungen und Praktiken, die aus den Tätigkeiten der Menschen entstehen : »Sie ist durch die Zustimmung der Menschen gesetzt oder wenigstens autorisiert worden« Die Natur ist nicht die Quelle sozialer Ungleichheit | 27

(DU, 77 / OC III, 131).12 Und mehr noch : Er hat deutlich gemacht,

dass die Natur, so wie er sie begreift, den Gegensatz zum Künstlichen, zur Konvention, Meinung und Zustimmung bildet. Es lohnt sich, ein wenig bei dieser verblüffenden These zu verweilen, denn versteht man sie richtig, enthüllt sich weitgehend, wie Rous­seau die Ungleichheit auffasst, deren Ursprung und Legitimität der Zweite Diskurs untersucht. Das Verblüffende dieser These liegt in ihrer Andeutung, die soziale Ungleichheit hänge von der Zustimmung der Menschen ab, vermutlich von der Zustimmung eines jeden, der zu anderen in der Beziehung der Ungleichheit steht. Auf den ersten Blick scheint die These falsch, ja widersinnig zu sein, dass soziale Ungleichheiten, und sei es nur zum Teil, deshalb existierten, weil die Besitzlosen, die Unterdrückten und die Verachteten dem Reichtum, der Macht und dem Ansehen derjenigen zugestimmt haben, die in der sozialen Hierarchie über ihnen stehen. An dieser Stelle ist jedoch entscheidend, welche Worte Rous­seau genau verwendet : Die soziale Ungleichheit, heißt es, ist durch die Zustimmung der Menschen »gesetzt oder wenigstens autorisiert worden«. Dass Rous­seau die Rede darüber, wie Ungleichheiten entstehen, wie sie zuerst gesetzt werden, durch die Rede darüber ersetzt, wie sie autorisiert werden, sollte uns auf die wichtige Tatsache aufmerksam machen, dass sich der Zweite Diskurs weniger mit dem realen historischen Ursprung der Ungleichheit befasst, als es zunächst den Anschein hat. In Wirklichkeit beschäftigt Rous­seau in dieser Aussage vor allem, wie und warum Ungleichheiten, sind sie erst einmal entstanden, sich hartnäckig behaupten. Rous­seaus grundlegende These besagt daher nicht, dass soziale Ungleichheiten zuerst durch eine Übereinkunft zwischen den Menschen in die Welt gekommen sind, sie besagt vielmehr, dass, so es sie erst einmal gibt, ihr dauerhafter Bestand von einer Art Zustimmung abhängt, die er als Autorisieren bezeichnet. Dass das Autorisieren für die Aufrechterhaltung sozialer Ungleichheiten entscheidend ist, beinhaltet, dass es sich bei diesen, im Gegensatz zu jenen, die den »physischen« oder nicht»moralischen« aus dem Reich der Natur angehören, wesentlich um normative Phänomene handelt. Soziale Ungleichheiten sind in dem Sinn normativ, dass sie in menschliche Praktiken eingebettet sind, deren Bestehen von der Überzeugung ihrer Teilnehmer abhängt, solche Praktiken seien gut, legitim oder natürlich, und das wiede28 | Kapitel 1 

rum schließt ein, dass wir für die sozialen Ungleichheiten in einer Weise verantwortlich sind, wie dies nicht auf natürliche Ungleichheiten zutrifft – schließlich sind sie durch unser eigenes Tun bedingt. Zu sagen, soziale Ungleichheiten sind durch Zustimmung autorisiert, bedeutet freilich nicht, dass sie in Wahrheit legitim oder verbindlich sind. Es bedeutet lediglich, dass sie von denen, die ihnen unterworfen sind, für legitim gehalten werden und dass dieses »Autorisieren« eine bedeutsame Rolle für ihren Fortbestand spielt. (Somit ist festzuhalten, dass »Autorisieren« hier einen von der Bedeutung, die es in der zweiten der Hauptfragen des Zweiten Diskurses hat, unterschiedenen Sinn aufweist. Wenn Rous­seau dort fragt, ob die soziale Ungleichheit durch das Naturgesetz autorisiert ist, dann fragt er nicht, ob Individuen an ihre Legitimität glauben, sondern ob, ungeachtet der tatsächlichen Meinungen der Menschen, das Naturgesetz sie tatsächlich rechtfertigt.) Dieser Punkt rückt einen wichtigen Sinn ins Licht, dem zufolge soziale Ungleichheiten für Rous­seau eher moralisch als physisch sind : Die Praktiken und Institutionen, welche soziale Ungleichheiten stützen, verdanken ihren Bestand größtenteils nicht der Gewalt, sondern der (stillschweigenden oder ausdrücklichen) Übereinkunft, dass sie gerechtfertigt sind. Wenn Arbeiter in kapitalistischen Unternehmen Tag ein, Tag aus ihre acht oder mehr Stunden arbeiten, ohne das Eigentum ihrer Arbeitgeber zu sabotieren oder es sich selbst anzueignen, dann tun sie das typischerweise in erster Linie deshalb nicht, weil sie fürchten, die Staatsmacht würde die bestehenden Eigentumsrechte durchsetzen  – obwohl man auch nicht vergessen darf, dass diese Macht immer im Hintergrund steht, bereit, die Wenigen zu vernichten, die es wagen könnten, diese Rechte zu verletzen. Sie tun es stattdessen nicht, weil sie, möglicherweise unhinterfragt, auf irgendeiner Ebene die Legitimität oder Natürlichkeit der gesellschaftlichen Einrichtungen billigen, die sie zwingen, für ihren Lebensunterhalt zu schuften, während andere wohlhabend genug sind, ohne zu arbeiten leben zu können und sich an den Früchten der Arbeit anderer zu bereichern. Ebenso beruhen die asymmetrischen Machtbeziehungen zwischen Männern und Frauen selten ausschließlich auf der überlegenen Körperkraft der Männer, sie beruhen auch darauf, dass diejenigen, die an diesen Beziehungen teilhaben, an die Natürlichkeit oder AnDie Natur ist nicht die Quelle sozialer Ungleichheit | 29

gemessenheit patriarchalischer Herrschaft glauben – darunter viele Frauen. Diese Einsicht ist eng mit einer, wie Rous­seau meint, allgemeinen Wahrheit über das Sozialleben der Menschen verbunden : Institutionen, die allein von brutaler, physischer Gewalt oder der Drohung damit abhängen, während keiner von denjenigen, die an ihnen teilhaben, von ihrer Legitimität überzeugt ist, wären höchst instabil und ineffizient, und das nicht zuletzt deshalb, weil ein großer Teil der gesellschaftlichen Ressourcen darauf verwendet werden müsste, Zwangsmechanismen so aufrechtzuerhalten, dass die Mitglieder der Gesellschaft sie für allgegenwärtig und unentrinnbar halten. Die Zustimmung, mittels deren die meisten sozialen Ungleichheiten autorisiert werden, ist daher nicht die für Verträge typische Zustimmung, bei der die vertragsschließenden Parteien die Bedingungen ihrer Beziehung aushandeln und ihnen ausdrücklich zustimmen, bevor sie in diese Beziehung eintreten. Die Zustimmung, die Ungleichheiten gründet, beruht vielmehr darauf, dass mehr oder weniger bewusste Überzeugungen über die Angemessenheit bestimmter Praktiken und Institutionen gehegt werden. Der Grund dafür, dass Rous­seau dies für einen Typ von Zustimmung hält, liegt darin, dass, wie wir unten sehen werden, Überzeugungen oder »Meinungen« letzten Endes auf unserer Freiheit beruhen. Etwas zu glauben verlangt, dass wir aktiv der Aussage zustimmen, das-unddas sei der Fall. Vielleicht wird es deutlicher, wenn man sagt, eine Überzeugung zu haben, beispielsweise die, dass Männer von Natur aus dazu geeignet sind, über Frauen zu herrschen, beinhaltet eine Art von Verantwortung für das Geglaubte : Welche Überzeugungen wir haben, und sei es auch nur vage und stillschweigend, liegt letztlich in dem Sinn bei uns, dass es in unserer Macht als denkende Subjekte steht, über ihre Angemessenheit nachzudenken und sie dann im Lichte dieser Überlegungen fallenzulassen oder zu revidieren – sie den Belegen anzupassen, die unserer Ansicht nach für oder gegen sie sprechen. Genau darum sind soziale Ungleichheiten künstlich. Sie gehören zu der Sorte von Dingen, deren Existenz die aktive Teilnahme der von ihnen Betroffenen verlangt. Sie sind, wenn auch nicht eben absichtlich geschaffen, zumindest in ihrem Bestand auf die Zustimmung ihrer Teilnehmer angewiesen, einschließlich derjenigen, die von ihnen benachteiligt werden. 30 | Kapitel 1 

Während es hart und unfair erscheinen mag, die Unterdrückten und Benachteiligten, und sei es nur zum Teil, für ihre Lage selbst verantwortlich zu machen, beinhaltet Rous­seaus Ansicht auch, dass die Macht, diesen Zustand zu ändern, zumindest teilweise in ihrer Hand liegt. Wäre soziale Ungleichheit nicht etwas, an dessen Bestand die Benachteiligten mitwirken, wäre es viel schwieriger zu erkennen, wie sie diese Situation je überwinden können. Zudem schwingt in Rous­seaus Auffassung mit, dass die Philosophie, fasst man sie weit, eine wichtige Rolle beim fortschrittlichen sozialen Wandel spielt. Denn eine Philosophie, die unseren Glauben an die Legitimität bestimmter Ungleichheiten zurückweist, untergräbt damit zum Teil die Grundlagen, auf denen diese Ungleichheiten beruhen. Und eben das ist eines der Hauptziele des Zweiten Diskurses bei seiner Untersuchung über »den Ursprung und die Grund­ lagen (fondements) der Ungleichheit«.13 Welche Bedeutung die Meinungsabhängigkeit der sozialen Ungleichheit für Rous­seaus Unterfangen im Zweiten Diskurs hat, ist unmöglich zu überschätzen. So hat sie zum Beispiel tiefgreifende Folgen für das, was er meint finden zu müssen, um den Ursprung der sozialen Ungleichheit aufzudecken. Wenn Rous­seau sich selbst die Frage stellt : »Um was handelt es sich also näher in dieser Abhandlung ?«, dann gibt er die potentiell irreführende Antwort : »Um die Kennzeichnung des Augenblicks im Verlauf der Entwicklung der Dinge, in dem das Recht die Gewalt ablöste und mithin die Natur dem Gesetz unterworfen wurde« (DU, 78 f. / OC III, 132).14 Der entscheidende Gegensatz in dieser Antwort ist der zwischen reinen Naturgeschöpfen – für die Gewalt die Regel ist – einerseits und moralisch oder nach Normen sich richtenden Geschöpfen andererseits. Diese werden von Recht und Gesetz regiert oder, besser gesagt, vom Gesetz und ihren Vorstellungen davon, was Recht ist.15 Dieser dunklen, aber wichtigen Aussage liegt im Kern folgende These zugrunde : Der Schlüssel zum Verständnis der Frage, woher die soziale Ungleichheit kommt, findet sich in der Erklärung, wie es möglich ist, dass Meinungen über das Recht, begriffen als Gegensatz zur reinen Natur, eine so zentrale Rolle in den menschlichen Angelegenheiten annehmen können. Wenn menschliche Gesellschaften sich typischerweise durch soziale Ungleichheiten allerlei Art auszeichnen – die ihrerseits von den Meinungen oder der Zustimmung ihrer GlieDie Natur ist nicht die Quelle sozialer Ungleichheit | 31

der abhängen –, dann müssen Menschen solche Geschöpfe sein, die ihre Meinungen (ihre normativen Überzeugungen davon, was an den Dingen gut und rechtmäßig ist) und nicht ihre bloße Natur über ihr Verhalten und ihre Lebensweise bestimmen lassen. Rous­seaus Frage über den Ursprung der Ungleichheit kann daher folgendermaßen neu formuliert werden : Wie müssen Menschen beschaffen sein, wenn auf Meinungen beruhende soziale Ungleichheiten einen so herausragenden Stellenwert in ihrem Leben annehmen sollen ? Unter der Annahme, dass wir ihn bisher richtig verstanden haben, wird es nicht weiter erstaunen, dass Rous­seau glaubt, seine Antwort auf die Frage über den Ursprung der sozialen Ungleichheit hänge davon ab, einige der grundlegenden Eigenschaften der Menschen zutage zu fördern, die sowohl durch die Unterscheidung zwischen dem Menschlichen und dem rein Natürlichen gekennzeichnet sind als auch die Fähigkeit von Meinungen erklären, die menschlichen Angelegenheiten zu regeln. Im zweiten Teil des Zweiten Diskurses, dort, wo die Naturgeschöpfe des ersten Teils uns zum ersten Mal als echt menschliche Wesen begegnen, wird Rous­seau in seine Darstellung genau einen solchen Faktor einführen – die Leidenschaft des amour propre – und sie liefert, wie wir mittlerweile erwarten sollten, das Kernstück seiner Beantwortung der Frage, woher die soziale Ungleichheit stammt. Und schlussendlich hilft uns das Verständnis der Rous­seau’schen Unterscheidung zwischen natürlichen und sozialen Ungleichheiten deutlich zu machen, warum er seine Aufmerksamkeit im Zweiten Diskurs auf diese beschränkt. Der offensichtlichste Grund dafür ist der, dass die beiden Hauptfragen des Zweiten Diskurses sich prompt beantworten lassen, wenn sie natürliche Ungleichheiten in den Blick nehmen : Sie entspringen selbstverständlich der Natur (DU, 77/67, OC III, 131) und sind daher durch das Gesetz der Natur autorisiert oder zumindest nicht durch es verurteilt. Vermutlich ist es präziser zu sagen, im Fall der natürlichen Ungleichheiten erhebt sich erst gar nicht die Frage danach, was sie autorisiert  – ob sie legitim oder zulässig sind. Es scheint wahrscheinlich, dass Rous­ seau glaubt, es sei sinnvoll, die zweite, die normative Frage nur im Hinblick auf künstliche Phänomene zu stellen, auf solche, die von menschlichem Handeln (und menschlicher Freiheit) in dem oben formulierten Sinn abhängen. Im Falle natürlicher Phänomene er32 | Kapitel 1 

geben sich keine Fragen der Legitimität oder der Kritik. Es mag bedauerlich sein, dass die Natur den einen mehr Körperkraft, eine schönere Stimme oder ein liebenswürdigeres Naturell verliehen hat als den anderen, doch sind diese Unterschiede – im Gegensatz zu dem, was die menschlichen Gesellschaften aus ihnen machen – an sich nicht ungerecht, illegitim oder ein geeigneter Gegenstand der moralischen Kritik. Für Rous­seau ist das Wirken der Natur (das heißt Gottes) kein passender Adressat für eine normative Bewertung und Kritik, wohl aber ist es das unsrige – und das heißt, die Zustände, für die wir verantwortlich sind. Man darf jedoch keinesfalls das Ausmaß überschätzen, in dem Rous­seau zufolge die Wirkungen der Natur dem Geltungsbereich normativer Kritik entrückt sind. Die bloße Tatsache, dass jemand blind geboren ist, während andere mit perfektem Sehsinn auf die Welt kommen, ist für Rous­ seau keine Form der Ungerechtigkeit oder irgendeine andere Art moralischen Gebrechens. Wie dieser natürliche Unterschied aber letzten Endes das Leben der Betroffenen beeinträchtigt, ist nicht bloß eine Folge der natürlichen Umstände. Da soziale Praktiken und Institutionen beträchtlich zur Ausgestaltung der Folgen beitragen, die natürliche Ungleichheiten für das Leben der von ihnen Benachteiligten haben, gehen diese Folgen in nicht geringem Maße auf unser eigenes Handeln zurück – wir und nicht die Natur sind für sie verantwortlich – und daher sind sie ein angemessenes Thema für die normative Frage des Zweiten Diskurses. Natürliche Blindheit ist nicht an sich eine Ungerechtigkeit, doch der Umstand, dass Blinde in einigen Gesellschaften kaum Zugang zu Bildungseinrichtungen oder öffentlichen Verkehrsmitteln haben, kann in der Tat ungerecht (und ein legitimer Gegenstand der Kritik) sein, denn dabei handelt es sich um soziale, nicht bloß natürliche Folgen von Blindheit, und die zu ändern, steht in unserer Macht. Damit ist ein weiterer Grund genannt, warum der Zweite Diskurs sich ausschließlich mit sozialen Ungleichheiten beschäftigt : Es gehört zu Rous­seaus grundlegenden Überzeugungen – für die der Zweite Diskurs eine Art Argument zu liefern beabsichtigt  –, dass natürliche Ungleichheiten, obgleich sie real und von einiger Bedeutung sind, sich, verglichen mit den ungleich gravierenderen Wirkungen künstlicher Ungleichheiten, in den menschlichen Angelegenheiten kaum niederschlagen. Wenn ein Beobachter der Die Natur ist nicht die Quelle sozialer Ungleichheit | 33

modernen Gesellschaft sich aus Betroffenheit wegen der ihn umgebenden Ungleichheiten beschließt, den Ursprung und die Rechtfertigung der Ungleichheit zu untersuchen, dann sind die Phänomene, die ihn sehr wahrscheinlich zu seiner Untersuchung anregen, weitaus mehr das Ergebnis sozialer als natürlicher Umstände. Wie Rous­seau schon ganz am Anfang des Zweiten Diskurses zeigt, sieht man, sobald man über die Sache nachdenkt, ganz schnell, dass die großen, in modernen Gesellschaften so augenfälligen Diskrepanzen in Macht, Reichtum, Ansehen und Autorität nicht unmittelbare Folgen von Unterschieden in Alter, Körperkraft, angeborener Begabung oder natürlicher Intelligenz sind. Dass Reichtum, Ansehen, Macht und Autorität schlicht die natürliche Überlegenheit derjenigen spiegeln, die darüber verfügen, »taugt vielleicht dazu, um unter Sklaven, wenn ihre Herren zuhören, verhandelt zu werden«, für diejenigen aber, die nach der Wahrheit über die Ungleichheit zwischen den Menschen suchen, hat eine solche Hypothese wenig Überzeugungskraft (DU, 77/69, OC III, 132). Dass soziale Ungleichheiten sich nicht einfach auf natürliche Unterschiede zurückführen lassen, stellt selbstverständlich keinen Beweis ihrer Illegitimität dar. Es beinhaltet jedoch, dass die meisten Ungleichheiten, auf die wir in bestehenden Gesellschaften stoßen, nicht bloß vorgegebene, natürliche oder notwendige Phänomene sind, sondern stattdessen zumindest teilweise den sozialen Umständen geschuldet sind, die Menschen aktiv aufrechterhalten und für die sie aus diesem Grund verantwortlich sind ; oder anders gesagt, es zeigt nicht, dass soziale Ungleichheiten samt und sonders illegitim sind, allerdings sind sie, bescheidener ausgedrückt, ein geeigneter Gegenstand für eine moralische Bewertung und Kritik. Mit diesen Überlegungen ist bereits ein Anfang in der Rekonstruktion von Rous­seaus Antwort auf die erste Frage des Zweiten Diskurses gemacht : Woher kommen die sozialen Ungleichheiten ? Denn der erste Schritt in seiner Argumenta­tion, dass sie nicht natürlichen Ursprungs sind, besteht in genau dieser These : Die weit verbreitete Existenz sozialer Ungleichheiten lässt sich nicht als eine unmittelbare oder notwendige Folge natürlicher Ungleichheiten erklären ; und dementsprechend fallen natürliche Ungleichheiten so gut wie nicht ins Gewicht, wenn es um die Festlegung geht, welche Individuen in einer bestimmten Gesellschaft in den Genuss 34 | Kapitel 1 

der Vorteile von Reichtum, Ansehen, Macht und Autorität gelangen. Mit anderen Worten : Angeborene Unterschiede zwischen den Menschen beinhalten – Aristoteles und Platon zum Trotz – nicht die Notwendigkeit oder Rechtmäßigkeit sozialer Hierarchien im Allgemeinen, noch ermächtigen sie die Zuschreibung von Vorteilen, da sie »in Übereinstimmung mit der Natur« sind. Zudem beharrt Rous­seau darauf, dass, selbst wenn sich herausstellte, dass natürliche Ungleichheiten eine gewisse Funk­tion bei der Bestimmung der relativen Stellungen von Individuen in der Gesellschaft einnehmen, sie es nicht an sich tun würden, unabhängig von einem Schwarm sozialer Praktiken und Institutionen – beispielsweise Eigentumsgesetze, Ehrenkodizes oder Konventionen über die Einsetzung der Obrigkeit –, die natürlichen Unterschieden eine Bedeutung verleihen und sie auf eine Weise kultivieren, dass ihre Folgen weit über die hinaus gehen, die sie »natürlicherweise«, ohne solche Praktiken und Institutionen, gehabt hätten. Da die Praktiken und Institutionen, die als Mittler für die Auswirkung der natürlichen Ungleichheiten auf die gesellschaftliche Stellung auftreten, veränderlich sind und von der menschlichen Freiheit abhängen, sind soziale Ungleichheiten von der Natur allenfalls unterbestimmt. Welche Formen von Ungleichheit in einer bestimmten Gesellschaften herrschen und wie weit sie sich erstrecken, das ist keine Sache natürlicher (und somit ewiger) Tatsachen, sondern eine der sozialen (und somit veränderlichen) Umstände, die, weil menschliches Zutun sie konserviert, in unser Hand liegen und so ein möglicher Gegenstand sowohl der Bewertung als auch der Reform sind. An Rous­seaus Zurückweisung der Natur als Ursprung sozialer Ungleichheiten ist jedoch noch mehr dran, und zu erkennen, worin dieses Mehr besteht, enthüllt viel über das Wesen des genealogischen Unterfangens im Zweiten Diskurs und seines zentralen Begriffs ›Ursprung‹. Unmittelbar im Anschluss an seine Feststellung, soziale Ungleichheiten ließen sich nicht auf natürliche Ungleichheiten zurückführen, wirft Rous­seau eine weitere Frage bezüglich ihres Ursprungs in der Natur auf, ein sicherer Hinweis darauf, dass seine erste Behauptung seine These, soziale Ungleichheiten seien nicht-natürlichen Ursprungs, nicht erschöpft. Diese weitere Frage lautet, ob soziale Ungleichheiten nicht ihren Ursprung, oder wie Rous­seau manchmal sagt, ihre Quelle (DU, 63/43, OC III, 122), in Die Natur ist nicht die Quelle sozialer Ungleichheit | 35

der Natur des Menschen haben. Ein Grund dafür, die Rede von der Quelle der Ungleichheit der über ihren Ursprung vorzuziehen, liegt darin, dass der erste Ausdruck den üblichen, aber irregeleiteten Eindruck abwehrt, Rous­seau beabsichtige, eine in erster Linie historische Frage darüber zu stellen, wie die Ungleichheit tatsächlich in die Welt kam. Formuliert man seine Frage so, dass von der Quelle der Ungleichheit gesprochen wird, dann verspricht der Zweite Diskurs das Woher der Ungleichheit viel allgemeiner zu untersuchen, als eine rein historische Darlegung es tun könnte. Fragt man zum Beispiel nach der Quelle des Hudson oder der Quelle der Armut in den USA, dann erwartet man normalerweise nicht, eine historische Erzählung präsentiert zu bekommen, wohl aber im ersten Fall eine synchrone Darstellung der verschiedenen Nebenflüsse, deren Wasser gemeinsam den Hudson bilden, und im zweiten Fall eine Auflistung von verschiedenen Faktoren  – Verlegung von Jobs in Länder mit billigerer Arbeitskraft, Gesetze, welche die Bildung von Gewerkschaften erschweren usw. Diese sollen freilich nicht erklären, wie die Armut in den USA anfänglich entstanden ist, sondern welche bestehenden Kräfte zu ihrer Fortdauer beitragen. Tatsächlich hat Rous­seau diese Art von Darlegung im Blick, wenn er den Ursprung der Ungleichheit untersucht. Statt zu fragen wann, wo und warum die soziale Ungleichheit zuerst in der menschlichen Gesellschaft aufgetreten ist, möchte er wissen, welche der verschiedenen Aspekte der menschlichen Daseinsbedingungen im Allgemeinen  – unsere biologische Natur, eine erworbene psychische Verfasstheit, Geschichte, zufällige soziale Umstände – zusammenwirken, um zu erklären, warum es Ungleichheit gibt und warum sie in den meisten menschlichen Gesellschaften so weit verbreitet ist. Nachdem er festgestellt hat, dass angeborene Unterschiede unter den Individuen wenig, wenn überhaupt zu den sozialen Ungleichheiten beitragen, ist es Rous­seaus nächstes Anliegen, sehr viel detaillierter zu zeigen, dass sie ihre Quelle auch nicht in der Natur des Menschen oder der allgemeiner begriffenen Natur haben. Bereits im Vorwort, noch bevor er die Fragen, die anzugehen er vorhat, richtig definiert hat, macht Rous­seau deutlich, dass es für das Gelingen des Zweiten Diskurses entscheidend ist, eine präzise Vorstellung von der menschlichen Natur zu entwickeln : »Denn wie soll man die Quelle der Ungleichheit unter den Menschen kennen, 36 | Kapitel 1 

wenn man nicht zuvor die Menschen selbst kennt ?« (DU, 63/43, OC III, 122). Obwohl es von Anfang an recht offensichtlich ist, dass er die soziale Ungleichheit nicht als Folge der Natur des Menschen zu erklären beabsichtigt, ist es weniger deutlich, worauf seine Position hinausläuft. Da Rous­seaus Antwort auf die Frage, ob die soziale Ungleichheit ihre Quelle in der Natur des Menschen hat, sich als sehr viel verwickelter entpuppt, als es zunächst den Anschein hat, müssen wir, um das Argument des Zweiten Diskurses zu verstehen, eine beträchtliche Anstrengung unternehmen, denn nur so werden wir herausfinden, worum es ihm bei dieser Frage geht und warum er sie negativ beantwortet. Die Natur des Menschen und ihre zwei Bedeutungen

Die Hauptschwierigkeit entspringt hier den schwer fassbaren Wörtern »Natur« und »Natur des Menschen«, die von Rous­seau, wie schon dem Leser, der zum ersten Mal zum Zweiten Diskurs greift, nicht entgehen wird, in mehreren Bedeutungen verwandt werden. Diese Bedeutungsvielfalt ist nicht weniger augenfällig in der Art und Weise, in der Rous­seau das zentrale theoretische Konstrukt des 1. Teils behandelt : den Naturzustand.16 Den in den verwandten Begriffen »Natur«, »Natur des Menschen« und »Naturzustand« enthaltenen Schwierigkeiten nähert man sich am besten durch die Untersuchung jener Passage, in der Rous­seau zum ersten Mal erklärt, welcher grundlegenden Herangehensweise er sich bedienen wird, um zu zeigen, dass die soziale Ungleichheit nicht der Natur entspringt : … denn es ist kein leichtes Unternehmen zu entwirren, was an der jetzigen Natur des Menschen ursprünglich und was künstlich ist, sowie einen Zustand richtig zu erkennen, den es nicht mehr gibt, vielleicht nie gegeben hat und wahrscheinlich nie geben wird, über den man aber dennoch richtige Begriffe nötig hat, um den jetzigen Zustand richtig beurteilen zu können.17 (DU, 67 / OC III, 123)

Aus diesem Abschnitt geht unter anderem hervor, dass der Naturzustand einschließlich seiner Schilderung der Natur des Menschen Die Natur ist nicht die Quelle sozialer Ungleichheit | 37

Rous­seaus Versuch darstellt, das Ursprüngliche (oder Natürliche) von dem zu unterscheiden, was am Menschen und in der menschlichen Gesellschaft, so wie wir sie kennen, künstlich ist. In dieser Hinsicht können wir über den Naturzustand sagen, er habe eine beschreibende oder erklärende Aufgabe : Er zielt darauf ab, jene Aspekte unserer Existenz zu enthüllen, die ihre Quelle in der Natur haben (und folglich in notwendigen, unveränderlichen Faktoren, die wir hinnehmen müssen), und jene, die ihre Quelle in uns haben – die unser Werk sind, statt das Werk Gottes oder der Natur – und daher im Prinzip auch durch uns veränderbar sind. Dass dem Naturzustand auch eine zweite, normative Aufgabe zukommt, wird am Ende dieses Abschnitts deutlich, nämlich in der These, dass wir unsere ursprüngliche Beschaffenheit kennen müssen, wenn wir unseren gegenwärtigen Zustand richtig beurteilen – das heißt bewerten – wollen. Das deutet darauf hin, dass die Beantwortung der entscheidenden normativen Frage des Zweiten Diskurses – in welchem Maße und warum sind soziale Ungleichheiten rechtfertigbar ?  – für Rous­seau davon abhängt, zu einem richtigen Verständnis der Natur des Menschen und unserer natürlichen Beschaffenheit zu gelangen, damit wir in die Lage versetzt werden, die wichtigste, nach einer Erklärung suchende Frage des Zweiten Diskurses  – woher stammen die Ungleichheiten ?  – dadurch zu beantworten, dass wir präzise zwischen dem unterscheiden, was an diesen Ungleichheiten auf uns zurückgeht und was der Natur geschuldet ist. Mit anderen Worten : Rous­seaus Darlegung des ursprünglichen Naturzustandes – und der ursprünglichen Natur des Menschen – ist für das Unterfangen des ganzen Zweiten Diskurses grundlegend und wird eine wichtige Rolle sowohl bei den normativen als auch bei den nicht-normativen Aufgaben spielen, die darin in Angriff genommen werden. Aus diesem Grund ist es unerlässlich, im Einzelnen zu untersuchen, was für eine Art von theoretischem Werkzeug der Naturzustand für Rous­seau ist und wie er dazu dient, die »künstlichen« sozialen Einrichtungen zu erklären, zu bewerten und schließlich auch zu kritisieren, an deren Legitimität er letztendlich interessiert ist. Im Laufe dieses Vorhabens ist es nicht weniger notwendig, die verwirrendste Behauptung in dem oben zitierten Abschnitt zu verstehen : Dass es den Naturzustand möglicherweise nie gegeben hat und es ihn wahrscheinlich 38 | Kapitel 1 

niemals geben wird, dass wir ihn aber dennoch kennen müssen, um unsere gegenwärtige Lage zu bewerten. Da das gegenwärtige Kapitel der Beantwortung der ersten der beiden Fragen des Zweiten Diskurses gewidmet ist – woher stammt die soziale Ungleichheit ? –, werde ich meine Aufmerksamkeit hier auf die beschreibende und erklärende Funk­tion des Naturzustands beschränken. Wenn wir im 3. Kapitel daran gehen, Rous­seaus Ansicht von der Legitimität oder Begründbarkeit der Ungleichheit zu rekonstruieren, werden wir noch einmal auf den Naturzustand zurückkommen müssen und die Funk­tion zu verstehen suchen, die er bei der normativen Beurteilung der Gesellschaft und der Gesellschaftskritik einnimmt. Wiederholen wir noch einmal : Rous­seaus Ausarbeitung des Naturzustandes in Teil 1 des Zweiten Diskurses ist dazu gedacht, eine zentrale Rolle bei der Erklärung des Ursprungs sozialer Ungleichheiten zu übernehmen. Oder genauer : Er möchte darlegen, wo die sozialen Ungleichheiten nicht herkommen : nämlich weder aus der Natur des Menschen noch aus der allgemeiner aufgefassten Natur – und auch nicht, wie wir bereits gesehen haben, aus den natürlichen Ungleichheiten selber. Der Inhalt von Rous­seaus These, soziale Ungleichheiten hätten ihre Quelle nicht in der Natur des Menschen oder in der Natur überhaupt lässt sich in zwei Thesen zusammenfassen : Erstens dass die Natur des Menschen nicht die psychologischen Anreize liefert, die erklärten, warum Menschen ein Motiv haben, sich die Ungleichheiten auszusuchen, die sie tatsächlich schaffen, und zweitens dass es keine fest vorgegebenen Eigenschaften der Außenwelt gibt, auf die Menschen sich beziehen müssen, um diejenigen natürlichen Bedürfnisse zu befriedigen, welche die Schaffung von Ungleichheiten fordern oder gar fördern, die die ihnen von der Natur auferlegten, aber verhältnismäßig unbedeutenden natürlichen Ungleichheiten übersteigen. Rous­seaus negative Antwort auf die erste Frage im 1. Teil des Zweiten Diskurses – die Natur ist nicht die Quelle sozialer Ungleichheiten – bereitet den Weg für seine positive und sehr komplexe Antwort auf dieselbe Frage im 2. Kapitel, in dem neue, nicht-»natürliche« Elemente in die psychische Ausstattung der Menschen und ihre Sozialbeziehungen eingeführt werden. Im Rest dieses Kapitels wird die Rekonstruktion der beiden soeben zusammengefassten Thesen Die Natur ist nicht die Quelle sozialer Ungleichheit | 39

zu leisten sein. Bevor ich mich dieser Aufgabe zuwende, ist jedoch noch etwas mehr über Rous­seaus äußerst verwirrende Verwendung des Ausdrucks »Natur« im Allgemeineren zu sagen.18 Entsprechend den beiden Hauptfunk­tionen, die ich dem Naturzustand zugewiesen habe, führt der Begriff der Natur im Allgemeinen im Zweiten Diskurs einen sowohl normativen als auch erklärenden Sinn bei sich, ja tatsächlich im gesamten Werk Rous­seaus.19 »Natürlich« bezieht sich daher manchmal auf die Art von Leben, das Menschen und andere Wesen haben sollten, trotz der Tatsache, dass ihr tatsächliches Leben oft wenig Ähnlichkeit mit dem hat, was die Natur vorschreibt. Diese normative Funk­tion wird im Zweiten Diskurs ganz besonders durch das Aristoteles-Zitat deutlich, das als Epigraph der Schrift dient – »Nicht in Verderbtem, sondern in dem, was sich nach der Natur richtig verhält, ist zu betrachten, was natürlich ist« (DU, 61 / OC III, 109) –, aber auch in Aussagen, in denen die Bewohner des Naturzustands als solche geschildert werden, die sich »die von der Natur vorgeschriebene Lebensweise«20 (DU, 99 / OC III, 138) bewahrt haben, und das heißt sie führen, angesichts der Wesen, die sie sind, ein unverdorbenes oder gutes oder angemessenes Leben (DU, 183 ff. / OC III, 160). Dieser Gebrauch von »natürlich« ist auch in anderen Schriften Rous­seaus zu finden  – zum Beispiel im Emile, wo es über dessen Erziehung heißt, sie solle ihn zu einem natürlichen Menschen (E, 430 f., 522 / OC IV, 483, 549) machen, das heißt, er soll so erzogen werden, wie es »dem Wesen des Menschen schickt und dem menschlichen Herzen angemessen ist« (E, 104 / OC IV, 243). In diesem normativen Sinn verwendet, ist das Gegenteil von ›natürlich‹ verderbt, entartet oder unpassend für die Art von Wesen, die wir sind. In seiner nicht-normativen Bedeutung ist dem »Natürlichen« nicht das »Verderbte« oder »Unpassende« gegenübergestellt, sondern das »Künstliche«. Gebraucht Rous­seau »natürlich« in diesem Sinn, dann verbindet er das Künstliche mit dem Eingriff menschlicher Meinungen oder Urteile, derart, dass etwas als künstlich gilt, wenn es in irgendeiner Weise durch »Meinungen verändert« (E, 111 / OC IV, 248) worden ist. Aus diesem Grund klassifiziert er, wie wir oben gesehen haben, die sozialen Ungleichheiten, die auf der Zustimmung der Menschen oder den Überzeugungen hinsichtlich ihrer Begründbarkeit beruhen, als künstlich und unterscheidet 40 | Kapitel 1 

sie so von natürlichen Ungleichheiten. Eine andere Möglichkeit, das Künstliche zu definieren, besteht darin, es als Ergebnis – oder Teilergebnis – menschlichen Handelns zu bezeichnen, wobei Handeln im Unterschied zum bloßen Verhalten der Tiere von der Meinung oder dem Urteil über den Zweck oder die Güte dessen, was man tut, bestimmt ist. Allein durch die Disposition, Schmerzhaftes zu meiden, motiviert zu sein, hebt uns noch nicht über das Reich der Natur hinaus (E, 111 / OC IV, 248), während ein durch Urteile bestimmtes Verhalten  – etwa ein Urteil darüber, was zu tun gut wäre – als Ausdruck autonomen Handelns, als ein Fall von menschlichem statt bloß natürlichem Tun, gilt. Beispiele für das Natür­ liche in diesem Sinn sind die rein »mechanischen« Wirkungen, die im Naturzustand, noch »vor dem Verstand« (DU, 71 / OC III, 126), von der Selbstliebe (amour de soi-même) und dem Mitleid auf das tierähnliche Verhalten des Menschen ausgehen. Das bestimmende Merkmal des Natürlichen ist, wie Rous­seau an einer anderen Stelle in aller Klarheit sagt, dass es sich »ohne Bewusstsein und Wille« vollzieht (E, 154 / OC IV, 280). Wenn der Mensch aber gestützt auf seine Urteile und seinen Willen in die Welt eingreift, dann kommt Künstlichkeit in sie hinein und eine durch einen solchen Eingriff veränderte Welt hört damit auf, in dem zweiten, nicht-normativen Sinn des Wortes völlig natürlich zu sein. Obgleich Rous­seau dies weniger ausdrücklich darlegt, als er es hätte tun können, werden Eingriffe aufgrund von Urteilen darum als künstlich betrachtet, weil Urteile zu fällen Freiheit erfordert.21 Im Anschluss an die Stoiker, die ihn in seiner Jugend so stark beeinflusst hatten, nimmt Rous­seau an, dass Wollen und Urteilen einen spontanen Akt der Zustimmung oder Billigung einschließen : entweder in Bezug auf eine Aussage – in diesem Fall ist das Ergebnis ein Urteil – oder in Bezug auf etwas, was gut zu sein scheint – dann ist das Ergebnis eine Handlung (E, 553 – 560, 572 f. / OC IV, 571 – 576, 585 f.). Daher gilt ihm, wie wir oben gesehen haben, der Glaube an die Legitimität einer Form der sozialen Ungleichheit, der eine Art Urteil ist, als eine Weise der Zustimmung. Was das Natürliche vom Künstlichen – und auch das rein Tierische vom Menschlichen (DU, 107 / OC III, 141 f.) – unterscheidet, ist im Grunde das Fehlen oder Vorliegen von Freiheit. Eine Welt, die auf irgendeine Weise durch menschliche Freiheit – menschliches Urteil oder menschliDie Natur ist nicht die Quelle sozialer Ungleichheit | 41

chen Willen – verändert worden ist, kann nicht mehr als vollkommen natürlich gelten. Allein der im ersten Teil des Zweiten Diskurses beschriebene ursprüngliche und »hypothetische« (DU, 81 /  OC III, 133)22 Naturzustand bildet nach diesem Maßstab eine wahrhaft natürliche Welt, während die im zweiten Teil geschilderte Welt – wo zum ersten Mal Menschen auftauchen – stets in irgendeinem Maße künstlich ist. Es lohnt sich, auf eine Implikation der beiden Bedeutungen von »natürlich«, wie ich sie gerade ausgeführt habe, aufmerksam zu machen, da sie, sobald wir Rous­seaus Kritik der Ungleichheit erörtern werden, sehr bedeutsam wird : Anders als die Leser oft meinen, verwendet Rous­seau das Wort »künstlich« in einem normativ neu­ tralen Sinn. Für Rous­seau gibt es keinen Grund – sei er begrifflicher oder anderer Art –, dass etwas Künstliches (etwas, das von Meinungen oder Willensakten bestimmt ist) zugleich auch unnatürlich im Sinne von schlecht oder verdorben sein muss.23 Wenn er später die Gesellschaft (und die sie begleitende Leidenschaft, den amour propre) als künstlich bezeichnet, dann geht es ihm nicht darum, dass die Menschen durch ihre Sozialbeziehungen notwendig korrumpiert werden, und auch nicht darum, dass sie ihrer »wahren« oder idealen Natur entfremdet sind. Er will damit vielmehr sagen, dass die Gesellschaft etwas ist, was Menschen machen, und das heißt etwas, das Ergebnis von menschlichem Glauben und Willen ist. Das Wichtige an dem Gedanken, die Gesellschaft sei künstlich, liegt darin, dass reale Menschen zwar nicht ohne Sozialbeziehungen der einen oder anderen Art leben können, die spezifischen Formen dieser Beziehungen in der Realität jedoch äußerst verschieden sind und von vielen Zufallsfaktoren abhängen, zu denen auch der menschliche Wille zählt. Menschen können nicht frei wählen, ob sie innerhalb oder außerhalb der Gesellschaft leben wollen, doch da die Natur uns nicht, wie den Bienen und Ameisen, soziale Einrichtungen vorgegeben hat, ist es an uns zu entscheiden, wie wir unsere Sozialbeziehungen ausgestalten. Auch wenn der Zweite Diskurs für gewöhnlich so gelesen wird, stellt Rous­seau sich das menschliche Dasein gerade nicht ohne dauerhafte Sozialbeziehungen vor, so­ wenig wie er es sich ohne Liebe, Vernunft, Sprache oder den Trieb, von anderen geachtet zu werden (amour propre), vorstellt – all dies ist, wie wir sehen werden, ebenso künstlich wie die Gesellschaft, 42 | Kapitel 1 

darum aber für ein gutes Leben der Menschen nicht weniger unerlässlich. Wenn wir diese beiden Bedeutungen von Natur – die eine als Gegensatz zum Künstlichen, die andere zum Verderbten oder Korrumpierten – im Kopf behalten, dann können wir allmählich verstehen, was es für Rous­seau heißt, die Quelle der moralischen Ungleichheit nicht in der Natur des Menschen zu verorten. Dass »Natur des Menschen« genau dieselbe zweifache Bedeutung wie »Natur« im Allgemeineren aufweist, wird uns nicht weiter erstaunen. Da Rous­seau annimmt, es gebe wichtige Verbindungen zwischen der normativen und der erklärenden Bedeutung von »Natur des Menschen« – ein Thema, auf das im 3. Kapitel zurückgekommen wird – ist es wohl richtiger zu sagen, er stütze sich auf eine einzige Auffassung von der Natur des Menschen, die aber zwei verwandte Aspekte hat. Für die Logik des Rous­seau’schen Arguments bleibt es dennoch wichtig, den normativen vom nicht-normativen Aspekt seiner Auffassung von der Natur des Menschen zu unterscheiden, auch wenn es später genauso wichtig sein wird, die Frage aufzuwerfen, wie die beiden seiner Ansicht nach ineinandergreifen. (Um der sprachlichen Einfachheit willen werde ich mich weiter auf zwei Auffassungen von der Natur des Menschen beziehen, obgleich nicht vergessen werden sollte, dass sie für Rous­seau eng miteinander verbunden sind.) Rous­seaus normative Auffassung von der Natur des Menschen erscheint im Zweiten Diskurs hauptsächlich in Verbindung mit seiner Rede von der »Verdorbenheit« und der »Erniedrigung« der Natur des Menschen, welche die im zweiten Teil geschilderten Veränderungen der Menschen und ihrer Gesellschaft begleiten (DU, 81, 243 ff., 125 ff. / OC III, 133, 183 f., 207). Im Emile tritt die normative Bedeutung der Natur des Menschen stärker zutage, vor allem in der Hauptthese des Werkes, die eigentliche Aufgabe der Erziehung bestehe darin, dem Menschen zur Verwirklichung seiner wahren Natur zu verhelfen. Die Auffassung von der Natur des Menschen, die es Rous­seau ermöglicht, in beiden Schriften von der Verdorbenheit und Erniedrigung des Menschen zu sprechen, ist insofern normativ, als sie jene Charakterzüge im Einzelnen bestimmt, die Menschen zwar haben sollten, aber oft nicht aufweisen und deren Fehlen gerade das ausmacht, was Rous­seau unter einer entwürDie Natur ist nicht die Quelle sozialer Ungleichheit | 43

digten menschlichen Existenz versteht. Die Erörterung dieser Bedeutung von Natur des Menschen werde ich mir für das 3. Kapitel aufsparen, wo ich Rous­seaus nicht-normative Einstellung zur sozialen Ungleichheit rekonstruiere. In diesem Kapitel, in dem es mir um den Ursprung der Ungleichheit geht, werde ich seine beschreibende oder erklärende Auffassung von der ursprünglichen Natur des Menschen untersuchen, wie sie in seiner Schilderung des Naturzustands im ersten Teil enthalten ist. Ein Grund, um mit ihr zu beginnen, ist der, dass Rous­seaus nicht-normative Auffassung von der Natur des Menschen schwerer zu verstehen ist und typischerweise zu mehr Verwirrung führt als seine vergleichsweise einfache Auffassung von der wahren – oder idealen – Natur des Menschen. Die nicht-normative Auffassung von der ursprünglichen Natur des Menschen

Rous­seaus beschreibende oder erklärende Auffassung der ursprünglichen Natur des Menschen legt dar, wie Menschen sind – oder da ich unten behaupten werde, dass der Naturzustand ein hypothetisches Konstrukt ist (DU, 65, 81 / OC III, 123, 133)  – wie sie wären, lebten sie in einer vom Künstlichen völlig unberührten Welt, in einer Welt, in der die Natur, unsere eigene – tierische oder biologische – Natur eingeschlossen, von den Auswirkungen menschlicher Eingriffe völlig frei ist. Diese Auffassung werde ich mit Rous­seau als ursprüngliche Natur des Menschen bezeichnen (DU, 63, 67 / OC, 122 f., 126), obgleich man nicht vergessen darf, dass diese ursprüngliche Natur, da sie ja von allen Auswirkungen menschlichen Handelns absieht, in wichtigen Hinsichten als menschliche überhaupt nicht erkennbar ist. (Dieser ursprünglichen Natur des Menschen werde ich im 2. Kapitel eine weitere nicht-normative Auffassung von der Natur des Menschen gegenüberstellen, die sich ebenfalls Rous­seau zuschreiben lässt und die im wesentlich aus der ursprünglichen Natur des Menschen, ergänzt durch den amour propre, besteht. Ich werde von ihr als der Natur des Menschen im erweiterten Sinne sprechen.) Obwohl noch sehr viel mehr über diese Vorstellung zu sagen sein wird, ist bereits jetzt deutlich, dass Rous­seau in seiner Auffassung von der ursprüngli44 | Kapitel 1 

chen Natur des Menschen die »ursprüngliche Beschaffenheit« des Menschen zu fassen beabsichtigt bzw. wie der Mensch ist, so »wie ihn die Natur geschaffen hat«, unter Absehung dessen, »was die Umstände und seine Fortschritte hinzugefügt oder an seinem ersten Zustand abgeändert haben« (DU, 63 / OC III, 122). Bevor wir den Inhalt von Rous­seaus Darstellung der ursprünglichen Natur des Menschen näher betrachten, müssen wir uns mit einer Interpreta­tionsfrage auseinandersetzen, die unter den Lesern des Zweiten Diskurses zu erheblichen Kontroversen geführt hat und die für die Rekonstruktion und Bewertung der daraus folgenden Position von beträchtlicher Bedeutung ist. Ich habe bereits da­ rauf hingewiesen, dass es meiner Ansicht nach entscheidend ist, den im ersten Teil geschilderten Naturzustand als ein hypothetisches Konstrukt zu begreifen und nicht als Beschreibung eines tatsächlichen Zustands, den es irgendwann in unserer fernen Vergangenheit wirklich gegeben hat.24 Ein Grund für diese Interpreta­ tion ist der, dass sie dem Zweiten Diskurs philosophisch den meisten Sinn verleiht. Das will heißen, sie stattet das Argument Rous­seaus mit mehr Kohärenz und Überzeugungskraft aus als jede andere Lesart. Ein weiterer Grund ist allerdings der, dass Rous­seau selbst klar und deutlich sagt – so scheint es mir zumindest –, er wolle den ursprünglichen Naturzustand genau so verstanden wissen. Da viele Interpreten mir hinsichtlich dieser grundlegenden exegetischen These widersprechen, 25 lohnt es im Detail zu betrachten, mit Hilfe welcher einschlägiger Textbelege sich die Streitfrage entscheiden lässt. Den Abschnitt, der für die Beilegung der Kontroverse am wichtigsten ist, habe ich bereits zitiert, nämlich Rous­seaus Bezugnahme auf den ursprünglichen Naturzustand als auf einen solchen, »den es nicht mehr gibt, vielleicht nie gegeben hat und wahrscheinlich nie geben wird, über den man aber dennoch rechte Begriffe nötig hat, um den jetzigen Zustand richtig beurteilen zu können« (DU, 67 /  OC III, 123). Aus dieser Erklärung geht verhältnismäßig deutlich hervor, dass Rous­seau seiner Hypothese über den Naturzustand eine grundlegende Wichtigkeit für sein Unterfangen zuspricht und dass es für sein Argument nicht weiter von Belang ist, ob er sich auf einen tatsächlichen historischen Zustand bezieht oder nicht : Wenn es den Naturzustand möglicherweise nie gegeben hat, unsere VorDie Natur ist nicht die Quelle sozialer Ungleichheit | 45

stellungen von ihm aber gleichwohl für die Beantwortung der Fragen des Zweiten Diskurses wesentlich sind, dann kann Rous­seaus Interesse an dieser These überhaupt nichts damit zu tun haben, ob sie einen realen Sachverhalt darstellt. Abgesehen von allen anderen Komplikationen ist dies meiner Ansicht nach der grundlegende Punkt, der in dieser Sache im Auge zu behalten ist, und für meine Rekonstruktion des im Zweiten Diskurs vorgelegten Arguments spielt er eine große Rolle. Diesen Punkt zugestanden, lässt sich dennoch behaupten, die Möglichkeit, dass Rous­seau von der historischen Echtheit des ursprünglichen Naturzustands überzeugt ist oder sich hier zumindest nicht festlegt, sei damit nicht ausgeräumt, selbst wenn ihr, unabhängig von jenem Punkt, eine philosophische Bedeutung zukommt – schließlich sagt, er, dass es den Naturzustand vielleicht nie gegeben hat. Doch auch diese schwächeren Möglichkeiten scheinen, und das nicht weniger eindeutig, durch die folgende Aussage ausgeschlossen zu sein : Zuerst wollen wir alle Tatsachen ausschalten, denn sie berühren nicht die Frage [ob es den Naturzustand je gegeben hat].26 Man darf die Untersuchungen, in die man über dieses Thema eintreten kann, nicht für historische Wahrheiten nehmen, sondern nur für hypothetische und bedingte Überlegungen, die eher zur Erhellung der Natur der Sache als zum Aufweis des tatsächlichen Anfangs geeignet sind. Sie sind denen vergleichbar, die unsere Physiker täglich über die Entstehung der Welt anstellen. (DU, 81 / OC III, 132 f.)

Hier erklärt Rous­seau in aller wünschenswerten Klarheit, dass der Naturzustand keine historische These ist, und sein anschließender Verweis auf die Physiker untergräbt nicht, was immer Gegenteiliges man denken mag, seine Leugnung des historischen Rangs des Naturzustands, vielmehr verstärkt sie diese. Bei den hypothetischen Überlegungen der Physiker, auf die Rous­seau sich hier bezieht, handelt es sich um solche, wie sie Descartes in Die Welt und vielleicht noch andere Cartesianer des 18. Jahrhunderts angestellt haben, um kohärente Erzählungen zu konstruieren, die zwar nicht den Anspruch auf faktische Wahrheit erheben, wohl aber beschreiben wollen, wie eine geordnete Welt gleich der unsrigen 46 | Kapitel 1 

im Prinzip aus den anfänglich chaotische Bedingungen entstehen könne, sofern sie nur mit einer vorgegebenen Reihe von mechanischen Bewegungsgesetzen übereinstimme. 27 Der Witz solcher Versuche bestand nicht darin, irgendeine These über den tatsäch­ lichen zeitlichen Ursprung des Universums aufzustellen, sondern – ohne dabei eine Annahme über tatsächliche Anfangsbedingungen zu machen – darin, die Beziehungen zwischen unterschiedlichen Ordnungsebenen in der Welt zu untersuchen und zu zeigen, dass die Entstehung höherer Ebenen möglich war, selbst wenn es sich bei den einzigen die Natur beherrschenden Prinzipien um mecha­ nische Bewegungsgesetze handelt. Mit anderen Worten : Der Witz solcher Hypothesen ist, wie Rous­seau deutlich sagt, der, »die Natur der Dinge zu erhellen«  – die Kontinuitätsbeziehungen zwischen mechanischen Phänomenen und denjenigen aufzudecken, die einer ganz anderen Ordnung anzugehören scheinen  – statt dann »ihren wahren Ursprung aufzuzeigen«. Ähnlich unterfängt sich der Zweite Diskurs zu zeigen, dass die Bandbreite komplexer menschlicher Erscheinungen, die uns aus hochentwickelten Gesellschaften vertraut ist, sich durch die Annahme einer sehr kleinen Zahl »erster Prinzipien« erklären lässt, nämlich derjenigen, die in Rous­seaus Darlegung der ursprünglichen Natur des Menschen enthalten sind, ergänzt, wie ich im folgenden Kapitel erklären werde, durch das im zweiten Teil vorgestellte grundlegende »Prinzip« des gesellschaftlichen Daseins, den amour propre. Diese Prinzipien sind – das werde ich weiter unten genauer ausführen – für Rous­ seau deshalb so wichtig, weil sie die fundamentalen »Bausteine« der menschlichen Wirklichkeit liefern und die sehr allgemeinen Grenzen angeben, welche die Natur der Veränderbarkeit des Menschen gesetzt hat. Formuliert man den entscheidenden Punkt so, dann liegt es nahe, die theoretische Aufgabe des Naturzustands noch auf eine andere Weise zu beschreiben, die in einem der oben zitierten Abschnitte anklingt : Hypothesen über unsere ursprüngliche Natur erfüllen eine analytische Aufgabe, nämlich die, »zu entwirren, was an der jetzigen Natur des Menschen ursprünglich und was künstlich [ und der Gesellschaft geschuldet ]28 ist« (DU, 67 / OC III, 123), oder – was auf dasselbe hinausläuft – »zu trennen, was der göttliche Wille geschaffen hat und was die menschliche Kunst geschaffen zu haben vorgibt« (DU, 75 / OC III, 127), selbst wenn in der WirklichDie Natur ist nicht die Quelle sozialer Ungleichheit | 47

keit ­weder das Natürliche noch das Künstliche je von seinem Gegenstück losgelöst auftritt. Jedenfalls müssen wir unbedingt erkennen, dass es kein Wider­ spruch ist, die historische Wahrheit des ursprünglichen Natur­ zustands zu bestreiten und dennoch, wie ich es tue, mit diesem ­einen Wahrheitsanspruch zu verbinden, ja sogar den Anspruch, in einem gewissen Sinn empirisch wahr zu sein. Denn der erste Teil des Zweiten Diskurses bezweckt, die Wahrheit über die grund­ legen­den Elemente der Natur des Menschen aufzudecken, auch wenn diese Elemente nicht durch die Sinneswahrnehmung allein erfassbar sind  – da das Objekt unserer Untersuchung, die »ursprüngliche« Natur des Menschen, in der Wirklichkeit nie in dieser Rein­form anzutreffen ist. Das bedeutet nun nicht, die These sei in dem Sinn metaphysisch, dass man sie empirisch nicht widerlegen kann – prinzipiell ist es immer möglich, auf menschliche Phänomene zu stoßen, die auf der Grundlage der von Rous­seau der Natur des Menschen zugeschriebenen Minimalelemente nicht erklärbar sind –, es bedeutet bloß, dass es sich nicht um eine unmittelbare Tatsache der Sorte handelt, für deren Kennzeichnung man ›Der Baum vor mir ist grün‹ halten könnte. (Erinnern wir uns in diesem Zusammenhang an Rous­seaus Aufforderung, bei der Betrachtung des Naturzustands »alle Tatsachen auszuschalten« (DU, 81 / OC III, 132).) Ebenso wenig sind Behauptungen über die ursprüngliche Natur des Menschen in dem Sinn unwissenschaftlich, dass sie Hypothesen einer völlig anderen Art als die von der Naturwissenschaft aufgestellten sind. Darum ist der Vorschlag, »Versuche« im denkbar weitesten Sinn könnten mithelfen, die Frage nach unserer ursprünglichen Natur zu entscheiden, für Rous­seau nicht völlig abwegig (DU, 67 / OC III, 123 f.). Tatsächlich ist es wahrscheinlich – um eine weitere Analogie zur Physik anzuführen –, dass Rous­seau seinen Thesen über die Natur des Menschen einen ähnlichen theoretischen Rang zuweist, wie ihn Newtons erste Bewegungsprinzipien genießen : Obwohl es sich weder um empirische Verallgemeinerungen noch um unmittelbar beobachtbare Fakten handelt, beziehen Rous­seaus Thesen ihre Unterstützung aus dem Erfolg, mit dem sie, unter Hinzuziehung der Annahme von ein paar weniger grundlegenden Prinzipien der »ersten und einfachsten Regungen der menschlichen Seele« (DU, 71 / OC III, 125), die vielfältigen Formen 48 | Kapitel 1 

menschlichen Verhaltens begreifbar machen, die wir sowohl aus eigener Erfahrung als auch aus anderen empirischen Quellen kennen, etwa aus der Biologie, der Geschichte und der, wie wir heute sagen würden, Anthropologie. (Und das erklärt, warum die im Zweiten Diskurs erbrachten empirischen Belege für die große Verschiedenheit menschlicher Lebensformen, seien sie ›primitiv‹ oder entwickelt, für Rous­seaus Unterfangen relevant sind, auch wenn der ursprüngliche Naturzustand nicht als ein historischer postuliert wird. Auf diese Frage komme ich im Anhang zum 4. Kapitel zurück.) Kehren wir nun wieder zur inhaltlichen Darlegung der Rous­ seau’schen Beschreibung der ursprünglichen Natur des Menschen zurück.29 Ihr Kernstück ist das, was Rous­seau unsere »natürlichen Fähigkeiten« nennt, eben jene einfachsten Regungen der Seele, die »vor dem Verstand« in uns arbeiten (DU, 71 / OC III, 125 ff.) Anders gesagt besteht die ursprüngliche Natur des Menschen für Rous­ seau in der Naturausstattung der einzelnen Menschen, in den »ursprünglichen Anlagen« (E, 111 / OC IV, 248) und Vermögen, die sie allein, ungeachtet ihrer möglichen Ausformung durch zufällige soziale oder historische Umstände, von der Natur erhalten. In Anbetracht dessen, was oben über die Natur im Allgemeinen gesagt worden ist, ist es sinnvoll, von diesen Anlagen und Vermögen, sofern sie in ihrer natürlichen Form vorliegen, zu meinen, sie bestünden und wirkten unabhängig vom menschlichen Urteilsvermögen und Willen. Genau so beschreibt Rous­seau dann auch die beiden ursprünglichen Anlagen, die er den Menschen beilegt : Selbstliebe (amour de soi-même) und Mitleid. Beide betrachtet er als Anlagen, die uns von Geburt an mitgegeben sind und uns veranlassen, auf die Welt zu reagieren, ohne dass Meinungen oder Wille eingreifen, und damit »vor dem Verstand«. Insofern als diese Anlagen unabhängig vom Urteilsvermögen und vom Willen wirksam werden, unterscheiden sie sich nicht der Art nach von den Anlagen der Tiere. Tatsächlich hält Rous­seau sie für Anlagen, die den Menschen und (zumindest einigen) anderen Tieren gemeinsam sind. Wie das Wort besagt, ist der amour de soi-même (oder das Äqui­ valent : der amour de soi) eine Form der Selbstliebe im allgemeinsten Sinne oder des Eigeninteresses, deren Wesensmerkmal darin besteht, dass sie »uns leidenschaftlich um unser [individuelles] Die Natur ist nicht die Quelle sozialer Ungleichheit | 49

Wohlergehen und unsere eigene Erhaltung besorgt macht« (DU, 73 / OC III, 126). (Im zweiten Teil des Zweiten Diskurses führt Rous­seau eine weitere Form der Selbstliebe im allgemeinen Sinne30 ein, den amour propre, dessen Ziele sich wesentlich von denen des amour de soi-même unterscheiden. Da diese Unterscheidung in Rous­seaus Denken eine große Rolle spielt, werde ich von nun an die französischen Ausdrücke verwenden.) In seiner ganz und gar natürlichen Form, also noch bevor irgendeine Meinung darüber, worin unser Wohlergehen besteht, unser Eigeninteresse leiten kann, wirkt der amour de soi-même auf rein tierische Weise, und das bedeutet, der Naturmensch ist dazu disponiert, auf die Welt mit einem Verhalten, das unsere individuelle Erhaltung und unser Wohlergehen fördert, mehr oder weniger »mechanisch« und ohne »jegliche Reflexion« zu reagieren (DU, 170 / OC III, 154).31 Rous­seau denkt hier sicherlich daran, dass Menschen gleich anderen Tieren mit Anlagen geboren werden, die sie Lustempfindungen aufsuchen und Schmerzempfindungen meiden lassen. Diese Anlagen bewegen Geschöpfe, dazu, die Objekte in der Welt zu suchen – oder im Falle von Schmerzen zu meiden –, welche diese Empfindungen in ihnen hervorzurufen neigen (E, 111 / OC IV, 248). Zudem ist die Natur darauf angelegt – und in dieser bescheidenen Hinsicht teleologisch strukturiert  –, dass die unreflektierten Reaktionen solche Geschöpfe meistens zu einem Verhalten führen, das letztlich ihr Wohl qua Naturwesen fördert, und das heißt : ihr Überleben und Wohlergehen. Die zweite Anlage, die Rous­seau unserer ursprünglichen Natur zuschreibt, eine, die Menschen ebenfalls mit anderen Tieren teilen, ist Mitleid (pitié). Sie »flößt uns einen natürlichen Widerwillen dagegen ein, irgendein fühlendes Wesen, vor allem unseresgleichen, umkommen oder leiden zu sehen« (DU, 73 / OC III, 126). Dieser natürliche Widerwille gegen das Leiden anderer hat Folgen für das Verhalten von Naturwesen, da der Widerwille als eine Art von Schmerz ihnen einen Beweggrund liefert, das Leiden anderer zu verhindern. Eine Reaktion, die das Mitleid in uns auszulösen vermag, ist die, den Anblick des Leidens anderer zu fliehen, doch das Leiden zu lindern ist, vor allem wenn es nicht mit Mühe verbunden ist, zweifellos eine andere. Rous­seaus These, Mitleid gehöre zu unserer ursprünglichen Natur, läuft auf die Behauptung hinaus, dass der Mensch von Natur aus kein ausschließlich selbstsüchtiges 50 | Kapitel 1 

Geschöpf ist. Stattdessen ist er fähig, Schmerz allein aufgrund der Wahrnehmung des Schmerzes anderer zu empfinden, und damit ist das Fundament für eine Art natürlicher Sorge um das Wohlergehen anderer gelegt. Auf einer höheren Stufe ist damit die Antriebskraft für solche moralischen Tugenden wie Barmherzigkeit, Güte und Großzügigkeit gegeben (DU, 173 f. / OC III, 155). Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Anlage zum Mitleid ein wichtiges Element in der Erklärung des hauptsächlich wohlwollenden Charakters des ursprünglichen Naturzustands ist : »Wenn er [der Mensch im Naturzustand] nicht dem inneren Impuls des Mitleids widersteht, tut er niemals einem anderen Menschen Böses an, nicht einmal irgend einem fühlenden Wesen. Nur in dem berechtigten Falle, in dem seine eigene Erhaltung ihn parteiisch macht, ist er verpflichtet, sich selbst den Vorzug zu geben« (DU, 73 / OC III, 126). Die beiden Anlagen sind hinsichtlich ihrer Antriebskraft nicht gleichwertig, auch wenn Mitleid, wie aus diesem Zitat deutlich hervorgeht, oft ein Gegengewicht zum natürlichen Eigeninteresse des Menschen bildet und es mildert. In schweren Konflikten  – etwa wenn die Selberhaltung auf dem Spiel steht – gewinnen die Ziele des amour de soi-même die Oberhand gegenüber dem Mitleid, denn, wie Rous­seau unzweideutig erklärt, macht sich dieses nur »unter gewissen Umständen« und auch dann nur, verglichen damit, wie sich der amour de soi-même bei der Bedrohung seiner Grundinteressen Gehör verschafft, »mit leiser Stimme« vernehmbar (DU,  173 – 77 / OC III, 154 ff). Rous­seau ist daher der Ansicht, dass sich die ursprüngliche Natur des Menschen durch zwei Motivationsquellen auszeichnet – den amour de soi-même und das Mitleid –, dass wir aber, obwohl wir fähig sind, uns zur Linderung des Leidens anderer unabhängig von den Vorteilen bewegen zu lassen, die wir selbst daraus ziehen, im Grunde eigennützige Wesen bleiben, zumindest in dem vergleichsweise schwachen Sinn, dass unser eigener Schmerz letztlich für uns mehr ins Gewicht gefällt als der Schmerz anderer und dass unsere Neigung, das Leiden anderer zu lindern, von der Selbstliebe in den Schatten gestellt wird, sobald die Hilfe für unsere Mitmenschen zu einem erheblichen Schaden für uns selbst führt. Rous­seau spürt in den Zwecken dieser beiden ursprünglichen Anlagen wie auch in ihrer relativen Stärke die Grundlage der »Maxime der natürlichen Güte« auf, die uns mit Die Natur ist nicht die Quelle sozialer Ungleichheit | 51

der allgemeinen Regel für das »natürliche« menschliche Verhalten »aller Menschen« ausstattet : »Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu« (DU, 177 / OC III, 156). Der Sinn, in dem diese Maxime eine Regel für das Verhalten des Menschen bildet, kann natürlich sehr verschieden sein, je nachdem, ob wir an das Verhalten im Naturzustand denken oder an das Handeln des Menschen innerhalb entwickelter sozialer Bedingungen. In jenem – wo es an gegenläufigen Tendenzen, ausgelöst durch künstliche Bedingungen, fehlt, »ist niemand versucht, ihr nicht Folge zu leisten« – beschreibt die Maxime, wie Menschen sich tatsächlich verhalten, während sie in diesen die Form eines echten Gebots annimmt und die Menschen, die sie in der Tat befolgen oder auch nicht befolgen können, anweist, wie sie handeln sollten. (Wie Rous­ seau festhält, beinhaltet die »Natürlichkeit« der Maxime zudem, dass zivilisierte Geschöpfe einen »Widerwillen gegen üble Taten« empfinden, wenn sie ihnen in der Welt begegnen, sogar dann, wenn sie die Urheber sind.) Für Rous­seau, wie auch für die meisten seiner Vorläufer und Zeitgenossen, war es hinreichend offensichtlich, dass die Menschen in erster Linie eigennützige Wesen sind, um dafür nicht weiter argumentieren zu müssen. Wahrscheinlich würde kaum einer von uns dem nicht beipflichten. Gleichwohl lohnt es sich, die beiden hauptsächlich stillschweigenden Überlegungen zu artikulieren, auf die sich Rous­seaus These stützt. Die erste ist durch und durch empirisch : Schon allein die Beobachtung des Verhaltens unserer Mitmenschen wie auch das, was wir über das Leben von Männern und Frauen in anderen Zeiten (und an anderen Orten) wissen, macht deutlich, dass Eigennutz ein zentrales Element menschlicher Psychologie ist – oder, um es anders zu sagen, dass Individuen ihrer Natur nach starke Motive haben, ihr eigenes Wohl, so wie sie es verstehen, zu fördern. Ein zweites, weniger triviales Argument untermauert das erste : Die oft zu beobachtende Eigennützigkeit der Individuen lässt sich mit guten Gründen als etwas verstehen, was einem rein biologischen Naturzweck dient, nämlich dem Fortbestand und dem körperlichen Wohlergehen eben des Organismus, der von der Natur dazu »programmiert« ist, sein eigenes Wohl zu befördern. Die These, der amour de soi-même gehöre wesentlich zur Natur des Menschen, beruft sich damit nicht nur auf die empirische 52 | Kapitel 1 

Beobachtung des tatsächlichen Verhaltens – was, wie Rous­seau bemerkt, dazu führt, kontingente, aber sehr oft beobachtete Merkmal der Menschen zu Unrecht für Teile ihrer unveränderlichen Natur zu halten (DU, 67, 79 / OC III, 123,132) –, sondern auch auf eine allgemeinere Auffassung jener Zwecke (in diesem Fall die körperliche Erhaltung), zu deren Erreichen die Geschöpfe der Natur ausgerüstet sein müssen, wenn sie die grundlegendsten Triebe des Lebens sollen befriedigen können.32 Zweifellos ist die Behauptung, Mitleid gehöre ebenfalls zur ursprünglichen Natur des Menschen, sowohl was uns selbst als auch was Rous­seaus Zeitgenossen betrifft, sehr viel umstrittener, und möglicherweise widmet er darum den sie stützenden Argumenten größere Aufmerksamkeit. Erstens ist Rous­seau darauf bedacht, mehrere Beispiele für ein uns vertrautes menschliches Verhalten vorzulegen, die ohne die These des natürlichen Mitleids nur sehr schwer zu erklären sind. Ein offensichtliches Beispiel ist das der Mütter, die ihre eigenen Interessen  – im Extremfall ihr Leben  – dem Wohl und der Geborgenheit ihrer Kinder unterordnen. Da seine Leser geneigt sein könnten, dies für einen Sonderfall zu halten, der auf Frauen oder auf die sehr enge Bindung beschränkt ist, die Eltern zu ihrem Nachwuchs haben, bedarf es weiterer Beispiele. Diese findet Rous­seau in einer Mandeville entlehnten Szene, in der ein persönlich nicht betroffener (und männlicher) Betrachter sieht, wie ein wildes Tier ein Kind von der Brust der Mutter reißt, aber auch in der wohl bekannten Tatsache, dass Theaterbesucher sich von unbekannten, ja sogar fiktiven Charakteren, deren Leiden auf der Bühne dargestellt werden, zu Tränen rühren lassen. Zweitens werden diese Überlegungen, wie schon im Fall des amour de soimême, durch Überlegungen darüber bekräftigt, wie auch das Mitleid dazu beiträgt, die Naturzwecke zu erfüllen : Wenn der amour de soi-même der Erhaltung der Individuen dient, so dient unsere Empfänglichkeit für den Schmerz anderer einem noch größeren Naturzweck : Indem es uns »dazu bringt, ohne Nachdenken denen zur Hilfe zu kommen, die wir leiden sehen«, trägt es »zur wechselseitigen Erhaltung der ganzen Gattung« bei (DU, 175 f. / OC III, 166). Diese Betrachtung ist eng mit Rous­seaus These verbunden, dass das menschliche Verhalten zumindest im ursprünglichen Naturzustand von einem einzigen, sehr allgemeinen Zweck geleitet Die Natur ist nicht die Quelle sozialer Ungleichheit | 53

wird : »die Liebe zum Wohlbefinden ist der einzige Beweggrund der menschlichen Handlungen« (DU, 197 / OC III, 166). Das vom amour de soi-même angestrebte Wohlbefinden ist unser eigenes, das vom Mitleid angestrebte dasjenige anderer. Nachdem er die Grundelemente der ursprünglichen Natur des Menschen dargelegt und gezeigt hat, dass es im Naturzustand friedlich und freundlich zugeht, führt Rous­seau eine, wie es scheinen könnte, dritte natürliche Anlage ein : die sexuelle Leidenschaft (DU, 179 – 183 / OC III, 157 ff.). Ein großer Teil seiner Erörterung ist der einleuchtenden Ansicht gewidmet, der rein animalische Sexualtrieb (das, was am Gefühl der Liebe körperlich ist) sei, da er von Meinungen und Vorstellungen unberührt bleibt, weniger machtvoll und zerstörerisch als die sexuelle Leidenschaft – das »moralische« Element der Liebe, eng verwoben mit der Liebe für ein bestimmtes Individuum und Urteilen über den persönlichen Wert sowohl des Liebenden als auch des Geliebten –, die den Grund für so viel Eifersucht und sexuelle Rivalität unter »zivilisierten« Wesen abgibt. Was an Rous­seaus Erörterung der Geschlechtlichkeit für größere Verwirrung sorgt, zeigt sich jedoch erst auf einer fundamentaleren Ebene.33 Wie sich das sexuelle Verlangen in die beiden Kategorien der zuvor unterschiedenen natürlichen Anlagen einfügt, ist, zum Teil weil er dazu nichts sagt, schwer zu erkennen : Bezieht es seine Antriebskraft aus dem amour de soi-même oder aus dem Mitleid ? Die zunächst einleuchtendere Alternative sieht im Sexualverlangen eine Unterart des amour de soi-même, da die Lust, die das sexuelle Verhalten dem es auslebenden Individuum verschafft, zweifellos das entscheidende Motiv dafür ist. Das sexuelle Verlangen unterscheidet sich jedoch von den anderen mit dem amour de soi-même verbundenen Naturtrieben – Hunger, Durst, Schlafbedürfnis – darin, dass seine Befriedigung für das Wesen, das ihm nachkommt, nutzlos ist. Das heißt, jenseits der damit einhergehenden Lust erzeugt das Sexualverlangen für das befriedigte Individuum selbst kein Gut. Zweifellos erfüllt das Sexualverlangen einen Naturzweck der Gattung (die biologische Reproduktion), doch in dieser Hinsicht ist es dem Mitleid ähnlicher als dem amour de soi-même. Vermutlich ist der beste Schluss, zu dem wir hier kommen können, der, dass seine Motivation das rein natürliche Sexualverlangen in die Nähe des amour de soi-même rückt – was Naturgeschöpfe 54 | Kapitel 1 

dazu antreibt, sexuelle Beziehungen zu suchen, ist das Versprechen der Lust –, doch hinsichtlich des natürlichen Guts, das solche Wesen dadurch verwirklichen, gleicht es eher dem Mitleid (selbstverständlich geschieht dies »mechanisch«, ohne dass sie notwendig dieses Gut hervorbringen wollen oder sich um es kümmern). (­Sowohl der Emile (E, 438 – 4 44 / OC IV, 489 – 494) als auch der zweite Teil des Zweiten Diskurses (DU, 203 ff. / OC III, 169) machen deutlich, dass die sexuelle Leidenschaft des Menschen im Unterschied zum animalischen Verlangen notwendigerweise mit dem amour propre einhergeht, jener Form von Selbstliebe, die Rous­seau nur im zweiten Teil einführt.) Neben diesen beiden Anlagen gehören zur ursprünglichen Natur des Menschen zwei Vermögen – das eine kognitiv, das andere voluntativ –, die unabhängig von allen sozialen und historischen Entwicklungen existieren. Wir tun gut daran, nur das Gegebensein dieser Fähigkeiten, nicht aber ihr Wirken, als natürlich oder angeboren zu begreifen, denn wenn es an allen gesellschaftlichen Beziehungen fehlt, wäre die eine vollkommen latent und die andere würde auf die allerdünnste der Funk­tionen reduziert. Anzumerken ist hier, dass Rous­seau diese beiden Vermögen als spezifisch menschliche betrachtet, während er von den zwei oben erörterten Anlagen der ursprünglichen Natur des Menschen meint, sie seien den menschlichen und nicht-menschlichen Tieren gemeinsam. Damit ist zugleich gesagt, dass, was auch immer die menschliche von der bloß animalischen Existenz unterscheidet, seine letzte Quelle nicht im amour de soi-même oder im Mitleid haben kann, sondern in diesen beiden Vermögen und den Veränderungen, die sie unter den künstlichen, von der Gesellschaft und der Geschichte erzeugten Bedingungen erfahren. Das erste dieser natürlichen Vermögen ist die Vervollkommnung, die der menschlichen Gattung eigentümliche »Fähigkeit, sich zu vervollkommnen« (DU (a), 335 / OC III, 211). Im Kern besteht die Vervollkommnung aus einem Ensemble latenter, gattungsspezifischer kognitiver Vermögen – darunter die Fähigkeit der Sprache, des Denkens und der Vorstellungskraft –, die zwar von Geburt an gegeben sind, aber so lange schlummern, wie ihre Entwicklung nicht durch komplexere Umstände angestoßen wird (DU, 107 f., 189 / OC III, 142, 162).34 In seiner Erörterung der Vervollkommnung Die Natur ist nicht die Quelle sozialer Ungleichheit | 55

unterscheidet Rous­seau sorgfältig zwischen laten­ten Fähigkeiten einerseits  – den rein natürlichen Gaben, die es einem besonderen Geschöpf im Prinzip erlauben, eine bestimmte Fertigkeit oder Kompetenz zu erwerben – und verwirklichten Fähigkeiten andererseits – darunter die durch einen Entwicklungsprozess erworbene faktische Befähigung, die betreffenden kognitiven Funk­tionen auszuführen. Er ist gleichermaßen sorgfältig darauf bedacht, nur die erstgenannten in die Vervollkommnung aufzunehmen und damit nur diese nackten, unverwirklichten Fähigkeiten der ursprünglichen Natur des Menschen zuzuschreiben : »[O]bschon das Organ der Sprache dem Menschen natürlich ist, [ist] die Sprache selbst ihm gleichwohl nicht natürlich« (DU, 333 UTB/OC III, 210). Wie Rous­seau nicht müde wird zu betonen, ist für jedwede Entwicklung dieser natürlichen Fähigkeiten, die sich tatsächlich im Menschen vollzieht, das »zufällige Zusammen­w irken mehrerer äußerer Ursachen nötig, das ebenso gut auch nie hätte stattfinden können, und ohne das er [der Mensch] ewig in seinem ursprünglichen Zustand verblieben wäre« (DU, 189 / OC III, 162). Der Unterschied zwischen Menschen und anderen Tieren in Bezug auf die kognitiven Fähigkeiten, die zur Vervollkommnung gehören, ist daher, um ein besonderes Beispiel zu nehmen, nicht der, dass Menschen immer eine Sprache besitzen oder zwangsläufig eine entwickeln, während das auf andere Tiere nicht zutrifft : der Unterschied liegt vielmehr darin, dass Menschen das angeborene Potential haben, unter den richtigen äußeren Umständen Sprache zu entwickeln und zu verwenden, während anderen Tieren, gleichgültig unter welchen Umständen sie leben, dieses Potential vollständig abgeht.35 Wie viele Kommentatoren bereits angemerkt haben36, ist Vervollkommnung – ein Kunstwort, das Rous­seau selbst in den philosophischen Diskurs eingeführt hat (OC III, 1, 317 f.) – ein potentiell irreführendes Wort für das, was es bezeichnen soll. Es bezieht sich beispielsweise nicht auf angeborene Neigungen oder einen Trieb des Menschen, sich und seine Lage im Laufe der Zeit zu verbessern, sich immer mehr dem Zustand der »Vollkommenheit« anzunähern. Um welchen Typ von Vollkommenheit es sich hier auch handeln mag, ganz sicherlich geht es nicht um moralische Vollkommenheit. Im Gegenteil : Rous­seau zieht ernsthaft die Möglichkeit in Erwägung – und bekräftigt diese Überlegung in einem engeren 56 | Kapitel 1 

Sinn im zweiten Teil –, dass »diese uns auszeichnende, fast unbegrenzte Fähigkeit die Quelle alles Unglücks des Menschen ist« und die Ursache »seiner Irrtümer, seiner Laster« (DU, 109 / OC III, 142). Mit anderen Worten, der ursprünglichen Natur des Menschen das Vermögen der Vervollkommnung zuzuschreiben, bringt in keiner Weise eine optimistische Einstellung zum Schicksal des Menschen zum Ausdruck, und ebenso wenig verbirgt sich dahinter eine Behauptung über seine angeborene Güte oder seine Neigung, sein natürliches Potential zu verwirklichen. Die unübersehbaren teleologischen Konnota­tionen des Wortes sollten stattdessen sehr schwach ausgelegt werden : Menschen besitzen von Natur aus eine Reihe latenter kognitiver Fähigkeiten, die prinzipiell in dem verhältnismäßig mageren Sinn vervollkommnet werden können, dass sie eine qualitative Entwicklung vom Einfacheren zum Komplexeren durchlaufen.37 Um es noch einmal zu sagen : »Vervollkommnung« beinhaltet nicht, dass es eine einzige, festgelegte Form oder ein Telos gibt, auf das hin sich jede Fähigkeit unter idealen Bedingungen entwickeln sollte, und auch nicht, dass es eine der menschlichen Natur innewohnende Anlage gibt, die eine solche Entwicklung notwendig oder auch nur wahrscheinlich machte. Strenggenommen schließt Vervollkommnung etwas mehr als die verschiedenen kognitiven Fähigkeiten ein, von denen oben die Rede war. Über sie wird gesagt, sie sei selbst eine Fähigkeit – eine »Fähigkeit, sich selbst zu vervollkommnen« (faculté de se perfectionner). Es ist alles andere als offensichtlich, woran Rous­ seau denkt, wenn er den Menschen zusätzlich zu ihren besonderen kognitiven Vermögen noch eine allgemeine Fähigkeit, sich selbst zu vervollkommnen, zuspricht. Sie ist, um es noch einmal zu wiederholen, kein innerer Entwicklungstrieb, denn Rous­seau beharrt darauf, dass eine Entwicklung der Menschen möglicherweise nie aufgetreten wäre, wenn es an zufälligen äußeren Umständen gefehlt hätte. Liest man akribisch alle Absätze, die seine Aussage, Vervollkommnung sei selbst eine Fähigkeit – und nicht bloß eine Ansammlung spezifischer latenter Vermögen – umgeben, drängt sich der Eindruck auf, das Entscheidende an dieser Behauptung liege in der allgemeinen These, die menschliche Gattung sei im Gegensatz zu allen anderen Tiergattungen in dem Sinn äußerst formbar, als soziale und historische Umstände imstande sind, sie auf vielfältige Die Natur ist nicht die Quelle sozialer Ungleichheit | 57

und grundlegende Weise so zu verändern, dass der Mensch von heute der im allerersten Absatz des Zweiten Diskurses erwähnten Statue des Glaukus gleicht. Wie diese von der Zeit und den Stürmen mitgenommene Statue haben sich die heutigen Menschen »durch all die Veränderungen hindurch, die der Lauf der Zeit und der Dinge in seiner [des Menschen] ursprünglichen Beschaffenheit bewirken«, so sehr gewandelt, dass ihre ursprüngliche Natur »sozusagen bis zur Unkenntlichkeit« entstellt worden ist (DU, 63 ff. /  OC III, 122). (Dass unsere ursprüngliche Natur unter den gegenwärtigen Umständen nur sozusagen unkenntlich ist, ist deshalb so wichtig, weil anderenfalls die für Rous­seau so entscheidende Aufgabe, diese Natur zu erkennen, unerfüllbar wäre. Rous­seaus Behauptung in diesem Sinne aufzufassen, fügt der These von der Vervollkommnung inhaltlich nicht viel Neues hinzu, warum sie aber dennoch besondere Aufmerksamkeit verdient, ist nicht schwer zu sehen : Dieser Aspekt der Vervollkommnung ist für das Hauptunterfangen des Zweiten Diskurses wesentlich, denn die ungeheure Formbarkeit der menschlichen Gattung – ihr erstaunliches Vermögen, sich auf nahezu unbegrenzt vielfältige Weise zu entwickeln und neue Charakteristika und Fähigkeiten zu erwerben – ist hier für Rous­ seaus Behauptung unverzichtbar, die soziale Ungleichheit sei, obwohl sie überall in der uns bekannten Welt zu beobachten ist, kein notwendiges Produkt der Natur – oder der Natur des Menschen – selbst. Bei dem zweiten Vermögen, das Rous­seau der ursprünglichen Natur des Menschen zuschreibt, handelt es sich um eine primitive Form des freien Willens – um ein »Vermögen … des Wählens« –, die er als die Fähigkeit beschreibt, dem, was wir als Instinkt38 oder Antrieb der Natur bezeichnen könnten, zu folgen oder zu widerstehen : »Die Natur befiehlt jedem Wesen, und das Tier gehorcht. Der Mensch fühlt gleichfalls ihr Drängen, aber er erkennt sich als frei, um nachzugeben oder zu widerstehen« (DU, 107 / OC III, 141 f.). Bei der Einführung dieses Merkmals der ursprünglichen Natur des Menschen macht Rous­seau klar, dass diese Art von Freiheit den Menschen zuzusprechen heißt, ihnen eine »metaphysische« Eigenschaft beizulegen (DU, 105 / OC III, 141). Er versteht darunter eine Eigenschaft, die den Menschen über das Reich der reinen Natur – und damit über alle anderen Tiere – erhebt, da dieses als ein Bereich 58 | Kapitel 1 

zu verstehen ist, der ausschließlich von deterministischen Kausalgesetzen beherrscht wird : »[I]n dem Vermögen des Wollens … hat man nur rein geistige Akte vor sich, über die man nichts vermittels der Gesetze der Mechanik ausmacht« (DU, 107 / OC III, 142). Geschöpfen, denen es an Sprache und Vernunft gebricht, einen freien Willen zuzusprechen ist, wie Rous­seau erkennt, eine heikle Sache. Aus diesem Grund ist er darauf bedacht, den freien Willen, wie er der ursprünglichen Natur des Menschen eigen ist, so dünn wie möglich zu charakterisieren. In der Regel kennzeichnet er unser ursprüngliches Vermögen, frei zu handeln, durch einen Mangel, nämlich das Fehlen derjenigen Instinkte, die das Verhalten anderer, nicht-menschlicher Tiere mit strenger Notwendigkeit festlegen : Während »das Tier nicht den ihm vorgegebenen Gesetzen entgehen kann«, kann der Mensch, selbst der primitivste, frei, ohne dazu genötigt zu sein, wählen, ob er dem Drängen der Natur nachgibt oder es missachtet (DU, 107 / OC III, 141). Wenn er dem Menschen als Teil seiner ursprünglichen Natur einen freien Willen zuschreibt, möchte Rous­seau uns damit ein angeborenes Vermögen beilegen, das weder durch Ursachen noch durch Gründe ausreichend bestimmt ist, das heißt eine Spontaneität, die sich am besten dadurch kennzeichnen lässt, dass sie nicht gezwungen ist, auf die Anreize der Natur auf vorherbestimmte Weise zu reagieren. Selbstredend wird der freie Wille, sobald er wie die anderen ursprünglichen Merkmale des Menschen eine Entwicklung durchlaufen hat, unter zivilisierten Bedingungen ganz anders als die nackte Form aussehen, die er in primitiven Geschöpfen annimmt. Der freie Wille, so wie er uns im zweiten Teil des Zweiten Diskurses entgegentritt, besteht darin, diejenigen unter den eigenen Wünschen auszuwählen, die man in Übereinstimmung mit seinen »Überzeugungen« über die eigene Person und die von ihr präferierten Güter befriedigt.39 (Im Gesellschaftsvertrag wird Rous­seau auf eine noch komplexere Form der Freiheit hinweisen, auf eine, die Menschen nur besitzen, wenn sie unter gerechten politischen Institutionen leben : eine Art von Autonomie, die darin besteht, seine Handlungen an selbst aufgestellten Gesetzen auszurichten (GV, 1.8). Der Zweite Diskurs, in dem Autonomie nicht vorkommt, liefert den negativen Teil von Rous­seaus Begründung der These, die höchste Form der Freiheit sei nur innerhalb einer rechtmäßigen Republik möglich.) Die Natur ist nicht die Quelle sozialer Ungleichheit | 59

Während es verhältnismäßig unpro­blematisch ist, dass Rous­ seau der ursprünglichen Natur des Menschen Vervollkommnung zuschreibt– schließlich sehen wir die ihn interessierenden latenten Vermögen bereits in realen Menschen verwirklicht –, ist seine Position hinsichtlich des freien Willens im Naturzustand umstrittener, insbesondere seine Behauptung, auch ohne Sprache und Vernunft sei es möglich, eine freie Wahl zu treffen. Bevor wir Rous­seaus Behauptung verwerfen, sollten wir uns jedoch klar machen, was genau er behauptet. Vor allem müssen wir uns daran erinnern – was wir bei der Interpreta­tion des Zweiten Diskurses ohnehin immer tun sollten –, dass der Naturzustand bei Rous­seau den Rang einer reinen Hypothese hat und dass er nicht beabsichtigt, reale oder real mögliche Menschen zu beschreiben. Er möchte vielmehr ein Bild davon entwerfen, wie Menschen wären, hätten nicht (kontingente) soziale oder historische Umstände ihre ursprüngliche Natur modifiziert. Rous­seau behauptet also nicht, reale, wie Tiere in Urwäldern hausende Menschen hätten, zu irgendeinem Zeitpunkt, bevor sie in Gesellschaften lebten und bevor sich über Sprache und Denken verfügten, gewählt, welchem Drang sie nachgeben wollten. Seine Darstellung der ursprünglichen Natur des Menschen – ein Teil seiner Vorstellung vom Naturzustand im Allgemeinen  – ist als ein analytisches Werkzeug konzipiert, das all die verschiedenen unabhängigen und grundlegenden Vermögen (in Abstraktion von allen sozialen Umständen) aussondern soll, welche vorausgesetzt und zusammengeführt werden müssen, um die basalen Merkmale aller Formen menschlichen Lebens zu verstehen, wie es sie sich in seiner erstaunlichen Vielfalt vor uns ausbreitet. So wie das Mitleid in die Reihe der natürlichen Anlage aufzunehmen war, weil der amour de soi-même gewisse uns bekannte reale Formen des menschlichen Verhaltens auf sich allein gestellt nicht zu erklären vermochte, so ist die Hypothese des freien Willens erforderlich, um einigen basalen Merkmalen der menschlichen Wirklichkeit, wie wir sie erleben und verstehen, gerecht zu werden. Der ursprünglichen Natur des Menschen einen freien Willen zuzuschreiben, heißt daher zu behaupten, in einer Theorie der menschlichen Natur, deren Absicht es ist, die menschliche Beschaffenheit in all ihrer Komplexität zu begreifen, fehlte ein grundlegendes Element, wenn sich die Theorie auf die kognitiven Vermögen der Vervollkommnung und die An60 | Kapitel 1 

lagen zum amour de soi-même und zum Mitleid beschränkte. Eine solche Theorie wäre nicht imstande, dem Bereich des Voluntativen einen Ort in ihrem Bild von der Verfasstheit des Menschen anzuweisen – also der ganzen Bandbreite von Phänomenen, die für uns mit dem menschlichen Willen verbunden sind, mit der Fähigkeit des Menschen, seine eigenen Handlungen zu bestimmen, statt sich von außen bestimmen zu lassen. Wenn wir am Ende zu einem Bild vom zivilisierten Menschen gelangen wollen, das Platz für freies Handeln hat, dann, so Rous­seaus Überlegung, muss die Grundlage für diese Freiheit in der ursprünglichen Natur des Menschen zu lokalisieren sein. Der Grund dafür ist der, dass alles, was als echte Freiheit gilt, nach Rous­seaus Ansicht ein Element metaphysischer Unabhängigkeit von den kausalen Naturgesetzen in sich tragen muss (DU, 105 / OC III, 141)40. Dieser Aspekt menschlichen Handelns wird sich aber niemals aus einer Entwicklungsgeschichte ergeben, die allein auf einer Theorie der menschlichen Natur fußt, die, weil sie nur Vervollkommnung und natürliche Anlagen in Anschlag bringt, auf rein naturalistische Erklärungen beschränkt bleibt. Wenn an irgendeinem weiter fortgeschrittenen Punkt des Zivilisationsprozess Spontaneität zu beobachten ist, dann muss sie, folgert Rous­seau, in irgendeiner Form zur ursprünglichen Ausstattung gehört haben, die sich in der Zivilisation weiterentwickelt, denn ein metaphysischer Unterschied dieser Art – zwischen kausal bestimmter Natur und selbstbestimmter Freiheit – kann nicht durch die Entwicklung per se entstehen. Die »Phänomene«, die wir als Äußerungen des freien Willens betrachten, sind selbstverständlich nicht Phänomene in demselben Sinn wie die oben zur Unterstützung der Hypothese vom natürlichen Mitleid angeführten Verhaltensbeispiele. Genauer gesagt, sind für die Letzteren die sie begründenden Belege in empirisch beobachtbarem Verhalten zu suchen – wie auch in einer allgemeinen These über die natürlichen Fortpflanzungszwecke von Lebewesen  –, während es für die Hypothese des freien Willens keinen strikt empirischen Beleg geben kann. Das heißt, menschliche Handlungen, die wir für frei halten, lassen sich zwar empirisch beobachten, aber dass sie freier Selbstbestimmung entspringen und nicht notwendige Wirkungen vorangegangener, durch deterministische Gesetze erklärbarer Ursachen sind, lässt sich in keiner Die Natur ist nicht die Quelle sozialer Ungleichheit | 61

Weise aufgrund empirischer Tatsachen selbst annehmen. Rous­seau ist sich völlig bewusst, dass seine »metaphysische« Hypothese des freien Willens weder in empirischen Beobachtungen noch in rein theoretischen Betrachtungen darüber gründet, was zur Erklärung empirisch beobachteter Phänomene gegeben sein muss (deterministische Naturgesetze könnten solche Anforderungen allerdings sehr wohl erfüllen). Aus diesem Grund bezeichnet er die Hypothese des freien Willens an anderen Stellen auch als »Glaubens­ artikel« und versucht seinen Glauben an den freien Willen mit dem Zeugnis seiner »inneren Stimme« zu begründen, eine Stimme, die jeder Mensch, wenn er nur darauf achtet, vernehmen kann und die in jedem, der ihr zuhört, das gleiche »Gefühl [seiner] Freiheit« hervorruft : »Man mag es mir abstreiten, soviel man will, ich fühle es, und das Gefühl, das zu mir spricht, ist stärker als die Vernunft, die dagegen ankämpft. … gebe ich nach oder widerstehe ich, unterliege ich oder bin ich Sieger, immer fühle ich vollkommen klar in mir, ob ich tue, was ich tun wollte …« (E, 572 ff. / OC III, 585 ff.).41 Es sollte daher deutlich sein, dass die Überlegungen, die Rous­seau dazu bewegen, den freien Willen zu den Bestandteilen der ursprünglichen Natur des Menschen zu zählen, ganz anders gelagert sind als diejenigen, die ihn veranlassen, ihr Vervollkommnung, amour de soi-même und Mitleid zuzurechnen. Dass wir Menschen für frei halten, geschieht nicht auf der Grundlage empirischer oder anderer theoretischer Belege, die Unterstützung für diese Hypothese stammt vielmehr aus einer anderen Quelle, aus einem »Blick nach innen«, der nur aus der Perspektive der ersten Person möglich ist und der einen Beleg liefert, den man nur in Bezug auf das eigene Handeln gewinnen kann.42 Richtig verstanden ist Rous­seaus Zuschreibung des freien Willens zur ursprünglichen Natur des Menschen, sowohl was den Inhalt als auch was ihre Begründungen betrifft, nicht weit von Kants wohlbekannter These entfernt, dass Menschen über Wahlfreiheit, ein arbitrium liberum, verfügen, die sie von nicht-menschlichen Tieren unterscheidet, welche nur ein arbitrium brutum besitzen, wobei der Unterschied der ist, dass jene von natürlichen Impulsen affiziert (oder beeinflusst), aber nicht bestimmt werden, während diese stets durch die natürlichen Impulse, die sie verspüren, bestimmt werden. 43 Die Hinsicht, in der sich Rous­seaus Position 62 | Kapitel 1 

am bedeutsamsten von der Kantischen unterscheidet – und dieser Unterschied ist zweifellos ein substantieller – ist in seiner These zu suchen, dass der Unbestimmtheitscharakter des Willens der Vernunft vorausgeht und in seiner Existenz von ihr unabhängig ist. (Für Kant, so wie ich ihn verstehe,44 sind nur Geschöpfe, die auch über reine praktische Vernunft verfügen, imstande, sich nicht von außen bestimmt zu lassen, sich also durch das arbitrium liberum auszuzeichnen – das heißt, es müssen Geschöpfe sein, die sich als unter einer Verpflichtung stehend verstehen und die dazu fähig sind, ihren Willen nach dem moralischen Gesetz, der obersten Maxime der reinen praktischen Vernunft, zu bestimmen. Wenn dies richtig ist, dann ist der freie Willen selbst in dem minimalen Sinn, in dem Rous­seau ihn der ursprünglichen Natur des Menschen zuschreibt, nicht von der Vernunft unabhängig denkbar.) In anderen Fragen ist die Ähnlichkeit zu Kant zweifellos gegeben, doch was das Verhältnis von Freiheit und Vernunft betrifft, steht Rous­seau in einer anderen großen Denktradition, in der des Voluntarismus, demzufolge Wahlfreiheit nicht die Ausübung der Vernunft erfordert. Für diese Tradition gleicht der Willensakt eher einem spontanen, unbegründeten »picking« oder Herausgreifen, und das beschreibt genau den Typus von Willensfreiheit, den Rous­seau der ursprünglichen Natur des Menschen beilegt. Eine andere Frage, in der Leser des zweiten Diskurses manchmal uneinig sind, bezieht sich auf das Verhältnis von Freiheit und Vervollkommnung. Wenn die oben vorgelegte Darstellung der ursprünglichen Freiheit richtig ist, dann sind die beiden Fähigkeiten strenggenommen voneinander unabhängig : Die Spontaneität des Willens setzt weder Vernunft noch Sprache voraus, und die bloße Existenz der latenten kognitiven Vermögen hängt in keiner Weise vom Vorliegen oder der Ausübung des Willens ab. Allerdings wird die Sache kniffliger, wenn man sich fragt, ob die Entwicklung der Vervollkommnung – die tatsächliche Entfaltung unserer latenten Vermögen – am freien Willen hängt. Rous­seaus meint, dass dem so ist, aber dennoch ist zu klären, was genau seine Behauptung beinhaltet. Die mit der Vervollkommnung einhergehende Entwicklung bedarf der Ausübung von Freiheit, wenngleich in einem sehr besonderen Sinn : Die Entwicklung selbst ist von dem Geschöpf, das sie erfährt, zwar nicht gewollt – nicht bewusst beabsichtigt –, aber Die Natur ist nicht die Quelle sozialer Ungleichheit | 63

sie ist die unbeabsichtigte Folge frei gewählter Handlungen, die sich auf andere Zwecke richten. Als ungünstige Klimabedingungen und die größer werdende Zahl von Fresskonkurrenten die primitiven Menschen veranlassten, Angelhaken anzufertigen sowie Pfeil und Bogen zu erfinden, was in der Folge ihre Fähigkeit entwickelte, verschiedene Dinge in ein Verhältnis zueinander zu setzen, bestand das Ziel dieser schöpferischen Taten – frei insofern, als sie trotz ihrer Motivation durch den amour de soi-même spontane Abweichungen vom »Instinkt« darstellten – darin, den Hunger zu befriedigen, und nicht darin, Fähigkeiten zu vervollkommnen. Sich Klarheit über das Zusammenspiel von Freiheit und Vervollkommnung zu verschaffen, ist deshalb wichtig, weil wir dadurch verstehen, wie die kontingente Entwicklung der Menschen und ihrer Gesellschaft, die im Zweiten Diskurs eine so große Rolle spielt, sowohl das Ergebnis als auch nicht das Ergebnis des menschlichen Willens sein konnte : Sie ist das Ergebnis freier menschlicher Tätigkeit – ein Zustand, in den wir, nicht Gott oder die Natur, die Welt versetzt haben –, doch ist sie kein beabsichtigtes Ergebnis unseres Willens. Mit anderen Worten, der im zweiten Teil geschilderte Zivilisationsprozess (und folglich die Verschlechterung der menschlichen Gattung) muss als unserer eigenes Tun aufgefasst werden – als etwas, für das wir in dem Sinn verantwortlich sind, dass es das Ergebnis unserer freiwilligen Wahlakte ist und daher auch anders hätte ausfallen können –, nicht aber als eine Entwicklung, an der wir moralisch schuld sind (da wir sie weder beabsichtigt haben noch ihre Folgen, auch nicht in ihren frühen Stadien, hätten vorhersehen können). Selbst wenn »die Mehrzahl unserer Leiden unser eigenes Werk sind« (DU, 99 / OC III, 138), sind sie doch nicht Ergebnisse unseres bösen Willens (oder der Erbsünde). Welche Bedeutung dieser Lehre für Rous­ seaus Unterfangen zukommt, liegt auf der Hand : Am Schluss der Erklärung für den Niedergang der menschlichen Gattung stehen Gott und die Natur – und auch wir – schuldlos oder »gerechtfertigt« dar (DU, 109 Anm. / OC III, 202), und die Verantwortung für die Verbesserung der von uns bewohnten Welt geht auf uns, die freien Schöpfer eben jener Eigenschaften über, die wir der Kritik der sozialen Ungleichheit zufolge verändern müssen. Rous­seaus Naturzustand – und die damit einhergehende Darstellung der Natur des Menschen  – weist ein hervorstechendes 64 | Kapitel 1 

Merkmal auf, das bei seinen Lesern auf viel Kritik gestoßen und bislang von mir kaum berührt worden ist. Gemeint ist der durch und durch individualistische Charakter der ursprünglichen Natur des Menschen, wie er sich in dem wiederholt betonten Umstand spiegelt, dass der Naturzustand bar aller sozialer Beziehungen ist und es der ursprünglichen Natur des Menschen an allen Fähigkeiten und Anlagen fehlt, die von der menschlichen Gesellschaft abhängen oder sie betreffen. Diese atomistische Ansicht ist für Rous­seaus Vorstellung des Naturzustands so grundlegend, dass sich seine Auffassung von der ursprünglichen Natur des Menschen auch als der Versuch kennzeichnen lässt, diejenigen basalen Anlagen und Fähigkeiten festzuhalten, die jedem Menschen qua Individuum von der Natur ungeachtet aller Beziehungen, die sie zu anderen Menschen möglicherweise haben, verliehen worden sind. Anders formuliert, wenn Rous­seau der ursprünglichen Natur des Menschen amour de soi-même, Mitleid, Vervollkommnung und einen freien Willen zuspricht, dann behauptet er damit, dass es sich dabei um Merkmale des Menschen handelt, die im Prinzip dem Einzelnen für sich genommen zukommen, also selbst dann, wenn er außerhalb einer Gesellschaft lebt (unbeschadet der Tatsache, dass Menschen niemals in einem so isolierten Zustand existiert haben). Statt Rous­seaus individualistische Auffassung in Bausch und Bogen zu verwerfen, lohnt sich der Versuch zu verstehen, warum Rous­seau so vorgeht, wobei man stets bedenken muss, und das tue ich hier, dass er letztlich nicht dem Irrtum aufsitzt, den ihm sehr viele Leser vorhalten, dass er nämlich alles, was zu unserer sozialen Existenz gehört, für etwas hält, das unserer »wahren« Natur – im normativen Sinn – äußerlich ist. Eine Möglichkeit, Rous­seaus individualistische Auffassung unseres Naturzustands zu verstehen, ist die, darin den Versuch zu sehen, das stoische Prinzip der Geselligkeit außer Acht zu ­lassen (DU,  73 / OC III, 126), das frühere Naturrechtstheoretiker, insbe­ sondere Grotius und Barbeyrac, in ihr Bild von der Natur des Menschen aufgenommen haben. Diese Denker begreifen die Geselligkeit als eine angeborene Empfindung, die allen Menschen eigen ist und sie geneigt macht, sich um das Wohlergehen anderer zu kümmern, gleichgültig in welcher Beziehung es zu ihrem eigenen Wohl steht, und die sie aus mehr als nur zweckdienlichen Die Natur ist nicht die Quelle sozialer Ungleichheit | 65

Gründen die verschiedensten sozialen Beziehungen eingehen lässt. Rous­seaus Hauptgrund für die Ablehnung der Geselligkeit scheint der zu sein, dass sie in den Bereich der Natur zu viel Soziales einschließt und uns so den Blick für die Künstlichkeit, vor allem aber für die Formbarkeit unserer sozialen Institutionen und unseren Wunsch verstellen würde, Bande zu anderen Menschen zu knüpfen. Die Wünsche, die uns dazu antreiben, Familien, Staaten und Wirtschaftsbeziehungen zu gründen, sind für ihn ein Produkt von Kultur und Geschichte. Keinem angeborenen menschlichen Trieb von der Art, wie die Geselligkeit es sein soll, ist eine »natürliche« Blaupause für diese Institutionen abzulesen. Während Rous­seaus Haltung zur These von der Geselligkeit vielschichtig ist, würde die Aussage nicht zu weit gehen, dass das, was in seiner Vorstellung von der menschlichen Psychologie an ihre Stelle tritt, die Verbindung von Mitleid, einer »natürlichen« Empfindung, mit dem amour propre, einer »künstlichen« Leidenschaft, ist. Jenes hilft zu erklären, wie Individuen positiv veranlagt sein können, das Wohl – oder die Schmerzlosigkeit – anderer zu wünschen, wohingegen dieser – wie im nächsten Kapitel deutlich werden wird – erklärt, warum zivilisierte Menschen das anhaltende Bedürfnis verspüren, soziale Beziehungen zu knüpfen und zu pflegen.45 Rous­seaus individualistischem Ansatz lässt sich wohl am besten dadurch Sinn verleihen, dass man betrachtet, wie er aus seiner fundamentaleren Absicht folgt, den Menschen in einem vollkommen un-künstlichen Zustand zu charakterisieren. Dabei kommt es vor allem darauf an zu verstehen, warum er das Natürliche – aller Künstlichkeit Freie – der Geselligkeit so weit entrückt. Dieser Verbindung liegt nämlich der Gedanke zugrunde, dass soziale Beziehungen für die Entwicklung und die Ausübung eben der Fähigkeiten, von denen die Künstlichkeit abhängt, unverzichtbar sind und sich davon nicht trennen lassen. Bedenkt man, dass Künstlichkeit sich durch den Eingriff menschlicher, durch Meinungen vermittelter Handlungen auszeichnet, dann geht Künstlichkeit notwendig mit sozialen Beziehungen Hand in Hand, jedenfalls wenn Menschen ihre Fähigkeit zu urteilen nur in Gesellschaft entwickeln und ausüben können. Genau das trifft nach Rous­seaus Ansicht zu, denn er glaubt, dass Sprache und Denken – die beiden Voraussetzungen, um Urteile zu fällen und überlegt zu handeln – etwas 66 | Kapitel 1 

sind, worüber nur soziale Geschöpfe verfügen können. Zugleich meint er, dauer­hafte soziale Beziehungen führten mehr oder weniger automatisch46 dazu, dass sich solche Fähigkeiten wie Sprache und Vernunft entwickeln, welche unvermeidlich Meinungen in die menschlichen Angelegenheiten hineintragen. Seine Auffassung ist mit anderen Worten die, dass es ohne Sprache und Denken keine echte soziale Existenz gibt und dass es umgekehrt für Geschöpfe, die ein so isoliertes Leben führen wie diese fiktiven Bewohner des ursprünglichen Naturzustands, keine Sprache und kein Denken gibt. Aus alldem folgt, dass, um den Menschen zu sehen, »wie ihn die Natur geschaffen hat«, bevor seine »ursprüngliche Beschaffenheit« sich »im Schoß der Gesellschaft« veränderte (DU, 63 f. / OC III, 122), wir ihn notwendigerweise unter Abstraktion von seinen sozialen Beziehungen betrachten müssen. Doch selbst wenn damit erklärt ist, warum Rous­seau das Natürliche mit dem Unsozialen verbindet, ist unsere ursprüngliche Frage nur nach hinten verschoben worden : Wenn Menschen niemals in einer Situation leben, in der sie weder über Sprache noch Denken, noch soziale Beziehungen verfügen, und wenn eine solche Situation – wie wir im 3. Kapitel sehen werden – unvereinbar damit ist, was Rous­seau für eine passende menschliche Existenzform hält, warum ist er dann so sehr darauf aus sich vorzustellen, wie die ursprüngliche Natur des Menschen beschaffen ist ? Rous­ seaus umfassende Antwort auf diese Frage ist vielschichtig und sie darzulegen wird uns im Rest dieses Buches über weite Strecken beschäftigen. Doch schon jetzt ist es möglich, einen Teil dieser Antwort zu verstehen. Da die Idee der ursprünglichen Natur des Menschen ein analytischer Kunstgriff ist, der den Beitrag der Natur zu unserem realen Erscheinungsbild von unseren künstlichen Merk­malen – solchen, die den sozialen und historischen Umständen geschuldet sind, und folglich den durch unser Eingriffen in die Welt verursachten – trennen soll, lässt sich die oben gestellte Frage folgendermaßen umformulieren : Warum ist Rous­seau so sehr darauf aus sich vorzustellen, was an unserer gegenwärtigen Situation auf die Natur zurückgeht und was unserer eigenen Freiheit entspringt (schließlich sind die Gesellschaft und Geschichte unsere eigenen, wenngleich in der Regel unbeabsichtigten Schöpfungen) ? Enthalten ist die Antwort auf diese umformulierte Frage in dem, Die Natur ist nicht die Quelle sozialer Ungleichheit | 67

was bereits über die Bedeutung der Unterscheidung zwischen dem Natürlichen und dem Künstlichen für Rous­seau gesagt worden ist, dass nämlich damit die Trennlinie zwischen dem, was uns notwendig und unabänderlich von der Natur mitgegeben wurde, und dem, was, da es letztlich von unserer freien Wahl abhängt, zufällig und variabel ist und in dem Sinn bei uns steht, dass wir es im Prinzip durch unser Handeln ändern könnten. In Anbetracht dessen ist es von großer Bedeutung, dass die Anlagen und Fähigkeiten, die Rous­seau der ursprünglichen Natur des Menschen zuschreibt, nach Anzahl und Inhalt recht dürftig sind. Denn ein Ziel seiner Darstellung der Natur des Menschen besteht in der Erklärung der nahezu grenzenlosen Vielfalt von Lebensformen, die von historischen und anthropologischen Beobachtungen als Möglichkeiten menschlichen Daseins aufgewiesen worden sind. Doch obwohl Rous­seau zu den radikalsten Verfechtern der großen Spannbreite menschlicher Kultur und der Wandelbarkeit unserer ursprünglichen Anlagen zählt, setzt er mit seiner Darstellung der ursprünglichen Natur des Menschen dessen Wandelbarkeit auch sehr breite natürliche Grenzen – Grenzen, die dazu dienen werden, bestimmte Antworten auf Übel, die im 2. Teil des Zweiten Diskurses zur Sprache kommen, als utopisch zu verwerfen und die wichtige normative Folgen für die Verhaltensweisen nach sich ziehen, die wir in Anbetracht der Einschränkungen ihrer ursprünglichen Natur von Menschen erwarten dürfen. Die Quelle der sozialen Ungleichheiten liegt nicht in der Natur des Menschen

Kommen wir nun auf die Hauptthese zurück, die der ursprüng­ liche Naturzustand zusammen mit seinem Bild von der Natur des Menschen begründen soll, dass nämlich soziale Ungleichheiten ihre Quelle nicht in der Natur haben. Worauf ich oben bereits hingewiesen habe, besteht ein Teil dieser These in der Behauptung, die ursprüngliche Natur des Menschen allein liefere keine psychologischen Anreize, mit denen sich erklären ließe, warum Menschen ein Motiv haben, die Ungleichheiten anzustreben, die sie tatsächlich schaffen. Anders ausgedrückt : Keine der beiden Arten von Moti68 | Kapitel 1 

ven, die sich aus den ursprünglichen Anlagen des Menschen ergeben, macht ihn geneigt oder gibt ihm Gründe, Ungleichheiten anzustreben – es sei denn sehr kurzfristige Vorteile, die unter bestimmten Umständen wünschenswert sind, weil sie einem anderen Zweck dienen. Im Falle von Mitleid liegt das auf der Hand : Obwohl es denkbar ist, dass ein kurzfristiger Vorteil unter ungewöhnlichen Umständen dem Zweck nützen könnte, das Leiden anderer zu lindern – beispielsweise wenn ein Angreifer, der einer schwachen dritten Partei Leid zufügen möchte, über große Körperkraft verfügt –, gibt es keinen Grund zu meinen, dass Empfänglichkeit für den Schmerz anderer den Naturmenschen systematisch dazu motivieren sollte, Ungleichheiten anzustreben, sei es mit Blick auf ihr eigenes Wohl oder als Mittel für den charakteristischen Zweck des Mitleids, Schmerzen anderer zu verringern.47 Wo es um den amour de soi-même geht, liegt der Fall komplizierter. Rous­seau behauptet jedoch auch hier, dass es im rein natürlichen Eigeninteresse nichts gibt, was Menschen dazu bewegen könnte, um ihrer selbst willen Ungleichheiten zu wünschen : Bei den vom amour de soimême erstrebten Gütern – etwa Nahrung, Unterkunft und Schlaf – handelt es sich ausnahmslos um Güter, die nicht-relativ sind bzw. nicht von der jeweiligen Stellung der Menschen zueinander abhängen, und daher bestehen sie weder in Vorteilen gegenüber anderen, noch werden sie dadurch bestimmt. Wie gut ich nachts schlafe, befriedigt mein eigenes Ruhebedürfnis und ist ganz und gar davon unabhängig, wie gut oder schlecht die Menschen um mich herum ihre Nacht verbracht haben. Der bloße Wunsch nach geruhsamem Schlaf gibt mir keinen Grund an die Hand, besser als andere schlafen zu wollen. Aber könnte der amour de soi-même nicht Wesen, die ihn besitzen, mit einem ständigen Anreiz ausstatten, Ungleichheiten als Mittel zu ihren Zwecken zu erstreben ? Viele Philosophen neigen zur Bejahung dieser Frage – Hobbes ist dafür das berühmteste Beispiel und sicherlich der wichtigste Gesprächspartner, an den Rous­ seau hier denkt48 – und auch der gesunde Menschenverstand wäre schnell mit einem ›Ja‹ dabei, denn es fällt (uns) leicht, sich plausible Szenarien vorzustellen, in denen man das, was man wünscht oder benötigt, nur bekommt, wenn man andere übertrumpft. Dennoch ist es wichtig, sich über die Hintergrundannahmen, die in solche Die Natur ist nicht die Quelle sozialer Ungleichheit | 69

Szenarien einfließen, im Klaren zu sein. Eine Situation, auf die Philosophen oft hinweisen, wenn sie über Selbstliebe im Allgemeinen nachdenken, ist die, in der mehrere eigennützigen Individuen vor der Aufgabe stehen, eine Torte in Stücke zu schneiden und sie unter sich zu verteilen. Ihr Eigennutz wird jeden Einzelnen dazu bewegen, sich selbst das größte Stück zuzuschanzen.49 In Anbetracht dieser beiden Annahmen – der Wunsch, seinen Anteil schrankenlos zu vergrößern, und die festgelegte Menge des zu verteilenden Guts – erkennt man leicht, wie Menschen veranlasst werden können, nach Bedingungen der Ungleichheit zu streben. Was Rous­seau bezweckt, wenn er ein so dürftiges Bild der ursprünglichen Natur des Menschen malt, lässt sich jedoch unter anderem so verstehen, dass er damit die Naturgegebenheit dieser vorausgesetzten Bedingungen anzweifelt. Bezogen auf die erste würde Rous­seau entgegnen, dass nichts am rein natürlichen amour de soi-même den Wunsch zu erklären vermag, ein gewünschtes oder benötigtes Gut zu maximieren – im Gegensatz dazu, lediglich hinreichend davon zu erhalten, um ein bestimmtes Bedürfnis oder einen bestimmten Drang zu befriedigen. Anders gesagt : Obwohl er in den uns bekannten Gesellschaften sehr weit verbreitet ist, ist der Wunsch, etwas zu maximieren – insbesondere der Wunsch, unbegrenzt zu maximieren –, kein Wunsch, den die Natur uns einpflanzt, und das heißt, er ist nicht in den Zwecken der Selbsterhaltung und des rein animalischen Wohlergehens allein enthalten. Stattdessen beruht der Wunsch, so viel wie möglich für sich rauszuschlagen, ebenso auf Meinungen darüber, worin das eigene Wohlergehen besteht, wie auch auf erworbenen Gewohnheiten und Anlagen, die jedoch nach Rous­seaus Ansicht nicht dem Reich der Natur angehören, sondern dem des Künstlichen, Veränderlichen und gesellschaftlich Geformten, also dem, was das Produkt menschlicher Freiheit ist. Die allein dem natürlichen amour de soi-même entspringenden Begierden und Bedürfnisse besitzen einen natürlichen und verhältnismäßig leicht zu erreichenden Sättigungspunkt, jenseits dessen sie aufhören, Forderungen an ihren Träger zu stellen, natürlich nur so lange, bis die normalen Naturkreisläufe sie wieder entzünden. Die (uns) vertrauten Phänomene der Begierden, die die natürlichen Bedürfnisse übersteigen oder nicht über einen Sättigungspunkt verfügen, entspringen in Rous­seaus Augen eher den kontingenten 70 | Kapitel 1 

sozialen und historischen Umständen als der Natur, und sich Klarheit darüber zu verschaffen, unter welchen Umständen sie auftreten, ist eine der Hauptaufgaben des 2. Teils. Nun könnte jemand meinen, um aus dem amour de soi-même einen Anreiz zur Herstellung von Ungleichheit abzuleiten, brauche man nur die Beispiele auszutauschen und sich auf das nicht weniger vertraute Szenario zu konzentrieren, in dem etwa vier Schiffbrüchige in einem Rettungsboot treiben, das nur für drei gemacht ist. Damit hätten wir ein einleuchtendes Szenario, das, indem es zeigt, wie der amour de soi-même den Wunsch erzeugen kann, gegenüber anderen im Vorteil zu sein, aus der Natur selbst eine Anlage zur Herstellung von Ungleichheit erzeugt. Insofern es vermeidet, einen künstlichen Impuls zur Maximierung der eigenen Güter zu postulieren und den Individuen lediglich ein dem natürlichen amour de soi-même innewohnendes Ziel, die Selbsterhaltung, setzt, kommt dieses zweite Beispiel der Erfüllung seines Zwecks näher als das erste. Man muss freilich festhalten, dass dieses Beispiel nur überzeugt, weil es Knappheit als Annahme in das vorgestellte Szenario hineinnimmt : Der Umgebung, in der sich die Individuen wiederfinden, fehlt es laut Hypothese an hinreichenden Ressourcen, um die biologischen Bedürfnisse aller zu befriedigen. Rous­seau leugnet ja nicht, dass solch ein Szenario selbst in einer von allen künstlichen Umständen, die durch die Überzeugungen und den Willen der Menschen ins Spiel kommen, vollständig unberührten Welt möglich ist. Daher ist es nicht falsch zu sagen, dass unter bestimmten besonderen Umständen der Wunsch, gegenüber anderen im Vorteil zu sein – der Trieb, Ungleichheiten zu schaffen –, eine mögliche Folge des rein natürlichen amour de soi-même ist. Gleichwohl ist es bedeutsam, dass die Individuen sich Ungleichheit nur zweckgebunden wünschen  – zur Sicherung ihres eigenen Über­ lebens – und dass dieser Zweck, wie alle anderen Zwecke des amour de soi-même, dem erfolgreichen oder erfolglosen Erreichen desselben Zwecks anderer letztlich gleichgültig gegenübersteht. Selbst wenn in diesem Szenarium das Erreichen des eigenen Zwecks danach verlangt, sich einen Vorteil über einen anderen zu verschaffen, über den, der in diesem Rettungsboot einer zu viel ist, so gehört dieser Vorteil nicht wesentlich dem Endzweck des amour de soimême, dem Überleben, an. Begehrt wird er nur, weil äußere UmDie Natur ist nicht die Quelle sozialer Ungleichheit | 71

stände ein Überleben sonst unmöglich machen. Zu einer ähnlichen Schlussfolgerung gelangt man durch das weniger extreme Beispiel des gewöhnlichen Hungers : Die einzigen Bedingungen, unter denen allein der amour de soi-même ein hungriges Geschöpf mit dem Anreiz ausstattet, von etwas mehr als andere zu bekommen – zum Beispiel mehr Nahrung, mehr Kraft oder mehr Einfluss –, sind die, wenn mehr zu haben notwendig ist, um sein oberstes Interesse zu befriedigen, ausreichend Nahrung zu haben, ungeachtet dessen, was andere haben, um ihr Unwohlsein zu stillen. Wie beide Beispiele zeigen, ist das Streben nach einem Vorteil gegenüber anderen nur unter Bedingungen der Knappheit eine rationale Strategie für den amour de soi-même. Das führt uns unmittelbar zu dem, was ich oben den zweiten Teil der Rous­seau’schen These genannt habe, dass soziale Ungleichheiten ihre Quelle nicht in der Natur haben : die Behauptung, es gebe keine notwendigen oder unveränderlichen Eigenschaften der äußeren Welt, auf die Menschen um der Befriedigung ihrer natürlichen Bedürfnisse willen so reagieren müssen, dass sie jenseits der Ungleichheiten, mit denen sie geboren worden sind, weitere Ungleichheiten schaffen. Die vorausgegangenen Überlegungen haben deutlich gemacht, dass Rous­seaus Einspruch gegen die Behauptung, soziale Ungleichheiten hätten ihre Quelle in der Natur, von einer Annahme über das Ausmaß und die Bedeutung natürlicher Knappheit abhängt, eine Annahme, die sich in seiner Beschreibung des ursprünglichen Naturzustands als eines des Überflusses niederschlägt, wodurch Arbeit, Kämpfe und Privateigentum sowohl unnötig als auch unerwünscht sind (DU, 83 – 87 / OC III, 134 f.). Viele Leser sind geneigt, Rous­seaus Aussagen über die natürliche Fruchtbarkeit der Erde als Ausdruck eines naiven und ungerechtfertigten Glaubens an die Güte der Natur abzutun. Um die Zulässigkeit seiner Annahme zu beurteilen, muss man sich jedoch klar vor Augen führen, was genau sie beinhaltet und welche Rolle sie in seiner Darlegung des Ursprungs der Ungleichheit spielt. Wenn Rous­seau vom Überfluss als natürlicher Bedingung aus­ geht, dann will er damit nicht bestreiten, dass irgendeine Art von Knappheit in den menschlichen Angelegenheiten von heraus­ragen­ der Bedeutung ist und daher von der Sozialphilosophie ernstgenommen werden muss. Der Witz seiner Behauptung liegt vielmehr 72 | Kapitel 1 

darin, die Art von Knappheit zu benennen, die einen so herausragenden Stellenwert in der menschlichen Gesellschaft einnimmt, und ihre Quelle sozusagen dingfest zu machen. Rous­seaus These ist die, dass der Großteil der Knappheit, von der die realen menschlichen Gesellschaften betroffen sind, nicht natürlichen, sondern sozialen Ursprungs ist. Sie ist, mit anderen Worten, keine notwendige Folge allgemeiner Tatsachen der menschlichen und nichtmenschlichen Natur, sie ist stattdessen ein Produkt der Gesellschaft, und das heißt : Sie entspringt sozialen Einrichtungen, die ihrerseits (größtenteils unvorhergesehene) Folgen der Handlungen und Überzeugungen von Menschen sind, die, gerade weil sie frei sind, auch anders hätten ausfallen können. Obgleich Rous­seau die Möglichkeit einer natürlichen Knappheit einräumen kann, ist er dazu verpflichtet, sie als ein unveränderliches oder grundlegendes Merkmal der Lage des Menschen abzulehnen. Hinzukommt, dass, sofern sie existiert – immer dort, wo die reale Knappheit teilweise auf rein natürliche Faktoren zurückgeht –, sie verglichen mit der Knappheit, die ihre Quelle in sozialen, von Menschen geschaffenen Umständen hat, vernachlässigbar ist. Wenn Rous­seau begeistert den Überfluss des Naturzustands beschreibt, sollten wir ihn nicht so verstehen, als treffe er eine Tatsachenaussage über die natürliche Verfügbarkeit von überlebensnotwendigen Ressourcen. Stattdessen schlägt er eine Art theoretischer Abstraktion vor. (Wiederum ist es wichtig, sich die hypothetische und analytische Funk­tion des Naturzustands vor Augen zu führen.) Mithilfe der Annahme eines natürlichen Füllhorns, die durch das Ausblenden des Beitrags der Natur zur Knappheit zustande kommt, soll unser Blick von dem Typ von Knappheit abgelenkt werden, der normalerweise, aber zu Unrecht vom Common Sense für den einzigen und bedeutendsten gehalten wird, um so ausschließlich den Typus ins Auge zu fassen, von dem Rous­seau meint, er würde für den weitaus größten Teil der Knappheit aufkommen, die zur Herstellung von Ungleichheiten in den realen Gesellschaft beiträgt – und eben diese substantielle These liegt seiner Annahme eines natürlichen Überflusses zugrunde. So gesehen veranschaulicht Rous­seaus Einstellung zur Knappheit eine allgemeine Tendenz seines Denkens, nämlich zur Entnaturalisierung und damit zur Entmystifizierung des Sozialen.50 In diesem Fall besteht die Entnaturalisierung der Knappheit in dem Die Natur ist nicht die Quelle sozialer Ungleichheit | 73

Nachweis, dass Knappheit in keiner der zwei möglichen Bedeutungen der Natur entspringt : Erstens findet sich in der Verfassung der Natur selbst – der Beziehung zwischen den biologischen Bedürfnissen des Menschen und den natürlichen Ressourcen der Erde – oder zweitens im Charakter des unsozialisierten Mitleids und des amour de soi-même nichts, was erklären würde, warum Knappheit ein notwendiges oder weitverbreitetes Merkmal des sozialen Lebens der Menschen ist. Die Stoßkraft dieses Arguments hängt weitgehend von der Erkenntnis ab, wie im zweiten Teil die Einführung von künstlichen sozialen Bedingungen und einer »nicht-natürlichen« Leidenschaft Rous­seau in die Lage versetzt, eine Erklärung für die machtvolle Neigung der Menschen anzubieten, Knappheit – aller möglichen Typen und großen Ausmaßes  – zu produzieren und folglich darzulegen, warum im Gesellschaftszustand weitreichende Ungleichheiten nahezu unvermeidlich sind. Wir sind jetzt in der Lage, die in Teil I des Zweiten Diskurses dargelegten Hauptelemente von Rous­seaus Argument zusammenzufassen, dass nicht die Natur die Quelle sozialer Ungleichheit ist. Seine Argumenta­tion lässt sich als Zurückweisung dreier möglicher natürlicher Erklärungen der sozialen Ungleichheit – wie auch aller Kombinationen der drei – verstehen. Erstens sind soziale Ungleichheiten nicht die unmittelbaren oder notwendigen Folgen natürlicher Ungleichheiten. Obwohl es Letztere gibt, erklären sie weder die Existenz sozialer Ungleichheiten im Allgemeinen noch warum bestimmte Individuen die Stellung einnehmen, die ihnen innerhalb der bestehenden Hierarchien zufällt. Wenn natürliche Ungleichheiten überhaupt bei der Beschaffenheit sozialer Ungleichheit ins Gewicht fallen, dann nur zu einem sehr kleinen Teil, und spürbar sind sie, wenn überhaupt je, nur im Rahmen von sozialen Praktiken und Institutionen, für deren Entstehen der Mensch, nicht die Natur verantwortlich ist und die daher im Prinzip auch anders aussehen könnten. Zweitens liefern die beiden natürlichen Leidenschaften des Menschen, Mitleid und amour de soi-même, den Menschen keinen Anreiz, Ungleichheiten schaffen zu wollen, außer unter bestimmten Bedingungen des Mangels, denn für die Endzwecke eines jeden ist es gleichgültig, wie gut oder wie schlecht es anderen beim Erreichen ihrer natürlichen Zwecke ergeht. Drittens gibt es keinen Grund zu glauben, dass die Bedingungen (­solche 74 | Kapitel 1 

des Mangels), unter denen Mitleid und amour de soi-même die Menschen veranlassen könnten, nach einem Vorteil gegenüber anderen als Mittel zur Erreichen ihres Endzwecks zu streben, als notwendig oder typisch in einer Welt gelten, in der Begierden nicht von unnatürlichen Leidenschaften verändert worden sind und in der künstliche soziale Einrichtungen Knappheit nicht zu einer systematischen Notwendigkeit gemacht haben. Der Gedanke, der uns zu den Themen führt, die im nächsten Kapitel abzuhandeln sind, ist der folgende : Wenn soziale Ungleichheit eher als unser Werk denn als das der Natur zu begreifen ist, dann müssen wir irgendwie verständlich machen, was uns dazu motiviert, sie zu erzeugen, und wie wir gesehen haben, liefert uns weder das Mitleid noch der amour de soi-même dafür eine Erklärung. Im 2. Kapitel werden wir den positiven Teil von Rous­seaus Ansicht über den Ursprung der Ungleichheit untersuchen, seine Darstellung dessen, wie systematische soziale Ungleichheiten möglich und nahezu unvermeidlich werden, sobald eine bestimmte »künstliche« Leidenschaft, der amour propre, seinem Bild der ursprünglichen Natur des Menschen zugefügt wird.

Die Natur ist nicht die Quelle sozialer Ungleichheit | 75

Kapitel 2 Quelle der sozialen Ungleichheit ist der amour propre Ziel dieses Kapitels ist es, den positiven Teil der Rous­seau’schen Beantwortung der ersten Hauptfrage des Zweiten Diskurses zu rekonstruieren : Woher stammt die soziale Ungleichheit ? Seine Aufgabe ist es, die verschiedenen »nicht-natürlichen« Faktoren aufzudecken, die seiner Darlegung gemäß zusammenkommen müssen, um die Allgegenwärtigkeit der Ungleichheit in realen Gesellschaften zu erklären, und indem es dieser Aufgabe nachkommt, legt es einen Teil der bekannten These des Zweiten Diskurses dar, dass »die Mehrzahl unserer Leiden unser eigenes Werk sind« (DU, 99 / OC III, 138). Rous­seaus positive Antwort auf die Frage nach dem Ursprung der Ungleichheit ist erstaunlich vielschichtig und schwer zu rekonstruieren, was zum Teil daran liegt, dass die Logik seiner Position – die Art und Weise, wie die verschiedenen Elemente seiner Darlegung in ihrem Zusammenspiel die Ungleichheit erklären – tief in einer Entwicklungsgeschichte verborgen ist, die, wie ich bereits im vorigen Kapitel bemerkte, nicht buchstäblich als ein Bericht über tatsächliche historische Ereignisse zu verstehen ist. Der narrative Aufbau des zweiten Teils, Rous­seaus wiederholte Betonung der Suche nach Ursprüngen, die Beschreibung seines Projekts als eine Genealogie (OC IV, 936), sein Beharren darauf, dass die von ihm beschriebenen »Ereignisse … auf verschiedene Arten eintreten konnten« oder »ebenso gut auch nie hätten stattfinden können« (DU, 189 / OC III, 162) : all diese Faktoren neigen dazu, den systematischen, zeitlosen, kurz, den philosophischen51 Charakter der Erklärung von Ungleichheit zu verstellen, wie er den Zweiten Diskurs kennzeichnet. Tatsächlich scheint es wahrscheinlich, dass die meisten Leser, werden sie mit der Frage konfrontiert, die dieses Kapitel zu beantworten sucht – was, wenn nicht die Natur, ist denn die Quelle der Ungleichheit ? – geneigt sind, die Geschichte als Rous­seaus Antwort zu nehmen, nicht zuletzt deshalb, weil der Gegensatz von Natur und Geschichte eine herausragende Stelle im Zweiten Diskurs ein 77

nimmt, denn schon auf der allerersten Seite wird der Gegensatz zwischen dem »Mensch(en) … wie ihn die Natur geschaffen hat«, und »den Veränderungen …, die der Lauf der Zeit und der Dinge in seiner ursprünglichen Beschaffenheit bewirken musste«, hervorgehoben (DU, 63 / OC III, 122). Geschichte ist, um diesem Wink zu folgen, vermutlich etwas, was Menschen in Anbetracht ihres freien Willens mitgestalten. Wenn die Geschichte, anders als die Natur, in gewissem Sinn in unserer Hand liegt, dann passt ihre Ernennung zur Quelle der sozialen Ungleichheit zu Rous­seaus These, soziale Ungleichheiten seien eher von uns geschaffen als uns von der Natur aufgenötigt. Wenn Geschichte die Quelle der sozialen Ungleichheit ist, dann ist zudem leicht verständlich, warum Rous­seau sich unterfängt, eine Genealogie zu liefern : Könnten wir die historischen Zeugnisse bis zu dem Punkt zurückverfolgen, an dem es zuerst zu sozialen Ungleichheiten gekommen war, dann wären wir in der Lage, nicht nur zu erkennen, wo, sondern vielleicht auch warum sie entstanden sind – und möglicherweise sogar, ob sie sich rechtfertigen lassen. Das offensichtliche Pro­blem bei diesem Vorschlag liegt darin, dass Rous­seaus Genealogie erkennbar keine Geschichte im eigentlichen Sinn ist. Wie wir im vorangegangenen Kapitel gesehen haben, bestreitet Rous­seau, dass der im ersten Teil beschriebene Naturzustand als faktisch wahr zu begreifen ist (DU, 67, 79 ff. / OC III, 123, 132 f.). Daneben bestreitet er auch  – und nicht weniger ausdrücklich –, dass die »Entwicklungen«, die den Menschen aus dem Naturzustand herausführen, als reale historische Ereignisse gesehen werden sollen. Stattdessen bezeichnet er die Erzählung im zweiten Teil als eine »hypothetische Geschichte« (DU, 75 / OC III, 127), die nicht auf Tatsachen beruht, sondern auf »aus der Natur des Menschen … abgeleiteten Vermutungen« (DU, 81 / OC III, 133). Diese These wiederholt Rous­seau am Ende des ersten Teils (DU, 189, 191 / OC III, 162, 163) und schließlich, als ob er so alle Zweifel zerstreuen wollte, die möglicherweise hinsichtlich des historischen Rangs seiner Erzählung fortbestehen, betont er diesen Punkt noch einmal im letzten Absatz des Zweiten Diskurses : »Ich habe versucht, den Ursprung und das Fortschreiten der Ungleichheit  … soweit zu erklären, wie diese Dinge sich allein aus der Natur des Menschen im Licht der Vernunft ableiten lassen« (DU, 267 / OC III, 78 | Kapitel 2 

193). Nicht nur der ursprüngliche Naturzustand, sondern auch die

im zweiten Teil geschilderten »Ereignisse« müssen daher als hypothetische und konjekturale Postulate begriffen werden und nicht als Versuche, eine tatsachengetreue Entwicklungsgeschichte des Menschen zu schreiben. Zugleich darf man nicht vergessen, dass der Zweite Diskurs eine Fülle von empirischen Beispielen aus historischen und anthropologischen Quellen präsentiert, die Belege für die von ihm vorgeschlagene hypothetische Geschichte zu liefern scheinen. Bevor wir die Rekonstruktion des Zweiten Diskurses abschließen, müssen wir uns daher mit der Frage beschäftigen, warum empirische Tatsachen dieser Art gleichwohl für eine Geschichte einschlägig sind, die sich als bloß konjektural und hypothetisch begreift. (Ich werde darauf im 4. Kapitel zurückkommen.) Diese anfänglich verwirrenden Elemente der Rous­seau’schen Erzählung unterstreichen nur, wie wichtig es ist, sich über die Art von Projekt klar zu werden, von der er selbst meint, er würde sie in seiner Untersuchung über den Ursprung der Ungleichheit betreiben. Um hier einen Fortschritt zu erzielen, ist es am besten, Rous­seaus eigene Beschreibung der vor ihm liegenden Aufgabe, wie er sie am Schluss des ersten Teils formuliert, näher in den Blick zu nehmen : »Nachdem bewiesen ist, daß die Ungleichheit im Naturzustand kaum fühlbar ist und daß ihr Einfluß fast gleich null ist, bleibt mir übrig, ihren Ursprung und ihren Fortschritt in der allmählichen Entwicklung des menschlichen Geistes zu zeigen« (DU, 189 / OC III, 162). Die wichtige, aber auch verblüffende These dieses Abschnitts lautet, dass, wenn die soziale Ungleichheit einen bedeutsamen Stellenwert in den menschlichen Angelegenheiten einnehmen soll, der Schlüssel zur Erklärung des Ursprungs von Ungleichheit in der Entdeckung liegt, wie der menschliche Geist sich von dem unterscheidet muss, der im ursprünglichen Naturzustand gegeben war. Wenn es Rous­seau nicht um die tatsächliche Geschichte der menschlichen Entwicklung geht, dann liegt die Vermutung nahe, dass die ihn interessierende Frage ihrem Charakter nach analytisch ist : Welches neue Element (oder welche neue Elemente) der Psychologie des Menschen müssen in seine Schilderung der ursprünglichen Natur des Menschen hineingenommen werden, um zu erklären, warum Menschen Ungleichheiten jenseits derjenigen schaffen, die ihnen von der Natur mitgegeben worden sind ? Dass es tatsächQuelle der sozialen Ungleichheit ist der amour propre | 79

lich diese psychologische Frage ist, an der Rous­seau hauptsächlich interessiert ist, bestätigt die Geschichte, die er im zweiten Teil zu erzählen fortfährt. Zu behaupten, der Psychologie gelte sein primäres Interesse, beinhaltet freilich nicht, dass sie sein einziges Interesse ist, vielmehr besteht, wie wir sehen werden, ein Großteil der Schwierigkeiten bei der Rekonstruktion des Argumenta­tionsgangs im Zweiten Diskurs darin zu verstehen, wie psychologische und nicht-psychologische Faktoren ineinandergreifen, um die weitverbreitete soziale Ungleichheit zu erklären. In einem ersten Schritt konzentriere ich mich jedoch zunächst ausschließlich auf die »Entwicklungen des menschlichen Geistes«, die Rous­seau selbst als das wichtigste Element seiner Darlegung herausgreift. Amour propre

Obwohl Rous­seau selbst eine Reihe von Entwicklungen anführt, die den Menschen aus dem ursprünglichen Zustand herausführen – die Anfänge der Muße, der Sprache, der Familie und selbst der Nation52 – ist das, was er ausdrücklich als »de[n] erste[n] Schritt zur Ungleichheit« (DU, 205 / OC III, 169) bezeichnet, ein psychologisches Phänomen : die Entstehung einer künstlichen, wesentlich sozialen Leidenschaft, die er (später in der Schrift) amour propre nennt. Der wichtige Abschnitt, in dem der amour propre seinen ersten Auftritt im Zweiten Diskurs hat, ohne allerdings beim Namen genannt zu werden, lautet so : Es wurde Gewohnheit, sich vor den Hütten oder um einen großen Baum zu versammeln. Gesang und Tanz … wurden das Vergnügen oder vielmehr die Beschäftigung der müßig zusammenkommenden Männer und Frauen. Jeder achtete die anderen und wollte seinerseits geachtet werden. Die öffentliche Achtung bekam Wert. Wer am besten sang und tanzte, der Schönste, der Stärkste, der Gewandteste, der Beredsamste wurde am meisten geschätzt. Das aber war der erste Schritt zur Ungleichheit und gleichzeitig zum Laster. (DU, 205 / OC III, 169)

Sollten meine Interpreta­tionsthesen richtig sein, dann besteht der Witz dieses Abschnitts darin, dass er das Kernstück der Rous­ 80 | Kapitel 2 

seau’schen Antwort auf die erste der beiden Fragen des Zweiten Diskurses offenlegt : Sie stellt den amour propre – die Leidenschaft, beachtet zu werden, hohes Ansehen zu genießen, die Wertschätzung oder die Achtung der Öffentlichkeit zu erwerben – als Hauptquelle der sozialen Ungleichheit heraus.53 Was aber ist der amour propre und warum ist er die Hauptquelle der sozialen Ungleichheit ?54 Wie der Name schon sagt, ist der amour propre eine Art von Selbstliebe im allgemeinsten Sinne, und wie wir in der früheren Erörterung des amour de soi-même gesehen haben, bedeutet ›Selbstliebe‹ in diesem Kontext schlicht Eigeninteressiertheit. Bei Menschen ist Selbstliebe im Sinne von amour de soi-même einfach die Sorge um das eigene Wohl und die Neigung, alles, was man für das eigene Wohl hält, anzustreben. Amour propre ist jedoch fraglos etwas Bestimmteres als Eigeninteressiertheit im Allgemeinen, denn wie Rous­seaus in der äußert wichtigen Anmerkung (o) klarmacht, unterscheidet er sich sowohl in seinem Wesen als auch in seinen Folgen von der anderen »natürlichen« Form der Selbstliebe, dem amour de soi-même. Man darf nicht den amour propre und den amour de soi-même durcheinanderbringen. Es sind zwei ihrem Wesen und ihrer Wirkung nach sehr verschiedene Leidenschaften. Der amour de soimême ist ein natürliches Gefühl. Es hält jedes Tier dazu an, über seine Erhaltung zu wachen. In uns Menschen wird es von der Vernunft geleitet und vom Mitleid gemildert und bringt Menschlichkeit und Tugend hervor. Der amour propre ist nur ein relatives, künstliches, in der Gesellschaft entsprungenes Gefühl. Er verleitet jedes Individuum dazu, von sich mehr Aufhebens als von jedem anderen zu machen. Er gibt den Menschen all die Übel ein, die sie sich gegenseitig antun. Er ist die wahre Wurzel der Ehre. … [I]m wahren Naturzustand kommt der amour propre nicht vor. Da jeder Mensch als einzelner sich allein zum Zuschauer hat, der ihn beobachtet, als das einzige Wesen im Universum, das sich für ihn interessiert, als der einzige Richter über seine eigenen Verdienste, kann unmöglich ein Gefühl in seiner Seele keimen, das seine Quelle in Vergleichen hat, die über seinen Horizont hinausgehen. (DU, 169 ff. /OC III, 219)

Quelle der sozialen Ungleichheit ist der amour propre | 81

In dieser Passage, in der Rous­seaus so ausdrücklich wie an keiner anderen Stelle den amour propre definiert, unterscheidet er die beiden Formen von Selbstliebe im allgemeinsten Sinne bezogen auf vier Größen. Die erste betrifft das Objekt oder das Gut, das jeweils jeden, der es besitzt, geneigt macht, es anzustreben : Der amour de soi-même zielt auf Selbsterhaltung und das eigene Wohlbefinden ab55, während der amour propre die in sich immateriellen Zwecke der Ehre, des Verdienstes oder der Achtung seitens anderer verfolgt. Ein Wesen, das amour propre besitzt, ist daher durch die Begierde motiviert, von seinen Betrachtern geschätzt, bewundert oder in irgendeiner Hinsicht für wertvoll erachtet zu werden. Man könnte auch sagen – um einen Begriff zu benutzen, der später von Fichte und Hegel übernommen worden ist –, dass der amour propre eine Form von Anerkennung sucht, die Anerkennung des eigenen Rangs als eines von anderen wertgeschätzten Subjekts.56 Die zweite Größe, bezogen auf die sich die beiden Formen der Selbstliebe im allgemeinsten Sinne unterscheiden, betrifft ihre Folgen : Während der amour de soi-même größtenteils wohlwollend ist, ist der amour propre die Quelle des Übels – ja, wie Rous­seau sagt, aller Übel, die durch den Menschen im Gegensatz zur Natur in die Welt kommen. Selbstverständlich ist der amour propre nicht die Ursache rein natürlicher Übel, wie etwa Krankheiten und Erdbeben57, wohl aber lassen sich die künstlichen Übel, mit denen der Zweite Diskurs sich größtenteils beschäftigt – zum einen die soziale Ungleichheit und zum anderen Versklavung, Herrschaft, Elend, Laster und Entfremdung – allesamt damit erklären, dass ihre psychologische Quelle in der Begierde liegt, bei anderen gut angesehen zu sein. Es ist bemerkenswert, dass Rous­seau weder hier noch anderswo sagt, der amour propre müsse notwendig diese Folgen haben, er sagt lediglich, dass, sofern sie existieren, der amour propre ihre Ursache ist. Ebenso wenig glaubt er, dass aus dem amour propre nichts Gutes hervorgehen könne, im Gegenteil, wir schulden ihm manche Güter, darunter Liebe, temperierten Ehrgeiz und die Anlage, sich achtbar zu verhalten. Rous­seaus Verhältnis zum amour propre ist ambivalenter, als dieser Abschnitt oder der Zweite Diskurs den Leser im Allgemeinen annehmen lässt. Das positive Potential des amour propre tritt am deutlichsten in seiner späteren Schrift Emile hervor, doch schon im Zweiten Diskurs räumt Rous­ 82 | Kapitel 2 

seau ein, dass »der allgewaltige Drang nach Ruf«, der »Eifer, von sich reden zu machen« – mit anderen Worten : der amour propre – dafür verantwortlich ist, »was es an Besserem und Schlechterem bei den Menschen gibt : unsere Tugenden und unsere Laster, unsere Wissenschaften und unsere Irrtümer« (DU, 257 / OC III, 189). Zudem ist eines der »zartesten Gefühle, die man unter den Menschen kennt«, die eheliche Liebe, ohne den Wunsch nach gegenseitiger Achtung, der allein vom amour propre eingeflößt wird, undenkbar (DU, 201 / OC III, 168). Dass der Zweite Diskurs über die möglichen Vorzüge des amour propre weitgehend schweigt, erklärt sich aus dem Umstand, dass seine Aufgabe, anders als die des Emile und des Gesellschaftsvertrags, hauptsächlich diagnostisch ist, und in diesem Kontext – wenn es darum geht, die Quelle der Missstände in der menschlichen Gesellschaft aufzuspüren, und weniger darum, nach einer Abhilfe dafür zu suchen (DU, 121 / OC III, 205)  – ist es nur angemessen, wenn der amour propre in einem vorherrschend negativen Licht erscheint. Zu verstehen, warum Rous­seau den amour propre für die Hauptquelle eines der größten Missstände in der menschlichen Gesellschaft, der Ungleichheit, hält, ist das zentrale Unterfangen dieses Kapitels. Sobald wir abschließend erklärt haben, was der amour propre ist und worin er sich vom amour de soimême unterscheidet, werden wir auf diese These zurückkommen und sie detailliert rekonstruieren. Die zwei letzten Größen, mit Bezug auf die Rous­seau den amour propre vom amour de soi-même unterscheidet, sind mit so komplexen Pro­blemen beladen, dass wir uns länger mit ihnen beschäftigen müssen. Diese Unterschiede betreffen die Relativität und die Künstlichkeit des amour propre, wohingegen der amour de soimême sich dadurch auszeichnet, dass er nicht-relativ und natürlich ist. Beginnen wir mit der Relativität. »Relativ« heißt hier : relativ zu anderen Subjekten, und Rous­seau verweist darauf, dass das Gut, welches uns der amour propre zu erstreben antreibt, bereits in gewissen Beziehungen zu anderen besteht. Tatsächlich ist der amour propre in zwei Hinsichten relativ, und beide unterscheiden ihn vom amour de soi-même und tragen zu der Erklärung bei, warum die beiden Leidenschaften in ihren Wirkungen so stark voneinander abweichen. Erstens ist das vom amour propre erstrebte Gut – eine Art von Rang oder Ansehen – seiner Natur nach relativ oder auf Quelle der sozialen Ungleichheit ist der amour propre | 83

Vergleiche angelegt. Sich Rang oder Ansehen zu wünschen, heißt eine bestimmte Stellung in Beziehung zu anderen zu begehren. Aus diesem Grund ist der Vergleich für das Wirken des amour propre wesentlich, und darum wird er in dem oben zitierten Abschnitt auch als ein Gefühl charakterisiert, »das seine Quelle in Vergleichen hat«. Anders gesagt : Das Ansehen oder die Stellung, nach der es den amour propre drängt, ist stets ein positionsabhängiges Gut, wobei selbst gut dazustehen – die angestrebte Stellung zu finden – darin besteht, in Bezug auf andere gut dazustehen (eine in Bezug auf sie definierte Stellung zu erwerben). Das bedeutet, das Ausmaß, in dem es mir gelingt, meinen Wunsch nach Ansehen zu befriedigen, hängt davon ab, wie gut oder wie schlecht es meinen Mitmenschen dabei ergeht, ihren diesbezüglichen Wunsch zu erfüllen. Man muss jedoch festhalten, dass eine relative Stellung nicht notwendig eine überlegene oder unterlegene ist. Wenn das, was der amour propre uns erstreben lässt, schlicht und einfach die Achtung ist, die einem als Menschen gebührt – eine Achtung, die man auch den anderen zu gewähren bereit ist –, dann ist die anstrebte Stellung zwar immer noch eine vergleichbare – oder relative –, aber keine überlegene. Um es mit anderen Worten zu sagen : Eine gleiche Stellung ist immer noch eine Stellung relativ zu anderen.58 Interessanterweise scheint die Möglichkeit, nach einer gleichen Stellung zu streben, in dem Absatz betrachtet zu werden, der unmittelbar auf die Einführung des amour propre in die Erzählung des Zweiten Diskurses folgt59 und wo dieser zunächst, wie wir oben sahen, in nicht-egalitärer Gewandung auftritt, nämlich als der Wunsch, in irgendeiner Hinsicht als der Beste zu gelten – als der Schönste, der Geschickteste usw. Direkt im Anschluss daran erwähnt Rous­seau ausdrücklich die Möglichkeit – vielleicht sogar die Unvermeidlichkeit – einer ganz anderen Erscheinungsform des amour propre : Sobald die Menschen sich gegenseitig zu schätzen begonnen hatten und sobald die Idee der Achtung in ihrem Geist entwickelt war, erhob jeder Anspruch darauf. Es war niemandem mehr ungestraft möglich, darauf zu verzichten. Hieraus entsprangen  … die ersten Pflichten der Höflichkeit ; deswegen wurde jeder willentliche Schimpf eine Beleidigung, weil der Beleidigte mit dem aus der 84 | Kapitel 2 

Verletzung hervorgehenden Schaden die Verachtung seiner Person verknüpft sah, die oft unerträglicher war als das Übel an sich. (DU, 205 / OC III, 170)

Die hier genannten Pflichten der Höflichkeit umfassen eine Art der Achtung, die sich in einer wichtigen Hinsicht von der Anerkennung unterscheidet, auf die Menschen aus sind, die als Schönste oder Stärkste geschätzt werden wollen. Die Forderung, als »Person« geschätzt zu werden, drückt ja den Wunsch aus, in Einklang mit den Normen der Würde oder Höflichkeit behandelt zu werden, die für jedermann gelten, und nicht als jemand wertgeschätzt zu werden, der in irgendeiner Weise als der Bessere herausragt. Trotz des wichtigen Unterschieds zwischen der Forderung, als ein Gleicher geachtet zu werden, und dem Wunsch, als jemand geschätzt zu werden, der anderen in irgendeiner Hinsicht überlegen ist, sind Rous­ seau zufolge beide dazu geeignet, das allgemeine Ziel des amour propre zu befriedigen, »einen Platz zu behaupten, … und als etwas angesehen zu werden« (E, 345 /OC IV, 421). So gesehen steht der amour propre in scharfem Kontrast zum absoluten oder nicht auf einen Vergleich angelegten Charakter des amour de soi-même. Hier ist es hilfreich, sich an einen der im 1. Kapitel erklärten Gründe Rous­seaus zu erinnern, die ihn veranlassten, die Natur des Menschen als Quelle der sozialen Ungleichheiten zu betrachten : Im rein natürlichen amour de soi-même findet sich nichts, was den Menschen bewegen würde, Ungleichheiten um ihrer selbst willen anzustreben, denn die Güter, nach denen es ihn verlangt – etwa die Mittel zur Selbsterhaltung –, befriedigen seine Bedürfnisse und Wünsche ungeachtet des von anderen erlangten Niveaus an Befriedigung. (Man denke an das im 1. Kapitel Gesagte : Für Geschöpfe, die noch nichts von den relativen Wünschen des amour propre wissen, ist es gleichgültig, wie gut die Menschen um sie herum schlafen und essen, solange sie nur selbst genügend Schlaf und Nahrung finden.) Wie sich schon hier abzuzeichnen beginnt, wird die Tatsache, dass der amour propre nur auf relative Güter aus ist, eine entscheidende Rolle in Rous­seaus Erklärung des Ursprungs sozialer Ungleichheit spielen. Der zweite Sinn, in dem sich der amour propre relativ zu anderen Subjekten aufstellt, ist der, dass das von ihm erstrebte Gut Quelle der sozialen Ungleichheit ist der amour propre | 85

von den Urteilen oder den Meinungen anderer abhängt, ja darin besteht. Wie Rous­seau in der oben zitierten Bemerkung sagt, gründet der amour propre im Gegensatz zum amour de soi-même auf der Vorstellung, dass »andere Zuschauer einen beobachten« und andere die eigenen »Verdienste beurteilen«. Man kann dies auch so ausdrücken : Der Zweck des amour propre  – irgendeine Form der Wertschätzung oder Achtung seitens anderer zu erlangen – ist seinem Wesen nach sozial. Auch in dieser Hinsicht steht der amour propre in scharfem Gegensatz zum amour de soi-même : Da nämlich die Meinung der Mitmenschen für die vom amour de soi-même begehrten Güter nicht konstitutiv ist, motiviert sie uns nicht notwendig dazu, Beziehungen zu anderen einzugehen. Der amour propre hingegen versieht die Menschen, da sie in den Augen anderer gut dastehen wollen, mit einem anhaltenden Motiv – einem Drang, der hinreichend stark und dauerhaft ist, um als Bedürfnis zu gelten –, in Beziehung zu anderen zu treten. (Aus diesem Grund sagte ich im vorigen Kapitel, der amour propre nehme zum Teil die Stelle des stoischen Prinzips der Geselligkeit ein : Er treibt uns an, soziale Beziehungen zu suchen, und das nicht nur als Mittel zum Zweck.) Da seine Bedürfnisse nicht in der Abgeschiedenheit zu befriedigen sind, ist die Leidenschaft, von anderen als etwas angesehen zu werden, eine unmittelbare und beständige Quelle menschlicher Abhängigkeit und Geselligkeit. Die letzte Größe, bezogen auf die sich der amour propre vom amour de soi-même unterscheidet, ist die, dass dieser natürlich, jener jedoch künstlich (factice) ist. Eine sorgfältige Lektüre der Anmerkung (o) macht deutlich, dass »natürlich« sich auf drei Eigenschaften des amour de soi-même bezieht, die allesamt im 1. Kapitel erörtert worden sind : Erstens ist er ein Gefühl, das wir mit anderen Tieren teilen (er gehört mithin zu unserer biologischen Natur), zweitens ist er wohlwollend (oder gut) und nicht an sich die Quelle der Ungleichheit und anderer menschlicher Übel, und schließlich ist nicht die »Gesellschaft seine Geburtsstätte«, er ist vielmehr sogar bei Abwesenheit aller sozialen Beziehungen am Werk (oder würde es sein). Der amour propre zeichnet sich durch drei entgegengesetzte Eigenschaften aus : Er unterscheidet den Menschen vom Tier, insofern er auf Fähigkeiten beruht – das Vermögen zu vergleichen, Meinungen zu bilden und sich um die Meinungen an86 | Kapitel 2 

derer zu sorgen –, die nicht-menschlichen Lebewesen abgehen, er ist die psychologische Quelle aller von Menschen gemachten Übel und er ist seinem Wesen nach eine soziale Leidenschaft – da er in den oben erörterten zwei Bedeutungen relativ ist. Wenn wir eine meiner Thesen aus dem 1. Kapitel aufgreifen, dann lässt sich die letzte Behauptung folgendermaßen umformulieren : Während es Sinn ergibt, den amour de soi-même Menschen zuzusprechen, denen es an jeglichen sozialen Beziehungen fehlt, trifft dasselbe nicht auf den amour propre zu, denn seine Zwecke hängen unmittelbar und notwendig von Beziehungen zu anderen ab, die sowohl als Vergleichsobjekte herhalten müssen wie auch als Subjekte, die denjenigen, der auf Wertschätzung und Achtung aus ist, zum Objekt ihrer Aufmerksamkeit machen. Man darf keinesfalls aus dem Blick verlieren, dass Rous­seau mit seiner Kennzeichnung des amour propre als künstlich nicht behaupten möchte, dieser sei nur ein zufälliges Merkmal menschlicher Realität oder Menschen würden ohne ihn besser fahren. Die Behauptung der Künstlichkeit des amour propre beinhaltet in keiner Weise, dass Menschen ohne ihn leben können oder auch sollten. Was immer auch beliebte primitivistische Lesarten des Zweiten Diskurses meinen,60 Rous­seau stellt sich menschliches Dasein nicht ohne den amour propre vor, sowenig wie er es sich ohne Liebe, Vernunft oder Sprache vorstellt – die allesamt genauso künstlich wie der amour propre und für die menschliche Realität nicht weniger wesentlich sind. Tatsächlich glaubt Rous­seau, ohne amour propre könne es keine echten menschlichen Geschöpfe geben, und diese Ansicht schlägt sich in der Tatsache nieder, dass er sich im ersten Teil des Zweiten Diskurses, bevor der amour propre auftritt, nicht entscheiden zu können scheint, ob er die dort beschriebenen Geschöpfe als Menschen oder Tiere bezeichnen soll. In Wahrheit sind sie beides (oder keines von beidem) : Obwohl sie Anlagen aufweisen, die anderen Tieren abgehen – freier Wille und Vervollkommnung –, fehlt es ihnen an vielen Attributen – Sprache, Vernunft, Leidenschaft –, die wir gemeinhin als etwas für die menschliche Existenz Wesentliches betrachten. Das ist ein Hinweis darauf, dass der Wunsch sich selbst mit anderen zu vergleichen und das Objekt ihrer wertenden Blicke zu werden ein so grundlegender Teil spezifisch menschlicher Phänomene ist  – einschließlich des Bedürfnisses, sein Leben mit anderen zu teilen –, dass es nicht zu Quelle der sozialen Ungleichheit ist der amour propre | 87

weit geht, den Menschen als »anerkennungssuchendes Lebewesen« zu definieren.61 Wir sollten unbedingt Klarheit darüber gewinnen, warum Rous­ seau darauf besteht, den amour propre als künstlich statt einfach als sozial zu bezeichnen. Warum sollte man im amour propre etwas von Menschen Gemachtes sehen ? Ein Grund dafür ist der, dass der amour propre, anders als der amour de soi-même, den Menschen dort, wo es keine Vergleiche und Urteile gibt, die letztlich auf der Freiheit der urteilenden Subjekte beruhen, nicht anzutreiben vermag. Es ist ja nicht nur so, dass der amour propre nach den (freien) Urteilen der anderen trachtet, er ist auch nicht fähig, bestimmte Wünsche nach einer anerkannten Stellung auszubilden, sofern er nicht von einer Auffassung oder einer Meinung darüber geleitet wird, was jemanden der Wertschätzung würdig macht, ob dies nun darin besteht, der beste Sänger zu sein, das größte Eigentum zu besitzen oder einfach ein Mitglied der Gattung Mensch zu sein. Kurz gesagt verlangt der amour propre, dass sowohl der Verleiher als auch der Empfänger von Wertschätzung wertende Subjekte sind. Wertungen sind jedoch nur auf der Grundlage von Urteilen möglich, die ihrerseits die freie Teilnahme der sie fällenden Subjekte erfordert. Die These, der amour propre sei künstlich, lässt sich noch auf einem anderen Weg verstehen. Dazu müssen wir uns daran erinnern, warum Rous­seau die Gesellschaft und alle von ihr abhängigen Phänomene  – etwa soziale Ungleichheiten  – als künstlich betrachtet. Sein Gedanke ist der, dass der Mensch zwar sozialer Beziehungen der einen oder anderen Art bedarf – das spezifisch Menschliche ist ja außerhalb der Gesellschaft undenkbar –, dass aber die bestimmten Formen, die diese sozialen Beziehungen annehmen, äußerst veränderlich sind und, noch einschlägiger, vom freien Willen abhängen, wenngleich selbstverständlich nicht vom Willen eines einzelnen Individuums. Im Allgemeinen steht es den Menschen nicht frei, ob sie innerhalb oder außerhalb einer Gesellschaft leben, was jedoch, zumindest in einem gewissen Sinn, bei ihnen liegt, das ist die Ausgestaltung ihrer sozialen Beziehungen. Mit anderen Worten : Die soziale Welt ist in dem Sinn künstlich, dass die Praktiken und Institutionen, durch die sich eine bestimmte Gesellschaft auszeichnet, (größtenteils unbeabsichtigte) Ergebnisse 88 | Kapitel 2 

kollektiven Handelns sind und nur, wie wir im 1. Kapitel gesehen haben, durch die anhaltende Teilnahme und »Zustimmung« der Gesellschaftsglieder aufrechterhalten werden. Der amour propre ist daher in demselben Sinn und aus ähnlichen Gründen künstlich : Obwohl der Mensch als solcher nicht ohne den amour propre existieren kann, sind die besonderen Formen, die dieser annimmt – wie, durch wen und auf welcher Grundlage trachten Individuen nach der Wertschätzung anderer ? – äußerst veränderlich und hängen von der sozialen Welt ab, in der seine Träger leben. Die Wünsche und Ideale, von denen sich Individuen motivieren lassen, nehmen etwa durch Sozialisationsprozesse eine besondere Gestalt an, und reale gesellschaftliche Institutionen ermuntern zwangsläufig dazu, öffentliche Wertschätzung auf bestimmte Weisen zu finden, während sie andere ausschließen. (Der moderne Kapitalismus bietet seinen Teilnehmern andere Formen sozialer Anerkennung als der mittelalterliche Feudalismus oder antike Gesellschaften. Staaten, die Individualrechte schützen, gewähren ihren Bürgern eine Art der Anerkennung, wie sie unter despotischen Regimen nicht zu erlangen ist.) Wenn gesellschaftliche Institutionen in dem oben ausgeführten Sinn menschengemacht sind und die konkreten Ausdrucksformen des amour propre von ihnen abhängen, dann ist der amour propre ebenfalls in einem wichtigen Sinn menschengemacht : Wie er sich in der Welt zeigt, das ist ebenso vom Wirken des Menschen abhängig wie die ihn gestaltenden gesellschaftlichen Institutionen. Die ungeheurere Formbarkeit des amour propre – seine Empfänglichkeit dafür, durch menschliche Interaktionen allerlei Art geformt und um-geformt zu werden – ist für Rous­seaus Erklärung der Ungleichheit von entscheidender Wichtigkeit, und wenn wir auf einen Absatz wie den in der Anmerkung (o) stoßen, wo dem amour propre nachgesagt zu werden scheint, er sei unveränderlich und normalerweise schädlich, müssen wir dies im Kopf behalten. Wenn Rous­seau schreibt, er verleite »jedes Individuum dazu, von sich mehr Aufhebens als von jedem anderen zu machen [und] gibt den Menschen all die Übel ein, die sie sich gegenseitig antun«, dann darf man ihn nicht so lesen, als behaupte er, die Neigung, sich für etwas Besseres zu halten, oder die Übel, die dem Wunsch nach einer überlegenen Stellung entspringen können, seien notwendige Quelle der sozialen Ungleichheit ist der amour propre | 89

Folgen des amour propre. Er sagt damit nur, dass sie mögliche oder wahrscheinliche Wirkungen sind. Obgleich Rous­seau meint, der amour propre sei die Hauptquelle der uns plagenden Übel, glaubt er dennoch nicht, dass er diese Übel in all ihren möglichen Formen notwendig über uns bringt. Von sich höher als von anderen zu denken ist eine Weise, in der sich der amour propre gemeinhin manifestiert, da aber die Formen, die er tatsächlich annimmt, stets von zufälligen, letztlich vom menschlichen Willen abhängenden Umständen beeinflusst sind, muss er sich nicht notwendig so äußern.62 Ein Grund, warum die Formbarkeit des amour propre für Rous­seau so wichtig ist – auch wenn diese Zielsetzungen im Gesellschaftsvertrag und im Emile augenfälliger sind –, liegt zweifellos darin, dass sich so die Möglichkeit ergibt, auf Abhilfe für die verschiedenen im Zweiten Diskurs ausgemachten Übel dringen zu können. Wenn die bestimmten Formen, die der amour propre annimmt, unter Bedingungen zustande gekommen sind, die, zumindest in gewissem Maße, von unserem Willen abhängen, dann ist es denkbar, dass bestimmte Arten menschlicher Eingriffe – Erziehung oder institutionelle Reformen – in der Lage sein könnten, die Individuen so zu verändern, dass sie ihren Wunsch, in den Augen anderer einen Wert zu besitzen, auf eine Weise befriedigen können, die nicht zu den moderne Gesellschaften plagenden Übeln führen.63 Summa summarum ist der amour propre eine Form der Selbstliebe, welche die Quelle des unvergänglichen, wenngleich äußerst formbaren Bedürfnisses der Menschen ist, als wertvoll dazustehen, sowohl in den Augen der anderen als auch relativ zum Wert anderer. Als solcher nimmt er in Rous­seaus Theorie der fundamentalen Beweggründe menschlichen Handelns einen herausragenden Platz ein. Seine psychologische These lautet : Der amour propre und der amour de soi-même sind die Quelle zweier unterschiedlicher Arten von Motivation, die im menschlichen Leben eine zentrale Rolle spielen – eine These, die sich in seiner Behauptung niederschlägt, »daß all unsere Bemühungen sich bloß auf zwei Dinge richten, nämlich uns selbst gegenüber auf Bequemlichkeit des Lebens, den anderen gegenüber auf Ansehen« (DU, 209 / OC III, 220). (Dass hier nur von zwei Gegenständen menschlicher Tätigkeit die Rede ist, belegt noch einmal, wie verhältnismäßig schwach die dritte Moti­ vationsquelle, das Mitleid, ist.) Wenn hier zwei Quellen der Mo­ 90 | Kapitel 2 

tiva­tion unterschieden werden, so ist damit nicht gesagt, dass eine Handlung die Manifesta­tion nur einer Art von Selbstliebe sein kann. Der Großteil des menschlichen Verhaltens zielt im Gegenteil darauf ab, den amour de soi-même zugleich mit dem amour propre zu befriedigen. Die Häuser, die wir bauen, die Kleider, die wir tragen, die Speisen, die wir essen und unseren Gästen servieren – sie alle sind typischerweise nicht nur durch unsere körperlichen Bedürfnisse motiviert, sondern auch durch unsere Meinungen darüber, wie unsere Häuser, unsere Kleidung, unser Essen unsere Stellung für andere spiegeln, sowohl als Individuen wie auch als Menschen im Allgemeinen. Man darf keinesfalls vergessen, dass Rous­seau, wenn er die eine dieser Leidenschaften als natürlich und die andere als künstlich klassifiziert, damit weder etwas über ihre relative Stärke oder Bedeutung als Quelle menschlicher Motivation noch über ihren relativen Wert aussagen will, den sie für die Menschen haben. Ihm liegt stattdessen daran, den notwendig sozialen Charakter des amour propre gegenüber dem – prinzipiell – individualistischen des amour de soi-même hervorzuheben. Dabei wiederum liegt ihm daran, unsere Aufmerksamkeit im zweiten Teil auf die veränderlichen und schicksalshaften Wirkungen zu lenken, die zufällige, menschengemachte soziale Einrichtungen darauf haben, wie der amour propre sich in bestimmten sozialen Zusammenhängen äußert. Der Umstand, dass der amour de soi-même in der Erzählung des Zweiten Diskurses dem amour propre vorausgeht, ist kein Hinweis auf dessen zeitlichen, logischen oder normativen Vorrang, er ist vielmehr ein Zeichen für die verschiedenen Quellen der beiden Leidenschaften – die Biologie einerseits und die sozialen Beziehungen andererseits – sowie für die Unterschiede hinsichtlich der Struktur, der Formbarkeit und der möglichen Auswirkungen, die für Rous­seau eine Folge dieses Unterschiedes sind. So verstanden besagt seine Theorie des amour propre Folgendes : Von anderen geschätzt, geachtet oder gebilligt zu werden ist für den Menschen ein allgemein begehrtes Ziel ; der Trieb, eine anerkannte Stellung für andere einzunehmen, ist den Menschen nicht auszutreiben – es sei denn durch extreme Repressalien – und daher muss die Sozial- und Moralphilosophie ebenso wie die politische Philosophie die Folgen dieses grundlegenden menschlichen Bedürfnisses ernstnehmen. Darüber Quelle der sozialen Ungleichheit ist der amour propre | 91

hinaus beinhaltet die zweifache Relativität des amour propre, dass der Impuls, seine eigene Lage mit der anderer zu vergleichen, wie auch das Bedürfnis, die eigene, auf andere bezogene Stellung von diesen anerkannt zu bekommen, zu den basalen und dauerhaften Eigenschaften der menschlichen Beschaffenheit zählen (DU, 255 ff. / OC III, 189), die selbst in der besten aller Gesellschaften am Werk sein würden.64 Rous­seaus These über den fundamentalen Rang des amour propre stützt sich wie im Fall des amour de soi-même und des Mitleids zum Teil auf empirische Belege. Wie ich gesagt habe, werden seine Thesen zu den drei grundlegenden Quellen menschlicher Motivation durch den Erfolg untermauert, mit dem diese wenigen Hypothesen über die menschliche Psychologie die verschiedenen Formen menschlichen Verhaltens, wie wir sie aus der Erfahrung kennen, erklären können. Indem Rous­seau in seiner Psychologie den amour propre neben den amour de soi-même stellt, behauptet er letztlich, es genüge, über unsere allgemeine Kenntnis der menschlichen Realität nachzudenken, um zu zeigen, dass der Wunsch nach öffentlichem Ansehen eine große Rolle im menschlichen Verhalten und im sozialen Leben spielt, so dass der Drang, in den Augen der anderen zu zählen, die menschlichen Angelegenheiten ebenso allseitig durchdringt wie der Trieb zur Selbsterhaltung und zur Sicherung des eigenen nicht-relativen Wohlergehens. Zudem legen Rous­seaus Schriften den Schluss nahe, dass diese mehr oder weniger empirischen Aussagen durch eine eher philosophische Überlegung gestützt werden, die der zentralen Bedeutung des Vergleichs im Allgemeinen für verschiedene Arten spezifisch menschlicher Phänomene und Tätigkeiten nachgeht.65 So ist etwa die Reflexion »aus dem Vergleich der Ideen geboren« (OC, 369), während die Sprache, die Bildung von Begriffen und die Vernunft selbst nicht weniger von der Fähigkeit abhängen, Dinge zu unterscheiden und zu vergleichen (DU, 155 – 159 / OC III, 149 f.). Sobald die Fähigkeit und die Neigung, Vergleiche anzustellen, geweckt und im zweiten Teil die Grundtatsache des geselligen Umgangs in das Bild eingeführt worden sind, ist es kein Zufall mehr, dass selbstinteressierte Geschöpfe bemerken, wie sie im Vergleich zu anderen aufgestellt sind, und darauf achten. Tatsächlich folgt in der Erzählung des Zweiten Diskurses auf die neu erworbene Fähigkeit, einfache Vergleiche an92 | Kapitel 2 

zustellen, sogleich die »erste Regung des Stolzes (orgueil)«66 – ein Bewusstsein seiner eigenen Überlegenheit, das, obwohl es zunächst nur ein Stolz auf die eigene Gattung ist, schließlich in die Sorge des amour propre um die eigene Stellung als Individuum umschlägt (DU, 197 / OC III, 166). Sobald die Menschen aber eine sesshaftere Lebensweise entwickeln, in der sie wiederholt mit den gleichen Individuen in Kontakt kommen,67 richten sie ihre Fähigkeit, Vergleiche zu ziehen, unweigerlich auf die Eigenschaften der Einzelnen, die »Gefühle der Bevorzugung« ermöglichen und unmittelbar darauf den Wunsch einflößen, von anderen vorgezogen und folglich von ihnen verglichen und bewertet zu werden (DU,  205 / OC III, 169). (Weiter unter, wo ich den »Ursprung« des amour propre erkläre, gehe ich auf das verwickelte Verhältnis zwischen Vergleiche anstellen, bestimmte Personen bevorzugen und sich um seinen eigenen Rang als Individuum sorgen näher ein.) Daraus folgt in aller Klarheit, dass die Neigung, die Verdienste der Einzelnen zu vergleichen, in Rous­seaus technischem Sinn zwar künstlich ist, aber darum für das Leben der Menschen nicht weniger grundlegend als die Fundamente der Vernunft und der Sprache. Und schließlich werde ich, auch wenn Rous­seau es nicht mit diesen Worten sagt, das im zweiten Teil vorgestellte Bild der Psychologie des Menschen, wo der amour propre die im ersten Teil erörterten Gefühle des amour de soi-même und des Mitleids ergänzt, so behandeln, als statte es uns mit einer, wie ich es nenne, erweiterten Auffassung der Natur des Menschen in einem nicht-normativen oder erklärenden Sinn aus. Der grundlegende und unauslöschliche Charakter des amour propre – der in irgendeiner Form alle realen Menschen unabhängig von Zeit und Ort antreibt – macht ihn zu einer basalen Anlage oder Ausstattung der menschlichen Seele, auch wenn er, anders als der amour de soi-même und das Mitleid, nicht ohne soziale Beziehungen und ohne für den Menschen spezifische kognitive Fähigkeiten, wie das Vermögen zu urteilen und zu vergleichen, wirksam werden kann. Gleich dem amour de soi-même und dem Mitleid ist der amour propre für eine angemessene Erklärung der menschlichen Psyche wesentlich, bliebe doch ein großer Teil des menschlichen Verhaltens unerklärbar, würde der Wunsch, in den Augen der anderen Ansehen zu genießen, nicht mit in das Bild hineingenommen werden. Für die Politik- und GesellschaftsQuelle der sozialen Ungleichheit ist der amour propre | 93

philosophie bedeutet das, sie muss, um Maßstäbe für die Kritik und Bejahung sozialer Institutionen zu formulieren, den amour propre ebenso berücksichtigen wie die beiden Gefühle, welche die (nicht-soziale) Natur des Menschen bestimmen. Selbstverständlich ist die Natur des Menschen im erweiterten Sinn in einer wichtigen Hinsicht für Rous­seau strikt genommen nicht mehr Natur, und zweifellos ist das ein Grund, warum er es vermeidet, vom amour propre als von einem Teil der Natur des Menschen zu sprechen : Diese ausgezeichnet menschliche Leidenschaft beruht auf Urteilen und folglich auf menschlicher Freiheit, wie es auf den amour de soimême und das Mitleid nicht zutrifft. Das, was ich als die erweiterte (erklärende) Auffassung der Natur des Menschen bezeichne, ist, so könnte man sagen, eine Auffassung der Natur des Menschen, nicht der Natur des Menschen. Wenn ich die Vorstellung einer erweiterten Auffassung von der Natur des Menschen ins Spiel bringe, welche die Leidenschaft des amour propre der »ursprünglichen« Natur des Menschen hinzufügt, dann möchte ich damit meine Ablehnung einer der Thesen zum Ausdruck bringen, die gemeinhin mit Rous­seau in Verbindung gebracht werden, dass nämlich Menschen ihrer Natur nach radikal ungesellig sind. Wenn »Natur« in der eigentümlichen Bedeutung aufgefasst wird, die Rous­seau dem Ausdruck »ursprüngliche Natur« verleiht – als Bezeichnung dafür, wie Individuen wären, gäbe es keine sozialen Beziehungen, keine historische Entwicklung –, dann versteht es sich von selbst, dass Individuen mehr oder weniger per definitionem »von Natur aus« ungesellig sind. Aber nicht das wollen diejenigen behaupten, die Rous­seau so deuten, als verfechte er die radikale Ungeselligkeit der Menschen. Vielleicht lässt sich die Rous­seau von ihnen zugeschriebene Ansicht am besten als glatte Ablehnung jeder Spielart der Geselligkeitsthese verstehen, der zufolge Menschen, fehlte es an einem umfangreichen künstlichen Verband  – durch machtvolle soziale Institutionen oder die Einmischung eines großen Erziehers (wie der im Gesellschaftsvertrag angeführte Gesetzgeber einer wäre [GV, II.7]) – von Natur aus geneigt seien, dauerhafte soziale Verbindungen zu meiden, da sie weder den Wunsch noch das Bedürfnis danach verspürten und stattdessen eine solipsistische Lebensweise vorzögen, wie sie im ersten Teil des Zweiten Diskurses geschildert wird. Dass 94 | Kapitel 2 

die Interpreta­tion, die ich hier vorschlage, mit dieser verbreiteten Auffassung der Rous­seau’schen Position vollkommen bricht, wird wohl niemanden verblüffen. Wie ich bereits im vorangegangenen Kapitel ausgeführt habe, verwirft Rous­seau meines Erachtens nach die These von der natürlichen Geselligkeit und ersetzt sie durch die Verbindung von amour propre und Mitleid – das eine ein künstliches, das andere ein natürliches Element, die ihm beide als Leidenschaften (oder Gefühle) gelten, die alle realen Menschen bewegen, wo immer man auf sie stößt. (Der wichtigste Unterschied zwischen den beiden ist, wie gesagt, dass Letzteres die Menschen prinzipiell auch unabhängig von den sozialen Beziehungen, in denen sie sich befinden, motivieren kann, während das Erstere eine äußerst formbare, in sich soziale Leidenschaft ist, die nach einem Vergleich, nach Urteilen über Verdienst und Wert und der Vorstellung verlangt, dass ein Teil des eigenen Wohls von etwas unhintergehbar »Moralischem« abhängt und darin besteht, nämlich in den Meinungen, die andere über sie hegen. Es trifft zwar zu, dass die gemeinsam im Emile und im Gesellschaftsvertrag vorgeschlagene Lösung für die im Zweiten Diskurs formulierten Pro­bleme nach umfangreichen Erziehungsmaßnahmen rufen, aber man sollte sie nicht als solche auffassen, die unsoziale Geschöpfe in soziale Wesen verwandeln wollen. Man sieht darin besser Maßnahmen, die den amour propre und das Mitleid bereits sozialer Wesen – sozial in dem Sinn, dass sie sich als Teil ihres eigenen Wohls die guten Meinungen anderer über sie wünschen – so gestalten wollen, dass diese in ihrem sozialen Umgang miteinander die im Zweiten Diskurs geschilderten Übel vermeiden.68 Auch dieser Aspekt der Ansicht Rous­seaus sticht deutlicher in anderen Schriften als dem Zweiten Diskurs hervor, insbesondere im Emile, in dem Rous­seau wiederholt bemerkt, die Aufgabe einer guten häuslichen Erziehung könne nicht darin bestehen, den amour propre daran zu hindern, sich in den Individuen festzusetzen,69 sondern darin, den amour propre so zu formen, dass er das Glück und die Freiheit der Menschen eher fördert als zerstört. Wenn der Zweite Diskurs in Einklang mit Rous­seaus anderen Hauptschriften gebracht werden soll – und dazu fordert Rous­seau selbst uns auf 70 –, dann muss die These von der radikalen Ungeselligkeit der Menschen hinter ein komplexeres Bild seiner Einstellung zurücktreten, so wie ich es hier vorschlage. Quelle der sozialen Ungleichheit ist der amour propre | 95

Amour Propre als die Quelle sozialer Ungleichheit

Sobald der amour propre in Rous­seaus Bild der Psychologie des Menschen eingeführt worden ist, fällt es nicht mehr schwer zu sehen, woher die soziale Ungleichheit stammt oder, genauer gesagt, wie sie eher unsere Schöpfung als die der Natur sein kann. Denn wann immer Menschen ihr eigenes Wohl durch Vergleiche beziffern – wann immer unsere eigene Befriedigung davon abhängt, wie viel oder wie wenig unsere Mitmenschen vom gleichen Gut für sich gewinnen –, besteht die Möglichkeit, dass wir versuchen, dadurch gut dazustehen, dass wir andere ausstechen. Mit anderen Worten : Die Sorge um die relative Stellung schlägt leicht in den Wunsch nach einer überlegenen Stellung um, und sobald man den Standpunkt einnimmt, eine Bestätigung des eigenen Werts erfordere, nicht nur als gut, sondern verglichen mit anderen als besser wertgeschätzt zu werden, verlangt der amour propre nach Ungleichheit, um Erfüllung zu finden. Es ist also vor allem die auf Vergleiche gerichtete Natur des amour propre, die erklärt, warum der menschliche Wunsch, von anderen bewundernd betrachtet zu werden, den »ersten Schritt zur Ungleichheit« bildet, denn er allein macht verständlich, wie Menschen veranlasst werden können, Ungleichheiten um ihrer selbst willen zu erstreben, nämlich zum Zweck der öffentlichen Demonstration der überlegenen Stellung, in die sie unbedingt gelangen wollen. Die Bandbreite der menschlichen Phänomene, die auf einem solchen Drang zur Ungleichheit beruhen, ist so beachtlich, wie bekannt : die endlose Jagd nach Reichtum, der demonstrative Konsum, der erbarmungslose Trieb, miteinander zu konkurrieren und einander auszustechen, das Hasten, um »mit den Müllers mitzuhalten« – in all dem zeigt sich der vom amour propre befeuerte »Eifer«, sein »Vermögen zu vermehren – weniger aus echtem Bedürfnis als um sich über andere zu setzen« (DU, 221 / OC III, 175). Man könnte auch sagen, im amour propre steckt das Potential, die Menschen einzig und allein zu dem Zweck, besser als andere zu erscheinen, zur Verbesserung ihrer relativen Lage anzutreiben, und eine so geartete Leidenschaft ist genau das, was wir brauchen, um zu erklären, warum die künstliche Ungleichheit dermaßen in der überwältigenden Mehrheit der realen Gesellschaften vorherrscht, die wir aus der Vergangenheit und der Gegenwart kennen. 96 | Kapitel 2 

Das Hauptstück der Rous­seau’schen Antwort auf die erste der im Zweiten Diskurs aufgeworfenen Fragen ist daher, auch wenn es häufig übersehen wird, verhältnismäßig direkt. Es besteht in einer psychologischen These über den Ursprung des Drangs zur Ungleichheit unter den Menschen, und die spezifische »Entwicklung des menschlichen Geistes«, von der es heißt, sie sei für die soziale Ungleichheit verantwortlich, ist das Erwachen und die Bestärkung des amour propre.71 Dass Rous­seau den amour propre als Hauptquelle der sozialen Ungleichheit herausstellen möchte, geht nicht nur klar und deutlich aus seiner These hervor, sein Wirken stelle den »ersten Schritt zur Ungleichheit« (und »gleichzeitig zum Laster«) dar, sondern auch aus seiner Beschreibung dieser Leidenschaft als der »Sauerteig«, dessen »Gärung … Mischungen erzeugte, die dem Glück und der Unschuld verhängnisvoll waren« (DU, 205 / OC III, 169 f.).72 Wie die letzte Aussage andeutet, ist der amour propre, wiewohl er die Hauptursache – und eine notwendige Bedingung – der sozialen Ungleichheiten ist, zugleich weit davon entfernt, sie allein aus sich heraus hervorzubringen. Die Analogie zum Brotbacken ist hier sehr strikt zu nehmen : Der Drang, von anderen geschätzt zu werden, ist in genau dem Sinn die Ursache sozialer Ungleichheit, wie die Hefe die Ursache dafür ist, dass der Brotteig geht. Zu sagen, die Hefe sei die Ursache für das Gehen des Brotteigs, heißt nicht behaupten, sie hätte diese Wirkung ganz aus sich heraus, ohne dass andere Bedingungen – Wärme, Feuchtigkeit, Mehl – vorliegen, die sie für ihr Aktivwerden braucht. Dasselbe gilt für die Herstellung von Ungleichheit. Denn wie der Zweite Diskurs deutlich macht, müssen der Mischung eine Reihe anderer nicht-psychologischer Faktoren beigemengt werden – etwa Muße, Arbeitsteilung, Privateigentum – wenn der Gärungsprozess des amour propre in Gang gesetzt und seine Durchsäuerungskräfte entfesselt werden sollen. Trotz dieser Hilfsbedingungen – deren Anzahl und Verflochten­ heit letztlich die Komplexität der vollständigen Antwort auf die Frage nach dem Ursprung der sozialen Ungleichheit im Zweiten Diskurs geschuldet ist – wird der amour propre dadurch zur Quelle der sozialen Ungleichheit, dass er, wie die Hefe bei der Herstellung von Brot, die Stärke oder die Kraft bereitstellt, die einen bestimmten Wachstums- oder Transformationsvorgang antreibt : Es ist der amour propre, aus dem »die Ungleichheit, die im Naturzustand fast Quelle der sozialen Ungleichheit ist der amour propre | 97

gleich null war, Stärke und Wachstum« bezieht (DU, 267 / OC III, 193). Anders formuliert ist es die Leidenschaft, von anderen geschätzt zu werden, welche die Ausbreitung der Ungleichheit befeuert, denn sie allein von allen Elementen der menschlichen Psychologie liefert den Menschen ein Motiv, Ungleichheiten zu schaffen, die über die von der Natur selbst hervorgebrachten hinausgehen. Die Hauptursache der Ungleichheit ist sie, weil sie es versteht, Menschen dazu zu bewegen, eine fast unbegrenzte Vielfalt neuer, künstlicher Gelegenheiten zu schaffen, um den Wunsch zu stillen, in den Augen anderer eine angesehene Stellung einzunehmen, wann immer unter einer angesehenen Stellung eine überlegene Stellung verstanden wird. Doch wenn das Hauptstück der Rous­seau’schen Erklärung des Ursprungs sozialer Ungleichheit auch verhältnismäßig einfach ist, so sind doch seine ergänzenden Details, wie jeder Leser unschwer erkennt, alles andere als unkompliziert. Die im zweiten Teil erzählte Geschichte darüber, wie die Ungleichheit dazu kommt, eine beherrschende Rolle in den menschlichen Angelegenheit zu spielen, beruft sich auch auf eine große und komplexe Menge nicht-psychologischer Faktoren, zu denen ebenso sozio-­ politische Phänomene – Arbeitsteilung, Privateigentum, Staat, soziale Schichtung – wie auch sehr allgemeine Merkmale der Zivilisation gehören, etwa Muße, Luxus und technische Erfindungen. Die nicht-psychologischen Faktoren figurieren, wie ich oben schon sagte, in Rous­seaus Darlegung als Hilfsbedingungen, die in irgendeiner Kombination gegeben sein müssen, wenn der amour propre die Gärungswirkungen haben soll, die hervorzurufen er fähig ist. Leider – doch vielleicht spricht es auch für Rous­seau – lässt sich nur sehr schwer genau bestimmen, wie und in welcher Kombination diese Bedingungen dem Zweiten Diskurs zufolge zusammenarbeiten, um die latente Kraft des amour propre zu entfesseln. Diese eng verwobenen Stränge der Rous­seau’schen Darlegung zu entwirren ist eine ebenso delikate wie zeitaufwendige Unternehmung, und der Rest dieses Kapitels wird sich dieser Aufgabe widmen. Am besten versucht man zunächst zu bestimmen, warum das bloße Vorliegen des amour propre unzureichend ist, um die verschiedenen und weit verbreiteten Formen der sozialen Ungleichheit zu klären, mit denen der Zweite Diskurs vor allem beschäftigt ist. Der erste Grund ist, dass der amour propre, obwohl immer eine 98 | Kapitel 2 

Vergleiche ziehende Leidenschaft, sich nicht unter allen Bedingungen ausschließlich oder primär als Wunsch nach einer überlegenen Stellung zeigen muss. Denn wie ich oben im Kontext der Forderung, so behandelt zu werden, wie die Normen der Höflichkeit es gebieten, bereits gesagt habe, kann das Streben nach einer angesehenen Stellung die Form annehmen, von anderen als ein Gleicher respektiert zu werden – etwa als schlicht eine »Person« oder ein »Mensch« –, der dieselben Rechte und dieselbe Würde wie jeder andere auch genießt. Der Zweite Diskurs muss daher, um die weit verbreitete soziale Ungleichheit zu erklären, etwas dazu sagen, warum der amour propre so oft in das Gewand des Wunsches nach einer überlegenen Stellung schlüpft, wenn er genauso gut auf eine gleiche Stellung aus sein könnte. (Und in diesem Fall würde er kein Motiv dafür liefern, Ungleichheiten zu schaffen, die über die natürlichen hinausgehen.) Zu den verwirrenden Merkmalen des Zweiten Diskurses gehört, dass er auf diese entscheidende Frage keine Antwort zu geben scheint. Stattdessen äußert sich der amour propre, wie wir oben gesehen haben, schon bei seinem ersten Auftritt im Zweiten Diskurs als der Wunsch, höher als andere geschätzt zu werden – als »der Schönste, der Stärkste, der Gewandteste, der Beredsamste« (DU, 205 / OC III, 169) – und diese Tatsache, die für die Erklärung des Ursprungs der Ungleichheit im Zweiten Diskurs so entscheidend ist, scheint unerklärt zu bleiben – obwohl, wie ich weiter unten behaupten werde, eine sorgfältige Lektüre der Schriften Rous­seaus die nötigen Mittel bereitstellt, um diesen Eindruck zu zerstreuen. Der zweite Grund, aus dem heraus der amour propre für sich genommen keine weit verbreitete Ungleichheit zu erzeugen vermag, ist der, dass selbst wenn er in vielen Individuen vornehmlich als der Wunsch nach einer überlegenen Stellung angelegt ist, eine Reihe anderer, nicht-psychologischer Bedingungen vorliegen müssen, bevor dieser Wunsch sich in die hartnäckigen Systeme von Privilegien übersetzt, mit denen Rous­seau sich in seiner Untersuchung über den Ursprung sozialer Ungleichheit beschäftigt. Solange das Streben nach Überlegenheit auf den einfachen Wunsch primitiver Geschöpfe beschränkt bleibt, der Schönste oder der beste Sänger zu sein, kann keine beträchtliche soziale Ungleichheit entstehen. Das zeigt sich in der Tatsache, dass in der Erzählung des Zweiten Quelle der sozialen Ungleichheit ist der amour propre | 99

Diskurses sich der Wunsch, höher als andere geachtet zu werden, in gewissen Hinsichten ausgebildet hat, lange bevor die Gesellschaft im sogenannten Goldenen Zeitalter »die glücklichste und dauerhafteste Epoche« erreicht (DU, 209 / OC III, 171).73 Hier haben wir einen der Gründe, warum die oben erwähnten Hilfsbedingungen in die vollständige Antwort des Zweiten Diskurses auf die Frage über den Ursprung der Ungleichheit einfließen müssen, wie man, um nur ein Beispiel zu nennen, Rous­seaus Bemerkung am Ende des Zweiten Diskurses entnehmen kann : Während die »Ungleichheit … Stärke und Wachstum« aus dem amour propre gewinnt, bedarf es »des Eigentums und der Gesetze«, um künstliche Ungleichheiten »dauerhaft und legitim« zu machen. (Der letzte Ausdruck bedeutet hier nur, dass diese Ungleichheiten denen, die ihnen unterworfen sind, als legitim erscheinen.) In gewisser Weise dienen die meisten der im zweiten Teil des Zweiten Diskurses angeführten »Entwicklungen« – technische Fortschritte, die Vervollkommnung der kognitiven Fähigkeiten, durch die Arbeitsteilung bedingte Spezialisierungen, der Ursprung des Privateigentums, der Staaten und der Gesetzeswerke  – dazu, die verschiedenen Ungleichheiten zu institutionalisieren und auf Dauer zu stellen, zu deren Schaffung Geschöpfe mit dem Wunsch nach einer überlegenen Stellung sich angetrieben fühlen. Doch auch hier scheint Rous­seau kaum ein Wort dafür übrig zu haben, warum diese Bedingungen entstehen oder, noch wichtiger, für das Ausmaß, in dem sie die notwendigen bzw. nicht-zufälligen Merkmale der menschlichen Zivilisation im Allgemeinen darstellen. Stattdessen neigt er dazu, die Zufälligkeit, ja die Unerklärlichkeit, dieser entscheidenden Bedingungen zu betonen, indem er etwa behauptet, dass »das zufällige Zusammenwirken mehrerer äußerer Ursachen nötig war, das ebenso gut auch nie hätte stattfinden können« (DU, 189 / OC III, 162), damit die Ungleichheit im menschlichen Dasein Fuß fassen konnte, und damit indirekt sagt, die Entwicklung der latenten Vermögen der Sprache, der Vernunft und anderer basaler kognitiver Funk­tionen (darunter das für die Metallverarbeitung nötige Wissen) bleibe letzten Endes unerklärlich (DU, 139 – 161, 213 f. / OC III, 144 – 151, 171 f. ). Beginnen wir mit der ersten dieser Zusatzbedingungen zu Rous­ seaus Kernthese, der amour propre sei die Hauptursache der Ungleichheit. Wenngleich man dafür beträchtliche Mühe aufwenden 100 | Kapitel 2 

muss, ist es durchaus möglich, aus dem Gesamtkorpus der Rous­ seau’schen Schriften – vor allem unter Hinzuziehung des Emile – eine komplexe Antwort auf die Frage zu gewinnen, warum der amour propre bei seinem ersten Auftritt im Zweiten Diskurs die Form des Wunsches nach einer überlegenen und nicht nach einer bloß gleichen Stellung annimmt (oder warum, wenn wir von dem offensichtlich historischen Charakter der Rous­seau’schen Erzählung abstrahieren, es so wahrscheinlich ist, dass der amour propre unabhängig von den spezifisch sozialen Bedingungen seines Auftretens als der Wunsch nach überlegener Stellung erscheint).74 Wie schon gesagt, leistet der Zweite Diskurs selbst erstaunlich wenig Hilfestellung bei der Erklärung dieses so entscheidenden Merkmals seiner Darlegung. Dabei ist doch die Frage, warum der amour propre zuerst oder sehr wahrscheinlich sich als der Wunsch nach einer überlegenen Stellung zu erkennen gibt, für das Unterfangen des Zweiten Diskurses von großer Bedeutung. Denn wäre der Wunsch nach einer überlegenen Stellung lediglich ein Ergebnis zufälliger sozialer Bedingungen oder läge er, unabhängig von sozialen Bedingungen, nicht mit größerer Wahrscheinlichkeit als der Wunsch nach einer gleichen Stellung vor, würde dies Rous­seaus Darstellung der sozialen Ungleichheit in zwei bedeutenden Hinsichten affizieren : Seine These vom amour propre als der Hauptursache von Ungleichheit würde beträchtlich geschwächt werden – denn nur der von zufälligen sozialen Umständen geformte amour propre würde den Wunsch entstehen lassen, der die Verbreitung von Ungleichheit befeuert –, und die allgegenwärtige soziale Ungleichheit wäre so nur als eine Möglichkeit menschlicher Gesellschaften erwiesen worden, schwerlich aber als ein wahrscheinliches oder nahezu allgemeines Phänomen. Um über diesen entscheidenden, aber sehr vielschichtigen Punkt keine Unklarheit aufkommen zu lassen : Rous­seau macht, und das spricht für ihn, die von ihm angesprochenen Pro­bleme nicht dadurch leichter lösbar, dass er glaubt, der Wunsch nach einer überlegenen Stellung ließe sich vollkommen aus der menschlichen Psychologie entfernen oder die diesem Wunsch entspringenden Ungleichheiten ließen sich vollkommen aus den Gesellschaften der Menschen eliminieren, und dieser Aspekt seiner Auffassung schlägt sich in der (unerklärten) Tatsache nieder, dass der amour propre seinen ersten Auftritt im Zweiten Diskurs Quelle der sozialen Ungleichheit ist der amour propre | 101

im Gewand des Wunsches hat, von anderen in einer ganz bestimmten Hinsicht als anderen gegenüber überlegen betrachtet zu werden. Anders ausgedrückt : Die Tatsache, dass bestimmte Formen des Wunsches, von anderen einen Vorrang eingeräumt zu bekommen, bereits im Goldenen Zeitalter vorhanden sind und damit der Perversion des amour propre durch soziale Bedingungen vorausgehen, ist so zu verstehen, dass der Wunsch nach irgendeiner Art von überlegener Stellung in den Augen anderer keine nicht-zufällige Äußerung des amour propre ist und dass daher das Begehren unrealistisch wäre, eine Gesellschaft herzustellen, in der alle Formen dieses Wunsches fehlen oder in der keine irgendwie geartete soziale Ungleichheit herrscht. Diese Deutung wird von anderen Passagen im Zweiten Diskurs unterstützt und durch die Beschreibung des im heranwachsenden Knaben erwachenden amour propre im Emile bestätigt : »[…] der erste Blick, den er auf seine Mitmenschen wirft, [wird ihn] dazu veranlassen, sich mit ihnen zu vergleichen, und das erste Gefühl, das durch diesen Vergleich in ihm erregt wird, ist der Wunsch, den ersten Platz einzunehmen« (E, 486 / OC IV, 523). Die schwierigere Frage lautet nicht, ob Rous­seau glaubt, der amour propre besitze eine den Menschen innewohnende Neigung, unabhängig von sozialen Umständen als der Wunsch nach einer überlegenen Stellung aufzutreten, sondern warum er das glaubt. Ein für diese Frage einschlägiger Abschnitt im Zweiten Diskurs beschreibt, wie zuerst der Vergleich und dann der Stolz die allerersten Fortschritte der Zivilisation noch vor dem Erwachen des amour propre begleiten oder, um es in eine ahistorische Sprache zu übersetzen, wie es kommt, dass die grundlegende Praxis des Vergleichens ein Interesse an dem unter den verglichenen Gegenständen eingenommenen Rang beinhaltet oder zu diesem neigt. Diesem Abschnitt zufolge sind es natürliche Umstände, unter denen das Vermögen, verschiedene Dinge zu vergleichen, ein Bestandteil der natürlichen Vervollkommnung, in den Menschen erwacht und sich entwickelt. Es geschieht nämlich dann, wenn die Fähigkeit, gewisse Vergleiche anzustellen  – ist das Tier vor mir schneller oder langsamer, stärker oder schwächer als ich ? –, sich als wertvoll für das eigene Überleben und damit als entscheidend für die Zwecke des amour de soi-même entpuppt. Ist die Fähigkeit zum Vergleichen erst ein-

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mal vorhanden, folgt ihr, wie es heißt, die Entwicklung des Stolzes auf dem Fuß : Die neuen Erkenntnisse, die sich aus dieser Fortentwicklung ergaben, vergrößerten seine Überlegenheit über die anderen Tiere und machten sie ihm bewußt. Er lernte ihnen Fallen zu stellen, er führte sie auf tausend Arten irre … mit der Zeit [wurde er] der Herr der einen und der Schrecken der anderen. Auf diese Weise bewirkte der erste Blick, den er auf sich selbst warf, die Regung des Stolzes. Auf diese Weise bereitete er sich, als er noch kaum eine Rangordnung unterscheiden konnte und sich bloß auf Grund seiner Gattung als den ersten betrachtete, langsam darauf vor, auf diesen Vorzug auch als Einzelperson Anspruch zu erheben. (DU, 195 ff. /OC III, 165 f.)

Obwohl in diesem kurzen Abschnitt viel Interessantes steckt – das Erwachen des Selbstbewusstseins, die erste Kostprobe seiner Herrschaft über andere Geschöpfe, der Schritt vom Vergleichen zum Aufstellen von Rangordnungen –, ist der wichtigste Punkt hier der letzte : Wie und warum legen diese eher primitiven Phänomene das Fundament für die später dem amour propre zugeschriebene Veranlagung, für sich »diesen Vorzug auch als Einzelperson« zu beanspruchen ? Sofern Rous­seau hier eine Erklärung dafür anbietet, woher diese Veranlagung stammt, scheint sie folgendermaßen vorzugehen : Die Fähigkeit der Menschen, Vergleiche anzustellen, legt gemeinsam mit ihrem natürlichen Interesse daran, unter bestimmten Umständen zu wissen, wer der Schnellere oder Stärkere ist, das Fundament dafür, dass sie sich ihrer Überlegenheit (als Gattung) über andere Tiere bewusst werden – eine Überlegenheit, die schon vor dieser Bewusstwerdung besteht, die aber sogar noch größer wird, sobald sie sich ihrer bewusst werden und auf ihre Umwelt so einwirken, dass sie wächst. Außerdem setzen diese Entwicklungen keine neue Quelle der Motivation voraus, denn da die Überlegenheit über andere Gattungen für das Überleben von Vorteil ist, lässt sich selbst eine bewusst beabsichtigte Zunahme dieser Überlegenheit als etwas verstehen, was durch den (nicht-relativen) amour de soi-même motiviert ist.75 Etwas Neues kommt dennoch in die Geschichte hinein, dadurch nämlich, dass Menschen, wenn sie ihre Überlegenheit erleben – darunter auch die interessante ErQuelle der sozialen Ungleichheit ist der amour propre | 103

fahrung, die weniger Bevorteilten zu beherrschen –, ein lustvolles Gefühl angesichts ihres höheren Ranges empfinden76, eine Lust, die hier als »die erste Regung des Stolzes« ausgemacht wird. Rous­seau scheint sich daher der Auffassung annähern zu wollen, dass drei Dinge – die Fähigkeit, Vergleiche zu ziehen, das Interesse an bestimmten, für das Überleben wichtigen Formen der Überlegenheit und die Erfahrung ihrer tatsächlichen Überlegenheit – so ineinander greifen, dass Menschen die Lust kennenlernen, die man aus dem Bewusstsein schöpft, selbst einen höheren Rang einzunehmen. Diese neue, ungeahnte Lust bringt sie dann hinsichtlich der Überlegenheit auf den Geschmack, ja regt vielleicht ihren Appetit auf mehr davon an, aber noch – soweit es sich dem Text entnehmen lässt – stattet sie die Menschen nicht mit einem positiven Anreiz aus, ganz bewusst Bedingungen für die Überlegenheit zu schaffen, einzig und allein um noch mehr von dieser Lust zu kosten. Zwar ist die Überlegenheit, an der Menschen sich zu erfreuen gelernt haben, zunächst noch die der Gattung, doch kann man sich leicht vorstellen, wie daraus unter komplexeren Umständen ein Geschmack an der individuellen Überlegenheit erwächst, sobald die Unterschiede zwischen den Einzelnen bemerkt, vervielfacht und dann bewusst gepflegt werden. In den nächsten Phasen der menschlichen Entwicklung beschreibt Rous­seau dann auch etwas dieser Art. Ein faszinierendes Merkmal dieser Darlegung ist jedoch, dass zwischen den Stolz – der Lust des Menschen einer höheren Gattung anzugehören – und dem ersten Auftreten des amour propre – des Wunsches von anderen betrachtet und als der Schönste oder Stärkste geschätzt zu werden  – eine weitere wichtige Stufe eingeschoben wird. Sobald sich zwischen den Individuen Unterschiede entwickelt haben und augenfällig geworden sind  – was einen gewissen Grad an regel­ mäßigem Verkehr zwischen den Individuen ebenso voraussetzt wie ein Produktionsniveau, das ihnen genug Freizeit lässt –, scheint ein weiterer Schritt notwendig zu sein : Man gewöhnt sich daran, mannigfache Dinge zu berücksichtigen und zu vergleichen, man erlangt unmerklich Begriffe von Verdienst und Schönheit, die Gefühle der Bevorzugung wachrufen. Infolge des gegenseitigen Sehens kann man nicht mehr davon lassen, sich 104 | Kapitel 2 

immer wieder zu sehen. Ein sanftes und liebliches Gefühl schleicht sich in die Seele ein und wird durch das geringfügigste Hemmnis zu unerahnter Schrecklichkeit entfacht : die Eifersucht erwacht mit der Liebe … (DU, 205 / OC III, 169)

Erst nach dieser Szene, allerdings unmittelbar danach, schon im nächsten Absatz, begegnen wir zum ersten Mal Geschöpfen, die, da sie ihre Gefährten anschauen und ihrerseits angeschaut werden wollen, sich danach sehnen, für besser als die anderen gehalten zu werden. Kurz gesagt, erst nachdem die Fähigkeit zur geschlechtlichen Liebe aufgerüttelt worden ist, stoßen wir zum ersten Mal auf menschliche Geschöpfe, die vom amour propre angetrieben werden oder, um es genauer zu sagen, von der besonderen, aber kaum zufälligen Form des amour propre, die, weil sie die Anerkennung der eigenen Überlegenheit als Individuum, zumindest in einer bestimmten Hinsicht, erstrebt, als die hauptsächliche – das heißt psychologische – Quelle der künstlichen Ungleichheit gilt. Das faszinierende Merkmal der Rous­seau’schen Darlegung besteht also darin, dass zwischen dem Stolz und der Geburt des Wunsches, höher als andere Individuen geschätzt zu werden, eine Phase liegt, in der Menschen sich darin üben, anderen den ersten Platz einzuräumen : Sie besetzen bestimmte Objekte der geschlechtlichen Liebe mit »Gefühlen der Bevorzugung«. (Das ist nicht die einzige Stelle, an der Rous­seau, ohne es ausdrücklich zu sagen, eine tiefe Verbindung zwischen Sexualität und amour propre andeutet. Auch im Emile treten die beiden Leidenschaften Hand in Hand auf und dort wird ebenfalls deutlich, dass diese Verbindung keine zufällige ist.) Angenommen, dass die leidenschaftliche Liebe für eine bestimmte Person als eine Bedingung des amour propre anzusehen ist, der unmittelbar darauf den Schauplatz betritt, und weiter angenommen, dass dieser Punkt mit der früheren Erörterung des Stolzes zusammengeführt wird, dann scheint Rous­seaus Auffassung folgende zu sein : Bereits dadurch, dass sie ihre Überlegenheit über nicht-menschliche Lebewesen bemerken, erfahren Menschen eine Lust, die sie aus der Einnahme einer überlegenen Stellung gewinnen. Genau diese Lust bezeichnet Rous­seau als Stolz – obgleich festzuhalten ist, dass dieser Stolz, anders als die superbia Adams und Evas, durch und durch wohlwollend, ja gut ist. Diese erste Lektion Quelle der sozialen Ungleichheit ist der amour propre | 105

in Stolz scheitert aber noch daran, Menschen mit dem Anreiz auszustatten, Überlegenheit um ihrer selbst willen zu erstreben, und sie legt ihnen auch noch nicht den Gedanken nahe, dass Individuen ebenso gut zu Individuen derselben Gattung in der Beziehung der Überlegenheit oder Unterlegenheit stehen können. Auf diese Idee verfallen sie erst durch ihre Erfahrung, dass in der geschlechtlichen Liebe die relativen Verdienste, darunter die Schönheit, bestimmter Individuen ins Gewicht fallen. Ein Individuum nimmt ein anderes als das schönste, lieblichste, verführerischste – kurz als das beste – wahr und verliebt sich leidenschaftlich in dieses. Rous­ seaus Dar­legung zufolge ist diese Erfahrung des leidenschaftlichen Bedürfnisses nach diesem einen Individuum, das man höher als alle anderen wertschätzt, der Boden, auf dem der Wunsch wächst, selbst mehr als andere wertgeschätzt zu werden, denn meine Leidenschaft wird nur dann gestillt werden, wenn es mir gelingt, das geliebte Wesen dazu zu bewegen, mich im Gegenzug für begehrenswerter als meine Konkurrenten zu halten.77 Die These ist also die, dass, sobald das Interesse, in den Augen eines anderen Subjekts begehrenswerter als seine Rivalen zu erscheinen, in der menschlichen Psyche Fuß gefasst hat, es in irgendeiner Form dauerhaft erworben wird78 und sich oft und höchst wahrscheinlich – wenngleich nicht notwendig in jeder Situation – als der Wunsch äußert, in der Meinung von wenigstens ein paar anderen Individuen nicht nur als gut, sondern als besser, ja sogar als der Beste dazustehen. Ist der Anspruch auf eine überlegene Stellung, wie er der sexuellen Leidenschaft innewohnt, erst einmal verallgemeinert und in andere Bereiche des Daseins eingedrungen, hat der amour propre in eben der Form, die er annimmt, wenn müßiggängerische Geschöpfe sich vor ihren primitiven Hütten versammeln, die Welt betreten und ist zu einem dauerhaften und grundlegenden Motor für Geschöpfe geworden, die nicht mehr bloß Tiere, sondern nun echte Menschen sind. (Am Ende dieses Kapitel werde ich diese Behauptungen wieder aufgreifen, um die Frage zu stellen, was von Rous­seaus grundlegender These geblieben ist, die soziale Ungleichheit entspringe nicht der Natur, sobald dem sie befeuernden Wunsch – dem Verlangen, in den Augen anderer irgendeine Art überlegener Stellung einzunehmen – eine so fundamentale Rolle im menschlichen Dasein zugesprochen worden ist.) 106 | Kapitel 2 

Die zur Erklärung der sozialen Ungleichheit nötigen Hilfsbedingungen

Nachdem wir im Allgemeinen geklärt haben, warum der Wunsch, (in irgendeiner Hinsicht) für besser als andere gehalten zu werden, keine bloß zufällige Äußerung des amour propre ist, wende ich mich nun der zweiten, vielschichtigeren Bestimmung der Rous­ seau’schen Kernthese zu, der amour propre sei die Hauptursache der Ungleichheit, der zufolge verschiedene nicht-psychologische Bedingungen erfüllt sein müssen, wenn jener Wunsch zu dauerhaften und folgenreichen Systemen der Ungleichheit führen soll. Rous­seaus allgemeiner Punkt, dass, solange der Drang nach einer überlegenen Stellung nicht den einfachen Wunsch von Geschöpfen in primitiven Umständen übersteigt, als der Schönste oder Stärkste zu gelten, sich keine bedeutende soziale Ungleichheit ergeben kann, ist nicht schwer zu verstehen. Und genauso leicht sieht man, wie jede der nicht-psychologischen Bedingungen für sich genommen dazu dient, die Ungleichheit zu fördern, zu stützen oder zu »legitimieren«, die von Menschen aufgrund des Triebs, eine überlegene Stellung einzunehmen, geschaffen wird. Dagegen ist es beträchtlich schwerer herauszufinden, wie die verschiedenen Elemente seiner Darlegung zueinander passen, und, haben wir diese Aufgabe gelöst, festzustellen, welche Folgen diese Darlegung für die Beurteilung des Ausmaßes hat, in dem soziale Ungleichheiten, vor allem solche mit nachweislich üblen Auswirkungen, unaufhebbare Merkmale der menschlichen Gesellschaft bilden. Dass das Privateigentum eine große Rolle in dieser Darlegung spielt, geht klar aus den berühmten Eingangszeilen des zweiten Teils hervor, in denen Rous­seau die Verantwortung für zahllose »Verbrechen, Kriege, Morde, Leiden und Schrecken«  – wie auch den Ursprung der bürgerlichen oder politischen Gesellschaft – dem ersten zuschreibt, »der ein Stück Land eingezäunt hatte und dreist sagte : ›Das ist mein‹…« (DU, 191 / OC III, 162). Man sieht leicht, wie die Regulierung des Privateigentums, insbesondere wenn sie die Macht des Staates im Rücken hat, zum Wachsen und zur Institutionalisierung von Ungleichheit beiträgt, indem sie einen Bereich des gesellschaftlichen Verkehrs eröffnet, in dem neue Typen von vergleichsgelenkter Stellung  – Unterschiede zwischen arm und reich – möglich und für alle sichtbar gemacht werden. Es ist aber Quelle der sozialen Ungleichheit ist der amour propre | 107

auch ebenso deutlich, dass Rous­seau Privateigentum nicht für die einzige (oder für eine Erklärung primäre) nicht-psychologische Bedingung hält, auf die sich seine Darlegung des Ursprungs der Ungleichheit stützt, denn in eben dem Abschnitt, der die verderblichen Folgen des Privateigentums unterstreicht, sagt er auch, der Begriff des Eigentums seinerseits hänge »von so vielen vorausgehenden Begriffen ab, die nur nach und nach entstehen konnten«. Anders gesagt spielt das Privateigentum, hat es sich erst einmal etabliert, eine wichtige Rolle bei der Schaffung und Sicherung sozialer Ungleichheiten. Dennoch steht es als erklärendes Element nicht ganz oben in seiner Darlegung, welche nicht-psychologischen Bedingungen mit dem amour propre (wie) wechselwirken – oder genauer gesagt mit dem Drang, eine überlegene Stellung einzunehmen–, um eine umfassende und dauerhafte soziale Ungleichheit zu erzeugen. Hat man dies erkannt, legt sich ganz von allein die Frage nahe : Welcher nicht-psychologische Faktor ist dann für eine Erklärung primär ? Die verwirrende Komplexität des Zweiten Diskurses ist zu einem großen Teil der Tatsache geschuldet, dass Rous­seau sich weigert, einen dieser Faktoren als die einzige, primäre, nicht-psychologische Ursache zu benennen. Seine Darstellung ist dadurch schwerer zu rekonstruieren, als sie es hätte sein können, aber es macht sie auch interessanter und plausibler. (Schließlich wird sie so der Komplexität der Phänomene gerechter, die sie verstehen möchte.) Im Lichte dieser Komplexität wird meine Rekonstruktion dieses Teils der Rous­seau’schen Darlegung der sozialen Ungleichheit mehrere, miteinander verbundene Fragen ansprechen : (1) Welche unterschiedlichen, nicht-psychologischen Bedingungen spielen in der Erklärung der sozialen Ungleichheit eine Rolle ? (2) Wie trägt jede dieser Bedingungen für sich genommen und auf ihre je eigene Weise zur Schaffung und Verbreitung der sozialen Ungleichheit bei  – immer vorausgesetzt, der Wunsch nach einer überlegenen Stellung ist bereits präsent ? (3) In welchem Maße sind diese Bedingungen kausal oder ihrer Existenz nach voneinander abhängig, und was bedeutet diese wechselseitige Abhängigkeit für die Frage, welche von ihnen, wenn überhaupt, eine Vorrangstellung in der Erklärung einnimmt ? (Wie wir sehen werden, bedingen einige dieser nicht-psychologischen Faktoren die Erscheinungsform und die 108 | Kapitel 2 

Entwicklung des amour propre und sind ihrerseits durch sie bedingt, was zur Komplexitätssteigerung der Rous­seau’schen Darstellung beiträgt.) (4) Wie haben wir Rous­seaus wiederholte und verblüffende Thesen hinsichtlich der Zufälligkeit dieser Bedingungen und manchmal sogar der Wahrscheinlichkeit oder Unmöglichkeit ihrer Entstehung überhaupt zu verstehen, und was folgt daraus für seine Position bezüglich des Ausmaßes, in dem die künstliche Ungleichheit ein unauslöschliches Merkmal der menschlichen Gesellschaft in Allgemeinen ist ? Die erste Aufgabe besteht darin, die verschiedenen Bedingungen zu unterscheiden, die in der Erklärung der Allgegenwart und Beharrlichkeit sozialer Ungleichheit eine unabhängige Rolle spielen. Der Zweite Diskurs scheint sechs solcher Bedingungen anzuführen, die im Gang der Darlegung grob in dieser Reihenfolge auftauchen : (1) Muße oder wiederkehrende Zeitspannen, in denen die Menschen nicht gezwungen sind, die für ihr physisches Überleben notwendigen Güter zu finden oder zu erzeugen ; (2) das Gegenstück der Muße, der Luxus, den wir am besten als die Gewöhnung an Güter und Genüsse begreifen, die biologisch nicht notwendig sind, aber dennoch schnell als Bedürfnisse betrachten werden ; (3) individuelle Differenzierung bezüglich des Charakters, der Umstände und Fähigkeiten, die weit über die natürlichen Unterschiede zwischen den Individuen hinausgehen und das Ergebnis unterschiedlicher Glücksumstände, Anstrengungen und natürlicher Begabungen sind ; (4) eine Arbeitsteilung, die sich am stärksten ausgeprägt in der Erfindung der Metallverarbeitung und des Ackerbaus zeigt, welche beide als verschiedene Produktionszweige ausgeübt werden, wodurch die wechselseitige Abhängigkeit der Individuen bezogen auf die Befriedigung ihrer Bedürfnisse wächst ;79 (5) gesetzliche Regelungen des Privateigentums, vor allem hinsichtlich der Produktionsmittel, wie etwa Land, und (6) politische Institutionen (der Staat). Obgleich diese sechs Faktoren, liegen die minimalen Zivilisationsbedingungen erst einmal vor, in der realen Welt aufhören, kausal voneinander unabhängig zu sein – möglicherweise sind sie es zu keiner Zeit vollkommen –, ist es sinnvoll, sie unten dem Gesichtspunkt zu ordnen, wie grundlegend sie für die Erklärung der sozialen Ungleichheit sind. (Hier haben wir ein gutes Beispiel dafür, wie sich die scheinbar historischen Merkmale der Erzählung Quelle der sozialen Ungleichheit ist der amour propre | 109

im Zweiten Diskurs in ahistorische, philosophische Thesen über begriffliche oder die Existenz von etwas betreffende Abhängigkeitsverhältnisse übersetzen lassen.) So macht Rous­seau etwa deutlich, dass sowohl das Privateigentum80 als auch der Staat ein bestimmtes Niveau an Muße, individueller Differenzierung und Arbeitsteilung voraussetzt und dass Muße, so wie wir sie oben definiert haben – und in Maßen – keine der anderen Gegebenheiten voraussetzt. Dass Muße die grundlegendste dieser Bedingungen ist, lässt sich an der oben bereits erwähnten Tatsache ablesen, dass sie in der Erzählung des Zweiten Diskurses noch vor der Geburt des amour propre auftaucht. Jetzt sind wir in der Lage zu erkennen, dass dieses chronologische Merkmal der Rous­seau’schen Geschichte seine Überzeugung spiegelt, die Sorge darum, wie man auf andere wirkt, könne für Menschen nur dann eine entscheidende Motivationsquelle sein, wenn sie ein bestimmtes Produktivitätsniveau erreicht haben, das ihnen nicht allein erlaubt, über anderes als die Befriedigung ihres Hungers und Durstes nachzudenken – dessen erfreuten sie sich bereits in ihrem allerprimitivsten Zustand –, sondern auch, was sehr viel wichtiger ist, einige ihrer latenten Vermögen geweckt hat, »Aufklärung« zu suchen (DU, 199 / OC III, 167), darunter zweifellos eine Neugierde für Dinge, die mehr als bloß notwendig und nützlich waren. (Ein wenig individuelle Differenzierung scheint ebenfalls eine Bedingung für den amour propre zu sein, gäbe es doch ohne sie keine unterscheidenden Eigenschaften zwischen den Individuen, an denen die Leidenschaft bewundert oder geschätzt zu werden andocken könnte, vielleicht aber genügen dafür auch die rein natürlichen Unterschiede.) Dass in der Erzählung des Zweiten Diskurses die Muße dem amour propre vorangeht, drückt zudem die Auffassung aus, sie lasse sich unabhängig von dem Wunsch, in den Augen der anderen gut dazustehen, erklären, nämlich als eine unmittelbare Folge des amour de soi-même im Verband mit kleinsten technischen Fortschritten, die es den Menschen ermöglichen, mehr als die reinen Subsistenzmittel zu erwirtschaften. (An dieser Stelle wird deutlich, dass die Erklärungsweise des Zweiten Diskurses viel mit Spielarten des Materialismus, etwa der Marx’schen, gemeinsam hat, die den durch technische Errungenschaften ausgelösten sozialen Veränderungen großes Erklärungsgewicht beilegen, wobei die neuen Techniken ihrerseits auf Herausforderungen 110 | Kapitel 2 

reagieren, vor denen die Menschen bei ihrer materiellen Reproduktion stehen.81 Die Steigerung der Produktivkräfte spielt für Rous­seau auch eine Rolle in der Erklärung der individuellen Diffe­ renzierung, der Weiterentwicklung der Arbeitsteilung und daher letztlich des Staates und des Privateigentums.) Für Rous­seaus Darstellung der sozialen Ungleichheit ist Muße darum so wichtig, weil sie eine Vorbedingung für eben die psychologische Kraft ist, die den Impuls des Menschen, Ungleichheiten zu schaffen, entstehen lässt. Allerdings ist das nicht die einzige von ihr erfüllte Aufgabe. Muße ist auch der Ermöglichungsgrund für den Luxus (oder für »Annehmlichkeiten«), der, indem er den Menschen immer mehr vermeintliche Bedürfnisse jenseits derjenigen einflößt, die ihnen die Natur vorgibt, den Anreiz schafft, mehr zu erzeugen und haben – obgleich noch nicht besitzen – zu wollen, als rein natürliche Geschöpfe sich je in ihrer Vorstellung wünschen könnten.82 Luxus an sich beinhaltet zwar nicht notwendig Ungleichheit, aber je mehr die Menschen sich von einer Situation entfernen, in der ihre Wünsche sich auf eine kleine Menge relativ leicht zu befriedigender Bedürfnisse beschränken, umso mehr Raum entsteht dafür, dass Unterschiede in den Glücksumständen und natürlichen Eigenschaften in das Bild hineinkommen und den Abstand zwischen den Individuen hinsichtlich von Fertigkeiten, Besitztümern und (künstlichen) Bedürfnissen vergrößern. Liegen solche Unterschiede vor, ist der Weg für Formen des amour propre geebnet, eine überlegene Stellung anzustreben, die sich möglicherweise auf kodifizierte Regelungen des Privateigentums stützt, um dem Sinn für Luxus nachzukommen und so sicherzustellen, dass die Manie, Güter anzuhäufen, und die zwangsläufig daraus entspringende Ungleichheit unvermeidliche Folgen sind. (Es sollte festgehalten werden, dass diese Überlegungen nicht die Bedeutung erschöpfen, die Rous­seau dem Luxus beimisst, wie der unheilvolle Satz deutlich macht, der das erste Auftreten des Luxus im Zweiten Diskurs begleitet : »Und das war das erste Joch, das sie sich, ohne es zu wissen, auferlegten, und die erste Quelle der Übel, die sie für ihre Nachfahren vorbereiteten« (DU, 201 ff. / OC III, 168). Der Luxus spielt im Zweiten Diskurs eine so zentrale Rolle, weil er als Quelle neuer Bedürfnisse – da »diese Bequemlichkeiten infolge der Gewöhnung daran … zu wahren Bedürfnissen ausgeartet waQuelle der sozialen Ungleichheit ist der amour propre | 111

ren« – zugleich eine Hauptquelle der Abhängigkeit der Menschen (von anderen) ist. Dieser Punkt ist für die Erklärung der Ungleichheit weniger wichtig als für die Erklärung der mit ihr verbundenen Übel, weshalb seine Erörterung in das nächste Kapitel verschoben wird.) Wie soziale Ungleichheiten Unterschiede zwischen den Individuen voraussetzen, welche über die im reinen Naturzustand gegebenen hinausgehen, liegt auf der Hand. Der einzige Punkt, der es vielleicht wert ist, weiter erörtert zu werden, ist der folgende : Obwohl Rous­seau solche Differenzen generell konsistent als künstliche behandelt – als Ergebnisse bedingter und oft zufälliger Prozesse, die auf menschlichen Bewusstseins- und Willensakten beruhen –, gibt es einen wichtigen Unterschied zwischen den Individuen, der, wenngleich er im ursprünglichen Naturzustand offensichtlich nicht anzutreffen ist, sehr früh und ohne weitere Erklärung in der Erzählung des zweiten Teils auftaucht und dann im ganzen Rest des Zweiten Diskurses einen anscheinend unveränderlichen, essentiell natürlichen Charakter annimmt. Nachdem er zunächst die Ähnlichkeiten betont hat, die Menschen – Männer, nicht Menschen im Allgemeinen – in »ihren« Frauen wahrnehmen, führt Rous­seau flugs eine äußerst folgenreiche Form der Differenzierung ein, »die Lebensweise der Geschlechter« (DU, 201 / OC III, 168), die vollständig auf das Konto einer natürlichen Unterschiedenheit zu gehen scheint, des biologischen Unterschieds zwischen Männern und Frauen. Dieser gleichsam natürliche Unterschied in den Gewohnheiten und Charakteren von Männern und Frauen fungiert im Zweiten Diskurs zweifellos als nicht weiter erklärte Grundlage (und Rechtfertigung) tiefgreifender sozialer Ungleichheiten, an deren Untersuchungen Rous­seau zumindest in dieser Schrift wenig Interesse zeigt, ja die er nicht einmal bemerkt. Abgesehen davon, dass er veranschaulicht, wie eine Differenzierung unter den Individuen zur Ermöglichung sozialer Ungleichheiten beiträgt, dient das Beispiel der Geschlechter auch dazu, die Verbindung zwischen einer Differenzierung im Allgemeinen und dem nächsten größeren Phänomen in der Genealogie des Zweiten Diskurses hervorzuheben : der Arbeitsteilung. Obwohl Rous­seau die durch die Entwicklung von Metallbearbeitung und Ackerbau als getrennten Produktionszweigen verursachte Arbeitsteilung betont, schleicht sich 112 | Kapitel 2 

schon viel früher eine bedeutsame Form der Arbeitsteilung in seine Geschichte ein, sobald nämlich Männer jagen und sammeln gehen, während die Frauen zu Hause bleiben, um zu kochen, zu putzen und für die Kinder zu sorgen. Wie viele Männer, die nie solch einer Beschäftigung nachgegangen sind, stellt Rous­seau sich vor, diese Aufgaben seien vereinbar mit einer »sesshaften« Lebensweise, die dem kraftvolleren Jagen und Sammeln der Männer gegenübersteht. Das und die Tatsache, dass er die Aufgaben der Frauen nicht als Arbeit zu betrachten scheint, erklärt wahrscheinlich, warum er in diesem Aspekt der Geschlechterdifferenzierung keine weitere grundlegende Form der Arbeitsteilung sieht. Wie das oben erörterte Phänomen des Luxus so ist auch die Arbeitsteilung für Rous­seau deshalb so wichtig, weil sie mit dafür sorgt, dass die Menschen hinsichtlich der Befriedigung ihrer Bedürfnisse voneinander abhängig werden. (Was die schädlichen Folgen dieser Seite der Arbeitsteilung betrifft, werde ich auf sie, wie im Fall des Luxus, im nächsten Kapitel zurückkommen). Die Arbeitsteilung spielt jedoch auch eine Rolle in der Erklärung sozialer Ungleichheit, insbesondere jener, die mit der Metallbearbeitung und dem Ackerbau zusammenhängt : Die Dinge hätten in diesem Zustand verbleiben können, wenn … die Verwendung des Eisens und der Verbrauch an Lebensmitteln immer genau im Gleichgewicht geblieben wären. Aber das durch nichts aufrecht erhaltene rechte Verhältnis83 war bald zerstört  … Der Bauer hatte mehr Eisen nötig, der Schmied mehr Getreide. Während beide gleich viel arbeiteten, erreichte der eine viel, während der andere mühsam sein Leben fristete. (DU, 219 / OC III, 174)

Rous­seaus allgemeine These ist die, dass je mehr die Individuen sich voneinander unterscheiden und in der Gesellschaft spezialisierte und wechselseitig abhängige Positionen einnehmen, desto mehr die Wahrscheinlichkeit wächst, dass durch vollkommen zufällige, unbeabsichtigte Geschehnisse ein vormals lediglich qualitativer Unterschied schließlich in einen mit Ungleichheit gekoppelten umschlägt. In Rous­seaus Erklärung dieses Punkts ist der Ausdruck »das durch nichts aufrecht erhaltene« bedeutsam. Er bringt eine philoQuelle der sozialen Ungleichheit ist der amour propre | 113

sophische Perspektive zum Ausdruck, die maßgeblich das Herangehen des Zweiten Diskurses nicht nur an künstliche Ungleichheit, sondern an soziale Phänomene ganz allgemein anleitet. Rous­seau neigt dazu, sich die Natur, sofern sie nicht durch menschliche Eingriffe verändert wird, als ein geordnetes und harmonisches Reich vorzustellen, das von den ewigen, wohlwollenden Gesetzen gelenkt wird, die ihr von ihrem Schöpfer vorgegeben sind. Menschliches Handeln – der Eingriff des Künstlichen – zerstört jedoch unweigerlich diese Ordnung und trägt unbeabsichtigt Kontingenz, Zwietracht und Übel in die Natur hinein – und von da an ist sie nie wieder bloße Natur. Im gegenwärtigen Beispiel mündet die durch die Entwicklung der Metallbearbeitung und des Ackerbaus ausgelöste umfassendere Arbeitsteilung letztlich in die soziale Ungleichheit, denn sobald die Menschen in die Naturordnung eingreifen, gibt es kein natürliches Gesetz, keine natürliche Macht mehr, die sicherstellte, dass das anfängliche Gleichgewicht, das zwischen Metall­ arbei­ter und Bauer hätte bestehen können, intakt bleibt. Fehlt es an solch einer Gewähr, ist die Aufrechterhaltung des Gleichgewichts nur noch eine Frage glücklicher Umstände und mit fortschreitender Zeit ist seine Zerstörung praktisch gesichert. Sich selbst überlassen muss das Gleichgewicht zwischen zwei getrennten, aber aufeinander angewiesenen Produktionszweigen in eine Schieflage geraten : Zu viele Schmiede und zu wenige Bauern beispielsweise bedeutet für jene, dass sie mit dem, was sie herstellen, kaum ihr Leben fristen können, während diese einen hübschen Profit aus ihren heiß begehrten Produkten schlagen.84 Zwar erzählt der Zweite Diskurs selbst nicht diesen Teil der Geschichte, aber die einzige Hoffnung, die Rous­seau dafür sieht, in einer durch die menschliche Freiheit veränderten Welt wieder eine wohlwollende Ordnung herzustellen, ist, dass der Mensch selbst der sozialen Welt (künstliche) Gesetze gibt  – Gesetze, die jene unbeabsichtigt von ihnen hervorgebrachte Unordnung in Ordnung bringen  – und so eine Spielart derselben Güter wiederherstellt, wie sie die natürliche Welt charakterisierten, bevor er den Plan der Natur durch sein eigenes Zutun ruiniert hat. (Sprich : Freiheit, Fortbestand und die unpro­ blematische Befriedigung von Bedürfnissen und Wünschen.) Darzulegen, wie solche Gesetze auszusehen haben, fällt in die Domäne des Gesellschaftsvertrags, nicht in die des Zweiten Diskurses, doch 114 | Kapitel 2 

wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, trägt die Darstellung des Zweiten Diskurses, inwiefern (und warum) der ursprüngliche Naturzustand gut ist, dazu bei, die normativen Grundlagen (fonde­ ments) zu schaffen, auf denen der Gesellschaftsvertrag seine Vorstellung von einem legitimen Staat und einer gesunden Gesellschaft errichten wird. Sind Muße, Luxus, Differenzierung und Arbeitsteilung erst einmal – selbstverständlich neben dem amour propre – in den Erzählgang des Zweiten Diskurses eingeführt worden, heißt es, ein wenig unvermittelt, Privateigentum und die ersten Gesetzesvorschriften der Gerechtigkeit würden notwendig folgen (DU, 217 ff. / OC III, 173 f.). Vermutlich ist hier der Punkt erreicht, an dem Rous­seau von sich glaubt, er habe die verschiedenen Bedingungen durchlaufen  – die »vielen vorausgehenden Begriffe  –, ohne welche die im ersten Absatz des zweiten Teils beschriebene Landnahme nicht möglich gewesen wäre. Warum diese vorangegangenen Phänomene notwendige Bedingungen des Privateigentums sein könnten, ist ebenso leicht zu erkennen wie zu verstehen, wie das Aufkommen des Privateigentums die Darlegung der Quellen sozialer Ungleichheit im Zweiten Diskurs vorantreibt, erschließt es doch eine wichtige neue Domäne, in der ökonomische Ungleichheit sich auszubreiten vermag. Darüber hinaus ermöglicht die Gründung des Privateigentums und des Staates auch das Gedeihen anderer Formen sozialer Ungleichheit. Sobald zum Beispiel der Staat entstanden ist, tut sich zwischen Regierenden und Regierten eine neue Möglichkeit zur Ungleichheit auf. Anders gesagt : Politische Herrschaft – wie ich es im 4. Kapital nennen werde – wird, mit Rückendeckung durch die Zwangsmittel des Staates, zu einer Möglichkeit, die Wünsche einiger nach einer öffentlich anerkannten Stellung der Überlegenheit zu befriedigen. Daneben ergeben sich aus Ungleichheiten des Wohlstands neue Möglichkeiten nicht-politischer Formen von Herrschaft, sofern diese, letztlich unter Androhung von Gewalt, vom Staat gestützt werden und mit wachsender ökonomischer Abhängigkeit einhergehen. Unter diesen Umständen vermag der amour propre nach neuen Arten der Befriedigung zu streben und dauerhaftere Ungleichheiten zu schaffen, als er es in einer Situation tun konnte, in der die Individuen selbstgenügsam waren und in etwa einen gleichen Zugang zu den Ressourcen geQuelle der sozialen Ungleichheit ist der amour propre | 115

nossen hatten (DU, 213 / OC III, 165). Denn neben die alten Strategien, sich zum besten Sänger oder Tänzer aufzuwerfen, treten nun neue Gelegenheiten, Überlegenheit zu gewinnen, darunter die Möglichkeit, die Abhängigkeit anderer auszubeuten und ihre ökonomische Benachteiligung zu nutzen, um sie zu unterwerfen. So ist es etwa für den Grundbesitzer ein Leichtes, den Landlosen unbillige Forderungen aufzuzwingen, weil sie für jene arbeiten müssen. Obwohl Ausbeutungen dieser Art – die Ausbeutung einer Klasse durch eine andere – den Ausbeutern zweifellos ökonomische Gewinne verschafft, führt sie auch Anerkennungsvorteile mit sich : Sich selbst als Ausbeuter anderer zu etablieren, vor allem wenn die Rollen des Ausbeuters und des Ausgebeuteten von sozialen Institutionen sank­tioniert und durchgesetzt werden, lässt sich schlicht als eine weitere Weise betrachten, seine hohe Stellung in den Augen anderer öffentlich bestätigt zu sehen. Weniger deutlich geht aus Rous­seaus Darstellung hervor, warum der private Besitz von Dingen eine notwendige oder auch nur wahrscheinliche Folge von Muße, Luxus, individueller Differenzierung und der Art von Arbeitsteilung sein soll, wie sie die Metallverarbeitung und der Ackerbau erforderlich machen. Ernsthafte Schwierigkeiten ergeben sich bereits in der ersten These des Absatzes : »Auf den Ausbau der Felder folgte notwendigerweise ihre Teilung und auf das nunmehr anerkannte Eigentum dann die ersten Gesetzesvorschriften«. Es ist unmittelbar verblüffend, dass ebenso wie im ersten Satz des zweiten Teils das Privateigentum an Land und nicht einfach an irgendeiner anderen Ware das ist, was Rous­ seau am meisten zu interessieren scheint. Der Grund dafür ist sicherlich, dass das Land im Unterschied zu den durch seine Bearbeitung erzeugten Konsumgütern zu den, wie Marx später sagen wird, Produktionsmitteln gehört – zu den grundlegenden Gütern, die wie Land, Rohstoffe, Maschinen und Arbeitsplätze die materiell notwendigen Voraussetzungen für jedwede Produktion liefern. Für Marx ist dieser Begriff von fundamentaler Bedeutung, da er den Kern seiner Definition einer ökonomischen Klasse bildet : Der prinzipielle Unterschied zwischen den beiden Klassen im Kapitalismus ist der, dass die Kapitalistenklasse die Produktionsmittel besitzt und somit kontrolliert, während die Arbeiter über keine anderen Produktivkräfte als ihre eigene Arbeitskraft verfügen, die sie, da sie 116 | Kapitel 2 

essen müssen, dem Kapitalisten im Austausch gegen einen Arbeitslohn zu verkaufen gezwungen sind. Obwohl es Rous­seau an solch präzisen Begriffen fehlt – der Kapitalismus seiner Zeit war weit weniger entwickelt und weniger sichtbar als ein Jahrhundert später, zu Marxens Lebzeiten –, richtet er aus sehr ähnlichen Gründen sein Augenmerk eher auf das Land als auf seine Früchte : Der Besitz von Land, eine Grundvoraussetzung der Produktion, stellt potentiell eine Quelle großer sozialer Macht dar, insbesondere dann, wenn andere Mitglieder der Gesellschaft keine anderen Produktivkräfte als ihre eigene Arbeitskraft besitzen. Die Situation, in der einige Individuen Land (Fabriken oder große Mengen an Rohstoffen) ihr eigen nennen, während andere leer ausgehen, ist für Rous­seau deshalb von großem Interesse, weil es eine Situation ist, in der Abhängigkeit (die Notwendigkeit, mit anderen zur Befriedigung der eigenen Bedürfnisse zusammenzuarbeiten) sich mit Ungleichheit verbindet, und diese Verbindung erzeugt, wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, ein verderbliches Gebräu, aus dem die verschiedenen im zweiten Teil beschriebenen Übel der Gesellschaft unvermeidlich aufsteigen. Wie ich jedoch schon oben gesagt habe, ist es alles andere als klar, warum die Kultivierung des Landes notwendig zu dessen Teilung und zum Privatbesitz an ihm führen sollte. Dabei ist die Frage unbeantwortet, warum das parzellierte Land von Individuen in Besitz genommen wird. Denn wenn die Kultivierung eine kollektive Anstrengung ist  – das bei weitem wahrscheinlichere Szenario  –, warum sollte das Land, sofern es überhaupt zum Besitz wird – nicht stattdessen der Gruppe gehören, die es bearbeitet hat ? Ein zweites Pro­blem ergibt sich daraus, dass der Grundsatz, auf den Rous­seau sich in der Erklärung (und scheinbaren Rechtfertigung) des Eigentums an den Früchten des Landes beruft – dass derjenige, der mit seiner Arbeit ein Gut herstellt, sein »natürlicher« Eigentümer ist –, sich kaum auf das Land anwenden lässt, das selbstverständlich von keinem Menschen geschaffen worden ist, eine Beobachtung, deren Richtigkeit Rous­seau manchmal selbst nahezukommen scheint. Da  hilft es wenig zu behaupten, wie Rous­seau es zu tun scheint, dass das Recht an den aus dem Land gewonnenen Gütern auch das Recht am fortgesetzten Besitz des Landes verleiht. Denn dieses Argument ist zweifellos fehlerhaft – wie kann ein Recht, andere von Quelle der sozialen Ungleichheit ist der amour propre | 117

Produktionsmitteln auszuschließen, die man nicht selbst hergestellt hat, sich aus dem bloßen Recht ergeben, das zu besitzen, was man unter Verwendung dieser Produktionsmittel erzeugt hat ? –, jedenfalls aber kommt ein fortgesetzter Besitz, wie Rous­seaus zugibt, nicht einem echten Eigentumstitel gleich. Wenn das Argument, mit dem das natürliche Eigentumsrecht auf das Land ausgeweitet wird, nicht fehlerhaft wäre, so bliebe dennoch schwer verständlich, wie seine Konklusion, wird sie ex hypothesi korrekt aus Rous­seaus Auffassung eines natürlichen Gesetzes und damit in Übereinstimmung mit den grundlegenden Interessen der Menschheit abgeleitet (DU, 71 / OC III, 125), mit dem Eingangssatz des zweiten Teils zu vereinbaren ist, der das Privateigentum an Land als eine eigenmächtige Erfindung charakterisiert und es eindeutig als die Quelle »vieler Leiden und Schrecken« beklagt, »die dem Menschengeschlecht erspart« geblieben wären, gäbe es das nicht (DU, 191 ff. / OC III, 154). Im Lichte dieser Schwierigkeiten schlage ich vor, diesen rätselhaften Absatz dadurch verstehen zu wollen, dass wir mit seinem letzten Satz beginnen. Rous­seau unterscheidet darin deutlich das Eigentum, das »sich aus dem Naturgesetz« ergibt – den Besitz von Gütern, die man durch seiner Hände Arbeit erzeugt hat –, von einer »neuen Form des … Eigentumsrechts, das von dem Recht, wie es sich aus dem Naturgesetz ergibt, verschieden ist«, nämlich das Recht, das Land selbst zu besitzen. Am sinnvollsten deuten wir Rous­seau so, dass er die frühere Auffassung des Eigentums als natürlich, gerecht und gültig für alle Gesellschaften bejaht, in denen Arbeit aufgewandt wird – und das heißt für alle menschlichen Gesellschaften –, während er die spätere als eine künstliche, nicht streng notwendige Erfindung betrachtet, die sich als eine mögliche Weise erklären lässt, auf die Menschen plausibel versuchen könnten, das auf dem Naturgesetz beruhende Eigentumsrecht so zu erweitern, dass auch das Land von Individuen mit einem Eigentums­ titel belegt werden kann. Die Ausdehnung des naturgesetzlichen Eigentumsrechts auf das Land entbehrt, wie Rous­seau zu zeigen versucht, nicht einer gewissen Logik : Wenn ich dieses Land letztes Jahr nutzbar gemacht habe, bin ich berechtigt, es auch im nächsten zu bestellen, und wenn dies Jahr für Jahr geschehen ist, ist dann das Land selbst nicht mein eigen ? Doch, wie ich oben schon bemerkte, wirkt diese Logik hinreichend forciert, um sich zu fragen, 118 | Kapitel 2 

was seine Bemerkung rechtfertigt, dass aus der bloßen Tatsache des »fortgesetzten Besitzes« (an Land) »leicht Eigentum wird«. Was immer die angebliche »Leichtigkeit« dieser Umwandlung erklärt, es handelt sich dabei, wie ich meine, weder um eine begriffliche noch um eine kausale Notwendigkeit. Stattdessen besagt die Behauptung, aus fortgesetztem Besitz werde leicht Eigentum, dass es nicht schwerfällt zu verstehen, wie Menschen auf dieser Entwicklungsstufe, ohne lange darüber nachzudenken, von einer Praxis in die andere hinübergleiten konnten. Das bedeutet, die spätere Praxis ist weder eine rational notwendige Folge der früheren Praxis (oder des naturgesetzlichen Eigentums selbst) noch eine kausal notwendige Wirkung davon. Mit anderen Worten : Wir sollten Rous­seau die Behauptung beilegen, dass das Privateigentum an Produktionsmitteln eine verständliche Entwicklung ist, die aber weder vom Naturgesetz autorisiert oder vorgeschrieben wird noch eine notwendige Begleiterscheinung jedes realen Eigentumssystem ist, in dem Landarbeiter dasselbe Stück Land Jahr für Jahr bestellen. Wenn daher Rous­seau behauptet, »auf den Anbau der Felder folgte notwendigerweise ihre Teilung«, sollten wir ihn folgendermaßen auslegen : In Anbetracht der besonderen, hier hypothetisch angenommenen primitiven Bedingungen – zu denen der manchmal unbefriedigte Wunsch der Menschen nach einer überlegenen Stellung ebenso gehört (siehe unten) wie ihre Unfähigkeit, die Folgen ihrer Erfindungen vorauszusehen85 – ist das Privateigentum an Land eine mehr oder weniger unvermeidliche Folge seiner Bebauung, aber deshalb keine rational gerechtfertigte Folge, sowenig wie es eine kausal notwendige Folge der Bebauung des Landes unter allen erdenklichen Umständen ist. Rous­seaus These, aus dem fortgesetzten Besitz von Land würde »leicht Eigentum« an Land werden, ist, sofern man darunter die These versteht, dies geschehe zwar mit großer Wahrscheinlichkeit, nicht aber zu Recht, meiner Ansicht nach nur unter der weiteren Annahme zwingend, dass jenseits der Sorge des amour de soi-même für das Überleben, das Wohlbefinden und die Arbeitsleistung noch eine andere Motivation bei dieser Umwandlung im Spiel ist. Diese lässt sich in der vom amour propre geweckten Leidenschaft, wie sie bereits in diesem Stadium der Erzählung vorliegt, finden, nämlich in dem Wunsch, sich öffentlich sichtbar von anderen als ein wertQuelle der sozialen Ungleichheit ist der amour propre | 119

volles Geschöpf zu unterscheiden. Es ist schwer vorstellbar, dass die Bedeutung der etymologischen und begrifflichen Verbindung von amour propre und proprieté – zwischen dem, was einem eigen ist oder zu einem gehört – Rous­seau entgangen sein soll. Die beiden Phänomene als solche aufzufassen, die sich wechselseitig verstärken, stimmt mit den allgemeinen Umrissen der im Zweiten Diskurs erzählten Geschichte ebenso überein wie mit der fundamentalen Rolle, die den beiden sowohl für die Erklärung der sozialen Ungleichheit wie auch für die der anderen Übel in der entwickelten Gesellschaft zugeschrieben wird. (Tatsächlich erkennt Rous­ seau diese Verbindung ausdrücklich an. Wenn er die Ergebnisse all dieser Entwicklungen kurz vor dem Kriegszustand überblickt, schreibt er : »Rang und Schicksal jedes Menschen sind festgelegt … in Bezug auf die Güter« (DU, 221 / OC III, 174). Anders gesagt ist der erste Mensch, der ein Stück Land einzäunt und erklärt »Das ist mein« (ceci est à moi), auch, und zwar ganz grundlegend, als jemand zu sehen, der auf dieses Stück Land vor anderen zeigt und ihnen verkündet »Das ist mein !«. Dass Privateigentum jedes erdenklichen Typs auch als äußeres Kennzeichen der eigenen Stellung für und in Bezug auf andere zu dienen vermag, erklärt sicherlich zu einem großen Teil den Wahn, mit dem Individuen, sowohl in Rous­seaus Erzählung als auch in unserer eigenen Gesellschaft, sich darum rangeln, immer größere, bessere und auffälligere Güter anzuhäufen, die ihre Nachbarn und Kollegen als »ihre eigenen« anzuerkennen genötigt sind, das heißt als materielle Verlängerung ihrer selbst und als Spiegelung ihrer Stellung gegenüber anderen. Bereits jetzt können wir antizipieren, welche Bedeutung der meine Deutung anleitenden Unterscheidung – zwischen einem naturgesetzlich sank­tionierten Eigentum und einem auf künstlichen Konventionen (oder einer interpretativen Erweiterung jenes Gesetzes) beruhenden Eigentum – für Rous­seaus letztendliche Einstellung zur Legitimität des Privateigentums an Land zukommt. Da diese Art des Eigentums in die Sphäre des Künstlichen fällt, lässt sich ihre Legitimität nicht anhand des Naturgesetzes allein klären. Stattdessen ist sie, wie alle anderen künstlichen Institutionen auch, nach den zum ersten Mal im Gesellschaftsvertrag formulierten, aber stillschweigend bereits im Zweiten Diskurs wirksamen Prinzipien zu beurteilen, die bestimmen, was in einer menschlichen Gesell120 | Kapitel 2 

schaft gerecht oder rechtmäßig ist, also nach Prinzipien, deren Rechtfertigung letztlich aus der Beantwortung der Frage folgt : Von welchen Prinzipien können alle Mitglieder der Gesellschaft sich rational bestimmen lassen wollen, wenn jeder Einzelne nur darauf aus ist, seine grundlegenden Interessen als Mensch zu befriedigen ? (Auf Rous­seaus Prinzipien des Rechts innerhalb einer Gesellschaft werde ich im vierten Kapitel zurückkommen und dann auch zeigen, dass sie bereits im Zweiten Diskurs vorliegen.) Ausgehend von der Eingangsszene im zweiten Teil könnte man sich zu dem Schluss verführen lassen, Rous­seau werde die Legitimität des Privateigentums kategorisch bestreiten  – wie könnte es denn auch als Quelle so vieler Übel unter den Menschen mit den grundlegenden Interessen aller vereinbar sein ? –, tatsächlich aber wäre dieser Schluss, wie aus der unmittelbar auf diesen Absatz folgenden Diskussion hervorgeht, ganz und gar voreilig. In dem späteren Absatz behauptet Rous­seau nämlich, dass das Privat­ eigen­tum an Land unter den richtigen Bedingungen für die Gesellschaft keine negativen Folgen haben muss (DU, 219 / OC III, 174). Der Schlüssel dafür liegt in dem Ausdruck »die Dinge hätten in diesem Zustand verbleiben können«. Mit anderen Worten, die von Rous­seau im Fortgang des Zweiten Diskurses beschriebene Ausbeutung und der Freiheitsverlust hätten selbst unter der Annahme des Privateigentums an Land vermieden werden können, wenn dieser Besitz mit der Bedingung einer basalen materiellen Gleichheit unter den Gesellschaftsmitgliedern einhergegangen wäre. Unter solch einer Bedingung, wo es Abhängigkeit ohne gewichtige Ungleichheit gäbe, würde es Privateigentum an Land geben, ohne dass dadurch die fundamentalen Interessen irgendwelcher Individuen beeinträchtigt würden, und in diesem, aber auch nur in diesem Fall könnte es Teil eines gerechtfertigten Ensembles von Eigentumsbeziehungen sein. Statt also a priori eine Haltung zur Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit jeder Art von künstlichen sozialen Einrichtungen, darunter das Privateigentum an den Produktionsmitteln, einzunehmen, ist Rous­seau verpflichtet, sein Urteil über die Legitimität einer bestimmten Gruppe von Institutionen so lange aufzuschieben, wie er noch nicht deren Folgen für die grundlegenden Interessen aller bewertet hat. Lässt sich von einem bestimmten Ensemble von Eigentumsbeziehungen zeigen, dass, sofern es unter Quelle der sozialen Ungleichheit ist der amour propre | 121

gewissen besonderen sozialen Umständen verwirklicht ist, dadurch kein fundamentales Interesse irgendeines seiner Mitglieder beeinträchtigt wird, dann gilt es Rous­seau unter eben diesen Umständen als eine legitime und daher erlaubte soziale Einrichtung, und das unabhängig davon, in welcher Beziehung es zu den Naturgesetzen steht, die ursprünglich den legitimen Erwerb von Eigentum geregelt haben. (Dieses methodische Vorgehen kennzeichnet den grundlegendsten Unterschied zwischen den Anschauungen Lockes und Rous­seaus – wie auch ihrer jeweiligen Schüler – zum Eigentum. Dass John Rawls, ein außergewöhnlich scharfsichtiger Leser des Gesellschaftsvertrags und des Zweiten Diskurses eine sehr ähnliche Strategie wie Rous­seau einschlägt, um die Legitimität sozialer Ungleichheiten zu bestimmen und die Frage zu beantworten, ob kapitalistische oder sozialistische Eigentumsbeziehungen von den Grundsätzen der Gerechtigkeit sank­tioniert werden, ist gewiss kein Zufall. Im fünften Kapitel werde ich auf dieses Thema zurück­ kommen.) Was folgt dann nun aus dieser verwickelten Darlegung über den Ursprung des Eigentums für Rous­seaus Haltung zu der Frage, wie grundlegend das Privateigentum für die menschliche Gesellschaft im Allgemeinen ist und ob es ein dauerhaftes oder nicht vielmehr ein prinzipiell aufhebbares Merkmal der sozialen Landschaft ist ? In Anbetracht seiner These, dass es ein Naturgesetz gibt, welches den Erwerb von Eigentum regelt, scheint es wahrscheinlich, dass Rous­seau das Privateigentum in der einen oder anderen Form für die menschliche Gesellschaft generell als grundlegend betrachtet und es daher für ein mehr oder weniger notwendiges Merkmal jeder realen Gesellschaft hält. Dieser fundamentale Rang des Eigentums ist mit der These des Zweiten Diskurses verbunden, dass Eigentum in seiner ursprünglichsten Form nur von einer sehr begrenzten Anzahl von Bedingungen abhängt und eine ihrer praktisch notwendigen Folgen ist, wobei diese Bedingungen selbst für die Zivilisation basal sind. Rous­seau behauptet damit implizit, dass sich das Privateigentum, zumindest in seiner vom Naturgesetz sank­tionierten eingeschränkten Form, mehr oder weniger notwendig ergibt, sobald ein minimales Niveau an Muße, Luxus und Differenzierung erreicht worden und der amour propre (sofern mein Argument oben korrekt ist) hinreichend wirksam ist, um den 122 | Kapitel 2 

Individuen den Erwerb von Eigentum als ein partielles Mittel zu empfehlen, eine von anderen anerkannte Stellung einzunehmen. Spezifischere Systeme privaten Besitzes, darunter der Besitz von Produktionsmitteln, setzen demgegenüber komplexere und zunehmend kontingentere soziale Umstände voraus, einschließlich einer stärkerer Spezialisierung der Arbeitsteilung, als einfache Formen des Eigentums sie benötigen, und aus diesem Grund scheint es unwahrscheinlich, dass Rous­seau sie als notwendige Merkmale jeder beliebigen menschlichen Gesellschaft betrachtet. Belegen lässt sich diese These anhand der Bedeutung, die Rous­seau der Erfindung der Metallbearbeitung und des Ackerbaus für die Arbeitsteilung und die Entwicklung ökonomischer Ungleichheit beimisst, sowie mit der Schwierigkeit, vor der er, wie er selbst einräumt, steht, wenn er die Notwendigkeit, ja sogar nur die Wahrscheinlichkeit der Entdeckung dieser beiden Künste erklären möchte, die »die Menschen zivilisiert und das Menschengeschlecht ruiniert haben« (DU, 213 / OC III, 171). Doch auch wenn das Privateigentum im Allgemeinen ein weniger zufälliges Merkmal der menschlichen Gesellschaft ist als der Privatbesitz von Produktionsmitteln, ist Rous­seau weit davon entfernt, diesen als ein anormales oder bloß akzidentielles Phänomen zu betrachten. Denn wenn er, wie ich oben bemerkt habe, in dem Absatz über das Eigentum und seine Beziehung zum Naturgesetz sagt, dass »auf den Anbau der Felder notwendigerweise ihre Teilung folgte« (DU, 217 / OC III, 173), dann behauptet er damit klipp und klar, dass unter den gegebenen Umständen die (künstliche und nicht logisch notwendige) Ausweitung des naturgesetzlichen Eigentums auf den Besitz an Land mehr als eine bloße Möglichkeit ist. (Man erinnere sich, dass ich diese Aussage dahingehend interpretiert habe, dass es unter der Annahme, die basalen Bedingungen der Muße, des Luxus, der individuellen Differenzierung und einer hinreichend spezialisierten Arbeitsteilung lägen ebenso vor wie die Unfähigkeit des primitiven Menschen, die unerwünschten Folgen dessen vorherzusehen, was zu tun er sich gerade anschickt, und der erwachte, aber nicht immer gestillte Wunsch, auf die eine oder andere Weise für besser als andere gehalten zu werden, nur schwer zu sehen ist, wie der Privatbesitz von Land mit seinen neuen Möglichkeiten, die er einem erregten amour propre bietet, nicht mehr oder Quelle der sozialen Ungleichheit ist der amour propre | 123

weniger unmittelbar auf den Anbau des Landes als einer etablierten Praxis folgen sollte.) Der entscheidende Punkt hier ist folgender : Aus dem Umstand, dass der Privatbesitz von Produktionsmitteln sich unter primitiven Bedingungen praktisch unvermeidbar entwickelt, folgt nicht, dass dieser Eigentumstyp auch für uns unvermeidbar ist, sowenig wie daraus folgt, dass er vom Standpunkt der Gerechtigkeit in dem einen wie dem anderen Fall erlaubt ist. So viel lässt sich meines Erachtens bereits dem Zweiten Diskurs entnehmen. Erst im Gesellschaftsvertrag, dort wo Rous­seau die Natur als Grundlage des Rechts in der menschlichen Gesellschaft verwirft, wird deutlich, dass sich diese beiden Fragen nicht a priori entscheiden lassen und dass es dafür einer weiteren Überlegung – einer, die wir als historisch gebundene Individuen anstellen – mit dem Ziel bedarf herauszufinden, was (heute, für uns) praktisch durchsetzbar ist und welche möglichen spezifischen Eigentumssysteme mit der grundlegenden Gerechtigkeitsforderung vereinbar sind, dass die fundamentalen menschlichen Interessen in solchen Systemen Berücksichtigung finden. Indem Rous­seau eine sehr enge Verbindung zwischen dem Privatbesitz von Land und der politischen Gesellschaft, dem Staat, zieht – »Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte …, wurde zum wahren Gründer der bürgerlichen Gesellschaft« (DU, 191 / OC  III, 164)  –, schließt er sich in einer Hinsicht lediglich Locke an, der bekanntlich den Zweck der politischen Gesellschaft in den Schutz des individuellen Eigentums gesetzt hat und ausdrücklich den privaten Besitz an Land, mochte er auch ungleich verteilt sein, zu den Arten von Eigentum rechnete, die der Staat zu schützen beauftragt ist.86 Während Rous­seau zwar zugesteht, dass der primäre Zweck der meisten existierenden Staaten der Schutz des Privat­ eigentums, das an den Produktionsmittel eingeschlossen, ist, hält er dies, falls es substantielle Unterschiede hinsichtlich des Besitzes eines solchen Eigentums gibt, anders als Locke nicht für ein Kennzeichen der Legitimität solcher Staaten, wohl aber für eine Anklage, da der Staat eine wesentliche Rolle bei der Institutionalisierung und Perpetuierung sozialer Ungleichheit spielt, und das nicht allein bezogen auf das Wohlstandsgefälle, sondern auch hinsichtlich einer ganzen Reihe weiterer Ungleichheiten – man denke etwa an Ansehen und soziale Macht – die sich mehr oder weniger unmittelbar 124 | Kapitel 2 

aus der ökonomischen Ungleichheit ergeben. Auch hier ist wieder leicht zu erkennen, warum die von Locke87 empfohlene Art von Staat – indem er »für immer das Gesetz des Eigentums und der Ungleichheit« festsetzt (DU, 229 / OC III, 178) – in Rous­seaus Erklärung der Quellen sozialer Ungleichheit so eine große Rolle einnimmt. Wie hoch der (Lockeanische) Staat für ihn in der Erklärungsrangfolge der anderen, nicht-psychologischen Elemente steht, ist ebenfalls deutlich : Er setzt alle anderen fünf Bedingungen voraus, und sobald das Privateigentum, insbesondere das an Grund und Boden, die Funk­tion übernimmt, die Individuen und ihre Stellung anderen gegenüber zu repräsentieren, reicht diese Bedingung hin, die Notwendigkeit einer politischen Gesellschaft zu erklären. (Die politische Vereinigung, so heißt es zudem, setze anhaltende und weitverbreitete Konflikte zwischen den sozialen Mitgliedern voraus – einen Kriegszustand –, doch dieser Kriegszustand selbst ist bloß eine Folge derselben fünf Bedingungen, die nach einer politischen Gesellschaft verlangen. Der Einbruch des Kriegszustands in Rous­ seaus Erzählung zieht die interessante Folge nach sich, dass der Zweck der politischen Vereinigung, die er hier ins Auge fasst, nicht nur darin besteht, die Eigentumsverhältnisse zu schützen, sondern darüber hinaus die Lebensbedrohungen für die Individuen abzuwenden.88 Aus diesem Grund lässt sich über den Lockeanischen Staat sagen, er diene den berechtigten Interessen der Menschen, während er zugleich eben die sozialen Bedingungen fortschreibt, die überhaupt erst nach einer Durchsetzung von Recht und Ordnung verlangen. Darin ist seinerseits enthalten, dass diejenigen, die einem im zweiten Teil beschriebenen Lockeanischen Staat zustimmen und so ihre Fesseln bejahen, dies nicht bloß aus falschem Bewusstsein heraus tun (DU, 229 / OC III, 177). Versuchen wir nun die in diesem Kapitel unterbreitete Darstellung zusammenzufassen, indem wir Rous­seaus eigenes Resümee anführen und ergänzen, das er auf der letzten Seite des zweiten Diskurses in Beantwortung der Frage präsentiert, woher die Ungleichheit stammt : »Aus diesem Entwurf folgt nun, daß die Ungleichheit, die im Naturzustand fast gleich null war, Stärke und Wachstum aus der Entwicklung unserer Anlagen und dem Fortschritt des menschlichen Geistes erhält und daß sie schließlich durch die Einführung des Eigentums und der Gesetze dauerhaft und legitim Quelle der sozialen Ungleichheit ist der amour propre | 125

wird« (DU, 267 / OC III, 193). Diese knappe Rekapitulation der Genealogie der Ungleichheit im Zweiten Diskurs berührt drei der vier in diesem Kapitel ausgeführten Hauptpunkte : Erstens erklären die natürlichen Ungleichheiten nur einen zu vernachlässigenden Teil der in heutigen Gesellschaften vorliegenden Ungleichheiten, und das obwohl einige Aspekte der bestehenden sozialen Ungleichheiten sich auf rein natürliche Unterschiede zwischen den Menschen zurückführen lassen. Die überwältigende Mehrheit der sozialen Ungleichheiten ist daher künstlich und entspringt nicht der Natur. Zweitens ist die Hauptkraft, die Menschen antreibt, künstliche Systeme der Ungleichheit zu erfinden, eine psychologische. Ihre Quelle ist der amour propre, die Leidenschaft, bei einem Vergleich mit anderen besser abzuschneiden, die, wenn sie, wie es oft, aber nicht immer der Fall ist, als der Wunsch nach Überlegenheit ausgeprägt ist, die Menschen zur Schaffung neuer Formen von Ungleichheit veranlasst, einzig und allein um die öffentliche Anerkennung der von ihnen erstrebten überlegenen Stellung zu erhalten. (Darüber hinaus beruht diese Leidenschaft selbst auf der Entwicklung gewisser grundlegender Erkenntnisfähigkeiten – zum Beispiel Vergleiche anzustellen und ein Selbstbewusstsein auszubilden –, die in der Natur des Menschen angelegt sind.) Drittens hängt (und das übergeht Rous­seau in seiner Zusammenfassung) die Fähigkeit des amour propre, beträchtliche Ungleichheiten zu erzeugen, von einer Reihe nicht-psychologischer Ermöglichungsbedingungen ab, zu denen Muße, Luxus, künstliche individuelle Differenzierung und ein gewisser Grad an Arbeitsteilung gehören. Und schließlich werden soziale Ungleichheiten nur dann zu wirklich eingefleischten, allgegenwärtigen und gefährlichen, wenn sie ausdrücklich kodifizierte Praktiken privaten Eigentums ausbilden, die Dingen erlauben, Personen und ihren Rang öffentlich zu repräsentieren, wodurch sich erst ein ganz neues, nahezu unbegrenztes Feld eröffnet, um vom amour propre motivierte Ungleichheiten anzustreben und zu verankern. Dehnt sich dieses neue Feld der Ungleichheit aus, vor allem wenn es ein ungleich verteiltes Privateigentum an den Produktionsmitteln einschließt, entstehen Staaten, die diese Ungleichheiten dann nicht nur durch Androhung von Gewalt durchsetzen, sondern ihnen auch, und das fällt stärker ins Gewicht, mit Hilfe einer politischen Philosophie den falschen Anstrich von Legitimi126 | Kapitel 2 

tät verleihen, indem der Staat und die Gesetze als Institutionen propagiert werden, welche die Interessen aller Gesellschaftsmitglieder fördern und denen daher jeder zustimmen könnte – oder tatsächlich zugestimmt hat. Alle in Rous­seaus Genealogie der Ungleichheiten erwähnten nicht-psychologischen Bedingungen tragen das ihre dazu bei, neue Möglichkeiten für die Entstehung und Verwurzelung verschiedenartiger Ungleichheiten in der Gesellschaft zu schaffen. Gäbe es jedoch keinen amour propre, würden diese Möglichkeiten weitgehend unverwirklicht bleiben. Führen sie aber zu neuen Formen der Ungleichheiten, dann weil ein erwachter amour propre mit seinem unbestimmten Verlangen danach, besser als andere dazustehen, in der Lage ist, sich an sie zu heften und zu dem Zweck zu verwenden, die eigene Stellung in den Augen anderer zu erhöhen. Nicht dass der amour propre selbst die Praktiken und Institutionen schafft, die allerlei Arten künstlicher Ungleichheiten ins Dasein treten lassen, doch sobald diese Möglichkeiten zur Stelle sind, macht er sie sich vollkommen zunutze und liefert die Nährstoffe für das unaufhaltsame Wachsen der Ungleichheit, das schließlich in die verschiedensten Übel mündet  – Versklavung, Zwist, Laster, Elend, Entfremdung –, deren Existenz der Zweite Diskurs erklären möchte. Und genau aus diesem Grund hebt Rous­seau den amour propre als den »Ursprung« der sozialen Ungleichheit heraus, selbst wenn seine Fähigkeit, Ungleichheit entspringen zu lassen, auch von anderen, nicht-psychologischen Bedingungen abhängt. Schlussendlich sollten wir uns fragen, ob dieser Darstellung der Nachweis gelingt, dass die soziale Ungleichheit ihre Quelle nicht in der Natur hat. Wie immer hängt die Antwort selbstverständlich davon ab, wie Natur definiert ist. Versteht man darunter den speziellen Sinn, den Rous­seau diesem Wort gibt, dann lokalisiert sein Entwurf die Quelle der sozialen Ungleichheit tatsächlich nicht in der Natur, denn unabhängig vom menschlichen Bewusstsein und Willen kann der amour propre nicht ans Werk gehen, und seine Früchte sind, streng genommen, nie die Wirkungen der Natur. Wäre nun nicht mehr an Rous­seaus Position dran, bliebe sein Triumpf über Philosophien, die uns vertraute Formen der Ungleichheit als notwendige Folgen der Natur des Menschen betrachten, recht schal. In dem Maße, wie er auf die Ansicht verpflichtet ist, Quelle der sozialen Ungleichheit ist der amour propre | 127

dass der amour propre ein grundlegender Bestandteil der menschlichen Psyche ist – ein Element der Natur des Menschen im erweiterten Sinn – und dass selbst der Wunsch nach einer überlegenen Stellung in der einen oder anderen Form dauerhaft zu unserer Motivationsstruktur gehört, sieht es so aus, als müsse auch die soziale Ungleichheit ein unauslöschliches Merkmal der menschlichen Existenz sein. (Und in dieser schlichten Formulierung würde Rous­ seau den Schluss bejahen.) Um zu sehen, wie Rous­seaus Position sich von denen unterscheidet, die er zurückweisen möchte, müssen wir uns an die Verbindung erinnern, die er zwischen der Freiheit des Menschen und der »anders hätte ausfallen könnenden« Natur ihrer Erzeugnisse zieht, oder, was auf dasselbe hinausläuft, an seine Betonung der nahezu unendlichen Formbarkeit des amour propre und seiner Früchte. Diese These trifft sowohl auf die spezifischen Formen zu, die der amour propre zu jeder besonderen Zeit und an jedem besonderen Ort annimmt, als auch auf die nicht-psychologischen sozialen Bedingungen, die in seiner Genealogie eine Rolle spielen. Um eine oben aufgestellte Behauptung zu paraphrasieren : Selbst wenn der Wunsch nach einer überlegenen Stellung und die unvermeidlich daraus hervorgehenden Ungleichheiten ganz allgemein notwendige Folgen der Natur des Menschen im weiteren Sinn wären, könnten sie eine riesige Bandbreite möglicher Formen aufweisen, und wie genau sie sich äußern, steht in einem nicht unbeträchtlich Maße bei uns. Die entscheidende Frage ist daher nicht, ob es soziale Ungleichheiten im Allgemeinen geben sollte oder geben muss, sondern ob diejenigen, die vorliegen, die verderblichen Folgen zeitigen, die aus künstlicher Ungleichheit ein verheerendes Hindernis für das Gedeihen der Menschen machen und daher moralisch verwerflich sind. Nach Rous­seaus Ansicht entlastet seine Darstellung der Quelle sozialer Ungleichheit die Natur des Menschen, indem sie zeigt, dass die Umstände, welche die schädlichen Folgen sozialer Ungleichheiten erzeugen, nicht notwendig aus der Natur des Menschen folgen (nicht einmal aus der im weiteren Sinn), wohl aber, zumindest teilweise, aus dem freien Handeln der Menschen, das andere Wirkungen hätte haben können und in Zukunft auch möglicherweise haben wird. (Streng genommen bleibt Rous­seaus Entlastung der Natur des Menschen so lange unvollkommen, wie der Emile 128 | Kapitel 2 

und der Gesellschaftsvertrag noch nicht geschrieben sind. Erst zusammengenommen sollen sie die reale – das heißt eine durch die Grenzen der Natur, der menschlichen wie der übrigen, bestimmte – Möglichkeit einer menschlichen Existenz ohne Versklavung, Elend und Entfremdung aufzeigen, in der künstliche Ungleichheiten zwar sehr eingeschränkt, aber nicht vollkommen ausgelöscht sind. Doch selbst wenn Rous­seau in seiner komplexen Darlegung der Quelle von Ungleichheit die Natur des Menschen im näher bestimmten Sinn freispricht, wird daraus noch keine optimistische Auffassung der conditio humana. Denn die Anzahl und die Komplexität der Zustände, die zur Erzeugung bedrohlicher Formen von Ungleichheit neigen, sind von der Art, dass Versklavung, Zwietracht, Laster, Elend und Entfremdung ihnen zum Schicksal bestimmt sind, es sei denn die Menschen sind imstande, genau die richtige Mischung von Reaktionen auf diese Zustände zu finden. Obwohl Rous­seau den rein diagnostischen Zweck des Zweiten Diskurses herausstreicht und keine Heilmittel für die dort ausgemachten Übel anbietet, weist seine Darstellung der Quellen dieser Übel dem Nachdenken über dergleichen Heilmittel eine Richtung, die seine positive Theorie legitimer politischer Institutionen absteckt, wie sie vor allem im Gesellschaftsvertrag umrissen ist : Solch eine Theorie muss innerhalb der von der Natur vorgegebenen Grenzen einen Weg finden, soziale Institutionen und Praktiken so umzubauen, dass sie die Befriedigung des amour propre, eingeschränkte Ungleichheiten, Formen des Privateigentums, eine fortgeschrittene Arbeitsteilung – und vor allem die verschiedenen, für die menschliche Lebensweise so grundlegenden Arten der Abhängigkeit – zulassen, während sie zugleich deren Neigung stark eindämmen, all die nur zu bekannten Übel der Zivilisation zu erzeugen, die im Zweiten Diskurs beschrieben sind. In Anbetracht der Komplexität seiner Darlegung, woher die sozialen Ungleichheiten stammen und warum sie in den uns bekannten Gesellschaften so allgegenwärtig sind, ist das, wie Rous­seau erkennt, eine herkulische Aufgabe.

Quelle der sozialen Ungleichheit ist der amour propre | 129

Kapitel 3 Die normativen Mittel der Natur In den ersten beiden Kapiteln des Buches wurde versucht, Rous­seaus Antwort auf die erste der zwei im Zweiten Diskurs thematisierten Hauptfragen zu rekonstruieren : Woher stammt die Ungleichheit unter den Menschen ? Das dritte und vierte Kapitel wenden sich der normativen Frage des Zweiten Diskurses zu : Ist die menschliche Ungleichheit vom Naturgesetz autorisiert ? Die erste Frage betrifft, um die Ausdrücke zu verwenden, die Rous­seau selbst im Titel des Zweiten Diskurses gebraucht, den Ursprung der Ungleichheit, die zweite ihre Grundlagen (fondements). Dieses Kapitel untersucht kurz Rous­seaus Antwort auf die Frage, in welchem Maße das Naturgesetz die sozialen Ungleichheiten autorisiert. Danach wendet es sich dem wichtigeren Teil der Rous­seau’schen Auffassung darüber zu, inwieweit die Natur in einem allgemeineren Sinn uns die nötigen normativen Mittel an die Hand gibt, um die Frage nach der Legitimität oder Zulässigkeit der sozialen Ungleichheiten vollständiger zu beantworten, als das Naturgesetz auf sich allein gestellt es tun kann. Wie wir sehen werden, liefert uns der Teil von Rous­seaus Darlegung der Natur, der sich mit seiner normativen Auffassung von der Natur des Menschen beschäftigt, diese umfassenden Mittel zur Beurteilung der Rechtmäßigkeit von Ungleichheit. Und auch hier müssen wir wieder die ursprüngliche Natur des Menschen und das mit ihr verbundene normative Bild von der normativen Natur des Menschen im erweiterten Sinn unterscheiden. Beide normativen Vorstellungen von der Natur des Menschen teilen uns etwas darüber mit, welcher Güter der Mensch bedarf, um zu gedeihen. Was sie unterscheidet, ist nur, dass die schwächere der beiden  – jene, die mit der ursprünglichen Natur des Menschen zusammenhängt  – vom sozialen Charakter der Menschen abstrahiert, während die kräftigere  – die normative Natur des Menschen im erweiterten Sinn – der Liste wesentlicher menschlicher Güter ein in sich soziales Gut hinzufügt : Wertschätzung oder die gute Meinung  131

anderer. Erinnern wir uns daran, dass im vorangegangenen Kapitel von der erklärenden Auffassung der Natur des Menschen im erweiterten Sinn bloß der amour propre den Bestandteilen der ursprünglichen Natur des Menschen hinzugefügt worden ist ; im Fall der normativen Auffassungen von der Natur des Menschen kommt das mit dem amour propre verbundene Gut, die soziale Wertschätzung oder Achtung, mit in das Bild hinein.89 Ist die soziale Ungleichheit vom Naturgesetz autorisiert ?

Wenn wir Rous­seaus Unterscheidung zwischen natürlichen und moralischen (oder sozialen) Ungleichheiten im Blick behalten, lässt sich die ausdrückliche Antwort, die er ganz am Ende des Zweiten Diskurs auf die Frage gibt, ob das Naturgesetz Ungleichheit autorisiert, ohne Pro­bleme zusammenfassen : »[D]ie soziale Ungleichheit steht im Gegensatz zum natürlichen Recht90 …, wenn sie nicht mit der naturgegebenen Ungleichheit im gleichen Verhältnis übereinstimmt« (DU, 267 / OC III, 193 f). Diese These, und das lohnt sich festzuhalten, weicht von der strengeren ab, die man dem Zweiten Diskurs auch zuweisen könnte, dass nämlich nur natürliche Ungleichheiten vom Naturgesetz autorisiert sind, während dies niemals auf soziale Ungleichheiten zutrifft, und dadurch würden selbst unmittelbar auf natürlichen Ungleichheiten beruhende Unterschiede hinsichtlich von Macht und Reichtum illegitim. Es ist jedoch bezeichnend, dass Rous­seau an keiner Stelle sagt, die natürlichen Ungleichheiten selbst würden vom Naturgesetz autorisiert. Vermutlich tut er es deshalb nicht, weil solche Ungleichheiten als Ergebnisse der Natur einfach da sind und daher keiner Rechtfertigung bedürfen, während nur soziale Ungleichheiten als von uns erzeugte und aufrechterhaltene der moralischen Beurteilung unterworfen sind. Das erklärt, warum er diese Ungleichheiten moralische nennt und warum nur sie von der Schlussbemerkung des Zweiten Diskurses über die Bedingungen, unter denen Gleichheit im Allgemeinen autorisiert wird, betroffen sind. Die Frage des Autorisierens ergibt sich hingegen für die natürliche Ungleichheit nicht. Doch selbst dann scheint die abschließende Antwort, die der Zweite Diskurs auf seine normative Frage gibt, unplausibel sim132 | Kapitel 3 

pel auszufallen (und sie tut es auch) : Die einzigen gerechtfertigten Ungleichheiten bezogen auf Reichtum, Ansehen und gesellschaftliche Macht beruhen unmittelbar auf natürlichen Unterschieden, etwa auf solchen – um Rous­seaus Beispiele anzuführen –, wenn die Weisen die Narren leiten und die Jungen den Alten gehorchen (DU, 267 / OC III, 193 f) oder wenn, wie in einem interessanteren Beispiel, Eltern den Kindern befehlen (DU, 239 / OC III, 182). Anders gesagt : Vom Standpunkt des Naturgesetzes allein müssen sämtliche Unterschiede bezogen auf Reichtum, Ansehen und gesellschaftliche Macht unmittelbar natürliche Unterschiede hinsichtlich solcher Wesensmerkmale wie Reife, Klugheit, Geschicklichkeit und Stärke spiegeln. So müssen etwa die Reichen in einem einschlägigen Sinn wirklich besser sein als die Armen, und das Wohlstandgefälle zwischen Reich und Arm muss dem Ausmaß entsprechen, in dem jene diesen von Natur aus überlegen ist.91 Wie Rous­seau erkennt, werden sehr wenige der uns aus der heutigen Welt vertrauten Ungleichheiten diesem Maßstab gerecht, falls es überhaupt welche tun.92 Eine ausschließlich auf dem Naturgesetz beruhende Gesellschaft würde sehr wenige soziale Ungleichheiten erlauben und die von ihr zugelassenen Abweichungen würden bescheidener ausfallen als die in den bestehenden Gesellschaften zu beobachtenden. Wichtiger noch : Es ist höchst wahrscheinlich – und auch Rous­seau scheint dies verstanden zu haben –, dass jede Gesellschaft, in der sich alle sozialen Ungleichheiten unmittelbar auf natürliche zurückführen lassen, notwendigerweise sehr primitiv sein müsste, das heißt eine Gesellschaft, in der die Einzelnen auf sehr schlichte Weise glücklich und frei wären, die meisten ihrer Vermögen und Anlagen als Menschen, ihre Vervollkommnung, jedoch unentwickelt blieben. Mit seiner gelegentlichen Rede von einem Eigentumsrecht, das aus dem Naturgesetz folgt (DU, 217 ff. / OC III, 173 f.), führt Rous­seau in das ansonsten recht einfache Bild eine kleine Komplikation ein. Denn damit könnte man meinen, er glaube, es gebe für eine bestimmte Art der sozialen Ungleichheit, die Ungleichheit des Reichtums, eine Quelle der Legitimation im Naturgesetz, die über die schlichte Forderung hinausgeht, alle sozialen Ungleichheiten müssten unmittelbar natürliche spiegeln. Rous­seaus Bemerkungen im Zweiten Diskurs über das Naturgesetz im Allgemeinen und seine Kritik an diesem Begriff im Besonderen (DU, 69 – 73 / OC III, 124 ff.) Die normativen Mittel der Natur  | 133

sind ziemlich verwirrend. Doch wenn wir vor allem in den Blick nehmen, was er über das Ausmaß sagt, in dem das Privateigentum im Naturgesetz gründet, ist es möglich, ihm eine hinreichend zusammenhängende Haltung zuzuschreiben. Wie bereits im vorigen Kapitel festgehalten, scheint er im Zweiten Diskurs die Ansicht zu vertreten, allein körperliche Arbeit rechtfertige das Privateigentum (DU, 217 / OC III, 173). Mit dieser Haltung möchte er sich vermutlich einer Spielart der Lehre anschließen, deren bekanntester Vertreter Locke ist. Wer den von der Natur bereitgestellten Ressourcen »seine Arbeit hinzufügt«, macht die Früchte dieser Arbeit  – die durch menschliche Tätigkeit verwandelte Natur – zu seinem rechtmäßigen Eigentum, womit er anderen die natürliche Verpflichtung auferlegt, diese Früchte als zu Recht ihrem Produzenten gehörende zu achten.93 Verglichen mit Locke legt Rous­seau jedoch sehr viel strikter aus, was das über das Privateigentum bestimmende Naturgesetz autorisiert : Ob die Bearbeitung des Landes es zu meinem eigenen macht, in dieser Frage tritt er zurückhaltender als Locke auf und betont, dass es nur die eigene Arbeit ist – nicht »der Torf, den mein Knecht gestochen«, wie Locke zulässt –, die mir ein rechtmäßiges Eigentum verschafft. Diese Einschränkung sorgt dafür, dass jede natürlich autorisierte Ungleichheit bezüglich des Reichtums nur Unterschieden im Aufwand, der Geschicklichkeit oder der Effizienz der von den einzelnen Privateigentümern geleisteten Arbeit geschuldet sein darf. Das naturgesetzliche Privateigentum mag am Ende einen gewissen Grad an Ungleichheit hinsichtlich des Reichtums rechtfertigen, doch alle diese Ungleichheiten wären verglichen mit denen, die selbst die egalitärsten modernen Gesellschaften auszeichnen, verschwindend klein. Zudem blieben solche Ungleichheiten eng an natürliche Ungleichheiten gebunden, zumindest insoweit als Unterschiede in der geleisteten Arbeit Unterschiede in den natürlichen Begabungen spiegelten. Dass alle derartigen Unterschiede in der Arbeit rein natürliche Unterschiede wiedergeben sollten, ist allerdings unwahrscheinlich und aus diesem Grund geht das über das Privateigentum bestimmende Naturgesetz ein wenig über den Grundsatz hinaus, allein soziale Unterschiede, die unmittelbar natürliche spiegeln, seien rechtmäßig. Da Arbeit eine menschliche Tätigkeit ist, beruht sie auch auf den freien Entschei134 | Kapitel 3 

dungen der Arbeiter, und sobald Freiheit ins Spiel kommt, haben wir es nicht mehr mit rein natürlichen Phänomenen zu tun und folglich nicht mehr mit rein natürlichen Unterschieden. Insofern das für das Privateigentum bestimmende Naturgesetz Ungleichheiten rechtfertigt, die über rein natürlich begründete hinausgehen, muss Rous­seau meinen, es sei natürlich (angemessen oder der Natur der Sache nach angebracht), dass diejenigen, die sich aus freien Stücken mehr als andere anstrengen, berechtigt sind, die Früchte dieser zusätzlichen Mühe zu genießen. In diesem (recht kleinen) Teil der Rous­seau’schen Darlegung der Quellen legitimer sozialer Ungleichheiten, die im Naturgesetz gründen, könnten wir die Bezugnahme auf einen gemäßigten Grundsatz des moralischen Verdienstes sehen – wer arbeitet, verdient es, die Früchte seiner Arbeit zu genießen –, doch selbst diese kleine Korrektur seines ursprünglichen Grundsatzes, dass legitime soziale Ungleichheiten unmittelbar auf natürlichen beruhen müssen, rechtfertigt am Ende nur winzige Wohlstandsgefälle. Seine Position ist unerschüttert : Das Naturgesetz liefert keine Rechtfertigung für die große Mehrheit sozialer Ungleichheiten, von denen die uns bekannten Gesellschaften gezeichnet sind. Selbst mit diesem Zusatz verstellt die Schlichtheit der Rous­seau’­ schen Antwort auf die Frage, wie weit das Naturgesetz Ungleichheit autorisiert, die Komplexität seiner Gesamthaltung zur Rechtfertigung sozialer Ungleichheit. So jedenfalls behaupte ich hier. Ein Zeichen dieser Komplexität findet sich in der wichtigen, aber kaum bemerkbaren Tatsache, dass Rous­seau, wenn er über die normative Aufgabe des Zweiten Diskurses mit seinen Worten, nicht mit denen der Akademie von Dijon spricht, eher abgeneigt ist, vom Autorisieren der Ungleichheit (durch das Naturgesetz) zu reden. Er zieht es stattdessen vor, nach den (»wahren«) Grundlagen (fondements) des betreffenden Phänomens zu fragen (DU, 73, 75, 77, 245 / OC III, 126, 127, 131, 184). Obgleich der Zweite Diskurs es nicht ausdrücklich erklärt, ist doch die Wirkung davon, dass die von der Akademie formulierte Frage – »ob die Ungleichheit unter den Menschen im Naturgesetz autorisiert ist« (DU, 61 / OC III, 129.)  – in Rous­ seaus Augen nur einen kleinen Teil der umfassenderen normativen Frage betrifft, die die politische Philosophie letztlich über die Ungleichheit beantworten will. Denn wie Rous­seau später im Zweiten Die normativen Mittel der Natur  | 135

Diskurs deutlich macht, gibt es eine »Grundlage« der politischen Legitimität jenseits der Art von Begründung, die das Naturgesetz liefert, nämlich eine, die von einem »echten Vertrag« bereitgestellt wird, der »in Betreff der gesellschaftlichen Beziehungen, den Willen aller einzelnen zu einem einzigen vereinigt« (DU, 245 / OC III, 184 f.). Diese zusätzliche Grundlage des Rechts in einer Konvention oder einem »Zusammenkommen« des Willens aller in Form eines Gesellschaftsvertrags wird Rous­seau detailliert im Gesellschaftsvertrag ausführen (GV, I,1 ; I,4). Damit benennt Rous­seau den Vertrag (oder die Konvention bzw. die Übereinkunft) als die Grundlage des Rechts innerhalb der Gesellschaft, und weil der Vertrag seine Quelle im menschlichen Willen hat, stellt er ihn der natürlichen Autorisierung des Rechts im Naturgesetz gegenüber. Im nächsten Kapitel werde ich Rous­seaus Vorstellung von den Grundlagen des Rechts innerhalb der Gesellschaft eingehender erörtern, im Augenblick mag die Feststellung genügen, dass die Unterscheidung zwischen Naturrecht (oder Naturgesetz) und Recht innerhalb der Gesellschaft es zumindest begrifflich denkbar macht, dass einige vom Naturgesetz nicht autorisierte soziale Ungleichheiten gleichwohl berechtigt sind. Diese Möglichkeit wird von Rous­seau ausdrücklich anerkannt, wenn er zu den Fragen, über die sich das »gesellschaftliche Recht« äußert, auch die der »institutionellen [oder künstlichen] Ungleichheit« rechnet (DU, 245 / OC III, 184). Obwohl die Auffassung, eine Art der Legitimität finde ihre Grundlagen in der menschlichen Zustimmung oder Übereinkunft, im Gesellschaftsvertrag weitaus profilierter ist als im Zweiten Diskurs, liegt sie klarerweise auch in dieser Schrift vor (DU, 245 ff. / OC III, 184 f.) und spielt, wie ich zeigen werde, eine wichtige, wenngleich implizite Rolle in Rous­seaus Kritik an der Ungleichheit. Sowohl dieses als auch das nächste Kapitel verfolgt das wichtige Ziel aufzudecken, wie der Gedankengang des Zweiten Diskurs sich implizit auf denselben Begriff von Legitimität beruft und stützt, der im Gesellschaftsvertrag am Werk ist.94 Eine sorgfältige Interpreta­ tion des Zweiten Diskurses soll die Mittel bereitstellen, mit denen sich eine überzeugende Position zur sozialen Ungleichheit rekonstruieren lässt, der zufolge einige soziale Ungleichheiten zwar nicht vom Naturgesetz autorisiert, aber gleichwohl moralisch erlaubt sind, weil sie ihre Grundlagen in einer anderen Quelle politischer 136 | Kapitel 3 

Legitimität haben : in der Konvention oder im Gesellschaftsvertrag bzw. darin, was der Gesellschaftsvertrag den allgemeinen Willen nennen wird. Um das zu leisten, muss ein Kriterium des Rechts formuliert werden, das nicht mit dem Naturgesetz zusammenfällt und legitime von illegitimen – erlaubte von unerlaubten – sozialen Ungleichheiten unterscheidet, und daher sollte Rous­seaus grundlegendste normative Frage im Zweiten Diskurs besser nicht in die Worte der Akademie gefasst werden  – »Ist die menschliche Ungleichheit vom Naturgesetz autorisiert ?« –, sondern umfassender verstanden werden : In welchem Maße und aus welchen Gründen sind soziale Ungleichheiten legitim ? Oder vielleicht, da der Zweite Diskurs in erster Linie eine Kritik der modernen Gesellschaft und weniger eine positive Beschreibung gerechtfertigter sozialer und politischer Institutionen (DU, 267, 121 / OC III, 193, 205) ist, wäre es präziser, seine grundlegende normative Frage negativ zu formulieren : Wann und aus welchen Gründen sind soziale Ungleichheiten nicht legitim ? Es lohnt sich, einen Augenblick innezuhalten und ein Wort über den Begriff der Legitimität zu sagen, wie ich ihn hier verwende. Im oberen Absatz habe ich den Ausdruck »legitim« gebraucht, wenn von sozialen Ungleichheiten die Rede war, und meinte damit moralisch annehmbar oder erlaubt. Auch Rous­seau selbst verwendet das Wort manchmal in dieser Weise. Es gibt allerdings noch einen leicht anderen Sinn von Legitimität, der in Rous­seaus Schriften – und in der Theorie des Gesellschaftsvertrags allgemein – stärker heraussticht. In dieser Verwendung sind es vor allem Gesetze (DU,  247 / OC III, 185) und politische Institutionen (DU, 245, 247, 253 / OC III, 184, 185, 188), die dann als legitim bezeichnet werden, wenn es seitens der Bürger eine Pflicht gibt, den dafür in Frage kommenden Gesetzen und Grundregeln der Institutionen zu gehorchen (DU, 247 / OC III, 183). Wenn Rous­seau erklärt, gewisse Ungleichheiten seien legitim (DU, 267 / OC III, 193), dann meint er damit, sie sind moralisch erlaubt. Allerdings steht auch dies in einer Beziehung zu dem bekannteren Begriff von Legitimität (von Gesetzen und Institutionen, deren Gebote wir zu befolgen verpflichtet sind) : Legitime Ungleichheiten werden nicht direkt von Gesetzen oder Institutionen verfügt oder geschaffen, vielmehr ergeben sie sich im Kontext legitimer Gesetze und Institutionen von Die normativen Mittel der Natur  | 137

selbst, und in den meisten Fällen geschieht dies ohne bewusstes Zutun der Institutionen oder Individuen. (Und wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, besteht eine Aufgabe legitimer Gesetze und Institutionen darin, Umfang und Art von Ungleichheiten zu beschränken, die innerhalb einer Gesellschaft entstehen können. Zu erklären, Ungleichheiten seien legitim, heißt vor allem zu erklären, dass Bürger keine moralischen Gründen haben, gegen sie zu protestieren. Daraus könnte sich auch die Verpflichtung ergeben, in seinem Handeln die Legitimität dieser Ungleichheiten anzuerkennen und etwa die Eigentumsrechte der anderen zu respektieren, sofern die ökonomischen Ungleichheiten, die zwischen ihnen herrschen, den Legitimitätskriterien entsprechen. Freilich gibt es auch andere Fälle, in denen die Legitimität einer sozialen Ungleichheit den davon Betroffenen keinerlei Verpflichtung auferlegt, in bestimmter Weise zu handeln oder eben nicht zu handeln : So können beispielsweise Unterschiede im öffentlichen Ansehen legitim (erlaubt) sein, ohne Individuen dazu zu verpflichten, die entsprechenden Personen auf eine besondere Weise zu behandeln. »Legitim« heißt dann vor ­a llem »moralisch erlaubt« und beinhaltet, dass die von legitimen Bedingungen der Ungleichheit Betroffenen sich ihnen nicht aus moralischen Gründen widersetzen können. In seiner Rekonstruktion der (größtenteils impliziten) Antwort des Zweiten Diskurses auf die Frage »In welchem Maße und aus welchen Gründen sind soziale Ungleichheiten illegitim ?« untersucht der Rest dieses Kapitels die normativen Mittel, über die der Zweite Diskurs jenseits der vom Naturgesetz bereitgestellten verfügt, um eine Antwort auf diese Frage zu entwerfen und illegitime Formen sozialer Ungleichheit zu kritisieren. Sein Hauptaugenmerk gilt dem, was ich als Rous­seaus normative Auffassung von der Natur des Menschen bezeichnet habe, wie sie sich seiner Darlegung des Naturzustands im ersten Teil des Zweiten Diskurses entnehmen lässt – ergänzt, wie ich unten ausführe, durch Betrachtungen zu den grundlegenden Bedingungen des Soziallebens, um zu einer normativen Vorstellung der Natur des Menschen im erweiterten Sinn zu gelangen. Die Bedeutung dieser normativen Auffassung der Natur des Menschen – oder des »Wesens des Menschen« – für das kritische Unterfangen des zweiten Diskurses liegt darin, dass sie die wesentlichen Bestandteile des menschlichen Wohlergehens 138 | Kapitel 3 

darzulegen erlaubt, auf die Rous­seau sich in der Erklärung der Gefahren und letztlich der Illegitimität vieler Formen sozialer Ungleichheit beruft. Wie dieses normative Bild der Natur des Menschen von Rous­seau dazu verwendet wird, allgemeine Kriterien für die Beurteilung der Legitimität von Gesetzen, Institutionen und sozialen Phänomenen im weiteren Sinn zu gewinnen, auf denen seine Kritik der sozialen Ungleichheit gründet, wird das Thema des 4. Kapitels sein. Die normative Auffassung der Natur des Menschen

Dem ursprünglichen, im ersten Buch des Zweiten Diskurses beschriebenen Naturzustand fällt, so sagte ich im 1. Kapitel, sowohl eine normative als auch eine erklärende Aufgabe zu. Er soll also nicht nur erklären, woher die allgegenwärtigen Ungleichheiten in den menschlichen Gesellschaften stammen, sondern auch dazu beitragen, sie zu bewerten und zu kritisieren. Darüber hinaus entspricht jeder Rolle, die der Naturzustand spielt, eine Auffassung von der Natur des Menschen – die eine erklärend, die andere normativ  –, von denen die erste als »ursprüngliche Natur des Menschen« bezeichnet werden könnte, bestehend aus den basalen Fähigkeiten und Anlagen, mit denen alle Menschen geboren werden, und die zweite als »wahre Natur des Menschen«, bestehend aus den basalen Bestandteilen des menschlichen Wohls, das in einer Vorstellung der für den Menschen charakteristischen und höchsten Zwecke gründet. Diese zweite Auffassung hat in dem Sinn die »wahre« Natur des Menschen zu ihrem Gegenstand, dass sie das erfasst, was andere Denker das Wesen des Menschen genannt haben, eine Auffassung der basalen Eigenschaften oder Güter, die für die Art menschlicher Lebensweise bestimmend sind, die den Menschen zuteil werden sollte, ungeachtet der Tatsache, dass dem oft nicht so ist und man dann sagen kann, sie hätten ihr »wahres Wesen« nicht verwirklicht. Obgleich nirgendwo im Zweiten Diskurs der Ausdruck »Wesen des Menschen« zu finden ist, und soweit ich weiß auch in keiner seiner anderen Schriften, hat sich eine Spielart der Vorstellung vom Wesen des Menschen zweifellos in seinem Denken niedergeschlagen, wie man etwa daran erkennen kann, Die normativen Mittel der Natur  | 139

dass er Leben und Freiheit »als »wesentliche Güter der Natur« bezeichnet (DU, 243 / OC III, 184). Diese normative Auffassung von der Natur des Menschen – den wesentlichen Gütern, nach denen Menschen streben sollten – kommt im Zweiten Diskurs ebenfalls in der Schilderung von Menschen zum Ausdruck, die, sei es im ursprünglichen Naturzustand, sei es im Goldenen Zeitalter, »gemäß der Natur ein gutes Leben führen« (DU, 61 / OC III, 113) oder die sich »die von der Natur vorgeschriebene Lebensweise bewahrt« haben (DU, 99 / OC III, 138).95 Dass Menschen ihre wahre Natur verwirklichen heißt, sie haben die wichtigsten, ihnen verfügbaren Güter erlangt oder sie führen, berücksichtigt man, was für Geschöpfe sie sind, ein unverdorbenes, gutes oder angemessenes Leben (DU, 185 /  OC III, 160). Aus Rous­seaus Berufung auf die wahre Natur des Menschen ergibt sich eine Komplikation : In dem Maße, in dem seine Kritik der Ungleichheit sich auf eine objektive Auffassung von den wahren Interessen des Menschen stützt, um die Kriterien zu formulieren, die über die Legitimität künstlicher sozialer Phänomene befinden, haben die normativen, seine Kritik der Ungleichheit leitenden Maßstäbe in einem Sinn tatsächlich ihre Quelle in der Natur – in seiner Auffassung der wahren Natur des Menschen –, obwohl diese Kriterien in einem anderen Sinn auch die Natur übersteigen und am Künstlichen, d. h. am Reich des freien Willens, teilhaben. Und was noch verwirrender ist : Rous­seau betrachtet, wie ich unten erklären werde, die normative Auffassung von der Natur des Menschen oder vom Wesen des Menschen in gewissem Sinn als Ableitung aus der nicht-normativen, in den ersten beiden Kapiteln erörterten Auffassung von der Natur des Menschen. Diese höchst verwickelten Aspekte der Rous­seau’schen Position – Komplikationen in seiner Berufung auf die Natur generell– werde ich unten und im 4. Kapitel zu klären versuchen, indem ich seine Darlegung der Maßstäbe untersuche, die von sozialen Ungleichheiten erfüllt sein müssen, sollen diese als legitim gelten. Der heutige Leser sollte sich keinesfalls vorschnell davon abschrecken lassen, dass hier von der wahren Natur des Menschen oder dessen Wesen die Rede ist. Es ist mittlerweile in Mode gekommen, dergleichen Rede als »essentialistisch« abzutun, entweder weil die Natur des Menschen den Kritikern zufolge uneinge140 | Kapitel 3 

schränkt formbar und historisch bedingt ist oder weil die »Tatsache des Pluralismus« und die große Vielfalt menschlicher Güter es unmöglich machen, eine für das menschliche Gedeihen wesentliche Teilmenge solcher Güter anzugeben.96 Meiner Ansicht nach ist der Lärm, der um »essentialistische« Auffassungen der Natur des Menschen gemacht wird, zum Großteil das : die billige Zurückweisung von Ansichten, die von ihren Kritikern nicht verstanden worden sind, manchmal ohne überhaupt den Versuch dazu unternommen zu haben. Ich will damit nicht sagen, wir sollten uns nicht allgemein vor philosophischen Thesen hüten, die substantielle Auffassungen vom Wesen des Menschen oder seiner wahren Natur anführen. Ich behaupte vielmehr, wir sollten, vor allem wenn wir auf eine solche Sprache in den Schriften eines Philosophen stoßen, der einer ganz anderen Zeit als der unsrigen angehört, zunächst einmal zu verstehen suchen, was er damit meinen könnte und warum er ihre Verwendung für begründet hält, statt sie kurzerhand als offensichtlich umnachtet zu verwerfen. Wenn wir uns diesen vorsichtigen Umgang mit Rous­seau zu eigen machen, werden wir sehen, dass er mit einer sehr sparsamen Auffassung von der wahren Natur des Menschen arbeitet und sie so verwendet, dass es gar nicht leicht ist, sie von den Ansichten vieler politischer Philosophien zu unterscheiden, die von sich behaupten, eine solche Vorstellung liege ihnen fern. Rous­seau muss überhaupt nicht von uns lernen, dass die Natur des Menschen höchst formbar und historisch bedingt ist : Es kommt der Wahrheit näher, dass wir es von ihm gelernt haben. Dass Menschen in verschiedenen Gesellschaften und in verschiedenen Epochen sich sehr voneinander unterscheiden – dass sie dermaßen einschneidenden Entwicklungen unterworfen sein können, dass es mitunter schwerfällt, sie als Angehörige derselben Gattung zu identifizieren –, ist zweifellos eine der Hauptthesen des Zweiten Diskurses. Bereits auf der allerersten Seite betont Rous­seau dies mit seinem Bild von der »Statue des Glaukus, welche die Zeit, das Meer und die Stürme derart entstellt hatten, daß sie weniger einem Gott als einem wilden Tier glich« als Symbol für die »im Schoß der Gesellschaft durch tausend … Ursachen« veränderte Seele des Menschen (DU, 65 / OC III, 122). Noch spektakulärer kommt es in seiner berühmten, mehr als einmal geäußerten Vermutung zum Die normativen Mittel der Natur  | 141

Ausdruck, Orang-Utans und Menschen könnten derselben Gattung angehören (DU, 129 – 135, 473 (UTB)/OC III, 208 – 11, 234). Man beachte jedoch, dass die Lehre von der Formbarkeit des Menschen mit den Fragen zusammenhängt, um die sich seine (deskriptive oder erklärende) Auffassung von der ursprünglichen Natur des Menschen dreht  – welche sind die basalen Fähigkeiten und Anlagen, die alle Menschen von Geburt an besitzen und die sowohl die Grenzen als auch die Möglichkeiten menschlicher Veränderlichkeit erklären ? –, und nicht mit denen, die sein normatives Bild von der Natur des Menschen thematisiert : Welches sind die basalen Bestandteile des menschlichen Wohls, die in irgendeiner Form zu allen Zeiten und an allen Orten gültig sind ? Man beachte zudem, dass Rous­seaus nicht-normative Auffassung von der Natur des Menschen ungemein bescheiden ist. Die ersten beiden Kapitel haben uns schon darüber aufgeklärt, dass er allen Menschen nur eine sehr kleine Anzahl von Gefühlen und Leidenschaften zuschreibt : Neben Mitleid und amour de soi-même – und betrachtet man nicht bloß die ursprüngliche Natur des Menschen, sondern auch die im erweiterten Sinn, dem amour propre  – treten der freie Wille und die Vervollkommnung. Bei dieser handelt es sich um eine Reihe latenter Fähigkeiten, die weniger ein festgelegtes Merkmal der Natur des Menschen darstellen, als vielmehr eine Quelle der großen Formbarkeit unter den zivilisierten Menschen sind. Hinsichtlich all dieser Bestandteile der Natur des Menschen und vor allem hinsichtlich des amour propre betont Rous­seau deren grundlegende Formbarkeit, ihre Fähigkeit, unter verschiedenen Umständen höchst unterschiedliche Gestalten anzunehmen, und nicht ihren festgelegten, unauslöschlichen Charakter. Rous­seau arbeitet also mit einer bestimmten Auffassung von der »festgelegten« Natur des Menschen, doch es ist herzlich wenig, was an dieser Natur unveränderlich ist, und sie geht ein in eine Reihe sehr begrenzter und nur grob bestimmbaren Grenzen dessen, war er für die nahezu uneingeschränkten Möglichkeiten menschlicher Lebensweisen hält. Zweitens ist Rous­seaus normative Auffassung von der Natur des Menschen beinahe ebenso sparsam wie seine Auffassung von der Natur des Menschen im erklärenden Sinn. Sie umfasst eine kleine Anzahl von Thesen, die verhältnismäßig unumstritten oder zumindest weitgehend akzeptiert sind, beispielsweise dass Freiheit 142 | Kapitel 3 

und Selbsterhaltung zu den »wesentlichen Gütern der Natur« gehören (DU, 243 / OC III, 184)  – das heißt zu den wichtigsten Gütern des Menschen, die aufzugeben die Individuen nicht berechtigt sind und von denen ein legitimer Staat, wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, sicherstellen muss, dass alle in ihren Genuss kommen.97 (Unten werde ich behaupten, Rous­seau rechne auch das Wohlergehen im Allgemeinen, Glück eingeschlossen, zu den basalen Gütern, ohne deren Besitz der Mensch seine wahre Natur nicht verwirklichen kann.) Darüber hinaus beinhaltet seine normative Auffassung von der Natur des Menschen erstens, dass eines dieser Güter, Freiheit, das charakteristisch menschliche Gut ist :98 ein Gut, das zumindest in den meisten seiner Formen nur von Menschen, nicht von anderen Lebewesen erlangt werden kann ;99 zweitens dass die Freiheit, weil sie mit der »edelsten Fähigkeit des Menschen« (DU, 241 / OC III, 183) verbunden ist, die der menschlichen Gattung Würde verleiht, das höchste Gut des Menschen ist, auf das zu verzichten einer »Erniedrigung seiner Natur« gleichkäme (DU, 241 / OC III, 183), und drittens dass Freiheit – wie auch das Leben – ein unschätzbares Gut ist, das sich berechtigterweise nicht gegen ein anderes Gut eintauschen lässt. Die Unschätzbarkeit der Freiheit beinhaltet – und das gilt auch für das Leben –, dass auf sie zu verzichten, »um welchen Preis es auch sei, die Vernunft und die Natur zugleich beleidigen« würde (DU, 243 / OC III, 184) und dass kein legitimer Vertrag, einer, der eine echte Verpflichtung zur Erfüllung seiner Bedingungen nach sich zieht, auf ihrem Verzicht beruhen kann. Diese Auffassung vom normativen Rang der Freiheit ist gleichbedeutend mit der wohl kaum ausgefallenen Ansicht, den Menschen die Freiheit zu rauben, sie zu versklaven, bedeute, sie nicht als Menschen zu behandeln und ihnen die Würde zu nehmen, die ihnen qua Menschsein zukommt.100 Es liegt mir zwar fern zu bestreiten, dass das Anführen der Vorstellung einer wahren Natur des Menschen selbst in diesem verhältnismäßig bescheidenen Sinn berechtigte philosophische Fragen hinsichtlich ihrer Rechtfertigung aufwirft, aber ich möchte die Sparsamkeit der Rous­seau’schen Annahmen unterstreichen und zugleich darauf hinweisen, dass die meisten liberalen politischen Theorien von heute, auch wenn sie nicht vom Wesen des Menschen sprechen, auf irgendeine Version dieser Annahmen verpflichtet sind, insofern nämlich als sie eine Die normativen Mittel der Natur  | 143

Reihe grundlegender Interessen des Menschen anerkennen, die ein legitimer Staat fördern muss, oder auch insofern als sie Freiheit, in dem einen oder anderen Gewand, zu einem absoluten, unersetzlichen Gut erheben, das ein gerechter Staat für alle seine Bürger achten und sichern muss. Den Inhalt der als normatives Ideal verstandenen wahren Natur des Menschen anzugeben fällt am leichtesten, wenn wir darauf schauen, wie Rous­seau die Vorstellung im ersten Teil des Zweiten Diskurses verwendet. Denn dort sagt er ziemlich deutlich, worin ein Leben in Übereinstimmung mit der Natur besteht : Der Bewohner des ursprünglichen Naturzustands ist ein freies Wesen, »dessen Herz ruhig und dessen Körper gesund ist« (DU, 165 / OC III, 152). Später, im zweiten Teil, werden die Bewohner des Goldenen Zeitalters als solche beschrieben, die im Einklang mit der Natur leben, weil »sie so frei, gesund, gut und glücklich [lebten], wie sie es ihrer Natur nach sein konnten« (DU, 213 / OC III, 171). Vielleicht wäre es präziser, die den ursprünglichen Naturzustand kennzeichnenden Ideale in Bezug auf das Fehlen der vielen Übel zu definieren, die, wie im zweiten Teil des Diskurses gezeigt wird, mit der Zivilisation auftreten : Krieg, Herrschaft, Laster, ungestillte Wünsche und Bedürfnisse sowie Entfremdung. Mit anderen Worten, um nur auf zwei der wichtigsten Elemente in der normativen Auffassung von der Natur des Menschen das Augenmerk zu richten, die Freiheit, deren sich diese primitiven Geschöpfe erfreuen, ist nichts anderes als das Fehlen der Unterwerfung unter den Willen anderer bzw. das Fehlen von Herrschaft, und ihr Wohlergehen besteht im Fehlen von Schmerz, enttäuschten Wünschen und unerfüllten Bedürfnissen. In den folgenden beiden Abschnitten werde ich die entsprechenden Auffassungen von Freiheit und Wohlergehen ausführlich untersuchen. Bevor ich mich jedoch dieser Aufgabe zuwende, noch ein paar Worte zum Rang des anderen wichtigen Guts, das das in Rous­ seaus normativer Auffassung von der Natur des Menschen ausgedrückte Ideal ergänzt : Leben oder Selbsterhaltung. Ich setze voraus, dass wir nicht betrachten müssen, worin das am Leben Bleiben besteht, und dass es genügt zu sehen, wie dieses Gut sich normativ gesprochen zu Freiheit und Wohlergehen verhält. Da Leben und Selbsterhaltung, anders als Freiheit, »natürliche« oder naturalistische Güter sind, die mit den Bedingungen des animalischen Lebens 144 | Kapitel 3 

verbunden sind  – Güter, die sich eindeutig auch nicht-mensch­ lichen Lebewesen zuordnen lassen  –, könnte man versucht sein, Selbsterhaltung einfach in die Kategorie des Wohlbefindens einzubinden. Da Rous­seau dies aber nicht tut, folge ich ihm in dieser Sache. Warum er Freiheit für ein Gut hält, das einem grundlegend anderen Typus als die Selbsterhaltung angehört, ist nicht schwer zu verstehen, denn nach seiner Ansicht ist sie kein natürliches Gut in diesem Sinn. Vermutlich ergibt es jedoch auch Sinn, den Stellenwert der Selbsterhaltung von dem des bloßen Wohlergehens zu unterscheiden, denn schließlich ist am Leben bleiben die grundlegendste Bedingung der Möglichkeit, dass es einem überhaupt gut oder schlecht geht – so wie es die grundlegendste Bedingung der Möglichkeit ist, frei zu sein. Geht es jemandem schlecht, ist er aber am Leben, so gibt es die Möglichkeit, dass sich seine Situation bessert und er irgendwann in der Zukunft beide Güter genießen kann, während die entgegengesetzte Kombination, tot sein, aber frei von Leid, diese künftige Möglichkeit ausschließt. Wegen dieser Asymmetrie von Leben und Wohlergehen nimmt jenes in der Hierarchie menschlicher Güter einen höheren Platz ein. (Selbstverständlich ist Rous­seau so verständig zu erkennen, dass grässliche Leiden verbunden mit der Gewissheit, ein künftiges Wohlergehen sei unmöglich, es rechtfertigen können, wenn ein verzweifeltes Individuum Schmerzlosigkeit dem Leben gegenüber vorzieht. Wie ich unten erklären werde, sind es nicht die moralischen Fragen, vor denen Individuen unter besonderen Umständen stehen mögen, die ihn hier beschäftigen.) Die höherrangige Stellung des Lebens im Verhältnis zum Wohlergehen spiegelt sich in der oben angeführten These Rous­seaus, dass beide, Selbsterhaltung und Freiheit, nicht aber Wohlergehen, als »wesentliche Güter der Natur« gelten, was im Falle der Freiheit bedeutet, dass der Verzicht auf das Leben, »um welchen Preis es auch sei, die Vernunft und die Natur zugleich beleidigen« würde (DU, 143 / OC III, 184). Man muss sich klar machen, dass Rous­seau nicht behauptet, es sei einem Individuum moralisch nicht erlaubt, sein Leben im Namen der Freiheit zu opfern, wenn es sich in Umständen wiederfindet, in denen es das eine oder das andere wählen muss, denn mit dieser Frage ist er gar nicht beschäftigt. (Meiner Ansicht nach nimmt er zu dieser Frage die Haltung ein, dass, ist Die normativen Mittel der Natur  | 145

man gezwungen zwischen Leben und Freiheit zu wählen, es moralisch erlaubt ist, sich für das eine oder das andere zu entscheiden. Das Leben der Freiheit vorzuziehen ist erlaubt [GV, I.4], obgleich man damit »sein Wesen erniedrigt« ; die Freiheit dem Leben vorzuziehen ist nicht allein erlaubt, sondern ehrenhaft, allerdings zu dem nicht wiedergutzumachenden hohen Preis, sein Wesen »zu vernichten« [DU, 143 / OC III, 184]. Mit anderen Worten : Steht man vor der Wahl, sein Wesen entweder zu erniedrigen oder zu vernichten, können moralische Grundsätze die Frage nicht entscheiden.) Stattdessen behauptet Rous­seau, das Leben eines Individuums habe keinen Preis.101 Das bedeutet, als die grundlegendste Bedingung aller Güter, in deren Genuss Individuen kommen können, ist das Leben, wie die Freiheit (DU, 237 / OC III, 181), ein nicht austauschbares Gut, eines, das man nicht gegen eine noch so große Menge eines anderen »zeitlichen« (natürlichen) Guts einzutauschen vermag. (Da Freiheit mit einer »metaphysischen« Eigenschaft des Menschen verbunden ist, ist sie kein natürliches Gut in dem relevanten Sinn.)102 Es ist wichtig zu erkennen, dass die These, das Leben eines Individuums habe keinen Preis, nicht als Beitrag zur Kasuistik gedacht ist – zur Aufgabe herauszufinden, wie moralische Grundsätze in schwierigen Umständen anzuwenden sind. Zu erklären, das Leben habe keinen Preis bedeutet vielmehr, dass es nicht berechtigterweise in einen Handel eingebracht werden darf, und das wiederum heißt, dass die Zustimmung, sein Leben – oder seine Freiheit – gegen irgendein anderes Gut einzutauschen, nicht als ein legitimer Vertrag gelten kann, der den Vertragsschließenden echte Rechte und Verpflichtungen auferlegt. Unter bestimmten Bedingungen mag es mir moralisch erlaubt sein, das Leben meiner Familie durch die Äuße­ rung der Worte »Ich übergebe dir mein Leben im Tausch gegen die Unversehrtheit meines Gemahls und meiner Kinder« zu retten. Gelingt es mir, mit diesen Worten das Leben meiner Liebsten zu retten, umso besser. Der Witz ist allerdings der, dass, weil mein Leben keinen Preis hat, ich nicht beim Wort genommen werden kann. Wenn ich einen Weg finde, dem Tod zu entgehen, nachdem meine Familie verschont worden ist, so habe ich damit niemandem ein Unrecht zugefügt. Diese Lehre wird für Rous­seaus Darlegung des »wahren« Gesellschaftsvertrags wichtige Folgen haben und mithin auch für seine vollständige Darlegung der im 4. Kapitel zu betrach146 | Kapitel 3 

tenden Legitimität sozialer Ungleichheiten. Doch wenden wir uns nun der genaueren Untersuchung zu, wie Freiheit und Wohlergehen im gegenwärtigen Kontext aufzufassen sind. Freiheit als Fehlen von Herrschaft

Da Freiheit für Rous­seaus Vorstellung vom Gedeihen des Menschen und seine Anklage der modernen Gesellschaft entscheidend ist, müssen wir uns darüber Klarheit verschaffen, was sie in diesem Kontext bedeutet. Wenn Rous­seau die Geschöpfe des ursprünglichen Naturzustands frei nennt, dann bekräftigt er damit nicht bloß seine frühere These, dass sie einen freien Willen haben, die Fähigkeit, sich spontan zu entscheiden, ohne von der Natur bestimmt zu sein. Hier ist Freiheit kein »metaphysisches« (DU, 105 ff. / OC III, 411) Phänomen, sondern ein soziales, das seinem Wesen nach das Fehlen der Unterwerfung unter einen fremden Willen ist oder, wie ich hier sagen werde, das Fehlen von Herrschaft. Wie Rous­seau es auf den Punkt bringt, gibt es im ursprünglichen Naturzustand »keine Unterwerfung und Herrschaft«, und das heißt schlicht, niemandem wird es gelingen, »sich … Gehorsam zu verschaffen« (DU, 187 /  OC III, 161). Kurz gesagt, die Bewohner dieses Zustands sind frei, weil sie bei der Befriedigung ihrer Bedürfnisse und Wünsche nicht gezwungen sind, einem anderen Willen als dem ihren zu gehorchen. Nach dieser Auffassung ist Freiheit in dem spezifischen Sinn sozial, dass bereits in der Definition Bezug auf den Willen anderer genommen wird. Obgleich streng genommen auch ein vollkommen isolierter Robinson Crusoe die Definition von Freiheit als Fehlen von Herrschaft erfüllte, würde der Hinweis, dass er in diesem Sinn frei ist, sehr wenig besagen. Buchstäblich wäre es selbstverständlich wahr, doch frei auf diese Weise zu sein, ist nur in einer Welt bedeutungsvoll, in der es andere Willen gibt, deren Befehlen man im Prinzip unterworfen sein könnte. Zugleich folgt allein aus dieser Definition nicht, dass Freiheit in einem strengeren Sinn des Wortes sozial ist, wodurch Freiheit davon abhinge oder sogar darin bestünde, positive Bande zu anderen zu haben. Die »moralische Freiheit«, die Rous­seau den sich selbst Gesetze gebenden Bürgern im Gesellschaftsvertrag zuschreibt, ist in diesem strengeren Sinn Die normativen Mittel der Natur  | 147

sozial. Prinzipiell aber können Individuen in dem hier relevanten Sinn frei sein, indem sie sich nur »negativ« auf den Willen anderer beziehen. Die Unterscheidung zwischen dem metaphysischen und dem sozialen Begriff von Freiheit nicht aus dem Blick zu verlieren, ist wichtig, um die beiden Bedeutungen von der Natur des Menschen im Denken Rous­seaus zu entflechten. Da es Menschen ohne den freien Willen, der Teil ihrer ursprünglichen Natur ist, überhaupt nicht gibt, wäre es sinnlos, seinen Verlust zu beklagen oder uns zu seiner Verwirklichung aufzufordern. Herrschaft hingegen ist ein weitverbreitetes, aber nicht notwendiges Merkmal menschlicher Gesellschaften, und ein Hauptanliegen von Rous­seaus Politik- und Gesellschaftsphilosophie besteht darin, ihre Äußerungen und Ursachen aufzuzeigen und darüber nachzudenken, wie man sie verhindern könnte. Wir müssen uns klarmachen, dass Rous­seau an etwas Bestimmtes denkt, wenn er im Zweiten Diskurs vom Verlust der Freiheit redet. Im Ganzen von Rous­seaus Denken spielen, wie wir wissen, mehrere Freiheitsauffassungen eine Rolle,103 diejenige, um die es hier geht, werde ich aber als Fehlen von Herrschaft bezeichnen – oder auch von Knechtschaft, Unterdrückung oder Unterwerfung, die allesamt für Rous­seau dasselbe Phänomen charakterisieren. Das wesentliche Merkmal der Freiheit in all ihren Formen ist, dass man »nur sich selbst gehorcht« (GV, I.6)104 und nicht dem Willen anderer. In anderen Schriften bestimmt Rous­seau das Wesen der Freiheit ganz ähnlich als »dem [Willen] anderer nicht unterworfen zu sein« (BvB, 306 / OC III, 841) und als (TES, 713 / OC I, 1059) »unterlassen, was [man] nicht will«. Indem Rous­seau das Phänomen der Herrschaft hervorhebt und Freiheit als Fehlen von Herrschaft begreift, tritt er zweifellos in die Fußstapfen einer langen Reihe früherer republikanischer Denker, die Freiheit ähnlich definiert haben.105 Unten werde ich behaupten, dass Rous­seau, obgleich er nominell an der klassisch republikanischen Definition von Freiheit festhält, dennoch subtil, aber einschneidend die Auffassung von Herrschaft ändert, auf der jene Definition beruht. Die im Zweiten Diskurs entwickelte Auffassung von Herrschaft ist mit ihrer Betonung des Gehorsams gegenüber andern in gewisser Hinsicht eine Vorläuferin dessen, was Max Weber später Herrschaft genannt hat : »Herrschaft soll heißen die Chance, für einen Befehl … 148 | Kapitel 3 

Gehorsam zu finden«.106 Webers Definition kommt Rous­seaus Charakterisierung von Herrschaft im Zweiten Diskurs sehr nahe, nämlich als regelmäßig »sich Gehorsam zu verschaffen« (DU, 187 /  OC III, 161). Beide Denker nehmen dabei an, dass Gehorsam asymmetrisch ist, also nur in eine Richtung geht. Dass Rous­seau in die Definition von Herrschaft eine Asymmetrie zwischen den Individuen eingebaut hat, bedeutet, dass diese selbst für ihn ein Fall von sozialer Ungleichheit ist – ein Privileg, das »einige zum Nachteil der anderen genießen« (DU, 77 / OC III, 131) –, doch im Unterschied zu vielen anderen sozialen Ungleichheiten, man denke an Ansehen oder Reichtum, besteht diese Asymmetrie des Gehorsams oder die Ungleichheit hinsichtlich der sozialen Macht auch in einem Verlust von Freiheit für diejenigen, die auf der benachteiligten Seite dieser sozialen Beziehung stehen und stets ihren Widersachern gehorchen müssen. Anders gesagt : Arm sein oder weniger geachtet als andere ist nicht an sich eine Form von Versklavung oder ein Mangel an Freiheit – auch wenn, wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, ärmer als andere sein oft einen Verlust an Freiheit nach sich zieht –, während dies sehr wohl der Fall ist, wenn man regelmäßig und einseitig einem fremden Willen gehorcht. Damit liegt auf der Hand, welches moralische Pro­blem diese Form der sozialen Ungleichheit aufwirft : Asymmetrischer Gehorsam ist einfach eine Form der Versklavung oder des Verlusts von Freiheit. Damit kommen wir zu einer wichtigen Hinsicht, in der Rous­ seaus Auffassung von Herrschaft sich von der Weber’schen unterscheidet. Während Herrschaft für Weber legitim sein kann und keinen beklagenswerten Verlust von Freiheit darstellen muss – einige Formen des einseitigen Gehorsams sind gerechtfertigt –, betrachtet Rous­seau Herrschaft immer als ein Fehlen von Freiheit und als kritikwürdig. Da aber auch Rous­seau meint, dass einige Formen des einseitigen Gehorsams – Kinder, die ihren Eltern gehorchen oder Bürger, die legitimen Gesetzen gehorchen – mit Freiheit vereinbar und daher keine Fälle von Herrschaft sind, muss seine Definition von Herrschaft als »der Erfolg, sich Gehorsam zu verschaffen« im Lichte dieser Tatsache modifiziert werden. Mit anderen Worten : Wenn wir Rous­seaus These, der Vater sei nach dem Gesetz der Natur der Gebieter des hilflosen Kindes (DU, 239 / OC III, 182), ernstnehmen sollen, müssen wir erklären können, was gewisse Formen Die normativen Mittel der Natur  | 149

des einseitigen Gehorsams – die elterliche Autorität107 ebenso wie legitime politische Autorität – von solchen unterscheidet, in denen die gehorchenden Individuen unfrei sind oder beherrscht werden. Es ist verführerisch, mit dem Pro­blem so umzugehen, wie viele Theoretiker des Republikanismus es tun, nämlich Herrschaft so zu definieren, dass der arbiträre Wille anderer von dem unterschieden wird, der »die Interessen und Vorstellungen« der Gehorchenden »beachtet «.108 Doch Rous­seau charakterisiert Herrschaft nicht auf diese Weise, und wenn wir untersuchen, warum er es nicht tut, gewinnen wir eine wichtige Erkenntnis über seine Auffassung von Herrschaft und wie sie sich von der unterscheidet, die einen Großteil der republikanischen Tradition vor ihm bestimmt hat. Wenn frühere Republikaner Freiheit als Fehlen von Herrschaft definieren, dann beziehen sie sich typischerweise dabei überhaupt nicht auf den Gehorsam. Stattdessen definieren sie Herrschaft in der Regel in Bezug auf die Fähigkeit der herrschenden Partei, willkürlich in die Entscheidungen der Beherrschten einzugreifen, wobei »willkürlich« meint, derjenige, der eingreift, »ist nicht genötigt, die Interessen und Vorstellungen derjenigen zu beachten, die sich den Eingriff gefallen lassen müssen«.109 Nach dieser Ansicht verletzt eine Person oder ein Gesetz, das regelmäßig anderen Personen gebietet oder sie nötigt, so zu handeln, dass ihre Interessen dadurch gefördert werden – wir nennen das Paternalismus –, nicht die Freiheit derjenigen, die gehorchen, weil ihr Gebieten und Nötigen nicht willkürlich ist. Dass in dieser Definition Gehorsam nicht vorkommt – in etwas Eingreifen ist ein breiteres Phänomen als Gehorsam im Willen anderer zu finden –, weist zusammen mit ihrer Betonung des Unterworfenseins unter eine willkürliche Macht auf einen wichtigen Unterschied zwischen den beiden Auffassungen von Herrschaft sowie zwischen den jeweiligen Haltungen zum Paternalismus hin : Für Rous­seau liegt der Knackpunkt der Herrschaft nicht darin, dass auf eine den eigenen Interessen zuwiderlaufende Weise eingegriffen wird, sondern darin, dass man einem fremden Willen in dem Sinn gehorcht, dass man dem Gebot oder dem Wunsch eines anderen erlaubt, darüber zu bestimmen, was man tut. Das aber heißt, sein der Herrschaft entgegengesetztes Ideal von Freiheit liegt darin, selbst bestimmen zu können,110 wie man handelt, und nicht wie viele andere Republikaner es wollen, so zu handeln – worunter auch fällt, 150 | Kapitel 3 

zum Handeln genötigt zu werden oder auf Befehl zu handeln –, dass meine Interessen dadurch gefördert werden, unabhängig davon, ob ich es bin, der darüber befindet, wie diese Handlungen aussehen, oder ob ein anderes Subjekt es tut. Mit anderen Worten : Für Rous­ seau ist das Fehlen von Herrschaft enger mit dem Ideal des freien Handlungssubjekts verknüpft – damit, dass man sein Tun selbst bestimmt oder nur sich selbst gehorcht – als mit dem Ideal, seine Interessen befördert zu sehen,111 wobei die Frage, wer bestimmt, worin diese Förderung besteht, irrelevant ist. Das Reizvolle an Rous­seaus Definition ist daher, dass sie anders akzentuiert, was an der Herrschaft falsch ist : Herrschaft verstößt gegen einen Typ des freien Handelns und meint nicht die Anfälligkeit, den Eingriffen anderer so ausgesetzt zu sein, dass es den eigenen Interessen zuwiderläuft. Stellt es für Rous­seaus Auffassung von Herrschaft also keinen Unterschied dar, ob der Wille, dem ich gehorche, mich auf meine eigenen Interessen hinlenkt oder ob er sie missachtet, ja sie möglicherweise denen des Herrschenden unterordnet ? Ist es für die Definition von Herrschaft irrelevant, ob der Wille, dem man gehorcht, sich durch Willkür oder Nicht-Willkür auszeichnet ? Obwohl Rous­ seau diese Frage nie ausdrücklich aufwirft, sollten wir ihn meiner Ansicht nach am besten so verstehen : Herrschaft wird noch schlimmer – als Herrschaft verschärft –, wenn der Wille, dem ich regelmäßig gehorche, mir befiehlt, auf eine Weise zu handeln, die meinen eigenen Interessen widerspricht oder ihnen gleichgültig gegenübersteht. Dennoch – und das ist entscheidend handelt es sich – vorausgesetzt, ich bin erwachsen – immer noch um Herrschaft, selbst dann, wenn das, was der Wille mir befiehlt, meine Interessen fördert : Regelmäßig einem anderen Willen als dem meinen zu gehorchen stellt selbst dann eine Verletzung des freien Handlungsvermögens dar, wenn der Wille, dem ich gehorche, wohlwollend ist. Erklären lässt sich diese Auffassung, indem, wie der Gesellschaftsvertrag es implizit tut, behauptet wird, es gebe zwei Sinne, in denen der befehlende Wille fremd oder der Wille eines anderen sein kann, der erste ist für Herrschaft wesentlich, während der zweite weder notwendig noch hinreichend ist, obgleich das Vorliegen dieses Sinns gemeinsam mit dem ersten die Herrschaft verschärft. Der erste, direkte Sinn, in dem ein Willen mir fremd sein kann, ist dann erfüllt, wenn die Befehle dieses Willens von einem Träger ausgeDie normativen Mittel der Natur  | 151

hen, der nicht mit mir identisch ist. Es geht also darum, wo die von mir befolgten Befehle ihren Ursprung haben : ob in mir, in irgendeinem anderen Individuum, einer Gruppe oder einer Institution (etwa dem Staat). Es gibt jedoch noch einen zweiten Sinn, in dem ein Wille fremd sein kann, nämlich hinsichtlich seines Inhalts. Ein Wille, der mir in diesem Sinn fremd ist, zeichnet sich dadurch aus, dass seine Befehle ungeachtet dessen, wer sie ergehen lässt, mich nicht zu einem Handeln anleiten, das meine eigenen Interessen fördert. Solche Befehle heißen in der oben verwandten Terminologie »willkürlich«. Die Umkehrung dieser These – ein Wille gilt (in einer begrenzten Hinsicht) als der meine, wenn er in dem Sinn »von mir ausgeht« (GV, II.4), dass er meine Interessen fördert – liegt der These des Gesellschaftsvertrags zugrunde, dass der allgemeine Wille in gewissem Sinn mein eigener Wille ist (da er mein Interesse an Freiheit und Wohlergehen fördert), und das auch dann, wenn ich, der Bürger einer legitimen Republik, ihn subjektiv nicht als solchen anerkenne.112 Irgendeine Version dieser Vorstellung steht zweifellos hinter der These vieler früherer Republikaner, dass ein nichtwillkürlicher Eingriff keine Herrschaft darstellt und daher mit der Freiheit des Handelnden vereinbar ist, der den Eingriff erleidet. Regelmäßiger Gehorsam gegenüber einem Willen, der nur im ersten der beiden Sinne fremd ist, kennzeichnet daher für Rous­seau Herrschaft und berechtigt zur Kritik, doch regelmäßig einem Willen zu gehorchen, der in beiden Sinnen fremd ist, gilt als stärkere Herrschaft verglichen mit einer, in der der Gehorsam heischende Wille nicht im zweiten Sinn fremd ist. Dass der Willen, dem gehorcht wird, im ersten Sinn ein fremder ist, erfüllt die notwendige und hinreichende Bedingung für Herrschaft, während sein Fremdsein im zweiten Sinn – er weist mich an, gegen meine Interessen zu handeln – weder das eine noch das andere ist.113 Rous­seau pflichtet daher anderen Republikaners bei, dass die Unterwerfung unter den willkürlichen Willen anderer illegitim ist (DU, 245 / OC III, 184), doch teilt er weder ihre Ansicht, dass es die Willkür dieses Willens ist, die aus dem Gehorsam Herrschaft macht, noch dass Herrschaft Willkür erfordert. Folglich ist Rous­seaus Auffassung von Herrschaft in einer wichtigen Hinsicht anspruchsvoller als jener Zweig der republikanischen Tradition, mit dem ich ihn vergleiche : Indem sie den Willkürcharakter des Willens, dem ich gehorche, nicht zu 152 | Kapitel 3 

einer notwendigen Bedingung von Herrschaft macht, schließt sie so ziemlich dieselben Phänomene ein wie die Vergleichsdefinition, während sie darüber hinaus auch Einspruch dagegen erhebt, dass jemand regelmäßig einem anderen Willen gehorcht, mag dieser auch dessen Interessen beachten. Man könnte nun einwenden, die Konzentration auf den Gehorsam und das Herunterspielen der Willkür laufe Gefahr, Herrschaft mit dem weniger verwerflichen Phänomen des Paternalismus zu verwechseln. Tatsächlich aber ermöglicht uns Rous­seaus Haltung, den Paternalismus – regelmäßiger, einseitiger Gehorsam gegenüber einem Willen, der im ersten, nicht aber im zweiten Sinn fremd ist – so zu definieren, dass er unterschieden wird von dem Gehorsam gegenüber einem Willen, der in beiden Sinnen fremd ist, und erklärt, warum dieses verwerflicher ist als jenes, betrifft es doch den Gehorsam gegenüber einem Willen, der in beiden Sinnen, nicht bloß in einem Sinn fremd ist. Rous­seaus Definition unterscheidet den Paternalismus  – unter Erwachsenen  – tatsächlich nicht von Herrschaft, und das ist einer ihrer Vorzüge. Paternalismus unter Erwachsenen ist eine Form von Herrschaft, und ohne sich in die Ad-hoc-Strategie zu flüchten und zu einer anderen Auffassung von Freiheit zu greifen, fehlt es dem traditionellen Republikanismus an den nötigen Mitteln, ihn als solchen zu kritisieren.114 Beinhaltet das nun, Eltern übten Herrschaft über ihre Kinder aus, wenn sie ihnen befehlen, das zu tun, was für diese gut ist ? Sicherlich nicht. Paternalismus ist eben die Form legitimer Autorität, die innerhalb der Familie herrscht, und zwar deshalb, weil in dieser Sphäre asymmetrische Gehorsamkeitsbeziehungen durch natürliche, wenngleich nur zeitweilige, ungleiche Fähigkeiten gerechtfertigt sind : Diejenigen, die gehorchen, die Kinder, sind aus natürlichen, ihre Entwicklung betreffenden Gründen noch nicht in der Lage, ihre eigenen Herren zu sein. Elterliche Autorität ist mithin ein Fall von legitimer sozialer Ungleichheit, die in einer natürlichen Ungleichheit gründet, und damit ist sie vom Naturgesetz »autorisiert«. Sobald die natürliche Ungleichheit sich auflöst, schwindet jedoch auch die moralische Grundlage für den einseitigen Gehorsam : Kinder, die mündig sind und damit auf natürliche Weise für ihre Eltern zu Gleichen geworden sind, sind nicht mehr verpflichtet, ihnen zu gehorchen (DU, 239 / OC III, 182 ).115 In Beziehungen zwischen Erwachsenen Die normativen Mittel der Natur  | 153

gilt daher der regelmäßige Gehorsam gegenüber einem Willen, der nur in dem oben unterschiedenen ersten Sinn ein fremder ist, als Herrschaft, während zukünftige Handlungssubjekte, die noch nicht die nötige Reife haben, noch kein souveräner Wille sind und damit noch keine möglichen Opfer von Herrschaft, obgleich sie selbstverständlich unterdrückt, ungerecht oder schlecht behandelt werden können, sofern der erwachsene Wille, dem sie gehorchen, ihre Interessen nicht berücksichtigt, einschließlich derjenigen, die sie als zukünftige souveräne Handlungssubjekte haben. Und wie steht es mit dem Gehorsam gegenüber politischer Auto­ rität ? Hier geht es um die Frage, ob Individuen, die genötigt werden, legitimen Gesetzen zu gehorchen – wobei Legitimität eine Verpflichtung zum Gehorsam einschließt (DU, 245 / OC III, 185) –, diese Gesetze aber nicht als legitim anerkennen oder in ihnen nicht den Ausdruck ihres eigenen Willens sehen, einer Herrschaft unterworfen werden, wenn sie ihnen gehorchen. Dieser Fall ist verwickelter als jener der elterlichen Autorität. Ein Grund dafür ist, dass der Leser des Zweiten Diskurses sich zu dem Schluss verleiten lassen könnte, Rous­seau räume zumindest in dieser Schrift der Idee einer legitimen politischen Autorität keinen Platz ein, da der darin beschriebene Ursprung des Staates, der auf dem im zweiten Teil geschilderten »scheinbaren« Gesellschaftsvertrag gründet, nicht zu einer politischen Ordnung führt, welche die Freiheit und die anderen Interessen aller Bürger fördert, sondern stattdessen dazu bestimmt ist, »dem Schwachen neue Fesseln und dem Reichen neue Macht« zu geben und das »gesamte Menschengeschlecht  … zur Knechtschaft« zu zwingen (DU, 229 / OC III, 178). Solch ein Schluss wäre jedoch falsch. Dass Rous­seau selbst im Zweiten Diskurs, noch bevor er den Gesellschaftsvertrag verfasst hat, die Möglichkeit einer legitimen politischen Ordnung anerkennt, geht deutlich aus einem Abschnitt hervor, der nach der Darstellung der in den scheinbaren, illegitimen Gesellschaftsvertrag mündenden Ereignissen verfasst ist. Darin umreißt er kurz, wie ein »echter« Gesellschaftsvertrag aussehen würde, der im Gegensatz zu seinem Widerpart die Kriterien für politische Legitimität erfüllt und eine wirkliche Verpflichtung erzeugt (DU, 245 ff. / OC III, 184 f.). Wenn es daher sogar für den Verfasser des Zweiten Diskurs so etwas wie eine legitime politische Autorität gibt, so bleibt die Frage, 154 | Kapitel 3 

ob die Einwilligung zu dieser Autorität, selbst wenn sie erzwungen wird, ihm als einseitiger Gehorsam gegenüber einem fremden Willen gilt und, falls dies nicht der Fall ist, was daraus für die Auffassung von Herrschaft folgt, die wir zu verstehen suchen. Da Rous­seau im Gesellschaftsvertrag dem aufgenötigten Gehorsam gegenüber dem legitimen Gesetz die Bedeutung gibt, dass man jemanden »zwingen werde, frei zu sein« (GV, I.7), scheint es unwahrscheinlich, dass er darin auch Herrschaft sehen möchte. Da das legitime Gesetz nicht durch Willkür regiert, könnte man meinen, Rous­seau lande damit wieder im Lager der Republikaner, von denen ich ihn zu unterscheiden versucht habe. (Für sie war der nichtwillkürliche Charakter des Gesetzes ja hinreichend, um es nicht als Herrschaft anzusehen.) Klarheit darüber zu gewinnen, warum dem nicht so ist, verschafft uns weitere Einsicht in die Unterschiede zwischen den beiden Auffassungen von Herrschaft, insbesondere hinsichtlich der Bedeutung von etwas, was viele Republikaner nicht betonen : die demokratische Regierungsform. Wenn die These, das legitime Gesetz könne keine Herrschaft ausüben, der Einstellung entsprechen soll, die ich oben Rous­seau zugeschrieben habe, müssen wir erklären können, warum es auch dann keinen fremden Willen im ersten der hier explizierten Sinne repräsentiert, wenn Bürger ihm nicht bereitwillig gehorchen. Dazu müssen wir unser Augenmerk auf die Funk­tion richten, die in Rous­seaus Auffassung des legitimen Gesetzes von der demokratischen Form der Gesetzgebung eingenommen wird.116 Eine Möglichkeit, die Sache auf den Punkt zu bringen, besteht darin zu sagen, dass legitime Gesetze »von mir ausgehen« müssen (GV, II.4), und das nicht allein hinsichtlich ihres objektiven Gehalts – sie müssen meine grundlegenden Interessen fördern –, sondern auch bezogen auf ihre subjektive Form : Ich muss es sein, der bestimmt, welche spezifischen Gesetze mich so lenken, dass meine Interessen erfüllt werden. Die Frage lautet demnach, wie kann ich die spezifischen Gesetze bestimmen, die mich leiten, wenn wir voraussetzen, dass die Gesetze für alle gelten und folglich, da sie mit unser aller Freiheit vereinbar sein sollen, von jedem Bürger ebenso ausgehen müssen wie von mir ? Die Tatsache, dass Rous­seau diese Erwägung sehr ernstnimmt, erklärt, warum er darauf beharrt, dass Souveränität nicht repräsentiert werden kann (GV, II.1 ; III, 15). Sollen Gesetze – auch gute – Die normativen Mittel der Natur  | 155

nicht zur Quelle von Herrschaft werden, müssen sie tatsächlich von denjenigen gemacht werden, die ihnen unterworfen sind, oder sie müssen ihnen zumindest zugestimmt haben.117 Weil die Gesetz­ gebung ein kollektives Unterfangen zu sein hat, kann ich die mich regierenden Gesetze nur durch die aktive Teilnahme an einem demokratischen Prozess bestimmen, in dem diese Gesetze von der souveränen Versammlung verfasst oder ratifiziert werden. Als Bürger kann ich für mich nur insofern bestimmen, was ich tun soll, als ich ein aktives Mitglied der Gruppe bin, die tatsächlich die Gesetze macht – oder ratifiziert –, die uns alle regieren. Außerdem muss meine Teilnahme an diesem Prozess hinreichend substantiell sein, damit die These, die Gesetze gingen von mir aus – von einem wir, das mich als einen aktiv Teilnehmenden einschließt –, nicht bloß ein leeres Schlagwort ist, und das auch dann, wenn einige der aus diesem Prozess hervorgehenden Gesetze von meiner Meinung darüber abweichen, nach welchen Handlungen unsere kollektiven Ideale und Interessen verlangen. Aus diesem Grund ist die direkte, nicht-repräsentative Demokratie für Rous­seaus Vorstellung einer legitimen Republik nicht bloß Beiwerk ; sie ist vielmehr wesentlich, um in solch einer Republik Herrschaft zu vermeiden, und in dieser Frage könnten seine Differenzen mit früheren Republikanern kaum drastischer ausfallen. Rous­seau stimmt mit ihnen darin überein, dass »ein Gesetz, das systematisch … den Interessen der Menschen gerecht wird … nicht ihre Freiheit beeinträchtigt«,118 aber er tut dies nur unter der zusätzlichen Bedingung, dass dieses Gesetz im strikten Sinn kollektiv von eben den Menschen ausgegangen ist, die ihm unterworfen sind.119 Ein damit verwandter Unterschied zwischen Rous­seau und anderen Republikanern scheint zu sein, dass er einen wohlwollenden Paternalismus unter Erwachsenen, sofern nicht natürliche Bande der Zuneigung zwischen ihnen existieren, für ein sehr viel selteneres Phänomen hält, als diese es tun. Viele frühere Republikaner setzen großes Vertrauen in die Möglichkeit, dass eine Gruppe innerhalb der Gesellschaft konsistent für eine andere Gesetze erlassen kann, von denen diese eher profitiert, als dass sie von ihnen ausgebeutet wird,120 wodurch sie entsprechend ihrer Auffassung von Freiheit Herrschaft vermeiden. Im Gegensatz dazu ist Rous­seau misstrauisch gegenüber einer Klasse von Individuen, die dauernd behauptet, 156 | Kapitel 3 

sie wisse, auch ohne dass sich die da unten zu Wort melden, besser, was für die von ihnen Regierten gut ist. Anders gesagt genügt es in den meisten realen Situationen, die Erwachsene betreffen, dass ein Wille in dem ersten hier unterschiedenen Sinn fremd ist, damit er es auch im zweiten Sinn wird. Wenn wir weiterhin, wie Rous­seau es zu tun scheint, annehmen, dass im Allgemeinen niemand so gut darüber urteilen kann, was für jemanden gut ist, wie dieser jemand selbst,121 dann werden dieselben politischen Verfahren, die dafür sorgen, dass Gesetze von denen verabschieden werden, die ihnen unterworfen sind, auch viel dazu beitragen, die potentielle Willkür des Gesetzes aufzuheben. Dies bedeutet, dass, obwohl die direkte Demokratie für Rous­seau aus davon unabhängigen Gründen gerechtfertigt ist, nämlich als notwendige Bedingung dafür, dass das Gesetz nicht im ersten Sinn fremd ist und damit eine Quelle der Herrschaft, es ein weiterer Vorzug dieser demokratischen Verfahren ist, dass die aus ihnen hervorgehende Gesetze mit größerer Wahrscheinlichkeit, als es ansonsten der Fall wäre, die Interessen der ihnen Unterworfenen in Anschlag bringt und damit die prinzipielle Bedingung, die Republikaner an ein herrschaftsfreies Gesetz knüpften – es hat in dem spezifizierten Sinn nicht willkürlich zu sein –, mit größerer Wahrscheinlichkeit erfüllt ist. Bevor ich daran gehe, den zweiten Bestandteil der wahren Natur des Menschen, das Wohlergehen, zu erörtern, sollten noch zwei weitere Merkmale der Rous­seau’schen Auffassung von Herrschaft festgehalten sein. Das erste betrifft den Punkt, dass, obgleich Herrschaft eine Weise ist, »dem Willen anderer … unterworfen zu sein« (BvB, 188 / OC III, 841), Unterwerfung hier nicht beinhaltet, unter der Autorität eines anderen zu stehen – verpflichtet zu sein, einem anderen zu gehorchen –, sondern darauf abhebt, dass jemand in der Position ist, dem Willen eines anderen ohne Gegenseitigkeit regelmäßig Folge leisten zu müssen. Rous­seau meint, Individuen im Naturzustand seien in dem einen wie in dem anderen Sinn frei von Unterwerfung – sie haben weder Verpflichtungen gegenüber anderen (und genießen eine, wie es im Gesellschaftsvertrag heißt (GV, 1.8.), natürliche Freiheit), noch werden sie beherrscht. Doch für Rous­seaus Kritik der Ungleichheit ist klarerweise der zweite Sinn von Freiheit relevant. Natürliche Freiheit, wie sie im Gesellschaftsvertrag definiert ist, muss von den Individuen vollkommen Die normativen Mittel der Natur  | 157

aufgegeben werden, wenn sie in einen »echten« Gesellschaftsvertrag eintreten. Sie müssen dies allerdings nur, weil es damit vereinbar ist, dass jeder Einzelne »so frei bleibt wie vorher« (GV, I.6), insofern die von den Bürgern bei der Preisgabe ihrer Freiheit eingegangenen Verpflichtungen selbst auferlegt sind und damit nur »von ihnen ausgehen«. Der Verlust des anderen Typs von Freiheit – sich unter eine Herrschaft zu beugen – ist, wie wir im 4. Kapitel sehen werden, nicht generell das Ergebnis eines politischen Ereignisses, sondern einer unbeabsichtigten, mehr oder weniger notwendigen Begleiterscheinung des rudimentären Fortschreitens der Zivilisation, so dass jeder legitime Staat sich die vollständige Aufhebung von Herrschaft – die wesentlich dafür ist, dass die Bürger so frei wie vorher werden – notwendig zum Ziel setzen muss. Entscheidend ist, dass Rous­seau das Beherrschtwerden nicht für eine Frage des normativen oder rechtliches Status hält – etwa desjenigen, den Sklaven im Gegensatz zu dem der freien Bürger einnehmen –, sondern für eine empirisch reale Stellung, die aus dem tatsächlichen (regelmäßigen und einseitigen) Gehorsam folgt, selbst wenn diese Form des Gehorsams nicht in einen moralischen, rechtlichen oder sozialen Status eingeht. 122 Im Gesellschaftsvertrag wird Rous­seau später behaupten, dass Bürger in einer legitimen Republik zu sein eine notwendige Bedingung für das Vermeidung von Herrschaft ist, wobei frei von Herrschaft zu sein nicht darin besteht, diesen rechtlichen Status zu haben. Frei von Herrschaft ist man nur, wenn man seinen täglichen Geschäften nachgehen kann, ohne dabei tatsächlich regelmäßig und einseitig einem fremden Willen gehorchen zu müssen, ungeachtet der juristischen Rechte, die man einfordern kann. Umgekehrt erfordert beherrscht zu werden keinen offiziell anerkannten Status – etwa den eines Sklaven oder Leibeigenen –, der die eigene Stellung als ein Beherrschter gesetzlich kodifiziert oder festhält. Wie der Zweite Diskurs uns erkennen lässt, ist die reale Herrschaft vor allem in modernen Gesellschaften zum allergrößten Teil nicht mit einem rechtlichen Status verbunden, was sie deshalb aber nicht weniger real macht. Schlussendlich  – und für Rous­seaus Kritik der sozialen Ungleichheit entscheidend – ist Herrschaft etwas anderes als Zwang und das in zwei Hinsichten. Erstens kann Zwang in einem einzelnen Akt des Gehorsams gegenüber anderen bestehen, während 158 | Kapitel 3 

Herrschaft, wie wir sahen, eine dauerhafte Bedingung ist, das regelmäßige Gehorchen gegenüber einem fremden Willen. Zweitens, und das ist noch wichtiger, wird mein tatsächlicher Gehorsam gegenüber einem anderen nach Rous­seaus Ansicht nicht durch körperliche Gewalt oder die Androhung von Strafen erzwungen. Ausschlaggebend dafür ist vielmehr, wie wir im 4. Kapitel sehen werden, dass ich auf die Zusammenarbeit von jemandem angewiesen bin, dessen Lage vorteilhafter als die meine ist. Wenn ich für die Befriedigung meiner Bedürfnisse von anderen abhängig bin, dann genügt schon die Aussicht, dass sie nichts tun – dass sie eine Zusammenarbeit ablehnen, weil sie meiner Hilfe weniger dringend bedürfen, als ich der ihren bedarf –, um mich zu veranlassen, ihren Befehlen zu gehorchen oder auf ihre Wünsche einzugehen. Das lässt darauf schließen, dass Rous­seau im Zweiten Diskurs vor allem an einem Typ von Herrschaft interessiert ist, der in einem stärkeren Sinn Gehorsam gegenüber einem fremden Willen beinhaltet, als es der Zwang zum Gehorsam durch körperliche Gewalt oder die unverhohlene Androhung von Strafe tut.123 Dieser Typ von Herrschaft schließt in gewissem Sinne ein, dass man einem anderen willentlich gehorcht – es gibt keinen Zwang oder Drohungen –, und das bedeutet, die tatsächliche, ausdrückliche Zustimmung ist kein Zeichen für das Fehlen von Herrschaft ; ein Punkt, den Rous­seaus Betrachtung zum scheinbaren Gesellschaftsvertrag im zweiten Teil des Zweiten Diskurses, dort, wo die Habenichtse den Bedingungen ihres eigenen Beherrschtwerdens zustimmen, sehr schön herausarbeitet. Obwohl es manchmal dadurch schwierig ist, genau zu bestimmen, wo die freie Zusammenarbeit endet und die Herrschaft beginnt – und der Zweite Diskurs liefert keine klare Antwort auf diese Frage –, steht es außer Zweifel, dass es Herrschaft gibt und sie in unseren Gesellschaften weitverbreitet ist. So verweist etwa Adam Smith in The Wealth of Nations auf genau dieses Phänomen, wenn er bemerkt, dass Arbeiter, weil sie dringender darauf angewiesen sind, zu essen, als ihre Arbeitgeber, Gewinne zu machen, bei Lohnauseinandersetzungen im Kapitalismus fast immer auf der Verliererseite stehen.124 Auch wenn die Beziehungen zwischen Arbeitern und ihren Arbeitgebern – oder, vielsagender, ihren »Bossen« – durch einen Vertrag vermittelt sind und auf »freier« Zustimmung gründen, endet die Geschichte für die Arbeiter (da  sie im Die normativen Mittel der Natur  | 159

Verhältnis zu denjenigen, von denen sie abhängen, in der schlechteren Posi­tion sind) typischerweise damit, dass sie unter Bedingungen arbeiten, die ihnen von ihren Arbeitgebern diktiert worden sind : ein erstklassiges Beispiel für den Gehorsam gegenüber einem fremden Willen. Wohlergehen als Fehlen von Schmerz, enttäuschten Wünschen und unbefriedigten Bedürfnissen

Wir wollen nun in größerer Kürze einen zweiten Bestandteil der Natur des Menschen betrachten, der in Rous­seaus Bild der wahren Natur des Menschen einen hervorstechenden Platz einnimmt : Ich werde ihn als Wohlergehen bezeichnen. Obwohl Rous­seau das Wort bien-être ein paar Mal im Zweiten Diskurs verwendet (DU, 73, 171 / OC III, 126, 154), lässt sich nicht ohne weiteres sagen, ob es eine spezifische Bedeutung haben soll oder, wenn dem so ist, was zu dem Begriff gehören würde. Meine Darstellung des Wohlergehens ist ein Versuch, Rous­seaus Bezugnahmen darauf  – wie auch auf Glück, Wünsche, Bedürfnisse, Gesundheit und ein »ruhiges Herz« (DU, 165 / OC III, 152) – in eine kohärentere Form zu bringen, als sie diese in der Schrift zu haben scheinen. Vermutlich ist es bezeichnend, dass die erste von Rous­seaus Bezugnahmen auf bien-être in seiner ersten Bestimmung der Ziele des amour de soimême vorkommt, die er näher als »unser Wohlbefinden und unsere Erhaltung« (DU, 73 / OC III, 126) kennzeichnet. Damit bestätigt sich meine These von oben, dass Rous­seau zwischen Selbsterhaltung und Wohlergehen unterscheidet, und es stellt sich die Frage, welche Güter unter die letzte Kategorie fallen. Zwei bereits zitierte Abschnitte machen deutlich, dass auf jeden Fall Gesundheit, Glück und Ruhe des Herzens dazugehören (DU, 165, 213 / OC III, 152, 171). (Wie viel Platz Rous­seau im Zweiten Diskurs Erörterungen über die Gesundheit noch unzivilisierter Geschöpfe einräumt und wie sehr er gegen Merkmale des modernen Lebens, darunter das Treiben der Ärzte, die sie angeblich ruiniert haben, zu Felde zieht, ist zum einen amüsant und sagt zum anderen einiges über seine persönlichen Manien aus.) Der Umstand, dass Rous­seau im Zusammenhang mit dem Wohlergehen nicht nur den amour de soi-même, 160 | Kapitel 3 

sondern auch das Mitleid erwähnt, legt zudem nahe, dass auch das Objekt dieses Gefühls – Freiheit von Schmerz und Leiden – Teil des menschlichen Wohlergehens ist. Obgleich das Wohlgehen Güter umfasst, die uns recht heterogen erscheinen mögen, ist es sinnvoll, sie in eine Rubrik einzuordnen, weil sie Güter für uns insofern sind, als wir materielle – oder, wie Rous­seau sagt, eher fühlende als rationale – Geschöpfe sind, die Wünschen, Bedürfnissen, Lust und Schmerz unterworfen sind, und auch weil diese Güter (wie die Selbsterhaltung) sich der Art nach vom oben erörterten höchsten und spezifisch menschlichen Gut unterscheiden : der Freiheit. Eine Möglichkeit, diesen Unterschied, wie Rous­seau ihn sieht, auf den Punkt zu bringen, ist vielleicht folgende : Während rein natürliche Geschöpfe bedürftig, begehrlich und schmerzanfällig sind – und daher glücklich oder gut gestellt sein können –, lässt sich nur von Geschöpfen, die einen Willen haben, sagen, sie seien frei oder unfrei. Und wie der Zweite Diskurs schon sehr früh deutlich macht, heißt einen Willen haben außerhalb des Reichs der mechanisch determinierten Natur zu stehen : Freiheit ist für Menschen nur wegen ihrer »metaphysischen und moralischen Seite ein Gut (DU, 105 / OC III, 141).125 Worauf ich oben schon hingewiesen habe : Wohlergehen wird, wie es im ersten Teil des Zweiten Diskurses auftritt, größtenteils negativ aufgefasst, nämlich als Fehlen von Schmerz, enttäuschten Wünschen und unerfüllten Bedürfnissen. Es wäre freilich genauer zu sagen, das Wohlergehen umfasst zwei unterscheidbare Güter : Glück und die Befriedigung von Bedürfnissen. Ein Grund, die beiden voneinander zu unterscheiden, ist der, dass Glück negativ definiert ist – als Fehlen von Schmerz und enttäuschten Wünschen126 –, während das nicht auf die Bedürfnisbefriedigung zutrifft, denn Rous­seau gibt eine bestimmte, sehr kleine Anzahl von Bedürfnissen an, die befriedigt werden müssen, wenn man von Menschen sagen können soll, sie befänden sich wohl. Ein weiterer Unterschied besteht, wie ich unten erkläre, darin, dass Glück als etwas Subjektives definiert ist, während die Bedürfnisse in diesem Kontext im Gegensatz zu Bedürfnissen, die bloß als solche betrachtet werden,127 immer »wahre« (echte) Bedürfnisse (DU, 73, 185 / OC III, 126, 160) sind.128 Erst mit der Entwicklung der Vorstellungskraft und des amour propre wird es möglich, dass Menschen eingebilDie normativen Mittel der Natur  | 161

dete Bedürfnisse haben. Für das Wohlergehen der Bewohner des ursprünglichen Naturzustands ist natürlich vor allem der Umstand verantwortlich, dass deren Bedürfnisse und Wünsche äußerst bescheiden sind und sich mehr oder weniger auf das beschränken, was sie brauchen, um als biologische Organismen in guter Gesundheit weiterzuleben. Die Wünsche und Bedürfnisse dieses hypo­ thetischen Geschöpfs fallen weitgehend vollständig mit seinen biologischen zusammen oder, wie Rous­seau es formuliert : »Seine Wünsche gehen nicht über seine physischen Bedürfnisse hinaus« (DU, 135 / OC III, 143). Nahrung, Sex und Schlaf sind, wie Rous­seau gleich im Anschluss aufzählt, alles, was sie brauchen. Darüber hinaus bedarf es zum Glück dieser schlichten Geschöpfe, dass sie keine Schmerzen haben, und auf dieser Grundlage könnte man sagen, sie haben einen ihnen von der Natur aufgenötigten Wunsch, der streng genommen (wenngleich nur knapp) über ihre Selbsterhaltungsbedürfnisse hinausgeht : den Wunsch, Schmerz in jeder Form zu vermeiden.129 Jedenfalls weicht das Wohlergehen dieser Geschöpfe kaum von dem anderer Lebewesen ab : gute Gesundheit, Schmerzlosigkeit, reichlich Nahrung, Sex und Schlaf. Mit ihrem Streben nach diesen Gütern und der Erfahrung von Frustration oder »Unglücklichsein«, wenn es ihnen nicht gelingt, sich diese Güter zu sichern, unterscheiden sich menschliche Lebewesen kaum von ihren nicht-menschlichen Gegenstücken. Es mag zwar schwierig sein, zwischen den Bedürfnissen und den bloßen Wünschen der Geschöpfe im ursprünglichen Naturzustand zu unterscheiden, aber dennoch ist es wichtig, sie bereits hier begrifflich auseinanderzuhalten. Denn sobald wir es mit vergesellschafteten, nicht bloß hypothetischen Menschen zu tun haben – die sich durch Vorstellungskraft, amour propre und andere nicht-animalische Sehnsüchte auszeichnen –, kommt es schnell dazu, dass die Wünsche sich von den Bedürfnissen ablösen und über sie hinausgehen. Das Wohlergehen dieser komplexeren Menschen kann in beiden Domänen bedroht sein, das heißt, wenn entweder ihre Wünsche – gleichgültig wie weit sie sich von denen im ursprünglichen Naturzustand entfernt haben – regelmäßig enttäuscht werden oder ihre Bedürfnisse regelmäßig unbefriedigt bleiben. Bei vergesellschafteten Geschöpfen ist es darüber hinaus möglich, dass ihre Bedürfnisse in dem zusätzlichen Sinn über ihre Wünsche hi162 | Kapitel 3 

nausgehen, dass bei solchen Geschöpfen die wahren Bedürfnisse manchmal nicht die ihnen entsprechenden Wünsche erzeugen : Vergesellschaftete Menschen sind imstande, sich so sehr von der Jagd nach Reichtum, Macht oder Ansehen absorbieren zu lassen, dass sie »vergessen« zu essen oder zu schlafen. Das ist bloß eine der »Errungenschaften« der Zivilisation, die Rous­seau uns genüsslich vor Augen hält. Ein wichtiger Unterschied liegt darin, wie Rous­seau Wünsche im Gegensatz zu Bedürfnissen abhandelt. Während er zu glauben scheint, man könne eine beschränkte Menge wahrer Bedürfnisse angeben, deren Befriedigung für das Wohlergehen wesentlich ist, schickt er sich nicht an, dasselbe für Wünsche zu tun. Man könnte den Punkt auch so formulieren : Obwohl seine Vorstellung von den Bedürfnissen, die wir um unseres Wohlergehens willen zu befriedigen in der Lage sein müssen, einen, wenngleich bescheidenen, Inhalt hat, bleibt seine im Zweiten Diskurs auftauchende Auffassung von Glück sowohl formal als auch subjektiv. Formal, insofern Glück schlicht als Entsprechung zweier Variablen betrachtet wird, als ein »Gleichgewicht« von »Kraft und Wunsch«, in dem die eigenen Wünschen mit der realen Fähigkeit übereinstimmen, sie zu befriedigen, und folgerichtig definiert er Unglück als »Übergewicht der Wünsche über die Fähigkeiten« (E, 188 / OC IV, 304). Glück besteht somit einfach darin, keine ständige Enttäuschung der Wünsche zu erfahren, die man tatsächlich hat, und dazu gehört auch der Wunsch, frei von Schmerzen zu sein und seine grundlegenden Bedürfnisse erfüllt zu sehen. Subjektiv ist diese Definition von Glück insofern, als Glück darauf beruht, die empfundenen, erlebten Wünsche, die man tatsächlich hat, zu befriedigen und nicht die Wünsche, die man nach irgendeiner Idealvorstellung vom Menschen haben sollte. Ein ruhiges Herz haben läuft dann mehr oder weniger auf dasselbe hinaus wie glücklich sein. Beides besteht in der Ruhe des Herzens, die man findet, wenn man vom Schmerz der Entbehrung verschont bleibt, von der jeder unbefriedigte Wunsch begleitet wird (E, 188 / OC IV, 304). Allerdings ist das ein vertrackter Punkt, der sorgfältig betrachtet werden will. Ich behaupte nicht, aus Rous­seaus Schriften lasse sich keine gehaltvollere Auffassung dessen ausmachen, worin das wahre Glück des Menschen besteht oder welche Sorten von Wünschen Die normativen Mittel der Natur  | 163

Menschen pflegen und welche sie zu ihrem eigenen Besten meiden sollten.130 Ich möchte damit lediglich sagen, dass die Argumenta­ tion im Zweiten Diskurs, insbesondere seine Kritik der Ungleichheit, sofern sie den Begriff des Glücks anführt, sich nur auf den hier von mir explizierten formalen und subjektiven Begriff stützt. Wenn Rous­seau später im Zweiten Diskurs auf das Elend oder das Unglück der zivilisierten Menschen hinweist, meint er in erster Linie, sie entdeckten wiederholt, dass ihre tatsächlichen Wünsche unbefriedigt bleiben : Sie erlebten, bezogen auf das, was sie wünschen, regelmäßig Enttäuschung. Selbst wenn viele ihrer Wünsche von der Art sind, dass es letztlich für sie besser ist, sie nicht zu haben, ist ihre ständige Enttäuschung – ihr Unglücklichsein – ein Übel. Mag er auch formal und subjektiv sein, dieser einfache Begriff von Glück lässt sich dennoch dazu verwenden, die Wünsche eines Individuums zu kritisieren, wenn sich nämlich zeigen lässt, dass diese Wünsche, nimmt man sie zusammen, prinzipiell unerfüllbar sind, denn so würde bewiesen, dass für dieses Individuum in Anbetracht seiner gegenwärtigen Wünsche Glück nicht zufällig unerreichbar bleibt. Und eben dieser Begriff von Glück kann zu einem Werkzeug der Sozialkritik, des eigentlichen Anliegens des Zweiten Diskurses, werden, wenn sich zeigen lässt, dass die Gesellschaft Wünsche in ihren Mitgliedern erweckt, die kollektiv nicht zu befriedigen sind. Die Grundidee hinter dieser Strategie der Kritik sollte uns schon aus dem zweiten Kapitel vertraut sein, wo ich vorgebracht habe, dass soziale Übel aufzutreten drohen, wenn das Interesse des amour propre an einer relativen Stellung sich bei Individuen mehrheitlich als der Wunsch nach einer überlegenen Stellung äußert, denn dann wird, wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, die soziale Wertschätzung unter solchen Umständen zu einem knappen Gut, das nicht gleichzeitig von allen erlangt werden kann, was wiederum zu ständigen Konflikten, »Mithalten mit den Müllers« und anderen sozialen Phänomenen führt, die Glück für alle prinzipiell unerreichbar machen. Rous­seaus Auffassung vom wahren Glück des Menschen und davon, welche Wünsche Menschen tunlichst haben sollten, ist tatsächlich durch das Nachdenken darüber zustande gekommen, welche Wünsche diesem formalen Kriterium der kollektiven Erfüllbarkeit gerecht werden ; eine der wichtigsten, wenngleich impliziten Thesen des Zweiten Diskurses lautet, Äuße164 | Kapitel 3 

rungen des amour propre, die nicht für alle befriedigt werden können, müssten als »entfacht« gelten – ein Ausdruck den ich im 4. Kapitel erkläre – und folglich als Hindernisse für das wahre Glück des Menschen. Die wahre Natur des Menschen im erweiterten Sinn

Bislang habe ich Rous­seaus Bild von der wahren Natur des Menschen nur insoweit betrachtet, als sie im ersten Teil des Zweiten Diskurses auftritt. Dieses Bild kommt für den größten Teil der normativen Auffassung von der Natur des Menschen auf, die seiner Kritik an der Ungleichheit und an anderen Übeln der Zivilisation zugrunde liegt. Gleichwohl gibt es zwei zusätzliche Bestandteile seiner normativen Auffassung von der Natur des Menschen – zwei weitere für den Menschen wesentliche Güter – die in diesem Zusammenhang genannt werden müssen. Von beiden muss man sagen, dass sie aus dem Grund zu seinem Bild von der wahren Natur des Menschen im erweiterten Sinn gehören, als dass keines der beiden eine mögliche Leistung für die ungeselligen, isolierten Geschöpfe sein kann, die den hypothetischen ursprünglichen Naturzustand bevölkern, wie er im ersten Teil geschildert wird. Dennoch, so werde ich behaupten, möchte Rous­seau diese beiden Güter zu denen rechnen, die reale Menschen erlangen müssen, um ihre wahre Natur zu verwirklichen. Tatsächlich ist seine Darlegung der wahren Natur des Menschen im erweiterten Sinn ein Bild der wesent­lichen Güter, die dem vergesellschafteten Menschen zugänglich sind. Da Menschen nun niemals wirklich in dem isolierten, ungeselligen Zustand leben, wie er im ersten Teil hypothetisch angenommen wird, ist seine Auffassung von der wahren Natur des Menschen im erweiterten Sinn keine Alternative zu der weniger ausgreifenden Auffassung, sondern eine vollständigere Bestimmung dessen, worin für reale, vergesellschaftete Menschen das wahre Gute liegt. Die Belege für meine These, so viel sei eingeräumt, Rous­seau arbeite im Zweiten Diskurs mit einer Auffassung der wahren Natur des Menschen im erweiterten Sinn, sind rar und weitgehend implizit. In anderen Schriften jedoch, vor allem im Gesellschaftsvertrag und im Emile, ist es deutlich, dass er sich auf eine solche erweiterte AufDie normativen Mittel der Natur  | 165

fassung stützt. Kehrt man zum Zweiten Diskurs zurück, nachdem man diese Entdeckung gemacht hat, sieht man leichter, dass auch seine frühere Schrift Spuren dieser Auffassung aufweist ; und was noch wichtiger ist, eine überzeugende Interpreta­tion des Zweiten Diskurses bedarf solch einer Auffassung, da mindestens einer ihrer Bestandteile – die Befriedigung des amour propre – eine wiederum implizite Rolle in seiner Kritik an der Ungleichheit und der modernen Gesellschaft im Allgemeineren spielt. Bei den beiden wesentlichen Gütern, um die es hier geht, handelt es sich um die soziale Anerkennung, die vom amour propre angestrebte Wertschätzung oder Achtung und die umfassende Entwicklung der latenten Vermögen des Menschen.131 Da diese nur eine kurze Erklärung verlangt, beginne ich mit ihr. Dass die umfassende Entwicklung der menschlichen Vermögen ein Leitideal im Emile ist, steht außer Zweifel ; ganz besonders sticht das in der frühen Erörterung des Glücks hervor, auf die ich mich teilweise oben bezogen habe. Rous­seau betrachtet dort zwei Möglichkeiten, um das Gleichgewicht zwischen Wünschen und Kräften herzustellen, durch das Glück definiert ist. Emiles Glück ließe sich zum einen dadurch erreichen, dass er seine Wünsche weitgehend herunterschraubt. Das ist der einfache Weg, ihn glücklich zu machen, denn dazu braucht er wenig Geschick oder Anstrengung. Zum andern könnte man die Entwicklung seiner Fähigkeiten fördern und dann dafür sorgen, dass seine Wünsche nie seine Kräfte übersteigen. Das ist zwar die schwierigere Alternative, aber eindeutig die von Rous­seau befürwortete, und das aus dem ausdrücklich formulierten Grund, dass den ersten Kurs einzuschlagen bedeuten würde, dass »ein Teil unserer Fähigkeiten ungenutzt [bliebe] und wir nicht zum vollen Genuß unseres Daseins [gelangten«] (E,  187 / OC IV, 304). Mit anderen Worten : Emiles Glück darf nicht zu dem Preis erkauft werden, seine Vermögen unentwickelt zu lassen, und diese Einschränkung beweist, dass zumindest in dieser Schrift zur normativen Auffassung von der Natur – dem Leitprinzip von ­Emiles Erziehung – Ideale gehören, die über jene hinausgehen, die im ursprünglichen Naturzustand des Zweiten Diskurses verwirklicht sind. Dieses Ideal mag zwar im Zweiten Diskurs weniger ins Auge fallen, dennoch ist es zweifellos darin enthalten, auch wenn es sich größtenteils in Rous­seaus Anmerkungen zum Text verbirgt. Am 166 | Kapitel 3 

nachdrücklichsten tritt dies in einem Abschnitt zutage, in dem Rous­seau fragt, ob die vielen von ihm gerade beschriebenen Übel der Zivilisation so aufzufassen seien, dass wir die Gesellschaft verlassen und »zu einem Leben mit den Bären im Walde zurückkehren« sollten. Seine oft nicht beachtete Antwort auf diese rhetorische Frage ist ein unzweideutiges Nein, und der von ihm angeführte Grund – er nimmt den später im Emile vorgetragenen Punkt vorweg  – ist der, dass wir unsere »Gattung erniedrigen«, wenn wir die unschuldige Ruhe der noch so stürmischen und unglücklichen Entwicklung der natürlichen, aber latenten Vermögen der Gattung vorzögen (DU, 127 / OC III, 207).132 Mit seiner Ablehnung der Rückkehr zu einem Leben in den Wäldern macht Rous­seau deutlich, dass es nicht nur unmöglich ist, in einen weniger entwickelten Zustand zurückzukehren, es ist auch nicht wünschenswert. Wie ich hier jedoch argumentiert habe, stützt sich die Zurückweisung dieser Alternative ganz klar auf andere normative Kriterien als die, die aus dem ursprünglichen Naturzustand folgen : Freiheit, Selbsterhaltung und Wohlergehen unter Bedingungen zu erlangen, die sich dem ursprünglichen Naturzustand annähern, würde die Gattung erniedrigen, weil eine Reihe von Gütern darin keinen Platz fände – die Entwicklung unserer Fähigkeiten, aber auch die verschiedenen Formen der Befriedigung von Achtung und Wertschätzung –, die das menschliche Dasein bereichern und es über das der Tiere erheben. Obgleich das Ideal der menschlichen Entwicklung im Zweiten Diskurs deutlich vorliegt, spielt es nur eine geringe oder gar keine Rolle für die kritische Haltung der Schrift zur Ungleichheit in der modernen Gesellschaft. Wie Marx noch deutlicher ein Jahrhundert später feststellen sollte, wird man der modernen Gesellschaft, zumindest in den Frühphasen des Kapitalismus, nicht den Vorwurf machen können, sie würde die produktiven Fähigkeiten des Menschen nicht entwickeln – auch wenn die einseitige, verkrüppelnde Entwicklung der Fähigkeiten von Arbeitern schon bald für Denker nach Rous­seau ein Gegenstand der Kritik werden sollte. Über die soziale Anerkennung, den vom amour propre verfolgten Zweck, lässt sich jedoch nicht dasselbe sagen, obgleich auch ihr Rang als ein wesentliches Gut des Menschen im Zweiten Diskurs alles andere als offensichtlich ist. Im zweiten Kapitel habe ich erwähnt, dass der Die normativen Mittel der Natur  | 167

amour propre für Rous­seau eine zutiefst zwiespältige Leidenschaft ist, die Quelle dessen, »was es an Besserem und Schlechterem bei den Menschen gibt« (DU, 257 / OC III, 189), und auch für die Gattenliebe, »die zartesten Gefühle, die man unter Menschen kennt« (DU, 201 / OC III, 168), ist er unverzichtbar. Doch selbst diese Aussagen bleiben hinter der These zurück, dass Wertschätzung oder Achtung seitens anderer für den Menschen ein wesentliches Gut ist – ein integraler Bestandteil der wahren Natur des Menschen – und dass das systematische Unvermögen der Individuen, ihren amour propre zu befriedigen, im Zweiten Diskurs die Rous­seau’sche Kritik an der modernen Gesellschaft mitbestimmt. Unter den Lesern von Rous­seau hält sich hartnäckig und weitverbreitet die Überzeugung, dass die Wünsche, die dem amour propre entspringen, sowie die von ihnen erzeugte Abhängigkeit zwar in seinem diagnostischen Anliegen – in der Erklärung, woher die Übel der Gesellschaft stammen – eine entscheidende Rolle spielen, ihnen aber keine positive Funk­tion in seinen Vorstellungen von der guten Gesellschaft oder der idealen Entwicklung des Menschen zukommen. Nach dieser Interpreta­tion bestreitet Rous­seau, dass der amour propre die Quelle wahrer Bedürfnisse sein kann. Er würde vielmehr nur eingebildete Bedürfnisse erzeugen, ohne die Menschen besser dastünden und die in der idealen Gesellschaft oder den sie bevölkernden Persönlichkeiten keinen Platz haben. Obwohl der Emile diese einseitige Ansicht vom Potential des amour propre recht deutlich verwirft,133 ist sein im Zweiten Diskurs präsentiertes Bild tatsächlich überwiegend negativ, und das hat zusammen mit dem Umstand, dass der amour propre im Gesellschaftsvertrag keine Erwähnung findet, zweifellos mit dazu beigetragen, dass viele Leser sich an diese einseitige Ansicht klammern. Da ich an anderer Stelle ausführlich gezeigt habe, dass dies eine schwerwiegende Fehldeutung Rous­seaus ist,134 werde ich hier zur Unterstützung meiner These, die richtig verstandene soziale Anerkennung stelle für ihn ein wesentliches Gut des Menschen dar, nur kurz drei Punkte betrachten. Der erste Punkt ist psychologischer Natur : Der amour propre ist ein grundlegender Antrieb des Menschen, der sich immer dann äußern muss, wenn Menschen, wie sie es immer tun, innerhalb der Gesellschaft leben und aufwachsen. Anders gesagt spielt der amour 168 | Kapitel 3 

propre eine grundlegende Rolle in Rous­seaus Darlegung der Quellen menschlicher Motivation : Im vergesellschafteten Menschen ist er mindestens eine ebenso starke Kraft wie der amour de soi-même und sehr viel mächtiger als das Mitleid. Rous­seaus Darstellung der menschlichen Psyche zufolge ist es deshalb, selbst wenn es wünschenswert wäre, unmöglich, den Menschen von der Leidenschaft, geachtet zu werden, zu befreien, es sei denn man täte der Natur des Menschen im erweiterten Sinn Gewalt an. Das bedeutet, dass eine Gesellschaftstheorie, die eine Auslöschung des amour propre forderte oder der keine Mittel zur Verfügung stünden, seinen Forderungen Rechnung zu tragen, als utopisch verworfen werden sollte und dass jeder Versuch, ihn aus der Persönlichkeit der Menschen zu entfernen, dazu verurteilt ist, vergeblich und repressiv zu sein.135 Mit welchen sozialen Institutionen sie sich auch immer umgeben, Menschen können gar nicht anders, als ihr Verlangen nach Achtung seitens anderer für ein äußerst dringendes Bedürfnis zu ­halten. Der zweite Punkt geht über die bloße Tatsache, dass der amour propre einen zentralen Stellenwert in der menschlichen Psyche einnimmt, hinaus und formuliert eine positiv normative These über das Objekt seiner Bestrebungen. Dass ein weiterer Schritt dieser Art notwendig ist, geht aus der folgenden Überlegung hervor : Selbst wenn Rous­seaus psychologische Theorie überzeugend darlegte, dass Menschen generell nach öffentlicher Wertschätzung verlangen, wäre damit nicht gezeigt, dass wir in der Anerkennung ein wesentliches Gut des Menschen sehen sollten. Wenn uns beispielsweise vorgeführt würde, dass der Wunsch, sich anderen gegenüber grausam zu verhalten, in der menschlichen Psyche fest verwurzelt ist, würden wir uns dennoch fragen wollen, ob es für Menschen gut ist, nach einem allgemein geteilten Wunsch dieser Art zu handeln. Will die soziale Anerkennung als ein Gut gelten, muss sie zunächst das Kriterium erfüllen, dass es sich dabei um ein Ziel handelt, das zu übernehmen und zu verfolgen den Menschen zulässig ist. Die Klärung dieses Pro­blems läuft für Rous­seau auf die Frage hinaus, ob solch ein Ziel im Prinzip für alle Menschen gleichzeitig erreichbar ist, ohne dass dabei jemandes grundlegende Interessen verletzt werden. Anders gesagt, was auch immer unsere psychische Verfassung uns zu suchen verleitet, als ein Gut kann es nur dann gelten, Die normativen Mittel der Natur  | 169

wenn es für alle möglich ist, es zugleich zu erlangen, und wenn es mit dem Schutz des Lebens, der Freiheit und des basalen Wohlergehens aller vereinbar ist.136 Obgleich Rous­seau nie das Wort von der Zulässigkeit in den Mund nimmt, ist die von mir hier artikulierte Einschränkung in der normativen Richtschnur enthalten, auf die er sich in seiner positiven Darlegung einer legitimen politischen Theorie beruft, das heißt im Gesellschaftsvertrag ; vor allem aber kann eine plausible Rekonstruktion der Kritik an der sozialen Ungleichheit, wie sie im Zweiten Diskurs vorliegt, nicht ohne diesen Gedanken auskommen. Wenn es darum geht zu beurteilen, ob das vom amour propre Erstrebte gut ist, ganz ungeachtet dessen, wie dringlich es gewünscht wird oder wie tief der Wunsch danach in der Natur des Menschen verwurzelt ist, so folgt aus dem Gesagten, dass Anerkennung nicht als ein Gut des Menschen gelten kann, es sei denn, die gerade umrissenen Bedingungen der Zulässigkeit sind erfüllt. Während der zweite Diskurs seinen diagnostischen Blick auf die beträchtlichen Hindernisse lenkt, die der amour propre der Freiheit und dem Wohlergehen in den Weg legt, ist es eine Hauptaufgabe seines Gesellschaftsdenkens im Allgemeineren, den Nachweis zu führen, dass diese Hindernisse dem Streben des amour propre nicht per se innewohnen, sondern zufälligen und veränderlichen Merkmalen der Bedingungen geschuldet sind, unter deren Zwängen die Individuen dieses Streben zu befriedigen suchen, und das sind in erster Linie die schlechte Ordnung der sozialen Institutionen und die falsche häusliche Erziehung. Im Gesellschaftsvertrag und im Emile arbeitet er seine Antworten auf diese unseligen Bedingungen aus, und gemeinsam führen die beiden Schriften vor, dass der allgemeine Wunsch nach Wertschätzung und Achtung sowohl für alle erfüllbar als auch mit der Freiheit und dem basalen Wohl­ befinden aller vereinbar ist. Rous­seaus Vorgehen bei der Erfüllung dieser Aufgabe stützt sich vor allem auf die im zweiten Kapitel erwähnte Einsicht, dass der amour propre eine äußerst formbare Leidenschaft ist, die in einer nahezu unbeschränkten Vielfalt von konkreten Formen Befriedigung suchen kann. Ein Fehler, auf den man oft beim Nachdenken über die sozialen Folgen des Wunsches nach öffentlicher Wertschätzung stößt, besteht für Rous­seau darin, dass der Zweck des amour propre zu eng definiert wird, und zwar 170 | Kapitel 3 

ausschließlich als die Durchsetzung einer überlegenen Stellung im Verhältnis zu anderen, womit zugleich gewährleistet ist, dass keine systematische Befriedigung der Leidenschaft möglich ist. Rous­ seau unterscheidet demgegenüber zwischen dem generischen, allen Menschen gemeinsamen Wunsch, von anderen wertgeschätzt oder geachtet zu werden, und den spezifischen Formen, die dieser generische Wunsch in konkreten sozialen Umständen annimmt. (Die ihrerseits zufällig und veränderbar sind.)137 Auf diese Weise vermag er die schädlichen Formen des amour propre, die uns nur allzu vertraut sind, von den gutartigen und gesunden zu unterscheiden, in die er unter günstigen Umständen ebenso gut schlüpfen kann. Rous­seaus Position zu den Arten des Strebens nach einer anerkannten Stellung, die als zulässige in Frage kommen, ist erstaunlich vielschichtig.138 Sie behauptet beispielsweise, dass gewisse Formen des Strebens nach einer überlegenen Stellung zulässig und in einigen Fällen für Menschen sogar unumgänglich sind. Dazu gehört der Wunsch, von einem bestimmten Individuum – etwa von der Geliebten – mehr als jeder andere geliebt zu werden, aber auch der verbreitete Wunsch, wegen seiner herausragenden Leistung wertgeschätzt zu werden, das heißt als jemand, der auf einem bestimmten Feld besser als die meisten oder auch gar als alle anderen ist (E, 689 / OC III, 670).139 Obgleich bestimmte eingeschränkte Formen des Strebens, als der Beste betrachtet zu werden, für Rous­seau zulässig sind, besteht die wichtigste Form der Anerkennung, die Menschen sich zu wünschen lernen müssen, in der gleichen Achtung – das heißt, in der Anerkennung seines Rangs als ein Mensch, der im Wesentlichen wie alle anderen ist. Da das hier Erstrebte die gleiche Achtung ist, gibt es keinen Grund, warum nicht alle in deren Genuss kommen sollten, und darum erzeugt es auch nicht die im Zweiten Diskurs geschilderte zerstörerische Dynamik, die meistens aus dem Wunsch nach einer überlegenen Stellung folgt. Wie Leser des Gesellschaftsvertrags wissen, nimmt die gleiche Achtung in der legitimen Republik vielfältige Formen an, darunter : die Gleichheit vor dem Gesetz ; die Wahrung des gleichen Rechts auf negative Freiheit für alle ; das gleiche Recht auf politische Mitsprache und – für jede legitime Gesetzgebung die wichtigste Bedingung – die Garantie, dass die grundlegenden Interessen jedes einzelnen bei der Festlegung der Gesetze genauso viel zählen wie die aller anderen. Die normativen Mittel der Natur  | 171

Der Gedanke hier ist der, dass durch die öffentliche Übereinkunft, alle sollten in diesen Hinsichten die gleiche Achtung genießen, die Bürger des legitimen Staates ihr generisches Bedürfnis, »für andere zu zählen«, auf eine Weise befriedigt finden, die nicht nur mit der Freiheit und dem Wohlbefinden aller vereinbar ist, sondern diese Zwecke auch positiv fördert. Darüber hinaus werden die Bürger den Drang, ihren amour propre zu befriedigen, auf eine weniger zerstörerische Weise ausleben, wenn er zu einem beträchtlichen Teil durch die gleiche Achtung bereits gestillt ist. Diese beiden Punkte erschöpfen freilich nicht Rous­seaus Ansicht darüber, warum die Befriedigung des amour propre ein wesentliches Gut der Menschen ist. Zwar zeigen sie, dass der Wunsch nach Wertschätzung tief in den Menschen verwurzelt ist und allgemein geteilt wird und dass es, mit den nötigen Einschränkungen versehen, zulässig ist, ihn befriedigen zu wollen, aber sie begründen nicht, dass Anerkennung für die Menschen ein wesentliches Gut ist, dessen Realisierung für eine Sozialphilosophie von herausragender Bedeutung sein sollte. Obgleich diese Seite der Rous­ seau’schen Ansicht weniger ausdrücklich formuliert ist, als man sich wünschen würde, finden sich in allen seinen Schriften, einschließlich des Zweiten Diskurses, verstreute Hinweise darauf. Ein Grund, warum Rous­seau das Objekt des amour propre für ein wesentliches Gut des Menschen hält, ist der, dass Wertschätzung den Kern einer Reihe von Gütern bildet, die an sich wertvoll sind und für vieles aufkommen, was dem Leben der Menschen einen Sinn verleiht : Liebe, Freundschaft und viele andere Formen der Bestätigung durch andere. Obschon er die Gekünsteltheit der romantischen Liebe und den Schwarm von Pro­blemen sieht, die sie in die menschlichen Angelegenheiten hineinträgt – eben weil sie vom amour propre untrennbar ist140 –, hält Rous­seau sie, wie wir gesehen haben, für das »zarteste« der menschlichen Gefühle und für einen der Hauptvorzüge, durch die sich das Goldene Zeitalter gegenüber dem ursprünglichen Naturzustand auszeichnet (DU, 127, 209 – 213 / OC III, 168, 171).141 Ein weiterer und wichtigerer Grund dafür, dass Rous­seau die Befriedigung der Anerkennung für ein wesentliches Gut des Menschen hält, deutet sich in verschiedenen Aussagen an, in denen die Befriedigung des amour propre verbunden wird mit der Realisie172 | Kapitel 3 

rung dessen, was er »das Gefühl seiner eigenen Existenz« nennt (DU, 267 / OC III, 193).142 Diese Vorstellung – das Gefühl oder die Empfindung der eigenen Existenz  – weist darauf hin, dass der amour propre nicht bloß auf die Empfindung der Befriedigung abzielt, die mit jedem gestillten Wunsch einhergeht, sondern auf eine Empfindung von Befriedigung, die etwas Substantielleres mit sich bringt : eine Bestätigung des eigenen Seins als eines Ichs, was mehr als nur ein subjektives Gefühl ist und einen zu einer Art öffentliches Objekt macht : zu einem Ich mit einer bestimmten Identität, das durch den zustimmenden Blick der anderen bestätigt wird und eine objektive Existenz erhält.143 Nach der Auffassung des Ichseins, die hier zum Tragen kommt, heißt jemand sein – eben das worauf der amour propre letztlich abzielt – für andere Subjekte, als jemand zu gelten. Für Rous­seau bedeutet das, Menschen konstituieren sich selbst als Ich – erlangen eine reale, öffentlich bestätigte Identität – nur durch Anerkennungsbeziehungen zu anderen. Mehr als jede andere Betrachtung steckt dies hinter Rous­seaus impliziter Ansicht, dass Wertschätzung oder Achtung seitens anderer ein wesentliches Gut für den Menschen ist, ein zentraler Teil dessen, was es heißt, die wahre Natur des Menschen im erweiterten Sinn zu verwirklichen. Die Verbindung von beschreibender und normativer Auffassung der Natur des Menschen

Bisher habe ich den Gegensatz zwischen dem normativen und dem nicht-normativen Sinn der Natur des Menschen betont, denn ohne diese begriffliche Unterscheidung werden Rous­seaus Thesen schnell inkohärent. Diese beiden Aspekte der Auffassung von der Natur des Menschen sind jedoch stärker miteinander verbunden, als ich bislang habe durchblicken lassen. Doch bereits im Vorwort zum Zweiten Diskurs nennt Rous­seau eine solche Verbindung, wenn er nämlich erklärt : »Aber solange wir nicht den Naturmenschen kennen, unternehmen wir ganz vergeblich die Bestimmung des Gesetzes, … das am meisten seiner Beschaffenheit entspricht« (DU, 71 / OC III, 125). Die beiden Bedeutungen der Natur des Menschen werden in dieser Bemerkung deutlich unterschieden : Der Die normativen Mittel der Natur  | 173

»Naturmensch«, den zu kennen wir aufgefordert sind, bezieht sich auf die Natur des Menschen im erklärenden Sinn – auf die basalen Fähigkeiten und Anlagen, die alle Menschen als solche auszeichnen –, und »das am meisten seiner Beschaffenheit entspricht« meint die Natur des Menschen als ein normatives Ideal. Neu ist die These, dass wir, um herauszufinden, was für uns als Menschen das Beste ist, die Anlagen und Fähigkeiten kennen müssen, die uns als Gattung auszeichnen.144 Der Zweite Diskurs übernimmt damit eindeutig eine Version des methodischen Grundsatzes, dass wir die den Menschen angemessene Art der Existenz erkennen, indem wir zunächst betrachten, was unsere Anlagen – die der ursprünglichen Natur des Menschen und dann auch, wie ich behaupten werde, der amour propre, die für vergesellschaftete Geschöpfe charakteristische Anlage – uns zu tun geneigt machen, sieht man von der weitgehend durch erworbene Meinungen und »Vorurteile« hervorgerufenen Verderbtheit ab, die der zweite Teil des Zweiten Diskurses zu beschreiben fortfährt.145 Die prominenteste Anwendung dieses Grundsatzes findet sich im ersten Teil des Zweiten Diskurses, in dem Rous­seau darlegt, was es im ursprünglichen Naturzustand bedeutet, in Übereinstimmung mit der Natur zu leben. Wenn es keine korrumpierenden Meinungen und künstlichen Institutionen gibt, die unsere natürlichen Ziele und Wünsche verzerren, so seine These, dann werden Individuen, die ihren ursprünglichen Anlagen folgen – nämlich Schmerzen zu vermeiden und Lust zu suchen, die eigenen Wünsche zu stillen, statt anderen zu gehorchen – dazu gebracht, ohne bewusste Absicht so zu handeln, dass sie ihre Selbsterhaltung fördern, ihre schlichten Bedürfnisse und Wünsche erfüllen und ihre Freiheit gegen jeden Herrschaftsanspruch seitens anderer behaupten. Daraus soll folgen, dass Selbsterhaltung, Wohlergehen und Freiheit Güter sind, die im Mittelpunkt einer jeden dem Menschen angemessenen Lebensführung stehen, gleichgültig welche Stufe der sozialen Entwicklung erreicht worden ist. Indem er aus seiner Darlegung der ursprünglichen Natur des Menschen normative Maßstäbe ableitet, setzt Rous­seau offensichtlich eine Version der natürlichen Teleologie voraus : Insofern sie Lebewesen mit ursprünglichen Anlagen und Fähigkeiten ausstattet, kann man über die Natur – oder ihren Schöpfer, Gott – sagen, sie gebe ihren Geschöpfen Zwecke vor. 174 | Kapitel 3 

Herausfinden lassen sich diese Zwecke durch die Bestimmung des Verhaltens, das diese Anlagen und Fähigkeiten normalerweise hervorrufen, sofern sie nicht von erworbenen Meinungen und künstlichen sozialen Regelungen entstellt werden, sowie durch die Beobachtung der Funk­tionen, die von diesem Verhalten unabsichtlich erfüllt werden. Schließlich machen diese Zwecke das Wohl dieser Geschöpfe aus, ob sie nun im Naturzustand verharren oder unter künstlichen sozialen Bedingungen leben.146 Es ist daher kein Zufall, dass die Dinge, die unsere ursprünglichen Anlagen uns zu erstreben drängen, ohne dass wir darauf reflektieren, auf der Liste der wesentlichen Güter des Menschen landen, die nach Rous­seaus Auffassung der wahren Natur des Menschen entsprechen. Der amour de soi-même treibt die Individuen an, Schmerzen zu vermeiden und das zu suchen, was sie für ihre Selbsterhaltung brauchen, und das heißt, er fördert die Selbsterhaltung und das Wohlergehen des Einzelnen. Das Mitleid veranlasst Individuen, das Leid anderer zu lindern, und sorgt so für die Erhaltung der Gattung und das Wohlergehen anderer (DU, 171 f. / OC III, 154) (Und wenn wir unseren Blick auf die Natur im erweiterten Sinn lenken, sehen wir, dass etwas Ähnliches auch für sie gilt : Die Anlage, die hier zur Natur des Menschen hinzukommt, der amour propre, veranlasst uns ebenfalls, ein für den Menschen wesentliches Gut zu erstreben : die öffentliche Bestätigung der eigenen Existenz als ein Ich.)147 Die rein natürlichen Gefühle des Mitleids und des amour de soi-même können uns selbstverständlich in entgegengesetzte Richtungen weisen, wenn zum Beispiel beide von uns ein Bedürfnis haben, das aufgrund besonderer Umstände nur einer von uns befriedigen kann. Doch auch in diesem Fall liefert uns die Natur eine klare Handlungsanweisung, drängt uns in eine der beiden Richtungen und stellt so eine Rangordnung der beiden Anlagen auf. Da die Stimme des Mitleids zarter als die des amour propre ist, suchen wir zunächst unseren Schmerz zu beseitigen und erst danach das Leiden anderer zu lindern, und das nur dann, wenn wir damit nicht beträchtliches Leid oder Entbehrungen auf uns selbst ziehen. Rous­seau glaubt also, die natürliche Beschaffenheit der Menschen – das Gegebensein und die verhältnismäßige Stärke von amour de soi-même und Mitleid – würde reinen Naturgeschöpfen »Grundsätze vor dem Verstand« aufnötigen, die ihrem kollekDie normativen Mittel der Natur  | 175

tiven Wohl dienen, allen voran die Regel, dass solch ein Geschöpf »niemals einem anderen Menschen Böses [tut]. Nur in dem berechtigten Falle, in dem seine eigene Erhaltung ihn parteiisch macht, ist er verpflichtet, sich selbst den Vorzug zu geben« (DU, 73 / OC III, 126). Dass Rous­seau seine Darlegung der ursprünglichen Natur des Menschen so anlegen will, dass daraus folgt, wie Menschen eigentlich handeln sollen und worin ihr Wohl besteht, geht deutlich aus seiner These hervor, sie bilde das Fundament für eine »Maxime der natürliche Güte« (oder der »natürlichen Tugend«), die weiter den Kern dessen bildet, was der zivilisiertere Mensch als Gebote des Rechts, der Moral und der Tugend betrachtet : »Sorge für dein Wohl mit so wenig Schaden wie möglich für den anderen« (DU, 171, 177 / OC III, 154, 156). Ein Großteil dieser natürlichen Teleologie sollte dem heutigen Leser durchaus vertraut und unpro­blematisch erscheinen, insofern die Hauptzwecke, von denen Rous­seau meint, sie wohnten unserer natürlichen Beschaffenheit inne, die Selbsterhaltung – die der Individuen wie die der Gattung – und die eng mit unserer biologischen Natur verknüpften Aspekte des Wohlergehens betreffen. Vertrackter wird diese natürliche Teleologie jedoch in dem Moment, wo wir von den biologischen Zwecken zu dem anderen Primärgut übergehen, das der ursprüngliche Naturzustand angeblich offenbart : Freiheit. In diesem Fall kann es scheinen, als gäbe es in Rous­seaus Darstellung der ursprünglichen Natur des Menschen keine natürliche Anlage, die uns antreibt, dieses Gut zu erstreben, und obschon das Gut der Freiheit sich, wo nicht mit einer natürlichen Anlage, so doch mit einem natürlichen Vermögen paaren lässt – unserem Vermögen des freien Willens –, macht der schiere, in der Art liegende Unterschied zwischen Freiheit als Fehlen von Herrschaft und dem metaphysischen Vermögen des freien Willens es schwierig zu erkennen, warum die Anlage, nach jener zu streben, aus dem Vorliegen von diesem folgen sollte : Wie wir oben gesehen haben, existieren Menschen nie ohne freien Willen und daher ergibt es wenig Sinn, eine Anlage zu postulieren, die dessen Realisierung zum Ziel hätte. Doch trotz der großen Kluft zwischen den beiden Bedeutungen von Freiheit scheint Rous­seau auch hier den normativen Rang der Freiheit mit der These verbinden zu wollen, Menschen – ja sogar andere Lebewesen – wiesen im ursprünglichen Naturzustand 176 | Kapitel 3 

eine unreflektierte Anlage auf, sich jedem Gehorsam gegenüber einem fremden Willen zu widersetzen. Sie verfügten, wie Rous­seau es formuliert, über eine »natürliche Anlage … gegen Knechtschaft«, die streng genommen weder auf den amour de soi-même noch auf den amour propre oder das Mitleid zurückzuführen ist : »Wie ein ungezähmter Renner, wenn ihm die Zügel bloß nahe kommen … sich wild aufbäumt,  … so [zieht] der barbarische Mensch  … die stürmischste Freiheit einer ruhigen Unterwerfung vor« (DU, 239, 237 / OC III, 181).148 Vielleicht kommt man einer plausiblen Erklärung der behaupteten Verbindung zwischen der ursprünglichen Natur des Menschen und der Anlage, Herrschaft zu meiden, am nächsten, indem man eine generelle Neigung der Naturgeschöpfe postuliert, die Fähigkeiten auszuüben, zu realisieren oder auf sonst eine Weise zu »erfüllen«, mit denen sie geboren sind, und das wäre in diesem Fall die Freiheit des Willens. Nach dieser Ansicht hieße eine natürliche Fähigkeit besitzen zugleich, eine natürliche Anlage zur Ausübung oder Entwicklung dieser Fähigkeit zu haben. Doch auch dieser Vorschlag bringt mehrere Pro­bleme mit sich. Zunächst wäre zu nennen, dass Rous­seau keine entsprechende natürliche Anlage im Fall der Vervollkommnung postuliert. Im Zweiten Diskurs wird klar und deutlich gesagt, die latenten Fähigkeiten, der Stoff der Vervollkommnung, beginnen sich erst dann zu entwickeln, wenn äußere Umstände es den Menschen erschweren, in ihrem unentwickelten Zustand die Bedürfnisse zu befriedigen, die ihnen der amour de soi-même eingibt (DU, 107 ff., 135 ff, 193 ff. /OC III, 142, 143, 165). Fehlt es an solchen Umständen, wird die Vervollkommnung nicht aus sich heraus dazu getrieben, ihre angeborenen Fähigkeiten zu entwickeln. Darüber hinaus belegt der oben zitierte Abschnitt, dass Rous­seau nicht-menschlichen Lebewesen ebenso wie den Menschen eine natürliche Anlage zuschreibt, sich jeder Herrschaft zu widersetzen, obgleich er ausdrücklich verneint, dass jene einen freien Willen haben. Mindestens hier scheint uns eine natürliche Anlage vorzuliegen, mit der keine natürliche Fähigkeit einhergeht. Vielleicht lässt sich dieses Pro­blem durch die Behauptung umgehen, die entsprechende Fähigkeit eines Lebewesens sei in diesem Fall das Begehren und nicht eine Fähigkeit, frei  – indeterminiert  – zwischen seinen Wünschen oder den möglichen Die normativen Mittel der Natur  | 177

Wegen ihrer Befriedigung zu wählen und es gehöre zum Begehren dazu, allen Kräften Widerstand zu leisten, die einen daran hindern wollen, Schritte zu seiner Befriedigung zu unternehmen. Rous­seau schlägt diesen Weg jedoch nicht ein, und die Gründe dafür wurzeln ziemlich tief in seiner Gesamtsicht. Täte er es, so würde Freiheit zu einem durch und durch naturalistischen Wert, und damit wäre ihm die Möglichkeit aus der Hand genommen, Freiheit zu dem für den Menschen charakteristischen Gut zu erklären und sie für die »edelste« Eigenschaft des Menschen zu halten (DU, 241 / OC III, 183).149 Zudem würde es bedeuten, dass auch nicht-menschliche Lebewesen Opfer von Herrschaft sein könnten, woraus sich die für ihn verstörende Möglichkeit ergäbe, dass ihrer Freiheit ein ähnlich hoher ethischer Rang zuzuschreiben ist wie der Freiheit der Menschen. (Es ist jedoch erwähnenswert, dass Rous­seau an mehreren Stellen der These nahetritt, nicht-menschlichen Lesewesen komme ein moralischer Rang zu, der in ihrer Fähigkeit gründe, Schmerz zu empfinden, wenn auch nicht vorherzusehen. Doch ihr Mangel an Freiheit bedeutet, dass sie keine vollwertigen moralischen Subjekte sind (DU, 73 / OC III, 126). Am Ende sehen wir uns, wie ich glaube, zu der Schlussfolgerung genötigt, dass Rous­seaus Darlegung der Natur des Menschen  – sein Drang, im Verhalten nicht-menschlicher Lebewesen alle Formen menschlichen Verhaltens vorgezeichnet zu sehen – sich nie ganz mit seiner gleichermaßen grundlegenden Überzeugung versöhnen lässt, dass die Fähigkeit zur und das Interesse an Freiheit den Menschen radikal von der übrigen Natur scheidet. Auch wenn Rous­seaus natürliche Teleologie sich nicht zu der Annahme versteigt, jede angeborene Fähigkeit ziehe einen entsprechenden Drang, sie zu entwickeln, nach sich, scheint er im Fall der Vervollkommnung im Vorliegen solcher Fähigkeiten die Grundlage für den Schluss zu sehen, ihre vollständige Entwicklung bilde für den Menschen ein wichtiges Gut und gehöre mit zur Verwirklichung der wahren Natur des Menschen. Dass die Natur die Entwicklung dieser Fähigkeiten beabsichtigt oder zu einem Zweck erhebt, darauf deutet für ihn schon ihr bloßes Gegebensein, sei es auch in latenten Formen, hin, und noch mehr deutet es sich in der Tatsache an, dass die Natur uns auch mit dem anderen basalen Vermögen ausgestattet hat, das für ihre Entwicklung notwendig ist : 178 | Kapitel 3 

mit dem freien Willen. Denn so wie Rous­seau es beschreibt, ist es allein der Fähigkeit des Menschen geschuldet, von dem ihm von der Natur vorgeschriebenen Pfad des Instinkts abzuweichen, dass – sobald äußere Umstände die übliche Art, seine Lebensbedürfnisse zu befriedigen, unhaltbar machen – seine latenten Fähig­keiten entwickelt werden können (DU, 85 ff., 105 ff,/OC III, 135, 141). Wenn das Gegebensein der Vervollkommnung auf ein Gut des Menschen hinweist, das mit zu Rous­seaus Bild von der wahren Natur des Menschen gehört, dann handelt es sich dabei um ein Gut, das keine natürliche Gewähr seiner Verwirklichung mit sich führt ; und die Natur liefert den Menschen auch keine unabhängige Motivation, um es erreichen zu wollen. Das Gut, das in der robusten Entwicklung der latenten Vermögen des Menschen besteht, verlässt sich stattdessen auf eine bestimmte Form des Zusammenwirkens von Natur und Freiheit : Zu einer solchen Entwicklung kommt es nur dann, wenn äußere Umstände das natürliche Streben des amour de soi-même vereiteln und das Vermögen der Menschen, spontan von den Vorgaben des Instinkts abzuweichen – oder präziser, das völlige Fehlen des Instinkts im eigentlichen Sinne beim Menschen –, sie dazu veranlassen, eine Kette von Ereignissen in Gang zu setzen, die ohne ihr Wissen dazu führen, dass das, was bis dahin nur latente Fähigkeiten waren, sich entwickelt. Jedenfalls setzt dieser Kunstgriff, der die Entwicklung von Fähigkeiten zu einem Ideal für die Menschen macht, indem er ihr natürliches Vorliegen in latenter Form als Hinweis auf einen Natur­ zweck begreift, eine Version der natürlichen Teleologie voraus, die über die oben thematisierte, eher bescheidene Auffassung hinausgeht, in der sich die Naturzwecke auf die Selbsterhaltung und das biologische Wohlergehen beschränken. Es fällt selbstverständlich nicht schwer, die theologischen Untermauerungen dieser teleologischen Naturauffassung zu verstehen : Wenn der gütige Schöpfer der Natur seine Geschöpfe mit bestimmten angeborenen Fähigkeiten ausstattet, müssen diese dazu gedacht sein, einem Seiner Zwecke zu dienen, der das Wohl dieser Geschöpfe fördert. Während es Pro­ bleme bereitet, diesen Gedanken bezogen auf die Verbindung zwischen freiem Willen und Freiheit von Herrschaft plausibel zu machen – schließlich bedeutet einer Herrschaft unterworfen zu sein strikt genommen nicht, seine metaphysische Freiheit aufzukündiDie normativen Mittel der Natur  | 179

gen  –, lässt er sich ohne weiteres auf die Fähigkeiten anwenden, aus denen die Vervollkommnung besteht : Wenn Gott beispielweise den Menschen, aber keinem anderen Lebewesen die Fähigkeit der Sprache und der Vernunft verliehen hat, dann muss er damit einen Zweck verfolgt haben, der hinreicht, um die Entwicklung und Ausübung dieser Fähigkeiten zu einem konstitutiven Bestandteil dessen zu machen, was das spezifische Wohl dieser Teile Seiner Schöpfung ausmacht.150 Doch wie dem auch sei, selbst wenn wir nach Darwin die Idee einer natürlichen Theologie ebenso zurückweisen wie den Gedanken, Naturgeschöpfe verfügten über eine bestimmte Reihe ursprünglicher, ihr Schicksal bestimmender Fähigkeiten, so ist es dennoch nicht schwer, die Substanz des normativen Sinns zu verstehen, den Rous­seau seiner Lehre von der Vervollkommnung zu entnehmen meint. Anders formuliert : Wir müssen bloß eine kleine Korrektur an Rous­seaus Position anbringen, um auch noch heute den Wert zu würdigen, den umfassend entwickelte Fähigkeiten mit sich bringen – um eine solche Entwicklung als Ideal anzuerkennen –, unbeschadet der Tatsache, dass der Glaube, die Natur wolle es so haben oder setze es als einen ihrer Zwecke, nicht mehr haltbar ist.151 Rous­seaus Aufnahme der Entwicklung angeborener Fähigkeiten in sein Bild von der wahren Natur des Menschen hat die höchst interessante Folge, dass die notwendigen Bedingungen für die Verwirklichung dieses Ideals in einem gewissen Spannungsverhältnis zu den Bedingungen stehen, die es ermöglichen, die Ideale der Freiheit, des Wohlergehens und der Selbsterhaltung im ursprünglichen Naturzustand zu verwirklichen – diese Überlegung erklärt übrigens, warum eine solche Entwicklung nicht Teil der glücklichen Existenz sein kann, deren sich der Mensch in jenem ursprünglichen Zustand erfreut. Die Spannung zwischen diesen Idealen hat vermutlich mehrere Quellen, doch eine springt besonders ins Auge, nämlich dass Entwicklung im Allgemeinen die kognitiven Fähigkeiten ans Licht bringt und verfeinert – etwa Vernunft und Vorstellungskraft –, die Menschen befähigen, sich sowohl von ihren rein natürlichen und heilsamen Impulsen zu entfernen als auch ihre Wünsche weit über ihre wahren Bedürfnisse hinaus aufzublähen. Tatsächlich lässt sich der Zweite Diskurs, wie Kant es getan hat,152 als ein erweitertes Argument für die These lesen, die Kultur, die 180 | Kapitel 3 

Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten eingeschlossen, stelle, auch wenn sie mit der Freiheit und dem Glück des Menschen nicht strikt genommen unvereinbar ist, ein nahezu unübersteigbares Hindernis für deren Verwirklichung dar. Wenn wir diesen Teil der Rous­seau’schen Ansicht ernst nehmen, müssen wir zu dem Schluss kommen, dass der wahre, aber hauptsächlich verborgene Inhalt seiner natürlichen Teleologie in der entschieden nicht-teleologischen Doktrin liegt, dass die Natur (oder Gott) einzig im Fall der Menschen ihren Geschöpfen widerstreitende Zwecke vorgibt. Ein Ort, an dem diese Doktrin, wenngleich nur indirekt, ihren Ausdruck findet, sind die Eingangsseiten des Zweiten Diskurses. Rous­seau fragt sich dort, ob die Natur »uns zur Gesundheit bestimmt hat« oder wolle, dass wir reflektieren (DU, 99 / OC III, 138), und lässt durchblicken, dass unsere Gesundheit, zumindest in einer Reihe von Umständen, unserer Reflektiertheit widerstreitet. Nicht dass die Zwecke, die von der Natur für den Menschen vor­ gesehen sind, begrifflich unvereinbar wären, und sie sind nicht einmal in dem Sinn nicht-kompossibel, dass sie, die Grenzen der menschlichen und der nicht-menschlichen Natur vorausgesetzt, nicht gleichzeitig realisierbar wären. Ein allmächtiges Wesen, das die Welt so eingerichtet hätte, dass eines davon zuträfe, gälte Rous­ seau als ein böser Dämon, nicht als ein gütiger Schöpfer. Zudem ist der Nachweis, dass die Zwecke der wahren Natur des Menschen im erweiterten Sinn tatsächlich kompossibel sind, eines der Hauptziele des Rous­seau’schen Denkens im Ganzen, vor allem im Emile und im Gesellschaftsvertrag,153 in denen gezeigt wird, dass die Entwicklung unserer Fähigkeiten nicht nur mit unserer Freiheit und unserem Wohlergehen vereinbar ist, sondern auch mit dem vom amour propre erstrebten Ziel, der Wertschätzung oder der Achtung anderer.154 Man könnte sogar in der These, nur das Eingreifen des Menschen – allein die sinnreiche Einrichtung der genau richtigen Art, sowohl in den sozialen Institutionen als auch der häuslichen Erziehung  – könne die der menschlichen Gattung gesetzten Naturzwecke harmonisch verbinden, die wichtigste Lektion dieser beiden Werke sehen. Damit ist zugleich gesagt, dass die Natur hinsichtlich ihrer menschlichen Geschöpfe auf einen Eingriff von außen – auf das Handeln freier Subjekte – angewiesen ist, um ihre Zwecke zu erreichen. Aus diesem Grund ließe sich behaupten, die Die normativen Mittel der Natur  | 181

Natur scheitere daran, eine teleologisch eigenständige, sich vollkommen selbst verwirklichende Ordnung des Seins vorzugeben. Wie die Darlegung des »Falls« der zivilisierten Menschen deutlich macht, findet sich in Rous­seaus Version der natürlichen Teleologie nichts, was dem optimistischen Glauben an die letztendliche Güte der Natur nahekäme, wie ihn Kant unter anderem in seiner »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht« verteidigt, oder dem Vertrauen Hegels in eine dialektisch garantierte Verwirklichung aller geistigen Zwecke der Menschen innerhalb der Natur. Wenn die Natur in Rous­seaus Augen teleologisch ausgerichtet ist, insofern sie die Zwecke liefert, die das Wohl des Menschen definieren, so bleibt sie doch dahinter zurück, zweckgerichtet in dem stärkeren Sinn zu sein, dass sie, bliebe sie sich selbst überlassen, ihre Zwecke eigenständig verwirklichte. In dieser Hinsicht steht Rous­seau mehr als Kant oder Hegel dem Denken nahe, das die Zeit nach dem 19. Jahrhundert geprägt hat. Tatsächlich geraten die Grenzen seiner natürlichen Teleologie umso mehr in den Blick, je sorgfältiger man betrachtet, was Rous­ seau im Zweiten Diskurs über die Natur sagt, und versucht, es in ein zusammenhängendes Bild einzufügen. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass Rous­seau den ursprünglichen Naturzustand als das Fundament seiner normativen These betrachtet, Freiheit, Selbsterhaltung und Wohlergehen seien die Grundbausteine des für den Menschen Guten und jede Lebensführung, die mit der wahren Natur des Menschen übereinstimmen soll, müsse sie erlangen, aber die Hauptstoßrichtung seiner Position entfernt sich tatsächlich von den vormodernen Strategien, in einer teleologischen Auffassung der Natur nach einem klaren Bild der Art von Leben zu suchen, das Menschen führen sollten. Verglichen mit den Einstellungen vieler seiner Vorläufer reiht Rous­seaus normative Haltung sich eher in die moderne philosophische Strömung ein, die die Natur als »entzaubert« betrachtet, als in frühere Denkschulen, die in der Natur zuverlässige Blaupausen für die menschliche Gesellschaft und individuelle Lebensführungen zu finden meinten. Dass Rous­seau der Natur philosophisch eine geringere Rolle zuschreibt als ein Großteil der Tradition vor ihm, lässt sich der Magerkeit seiner Darstellung der ursprünglichen Natur des Menschen entnehmen. Auf diesen schon bekannten Aspekt macht er mehr als 182 | Kapitel 3 

einmal aufmerksam, indem er betont, wie viel von dem, was andere Philosophen der Natur des Menschen zugeschrieben haben, tatsächlich ein Produkt künstlicher, historischer Umstände und zufälliger sozialer Einrichtungen ist (DU, 83 ff., 167 / OC III, 132, 153). Unsere gegenwärtige Lebensweise nicht so sehr der Natur anzulasten, wie viele seiner Vorläufer dies taten, hat unter anderem den Sinn, darauf hinzudeuten, dass viele der Wünsche, Anlagen, Meinungen und Fähigkeiten, die wir als für den Menschen natürlich betrachten, in der Tat anders hätten sein können, womit gesagt ist, dass das, was viele für feste Eigenschaften der menschlichen Existenz halten, sich stattdessen prinzipiell durch menschliches Handeln ändern ließe. Weniger offensichtlich, aber deshalb nicht weniger wichtig ist die Beobachtung, dass auch die normative Bedeutung der Natur abnimmt, wenn wir in erklärender Absicht nicht die Natur, sondern unsere Freiheit – die Auswirkungen unserer Meinungen und Handlungen – in der Hauptsache dafür verantwortlich machen, wie wir heute sind. Für Rous­seau trifft dies vor allem in der Hinsicht zu, dass allein die Natur für Lebewesen, die durch die künstlichen Anstalten der Kultur geformt sind – mithin für alle realen Menschen –, keine spezifischen Leitlinien dafür bereitstellen kann, wie eine Gesellschaft und die in ihr lebenden Individuen beschaffen sein sollten. Da sein Gebot nicht lautet : »Geht zurück zu einem Leben mit den Bären in den Wäldern«, ist der ursprüngliche Naturzustand, mag er auch einige der Güter angeben, nach denen wir unabhängig von den sozialen Einrichtungen, unter denen wir leben, auf jeden Fall streben sollten, dennoch machtlos, wenn es darum geht, uns die bestimmte zivilisierte Lebensweise zu empfehlen, nach der unsere wahre Natur verlangt. Wie ich früher schon erklärt habe, erfüllen das Goldene Zeitalter des Zweiten Diskurses, die Staatsbürgerschaft in einer legitimen Republik und Emiles Teilnahme am Familienleben und an der Gesellschaft alle­samt die allgemeinen Kriterien für ein gutes Leben, wie sie in Rous­seaus Auffassung von der Natur des Menschen enthalten sind. Anders formuliert : Obwohl die Natur dem Menschen gewisse allgemeine Zwecke vorschreibt, gibt es eine fast endlose Vielfalt spezifischer Möglichkeiten, sie zu verwirklichen. Ein Thema, auf das wir überall im Zweiten Diskurs stoßen, sobald unser Blick erst einmal dafür geschärft ist, betrifft in der Tat Die normativen Mittel der Natur  | 183

das Schweigen der Natur im Zivilisationszustand (DU, 173 ff. / OC III, 155 f.). Häufig ist die Natur für uns stumm, und das nicht nur, weil künstliche Leidenschaften das natürliche Mitleid übertönen und den amour de soi-même von seinem natürlichen Gang ablenken können, um so die Stimme der Natur zu ersticken (DU, 73 / OC III, 126), sondern auch weil unter den komplexen Umständen des Lebens in der Zivilisation die Natur selbst, springt ihr nicht die philosophische Reflektion bei, normalerweise unfähig ist, uns in eine bestimmte Richtung zu weisen. Das Thema der schweigenden Natur ist, wo es um die Frage geht, wie der zivilisierte Mensch leben soll, besonders in Rous­seaus Kritik der Naturrechtstheorie in der Einleitung zum Zweiten Diskurs erkennbar (DU, 69 – 73 / OC III, 124 ff.). Leider gehören diese Abschnitte zu den verworrensten des ganzen Zweiten Diskurses, zum Teil auch deshalb, weil nicht deutlich ist, ob sie mit ihrer Argumenta­tion ins Schwarze treffen, denn welche bedeutenden Naturrechtstheoretiker tatsächlich die von Rous­ seau kritisierten Ansichten vertreten, bleibt unklar. 155 Aus diesem Grund sollte man am besten nicht viel Zeit damit verbringen, auf diesen Seiten eine Reihe stichhaltiger Argumente aufzuspüren, die sich gegen reale Vertreter der Naturrechtstradition wenden. Stattdessen tut man gut daran, aus ihnen die Punkte herauszuziehen, die wichtig sind, um Rous­seaus Position hinsichtlich des Ausmaßes zu verstehen, in dem die Natur zivilisierten Geschöpfen vorzuschreiben vermag, wie sie leben und ihre Gesellschaft organisieren sollen. Zwei Punkte sind besonders relevant. Der erste betrifft die von Rous­seau-Interpreten weitgehend anerkannte These, dass moralische Vorschriften im strikten Sinn – und das sollen Naturgesetze ja sein  – in einer völlig natürlichen Verfassung der Art, wie der ursprüngliche Naturzustand sie darstellen soll, keinen Platz haben. Wie wir gesehen haben, würden in einem solchen Naturzustand menschliche Geschöpfe tatsächlich dazu gedrängt werden, unreflektiert ihrem amour de soi-même und ihrem Mitleid zu folgen und in Fällen, in denen die beiden einander widerstreiten, jenem den Vorzug zu geben. Diesen Neigungen in solch einem Zustand zu folgen, würde zudem ein Verhalten hervorrufen, das sowohl dem Wohl der Individuen als auch dem der Gattung als ganzer diente. Dass die Natur uns »antreibt«, uns so zu verhalten, dass dadurch unser Wohl befördert wird, ist jedoch nicht dasselbe wie für uns 184 | Kapitel 3 

verbindliche moralische Vorschriften zu erlassen oder uns zu sagen, wie wir handeln sollten. Die »Maxime der natürlichen Güte«, die aus der ursprünglichen Einstellung unserer Anlagen folgt, mag das Verhalten rein natürlicher Geschöpfe beschreiben oder vorhersagen, aber sie kann ihnen nicht vorschreiben, wie sie handeln sollen, und zwar aus dem schlichten Grund nicht, dass solche Geschöpfe, haben die Zivilisationsprozesse, die überhaupt erst eine Kluft zwischen den natürlichen Neigungen und dem tatsächlicher Verhalten entstehen lassen, noch nicht stattgefunden, gar nicht versucht sind, die Maxime der Natur zu missachten, indem sie beispielsweise den natürlichen Ruf des Mitleids ignorieren. (Diese Kluft kommt unter anderem dadurch zustande, dass anhaltende Interessenkonflikte unter weiter fortgeschrittenen sozialen Bedingungen das häufige Aufeinanderprallen von Eigeninteresse und Mitleid praktisch sicherstellen und so zum ersten Mal für Menschen einen ständigen Anreiz – und damit die reale Möglichkeit – schaffen, sich in ihrem Handeln gegen die Maxime der natürlichen Güte zu entscheiden.) Eine Maxime der natürlichen Güte kann formulieren, welche Handlungen für Geschöpfe entsprechend ihrer Natur angemessen und gut sind, aber sie reicht nicht an eine moralische Vorschrift im echten Sinn heran. Nur unter komplexeren sozialen Umständen, unter denen die Befolgung der reinen Naturgesetze animalischen Verhaltens nicht länger gewährleistet ist, ist es sinnvoll, von »Sollen« und moralischen Geboten zu sprechen. Darum ist Rous­seau sorgfältig darauf bedacht, den hypothetischen Bewohnern des ursprünglichen Naturzustands bloß »natürliche Tugend« zuzuschreiben (DU, 171 / OC III, 154) und zu bestreiten, dass sie im wahrsten Sinn des Wortes des Guten oder des Bösen, der Tugend oder des Lasters fähig sind. Das im Kopf zu behalten – nämlich dass solche Geschöpfe keine »sozialen Beziehungen« und »bewusste Verpflichtungen« kennen (DU, 165 / OC III, 152) –, ist unerlässlich, um den wahren Gehalt der von Rous­seau oft wiederholten These zu verstehen, der Mensch sei »von Natur gut« (DU, 111 / OC III, 202).156 Letztlich jedoch trägt diese Einsicht in die Nicht-Anwendbarkeit moralischer Begriffe im ursprünglichen Naturzustand nicht sehr weit. Im Gegensatz dazu, was Rous­seau manchmal anzudeuten scheint, begründet sie beispielsweise nicht, dass der Gedanke des Naturrechts – der Natur als Quelle moralisch verpflichtender Gebote für Die normativen Mittel der Natur  | 185

die Menschen – in jedem erdenklichen Sinn des Wortes inkohärent ist.157 Allenfalls wirft sie zwei schwierige Fragen auf, die von den Vertreter des Naturrechts beantworten werden müssen (einige Versionen davon werden im nächsten Kapitel weiter betrachtet) : Wie und in welchem Sinn des Wortes ist die Natur die Quelle echter moralischer Gebote und : wenn dieser Vorstellung ein bestimmter Sinn verliehen werden kann, wie verhalten sich solche Gebote zu denen, die aus anderen Quellen des Rechts, »den wahren Grundlagen für den Staatskörper« abgeleitet sind (DU, 75 / OC III, 126) und die Rous­seau mit den »Verträgen« oder der Übereinkunft des Willens der Menschen gleichsetzt (GV, I.1, I.4) ? Der zweite, wichtigere Punkt, der sich aus Rous­seaus Erörterung des Naturgesetzes gewinnen lässt, betrifft die möglichen normativen Mittel, die aus einer Auffassung der wahren Natur des Menschen abzuleiten sind. Wie immer sie auch aussehen mögen, sie reichen nicht so weit, dass aus ihnen echte Gesetze – bestimmte oder spezifische, verbindliche Gebote – für reale (vergesellschaftete) Geschöpfe hervorgehen, die aus ihrem primitiven Zustand herausgetreten sind und für die es eine ständige Möglichkeit ist, vom ursprünglichen Ruf der Natur abzuweichen. Dieser zweite Punkt betrifft nicht den moralisch bindenden Status der normativen Maßstäbe der Natur, sondern die Unbestimmtheit ihres Inhalts, sobald es darum geht, wie Geschöpfe in spezifischen sozialen Umständen ihr Leben führen oder ihre Gesellschaft organisieren sollten. In Rous­seaus Kritik der Naturrechtstheorie kommt dies in seiner Bemerkung zum Ausdruck, echte Gesetze könnten unter der Bedingung der Zivilisation nicht mehr »unmittelbar durch die Stimme der Natur sprechen« (DU, 71 / OC III, 125). Das bedeutet unter anderem, in komplexeren Umständen, als diejenige es sind, die im Naturzustand herrschen, bedarf es bestimmter Reflektionen, damit wir wissen können, was wir tun sollten. (Das Wesen dieser Reflektion, die entscheidend ist für die Unterscheidung zwischen dem, was in der Gesellschaft, und dem, was unter dem Naturgesetz Recht ist, wird im nächsten Kapitel ausgeführt werden.) Unter solch einer Bedingung zu wissen, was wir tun sollten – zu wissen, was unserem echten Allgemeinwohl dient –, verlangt nach einem Niveau an Aufklärung, das über das unmittelbare und unreflektierte Beabsichtigen des Wohls hinausgeht, wie es für die Be186 | Kapitel 3 

wohner des ursprünglichen Naturzustands kennzeichnend ist. Der Grund dafür ist folgender : Selbst wenn die Natur vergesellschaftete Geschöpfe weiterhin dazu bewegt, nach Selbsterhaltung, Wohlergehen und Freiheit zu streben, ist es unter der Bedingung des Privateigentums, der Klassenunterschiede und des entfachten amour propre gar nicht so leicht zu erkennen, welche Handlungen oder Gesetze im Einzelnen diese Naturzwecke befördern, sei es nun für das Individuum oder die Gattung im Ganzen. Eine weitere Schwierigkeit – und noch ein Sinn, in dem die Natur bei fortgeschrittener Zivilisation nicht mehr unmittelbar zu uns spricht – liegt darin, dass, sobald die unserem Wohl dienenden Grundsätze nicht einfach empfunden oder intuitiv erfasst werden, wir möglicherweise auch einen künstlichen Anreiz brauchen, um sie zu befolgen. Genau darum wird der Gesellschaftsvertrag darauf bestehen, die Individuen außerhalb des Naturzustands, in einer legitimen Republik, von der Natur abzunabeln (GV, II.7) – sie durch künstliche Erziehungsprozesse umzuwandeln –, damit sie wissen, was die Durchsetzung ihres Wohls innerhalb der Gesellschaft von ihnen verlangt, und entsprechend motiviert werden. Damit ist meine Rekonstruktion der normativen Auffassung der Natur des Menschen, wie sie im Zweiten Diskurs vorliegt, abgeschlossen. Es fällt nicht schwer zu erkennen, dass seine Darlegung der Grundbausteine des menschlichen Wohls in Rous­seaus Kritik an der sozialen Ungleichheit eine wichtige Rolle spielt. Er wird nicht müde zu beschreiben, wie Ungleichheiten in eine soziale Dynamik eingehen, die das genaue Gegenteil dieses Wohls erzeugt : Elend, unbefriedigte Bedürfnisse, Streit, Versklavung, Entfremdung und das Fehlen befriedigender Anerkennung. Weniger deutlich hingegen ist, wie sich Rous­seaus Katalog der wesentlichen Güter in Grundsätze für die Beurteilung der Legitimität sozialer Praktiken übersetzen lässt, darunter auch die von ihm so genannten moralischen Ungleichheiten. Eine solche Übersetzung zu leisten und ihre Ergebnisse auf soziale Ungleichheiten, besonders auf ökonomische, anzuwenden, das wird die Hauptaufgabe des 4. Kapitels sein.

Die normativen Mittel der Natur  | 187

Kapitel 4 Beurteilung der Legitimität sozialer Ungleichheiten Das dritte Kapitel hat die normativen Mittel untersucht, die uns, wie Rous­seau meint, von der Natur – sowohl vom Naturgesetz als auch von einer normativen Auffassung der Natur des Menschen – bereitgestellt werden, um die Rechtmäßigkeit von Ungleichheit bestimmen zu können. Es hat Rous­seaus Antwort auf die spezifische, ihm von der Akademie von Dijon vorgelegte normative Frage betrachtet : Ist die Ungleichheit unter den Menschen vom Naturgesetz autorisiert ? Demgegenüber untersucht dieses Kapitel, welche Mittel der Zweite Diskurs für die Beantwortung der Frage anbietet, in welchem Maße und aus welchen Gründen soziale Ungleichheiten legitim sind, wenn man sie nach den normativen Maßstäben beurteilt, die das gesellschaftliche Recht gründen. Anders ausgedrückt beabsichtigt dieses Kapitel die umfassenderen normativen Kriterien auszuführen, die in der Kritik des Zweiten Diskurses an der sozialen Ungleichheit enthalten sind – Kriterien, die, haben wir sie erst einmal herauspräpariert, die Legitimität oder Zulässigkeit gewisser Formen der sozialen Ungleichheit aufdecken, welche nicht vom Naturgesetz besonders sank­tioniert sind. Um diese Aufgabe zu erfüllen, müssen erstens die kausalen Verbindungen zwischen sozialen Ungleichheiten im Allgemeinen und den Gütern untersucht werden, aus denen Rous­seaus normative Vorstellung von der wahren Natur des Menschen besteht, und zweitens muss dieses Bild der wesentlichen Güter des Menschen in Grundsätze der Legitimität überführt werden – in Grundsätze nicht des Naturrechts, sondern des innerhalb der sozialen Ordnung geltenden Rechts –, die fest­legen, ob die Gesetze, Institutionen und sozialen Praktiken im weiteren Sinn moralisch zulässig oder verwerflich sind (und ob wir, im Fall von Gesetzen, verpflichtet sind, ihnen zu gehorchen.) Und schließlich gehe ich dem nach, was diese Grundätze konkret für die Gesellschaftskritik bedeuten, indem ich sie auf eine bestimmte Art von sozialer Ungleichheit anwende, die in modernen  189

Gesellschaften besonders hervorsticht : Ungleichheit bezüglich von Reichtum. Die Beurteilung von Ungleichheit anhand ihrer Folgen

Am Ende des vorangegangenen Kapitels sagte ich, soziale Ungleichheiten spielten in der Kritik des Zweiten Diskurses an der modernen Gesellschaft insofern eine Rolle, als sie Teil einer komplexen sozialen Dynamik sind, deren Ergebnisse – Elend, unbefriedigte Bedürfnisse, Streit, Versklavung, Niedertracht, fehlende Anerkennung und Entfremdung – für Rous­seau in die moralische Anklageschrift gegen die Gesellschaften einfließen, die sie hervorbringen. Im zweiten Kapitel haben wir einen Aspekt dieser Dynamik untersucht, nämlich wie soziale Prozesse, angeheizt vom amour propre, soziale Ungleichheiten entstehen lassen und zur hauptsächlichen, »künstlichen« Quelle menschlicher Ungleichheit im Allgemeinen werden. Während diese These zu dem Unterfangen gehört, den Ursprung der Ungleichheit auszumachen, dreht sich dieses Kapitel um das kritische – und damit normative – Unterfangen des Zweiten Diskurses, das sich derselben sozialen Dynamik widmet, dieses Mal allerdings mit Blick darauf, wie soziale Ungleichheiten dazu beitragen, die Übel zu schaffen, die Rous­seaus Kritik an der modernen Gesellschaft befeuern. Dass soziale Ungleichheiten irgendwie an dieser Kritik beteiligt sind, steht außer Zweifel ; unsere Aufgabe ist nun, genau zu bestimmen, welche Rolle sie in ihr spielen. In einem ersten Schritt zur Klärung der Rous­seau’schen Position gilt es zu zeigen, warum soziale Ungleichheit ein ethisches Pro­blem darstellt – warum Ungleichheit, betrachtet man sie vom Standpunkt dessen, was für den Menschen gut ist (oder vom Standpunkt der Natur des Menschen im normativen Sinn) –, uns kümmern sollte. Das zu erklären ist eine der Hauptaufgaben des Zweiten Diskurses, und er liefert uns verhältnismäßig klare Hinweise darauf, wie er zumindest in allgemeinen Umrissen die Frage zu beantworten sucht. Nehmen wir beispielsweise Rous­seaus Bemerkung unmittelbar nachdem er die menschliche Entwicklung grob bis zu ihrem gegenwärtigen Zustand verfolgt hat : Sobald »die Gleichheit verschwand … wurde die Arbeit nötig und die weiten 190 | Kapitel 4 

Wälder verwandelten sich in lachende Felder, die mit dem Schweiß der Menschen begossen werden mußten … [und] die Sklaverei und das Elend entsprossen bald … und wuchsen« (DU, 213 / OC III, 171). Noch detaillierter werden die Folgen der sozialen Ungleichheit einige Seiten später in einem berühmten Absatz beschrieben : [D]er Mensch, so frei und unabhängig er auch einst war, [ist] nun durch eine Menge neuer Bedürfnisse  … untertan, insbesondere seinesgleichen, deren Sklave er  … wird, selbst wenn er zu ihrem Herren wird … Er muß sie deshalb ständig für sein Schicksal zu interessieren suchen und sie ihren Gewinn wirklich oder scheinbar darin finden lassen, für den seinen zu arbeiten … Schließlich geben der verzehrende Ehrgeiz, der Eifer ihr Vermögen zu vermehren – weniger aus echtem Bedürfnis als um sich über die anderen zu setzen – allen Menschen die dunkle Neigung ein, sich gegenseitig Schaden zuzufügen … Kurzum : Konkurrenz und Rivalität von der einen Seite, von der anderen Gegensatz der Interessen und immer der versteckte Wunsch, seinen Gewinn auf Kosten der anderen zu erlangen. Alle diese Übel sind … das unzertrennliche Begleitgefolge der entstehenden Ungleichheit. (DU, 221 ff. / OC III, 174 f.)

In meiner Rekonstruktion der Kritik Rous­seaus an der Ungleichheit möchte ich die Aufmerksamkeit auf zwei Aspekte der oben angeführten Behauptungen lenken, vor allem auf die These des ersten Abschnitts, »Sklaverei und Elend« seien die Hauptwirkungen der sozialen Ungleichheit.158 An erster Stelle ist zu sagen, dass Rous­ seaus Kritik der Ungleichheit, insbesondere der ökonomischen, den Schwerpunkt auf deren schädliche Folgen für die Menschen legt. Ungleicher Reichtum ist für Rous­seau nicht an sich falsch, wohl aber wegen seiner Folgen, und das Gleiche gilt größtenteils auch für andere Formen sozialer Ungleichheit.159 Rous­seaus Position, so könnte man sagen, hat einen entschieden konsequentialistischen – oder vielleicht präziser einen instrumentalistischen  – Zug.160 Die Behauptung, soziale Ungleichheit sei in erster Linie wegen ihrer ethisch anstößigen Folgen verwerflich und nicht so sehr, weil sie irgendwie an sich Unrecht ist, wird von der berühmten Aussage im Gesellschaftsvertrag unterstützt, der allgemeine Wille habe zwei Hauptobjekte oder -ziele – Freiheit und Gleichheit – und GleichBeurteilung der Legitimität sozialer Ungleichheiten | 191

heit hinsichtlich von Reichtum und Macht sei ein solches Ziel, weil »Freiheit ohne sie nicht bestehen kann« (GV, II.11). Man könnte sich kaum eine deutlichere Aussage des Inhalts wünschen, dass wir uns vor allem wegen ihrer bedrohlichen Folgen um die soziale Ungleichheit kümmern sollten, die in diesem Fall die Freiheit der Gesellschaftsmitglieder gefährden. Der zweite Punkt in Rous­seaus Aussage, den ich näher ins Auge fassen möchte, ist der, dass Sklaverei und Elend die hervorstechendsten Folgen der sozialen Ungleichheit sind. Diese mutmaßlichen Folgen der Ungleichheit entsprechen  – im Verbund mit anderen Faktoren – sehr schön den Merkmalen des Goldenen Zeitalters, auf die Rous­seau, wie wir im vorangegangenen Kapitel sahen, in seiner Erklärung verweist, warum diese Situation gut ist : Darin waren die Individuen »so frei, gesund, gut und glücklich, wie sie es ihrer Natur nach sein konnten« (DU, 212 / OC III, 171). Diese und andere Passagen besagen, dass die soziale Ungleichheit in erster Linie deshalb ethisch pro­blematisch ist, weil sie dazu neigt, es den Menschen zu erschweren, in den Besitz zweier für sie wesentlicher Güter zu gelangen : Wohlergehen – wozu Glück ebenso zählt wie die Befriedigung wahrer Bedürfnisse – und Freiheit, verstanden als Fehlen von Herrschaft. Wie der längere, oben zitierte Abschnitt, liest man ihn zusammen mit anderen,161 deutlich macht, ist die soziale Ungleichheit auch an der Erzeugung weiterer im Zweiten Diskurs angeprangerter Übel beteiligt, etwa Zwietracht, Laster (»düstere« Neigungen) und eine Erscheinung, die wir Entfremdung nennen könnten (ein Leben »außerhalb seiner selbst « oder »nur in den Meinungen der anderen« [DU, 265 / OC III, 193]).162 Diese Übel spielen ebenfalls in Rous­seaus Kritik an der modernen Ungleichheit insgesamt eine Rolle, da sie sich, allerdings mit der möglichen Ausnahme der Entfremdung, leicht unter die Rubrik ›Defizite im Wohlergehen‹ subsumieren lassen. Ich werde meine Darlegung so strukturieren, dass ich mich auf die beiden Haupt­ kategorien der Übel konzentriere, die von der sozialen Ungleichheit hervorgebracht werden : geschmälertes Wohlergehen und Verlust von Freiheit.163 Obwohl dem eine Hauptrolle in der Erklärung dieser beiden Übel zufällt, stützt sich Rous­seaus Darlegung der durch die soziale Ungleichheit hervorgerufenen Defizite im Wohlergehen stark auf die Verheerung, die von den »entfachten« – pervertier192 | Kapitel 4 

ten und sozial destruktiven  – Äußerungen des amour propre in der Gesellschaft und im Wohlergehen ihrer Mitglieder angerichtet wird.164 Mit anderen Worten : Der Hauptakzent dieses Teils seiner Kritik liegt auf der »fiebrigen« Dynamik der Missachtung und ihrer schädlichen Folgen für das Glück der Individuen wie auch für ihr legitimes oder wahres Bedürfnis, in den Augen anderer eine anerkannte Stellung einzunehmen.165 Meiner Ansicht nach kann man gar nicht oft genug betonen, wie wichtig der amour propre für Rous­seaus Erklärung der Übel ist, die mit der sozialen Ungleichheit auftreten. Zitate wie das folgende durchziehen im Tenor den gesamten Zweiten Diskurs und drücken, möchte ich sagen, dessen grundlegende philosophische These aus : [D]ieser allgewaltige Drang nach Ruf, Ehre und Auszeichnungen, der uns alle verzehrt … [reizt] die Leidenschaften auf und vervielfältigt sie … [macht] alle Menschen zu Konkurrenten, Rivalen oder vielmehr Feinden … wir [haben] gerade diesem Eifer, von sich reden zu machen, dieser Begierde, sich auszuzeichnen, die uns fast immer von unserem wahren Selbst abwendet, all das zuzuschreiben, was es an Besserem und Schlechterem bei den Menschen gibt. (DU, 257 / OC III, 189)

Soziale Ungleichheit und Freiheit (als Fehlen von Herrschaft)

Beginnen wir mit der Verbindung von Ungleichheit und Freiheit, weil sie zum einen die wichtigere Verbindung ist und zum anderen die leichter verständliche. Rous­seaus These, soziale Ungleichheit gefährde die Freiheit, besteht aus zwei Teilen, die beide im Zweiten Diskurs als herausragende Themen auftreten. Der erste betrifft den freiheitsgefährdenden Charakter der menschlichen Abhängigkeit im Allgemeinen, wobei Abhängigkeit – das Gegenteil von Autarkie – auf eine Bedingung verweist, in der man seine Bedürfnisse, oder was man dafür hält, nur in der Zusammenarbeit mit anderen befriedigen kann. Rous­seau drückt diesen Aspekt seiner Ansicht aus, wenn er schreibt, »daß die Bande der Knechtschaft [servitude] sich nur in der gegenseitigen Abhängigkeit der Menschen voneinander und durch die wechselseitig vereinigenden Bedürfnisse bilBeurteilung der Legitimität sozialer Ungleichheiten | 193

den konnten. Daher ist es unmöglich, einen Menschen zu unterjochen [asservir], ohne ihn zuvor in die Lage versetzt zu haben, daß er ohne einen anderen nicht auskommen kann« (DU, 189 / OC III, 162).166 Der dahinterliegende Gedanke ist recht einfach : Zu den grundlegenden Vorstellungen des Zweiten Diskurses gehört die, dass jede Form der Abhängigkeit von Menschen die Gefahr mit sich bringt, dass die Abhängigen gezwungen sind, ihre Freiheit zu beeinträchtigen, um die Bedürfnisse zu befriedigen, die sie zu einer Zusammenarbeit mit anderen drängen. Wenn Freiheit darin besteht, dass man »nur sich selbst gehorcht« (GV, I.6), dann ist jegliche Abhängigkeit eine dauernde Bedrohung der eigenen Freiheit, da sie die Möglichkeit eröffnet, dass, um zu bekommen, was ich brauche – oder glaube zu brauchen –, mir kaum eine andere Wahl bleibt, als meine Handlungen auf den Willen derjenigen abzustimmen, auf deren Zusammenarbeit ich angewiesen bin. Wenn ich regelmäßig vor die Wahl gestellt bin, entweder zu bekommen, was ich brauche, oder meinem eigenen Willen zu folgen, ist es wohl keine Überraschung, wenn die Befriedigung meiner Bedürfnisse oft meinen Wunsch aussticht, frei zu bleiben. Ein herausragendes Beispiel dafür ist die Rolle, die Rous­seau im Zweiten Diskurs der Arbeitsteilung zuschreibt – vor allem wenn es sich um voneinander völlig unabhängige Produktionszweige wie die Metallbearbeitung und den Ackerbau handelt –, um zu erklären, warum Herrschaft und Elend im Zivilisationszustand allgegenwärtig sind. Es liegt hauptsächlich an einer tiefgreifenden Arbeitsteilung, dass die materielle Abhängigkeit der Individuen untereinander letztlich ihre Freiheit bedroht, dass, wie Rous­seau mit einer Spur von Ironie sagt, »Eisen und Getreide die Menschen zivilisiert und das Menschengeschlecht ruiniert« haben (DU, 213 / OC III, 171). Bedürfnisse haben zwei subjektive Eigenschaften, die die freiheitsgefährdenden Folgen der Abhängigkeit erklären : ihre Macht und ihre Beständigkeit. Erstens sind Bedürfnisse ein machtvoller Verhaltensantrieb und sie zu befriedigen ist ein wichtiger Bestandteil des psychischen Wohlergehens oder des Glücks. Die ein unerfülltes Bedürfnis begleitende Empfindung des Mangels bedrängt uns auf eine Weise, die sich nicht leicht ignorieren oder erdulden lässt. Ein ungestillter Hunger oder Wunsch nach Liebe hat die Macht, Individuen zu verzweifelten Taten zu treiben, und 194 | Kapitel 4 

es ist diese Macht, die erklärt, warum Abhängigkeitsbeziehungen Individuen, sind sie erst einmal in sie verstrickt, beinahe un­ wider­stehlich umklammert halten. Sie erklärt, warum Individuen dazu motiviert werden können, etwas so Wertvolles wie ihre Freiheit zu opfern, wenn sie damit die Zusammenarbeit von anderen sicherstellen, ohne die sie das, was sie als bedrängenden Mangel wahrnehmen, nicht beheben können. Zweitens weisen Bedürfnisse eine Beständigkeit auf, die bloßen Vorlieben abgeht. Anders als Launen oder flüchtige Wünsche bilden Bedürfnisse einen verhältnismäßig dauerhaften Teil der Triebausstattung des Subjekts : Bleiben Bedürf­nisse unerfüllt, macht sich der mit ihnen verbundene Drang weiterhin bemerkbar. Außerdem bringt die einmalige Befriedigung eines Bedürfnisses dieses nicht zum Verschwinden ; vielmehr lösen Bedürfnisse wiederkehrende Mangelempfindungen aus, die nach einer Wiederholung desjenigen Verhaltens verlangen, das zu ihrer Befriedigung führt. Dieses Merkmal von Bedürfnissen ist deshalb wichtig, weil es Abhängigkeit zu einem Dauerzustand und nicht einem bloß zeitweiligen macht, und es ist, wie wir sehen werden, dieses Merkmal, das dauerhafte Herrschaftsbeziehungen ermöglicht, was auf einzelne, verhältnismäßig folgenlose Fälle von Gehorsam gegenüber einem fremden Willen nicht zutrifft. Wichtig ist hier festzuhalten, dass die fraglichen Bedürfnisse und die von ihnen ausgehende Abhängigkeit nicht rein, ja nicht einmal primär biologisch sind – also nicht etwas, was menschliche Organismen brauchen, um zu überleben und körperlich gesund zu bleiben. Es wäre zwar falsch, die Wichtigkeit zu unterschätzen, die Rous­seaus Kritik der Ungleichheit den materiellen Bedürfnissen beimisst – schließlich gehen die meisten von uns jeden Tag zur Arbeit, weil das Bedürfnis zu essen, sich zu kleiden, Miete zu zahlen und die Arztrechnungen zu begleichen, immer wiederkehrt167  –, aber es ist auch wahr, dass der allergrößte Teil der Abhängigkeit der Menschen Rous­seau zufolge ihre Quelle in Bedürfnissen hat, die über die rein biologischen hinausgehen. Einige dieser nichtbiologischen Bedürfnisse sind »wahre Bedürfnisse (Dinge, die wir brauchen, um frei zu sein und damit es uns wirklich gut geht) – und dazu gehören zum Beispiel Bedürfnisse, die ihre Quelle in den legitimen, im nicht-entfachten amour propre gründenden Bestrebungen haben, eine anerkannte Stellung für andere einzunehBeurteilung der Legitimität sozialer Ungleichheiten | 195

men.168 Der Zweite Diskurs macht jedoch auch deutlich, dass, ist die Zivilisation der Menschen ihren primitivsten Anfängen entwachsen, die Menschen ihre neu entdeckte Muße dazu verwenden, Annehmlichkeiten und Luxusgüter zu schaffen, die sehr schnell als Bedürfnisse empfunden werden – als Dinge, auf die sie nicht ohne beträchtliches Missbehagen verzichten können. Und was noch wichtiger ist, der Zweite Diskurs lässt keinen Zweifel daran, dass der (entfachte) amour propre entscheidend dazu beiträgt, unsere Bedürfnisse – und folglich auch unsere Abhängigkeit – zu steigern, insofern (um erst einmal nur das Bedürfnis, Reichtümer anzuhäufen, in den Blick zu nehmen) der Besitz von Dingen und ihre Zuschaustellung vor anderen leicht die Bedeutung annehmen kann, unseren eigenen höheren Wert in Beziehung zu anderen öffentlich vorzuführen. (Das ist, wie wir unten sehen werden, der Grund dafür, warum es für Rous­seau so wichtig ist, die Ungleichheit des Reichtums zu begrenzen und damit ihre Fähigkeit zu zähmen, den entfachten amour propre zu erzeugen und seinen Zwecken zu dienen. Es geht ihm ja nicht nur darum, die Freiheit sicherzustellen, sondern auch darum, die legitimen Wünsche der Bürger zu befriedigen, von anderen geachtet zu werden, und so ihr wirkliches Glück und Wohlergehen zu fördern.) Gleichzeitig sind materielle Dinge nicht immer das Objekt all jener Bedürfnisse, die vergesellschaftete Geschöpfe dazu bewegen, nach Kooperation zu streben. Da der amour propre in erster Linie die gute Meinung anderer sucht, gibt es viele Wege, die von ihm erzeugten Bedürfnisse zu befriedigen, und nicht alle davon setzen auf materiellen Reichtum. Die Suche nach Liebe, Bestätigung, Beifall, Ehre oder Ruhm mag den Erwerb von Reichtümern in ihre Strategie zur Erreichung dieser Ziele einschließen, aber es gibt keinen Grund zu meinen, dies müsse so sein, und selbst wenn dem so ist, wäre Reichtum nur rein als Mittel zum Zweck von Bedeutung und würde allein deshalb geschätzt, weil er das letztendliche Ziel des amour propre, sich die Wertschätzung und Achtung anderer zu erwerben, zu sichern hilft. Jedenfalls müssen wir im Auge behalten, dass diejenigen Aspekte der Abhängigkeit der Menschen, die ihre Quelle im amour propre haben, ebenfalls erheblich daran beteiligt sind, uns von anderen abhängig zu machen und unsere Freiheit zu gefährden, und das sogar dann, wenn der Besitz materieller Dinge 196 | Kapitel 4 

darin nicht involviert ist : Wenn ich zum Beispiel von mir glaube, ich bräuchte Ihre gute Meinung von mir, kann ich schnell versucht sein, so zu handeln, wie Sie das von mir wollen, und mich nicht so zu verhalten, wie ich das will, und dieser Versuchung zu erliegen bedeutet, Ihrem Willen zu gehorchen, statt dem meinen zu folgen. Wie meine Bemerkungen oben andeuten, lässt sich Rous­seaus Kritik an der Ungleichheit unmöglich rekonstruieren, ohne einen Unterschied zwischen wahren und falschen (oder bloß eingebildeten) Bedürfnissen anzuführen, das heißt zwischen dem, was wir brauchen, um frei und wirklich gut dazustehen, einerseits und dem, was wir als Bedürfnisse erleben, obwohl deren Befriedigung nicht zu unserer Freiheit oder unserem Wohlbefinden beiträgt andererseits. Bei Letzteren handelt es sich um Bedürfnisse, ohne die wir besser dastünden, da sie unsere Abhängigkeit erhöhen und damit die Chance, unfrei zu werden, ohne dass sie etwas zu unserem Wohlbefinden oder unserer Freiheit beisteuerten. Wie ich in früheren Kapiteln schon behauptet habe, verfügt Rous­seau über die Mittel, um zwischen wahren und falschen Bedürfnissen zu unterscheiden  – auch wenn er es tatsächlich nicht sehr sorgfältig tut – doch die Bedürfnisse, die in seiner Erklärung unserer Abhängigkeit und der Bedrohung, die sie für unsere Freiheit darstellt, figurieren, schließen auch solche ein, von denen wir, ob zum Guten oder zum Schlechten, glauben, wir könnten ohne sie nicht auskommen. Die Bedürfnisse, die Rous­seau in seiner Darlegung der von der Abhängigkeit ausgehenden Gefahren anführt, sind, mit anderen Worten, eingebildete Bedürfnisse, ob es sich dabei nun um wahre oder falsche handelt. (Allerdings sollte man nicht vergessen, dass seine umfassende Abhilfe gegen diese Gefahren sich nicht nur auf die Reduktion von Gleichheit stützt, sondern auch darauf, subjektive Veränderungen in den Individuen auszulösen, so dass ihre eingebildeten Bedürfnisse stärker mit ihren wahren Bedürfnissen übereinstimmen.) Um den Konflikt zwischen Abhängigkeit und Freiheit zu verstehen, müssen wir nicht eine objektive Qualität der Bedürfnisse postulieren, etwa die, dass sie tatsächlich für das Wohlbefinden unerlässlich sind, dazu genügt ihr subjektiver Charakter  – wie sie erlebt werden und das Verhalten ihrer Trägersubjekte beeinflussen. Alle eingebildeten Bedürfnisse, ob sie Beurteilung der Legitimität sozialer Ungleichheiten | 197

nun wahr oder falsch sind, haben, solange sie von ihren Trägern als Bedürfnisse erlebt werden, das Potential, Abhängigkeit zu erzeugen. Dass die Unterscheidung zwischen wahren und falschen Bedürfnissen, auf die sich Rous­seau beruft, nicht gleichbedeutend mit der manchmal von ihm angeführten Unterscheidung zwischen natürlichen und künstlichen Bedürfnissen ist – »Bedürfnisse infolge Gewohnheit« (DU, 135 / OC III, 214) –, wobei »künstlich« beinhaltet, dass sie von Überzeugungen oder Meinungen abhängen statt allein von der Natur : diese Tatsache macht Rous­seaus Position beträchtlich komplexer. Denn wie oben angedeutet, tragen einige künstliche Bedürfnisse – solche, die beispielsweise vom nicht-entfachten amour propre ausgehen – positiv zu unserem echten Wohlbefinden bei, ja selbst dazu, die Grundlagen unseres Ichseins zu sichern. (Das ist schlicht nur ein weiterer Beleg dafür, dass Rous­seau »künstlich« als einen moralisch neutralen Ausdruck verwendet.) Obwohl es weitverbreitet ist, Rous­seau so zu lesen, als setze er künstliche mit falschen oder vermeintlichen Bedürfnissen gleich, ist dies ein schwerwiegender Fehler, denn das hieße, dass alle von amour propre hervorgerufenen Bedürfnisse – sämtliche Bedürfnisse nach Wertschätzung und Achtung gleich welcher Art – falsche Bedürfnisse wären, ohne die wir besser dastünden. Während es zutrifft, dass der menschlichen Existenz weniger Gefahren drohten, wenn sie frei wäre von den Bedürfnissen, die der amour propre erzeugt, macht Rous­seaus Auffassung von der wahren Natur des Menschen im erweiterten Sinn deutlich, dass unsere Existenz, fehlten sie ganz und gar, auch unvorstellbar arm wäre.169 Es lohnt sich hier einen Moment innezuhalten und sich klarzumachen, warum Rous­seau dem amour propre sehr viel mehr Gewicht beilegt als den biologischen Bedürfnissen, wenn er die freiheitsgefährdenden Folgen der Abhängigkeit erklärt. Vermutlich gibt es dafür mehrere Gründe, doch die meisten lassen sich auf die Tatsache zurückführen, dass Meinungen, seien es die eigenen oder die anderer, in den Bestrebungen des amour propre eine wesentliche Rolle spielen. Wie wir im zweiten Kapitel gesehen haben, besteht das vom amour propre erstrebte Gut hauptsächlich in den Meinungen – den günstigen Meinungen – anderer. Sich Wertschätzung zu wünschen ist einfach der Wunsch, von den anderen als ein wertvol198 | Kapitel 4 

les Geschöpf betrachtet zu werden. Da der amour propre im Prinzip nicht ohne die Beteiligung anderer befriedigt werden kann  – ja, nicht ohne auf ihre Freiheit zu bauen170 –, besteht zwischen dem amour propre und der Abhängigkeit eine notwendige und direkte Verbindung, während diese Verbindung im Falle des amour de soimême indirekt und kontingent ist, denn dessen Bedürfnisse lassen sich, wie der erste Teil des Zweiten Diskurses zu zeigen behauptet, im Prinzip auch von isoliert lebenden Geschöpfen befriedigen. Solange der amour propre in der Welt existiert, wird Abhängigkeit ein dauerhaftes Kennzeichen menschlicher Beziehungen sein. Zweitens sind, wie wir ebenfalls im zweiten Kapitel sahen, Meinungen  – in diesem Fall die von anderen ebenso wie die eigenen – wesentlich daran beteiligt festzulegen, wo und wie man versucht, seinen amour propre zu befriedigen. Eine Folge davon ist, dass der amour propre fähig ist, nahezu alle Tätigkeiten des Lebens zu durchdringen, einschließlich derjenigen, die ursprünglich vom amour de soi-même motiviert sind, sie mit seiner Bedeutung auszustatten und in den Dienst seiner Zwecke zu stellen. Geschöpfe, die vom amour propre ergriffen sind, kennen praktisch keinen Aspekt des Lebens, der von ihrer Sorge darum unberührt bliebe, wie sie im Verhältnis zu anderen abschneiden. Das bedeutet : In Gegenwart des amour propre nehmen selbst die unserer biologischen Natur entspringenden Bedürfnisse eine Bedeutung an, die eng mit dem Bedürfnis nach Anerkennung verknüpft ist, und die Fähigkeit dieser Leidenschaft, sich nahezu jedem Aspekt unseres Handelns aufzudrängen, ist entscheidend für Rous­seaus Darlegung ihres Potentials, sich verheerend auf die menschlichen Angelegenheiten auszuwirken. Dieser Punkt ist, wie schon im zweiten Kapitel gesagt, wesentlich dafür, wie im Zweiten Diskurs der Ursprung des Privateigentums erklärt wird und warum es so viel Unheil anrichtet, sobald es die Bühne betreten hat : Ist es erst einmal üblich geworden, seinen eigenen Wert für andere in den Dingen zu spiegeln, die man besitzt, werden selbst die Güter des alltäglichen Lebens nicht mehr primär als Mittel der Behaglichkeit und des Überlebens geschätzt. Sie werden vielmehr zu Objekten, die man besitzt, hortet und vor den Augen anderer zur Schau stellt. Wenn die Meinung sich in die Entstehung der Bedürfnisse einmischt, die wir zu haben glauben, hören unsere Bedürfnisse auf, von der Natur begrenzt zu Beurteilung der Legitimität sozialer Ungleichheiten | 199

werden, und erwerben das Potential zur schier endlosen Vervielfältigung, sowohl der Art als auch der Quantität nach. So viel zum ersten Teil der Rous­seau’schen These, soziale Ungleichheit gefährde die Freiheit (bezogen auf den freiheitsgefährdenden Charakter der menschlichen Abhängigkeit generell). Die Bedrohung, die von der Abhängigkeit für die Freiheit ausgeht, wird noch deutlich verschärft, wenn das zweite Element aus Rous­seaus Darlegung, die soziale Ungleichheit, in das Bild hineingenommen wird. Auch in diesem Fall ist der Gedanke verhältnismäßig einfach : Dass Abhängigkeit zu einem anhaltenden Verlust der Freiheit führt, ist weitaus weniger wahrscheinlich, wenn sich wechselseitig voneinander abhängige Geschöpfe von gleich zu gleich begegnen, als wenn eine Seite von Anfang an gegenüber der anderen besser aufgestellt ist, weil sie reicher, mächtiger oder sonst wie sozial bevorteilt ist. Dies ist, wie wir weiter unten detaillierter untersuchen werden, die Grundlage für Rous­seaus Ratschlag im Gesellschaftsvertrag hinsichtlich der Grenzen erlaubter Ungleichheiten, dass »kein Staatsbürger so reich sein darf, um sich einen anderen kaufen zu können, noch so arm, um sich verkaufen zu müssen« (GV, II.11). Es ist lehrreich, an dieser Stelle noch einmal auf die im vorherigen Kapitel erwähnte Einsicht von Smith zurückzukommen : Gerade weil es für die Arbeiter dringender ist, zu essen, als für ihre Arbeitgeber, Profite zu machen  – gerade weil jene innerhalb der Abhängigkeitsbeziehungen eine schlechtere Position haben – enden Auseinandersetzungen über die Bedingungen, unter denen sie schuften müssen, fast immer damit, dass sie sich dem Willen ihrer Arbeitgeber beugen. Soziale Ungleichheit wird, mit anderen Worten, dann gefährlich, wenn sie die Fähigkeit einiger, der Benachteiligten, bedroht, ihrem eigenen Willen statt dem der Bevorteilten zu folgen. Obgleich man leicht auf den Gedanken verfallen könnte, die Kritik des Zweiten Diskurses an der Ungleichheit richte sich ausschließlich gegen die ökonomische Ungleichheit, sollten wir dennoch nicht die Tatsache aus dem Blick verlieren, dass er auch andere Formen der sozialen Ungleichheit als gefährlich zeichnet. Das stimmt damit überein, wie Rous­seau anfänglich die moralische Ungleichheit definiert. In diese Kategorie schließt er »die verschiedenen Privilegien« ein, »wie etwa reicher, angesehener, mächtiger zu sein als andere und gar Gehorsam von ihnen verlangen zu 200 | Kapitel 4 

können« (DU, 77 / OC III, 131). Neben der Ungleichheit des Reichtums bilden daher Unterschiede im Ansehen, in der sozialen Macht und der Fähigkeit, Gehorsam von anderen verlangen zu können (Herrschaft)171 den Gegenstand der Kritik des Zweiten Diskurses, und sie tun es deshalb, weil sie allesamt die Freiheit – und wie wir unten sehen werden auch das Wohlergehen – derjenigen bedrohen, die ihnen ausgesetzt sind. Mit anderen Worten : Es ist nicht nur der Reichtum, der anderen erfolgreich befehlen kann, auch Berühmtheiten gelingt es oft, anderen ihren Willen aufzuzwingen, jedenfalls solange es weniger angesehene Individuen gibt, die glauben ihre eigene Stellung in den Augen anderer aufwerten zu können, indem sie sich selbst den Berühmten andienen. Schlussendlich können wir deutlicher die Strategie erkennen, die Rous­seau in seiner Antwort auf das Pro­blem verfolgt, wenn wir die beiden Elemente unterscheiden, die darlegen, wie das gesellschaftliche Leben unsere Freiheit gefährden kann – indem wir sehen, dass beide, Abhängigkeit und Ungleichheit, notwendig sind, um diese Gefahr zu erklären. Da Abhängigkeit im Allgemeinen für die menschliche Existenz grundlegend ist und ihre Abschaffung nahezu alles beseitigen würde, was unsere Lebensführung zu einer erkennbar menschlichen macht, sollte eine gute Gesellschaft – falls eine solche möglich ist – Unabhängigkeit nicht aufheben, sondern sie mithilfe von Gesetzen und sozialen Institutionen umgestalten. Es kann also nur darum gehen, das einzuschränken, was sich einschränken lässt, ohne dabei den wesentlichen Interessen der Menschen zu schaden, und das bedeutet, substantielle Ungleichgewichte hinsichtlich von Reichtum, Ansehen und Macht zu beschneiden. Soziale Ungleichheit und Wohlergehen : Folgen des entfachten amour propre

Ich wende mich nun dem zweiten, im Zweiten Diskurs geliefer­ten Grund zu, warum wir uns über soziale Ungleichheit Sorgen machen sollten, dass sie nämlich das umfassend verstandene Wohl­ergehen derjenigen bedrohen, die sich in sozial ungleichen Beziehungen befinden. Die Verbindung, die Rous­seau zwischen Ungleichheit und Wohlergehen zieht, ist verwickelter als die entsprechende zur Beurteilung der Legitimität sozialer Ungleichheiten | 201

Freiheit. Das liegt hauptsächlich daran, dass Wohlergehen  – frei sein von Schmerzen, enttäuschten Wünschen und unbefriedigten Bedürfnissen – ein heterogeneres Gut ist als Freiheit und folglich empfänglich für eine entsprechend größere Anzahl kausaler Beziehungen zu den verschiedenen Formen sozialer Ungleichheit. Erhöht wird die Komplexität des Themas noch durch die Tatsache, dass es natürlich scheint, zwischen zwei Hauptklassen von Ungleichheit zu unterscheiden – Ungleichheit des materiellen Reichtums und Ungleichheiten des Ansehens und der Wertschätzung – und zu erwarten, dass sie sich unterschiedlich auf das Wohlergehen der Gesellschaftsmitglieder auswirken. Selbst wenn sich die Ungleichheit des Reichtums in den meisten Gesellschaft unmittelbar in eine des Status oder der Wertschätzung übersetzt – Reichtum verleiht unmittelbar Prestige, so wie der Mangel daran eine niedrige soziale Stellung anzeigt  –, scheint die Unterscheidung sinnvoll zu sein, denn erstens gibt es viele Typen von ungleicher Wertschätzung, die von einer Ungleichheit des Reichtums unabhängig sind, und zweitens ist Reichtum mit nicht-relativen Aspekten des Wohlergehens, deren Ursprung im amour de soi-même liegt, insbesondere mit lebensnotwendigen, materiellen Bedürfnissen, unmittelbarer verbunden als Systeme sozialer Anerkennung, die nicht auf der ökonomischen Stellung beruhen. Aufgrund der besonderen Beziehung zwischen materiellem Wohlstand und lebenswichtigen Bedürfnissen – während Unterschiede im Ansehen für das »moralische« Bedürfnis nach einer anerkannten Stellung sehr relevant zu sein scheinen – scheint es plausibel, dass die beiden Typen von Ungleichheit sich unterschiedlich auf das Wohlergehen der Individuen auswirken. Tatsächlich beruht die Hauptverbindung, die Rous­seau z­ wischen sozialer Ungleichheit und dem verringerten Wohlergehen der Gesellschaftsmitglieder in Anschlag bringt, nicht sehr stark auf der Unterscheidung zwischen ökonomischer Ungleichheit einerseits und Ungleichheiten des Ansehens oder der Wertschätzung andererseits. Sich klarzumachen, warum dem so ist, ist unerlässlich, um zu verstehen, worum es in Rous­seaus Kritik der Ungleichheit geht. In der Behandlung der ökonomischen Ungleichheit lautet die einschlägige These nicht – und das ist wichtig –, dass Armut, gemessen an einem absoluten Maßstab, Wohlergehen schmälert, weil 202 | Kapitel 4 

arm sein heißt, viele der eigenen Bedürfnisse und Wünsche nicht befriedigen zu können. Das ist zweifellos wahr, und Rous­seaus Theo­rie erkennt Armut als ein gravierendes Übel an (DU, 269 /  OC III, 194), aber der Hauptgegenstand seiner Kritik ist nicht Armut (absolut gemessen), sondern Ungleichheit. Wir müssen diese beiden Vorstellungen auseinanderhalten, indem wir uns vergegenwärtigen, dass jemand am unteren Ende einer ungleichen Verteilung stehen kann, ohne dass er in dem Sinn arm ist, dass seine Grundbedürfnisse unbefriedigt bleiben. Mit anderen Worten : Armut ist – zumindest in einem Sinn, den wir oft dem Wort verleihen – bezogen auf absoluten Mangel definiert, während Ungleichheit ein in sich relatives Phänomen ist.172 Wenn es die Ungleichheit ist, die der Zweite Diskurs kritisieren möchte, dann muss er in seiner Thematisierung der ökonomischen Ungleichheit die Frage aufwerfen, ob ein starkes Wohlstandsgefälle seinerseits das Wohlergehen  – oder die Freiheit  – der Gesellschaftsmitglieder bedroht, und das selbst dann, wenn jedermanns materielle Grundbedürfnisse erfüllt­ werden. Rous­seaus These lautet, dass substantielle Wohlstandsgefälle auch dann, wenn niemand arm ist, dem Wohlergehen der Gesellschaftsmitglieder abträglich sind, und das nicht nur für diejenigen, die am schlechtesten dastehen.173 Wenn laut Voraussetzung niemand in einer bestimmten Gesellschaft (absolut) arm ist, aber dennoch substantielle Ungleichheiten des Reichtums existieren, dann kann das Pro­blem, für das Rous­seau sich interessiert, nicht in dem Versagen der Gesellschaftsmitglieder liegen, die Grundbedürfnisse des amour de soi-même zu befriedigen ; vielmehr muss es in dem Versagen gesucht werden, andere Bedürfnisse und Wünsche zu stillen, und es wird wohl niemanden mehr verblüffen, dass sogar hier das Hauptpro­blem die relativen Bedürfnisse und Wünschen betrifft, die vom amour propre ausgehen, vor allem in seinen entfachten Äußerungen. Hinsichtlich der widrigen Folgen, die von der ökonomischen Ungleichheit für das Wohlergehen ausgehen, behauptet Rous­seau daher vor allem, dass substantielle Ungleichheit des Reichtums es den Gesellschaftsmitgliedern erschwert, ihren Wunsch – und ihr Bedürfnis – nach einer anerkannten Stellung in den Augen anderer zu befriedigen, ein Zweck, der für das Wohlergehen der Menschen bestimmend ist. So gesehen unterscheiden Beurteilung der Legitimität sozialer Ungleichheiten | 203

sich die Hauptauswirkungen, die der ökonomischen Ungleichheit auf das Wohlergehen anzulasten sind, nicht sehr stark von denjenigen, die den Ungleichheiten in Formen der öffentlichen Wertschätzung zuzuschreiben sind, welche nicht vom materiellen Reichtum abhängen. Wenn wir uns auf Ungleichgewichte im Ansehen oder der Wertschätzung konzentrieren, einschließlich derjenigen, die aus Unterschieden im Reichtum folgen, erkennt man schnell, wie Ungleichheit enttäuschte Wünsche und unbefriedigte Bedürfnisse (ausgelöst durch den amour propre) erzeugt und damit das Wohlergehen der Gesellschaftsmitglieder verringert. Da der amour propre relativ ist – denn der Vergleich damit, wie gut es anderen geht, ist dem von ihm erstrebten Zweck inhärent –, sind Ungleichheiten im Ansehen oder in der Wertschätzung sehr viel unmittelbarer mit dem Unglücklichsein und den unbefriedigten Bedürfnissen der Benachteiligten verbunden als in dem Fall, in dem Ungleichheiten den Zugang zu den vom amour de soi-même gesuchten nicht-relativen Gütern wie Fortbestand, Gesundheit und Schmerzlosigkeit betreffen. Denn im ersten Fall führt der Umstand, dass ein anderer besser dasteht als ich oder mehr geschätzt wird, unmittelbar dazu, dass ich weniger gut dastehe bzw. weniger geschätzt werde, jedenfalls solange ich die für mich erstrebte Wertschätzung daran messe, wie gut meine Stellung verglichen mit der eines anderen ist. Wenn ich es beispielsweise darauf anlege, als bester Gärtner in der Nachbarschaft zu gelten und Sie mich in dieser Hinsicht ausstechen, dann ist die daraus resultierende Ungleichheit in der Wertschätzung eben eine Enttäuschung meines Wunsches, während die gelungene Befriedigung meiner Nahrungsbedürfnisse keinerlei notwendige Folgen dafür hat, wie viel Nahrungsmittel oder Getränke Ihnen zur Verfügung stehen. Dasselbe trifft in allen Gesellschaften, die wie die unsrige Reichtum als einen Gradmesser für Status oder Wert nehmen, auf die Unterschiede im Reichtum zu : Am unteren Ende der ökonomischen Leiter zu stehen wird typischerweise als demütigend empfunden (und so auch von denen gesehen, die nicht unten stehen), wodurch es den am meisten Benachteiligten unmöglich gemacht wird, ihren Wunsch nach öffentlicher Wertschätzung zu erfüllen. Sogar wenn wir das Argument der Egalitätskritiker einräumen, dass in den uns bekannten Gesellschaften das Demü204 | Kapitel 4 

tigende an solchen Situationen weitgehend das Armsein ist – nicht imstande zu sein, ein anständiges Leben zu führen, in dem die eigenen grundlegenden Bedürfnisse befriedigt werden – und nicht so sehr der Umstand, dass man gegenüber anderen benachteiligt ist, 174 scheint klar zu sein, dass auch dann, wenn niemand arm ist, substantielle Ungleichheiten des Reichtums dazu neigen, zu den entsprechenden Ungleichheiten in der sozialen Wertschätzung zu führen, die es den Schlechtergestellten schwer machen, ihren berechtigten Wunsch nach einer anerkannten Stellung zu befriedigen, und somit eine generelle Bedrohung für das Wohlergehen der Gesellschaftsmitglieder darstellen. Rous­seaus Diagnose der Bedrohung, die von der sozialen Ungleichheit für unsere Fähigkeit, die Bedürfnisse und Wünsche des amour propre zu befriedigen, und damit für unser Wohlergeben ausgeht, ist jedoch viel komplexer und beschränkt sich nicht darauf, diese einfache Entsprechung von Benachteiligung (was Reichtum und Status betrifft) und enttäuschten Wünschen (nach Wertschätzung oder Achtung) zu konstatieren. Ihr wohl interessantester Befund ist die in dieser Hinsicht wichtigste These des Zweiten Diskurses, dass Gesellschaften, in denen eine substantielle soziale Ungleichheit herrscht, dazu neigen, in ihren Mitgliedern das auszulösen, was ich den entfachten Wunsch nach öffentlicher Wertschätzung genannt habe, also einen Wunsch, der, wird er von den Individuen weitgehend geteilt, eine allgemeine Erfüllung des amour propre unmöglich macht und so notwendig Enttäuschung, Zwietracht und unbefriedigte Bedürfnisse nach sich zieht. Anders gesagt : Seine faszinierendste Einsicht ist die, dass substantielle soziale Ungleichheiten sich auf allen Ebenen der Gesellschaft destruktiv auf die Bildung der Subjektivität ihrer Mitglieder auswirken und so ernste Hindernisse für ihr Glück, die Befriedigung ihrer berechtigten oder wahren Bedürfnisse nach Wertschätzung oder Respekt, darstellen – aber auch, wie er meint, für die Fähigkeit, der Entfremdung zu entgehen. Obwohl Rous­seau das Wort »entfacht« im Zweiten Diskurs nicht verwendet,175 spricht er von »zügellosen«, »aufgereizten« und »heftigen« Wünschen, Ausdrücke, die er ausgiebig verwendet, wenn er die im zweiten Teil geschilderten sozialen Übel beschreibt (DU, 115, 223, 257 / OC III, 176, 189, 203). Wenn er sich solcher Ausdrücke Beurteilung der Legitimität sozialer Ungleichheiten | 205

bedient, denkt Rous­seau zweifellos an Platons Politeia, in der zu Beginn der Diskussion über Gerechtigkeit die gesunde Polis einer »fiebrigen« gegenübergestellt wird.176 Ähnlich wie Rous­seau verortet Platon die Quelle des Fiebers, von dem die Gesellschaft befallen ist, in den fieberhaften Wünschen ihrer Mitglieder, die über die Grundbedürfnisse des Menschen  – Nahrung, Kleidung, Unterkunft – hinausgehen und Bequemlichkeiten und Luxusgüter begehren, darunter auch der Wunsch nach »unbegrenztem Erwerb von Reichtümern«, der mutmaßlich darin gründet, dass der Wunsch nach Bequemlichkeit und Luxus selbst schrankenlos und damit nicht mehr zu befriedigen ist.177 Man könnte sagen, dass sowohl für Platon als auch für Rous­seau das Fieber der Gesellschaft ausgelöst wird von den fiebrigen Wünschen. Wenn Rous­seau von fiebrigen Wünschen (E, 439 f. / OC IV, 489 f.) spricht, denkt er an Wünsche, die zu einer ungesunden Erhitzung und Erregung führen – sie sind »aufgereizt« –, und an Wünsche, die schrankenlos sind und anfällig dafür, unkontrollierbar zu werden und damit »zügellos«. Wie ich schon sagte, lautet eine Hauptthese des Zweiten Diskurses, dass alle fiebrigen (oder entfachten) Wünschen in einer menschlichen Leidenschaft wurzeln, im amour propre (DU, 257 / OC  III, 189)  – oder, um präziser zu sein, in den entfachten Formen, die er leicht unter den meisten sozialen Bedingungen annimmt. Was nach Rous­seaus Verständnis als entfachter amour propre gilt, ist höchst kompliziert178, und es gibt unterschiedliche Hinsichten, in denen der Wunsch, von anderen geschätzt zu werden, sozial destruktiv und damit entfacht werden kann. Beispielsweise kann der Wunsch, die Billigung anderer zu gewinnen, so heftig sein, dass man bereit ist, nahezu alles dafür zu tun, bis dahin, sogar seine Freiheit oder sein Glück dafür zu opfern. Es könnte einem aber auch so viel daran liegen, was andere von einem denken, dass man es für ebenso wünschenswert hält, als billigenswert zu erscheinen, wie tatsächlich die Eigenschaften zu besitzen, die einen wirklich der Billigung wert machen. Eine andere Möglichkeit ist die, dass die Wünsche des amour propre sämtliche Lebensäußerungen befallen und buchstäblich alles, was man tut – essen, arbeiten, spielen, ja sogar lieben – zur Suche nach der Wertschätzung anderer wird, statt Tätigkeiten zu sein, die man um ihrer selbst und der nicht-relativen Vergnügen willen genießt, die sie einem verschaffen. 206 | Kapitel 4 

(Oder, wie Rous­seau formuliert : Der amour propre kann uns verzehren (DU, 257 / OC III, 189). Schließlich kann die Selbstachtung – die Fähigkeit, damit glücklich zu sein, wer man ist, oder sich eines »Gefühls der eigenen Existenz« zu erfreuen – zu sehr von der guten Meinung anderer abhängen und folglich nicht einmal kurze Zeitspannen überdauern, wenn der billigende Blick anderer zeitweilig fehlt. (Diesen Zustand werde ich unten als Entfremdung bezeichnen.) Für die gegenwärtigen Zwecke – denn es ist ja vor allem das Pro­blem der Ungleichheit, das uns interessiert – genügt es jedoch, sich auf die Äußerung des entfachten amour propre zu konzentrieren, die im Zweiten Diskurs am meisten heraussticht : der Wunsch, anderen gegenüber als überlegen zu gelten.179 Der Gedanke, der weitverbreitete Wunsch innerhalb der Gesellschaft eine überlegene Stellung einzunehmen, sei eine wichtige Quelle sozialer Übel, hat seinen Ursprung sicherlich nicht im Zweiten Diskurs  – schon in der Hobbes’schen Sicht auf den Naturzustand als Kriegszustand liegt er vor –,180 aber Rous­seau liefert eine weitaus umfassendere und nuancenreichere Darlegung dieses Pro­blems als irgendein Philosoph vor ihm. Wird Erfolg als das Erlangen einer überlegenen Stellung definiert, löst der weitverbreitete Wunsch nach Überlegenheit das offensichtliche Pro­blem aus, dass eine Befriedigung des amour propre für alle unmöglich ist : Wenn jeder einen überlegenen Rang erstrebt, wird Wertschätzung zu einem knappen Gut, und anstatt für alle zugänglich zu sein, wird sie zu einem Objekt unaufhörlicher Konkurrenz, von Zwietracht und ungestillten Wünschen – mit anderen Worten zur Quelle anhaltender Unzufriedenheit. Eine weitere Schwierigkeit liegt in der Dynamik des »mit den Müllers mithalten«. Das Pro­ blem erklärt sich durch die Tatsache, dass eine einmal erlangte Stellung der Überlegenheit dazu neigt, so lange eine ungesicherte zu sein, wie sie in Beziehung auf andere erlangt ist, die dasselbe anstreben. Um den Konkurrenten auszustechen, der mich gerade übertrumpft hat, oder um den Vorteil zu festigen, dessen ich mich jetzt erfreue, muss ich ständig daran arbeiten, meine Stellung auszubauen. In solch einer Situation stellt sich bei den Individuen das schrankenlose Bedürfnis ein, ihre eigene Position als Reaktion auf oder in Erwartung der Fortschritte ihres Rivalen zu verbessern, was zu einem endlosen Überbietungswettstreit führt. Aus diesem Beurteilung der Legitimität sozialer Ungleichheiten | 207

Grund sind Konkurrenz und Streit in einer fiebernden Gesellschaft so weitverbreitet – und darum schreibt Rous­seau, dass der »Drang nach Ruf … alle Menschen zu Konkurrenten, Rivalen oder … Feinden macht« (DU, 257 / OC III, 189) –, aber auch die Fähigkeit, sich der guten Dinge zu erfreuen, die sie bereits besitzen, nimmt dabei Schaden. Denn zum einen ist die einzige Befriedigung, die der amour propre findet, eine bloß zeitweilige und ungesicherte, und zum anderen werden, sobald wir uns in diese Dynamik verstrickt haben, unsere Wünsche, in den Besitz der Dinge und der persönlichen Eigenschaften zu gelangen, von denen wir hoffen, damit die gute Meinung anderer auf uns zu lenken, grenzenlos, und das auf eine unserem Glück abträgliche Weise. Das liegt daran, dass solche beständig sich ausweitenden Wünsche ihre Träger dazu verleiten, ungeheuer viel Energie in die Jagd nach Gütern und Ehren zu stecken, die ihren Drang nach Überlegenheit zu befriedigen versprechen, allerdings mit dem Ergebnis, dass die zur Erlangung dieser Güter aufgewendete Arbeit fast immer die Befriedigung übertrifft, die man tatsächlich daraus zieht. Der Wunsch nach einer überlegenen Stellung vermag nicht nur Streit, Unzufriedenheit und unerfüllte Bedürfnisse zu erzeugen, sondern auch Untugenden wie Unaufrichtigkeit, Heuchelei, Arglist, Verstellung (DU, 221 / OC III, 175). Die zwei für das allgemeine Wohlergehen der Gesellschaftsmitglieder relevantesten Untugenden sind die Neigungen, anderen zu schaden und sie zu beherrschen. Beide lassen sich Rous­seau zufolge nur durch den entfachten Wunsch erklären, in Bezug auf diejenigen, denen man schaden oder die man beherrschen möchte, eine überlegene Stellung zu erlangen. Liegt ein solcher Wunsch nicht vor, würde das natürliche Mitleid uns normalerweise davon abhalten, unseren Mitmenschen zu schaden oder sie zu beherrschen, doch leider ist  – wie Rous­ seau mehr als einmal bemerkt – das natürliche Mitleid verhältnis­ mäßig schwach und leicht aus dem Feld zu schlagen, wenn der entfachte amour propre uns in die entgegengesetzte Richtung drängt. Der Wille, jemandem zu schaden, kann natürlich darauf aus sein, anderen körperliches Leid zuzufügen, in der »zivilisierten« Gesellschaft tritt er jedoch häufiger in Gestalt des Wunsches auf, anderen psychisches oder moralisches Leid zu verursachen, indem er durch Hohn und Verachtung diejenigen demütigen oder »klein machen« 208 | Kapitel 4 

will, über die er sich erheben möchte. In beiden Fällen führt der Wille, jemandem zu schaden, zu mehr Schmerz und Leid – und damit zu weniger Glück – unter den Mitgliedern der Gesellschaft. Ob wir nun über körperlichen oder psychischen Schaden reden, das entscheidende dabei ist, dass die Fähigkeit zivilisierter Geschöpfe, den Willen zu haben, anderen Schaden zuzufügen, darauf beruht, dass der amour propre seiner Natur nach auf Vergleiche aus ist und leicht die Form des Wunsches nach Überlegenheit annimmt : Wenn ich mein gut Dastehen danach bestimme, dass ich besser als ein anderer dastehe, dann kann ich mein Wohl entweder durch die Verbesserung meiner eigenen Lage fördern oder aber dadurch, dass ich, was oft leichter auszuführen ist, die des anderen verschlechtere. Vor diesem Hintergrund ist Rous­seaus These zu verstehen, dass »der Eifer ihr relatives Vermögen zu vermehren – weniger aus echtem Bedürfnis als um sich über die anderen zu setzen – allen Menschen die dunkele Neigung [eingibt], sich gegenseitig Schaden zuzufügen (DU, 221 / OC III, 175)«181. Mit dieser Erkenntnis glaubt er von sich, eine künstliche Quelle des menschlichen Leids entdeckt zu haben, die weitaus folgenreicher für unser Glück ist als die Unglücksfälle, die uns die Natur beschert. Der Wille, andere zu beherrschen, lässt sich ähnlich erklären. Statt darin einen grundlegenden Trieb der Natur des Menschen zu sehen, erhebt Rous­seau die Herrschsucht zu einer allgemein vorkommenden, aber keineswegs notwendigen Entstellung des amour propre. Möglich ist dies, weil Rous­seau diese Neigung an der Wurzel eines Wunsches nach Anerkennung einer Art von überlegener Stellung ausmacht : Herr über den Willen anderer zu sein ist eine Weise, seinen höheren Rang in den Augen anderer, sowohl der Beherrschten als auch der Zeugen dieser Herrschaftsausübung, bestätigt zu sehen : Wenn es mir gelingt, Sie öffentlich sichtbar dazu zu bringen, das zu tun, was ich will, können Sie und alle um uns herum bezeugen, dass ich Ihnen gegenüber eine überlegene Stellung einnehme. Auch hier muss man sehen, dass Rous­seau auf eine zentrale These von Hobbes antwortet : »So halte ich an erster Stelle ein fortwährendes und rastloses Verlangen nach immer neuer Macht für einen allgemeinen Trieb der gesamten Menschheit, der nur mit dem Tode endet.«182 Und das schließt die Macht über andere Menschen ein. Wieder einmal hält Rous­seau sich zugute, im amour Beurteilung der Legitimität sozialer Ungleichheiten | 209

propre die künstliche Quelle dessen entdeckt zu haben, was viele Philosophen für einen festen Bestandteil der Natur des Menschen gehalten haben (DU, 79 / OC III, 132).183 Letztlich mag Rous­seau sich irren, wenn er annimmt, alle Fälle des Willens, andere zu beherrschen, ließen sich bei Menschen auf den Wunsch des amour propre nach öffentlicher Wertschätzung zurückführen, aber dennoch hat seine Ansicht den Vorteil, dass sie zu erklären vermag, warum es oft so scheint, als strebten Menschen Macht über andere als einen Zweck an sich an und nicht bloß als ein Allzweckmittel, das uns in die Lage versetzt, unsere anderen nicht-relativen Bedürfnisse und Wünsche zu befriedigen. Nach Rous­seaus Auffassung sucht der Mensch in erster Linie nicht deshalb, andere zu beherrschen, weil es ihm hilft, andere Bedürfnisse zu befriedigen, etwa solche, die dem amour de soi-même entspringen. Sehr viel verbreiteter sei vielmehr der Grund, dass andere zu beherrschen leicht die Bedeutung annehmen kann, als der ihnen Überlegene anerkannt zu werden. In solchen Fällen wird Herrschaft nicht deshalb gewünscht, weil sie nützlich ist, um einen anderen Zustand zu erzeugen, sondern weil ihn zu erreichen eben das Erlangen einer Art von anerkanntem Rang ist, etwas, das wir als Geschöpfe des amour propre um seiner selbst willen erstreben. Im Gegensatz zu der Untugend, die in dem Willen, anderen zu schaden, besteht – und zur Schmälerung ihres Wohlergehens führt –, sollte der Wille, andere zu beherrschen, als eine entscheidende  – wiederum künstliche  – Quelle des im vorangegangenen Unterkapitel erörterten Übels betrachtet werden : Herrschaft. Tatsächlich lässt sich dieser Teil von Rous­seaus Ansicht der potentiellen Folgen des entfachten amour propre so deuten, dass er damit die psychologische Untermauerung seiner Darstellung dessen liefert, wie Abhängigkeit im Verbund mit sozialer Ungleichheit die Freiheit gefährdet, denn das erklärt, warum Individuen in solchen Beziehungen dazu kommen können, sich unter ihnen günstigen Umständen zu wünschen, andere zu beherrschen. Bevor wir nun weiter betrachten, wie soziale Ungleichheiten eine Ursache des entfachten Wunsches nach einer überlegenen Stellung sein können, der, wie soeben erörtert, das Wohlergehen der Menschen auf verschiedene Weise bedroht, lohnt es sich innezuhalten und ein weiteres Übel zu erwähnen, das für Rous­seaus Kritik 210 | Kapitel 4 

an der modernen Gesellschaft wichtig ist, aber sich nicht nahtlos in eine der beiden Kategorien von Übeln einfügt, die ich bislang unterstrichen habe : Herrschaft und verringertes Wohlergehen. Bei dem fraglichen Übel handelt es sich um das, was ich als Entfremdung bezeichnet habe, obwohl Rous­seau nie dieses Wort benutzt, um es zu beschreiben. Wie oben bemerkt charakterisiert Rous­seau Entfremdung in Bezug auf Individuen, die »außer sich« oder »nur in den Meinungen der anderen« leben, was dazu führt, dass sie »eher auf das Zeugnis anderer hin glücklich und selbstzufrieden zu sein verstehen, als auf das eigene hin« (DU, 265 / OC  III, 193). Diese Formulierungen bezeichnen ein Befinden, in dem es den Personen an jeglichen inneren Ressourcen der Selbstbestätigung fehlt und die daher unfähig sind, sich eines »Gefühls der eigenen Existenz« zu erfreuen, es sei denn, sie sind unablässig das Objekt des billigenden Blicks der anderen. Derartige Individuen leiden an einem außergewöhnlich schwachen Selbstwertgefühl, so dass sie verzweifelt danach suchen zu gefallen, gebilligt, wahrgenommen zu werden oder dieselben Gedanken zu hegen und dieselben Werte zu vertreten wie »alle anderen«. Dieses Befinden – man könnte es sogar als einen Mangel an ontologischer Selbständigkeit bezeichnen – lässt sich als eine Art von Knechtschaft betrachten und sich so besser in die obige Erörterung der Freiheit einfügen oder alternativ als Quelle eines Leidens, das das Wohlergehen der Person schmälert. Aber keine dieser Beschreibungen trifft den Sachverhalt genau. Man könnte Entfremdung als eine Hinsicht bezeichnen, in der eine Person unfrei ist, aber, falls dem so ist, handelte es sich um eine Art der Knechtschaft, die sich von der Beherrschung durch andere unterscheiden würde. Erkennbar wird das an der Tatsache, dass, da diese in einer Beziehung zu anderen besteht und jene in einer Beziehung zu sich selbst, es prinzipiell möglich ist, beherrscht zu werden, aber frei von Entfremdung zu sein, so wie es auch möglich ist, wenngleich weniger, frei von Herrschaft zu sein und zugleich entfremdet. Und mehr noch : Selbst wenn Entfremdung eine bestimmte Art seelischer Qual ist, so scheint es doch eine zu grundlegende Bedingung des Ichseins zu sein, dass man zum Teil die Quelle seines eigenen (moralischen) Seins ist, als dass ihr Fehlen einem ungestillten Wunsch oder einem unbefriedigten Bedürfnis gleichzustellen wäre. Ein weiterer Grund, warum EntfremBeurteilung der Legitimität sozialer Ungleichheiten | 211

dung sich nicht säuberlich in das von mir verwandte Interpreta­ tionsschema einpasst, ist vielleicht der, dass es schwieriger als im Fall der Herrschaft oder des verringerten Wohlergehens ist, ihre genauen Ursachen zu lokalisieren. So ist es beispielweise nicht einfach, den Hang zur Entfremdung auf eine einzige Ursache zurückzuführen – ein entfachter Wunsch nach einer überlegenen Stellung etwa liefert nicht aus sich heraus eine Erklärung für sie – oder ein Merkmal in der sozialen Welt auszumachen, das, änderte man es, das Phänomen verschwinden lassen würde. Nichtsdestoweniger betrachtet Rous­seau, meiner Ansicht nach zu Recht, Entfremdung als eine gravierende und häufige Pathologie moderner Gesellschaften, die unverkennbar mit der komplexen Dynamik einer in die Irre gegangenen Suche nach Anerkennung verknüpft ist, wie wir sie gerade erörtert haben. In dem Maße, in dem soziale Ungleichheiten an dieser allgemeinen Dynamik beteiligt sind, steigern sie zweifellos die Wahrscheinlichkeit von Entfremdung, auch wenn die Verbindung hier weniger durchsichtig ist als die anderen von mir betrachteten Folgen der Ungleichheit. Wie die Wirkungen des entfachten amour propre – eine künstlich produzierte Knappheit an Wertschätzung, unaufhörlicher Streit, Konkurrenzdynamik, schrankenlose Wünsche und die Neigung zu schaden und zu herrschen – das Wohlergehen der Gesellschaftsmitglieder negativ beeinflussen, ist nicht schwer zu erkennen. Doch nun ist es an der Zeit, Rous­seaus Hauptthese in diesem Teil seiner Kritik an der Ungleichheit zu betrachten, dass nämlich soziale Ungleichheiten sowohl hinsichtlich des Reichtums als auch des nicht ökonomisch bestimmten Rangs dazu beitragen, jene Übel hervorzubringen, insofern sie sich zerstörerisch auf die Bildung der Individuen auswirken und in ihnen die stark entfachten Äußerungen des amour propre erzeugen, die die fraglichen Übel aufkommen lassen und sie dann weiterhin befeuern. Die Behauptung, die uns zu einem Verständnis dieses Aspekts der Rous­seau’schen Position verhilft, liegt in einem Abschnitt des zweiten Teils im Zweiten Diskurs verborgen, der unmittelbar der oben zitierten längeren Beschreibung der fiebrigen Gesellschaft vorausgeht und in dem Rous­seau die »untrennbaren Folgen der aufkeimenden Ungleichheit« thematisiert :

212 | Kapitel 4 

Alle unsere Fähigkeiten sind jetzt entwickelt,  … der amour propre ist geweckt, der Verstand tätig, der Geist hat bald den Gipfel der ihm möglichen Vollendung erreicht. Alle unsere natürlichen Eigenschaften finden ihre Verwendung, Rang und Schicksal jedes Menschen sind festgelegt, nicht allein in Bezug auf die Güter und die Macht  …, sondern auch in Bezug auf den Geist, die Schönheit, die Kraft oder die Gewandtheit und im Bezug auf Verdienst oder Talente. Da diese Eigenschaften allein Achtung verschaffen konnten, mußte man sie entweder besitzen oder vortäuschen. (DU, 219 ff. / OC III, 174)

Der Schlüssel für das Verständnis der Rous­seau’schen These, soziale Ungleichheit bringe einen entfachten amour propre hervor und führe zu Bedingungen des geschmälerten Wohlergehens, liegt in der Phrase »da diese Eigenschaften allein Achtung verschaffen konnten«. Diese Bestimmung beinhaltet, dass die Macht des amour propre, die hier beschriebenen Übel zu erzeugen, vom Vorliegen einer bestimmten Hintergrundbedingung abhängt, nämlich davon, dass es an etablierten Möglichkeiten fehlt, weniger zerstörerische Formen einer anerkannten Stellung zu erlangen, als sie in der verdorbenen Gesellschaft des Zweiten Diskurses zur Verfügung stehen. Mit anderen Worten ist die Idee die, dass die Beschaffenheit einer bestimmten Gesellschaft die Folgen beeinflusst, die der amour propre haben wird, indem sie das Feld der Möglichkeiten gestaltet, innerhalb dessen verschiedene Formen der sozialen Wertschätzung verfolgt werden können. Das Pro­blem, das die im Zweiten Diskurs beschriebene Gesellschaft aufwirft, besteht darin, dass sie keine Praktiken oder Institutionen bereitstellt, innerhalb deren ihre Mitglieder eine Stellung für andere zu erwerben imstande sind, die nicht ständig von ihnen verlangt, ihre Mitbürger auszustechen. Zudem sind unter den von dieser Gesellschaft zugestandenen Möglichkeiten, »sich hervorzutun«, gerade die prestigeträchtigsten oberflächliche und unerfreuliche Formen der Überlegenheit, wie etwa üppiger Reichtum und Herrschaft. Um es noch einmal zu wiederholen : Wie Individuen versuchen, ihren amour propre zu befriedigen, hängt von den Möglichkeiten für den Erwerb einer anerkannten Stellung ab, die von der Gesellschaft gefördert und erlaubt werden, und wie diese Möglichkeiten ausfallen, darüber befinden Beurteilung der Legitimität sozialer Ungleichheiten | 213

wesentlich die in der Gesellschaft anzutreffenden Ungleichheitssysteme. So erweckt eine Gesellschaft, die Ungleichgewichte des Reichtums begrenzt, in ihren Mitgliedern andere Anstrengungen, um anerkannt zu werden, als eine, deren ökonomisches System von dem Wunsch lebt und ihn hofiert, »stinkreich« zu sein. Eine auf erblichen Klassenprivilegien beruhende soziale Ordnung regt die Individuen auf andere Weise dazu an, ein Gefühl ihrer eigenen Existenz zu entwickeln, als eine, die jede Person als eine solche anerkennt, die wie alle anderen auch dieselben Rechte beanspruchen kann. Anders gesagt : Soziale Einrichtungen haben erzieherische oder bildende Auswirkungen auf ihre Mitglieder, und das erklärt, warum man von sozialen Ungleichheiten jeglichen Typs sagen kann, sie spielten eine große Rolle beim Hervorbringen der vom entfachten amour propre erzeugten Übel. Diese These lässt sich dadurch illustrieren, dass wir kurz über einen Aspekt der politischen Maßnahmen nachdenken, die Rous­ seau zur Lösung der von den sozialen Ungleichheiten angestoßenen Pro­bleme vorschlagen wird. Die Behauptung, der fieberhafte Wunsch, öffentlich wertgeschätzt zu werden, sei zum Teil durch soziale Bedingungen ausgelöst, zu denen auch die verschiedensten Arten sozialer Ungleichheit gehören, beinhaltet, dass jede umfassende Abhilfe für die von ihnen erzeugten Übel die Schaffung von Institutionen einschließen muss, die solche Ungleichheiten regulieren und einhegen und allen Menschen den Zugang zu trag­f ähigen, befriedigenden und förderlichen Formen einer anerkannten Stellung gewähren. Tatsächlich kann man darin die zentrale Aufgabe des Gesellschaftsvertrags sehen, selbst wenn die Schrift an keiner Stelle ausdrücklich sagt, sie suche nach einer Lösung für die vom amour propre verursachten Pro­bleme. Das bedeutet, eine gut geordnete Gesellschaft kann entscheidend dazu beitragen, das Bedürfnis ihrer Mitglieder nach einer anerkannten Stellung zu befriedigen, indem sie ihre Institutionen so gestaltet, dass allen ihren Mitgliedern ein substantielles Maß an gleicher Achtung eingeräumt wird, was dann seinerseits das Selbstverständnis derjenigen beeinflusst, die in einer solchen Gesellschaft aufwachsen, einschließlich der Art und Weise, in der sie versuchen, ihr allgemeines Bedürfnis nach der Wertschätzung anderer zu befriedigen. Mit anderen Worten : Der fieberhafte Wunsch nach öffentlicher Wertschätzung lässt sich 214 | Kapitel 4 

beträchtlich weniger fieberhaft durch Institutionen gestalten, die unsere Sehnsucht, bei anderen angesehen zu sein, in angemessener Weise kanalisieren und dann diese Sehnsucht in ihren zuträglichen oder nicht-entfachten Äußerungen befriedigen. Dieser Gedanke erleichtert es uns zu erkennen, wie der Gesellschaftsvertrag auf die vom amour propre geschaffenen Pro­bleme reagiert. Denn hinter Rous­seaus Auffassung des allgemeinen Willens steht das Ideal der moralischen Gleichheit aller Individuen, ein Ideal, das die legitime Republik zu verwirklichen sucht, indem sie sowohl die Gleichheit aller vor dem Gesetz als auch dieselben Grundrechte für alle gewährleistet und indem sie fordert, dass alle Gesetze die grundlegenden Interessen eines jeden Bürgers gleichermaßen berücksichtigen. Eine wichtige Frage bleibt uns jedoch noch : Bilden diese politischen Maßnahmen für sich genommen eine hinreichende Lösung für die ganze Bandbreite der Pro­bleme, die von den sozialen Ungleichheiten und dem entfachten amour propre erzeugt werden ? Die Antwort auf diese Frage hängt zum Teil davon ab, ob der Erwerb der gleichen Achtung in der politischen Sphäre hinreicht, um die Sehnsüchte selbst des nicht-entfachten amour propre völlig zu stillen. Im Zweiten Diskurs findet sich eine Fülle von Belegen dafür, dass dies nicht der Fall ist. So wird etwa der amour propre häufig auf eine Art und Weise beschrieben, die nahezulegen scheint, dass irgendeine Form von überlegener Stellung unausrottbar mit zu seinem Ziel gehört – unbeschadet der Tatsache, dass wir eine gewisse, ja sogar eine substantielle Befriedigung darin finden, im Politischen als Gleiche geachtet zu werden –, etwa wenn Rous­seau den amour propre als »allgewaltigen Drang nach … Auszeichnungen« und als »Begierde, sich auszuzeichnen«, hinstellt (DU, 257 / OC III, 189). Wenn wir versucht sind zu schließen, das seien bloß Beschreibungen der entfachten Sehnsucht nach Wertschätzung, dann sollten wir uns daran erinnern, dass es bereits beim allerersten Auftritt des amour propre im Zweiten Diskurs, noch bevor er durch die verderblichen im zweiten Teil geschilderten Entwicklungen hätte entstellt werden können, heißt, »jeder wollte seinerseits geachtet werden« und als »der Schönste, der Stärkste, der Gewandteste, der Beredsamste« gelten (DU, 205 / OC III, 169). Erst im nächsten Absatz ist die Rede davon, dass die Individuen auch eine Art gleicher Beurteilung der Legitimität sozialer Ungleichheiten | 215

Achtung zu suchen scheinen, die als »Pflichten der Höflichkeit« definiert wird. Sie legen dar, wie Menschen im Allgemeinen zu behandeln sind, wenn sie die achtungsvolle Behandlung erfahren sollen, die alle Personen als solche verdienen und auf die sie ein Recht haben.184 Es ist unschwer zu erahnen, warum Formen der gleichen Behandlung nicht für sich genommen die Sehnsucht des Menschen nach einer anerkannten Stellung befriedigen können : Gleiche Achtung, ob nun in Gestalt von Höflichkeitspflichten oder der Gleichbehandlung, die der Staat allen seinen Bürger angedeihen lässt, erkennt die Einzelnen nicht wegen ihrer besonderen Eigenschaften an – wie etwa besonders gut zu singen, zu tanzen oder zu reden –, dies geschieht vielmehr allein auf der Grundlage abstrakter, universeller Identitäten (als Personen, Menschen oder Bürger), die sie mit allen oder vielen ihrer Mitmenschen teilen und die sie aus diesem Grund als dieses besondere Individuum herausstellen. Man wird getrost annehmen können, so wie Rous­seau es anscheinend tut, dass Menschen sich auch nach der Bestätigung anderer aufgrund des Wertes sehnen, den sie als dieses bestimmte Geschöpf haben, das heißt auf der Grundlage ihrer spezifischen Leistungen und sogar wegen ihrer natürlichen Gaben und Eigenschaften, die sie von anderen unterscheiden. Wenn dies zutrifft, dann wird die gleiche Achtung allein Menschen psychologisch wohl nicht zufriedenstellen, selbst dann nicht, wenn ihr amour propre kein entfachter ist. Das bedeutet freilich, dass Rous­seaus politische Antwort auf die Gefahren des entfachten amour propre und der sozialen Ungleichheit durch Maßnahmen zu ergänzen ist, die es den Menschen ermöglichen, das Bedürfnis zu befriedigen, sich in ihrer Besonderheit bestätigt zu sehen. Nur hat das auf eine Weise zu geschehen, die nicht zu den sozialen Übeln führt, die uns als Folgen des entfachten amour propre geschildert worden sind. Es gibt gute Gründe zu meinen, Rous­seau wolle dieses Pro­blem im Emile angehen, denn dort denkt er darüber nach, wie die richtige Art der häuslichen Erziehung bestimmten Wünschen, vor anderen »herauszustechen«, Raum bieten kann, ohne dass sie den entfachten Äußerungen des amour propre Vorschub leisten. Eine andere Möglichkeit wäre, darüber nachzudenken, wie soziale Institutionen außerhalb des Poli­ tischen sich so gestalten lassen, dass sie Individuen die Chance bieten, wegen ihrer besonderen Vortrefflichkeit anerkannt zu werden, 216 | Kapitel 4 

ohne dabei übermäßige Konkurrenz, Rivalität oder schrankenlose, nicht zu befriedigende Wünsche nach öffentlicher Wertschätzung auszulösen. (Genau dieser Aufgabe widmet sich Hegel in seiner Philosophie des Rechts, in der er vorführt, wie zwei soziale Sphären  – die Familie und eine marktorientierte bürgerliche Gesellschaft – ihren Mitgliedern bestimmte Formen der Anerkennung gewähren können, die nicht die von Rous­seau befürchteten sozialen Übel hervorbringen.)185 Das Kriterium des Rechts in der Gesellschaft

Wir haben gerade gesehen, wie soziale Ungleichheit dazu neigt, Freiheit und Wohlergehen derjenigen schwerwiegend zu bedrohen, die ihr ausgesetzt sind, und das steckt hinter dem Hauptgedanken von Rous­seaus Kritik an ihr im Zweiten Diskurs : Soziale Ungleichheit verdient moralisch kritisiert zu werden, weil sie zu Herrschaft, Unzufriedenheit, Streit, Entfremdung und einer fieberhaften, nicht zu befriedigenden Dynamik der Anerkennung führt. Anders gesagt gefährdet soziale Ungleichheit die Fähigkeit des Menschen, die wesentlichen, für ihre »wahre Natur« charakteristischen Güter zu erlangen. Rous­seaus Bewertung der beträchtlichen Gefahren der sozialen Ungleichheit führt überzeugend vor, warum eine Sozialund Politiktheorie Ungleichheit sehr ernstzunehmen und darüber nachzudenken hat, wie sie zu reduzieren ist, doch hat sie noch nicht die spezifischere Frage beantwortet, ob und wann Ungleichheiten jenseits der vom Naturgesetz gebilligten, aber sehr eingeschränkten Ungleichheiten nach den in der Gesellschaft herrschenden Maßstäben des Rechts erlaubt sind. Diese Frage ist wichtig, denn wie ich behauptet habe, scheinen Fortschritte in der Gesellschaft – sofern Menschen nicht eingreifen und Regeln aufstellen – ganz »natürlich« sowohl mehr als auch größere Ungleichheiten mit sich zu bringen. Wenn solche Fortschritte, wie die Argumente oben nahelegen, auch Bedingungen schaffen, die sich negativ auf die menschliche Existenz auswirken, dann besteht zwischen der Entwicklung allerlei Arten menschlicher Vermögen einerseits und der Verwirklichung von Freiheit und Wohlergehen der Menschen andererseits eine fundamentale Spannung. Wenn soziale Ungleichheiten, ausgeBeurteilung der Legitimität sozialer Ungleichheiten | 217

nommen die vom Naturgesetz gebilligten, in keinem einzigen Fall legitim sind, dann bedeutet das, jeder »Zivilisationsfortschritt« ist beklagenswert – und genau so haben viele Leser die Botschaft des Zweiten Diskurses gedeutet. Gestützt darauf, was wir bislang gelernt haben, scheint die logische Antwort auf die oben aufgeworfene Frage so ausfallen zu müssen : Soziale Ungleichheit ist dann und nur dann zulässig, wenn sie nicht die oben beschriebenen Übel hervorbringt. Tatsächlich ist das der Kern von Rous­seaus Antwort auf die Frage, aber der Zweite Diskurs schlägt einen präziseren Maßstab für die Beurteilung der Legitimität »institutioneller Ungleichheit« (DU, 245 / OC III, 184) vor, und der Gesellschaftsvertrag arbeitet ihn aus. Gestützt auf die Vorstellung, worin das Recht in der Gesellschaft, in Gegenüberstellung zu dem im Naturzustand, gründet, handelt es sich um einen Maßstab, der festlegt, wann Gesetze, Institutionen und soziale Praktiken moralisch nicht verwerflich sind. Diesen Maßstab zu formulieren wird nun meine Aufgabe sein. Wie bereits oben behauptet, weist Rous­seau schon im Zweiten Diskurs auf die grundlegende Idee hin, die seine Darlegung »der Grundlagen des gesellschaftlichen Rechts« untermauert, nämlich auf die Idee eines »echten Vertrags«, in dem die Einzelnen »in Betreff der gesellschaftlichen Beziehungen, den Willen aller … zu einem einzigen vereinigen« (DU, 245 / OC III, 184 f.) Diesem Vorschlag zufolge ist es der Begriff der Einheit oder der Übereinstimmung des Willens der verschiedenen Individuen, der das gesellschaftliche Recht begründet. Die entscheidende Vorstellung ist die, dass der menschliche Wille eine nicht-natürliche Quelle der Legitimität in dem Sinn bilden kann, dass solche Prinzipien der sozialen Zusammenarbeit, auf die sich alle geeinigt haben, die ihnen unterstehen, sämtlichen zustimmenden Parteien Gehorsamspflichten aufer­legen und zugleich indirekt andere aus ihnen folgende Handlungen oder Sachverhalte als zulässig ausweisen, das heißt als Handlungen und Sachverhalte, denen niemand legitimerweise widersprechen kann. Doch gilt es hier sehr vorsichtig zu sein. Rous­seaus Dar­legung des scheinbaren und damit illegitimen Gesellschaftsvertrags im zweiten Teil des Zweiten Diskurses (DU, 225 – 233 / OC III, 176 – 179) belegt, dass er nicht jede tatsächliche Übereinkunft unter den Einzelnen für eine Quelle des Rechts oder wahrhaft verbindlicher 218 | Kapitel 4 

Moralprinzipien hält.186 Wieder einmal sind es die realen Folgen dieses Vertrags, die seine Illegitimität erklären, mag er auch die tatsächliche Zustimmung aller auf sich vereinigt haben. Die wichtige Erkenntnis, dass reale, einstimmige Übereinkommen illegitime Institutionen hervorbringen können, schwebt Rous­seau vor, wenn er von der Notwendigkeit spricht, in der Moral- und Politikphilosophie »die Tatsachen anhand des Rechts« zu überprüfen (DU, 241 / OC III, 182). Der scheinbare, im Zweiten Diskurs beschriebene Vertrag setzt Recht nicht ein, sondern bemächtigt sich seiner, da er die Wirkung hat, bestehende Ungleichheiten zu kodifizieren und zu verstärken, insbesondere solche des Reichtums, die ihrerseits die oben beschriebenen verderblichen Folgen für die Freiheit und das Wohlergehen der Menschen erzeugen und fortpflanzen. Praktisch gibt diese Art von allgemeinem Willen »dem Schwachen neue Fesseln und dem Reichen neue Macht« und zwingt »das gesamte Menschgeschlecht für den Gewinn einiger  … zur Knechtschaft und zum Elend«. Für diesen Vertrag gilt : Alle, die zugestimmt hatten, »liefen auf ihre Ketten zu«, wenngleich »in dem Glauben, sie würden ihre Freiheit sichern« (DU, 229 / OC III, 177 f.). Aus diesen Gründen – denn selbst die »freiwillige Errichtung der Tyrannei« kann nicht die Grundlage des Rechts sein (DU, 241 / OC III, 182) – bestreitet Rous­seau ausdrücklich die Gültigkeit des scheinbaren Gesellschaftsvertrags. Wenn die realen Folgen der Gesetze und Institutionen einen so großen Anteil an der Bestimmung ihrer Legitimität haben – und wenn die tatsächliche, einstimmige Zustimmung nicht zu zählen scheint –, in welchem Sinn lässt sich dann sagen, es ist der Wille und nicht die Natur, der das gesellschaftliche Recht begründet ? Die vollständige Antwort auf diese Frage stellt sich als erstaunlich vielschichtig heraus, aber es ist ein guter Anfang, sich einige der (wenigen) Dinge näher anzusehen, die Rous­seau im Zweiten Diskurs über einen »echten« Gesellschaftsvertrag sagt (DU, 245 / OC  III, 184). Seine wichtigsten Bemerkungen sind wohl diese : Es ist der »Hauptgrundsatz jeglichen Staatsrechts, daß sich die Völker Obrigkeiten zur Verteidigung ihrer Freiheit gegeben haben, nicht aber zur Unterwerfung«, und etwas aufschlussreicher : »Warum haben sie sich Herren gegeben, wenn nicht zur Verteidigung gegen Unterdrückung und zum Schutz ihres Besitzes, ihrer Freiheit und ihres Beurteilung der Legitimität sozialer Ungleichheiten | 219

Lebens, die sozusagen die konstitutiven Grundlagen ihres Sein ausmachen« (DU, 235 ff. / OC III, 180 f.) ? Der vom Gesellschaftsvertrag bestätigte und ausgeführte Gedanke ist hier der, dass ein Gesellschaftsvertrag nur dann echt oder eine wirkliche Quelle von Recht und Legitimität ist, wenn er die »konstitutiven Grundlagen« des Seins eines jeden sichert und schützt, der den durch den Vertrag festgelegten Grundsätzen unterworfen ist – also nur dann, um es anders zu sagen, wenn die Bedingungen des Vertrags die Sicherung und den Schutz dessen betreffen, was man als die grundlegenden Interessen aller Vertragsschließenden bezeichnen könnte. Dass Rous­seaus Liste dieser grundlegenden, oben genannten Interessen eng den Gütern folgt – den »wesentlichen Gütern der Natur« (DU, 243 / OC III, 184) –, die ich im vorangegangenen Kapitel anlässlich der Entwicklung seiner normativen Auffassung von der Natur des Menschen angeführt habe, ist nicht weiter erstaunlich. Jeder Vertrag, der gegen die grundlegenden Interessen einer seiner Parteien verstößt – und selbstverständlich auch ein Gesellschaftsvertrag, der als Fundament der politischen Gesellschaft dienen soll –, ist aus diesem Grund null und nichtig und scheitert daran, Verpflichtungen zu erzeugen oder über die Zulässigkeit einzelner Handlungen oder sozialer Einrichtungen zu befinden. Dieses Grundprinzip des gesellschaftlichen Rechts macht eines deutlich, dass nämlich der Gesellschaftsvertrag die grundlegenden Interessen aller seiner Parteien achten  – sichern und schützen – muss, will er legitim sein. In einem Sinn fällt dies mit einem der Merkmale des ursprünglichen Naturzustands zusammen, das, wenngleich meistens indirekt, das Gute an diesem Zustand erklärt : Er ist universell gut, gut für alle, die in ihm leben. Um es mit anderen Worten zu sagen, was das Gute am Naturzustand ausmacht, ist nicht, dass es einigen oder den meisten seiner Bewohner gut geht und sie frei sind, sondern dass dies für alle gilt (oder, genauer gesagt, im Prinzip gelten könnte). Zu erklären, diese Bedingung erfülle das Kriterium des Wohlergehens für gute soziale Einrichtungen, heißt zu erklären, dass seine basalen Merkmale der kollektiven Befriedigung der Bedürfnisse und Wünsche seiner Mitglieder keine systematischen Hindernisse in den Weg legen. Das beinhaltet beispielsweise, dass die Wünsche der Einzelnen generell nicht zu dem Typus gehören, der, würde er von vielen geteilt, unweigerlich zu ihrer ei220 | Kapitel 4 

genen oder zur Enttäuschung anderer führte (wie es etwa auf viele Versionen des Wunsches nach einer überlegenen Stellung zutreffen würde). Derselbe Grundsatz ist in Rous­seaus Anstrengungen sinnfällig, den ursprünglichen Naturzustand – ohne Privateigentum, verfeinerte Wünsche und entfachten amour propre – als einen aufzuzeigen, in dem es keine systematischen Interessenskonflikte geben kann. Nur aufgrund seiner Konsequenzen für das kollektive Gut seiner Mitglieder – nur weil im »Naturzustand … die Sorge um unsere Erhaltung am wenigsten der anderer nachteilig ist« – folgt, dass »der Naturzustand … am meisten dem Menschengeschlecht entsprach« (DU, 169 / OC III, 153). Ein ähnliches Interesse an den systematischen Folgen der sozialen Einrichtungen geht in die These ein, der ursprüngliche Naturzustand sei ein Zustand der Freiheit, in dem, wie wir sahen, das allgemeine Fehlen von Abhängigkeit Herrschaftslosigkeit für jedermann garantiert. Kurz gesagt ist der ursprüngliche Naturzustand nur deshalb gut – entspricht der Natur des Menschen im normativen Sinn –, weil in ihm die Freiheit jedes Einzelnen mit dem Wohlergehen und dem Glück aller vereinbar ist. In dem fundamentalen Grundsatz, der die Maßstäbe des gesellschaftlichen Rechts formuliert, tritt die Forderung, die basalen Bedingungen der Freiheit und des Wohlergehens seien universell zu befriedigen, bloß deutlicher zutage als in Rous­seaus Beschreibung des ursprünglichen Naturzustands, und die Bedingung der allgemeinen Zustimmung, wie sie im Ersteren enthalten ist – die Forderung, dass jeder Bürger, dem nur daran gelegen ist, seine eigenen fundamentalen Interessen zu fördern, den Konditionen des Vertrags soll zustimmen können –, ist es, die dieses Merkmal der Grundlage des Rechts ausdrücklich herausstellt. Mittlerweile sollte deutlich geworden sein, dass Rous­seau, wenn er erklärt, die Quelle des gesellschaftlichen Rechts liege darin, dass die Willen der Mitglieder sich vereinigen, nicht an ihre tatsächliche Zustimmung denkt, sondern an ihre rationale oder hypothetische.187 Ein Indiz dafür ist, dass Rous­seau selbst im Zweiten Diskurs die Vernunft durchgängig mit der echten Grundlage des gesellschaftlichen Rechts in Verbindung bringt – und manchmal mit der »öffentlichen Vernunft« –, was ein sicheres Anzeichen dafür ist, dass er Vernunft und Willen nicht als alternative Quellen politischer Legitimität begreift (DU, 73, 173, 111 / OC III, 126, 155, 202). Beurteilung der Legitimität sozialer Ungleichheiten | 221

Wenn wir uns das vor Augen halten, lässt sich sein Kriterium für legitime soziale Einrichtungen in die folgende Frage überführen : Welchen Gesetzen und Institutionen könnte jeder Bürger rational zustimmen ? und damit ist gefragt : Auf welche Gesetze könnten sie sich einstimmig einigen, wenn alle Parteien nur mit Blick auf die Sicherung ihrer fundamentalen Interessen als Menschen wählten und sich vollkommen der Folgen bewusst wären, welche die zu wählenden Einrichtungen für diese Interessen hätten ? Wenn wir Rous­seau so deuten, könnte sich leicht der Eindruck einstellen, es wäre zutreffender, die Vernunft statt des Willens als Quelle des gesellschaftlichen Rechts zu benennen. In diesem Einwand steckt ein Körnchen Wahrheit, was sich in zwei wichtigen Erwägungen spiegelt : erstens ist in diesem Kontext unter dem Willen (oder Zustimmung oder Übereinkunft) tatsächlich der rationale Wille (oder Zustimmung oder Übereinkunft) zu verstehen und zweitens haben Vernunft und Wille zumindest so viel gemeinsam : Beide befinden sich auf der gleichen Seite der Trennung von Natur und Kunst, wie Rous­seau sie begreift. Was auch immer wir für die Quelle des gesellschaftlichen Rechts halten, Vernunft oder Willen, eine der Hauptthesen Rous­seaus über diese Quelle, dass sie mehr als Natur ist, wird auf jeden Fall Bestand haben – allerdings sollten wir auf der Hut sein, keine der Alternativen wäre genau richtig, wenn beide Begriffe als sich wechselseitig ausschließend verstanden würden. Gleichzeitig gibt es gute Gründe, dem Einwand zu widerstehen, dass, sofern Übereinkunft die rationale, hypothetische Zustimmung meint, es nicht wirklich der Wille ist, der in einem direkten Sinn das gesellschaftliche Recht begründet. Wenn wir uns diese Gründe klarmachen, werden wir erkennen, dass der tatsächlichen Zustimmung der Gesellschaftsmitglieder eine gewisse Aufgabe bei der Bewertung der Legitimität ihrer Institutionen zufällt. Entscheidend ist hier, dass die Interessen, auf die sich das Kriterium der rationalen Zustimmung beruft – unser Interesse an Leben, Freiheit und den grundlegenden Bedingungen des Wohlergehens – solche sind, die Menschen schnell als sehr wichtig anerkennen können und es allgemein auch tun. Kein Philosophenkönig, kein göttlicher Verstand, kein tiefes Verständnis der Geheimnisse des Universums sind vonnöten, um den essentiellen Wert dieser Grundgüter zu schätzen.188 Das bedeutet, die grundlegende Vernünftigkeit le222 | Kapitel 4 

gitimer Gesetze und Institutionen, werden sie in Bezug auf die rationale Zustimmung definiert, ist prinzipiell allen normalen Menschen zugänglich, auch denen, die nicht beanspruchen können, ein besonderes Wissen über metaphysische Prinzipien zu haben oder einen privilegierten Zugang zu göttlich geoffenbarten Wahrheiten. (Rous­seau scheint in der Tat zu meinen, und nicht ganz ohne Plausibilität, dass der Anspruch, über das eine oder das andere der Letztgenannten zu verfügen, generell die Chancen schwinden statt steigen lässt, deutlich zu begreifen, was im Leben der Menschen wirklich von Wert ist.) Das bedeutet nun seinerseits, dass Gesellschaften, die (meistens) tatsächlich die rationalen Bedingungen der Legitimität erfüllen, auch von den meisten Mitgliedern dieser Gesellschaft als solche erkannt werden. Eine Gesellschaft, die dem Kriterium der einstimmig rationalen Zustimmung genügt, bietet so sicher, wie man nur hoffen kann, die Gewähr dafür, dass sie auch auf die reale Zustimmung der meisten ihrer Mitglieder stoßen wird. In legitimen Gesellschaften mag die reale Zustimmung nie einmütig sein, doch weitverbreiteter Dissens ist klarerweise ein empirischer Beleg für Illegitimität. (Wie der Gesellschaftsvertrag verdeutlicht, kommt die reale Zustimmung in Rous­seaus Theorie der politischen Legitimität noch an einer anderen Stelle ins Spiel, insofern nämlich legitime Gesetze aus den realen Stimmen einer allgemeinen Bürgerversammlung hervorgehen müssen. Rous­seau erkennt selbstverständlich, dass auch hier eine reale Zustimmung selten einstimmig ausfallen wird (GV, IV.2).) Wir haben nun einen Punkt erreicht, an dem wir deutlicher formulieren können, wie das gesellschaftliche Recht auf der Natur beruht und zugleich über sie hinausgeht, eine Einsicht, die Rous­seau recht rätselhaft in der Erklärung ausdrückt, dass »aus dem Zusammenwirken [von amour de soi-même und Mitleid] … alle Regeln des Naturrechts fließen … Regeln, die [von der] Vernunft sofort auf anderer Grundlage neu errichtet werden müssen« (DU, 73 / OC III, 126). Es sollte mittlerweile kein Zweifel mehr daran bestehen, dass Rous­seaus Darlegung derjenigen fundamentalen Interessen des Menschen, die vom gesellschaftlichen Recht zu berücksichtigen sind, ihre Quelle in seiner normativen Auffassung von unserer wahren Natur hat, die ihrerseits, wie im dritten Kapitel erörtert, eng mit seinem Verständnis der Natur des Menschen im beschreiBeurteilung der Legitimität sozialer Ungleichheiten | 223

benden oder erklärenden Sinn verknüpft ist. Rous­seaus Auffassung von der Natur liefert gewissermaßen ein allgemeines Bild der wichtigsten Güter des Menschen wie auch der grundlegenden Gefühle, die den Menschen allgemein geneigt machen, sie zu erstreben (und zu erlangen), vorausgesetzt es fehlt an verderblichen Einflüssen. Seine Auffassung vom gesellschaftlichen Recht fügt diesem Bild nun die spezifischere Vorstellung hinzu, dass legitime Gesetze und Institutionen mit der Fähigkeit eines jeden Individuums vereinbar sein müssen, diese Güter zu erringen. Dass die Beurteilung der Legitimität sozialer Einrichtungen nach der Anwendung eines hypothetischen Universalisierungstests dieser Art verlangt, genügt Rous­seau, um sie in die Sphäre der Vernunft – ja der öffentlichen Vernunft – zu versetzen und sie damit implizit von der Instanz zu unterscheiden, die die Geschöpfe im ursprünglichen Naturzustand leiten würde : Diese »erfassen« unmittelbar, wie andere zu behandeln sind (DU, 167 / OC III, 153).189 Ist die Vernunft ins Bild hineingekommen, folgt daraus sofort die Künstlichkeit, eine These, die am besten so zu verstehen ist, dass hier Bezug auf das genommen wird, was notwendig vorliegen muss, um sowohl zu wissen, was das Recht verlangt, als auch entsprechend dazu motiviert zu sein. In Umständen, die komplexer sind als jene im ursprünglichen Naturzustand, erfordert das Wissen darüber, wozu das Recht verpflichtet und welche Handlungen es erlaubt, vor allem einen nicht unerheblichen Grad an nicht-natürlicher »Aufklärung«. Der Grund dafür ist, dass, obwohl die Natur uns veranlassen mag, unsere Selbsterhaltung, unser Glück und unsere Freiheit zu suchen und das Leid anderer zu lindern, es keine leichte Sache ist, zu wissen, welche Handlungen oder Maßnahmen tatsächlich diese »natürlichen« Zwecke fördern, wenn zugleich das Eigentum, der amour propre und Unterschiede aller Art die Bühne betreten haben. Ein Beispiel dafür ist, dass Rous­seau anlässlich seiner Erörterung des Eigentumsrechts einräumt, dass veränderte soziale Umstände – in diesem Fall die Aufteilung des Bodens – es notwendig machen, neue Gesetze aufzustellen, die über das hinausgehen, was das Naturgesetz vorschreibt (DU, 217 ff. / OC III, 173 f.). Sobald die Bedürfnisse, Wünsche und Interessen einen bescheidenen Grad an Komplexität erlangt haben, ist eine auf Universalität hin angelegte Vernunft nötig, um genau herauszufinden, was jeder Einzelne tun muss, um das 224 | Kapitel 4 

Überleben, das Wohlergehen und die Freiheit aller zu fördern. (Die Universalität des Standpunkts der Vernunft erklärt im Verbund mit der Tatsache, dass sie am besten kollektiv, in einer gesetzgebenden Versammlung aller Bürger, ausgeführt wird, warum Rous­seau sie als eine öffentliche im Gegensatz zu einer privaten Vernunft begreift (DU, 111 / OC III, 202). Diese Einsicht ließe sich auch so formulieren : Unter den Bedingungen der Zivilisation ist die Natur allein, ohne Hilfestellung der Reflexion, nicht imstande, uns die bestimmenden Grundsätze des richtigen Handelns zu vermitteln. Man könnte auch sagen, im Falle von menschlichen Geschöpfen – von jenen außerhalb des ursprünglichen Naturzustands – behalten die grundlegenden Zwecke der Natur zwar ihre normative Kraft, aber erreicht werden können sie nur durch Willen und Kunstfertigkeit. Die Tatsache, dass wir einen so differenzierten und »unnatürlichen« Standpunkt einnehmen müssen, wie es der eines verallgemeinernden Gesetzgebers ist, damit wir wissen, was in einer Gesellschaft erlaubt und geboten ist, genügt, um solches Denken zu einem künstlichen zu machen – zu etwas, was als Bestandteil der Vervollkommnung zwar in der Natur der Menschen liegt, das anzuwenden sie aber erst durch kulturelle Bildungsprozesse lernen müssen. Wenn das Wissen darum, was Recht in der Gesellschaft ist, der künstlichen Ausübung (natürlich gegebener) kognitiver Fähigkeiten bedarf, dann leuchtet es ein, dass die Befolgung des vom Recht Gebotenen ebenfalls von Motivationsquellen abhängt, die über diejenigen hinausgehen, die den Geschöpfen im Naturzustand unmittelbar zur Verfügung stehen. Rous­seau glaubt, auch in diesem Bereich verschaffe sich die Natur jenseits des rein natürlichen Zustands Gehör, insofern sie die grundlegendsten Bausteine liefert, aus denen zivilisierte Geschöpfe die Motivation erstellen können, sich dem Recht gemäß zu verhalten : »In der Tat, was sind die Freigebigkeit, die Milde, die Menschlichkeit, wenn nicht das auf die Schwachen, die Schuldigen oder das ganze Menschengeschlecht übertragene Mitleid ?« (DU, 175 / OC III, 155).190 Und in der berühmten Anmerkung des Zweiten Diskurses zur Definition des amour propre führt er diese These weiter aus, indem er schreibt, der »amour de soi-même  … wird von der Vernunft geleitet und vom Mitleid gemildert und bringt Menschlichkeit und Tugend hervor« (DU, 169 / OC III, 219). Ungeachtet dessen, wie Rous­seau sich­ Beurteilung der Legitimität sozialer Ungleichheiten | 225

genau das Zusammenwirken dieser beiden Gefühle vorstellt, damit zivilisierte Geschöpfe dazu motiviert werden, in ihrem Verhalten dem Recht zu folgen,191 ist das Entscheidende hier, dass das Mitleid auf die ganze Menschheit zu übertragen ist und der amour de soimême von der Vernunft geleitet und vom Mitleid gemildert werden muss, wenn Menschen die nötige Motivation erwerben sollen, um die Grundsätze des gesellschaftlichen Rechts zu befolgen. Das Mitleid ist beispielsweise in seiner natürlichen, ungeschulten Form bezogen auf die Objekte, an die es sich heftet, zu unspezifisch, um gerechtes Handeln präzise anzuleiten, und sei es auch nur in einer wenig komplexen sozialen Welt, in der die Interessen der Einzelnen auf komplizierte Weise miteinander verknüpft sind und das eigene Handeln oft Individuen in Mitleidenschaft zieht, die nicht unmittelbar zum engsten Bekanntenkreis zählen. Aus diesem Grund muss das Mitleid, wenn es aufgerüstet werden soll, um den Zwecken der Moral zu dienen, in etwas Allgemeines – sich auf die ganze Menschheit Erstreckendes  – und Abstrakteres verwandelt werden, das heißt, das Mitleid muss dazu ausgebildet werden, die Dringlichkeit der Schmerzen anderer unabhängig davon zu beurteilen, wie nahe sie uns stehen, und den Entbehrungen anderer gleiche Bedeutung beizumessen, gleichgültig wer diese anderen sind. Wie schon bei der oben erörterten Ausgestaltung unserer kognitiven Ressourcen können wir nur auf künstlichem Wege, durch kulturelle Bildung, erreichen, dass unsere Gefühle die Form annehmen, die es braucht, damit sie den moralischen Zwecken dienen, und das erklärt, warum Erziehung ein so prominentes Thema in den Schriften ist, die, wie es vor allem im Gesellschaftsvortrag (GV, I.7) und im Emile192 der Fall ist, nach positiven Lösungen für die im Zweiten Diskurs dargelegten Pro­blemen suchen. (Man sollte nicht vergessen, dass der Emile im Untertitel Über die Erziehung heißt.) Das Kriterium des gesellschaftlichen Rechts in Anwendung auf die ökonomische Ungleichheit

Die grundlegende Folgerung, die aus Rous­seaus Kriterium des gesellschaftlichen Rechts für die zweite Hauptfrage des Zweiten Diskurses hinsichtlich der Legitimität der sozialen Ungleichheit 226 | Kapitel 4 

zu ziehen ist, lautet daher : Soziale Ungleichheit widerstreitet dem Recht, wenn sie mit der Sicherung des Lebens, der Freiheit und den basalen sozialen Bedingungen des Wohlergehens für jedes einzelne Mitglied der Gesellschaft unvereinbar ist. Umgekehrt gilt : Jede Ungleichheit, die nicht gegen die grundlegenden menschlichen Interessen aller Gesellschaftsmitglieder verstößt, ist legitim, gleichgültig wie künstlich oder wie entfernt die Ungleichheit von den Geboten des Naturrechts sein mag. Ein Fall von sozialer Ungleichheit, der dieses Kriterium erfüllt, ist, mag sie auch nicht »vom Naturgesetz autorisiert« sein, vom Standpunkt dessen, was das gesellschaft­ liche Recht fordert oder erlaubt, zulässig oder moralisch unanstößig. Obgleich es bei der Beurteilung ihrer Legitimität die negativen Folgen der Ungleichheiten betrachtet, ist es vielleicht das wichtigste Merkmal dieses Kriteriums, dass es nicht in dem strikten Sinn konsequentialistisch ist, dass es die Gesamtsumme der zu fördernden Güter – Freiheit, Selbsterhaltung und die sozialen Bedingungen des Wohlergehens – zu maximieren sucht, ungeachtet dessen, wie diese Güter zwischen den Individuen verteilt sind. Rous­seau ist zwar der Ansicht, dass legitime Gesetze und Institutionen primär darauf abzielen, die Verwirklichung bestimmter Sachverhalte (die oben angeführten Güter) zu fördern – und in dieser Hinsicht hat er etwas mit dem Konsequentialismus gemein –, aber dennoch fügt sich seine Position bestens in die Tradition des Gesellschaftsvertrags in der politischen Philosophie ein, für die gleiche Verteilung (die Verwirklichung der grundlegenden Interessen aller) Vorrang vor der gesamtgesellschaftlichen Maximierung hat. In einem gewissen Sinn ist die Rede von der gleichen Verteilung hier irreführend, denn zumindest für solche Güter wie Selbsterhaltung und Freiheit ergibt die Idee der gleichen Menge keinen Sinn. Im ersten Fall liegt dies auf der Hand – Selbsterhaltung ist klarerweise kein Gut, das teilbar wäre und in unterschiedlichem Maße genossen werden könnte  –, aber auch im Fall von Freiheit, dem Fehlen von Herrschaft, ist es unangebracht, von gleichen Mengen zu sprechen. Da Herrschaft als ständige, systematische Asymmetrie in der Fähigkeit, sich Gehorsam zu verschaffen (statt dies nur hin und wieder zu tun), definiert ist, ist es unwahrscheinlich, dass Rous­seaus Theorie irgendein Niveau von Herrschaft billigte. Legitime Gesetze und Institutionen, die durch die basalen Bedingungen des GesellschaftsBeurteilung der Legitimität sozialer Ungleichheiten | 227

vertrags definiert sind, suchen nicht Freiheit und Selbst­erhaltung gleich zu verteilen, vielmehr wollen sie dieses Gut für alle sichern und Herrschaft, wo immer sie auftritt, beseitigen. Die hier vorgelegte allgemeine Formulierung des Kriteriums für das gesellschaftliche Recht lässt, das wird man einräumen müssen, viele Fragen dazu offen, wie es so anzuwenden ist, dass es zu präzisen Urteilen über spezifische Gesetze und Institutionen gelangt. Aus diesem Grund wollen wir in dieser Schlusssektion einige Zeit darauf verwenden, genauer zu betrachten, wie Rous­seaus Kriterium der Legitimität sich konkreter auf einen besonders wichtigen Typ von sozialer Ungleichheit anwenden lässt, auf die Ungleichheit des Reichtums. Dies tue ich, indem ich die Gefahren umreiße, die von der ökonomischen Ungleichheit sowohl für die Freiheit als auch für das Wohlergehen der Gesellschaftsmitglieder ausgeht. Im nachfolgenden Schlusskapitel werde ich versuchen, Rous­seaus Vorstellungen dadurch zu konkretisieren, dass ich sie mit ähnlich gelagerten Ansätzen zur ökonomischen Ungleichheit vergleiche, wie sie in der zeitgenössischen politischen Philosophie vorliegen, insbesondere mit dem am sorgfältigsten ausgeführten Ansatz : John Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit. Damit verfolge ich zum Teil den Zweck festzustellen, ob Rous­seau noch immer einen markanten Beitrag zu den zeitgenössischen Debatten in der politischen Philo­ sophie leistet. Beginnen wir mit der Beziehung zwischen ökonomischer Ungleichheit und Freiheit. Die Grundvorstellung ist selbstverständlich schon dargelegt worden : Wie soziale Ungleichheiten generell, so führen auch Ungleichgewichte im Reichtum zu Asymmetrien zwischen den voneinander abhängigen Individuen, die es den Benachteiligten erschweren, dem Willen der Bevorteilten, auf deren Zusammenarbeit sie zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse angewiesen sind, den regelmäßigen Gehorsam zu verweigern.193 Folglich lautet ein Teil von Rous­seaus Antwort auf die Frage hinsichtlich der Legitimität ökonomischer Ungleichheit, dass Ungleichgewichte im Reichtum nur dann zulässig sind, wenn sie für die Freiheit eines Individuums – vor allem die Freiheit der Benachteiligten – keine systematischen Hindernisse bilden.194 Obgleich der Gesellschaftsvertrag deutlich macht, dass es mehrere Formen von Freiheit gibt, zu denen ein legitimer Staat allen Bürgern Zugang verschaffen muss, 228 | Kapitel 4 

betrifft die hier von mir betonte Form – weil sie sowohl die für seine Haltung zur ökonomischen Ungleichheit relevanteste als auch die im Zweiten Diskurs herausragendste ist – Freiheit als Fehlen von Herrschaft. Wenden wir die normativen Einschränkungen, die in der Idee des Gesellschaftsvertrags liegen, auf diese Auffassung von Freiheit an, kommen wir zu dem Grundsatz, dass ökonomische Ungleichheit nur in dem Maße erlaubt ist, wie sie mit dem Fehlen durchgängiger Herrschaftsbeziehungen zwischen den Gesellschaftsmitgliedern vereinbar ist. Doch wie ich auch schon sagte, sind die spezifischen Folgen dieses allgemeinen Grundsatzes weit davon entfernt, offensichtlich zu sein. Auf die Komplikation, dass Herrschaft manchmal nur schwer von echter Zusammenarbeit zu unterscheiden ist, weil sie mit der tatsächlichen Zustimmung der Beherrschten Hand in Hand gehen kann, habe ich bereits hingewiesen. Aber es gibt noch weitere Pro­ bleme : Ist der Grundsatz auf alle Formen der Herrschaft anwendbar oder gibt es Fälle von Herrschaft, die, weil sie in eine »private«, von sozialen und politischen Bedingungen mehr oder weniger unberührte Sphäre fallen, diesem Grundsatz nicht unterliegen ? Und bei den Formen von Herrschaft, die ein geeignetes Objekt staat­ lichen Interesses sind, wie bestimmt man dort, wann ökonomische Ungleichheit aufhört, harmlos zu sein, und in ein substantielles Hindernis für die Freiheit der Benachteiligten umkippt ? Trotz solcher Fragen über seine Anwendbarkeit liefert Rous­seaus Grundsatz eine recht allgemeine, aber dennoch hilfreiche Orientierung, um konkreter über die Grenzen zulässiger ökonomischer Ungleichheit nachzudenken. Oder sie stößt uns, genauer gesagt, auf die Frage : Welche Typen und Grade von ökonomischer Ungleichheit sind mit den sozialen Bedingungen vereinbar, die Individuen brauchen, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen, ohne sich dafür regelmäßig dem Willen anderer beugen zu müssen ? Wieder einmal könnte es hilfreich sein, auf die Form von ökonomisch begründeter Herrschaft zurückzukommen, auf die Smith unsere Aufmerksamkeit lenkt und die er in seiner These auf den Punkt bringt, dass Arbeiter generell gezwungen sind, sich dem Willen ihrer Arbeitgeber zu beugen, weil deren größere ökonomischen Ressourcen ihnen einen Verhandlungsvorteil in den Auseinandersetzungen über Löhne und Arbeitsbedingungen verschaffen. Beurteilung der Legitimität sozialer Ungleichheiten | 229

In diesem Fall könnte Rous­seaus Grundsatz als Ausschluss eben der ökonomischen Klassenunterschiede gedeutet werden, die das Beispiel von Smith voraussetzt, in dem die Freiheit einiger durch die grundlegende Ungleichheit bedroht ist, die in der Tatsache gründet, dass die einen nur über ihre Arbeitskraft verfügen, während die anderen im Besitz der Produktionsmittel sind, zu denen jeder Zugang haben muss, um sein Leben zu bestreiten. Alternativ ließe sich der Grundsatz nutzen, um für Institutionen einzutreten – etwa starke Gewerkschaften mit kämpferischen Gesetzen zum Schutz der Verhandlungsrechte von Arbeitern –, die das freiheitsgefährdende Potential der Klassenunterschiede entschärfen, während die fundamentale Ungleichheit erhalten bleibt. Mit anderen Worten : Selbst wenn Rous­seaus Grundsatz nicht für sich genommen ein vollständig bestimmtes Bild der Gesetze und Institutionen liefert, die sich eine freie Gesellschaft zum Ziel setzen sollte, so gelingt es ihm doch, eines der wesentlichen Pro­bleme anzugehen – zudem ein Pro­blem, das zeitgenössische liberale Positionen allzu schnell aus dem Blick verlieren – und eine grundlegende Orientierung für das Nachdenken über die Arten und Grade ökonomischer Ungleichheit bereitzustellen, die es zu vermeiden gilt, wenn die Freiheit für alle verwirklicht werden soll. Zugleich ist Rous­seaus eigene Haltung zu der Frage vermutlich ein wenig klarer, als ich gerade impliziert habe. Denn der Ton des Zweiten Diskurses  – beispielsweise seine pessimistische Ansicht über die »Verbrechen, Kriege, Morde, Leiden und Schrecken«, die das Privateigentum an den Produktionsmitteln (in diesem Fall Grund und Boden) notwendig nach sich zieht (DU, 193 / OC III, 164) – scheint größtenteils eine allgemeine Präferenz für die erste der beiden Strategien auszudrücken, die oben als Antwort auf das freiheitsgefährdende Potential der ökonomischen Ungleichheit erwähnt worden sind.195 Diese Strategie, die radikalere der beiden, beinhaltet eine Umwandlung der Gesellschaft von Grund auf, um die grundlegenden Ursachen der Ungleichheit  – in diesem Fall durch die Auslöschung der Klassenunterschiede  – zu beseitigen, während die zweite diese basalen Ungleichheiten hinnimmt, aber ihr freiheitsgefährdendes Potential durch Maßnahmen zu korrigieren sucht, die das Ungleichgewicht der Machtverhältnisse zwischen den betroffenen Parteien auszugleichen streben, vielleicht indem 230 | Kapitel 4 

sie die Fähigkeit der Arbeiter stärken, kollektiv zu verhandeln oder indem sie Gesetze oder Verfassungsbestimmungen erlassen, die den Arbeitern das Recht einräumen, in allen sie betreffenden Fragen gleichberechtigt mitzureden.196 (Dass Rous­seau im Allgemeinen das Erstere bevorzugt, ist seinen beifälligen Bemerkungen über Lykurgos abzulesen, der, statt Sparta Stück für Stück zu reformieren, daran ging, »alle alten Trümmer wegzuwerfen« und Spartas politische Institutionen von Grund auf neu zu gestalten [DU, 235 /  OC III, 180].) Worin auch immer die Korrekturmaßnahmen der zweiten Strategie bestehen, sie werden wahrscheinlich auf politischen Anstrengungen beruhen, deren Ziel es ist, die Wirkungen der zugrundeliegenden ökonomischen Ungleichheiten zu entschärfen. Der Teil von Rous­seaus Anschauung, der ihn zur ersten Strategie drängt – eine von mehreren Hinsichten, in denen er die Position Marxens vorwegnimmt –, ist durch und durch pessimistisch, was die Macht rein politischer Maßnahmen betrifft, die in der ökonomischen Struktur einer Gesellschaft liegenden Ungleichgewichte zu korrigieren. Der scheinbare Gesellschaftsvertrag, der die Asymmetrien der in ökonomischer Ungleichheit wurzelnden Macht institutionalisiert, scheint für ihn eine praktisch unvermeidbare Folge jener grundlegenden Ungleichheit zu sein (DU, 225 – 231 / OC  III, 176 ff.). Sind die Sonderinteressen der Individuen so gegensätzlich und so festgefahren, wie dies in Gesellschaften von besitzenden und besitzlosen Klassen der Fall ist, und ist es die Macht des Geldes, die in solchen Gesellschaften regiert, dann wird die erste Klasse fast immer raffinierte und wirkungsvolle Wege finden, um jegliche Gesetze zu umgehen, die versuchen, die Herrschaftsbedingungen aufzuheben und ihre Befehlsgewalt einzuschränken. Wie Marx sehr viel später in »Zur Judenfrage« argumentieren sollte,197 dürfen die Ziele der Politik nicht zu weit von den Interessensverhältnissen entfernt sein, wenn es jenen gelingen soll, die von diesen erzeugten Pro­bleme zu beheben : die Harmonie der Interessen »an der Spitze« (in der politischen Sphäre) bedarf eines Fundaments für die Harmonie »unten« (auf der Ebene der ökonomischen Interessen). Bevor wir weitergehen, lohnt es sich, kurz auf eine Frage zurückzukommen, die an einer früheren Stelle dieses Kapitels aufgeworfen worden ist : Sprechen die hier vorgelegten Argumente bezügBeurteilung der Legitimität sozialer Ungleichheiten | 231

lich der Gefahr, die von der ökonomischen Ungleichheit für die Freiheit ausgeht, tatsächlich gegen relative Wohlstandsdefizite im Gegensatz zu absoluten Bedingungen des Mangels ? Wird Freiheit, anders gesagt, eher dadurch bedroht, dass man weniger als andere hat, oder dadurch, dass man bloß arm ist – gemessen an absoluten Standards ? Die Antwort auf diese Frage lautet vermutlich »beides«, denn in den richtigen Umständen kann das eine wie das andere die Wahrscheinlichkeit von Herrschaft erhöhen.198 Obwohl ich unten behaupten werde, dass es manchmal hilfreich ist, qualitative Unterscheidungen zwischen ökonomischen Ungleichheiten vorzunehmen – sich auf bestimmte Arten von Ungleichheiten des Reichtums zu konzentrieren, weil sie gefährlicher als andere sind  –, ist Ungleichheit und nicht nur absolute Armut weiterhin der wesentliche Faktor, um zu verstehen, warum Freiheit in solchen Fällen bedroht ist. Man könnte meinen, die oben vorgebrachten Argumente beinhalteten, dass die wahre Bedrohung für das Vermeiden von Herrschaft das Armsein ist, da die Verbindung zwischen Ungleichheit und der Wahrscheinlichkeit von Herrschaft auf der These beruht, dass Abhängigkeit – fehlende Autarkie hinsichtlich der Bedürfnisbefriedigung – eine notwendige Bedingung für das Motiv ist, dem Willen anderer zu gehorchen. Wenn, so der Einwand, die Grundbedürfnisse der Leute befriedigt sind, das heißt, solange sie nicht arm sind, stellt ungleicher Reichtum kein Pro­blem dar, da sich ja niemand von der Not gezwungen sieht, anderen zu gehorchen, und fehlt dieser Anreiz, wird niemand oder nur sehr wenige geneigt sein, es zu tun. Es ist, anders gesagt, nicht die Ungleichheit allein, die Herrschaft erzeugt, wohl aber Ungleichheit im Verbund mit Abhängigkeit und Bedürftigkeit. Daraus folgte, dass, würden die stark Benachteiligten nicht mehr absolut gesehen arm sein, ihr gegenüber anderen Benachteiligtsein, nicht einmal wenn es beträchtlich wäre, weiterhin ein substantielles Hindernis dafür bildet, dass sie nur sich selbst gehorchen. (Selbst wenn dieser Einwand richtig wäre, würden Rous­seaus Argumente auf ein unter Bedingungen der Ungleichheit häufig übersehenes Übel der Armut hinweisen : Wer arm ist, dessen Bedürfnisse bleiben nicht nur unerfüllt oder dem fehlt es nicht nur an den materiellen Voraussetzung für ein anständiges Leben, er ist darüber hinaus auch anfällig dafür, von den Nichtarmen beherrscht zu werden.) 232 | Kapitel 4 

Dieser Einwand sieht etwas Richtiges : Arm und benachteiligter als andere zu sein stellt eine große Gefahr für die eigene Freiheit dar, denn dass man nicht nur weniger als andere hat, sondern zusätzlich noch arm ist, bedeutet, man erfährt einer größere und bedrängendere Bedürftigkeit und damit steigt der Anreiz, sich einem fremden Willen zu beugen. Doch selbst dann greift Rous­seaus Grundsatz mit Recht Ungleichheit und nicht Armut als die wesentliche Bedrohung der Freiheit, verstanden als Fehlen von Herrschaft, heraus. Ein Grund dafür ist, dass absolute Armut nicht an sich, bei Fehlen von Ungleichheit, hinreicht, Herrschaft zu erzeugen (während Ungleichheit, wie ich unten zeigen werde, bei Fehlen von absoluter Armut zu Herrschaft führen kann). Das liegt daran, dass gleiche absolute Armut, mag sie auch aus anderen Gründen schlecht sein, nicht die Basis für Asymmetrien bereitstellt, in denen sich Gehorsamkeitsstrukturen ausbilden können. Um noch einmal Rous­seaus einleitende Charakterisierung der moralischen Ungleichheiten anzuführen : Herrschaft ist ein relatives Phänomen – ein »Privileg, das einige zum Nachteil der anderen genießen« (DU, 77 / OC III, 131) – und daher muss ihre Quelle ebenfalls ein relatives Phänomen sein, nämlich ökonomische Ungleichheit und nicht bloß absolut definierte Bedürftigkeit. Ein zweiter Grund, warum Rous­seau ganz richtig die Ungleichheit betont, ist, wie viele Verteidiger des Egalitarismus aufgezeigt haben, dass unsere Vorstellungen darüber, was unsere Grundbedürfnisse sind oder was nötig ist, um ein anständiges Leben zu führen, nicht historisch festgelegt sind, sondern sich in Reaktion auf soziale und kulturelle Entwicklungen wandeln. Wenn, was wahrscheinlich scheint, diese historischen Variablen den Gesamtreichtum einer Gesellschaft ebenso einschließen wie das Wohlstandsniveau verschiedener Gruppen innerhalb dieser, dann darf man bezweifeln, dass Armut, außer vielleicht in sehr extremen Fällen, sich je in absoluten Bestimmungen definieren lässt. Wenn unsere Vorstellung davon, was es heißt, ein halbwegs anständiges Leben zu führen, zum Teil davon abhängt, wie groß der gesellschaftliche Reichtum generell ist oder wie gut andere Gruppen in der Gesellschaft dastehen, dann ist Ungleichheit und nicht bloß ein absolut begriffener Armutsmaßstab ein gerechtfertigtes Angriffsziel des Rous­seau’schen Grundsatzes. Derselbe Punkt lässt sich auch so Beurteilung der Legitimität sozialer Ungleichheiten | 233

formulieren : Sieht man von Gesellschaften ab, die auf einer äußerst primitiven technischen Entwicklungsstufe stehen, dann ist der Begriff des Bedürfnisses – und folglich der Armut – selbst ein relativer, relativ nicht nur bezogen auf existierende Technologien, sondern auch bezogen darauf, wie viel Reichtum andere in derselben Gesellschaft besitzen. Alternativ könnte man, gestützt auf Rous­seaus Darlegung der fundamentalen Bestandteile der Natur des Menschen, sagen, dass Erwägungen des amour propre – dessen, was angemessen den Wert oder die Würde der Menschen spiegelt – und nicht bloß diejenigen des amour de soi-même in unsere Auffassung davon eingehen, was Individuen in einer bestimmten Gesellschaft brauchen oder was ihnen zur Verfügung stehen muss, um ein anständiges Leben zu führen. Eine Folge dieser Ansicht ist, dass selbst dann, wenn Regierungen die Armut als ihren Gegner nennen, sie oft, wenngleich vielleicht unwissentlich, auch die Ungleichheit ins Visier nehmen.199 Das ist jedoch nicht Rous­seaus Sicht. Ihm geht es nicht darum, dass es gut ist, Ungleichheit zu verringern, weil damit in der Regel eine Verringerung von Armut einhergeht. Er meint vielmehr, wir hätten einen wichtigen Grund, Ungleichheit zu verringern, der über unseren üblichen Grund, Armut zu verurteilen, hinausgeht. (Weil Arme ihre Bedürfnisse nicht befriedigen oder nicht einmal auf niederstem Niveau ein anständiges Leben führen können.) Dieser Grund ist der, dass Ungleichheit Herrschaft erzeugt. Rous­seaus These, dass Armut, wie wir sie normalerweise betrachten, für das Entstehen von Herrschaft weniger wichtig als Ungleichheit ist, wird von der Tatsache unterstützt, dass die Bedürfnisse, die zur Erklärung der Verbindung zwischen Abhängigkeit, Ungleichheit und Herrschaft angeführt werden, nicht »echt« sein müssen. Es können auch einfach nur eingebildete sein, da diese ebenfalls hinreichen, um abhängigen Individuen einen Anreiz zu bieten, anderen zu gehorchen, um sich deren Zusammenarbeit zu sichern : Die Gefahr von Herrschaft stellt sich immer dann ein, wenn die am schlechtesten Gestellten von sich meinen, sie bräuchten etwas, dass die Zusammenarbeit mit anderen ihnen verschaffen würde. Und da die Urteile des amour propre – Urteile darüber, was wir brauchen, um relativ zu anderen einen anerkannten Status einzunehmen – mehr als alles andere dazu beitragen, Launen oder Begierden zu eingebildeten Bedürfnissen zu machen, steht zu er234 | Kapitel 4 

warten, dass Ungleichheit die Abhängigkeit vergrößert (indem sie das vergrößert, was wir zu brauchen meinen, um unser Selbstwertgefühl von anderen bestätigt zu sehen), was unter den Bedingungen eben jener Ungleichheit leicht in Herrschaftsbeziehungen mündet : Da wir das erwerben wollen, was wir selbst für notwendig halten, um öffentlich angesehen zu werden, ist die Versuchung größer, dem Willen besser situierter Individuen zu folgen, von deren Zusammenarbeit – zum Beispiel ihrer guten Meinung von uns – wir uns Erfolg in dieser Sache versprechen. Wenden wir uns nun der Beziehung zwischen ökonomischer Ungleichheit und Wohlergehen zu. Auch was das betrifft, sind wir bereits dem Kern der Rous­seau’schen These begegnet, dass nämlich substantielle Unterschiede des Reichtums es den Gesellschaftsmitgliedern erschweren, ihren Wunsch (und ihr Bedürfnis) nach einer anerkannten Stellung zu befriedigen. Indem sie erklärt, dass Ungleichgewichte des Reichtums nicht nur die Freiheit, sondern auch das Wohlergehen der Gesellschaftsmitglieder gefährden, gibt uns seine Theorie eine weitere Reihe von Argumenta­tionshilfen an die Hand, um ökonomische Ungleichheit zu beschränken, auch wenn diese Beschränkungen nie ausdrücklich formuliert werden. Rous­seaus Position, die ihren Niederschlag in den von seinem allgemeinen Kriterium des gesellschaftlichen Rechts gelieferten Bedingungen findet, hält ökonomische Ungleichheit in dem Maße für unzulässig, indem sie in den Individuen entfachte Wünsche nach einer anerkannten Stellung auslöst, die eine allgemeine Befriedigung des amour propre – eines Grundbestandteils des menschlichen Wohlergehens – unmöglich macht. Anders gesagt können Systeme der Ungleichheit, die verhindern, dass jedes Individuum das legitime menschliche Bedürfnis nach Anerkennung erfüllen kann, rationalerweise nicht von allen gebilligt werden und sind daher illegitim. Dieser Teil der Rous­seau’schen Position scheint zunächst hoffnungslos vage zu sein, aber er ist nicht inhaltslos, und Rous­seau selbst reichert sie mit einigen Details an, die auf die Anwendungsmöglichkeiten hinweisen. Wir haben bereits gesehen, dass die verschiedenen Weisen, in denen eine legitime Republik allen ihren Bürgern gleiche politische Achtung erweist, einen erheblichen Beitrag dazu leisten sollen, alle Individuen mit angemessenen Quellen für eine anerkannte Stellung ausstatten. Das bildet den größten Beurteilung der Legitimität sozialer Ungleichheiten | 235

Teil von Rous­seaus Strategie, den legitimen Bedürfnissen der Individuen nach Wertschätzung und Achtung Rechnung zu tragen und die Entstehung entfachter Formen des amour propre überhaupt zu verhindern. Doch wie ich schon oben sagte, kann die gleiche politische Achtung kein Heilmittel für all die gesellschaftlich verursachten Pathologien der Anerkennung sein, die einer allgemeinen Befriedigung des amour propre im Weg stehen. Denn die gleiche politische Achtung mag zusammen mit verschiedenen Formen sozialer, nicht-politischer Ungleichheit bestehen  – beispielsweise mit ungleichem Reichtum –, die weiterhin eine pathologische Anerkennungsdynamik erzeugen und damit eine Befriedigung für alle unerreichbar machen. Aus diesem Grund muss die Verteilung von Reichtum und anderen sozialen Privilegien und nicht bloß die politische Gleichheit der Bürger für eine Theorie von Bedeutung sein, die den Gesellschaftsvertrag, so wie Rous­seau ihn begreift, zur Quelle gesellschaftlicher Legitimität erhebt. Das beinhaltet, dass nicht bloß politische, sondern auch soziale Institutionen Gegenstand seiner Darlegung sind, wie eine Gesellschaft organisiert werden muss, wenn die Bedingungen des Rechts in ihr verwirklicht werden sollen. Tatsächlich führt Rous­seau selbst diesen Gedanken nicht weiter aus. Anders als Hegel nach ihm entwickelt er keine umfassende Gesellschaftstheorie, die im Einzelnen betrachtet, wie nicht-politische Institutionen  – beispielsweise Familie und Wirtschaft 200 – zu gestalten sind, um das Recht vollständig zu verwirk­ lichen. Seine diesbezüglichen Anstrengungen verfolgen weitgehend das Ziel, die substantiellen Ungleichheiten der Reichtums zu kritisieren, die sich, aus Gründen, die uns mittlerweile vertraut sind, in einer unregulierten Wirtschaft »natürlich« einstellen : In dem Maße, wie ökonomische Ungleichheiten für das Entstehen entfachter Anerkennungswünsche in den Individuen verantwortlich sind, muss eine politische Philosophie, die sich darauf verpflichtet, die grundlegenden Interessen aller zu sichern, darüber nachdenken, wie diese Ungleichheiten in geregelte Bahnen zu lenken sind. Die vornehmste Aufgabe des Gesellschaftsvertrags – die Form der Vereinigung zu finden, welche die fundamentalen Interessen jedes ihrer Mitglieder schützt – ist unerfüllbar, sofern man die Aufmerksamkeit nicht darauf richtet, wie das nicht-politische Sozialleben die Anerkennungsbestrebungen seiner Teilnehmer prägt, und es leuchtet ein, 236 | Kapitel 4 

dass es für die Ausführung dieser Aufgabe nicht unerheblich ist, die Möglichkeit großer Vermögensungleichheiten klein zu halten. Da viele der in diesem Kapitel aufgestellten Thesen Argumente von beträchtlicher Komplexität enthalten, mag es nützlich sein, die Hauptpunkte meiner Rekonstruktion der Rous­seau’schen Kritik an der ökonomischen Ungleichheit zusammenzufassen : 1. Rous­seaus Kritik lenkt unsere Aufmerksamkeit auf eine besondere Art der illegitimen gesellschaftlichen Macht, nämlich auf Herrschaft, die regelmäßige Unterwerfung unter einen fremden Willen, aber auch darauf, dass sie ihre Quelle in der ökonomischen Ungleichheit hat. Wie ich im folgenden Kapitel zeigen werde, schenken liberale politische Theorien diesen beiden Themen in der Regel wenig Beachtung oder behandeln sie theoretisch unterkomplex, was nicht heißt, dass sie überhaupt keine Erwähnung finden. 2. Dass Rous­seau die Quelle der Herrschaft in asymmetrischen Abhängigkeitsverhältnissen aufspürt, lässt uns erkennen, wie weitverbreitete Herrschaft selbst dann existiert, wenn es keinen Zwang gibt und sogar eine reale Zustimmung vorliegt (wenn das Motiv für den Gehorsam darin liegt, sich die notwendige Zusammenarbeit zu sichern, um seine Bedürfnisse zu befriedigen). Herrschaft ist ein viel breiteres Phänomen, als bloß zum Gehorsam gezwungen zu werden. 3. Rous­seau führt uns vor, dass Herrschaft oft über den politischen Raum hinausgeht und sich auch in anderen Bereichen des sozialen Lebens bemerkbar macht, vor allem in der Wirtschaft (aber auch, wie wir aus Rous­seaus Grundsätzen schließen dürfen, in der Familie). Herrschaft ist nicht nur, ja nicht einmal primär, eine Beziehung zwischen Staatsbürgern, in der einige mehr als andere in der Gesetzgebung zu sagen haben. 4. Rous­seau argumentiert überzeugend, dass ökonomische Ungleichheit, vor allem Klassenunterschiede, typischerweise Herrschaft unter voneinander abhängigen Individuen erzeugt und dass eine gerechte Gesellschaftsordnung dazu verpflichtet ist, die materiellen Bedingungen von Herrschaft aufzuheben, um so sicherzustellen, dass es keine Grundlage für die systematische Herrschaft eines Individuums oder einer Gruppe gibt. Beurteilung der Legitimität sozialer Ungleichheiten | 237

Coda : Genealogie und Kritik

In der Einleitung zu diesem Buch habe ich den Zweiten Diskurs als eine Genealogie charakterisiert, die zugleich bezweckt, den Ursprung der sozialen Ungleichheit zu erklären und ihre Legitimität zu beurteilen, und die diese Aufgaben für wesentlich miteinander verflochten hält. Nachdem wir nun das Hauptargument des Zweiten Diskurses rekonstruiert haben, ist es an der Zeit, kurz auf die zu Beginn dieses Buchs aufgeworfene methodische Frage zurückzukommen : Warum geht Rous­seau, ähnlich wie Nietzsche es hundert Jahre später tun sollte, 201 so vor, als gäbe es eine tiefgehende Verbindung zwischen der Suche des Zweiten Diskurses nach Erklärungen – der Frage, woher die soziale Ungleichheit stammt – und seiner normativen Aufgabe, die Legitimität sozialer Ungleichheit zu beurteilen ? Oder, wie ich die Frage ursprünglich formuliert habe : Warum sollte die Bestimmung, woher etwas stammt, wesentlich für die Beurteilung sein, ob es in irgendeiner Weise gut ist ? In den vorangegangenen Kapiteln habe ich gezeigt, dass Rous­seaus Genealogie keine faktischen, historischen Fragen darüber beantworten will, wann und warum reale Ereignisse tatsächlich stattgefunden haben. Er legt stattdessen eine analytische Untersuchung vor, die komplexe menschliche Phänomene zu erklären sucht – verschiedene menschliche Praktiken, die Ungleichheit schaffen und aufrechterhalten –, indem sie die verschiedenen Faktoren trennt, die zusammengenommen ihre Existenz erklären. Die Frage nach dem Ursprung der Ungleichheit ist für Rous­seau die Frage danach, welche Kräfte im Menschen und in seiner Welt generell am Werk sein müssen, damit Ungleichheit ein so allgegenwärtiges und hartnäckiges Merkmal jener Welt hat werden können, wie es das unserer Erfahrung nach der Fall ist. Und wie wir gesehen haben, macht der Zweite Diskurs den primären »Ursprung« in einer einzigen psychologischen Kraft ausfindig, dem amour propre, sofern er ungehindert innerhalb gewisser sozialer Bedingungen, die von den Menschen selbst geschaffen worden sind, sein Wesen treibt, mit dem Ergebnis, dass die Menschen ihrerseits den »künstlichen« Bedingungen der Ungleichheit unterworfen werden. Den analytischen anstelle des historischen Charakters der Rous­ seau’schen Genealogie hervorzuheben beantwortet indes nicht die 238 | Kapitel 4 

oben gestellte Methodenfrage, denn eine derartige Analyse will ihren Gegenstand erklären und nicht bewerten. Wenn meine Rekonstruktion der Rous­seau’schen Kritik an der Ungleichheit zutreffend ist – wenn meine These gilt, dass es ihre Folgen sind, die über Legitimität oder Illegitimität der sozialen Ungleichheiten entscheiden –, dann ist zudem schwer zu erkennen, wie eine Darlegung von Ursprüngen der Sorte, wie der Zweite Diskurs sie benennt, überhaupt eine wertende Funk­tion erfüllen können. Wenn wir Rous­ seaus Genealogie so begreifen, wie wir es meiner Ansicht nach tun müssen – als eine, die in der Hauptsache soziale Ungleichheit bis zu ihrer psychologischen Quelle zurückverfolgt –, liegt es alles andere als auf der Hand, wie der Nachweis der Herkunft von Ungleichheit in seiner Darlegung dessen, was an ihr von Übel ist, eine Rolle spielen kann. (In dieser Hinsicht unterscheidet sich Rous­seaus Genealogie vermutlich von Nietzsches dadurch, dass die kritische Stoßkraft der letzteren zumindest teilweise darauf zu beruhen scheint, dass sie die Quelle der Moral im Ressentiment aufspürt.)202 Und auch das Verorten der Quelle von Ungleichheit in einer künstlichen Leidenschaft ist nicht schon die Kritik an ihr, denn wie ich behauptet habe, bedeutet der Nachweis, dass Ungleichheit, im gegenwärtigen Kontext, unnatürlich ist, lediglich, dass sie auf der Grundlage der Natur des Menschen allein nicht zu erklären ist – oder, anders ausgedrückt, dass es sich um ein in sich soziales Pro­blem handelt, nicht um ein mögliches Merkmal von Individuen an sich, losgelöst von allen Beziehungen zu anderen. Dennoch kann es für die Klärung der Frage, wie Genealogie und Kritik im Zweiten Diskurs zusammenarbeiten, hilfreich sein, die Folgen der Künstlichkeit des amour propre näher ins Auge fassen. Wichtig ist dabei, sich an die Verbindung zu erinnern, die Rous­seau zwischen Künstlichkeit und Formbarkeit zieht – wie auch daran, dass er beide mit dem Sozialen verknüpft. Die im Zweiten Diskurs berichteten »Entwicklungen« lassen sich aus dieser Perspektive als Teil einer analytischen Übung begreifen, die zu unterscheiden sucht, was in der menschlichen Realität aus unserer ursprünglichen Natur stammt (und sich damit unserer Kontrolle entzieht) und was aus unserer sozialen Existenz (und damit veränderlich ist und zumindest in einem gewissen Sinn auf unserer eigenes Tun zurückgeht). Die Quelle der moralischen Ungleichheiten im amour propre Beurteilung der Legitimität sozialer Ungleichheiten | 239

auszumachen statt in der ursprünglichen Natur des Menschen ermöglicht es uns, darin unsere eigenen Schöpfungen zu sehen, statt sie als notwendige Folgen unserer Natur zu begreifen. Damit ergibt sich die Möglichkeit, dass der amour propre auch in anderen Formen aufzutreten vermag als in denen, die uns am vertrautesten sind, und so ganz andere Ergebnisse zeitigen könnte, als in der im Zweiten Diskurs geschilderten verkommenen Gesellschaft vorliegen. Dieser Punkt lässt sich auch so formulieren : Die moralische Ungleichheit auf eine künstliche Leidenschaft zurückzuführen, lässt uns erkennen, wo der Zufall in die menschliche Realität hineinkommt. Freilich müssen wir uns daran erinnern, dass nicht bloß das Vorliegen des amour propre in dem ein oder anderen Gewand zufällig ist, sondern eher die besonderen Formen, die er in spezifischen sozialen Umständen annimmt. Oder genauer gesagt lautet Rous­seaus genealogische These, dass, selbst wenn in unserer Gesellschaft der amour propre in seinen entfachten Formen so allgegenwärtig erscheint, dies eine zufällige und potentiell korrigierbare Tatsache und kein notwendiges Merkmal der menschlichen Existenz ist. Zudem ist der entfachte amour propre nicht der einzige Zufall, der in Rous­seaus Geschichte hineinkommt. Wie er wiederholt betont, sind viele soziale Entwicklungen, die in seiner Genealogie auftauchen, darunter die spezifischen Gesetze des Privateigentums und die besonderen Formen der Arbeitsteilung, »zufällige … Umstände …, die sehr wohl niemals hätten einzutreten brauchen« (DU, 103 / OC III, 140). Das hängt selbstverständlich mit der Kontingenz des entfachten amour propre zusammen, denn nach Rous­ seaus Ansicht verdankt sich die Entfachung des amour propre eben dem Einfluss misslicher sozialer Einrichtungen (und einige dieser Bedingungen sind selbst von einem entfachten amour propre verursacht oder beeinflusst). Wenn Rous­seau den Zweiten Diskurs mit den Worten schließt, »der Beweis genügt mir, daß dieser Zustand nicht der ursprüngliche Zustand des Menschen ist« (DU, 267 / OC III, 193), dann haben wir das als die Behauptung zu verstehen, der von ihm gerade beschriebene Zustand des Falls der Menschheit sei nicht ein notwendiges Ergebnis des Soziallebens der Menschen in allen erdenklichen Formen. Die Genealogie ist deshalb so innig mit der Kritik verbunden, weil sie dazu dient, eine große 240 | Kapitel 4 

Menge sozialer Bedingungen zu »entnaturalisieren«, deren Legitimität wir unreflektiert zu akzeptieren neigen, gerade weil wir diesen Einrichtungen »Ewigkeitswert« zusprechen oder meinen, sie lägen »in der Natur der Dinge«. (Tatsächlich zeichnet sich schon auf den ersten Seiten des Zweiten Diskurs ab, wie sehr Rous­seau darum bemüht ist, sein Projekt der Entnaturalisierung durchzuziehen [DU, 63 – 67 / OC III, 122 f.].) Die Genealogie stört unsere unreflektierte »Zustimmung« zu den Ungleichheiten, die wir als eine natürlich gegebene Ordnung betrachten, und dadurch untergräbt sie die Hauptbedingungen ihres Fortbestands. Dieser Punkt wirft auch ein Licht darauf, warum die Realgeschichte für Rous­seaus Genealogie nicht völlig bedeutungslos ist : Wenn es eines der Ziele der Genealogie ist, die Zufälligkeit unserer sozialen Einrichtungen zu erweisen – wenn es eines ihrer Ziele ist zu zeigen, dass es Alternativen zum Privateigentum, dem Trieb nach Reichtum und der Arbeitsteilung, wie wir sie kennen, gibt  – dann sind empirische Belege, die uns die faktisch bestehende reiche Vielfalt mensch­ licher Lebensformen illustrieren, zweifellos einschlägig. Die Beispiele der Hottentotten, die mit dem bloßen Auge so weit sehen wie die Holländer mit dem Fernglas (DU, 105 / OC III, 141), und des Karaiben, dem es nicht einfällt, für morgen vorzusorgen (DU, 139 / OC III, 144), untermauern die These, dass frühere Philosophen viel zu viele zufällige Merkmale ihrer eigenen Gesellschaft einer als unveränderlich begriffenen Natur des Menschen zugeschrieben haben (DU, 79 / OC III, 132). Obwohl ich diese Interpreta­tionsthesen über Rous­seaus Genealogie für inhaltlich richtig halte, ist es ein wenig irreführend, die im Zweiten Diskurs beschriebenen Entwicklungen als bloß zufällig zu bezeichnen. Denn wie ich im zweiten Kapitel erklärt habe, glaubt Rous­seau, dass die Entartung des amour propre in ein schrankenloses, schädliches Streben nach einer überlegenen Stellung zwar nicht notwendig, aber doch sehr wahrscheinlich aus den vom ihm geschilderten Umständen folgt, vor allem wenn es nicht zu einem künstlichen Eingriff in die soziale Welt kommt, der sicherstellte, dass der amour propre eine freundliche statt einer zerstörerischen Form annimmt. Doch selbst wenn der Fall der Menschheit das wahrscheinlichste Ergebnis des Lebens in der Gesellschaft ist, gibt es immer noch einen Grund, ihn für kontingent (statt für notwenBeurteilung der Legitimität sozialer Ungleichheiten | 241

dig) zu halten. Entscheidend ist, dass das, was nicht notwendig ist, sich prinzipiell in etwas anderes verwandeln lässt, und herauszufinden, wie das möglich ist, ist die Aufgabe anderer Teile der Philosophie Rous­seaus. Die Genealogie ist folglich nicht nur für die Kritik bedeutsam, sondern auch für eine gesellschaftliche Veränderung. Auf diesen Aspekt der Genealogie weist Rous­seau hin, wenn er in einem Brief an Voltaire, in dem er die Erkenntnisse des Zweiten Diskurses unterbreitet, schreibt : »Ich habe den Menschen gezeigt, wie sie selbst ihr Elend über sich bringen und folglich wie sie es vermeiden könnten« (OC IV, 1061, Unterstreichung hinzugefügt). Wenn ich Rous­seau richtig verstanden habe, versetzen die Instrumente der Genealogie uns in die Lage herauszufinden, wie bestimmte kontingente Formen des Privateigentums  – etwa Privatbesitz an Grund und Boden oder an den Produktionsmitteln – neue, zerstörerische Gelegenheiten schaffen, nach sozialer Anerkennung zu streben, und so das schädliche Potential des amour propre verschärfen und ihm freien Lauf lassen. Diese Verbindungen zu verstehen ist aber unerlässlich, um systematisch darüber nachzudenken, wie die soziale Welt umgestaltet werden müsste, wenn der amour propre und die Ungleichheiten, zu deren Erzeugung er neigt, so eingeschränkt werden sollen, dass Freiheit und Wohlergehen für alle möglich ist, ohne soziale Ungleichheit vollständig aufzuheben. Das legt den Gedanken nahe, dass der Genealogie noch eine weitere analytische Funk­tion zukommt, nämlich die verschiedenen Fäden oder Elemente zu entwirren, die zusammengekommen sind, um die besonderen komplexen Phänomene zu bilden, die sie untersucht.203 Die Genealogie fragt : Welche im Prinzip voneinander trennbaren Entwicklungen und Ereignisse haben sich tatsächlich miteinander verbunden, um ein vorliegendes kontingentes Phänomen hervorzubringen ? Indem wir ein komplexes menschliches Phänomen entwirren, in seine einzelnen Elemente zerlegen und erkennen, wo der Zufall an seiner Entstehung beteiligt ist, befähigt uns die Genealogie, produktiv darüber nachzudenken, wie man die Elemente dieses Phänomens wieder so zusammensetzen könnte, dass wir einige der Gefahren und Nachteile vermeiden, die mit ihm verbunden sind. Diesen Aspekt der Rous­seau’schen Genealogie hat Nietzsche ebenfalls für seine eigenen Zwecke übernommen ;204 wie so viele Gedankenelemente des Zweiten Diskurses 242 | Kapitel 4 

hat auch dieses dem Gang der westlichen Philosophie unmittelbar nach Rous­seau und bis in unsere Gegenwart hinein seinen unauslöschlichen Stempel aufgedrückt.

Beurteilung der Legitimität sozialer Ungleichheiten | 243

Kapitel 5 Rous­seaus Kritik und ihre Bedeutung für uns Rous­seaus Haltung zur Illegitimität ökonomischer Ungleichheit lässt sich, wie ich im vorigen Kapitel sagte, schärfer in den Blick nehmen, wenn wir seine Kritik in Beziehung zu ähnlichen Ansätzen in der zeitgenössischen politischen Philosophie setzen, vor allem zu der von John Rawls entwickelten Version des Liberalismus. Obwohl einige zeitgenössische Positionen der von Rous­seau etwas näher stehen als die Rawls’sche,205 teilen die beiden Denker ein wichtiges Merkmal, das sie für einen Vergleich besonders geeignet macht : Im Gegensatz zu einem Großteil der liberalen politischen Theorie von heute ist beiden die allgemeine Tendenz eigen, die traditionellen Anliegen des Liberalismus zu erweitern, um darüber nachzudenken, wie das nicht-politische Sozialleben um der Verwirklichung der Gerechtigkeit willen zu gestalten ist. Das ist, sehr allgemein gesagt, die Richtung, die Rawls einschlägt, wenn er – sehr viel systematischer als die meisten früheren Theoretiker des Gesellschaftsvertrags – die Prinzipien der Gerechtigkeit auf die Grundstrukturen der Gesellschaft ausweitet und behauptet, die Realisierung eines politischen Werts, sprich Gerechtigkeit, hänge von bestimmten nicht-politischen Institutionen ab : der Marktwirtschaft und der Kernfamilie. Weniger offensichtlich ist, dass die Ähnlichkeiten zwischen Rous­seau und Rawls über diese gemeinsame allgemeine Ausrichtung, soziale und nicht bloß politische Institutionen in der Theorie zu berücksichtigen, hinausgehen. Wie ich unten zeigen werde, schließt Rawls’ komplexe Behandlung der ökonomischen Ungleichheit viele der spezifischen Elemente von Rous­seaus Kritik ein, und vermutlich geschieht dies bewusst. Hinsichtlich der Beziehung der ökonomischen Ungleichheit sowohl zur Freiheit als auch zu den grundlegenden Bedingungen des Wohlergehens erweist Rawls sich als ein einsichtsvoller Rezipient der Rous­ seau’schen Ansichten, sogar bis dahin, dass es schwerfällt, Unterschiede in ihren Positionen zu entdecken. Tatsächlich ist die Menge  245

der Überschneidungen zwischen ihnen zunächst sehr erstaunlich. Berücksichtigt man jedoch, dass Rawls seine eigene Position erst nach Jahren des Studiums und der kritischen Auseinandersetzung mit den kanonischen Schriften der politischen Philosophie entwickelt hat, wobei Rous­seau eine für ihn besonders wichtige Stellung einnimmt, verflüchtigt sich das Erstaunen doch sehr.206 Ich beginne sehr kurz mit dem Teil des Rous­seau’schen Standpunkts, den wir zuletzt im vierten Kapitel untersucht haben, also mit der Vorstellung, die Begrenzung von ungleichem Reichtum müsse Teil einer Strategie sein, die verhindert, dass der im nichtpolitischen Sozialleben entstandene Wunsch nach Anerkennung in einer Weise entfacht wird, die unweigerlich zu Enttäuschung, Zwietracht und unerfüllten Bedürfnissen nach Anerkennung führt. An keiner Stelle zeigt sich mehr, wie tief Rawls in der Schuld Rous­seaus steht, als in seiner These, dass »die sozialen Grundlagen der Selbstachtung« unter all den Grundgütern, die von gerechten Institutionen fair verteilt werden müssen, die wichtigsten sind.207 (Bereits der Begriff des Grundguts stammt ebenfalls, zumindest teilweise, von Rous­seau ; er kommt dem sehr nahe, was ich als »grundlegende Interessen« bezeichnet habe, und auch diesen Ausdruck verwendet Rawls gelegentlich.)208 Obwohl Rawls die Betonung vor allem auf die Selbstachtung legt und weniger auf die Wertschätzung oder die Achtung seitens anderer, macht die enge Verbindung zwischen den beiden, die Rawls selbst sieht, seine Haltung zur grundlegenden Bedeutung von Anerkennung nahezu ununterscheidbar von derjenigen, die Rous­seau einnimmt. Er schließt ausdrücklich »die Wertschätzung und Bestätigung der eigenen Person und ihrer Handlungen durch andere« in die für das Grundgut der Selbstachtung nötigen Umstände ein : Wollen wir dieses erlangen, sind wir auf »die Bestätigung unseres Selbstwertgefühls« durch andere angewiesen.209 Beide Denker sind sich also darin einig, dass es eine der Hauptaufgaben des gerechten Staates und eine wichtige Bedingung legitimer sozialer Einrichtungen ist, für die von mir so genannten sozialen Bedingungen Sorge zu tragen, die allen eine befriedigende Anerkennung ermöglichen. Rawls scheint in der Tat Rous­seaus Überlegungen zu der Beziehung zwischen ökonomischer Ungleichheit und Befriedigung des amour propre in einem Maße aufgegriffen zu haben, dass es schwerfällt, diesbezüglich 246 | Kapitel 5 

einen Unterschied zwischen ihnen zu entdecken. Denn nachdem er gezeigt hat, wie bestimmte Grundzüge einer gerechten Gesellschaft – Privateigentum, private Verbände, gleiche Rechte und Freiheiten aller Bürger210 – dazu beitragen, die sozialen Grund­lagen der Selbstachtung für alle zu schaffen, zieht Rawls die Möglichkeit in Erwägung, die Anwendung des Differenzprinzips (siehe unten) könne es notwendig machen, die Kluft zwischen den Extremen des Wohlstandsgefälles innerhalb einer Gesellschaft allein zu dem Zweck zu verringern, keine entfachten Leidenschaften – in erster Linie Neid211 – aufkommen zu lassen, die, sobald Rang und relativer Reichtum sich verbinden, eben jene von Rous­seau im Zweiten Diskurs betonten Pathologien der Anerkennung hervorrufen.212 Es mag in dieser Frage zwar feine Unterschiede zwischen den beiden Ansichten geben, 213 doch der Grad ihrer Überschneidung übertrifft bei weitem ihren Dissens. Für beide ist die Quintessenz die, dass ökonomische Ungleichheiten in dem Maße illegitim sind, wie sie zu ungesunden Anerkennungsdynamiken führen, die ein zufriedenstellendes Niveau der sozialen Anerkennung – oder der in dieser Anerkennung gründenden Selbstachtung – nicht jedem Gesellschaftsmitglied zugänglich machen. Weil sich ihre Ansichten in dieser Frage so grundlegend überschneiden, werde ich mich hauptsächlich auf das kompliziertere Verhältnis ihrer Haltung zur Verbindung von Freiheit und ökonomischer Ungleichheit konzentrieren sowie auf die Notwendigkeit, diese einzuschränken, um das Fehlen von Herrschaft für alle Gesellschaftsmitglieder zu sichern. Zunächst wäre da zu erwähnen, dass die Grundidee hinter Rous­seaus Ansichten zur Beziehung zwischen Freiheit und ökonomischer Ungleichheit mit der des zeitgenössischen Republikanismus, wie ihn Philip Pettit vertritt, übereinstimmt. Während der traditionelle Republikanismus meinte,214 praktisch gesehen lasse sich wenig dafür tun, die materielle Grundlage der Herrschaft dadurch zu verringern, dass die Ungleichheiten in Bezug auf Wohlstand und Status verkleinert werden, fordere seine Version des Republikanismus, so Pettit, vom Staat, sich für substantielle Umverteilungsmaßnahmen einzusetzen, wenn dies nötig ist, um die ökonomische Unabhängigkeit aller Bürger zu unterstützen.215 Derartige Maßnahmen, so wie Pettit sie versteht, bestehen vor allem in einer staatlich garantierten Grundabsicherung, die dafür sorgen Rous­seaus Kritik und ihre Bedeutung für uns | 247

soll, dass alle Individuen über die nötigen Verwirklichungschancen verfügen, um »normal und angemessen« am Gesellschaftsleben zu partizipieren.216 Radikalere Veränderungen, die sich gegen die im Wirtschaftssystem einer Gesellschaft liegenden Machtasymmetrien wenden, sind zwar nicht strikt ausgeschlossen, spielen aber in seinen Überlegungen zu den politischen Implikationen des Republikanismus nur eine geringe Rolle, obwohl er mit Rous­seau den fundamentalen Gedanken teilt, dass ökonomische Ungleichheit ein bedeutendes Hindernis für die Freiheit der Einzelnen ist. (Im vierten Kapitel wies ich schon darauf hin, warum Rous­seau meint, reine Umverteilungsmaßnahmen, wie Pettit sie favorisiert, würden wahrscheinlich ihren Zweck nicht erfüllen.) Wie wir unten sehen werden, sind Rawls’ Vorschläge zur Vermeidung asymmetrischer ökonomischer Abhängigkeit weitaus detaillierter als Pettits, auch halten sie grundlegendere ökonomische Veränderungen als dieser für geboten und stehen daher dem Gehalt der Rous­seau’schen Ansichten näher. Aus diesen Gründen wird ein Vergleich zwischen den Positionen von Rous­seau und Rawls zu einem ergiebigeren Verständnis des Ersteren führen als der Versuch, ihn sorgfältiger zu anderen Mitgliedern der republikanischen Tradition in Beziehung zu setzen.217 Es ist keine leichte Aufgabe, Klarheit über die Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen Rawls und Rous­seau hinsichtlich der Frage zu gewinnen, in welchem Verhältnis die ökonomische Ungleichheit zur Freiheit steht. Obwohl es auf den ersten Blick klare Unterschiede im Hinblick auf die Empfehlung einer spezifischen Politik und die fundamentalen Grundsätze gibt  – beispielsweise rückt Rawls die materielle Abhängigkeit und Herrschaft oder die Verbindung zwischen den beiden nicht in den Mittelpunkt seiner Theorie –, stellen sich die Unterschiede tatsächlich als sehr viel kleiner heraus, sobald man Rawls’ komplexe Position im Ganzen berücksichtigt. Wenn Rous­seaus Hauptgrund für die Einschränkung der ökonomischen Ungleichheit die Beseitigung von Herrschaft ist, so scheint Rawls’ Hauptgrund woanders zu liegen, nämlich in einer Überlegung, die für Rous­seau gar keine oder nur eine sehr geringe Rolle spielt. Wenn wir im Differenzprinzip Rawls’ entscheidende Antwort auf das Pro­blem der ökonomischen Ungleichheit sehen, wird dieser Gegensatz ergreifbarer. Der Witz des Differenzprin248 | Kapitel 5 

zips ist ja nicht der, die Bedingungen von Herrschaft abzuschaffen (oder Freiheit auf irgendeine andere Weise zu fördern), es geht dabei vielmehr darum, eine faire Verteilung des Nutzens sozialer Kooperation sicherzustellen. Man kann gar nicht genug betonen, wie wichtig die Vorstellung von der Gesellschaft als einem System der wechselseitigen Kooperation zum Vorteil aller für Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit ist und dass sie vor allem für seine Rechtfertigung des Differenzprinzips ausschlaggebend ist : Wenn Kooperation für alle gewinnbringend ist, weil sie mehr gesellschaftlichen Reichtum erschafft als Individuen, die nicht miteinander kooperieren, dann erhebt sich die Frage, wie die Vorteile der Kooperation fair unter denjenigen zu verteilen sind, die an den kooperativen Unternehmungen einer Gesellschaft beteiligt sind. (Rous­seau und Rawls sind sich darin einig, dass die Mechanismen des freien Marktes nicht zu einer gerechten Verteilung führen.) Die vom Differenzprinzip angegangene Frage würde sich für Rawls mithin auch in einer Gesellschaft stellen, in der Herrschaft – und Armut – beseitigt wären. In diesem Prinzip geht es nicht darum, die Armen aus der absolut definierten Armut herauszuholen oder sie davon zu befreien, sein Anliegen ist es vielmehr zu gewährleisten, dass die Schlechtergestellten, ungeachtet dessen, wie gut sie absolut betrachtet dastehen, einen fairen Anteil an den Vorteilen des Systems der Kooperation erhalten, zu dem sie beitragen.218 Sich primär auf das Differenzprinzip zu konzentrieren, kann leicht zu dem Schluss führen, Rawls und Rous­seau seien sich auch in der Frage uneins, wie viel ökonomische Ungleichheit in einer gerechten Gesellschaft zulässig ist, da das Differenzprinzip, worauf schon oft hingewiesen wurde, im Prinzip sehr große Wohlstandgefälle rechtfertigen kann, während Rous­seau davon überzeugt ist, dass bereits bescheidene Ungleichheiten potentiell Herrschaftsbedingungen hervorbringen können. (Das Differenzprinzip für sich genommen rechtfertigt eine unbeschränkte Zunahme der Kluft zwischen denen, die besser, und denen die schlechter gestellt sind, solange dadurch die absolute Lage der Letzteren verbessert wird.) Genau an dieser Stelle aber wird Rawls’ Position vielschichtig. Er ist der Ansicht, dass Überlegungen zur fairen Verteilung des aus der Kooperation gezogenen Nutzens zwar nicht aus sich heraus große Ungleichheiten des Reichtums ausschließen, dass aber eine Rous­seaus Kritik und ihre Bedeutung für uns | 249

Gerechtigkeitstheorie noch über andere Gründe verfüge, ihnen Grenzen zu setzen, und berücksichtigt man diese, wird die Bandbreite zulässiger Ungleichheit beträchtlich kleiner, vielleicht sogar so stark, dass auch Rous­seau damit zufrieden wäre. Diese These findet Bestätigung in einem Gedankengang, den Rawls am Ende seiner Laufbahn entwickelt : Mit den Prinzipien der Gerechtigkeit vereinbar sind nur Alternativen zum Kapitalismus, und das wäre etwa eine Demokratie mit Eigentumsbesitz, aber weder ein wohlfahrtsstaatlicher noch ein Laissez-faire-Kapitalismus.219 Eine Demo­k ratie mit Eigentumsbesitz ist eine »Alternative zum Kapitalismus«, weil sie »den weitverbreiteten Besitz von Produktivkräften und Humankapital« gewährleistet und damit die für die kapitalistische Produktion charakteristischen Klassenunterschiede aufhebt (oder stark verringert), unter denen »eine kleine Klasse beinahe ein Monopol an den Produktionsmitteln besitzt«.220 Wie auch immer eine Demokratie mit Eigentumsbesitz aussähe, würde sie detaillierter konkretisiert, als Rawls es leistet,221 sie ist sicherlich nicht weit entfernt von der Art von Gesellschaft, die Rous­seau, schriebe er im 21. Jahrhundert, befürwortet hätte. Die philosophisch tiefer gehende Frage ist die, ob Rawls’ Gründe für die Befürwortung einer Demokratie mit Eigentumsbesitz die gleichen sind wie die, die Rous­seau vorbringen würde. Wir haben Gründe, das zu verneinen. Rawls’ Hauptgrund für eine Begrenzung ökonomischer Ungleichheit, die über die vom Differenzprinzip geforderte hinausgeht, liegt darin, dass er die sozialen Bedingungen schaffen möchte, unter denen sowohl der faire Wert gleicher politischer Freiheiten als auch die faire Chancengleichheit verwirklicht werden können.222 In keiner dieser Begründungen scheint das Vermeiden von Herrschaft eine entscheidende Rolle zu spielen, doch gleichwohl spielt die Frage der Herrschaft in Rawls’ Rechtfertigung der beiden Prinzipien hinein. Beginnen wir mit der fairen Chancengleichheit. Wie im Falle des Differenzprinzips macht sich Rawls über die Chancengleichheit nicht deshalb so viele Gedanken, weil er Herrschaft vermeiden will. Ihm geht es stattdessen darum, Fairness zu garantieren, in diesem Fall Fairness im Wettbewerb um öffentliche Ämter und gesellschaftliche Positionen. In dem Maße, wie die verschiedenen Maßnahmen zur Einschränkung ökonomischer Ungleichheit notwendig sind, um zu gewährleisten, dass alle 250 | Kapitel 5 

»ähnlich motivierte[n] und begabte[n] Personen«, unabhängig von der Klasse, in die sie hineingeboren wurden, »die gleichen Aussichten auf Leistung« haben, schreibt das Prinzip der fairen Chancengleichheit die entsprechenden Maßnahmen vor.223 Chancengleichheit ist nicht dasselbe wie Herrschaftsfreiheit, doch möglicherweise sind die beiden Ideale enger miteinander verbunden, als es zunächst den Anschein hat. In dieser Hinsicht ist es bemerkenswert, dass Rawls den Zweck der vom Prinzip fairer Chancengleichheit gebotenen Maßnahmen manchmal im Rückgriff auf Herrschaftsvermeidung formuliert : In seiner Ausführung der Folgen dieses Prinzips befürwortet Rawls Institutionen, die »den langfristigen Trend ökonomischer Kräfte so regeln, daß übermäßige Konzentrationen von Eigentum und Vermögen verhindert werden, insbesondere solche Formen der Konzentration, die wahrscheinlich zu politischer Herrschaft führen«.224 Das liest sich zweifellos wie eine Version des Rous­seau’schen Grundsatzes – man begrenze ökonomische Ungleichheit so weit wie nötig, um Herrschaft zu vermeiden –, dennoch lohnt sich zunächst die Frage, wie genau hier Chancengleichheit mit Herrschaft verbunden ist. Wie Rawls sagt, geht es um politische Herrschaft, und seine Überlegung wird so aussehen, dass große Ungleichheiten des Reichtums die Chancen der weniger Bevorteilten beeinträchtigen, solche öffentlichen Ämter wahrzunehmen, in denen die Bürger die Gesetze des Staates erlassen und ausführen. Im Sinne Rous­seaus stellt dies eine Form von Herrschaft dar, denn wenn eine Gruppe langfristig im Vorteil ist, wenn es um die Verfassung von Gesetzen geht, die eine andere Gruppe befolgen muss, dann ist es jener gelungen, sich bei dieser Gehorsam zu verschaffen, auch wenn dieser Gehorsam die Form der Gesetzesbefolgung annimmt. Doch trotz der Tatsache, dass Rawls in seiner Befürwortung der fairen Chancengleichheit mitzubedenken scheint, dass sie einer Art von Herrschaft vorbeugt, ist festzuhalten, dass es einen begrifflichen Unterschied gibt zwischen dem Ziel, Fairness (der Chancen) durchzusetzen, und dem Ziel, Herrschaft zu beseitigen. Mit anderen Worten : Rawls’ Über­ legungen zur fairen Chancengleichheit liefern uns zwei – in dieselbe Richtung gehende, aber dennoch getrennte  – Gründe, Ungleichheiten des Reichtums zu verringern : Dieses Verringern ist eine Bedingung dafür, den Bürgern Fairness bei den Chancen einRous­seaus Kritik und ihre Bedeutung für uns | 251

zuräumen, aber auch dafür, eine bestimmte Form von Herrschaft abzuwehren, in der es einer Gruppe regelmäßig gelingt, ihren Willen mithilfe von Gesetzen durchzusetzen, denen andere gehorchen müssen. (Fairness ist selbstverständlich unabhängig von den Folgen definiert, die eine Einschränkung von Ungleichheiten für das Verhindern von Herrschaft hat.)225 Beinhaltet die von mir Rous­seau zugeschriebene Position nun eine substantielle Kritik an Rawls ? Was die institutionelle Ausgestaltung betrifft, scheint dies zweifelhaft zu sein. Und hinsichtlich des philosophischen Credos leuchtet es nicht ein zu sagen, Rawls’ Betonung der Fairness bedeute, dass seine Theorie dem Pro­blem der Herrschaft gegenüber indifferent dastehe. Angesichts der zentralen Rolle, die der Gleichheit der Bürger in Rawls’ Theorie zukommt, wäre es seltsam, das Fehlen von politischer Herrschaft lediglich als eine erfreuliche Konsequenz der Durchsetzung von Fairness zu begreifen. Allenfalls fordert Rous­seaus Einsicht uns auf, stärker, als Rawls selbst es tut, über die Beziehung zwischen dem Wert der Fairness und der Freiheit als Fehlen von Herrschaft nachzudenken. So ist es etwa möglich, dass Fairness und Freiheit (in diesem Sinn) – statt, wie in diesem Fall, zu konvergierenden – zu widerstreitenden Forderungen führen, und wenn es an dem ist, welchem von den beiden gebührt dann der Vorrang ? Und selbst wenn Fairness und Freiheit begrifflich distinkt sind, ist es dann nicht so, dass die Herstellung vollkommener Fairness in Fragen der ökonomischen Ungleichheit sich automatisch entschärfend auf das Pro­blem der Herrschaft auswirkt, ohne dass wir darüber nachgrübeln müssten, ob es noch zusätzlicher Maßnahmen bedarf, solcher, die über jene zur Durchsetzung von Fairness hinausgehen, um sicherzustellen, dass die Gesellschaftsmitglieder die Bedingungen von Ungleichheit vermeiden können, die unweigerlich Herrschaft nach sich ziehen ? Ich wende mich nun kurz der zweiten Reihe von Gründen zu, die Rawls für eine Beschränkung der ökonomischen Ungleichheit jenseits der vom Differenzprinzip geforderten nennt, nämlich der, die sich aus dem Ziel der Verwirklichung des fairen Werts gleicher politischer Freiheit herleiten lässt. Ökonomische Gleichheit wird hier ganz klar in eine Beziehung zur Freiheit gesetzt : Einige Freiheiten bleiben »bloß formal«, es sei denn, ein gewisser Grad dieser Gleich252 | Kapitel 5 

heit stattet die Bürger mit den Mitteln aus,226 die sie für ein mehr oder weniger gleiches Maß an Ausübung ihrer Rechte benötigen, um dadurch den »fairen Wert« dieser Rechte zu verwirklichen. Allerdings stellt sich die Frage, ob dieser Teil der Rawls’schen Ansicht sich der Gefahr zuwendet, die laut Rous­seau von der ökonomischen Ungleichheit für die als Fehlen von Herrschaft verstandene Freiheit ausgeht. Es ist interessant, dass die Antwort auf diese Frage genau diejenige ist, der wir schon oben begegnet sind, als wir die faire Chancengleichheit erörterten : Den fairen Wert gleicher politischer Freiheiten zu garantieren – und es sind nur die politischen Freiheiten,227 deren fairer Wert garantiert ist – bezweckt auch, Herrschaft in der politischen Sphäre zu beseitigen. Rawls drückt das so aus : »Der Grundsatz des fairen Werts der politischen Freiheiten gewährleistet, daß … Bürger unerachtet ihrer ökonomischen … Klassenzugehörigkeit ungefähr die gleichen Chancen haben, die Politik der Regierung zu beeinflussen und in hohe politische Positionen zu gelangen.«228 Wie Rawls also selbst erklärt, läuft die Sicherstellung des fairen Werts politischer Freiheiten am Ende auf die Sicherstellung einer besonderen Art der fairen Chancengleichheit hinaus, sprich auf die Chance, in hohe politische Ämter zu gelangen und damit auf die Gesetzgebung Einfluss zu nehmen.229 Obwohl ursprünglich dazu gedacht, eine Art von Fairness (der Chancen) durchzusetzen, tragen beide Prinzipien auch dazu bei, die Wahrscheinlichkeit einer bestimmten Art von Herrschaft im Rous­seau’schen Sinn zu verringern, nämlich politische Herrschaft. Aus all dem müssen wir folgern, dass Rawls’ Positionen zur fairen Chancengleichheit und zum fairen Wert gleicher politischer Freiheiten, denkt man sie aus der Perspektive der Rous­seau’schen Überlegungen durch, darin übereinkommen, uns zwei Gründe für die Beschränkung ökonomischer Ungleichheiten zu liefern – Fairness der Chancen und Vermeidung von Herrschaft – und dass, selbst wenn es hinsichtlich der Institutionen kleine Unterschiede im Detail gibt, sie uns anhalten, mehr über die Beziehung zwischen diesen beiden Idealen nachzudenken. Wenn vom Standpunkt Rous­seaus eine philosophische Kritik an Rawls angebracht ist, dann liegt sie in der Tatsache, dass beide Prinzipien sich gegen spezifisch politische Herrschaftsformen wenden. Politische Herrschaft liegt Rous­seau am Herzen. Er kritisiert sie in seiner BehandRous­seaus Kritik und ihre Bedeutung für uns | 253

lung des scheinbaren Gesellschaftsvertrags und ihr gilt seine Sorge im Gesellschaftsvertrag, in dem er Fraktionen in der Bürgerversammlung verbietet, sofern die Meinungen einer Gruppe über die zu verabschiedenden Gesetze sich stets gegenüber anderen durchsetzen, so dass die Letzteren im Endeffekt regelmäßig dem Willen der Ersteren folgen müssen (GV, 11.3). Politische Herrschaft ist indes keineswegs die einzige Form von Herrschaft, die Rous­seau beunruhigt. Das zeigt sich daran, dass Herrschaft im Zweiten Diskurs lange vor Gründung der politischen Gesellschaft in Erscheinung tritt (DU,  213 / OC III, 171), und sicherlich gehört es zu den Hauptzwecken der Schrift, auf die Gefahren nicht-politischer Herrschaftsformen hinzuweisen, in denen nicht Gesetze uns zwingen, einem anderen zu gehorchen, sondern schlicht die Verbindung von Abhängigkeit und ökonomischer Ungleichheit. Während Rawls durchaus sensibel für das Umschlagen ökonomischer Ungleichheit in politische Herrschaft ist, drängt uns der Zweite Diskurs, die Frage aufzuwerfen, ob dessen Theorie nicht andere, nicht-politische Formen von Herrschaft übersieht, an deren Beseitigung einer Theo­ rie der Gerechtigkeit ebenfalls gelegen sein sollte. Eine Möglichkeit, diese Frage ins rechte Licht zu rücken, ist vielleicht die, auf die Bedeutung hinzuweisen, die dem Begriff des Staatsbürgers in Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit zukommt. Ob er nun die Grundgüter definiert, die Grundfreiheiten bestimmt oder das Pro­blem der Herrschaft angeht, das sich aus ökonomischer Ungleichheit ergeben kann, stets sind es die Interessen der Individuen als Staatsbürger, die Rawls im Blick hat. Bei der Aufzählung der Grundfreiheiten fragt er sich zum Beispiel : Welche »Freiheiten [schaffen] die Bedingungen, die für den vollen Einsatz« der moralischen Vermögen »freier und gleicher Bürger wesentlich sind« ?230 Man könnte meinen, der Zweite Diskurs behaupte, den Individuen kämen nicht nur unter ihrer Beschreibung als Staatsbürger grundlegende und schutzwürdige Interessen zu. Oder genauer gesagt : Wir können vom Zweiten Diskurs annehmen, dass er noch auf andere soziale Sphären als die politische hinweist, in denen die grundlegenden Interessen der Individuen – allen voran das Interesse, frei von Herrschaft zu bleiben  – verwundbar sind und vom Staat geschützt werden müssen  – wobei der Staat auch für Rawls nicht nur Gesetze erlässt, sondern die Grundstruktur 254 | Kapitel 5 

der Gesellschaft, die der nicht-politischen sozialen Sphären eingeschlossen, gestaltet.231 Wie Smiths Beispiel des asymmetrischen Gehorsams deutlich macht, wird es so lange eine systematische, in der ökonomischen Struktur der Gesellschaft gründende Tendenz zur Entstehung von Herrschaft geben, wie das Verhältnis zwischen Arbeitern und ihren Arbeitgebern durch eine fundamentale Ungleichheit bestimmt ist. Doch die Herrschaft, auf die Smith unsere Aufmerksamkeit lenkt, ist in erster Linie keine politische ; das Pro­ blem, auf das er uns hinweist, besteht nicht darin, dass Arbeiter Gesetzen unterstehen, die allein von ihren Arbeitgebern und deren Vertretern verfasst worden sind – obwohl auch dies wahrscheinlich der Fall ist.232 Die Sachlage ist vielmehr die, dass eine Gruppe von Individuen sich in einer Situation befindet, in der sie, gefangen in einer Mischung aus Abhängigkeit und Ungleichheit, regelmäßig hinsichtlich der Löhne und Arbeitsbedingungen den Vorschriften einer anderen Gruppe Folge leisten muss, um ihre materiellen Bedürfnisse befriedigen zu können. Herrschaft spielt sich hier nicht in der Politik, sondern im alltäglichen Erwerbsleben ab, wo alles, vom Gang auf die Toilette bis hin zur Einstellung und Entlassung der Arbeiter, von denen bestimmt wird, die in dieser ungleichen Beziehung die vorteilhaftere Position innehaben.233 Schließlich ist unklar, ob Rawls selbst diesen Punkt – dass eine Theorie der Gerechtigkeit sich ebenso sehr Gedanken über Herrschaft im Bereich der Wirtschaft wie in dem der Politik machen sollte – ganz und gar unberücksichtigt lässt oder ob seine Theorie ihm nicht doch Rechnung tragen kann. Seine sehr knappe Beschreibung einer Demokratie mit Eigentumsbesitz  – jedenfalls eine sehr späte Ergänzung zu seiner Theorie der Gerechtigkeit  – macht es nicht leicht, das mit Gewissheit zu sagen, aber er schreibt dort, dass eine Demokratie mit Eigentumsbesitz darauf hinwirkt, »den Besitz an Vermögen und Kapital aufzusplittern und auf diese Weise zu verhindern, dass ein kleiner Teil der Gesellschaft die Wirtschaft … steuert« und es ihr Ziel ist, »alle Bürger in eine Position zu bringen, in der sie ihre eigenen Angelegenheiten mit einem angebrachten Maß an sozialer und ökonomischer Gleichheit regeln«.234 Einschlägig ist in diesem Kontext auch seine These, dass »eine übermäßige Macht des Marktes zu verhindern ist und zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern eine faire VerhandlungsRous­seaus Kritik und ihre Bedeutung für uns | 255

stärke herrschen sollte«.235 An einer Stelle scheint Rawls sogar seine Überlegungen mit Rous­seaus Forderung zu verknüpfen, dass ökonomische Ungleichheit reguliert werden muss, »um so einen Teil der Gesellschaft daran zu hindern, die übrigen zu beherrschen«.236 Die Verstreutheit dieser Bemerkungen wirft jedoch dieselbe oben erwähnte Frage über die Beziehung zwischen den Werten der Fairness und der Freiheit (als Fehlen ökonomischer Herrschaft) sowie darüber auf, wie genau sich die so verstandene Freiheit in die Hauptwerte eingliedert, auf die Rawls sich bezieht, wenn er die Grundgüter definiert, die Grundfreiheiten bestimmt und für die faire Chancengleichheit argumentiert, nämlich : die Ausübung der für freie und gleiche Bürger wesentlichen moralischen Vermögen. Am Anfang einer Rawls’schen Antwort auf diese Frage muss sicherlich stehen, dass die Vermeidung von Herrschaft in der ökonomischen Sphäre entscheidend ist, wenn Individuen ganz ungehindert ihre eigene Konzeption des Guten verfolgen können sollen. Zumindest aber erfährt die Unterscheidung zwischen diesen beiden Typen von Herrschaft – und die Bedeutung nicht-politischer Formen – bei Rawls keine theoretisch adäquate Behandlung, selbst wenn Rous­seaus Einsichten zu diesem Thema das komplexe Gebäude, und als solches wird man Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit in ihrer Gesamtheit wohl bezeichnen müssen, am Ende nicht sehr belasten. Ich schließe meine Darlegung von Rous­seaus Kritik an der Ungleichheit, indem ich kurz zwei Vorbehalte gegen seine Position äußere. Der erste lautet : Ist Gleichheit für sich genommen nicht ein zu grobschlächtiger Begriff, um all die besonderen Merkmale der Wirtschaftsverfassung einer Gesellschaft herauszustellen, die jene Übel erzeugen, die Rous­seau beunruhigen ? Schon die früher aufgeworfenen Fragen zur Unbestimmtheit der Rous­seau’schen Kriterien für eine freiheitsgefährdende Ungleichheit 237 sollten uns darüber nachdenken lassen, ob eine rein quantitativ bestimmte ökonomische Ungleichheit nicht zu unbestimmt ist, um ökonomische Bedingungen, die eine substantielle Gefahr für die Freiheit darstellen, von solchen zu unterscheiden, bei denen es unwahrscheinlich ist, dass sie in Herrschaft münden. Smiths Beispiel legt in der Tat den Gedanken nahe, dass Rous­seaus These zur Verbindung von Ungleichheit und Herrschaft möglicherweise besser zu 256 | Kapitel 5 

formulieren ist, indem man die Aufmerksamkeit auf besondere Typen der ökonomischen Ungleichheit lenkt, die nicht bloß quantitative Unterschiede verfolgen, sondern folgenreichere strukturelle oder funk­tionelle Merkmale des Wirtschaftslebens. Rous­seaus Verständnis der Grundlage dieser Verbindung fordert uns zu der Frage heraus : Welche Typen von Ungleichheit neigen dazu, dauerhafte, asymmetrische Abhängigkeitsbeziehungen bezüglich von Bedürfnissen zu erzeugen, deren Dringlichkeit die Benachteiligten wahrscheinlich zu dem Urteil bewegen, es bleibe ihnen keine andere Wahl, als regelmäßig dem Willen derer zu folgen, von denen sie hinsichtlich ihrer Bedürfnisbefriedigung abhängen ? Smiths Beispiel, das auf seinem geschärften Bewusstsein dafür beruht, wie der Kapitalismus sich die ökonomischen Klassenunterschiede zunutze macht – die nicht quantitativ definiert sind, sondern in Bezug auf die unterschiedlichen, in ihrem jeweiligen Verhältnis zu den Produktionsmitteln gründenden ökonomischen Funk­tionen, die von den betreffenden Klassen ausgeübt werden –, veranschaulicht überzeugend, auf welche Weise sich der Begriff der ökonomischen Ungleichheit verfeinern lässt, um ihn zumindest im Kontext der real existierenden kapitalistischen Gesellschaft für die politische Theorie zu präzisieren und schlagkräftiger zu machen. Mein zweiter Vorbehalt drängt Rous­seau ebenfalls in die Richtung auf Marx zu. Selbst wenn der Verlust von Freiheit im Bereich des Ökonomischen weiterhin ein Phänomen ist, dem die politische Theorie sich zu widmen hat, ergibt sich die Frage, ob Herrschaft, so wie Rous­seau sie definiert, das wichtigste Übel der modernen Wirtschaft an den Pranger stellt, das Menschen, die Sympathien für den Zweiten Diskurs hegen, beunruhigen sollte. Rous­seaus Definition von Herrschaft konzentriert sich auf das Phänomen des Gehorsams gegenüber dem Willen anderer und darauf, wie es die Freiheit derjenigen beeinträchtigt, die gehorchen. Dass er den Gehorsam gegenüber einem fremden Willen so stark betont, wird verständlich, wenn man bedenkt, dass Rous­seau ein Bild des Wirtschaftslebens voraussetzt, das in wichtigen Hinsichten abweicht von der ökonomischen Realität, wie wir sie in der heutigen westlichen Welt oder auch in der des 19. Jahrhunderts beobachten. Sein Gesellschaftsbild trägt im Wesentlichen noch immer die Züge einer feudalen oder zumindest vormodernen Welt, in der sich die kapitalistischen, Rous­seaus Kritik und ihre Bedeutung für uns | 257

durch einen unpersönlichen Markt vermittelten Beziehungen noch nicht vollständig entwickelt hatten.238 Aus diesem Grund läuft Rous­seaus Kritik Gefahr, die Fälle von illegitimen Asymmetrien in der gesellschaftlichen Macht nicht zu erfassen, die in der modernen Gesellschaft bedeutender als Herrschaft im strikten Sinne seiner Definition sind. In kapitalistischen Gesellschaften, so die Behauptung, beziehen sich die hervorstechendsten Fälle von asymmetrischen Machtverhältnissen nicht auf die Beziehung zwischen den Willen einzelner, wobei eine Partei den Befehlen einer anderen gehorcht. Es ist genau dieser Gedanke, der Max Weber veranlasst, zwischen Herrschaft und Macht im Allgemeinen zu unterscheiden, oder genauer gesagt, Herrschaft als bloß eine Form zu betrachten, in der Machtasymmetrien auftreten können.239 Auf Webers Terminologie gestützt, können wir sagen, dass in den allermeisten Fällen die Arbeiter von den Kapitalisten nicht dadurch unterdrückt werden, dass jene gezwungen sind, den Befehlen dieser zu gehorchen. Wenn der freie Markt die Grundbedingungen für die Verteilung des Nutzens der sozialen Kooperation festlegt, führt dies im Verbund mit der grundlegenden Ungleichheit der ökonomischen Stellung der Klassen dazu, dass die besitzende Klasse in der Lage sein wird, ihren Willen – sehr viel mehr zu bekommen, als sie möchte – gegenüber einer besitzlosen Klasse durchzusetzen, ohne dafür Befehle erteilen zu müssen, denen die Letztere gehorcht. In kapitalistischen Wirtschaftssystemen stoßen sozusagen Willen – oder genauer gesagt Interessen – auf­ein­ ander, dergestalt, dass der Konflikt stets zugunsten einer der Parteien entschieden wird, ohne dass diese Willen jemals direkt aufeinander zu stoßen brauchen und ohne dass ein Wille dem anderen Befehle erteilen muss. (In diesem Kontext ist es interessant, dass die Globalisierung der Weltwirtschaft eine Situation erzeugt hat, in der Herrschaft, in dem engeren Rous­seau’schen Sinn, [wieder] zu einer nicht unerheblichen Form der Unterdrückung zwischen Ländern geworden ist : Organisationen wie der Internationale Währungsfonds, der von den reichen Ländern kontrolliert wird und deren Interessen fördert – oder, um genauer zu sein, von denen innerhalb der reichen Länder, die bereits den Löwenanteil vom Reichtum ihrer Gesellschaften besitzen –, schreiben den ärmeren, asymmetrisch abhängigen Nationen höchst detaillierte innenpolitische 258 | Kapitel 5 

Maßnahmen vor.)240 Wenn Rous­seaus Kritik der ökonomischen Ungleichheit den bedeutenden Formen gerecht werden soll, in denen sich Machtasymmetrien in der modernen Welt niederschlagen, müssen wir seinen verengten Blick auf Gehorsamkeitsbeziehungen so erweitern, dass er auch die dem Willen der Bevorteilten auf dem »freien« Markt sich bietenden Möglichkeiten erfasst, das Handeln der Benachteiligten zu bestimmen, ohne dass dafür Befehle ergehen oder ihnen gehorcht werden müsste. Mit anderen Worten : Rous­ seaus politische Theorie wäre fehlerhaft, würde man sie so deuten, dass Herrschaft die einzige Art illegitimer gesellschaftlicher Macht ist, die durch ökonomische Ungleichheit möglich wird, oder dass eine politische Theorie sich allein um sie kümmern müsste. Einige andere Formen illegitimer gesellschaftlicher Macht sind darin eng mit Herrschaft verwandt, dass eine Klasse beim Marktwettbewerb regelmäßig die Oberhand über eine andere gewinnt, ohne dass irgendjemand Befehle erteilt, denen ein anderer folgt. Zu anderen Formen illegitimer sozialer Macht, über die eine politische Theo­ rie nachdenken sollte, zählen : Gewalt, Marginalisierung, Ausbeutung und die verächtliche Behandlung anderer. 241 Doch auch wenn Herrschaft, im strikten Sinn, im Kapitalismus eine weniger wichtige Rolle als in den vormodernen Klassengesellschaften spielt, bleibt sie, vor allem im globalisierten Kapitalismus unserer Tage, ein reales und wichtiges Phänomen.

Rous­seaus Kritik und ihre Bedeutung für uns | 259

Danksagungen Zur Entwicklung der hier vorgestellten Gedanken haben etliche Leute beigetragen. Neben Akeel Bilgrami, Christopher Brooke, Robin Celikates, Joshua Cohen, Maeve Cooke, Jeremy Forster, Andrew Franklin-Hall, Michael Friedman, Rafeeq Hasan, David Hills, Axel Honneth, Rahel Jaeggi, David James, Timo Jütten, Patricia Kitcher, Philip Kitcher, Felix Koch, Niko Kolodny, Tyler Krupp, Michael Nance, Andreja Novakovic, Dirk Quadflieg, Jeppe von Platz, Dasha Polzik, Jon Rick, Carol Rovane, John Scott, Herman Siemens, Daniel Viehoff, David Wiggins und Alan Wood möchte ich auch den namenlosen Teilnehmern meiner an zahlreichen nordamerikanischen Universitäten gehaltenen Vorträge danken : an den Universitäten Berkeley, Binghamton, Chicago, Columbia, Harvard, dem Hunter College, der New York University, der New School, North Carolina, Penn, Princeton, Stanford und Toronto. Aber auch einer Reihe von ausländischen Institutionen sei gedankt : dem University College Dublin, der Berliner Humboldt-Universität sowie den Universitäten von Basel, Gießen, Frankfurt, Halle, Leiden, Oslo und Sussex. Daneben habe ich von Hilary Gaskin unschätzbaren Rat für die Verbesserung des ersten Manuskriptentwurfs erhalten. Am meisten aber stehe ich intellektuell in der Schuld der vielen Studenten, die im Laufe etlicher Jahre und an den verschiedensten Institutionen meiner Interpreta­tion von Rous­seau gelauscht, sie infrage gestellt und dazu beigetragen haben, sie zu verbessern. Einige Teile dieses Buches stützen sich auf bereits veröffentlichte Aufsätze : »Rous­seau and the Human Drive for Recognition«, in Hans-Christoph Schmidt am Busch und Christopher F. Zurn (Hgg.), The Philosophy of Recognition, Lanham, MD, 2010, S. 21 – 46 ; »Die normative Bedeutung von ›Natur‹ im moralischen und politischen Denken Rous­seaus«, in Rainer Forst, Martin Hartmann, Rahel Jaeggi und Martin Saar (Hgg.), Sozialphilosophie und Kritik, Berlin 2009, S. 109 – 133 ; »Jean-Jacques Rous­seau and the Origins of Autonomy«, Inquiry 54 (2011), S. 478 – 493 ; »The Critical Function of Genealogy in the Thought of J.-J. Rous­seau, Review of Politics 74  261

(2012), S. 371 – 387 ; »Rous­seau und die Idee einer ›pathologischen‹ Gesellschaft«, Politische Vierteljahresschrift 53 (2012), S. 628 – 45 ; »Rous­seau und Hegel : Zwei Begriffe der Anerkennung«, in Stefan Lang und Lars-Thade Ulrichs (Hgg.), Subjektivität und Autonomie, Berlin 2013 und »Rous­seau’s Critique of Inequality«, Philosophy and Public Affairs 41 (2013), S. 193 – 225. Ich danke den Herausgebern dieser Aufsätze für die Erlaubnis, einiges daraus hier aufnehmen zu dürfen.

262 | Danksagungen 

Anmerkungen Einleitung

  Diese Beispiele stammen aus Joseph E. Stiglitz, The Price of Inequality (New York 2012), S. 2 f. Stiglitz’ ausführliche Behandlung und Kritik gegenwärtiger Ungleichheit ist eine hervorragende empirische Begleitstudie zum Zweiten Diskurs. 2  Zur Zitierweise der Werke Rous­seaus siehe die Liste der Abkürzungen. 3  Rous­ seau selbst bezeichnet das Projekt des Zweiten Diskurses in einem Brief an den Erzbischof von Paris als eine Genealogie (OC IV, 936). 4  Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, KSA, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin 1999, S. 249 f. (Erste Hervorhebung von mir, F.N.) Andere Spielarten dieses Projekts sind für Fichtes Wissenschaftslehre, Feuerbachs Kritik der christlichen Theologie, Marxens Ideologietheorie, den von Heidegger in Sein und Zeit vorgeschlagenen Abbau der Metaphysik und für Foucaults Genealogien verschiedenster, die westliche Moderne bestimmender Gesellschaftsphänomene entscheidend. Und was noch offensichtlicher ist : Hegels Phänomenologie des Geistes ist ohne die Idee unverständlich, dass die Geschichte unserer normativen Praktiken nachvollzogen werden muss, um deren Legitimität zu bewerten. 5 John Locke, The Second Treatise of Government, in Two Treatises of Government, hrsg. von Peter Laslett, Cambridge 1960, Kapitel 2. (Dt. : »Über den wahren Ursprung, die Reichweite und den Zweck der staatlichen Regierung«, in Zwei Abhandlungen über die Regierung, hrsg. und eingeleitet von Walter Euchner, übersetzt von Hans Jörn Hoffmann, Frankfurt am Main 1977, Kapitel 2) 6  Adam Smith, The Wealth of Nations, hrsg. von Edwin Cannan, New York 2000, S. xxiv, 14 – 18, 54. (Dt. : Der Wohlstand der Nationen, übersetzt von Horst Claus Recktenwald, München 1978) 7  In dieser Hinsicht unterscheidet sich Rous­seaus Genealogie auf bedeutsame Weise von derjenigen Nietzsches. Dessen Untersuchung über den Ursprung von Gut und Böse ist, jedenfalls in gewissem Maße, eine Untersuchung zu den tatsächlichen historischen Geschehnissen, die eine besondere Form der Bewertung haben entstehen lassen. Dazu hätte es nicht nur denkbare Alternativen gegeben, sie sind auch zu anderen Zeiten und an anderen Orten verwirklicht worden. Und doch findet sich etwas vom Rous­seau’schen Projekt bei Nietzsche wieder : Insofern das Ressentiment einen Teil seiner Antwort auf die Frage nach dem Ursprung der Sklavenmoral bildet, ist auch Nietzsche 1

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bestrebt, die Beharrlichkeit und Allgegenwart der Sklavenmoral in Zeiten und an Orten zu erklären, die von denen ihrer Entstehung unterschieden sind. 8 Zur Darstellung und Kritik des ›luck egalitarianism’ siehe Elizabeth S. Anderson, »What is the Point of Equality ?«, Ethics 109 (Januar 1999), S. 287 – 337. Obwohl ich – wie Rous­seau wohl auch – Andersons Kritik überzeugend finde, könnte man immer noch fragen, ob die Opponenten des ›luck egalitarianism’ vollständig ohne die Vorstellung auskommen können, dass das Verdienst irgendeine Rolle bei der Bestimmung moralisch gerechtfertigter Ungleichheiten spielt : Ist zum Beispiel eine Ablehnung der Praxis, Wohlstand und die damit verbundenen Vorteile zu vererben, denkbar, ohne an die Vorstellung zu appellieren, dass die betreffenden Söhne und Töchter nichts getan haben, um die Besitztümer ihrer Eltern zu verdienen ? Zu einem klaren Fall von ›luck egalitarianism’ siehe Ronald Dworkin, »What is Equality ? Part 2 : Equality of Resources«, Philosophy and Public Affairs (10) 4, 1981, S. 283 – 245. 9  Rous­seau’s Theodicy of Self-Love : Evil, Rationality, and the Drive for Recognition, Oxford 2008. (Auf deutsch erschienen unter dem Titel Pathologien der Selbstliebe. Freiheit und Anerkennung bei Rous­seau, Berlin 2012.) Kapitel 1

  »Moralisch« bildet hier den Gegensatz zu »physisch« und hat damit einen weiteren Sinn als »ethisch« oder »pflichtbezogen«. Je nach Kontext kann der Ausdruck ein Synonym für »geistig«, »immateriell« oder »kulturell« sein. Ein markantes Beispiel für diesen Gebrauch findet sich in Rous­seaus Bestimmung der »öffentlichen Person« oder des moi commun, die aus dem Gesellschaftsvertrag als ein »geistiger Gesamtkörper« (corps moral) hervorgeht, »dessen Mitglieder aus sämtlichen Stimmabgebenden bestehen« (GV, 1.6). Diese moralische Entität entsteht nicht durch physische Vorgänge. Sie ist vielmehr das Ergebnis der freien Zustimmung eines jeden seiner Mitglieder. 11  Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen, übersetzt von Horst Claus Recktenwald, München 1978, S. 28. 12  Die deutsche Übersetzung des Zweiten Diskurses wurde hier und im Folgenden verändert und enger an das französische Original angelehnt. A. d. Ü. 13  Im 3. Kapitel werde ich den wichtigen Begriff Grundlagen der Ungleichheit und seine Implikationen erörtern. 14  Eine mögliche Quelle der Verwirrung liegt darin, dass Rous­seaus Wortwahl annehmen lässt, er würde eine historische Erklärung für den Ursprung der Gleichheit liefern. Zu diesem vertrackten Pro­blem werde ich weiter unten mehr zu sagen haben. 15  Wer den Gesellschaftsvertrag gelesen hat, wird dies als die gleiche Frage wiedererkennen, die Rous­seau aufwirft, wenn er »in dem Menschen eine sehr bemerkbare Veränderung« betrachtet, »in dem in seinem Verhalten die Ge10

264 | Anmerkungen 

rechtigkeit an die Stelle des Instinktes tritt und sich in seinen Handlungen der sittliche Sinn zeigt, der ihnen vorher fehlte« (GV, 8.1). 16  Der Kenner des Gesellschaftsvertrags wird sich fragen, warum der dort beschriebene Naturzustand – ein Kriegszustand à la Hobbes (GV, 1.6) – sich so krass von seiner Schilderung im Zweiten Diskurs unterscheidet. Der Naturzustand in Teil 1 des Zweiten Diskurses stellt den Versuch dar, sich vorzustellen, wie das Leben der Menschen aussehen würde, gäbe es keinerlei künstliche Veränderungen (solche, die von Urteilen, Willensakten, historischen Entwicklungen und kontingenten sozialen Umständen abhängen), während der Naturzustand im Gesellschaftsvertrag ein Versuch ist, sich, ähnlich wie Hobbes und Locke es in ihrer politischen Philosophie tun, vorzustellen, wie das Leben von Menschen, die bereits durch die im Zweiten Diskurs beschriebenen Zivilisationsvorgänge verändert worden sind, aussehen würde, wenn es an politischen Institutionen fehlte. Daher entspricht – um die Sache noch verwirrender zu machen – der Zustand des Chaos und der Dominanz, wie er in Teil 2 des Zweiten Diskurses als unmittelbar der politischen Gesellschaft vorausliegend dargestellt (DU, 221 – 229, OC III, 175 – 8) und an einer Stelle als »der Naturzustand« bezeichnet wird, grob dem Naturzustand im Gesellschaftsvertrag. Diese beiden theoretischen Konstrukte könnte man dadurch auseinanderhalten, dass man den Ausdruck »ursprünglicher Naturzustand« für die in Teil 1 des Zweiten Diskurses ausgemachte Darlegung reserviert, doch da ich mich hier allein auf den Zweiten Diskurs konzentriere, werde ich häufig einfach das Wort »Naturzustand« verwenden und damit den in Teil I jener Schrift geschilderten ursprünglichen Naturzustand meinen. 17  Der aufmerksame Leser wird bemerkt haben, dass Rous­seau von der Natur (der Menschen) hier in einem noch anderen Sinn redet als in den weiter unten unterschiedenen zwei Sinnen : »die jetzige Natur des Menschen« bezieht sich darauf, wie der Mensch gegenwärtig ist, und unterscheidet sich insofern sowohl hinsichtlich seines erklärenden als auch seines normativen Sinns von der »Natur des Menschen«, wie ich sie hier definiere. 18  Zur Erörterung dieser Fragen vgl. Ludwig Siep, »Rous­seau’s Normative Idea of Nature«, in Finnish Yearbook of Political Thought 4 (2000), S. 53 – 72. 19  Rous­seau selbst unterscheidet zwischen einem beschreibenden (oder erklärenden) und einem normativen Sinn von Natur, wenn er die Naturrechts­ tradition und die verschiedenen Weisen erörtert, in denen frühere Denker das Naturrecht aufgefasst haben. Auf den ersten Sinn bezieht er sich, wenn er vom Naturrecht als den »allgemeinen Beziehungen« spricht, »welche die Natur allen belebten Wesen für ihre gemeinsame Erhaltung mitgegeben hat« ; auf den zweiten beruft er sich, wenn er von dem Gesetz redet, dass die Natur vernünftigen Wesen »vorschreibt« (DU, 69 / OC III, 124). Naturgesetze im ersten Sinn beschreiben oder erklären das Verhalten von Lebewesen, indem sie auf den Zweck aller belebten Wesen, die Selbsterhaltung, hinweisen ; Naturgesetze im Anmerkungen | 265

zweiten Sinn sagen uns, wie wir zu handeln haben (wenn wir die uns von der Natur vorgegebenen Zwecke erreichen wollen). 20  Deutsche Übersetzung geändert. A. d. Ü. 21 In E, 280 / OC IV, 568 führt Rous­seau diesen Gedanken weiter aus. Obwohl er diesen Punkt durch den Mund des savoyardischen Vikars verlauten lässt, sehe ich keinen Grund nicht davon auszugehen, dass es auch seine Ansicht ist. 22  Unten verteidige ich diese Interpreta­t ionsthese ausführlich. 23  Selbstverständlich ist der Gesellschaftsvertrag künstlich (GV, I.6) und Rous­seau lobt ausdrücklich eine Reihe künstlicher Phänomene, in GV, I.8, I.9 und II.7 wie auch im Zweiten Diskurs (DU, 203 ff., 213 / OC III, 169,171). 24  Für eine ausführliche Erörterung dieser und verwandter Fragen siehe Victor Gourevitch, »Rous­seau’s Pure State of Nature«, Interpreta­tion 16 (Herbst 1988), S. 23 – 59. 25  So etwa Roger D. Masters, The Political Philosophy of Rous­seau, Princeton 1979, S. 115 – 118 und Marc-F. Plattner, Rous­seau’s State of Nature : An Interpreta­tion of the Discourse on Inequality, DeKalb, Ill. 1979, S. 17 – 25. Tzvetan Todorov vertritt eine der meinigen ähnliche Ansicht in Frêle Bonheur : Essai sur Rous­seau, Paris 1985. Ich danke John Scott dafür, dass er mich gedrängt hat, intensiver über diese Frage nachzudenken. 26  Dass sich dieser Abschnitt auf den ursprünglichen Naturzustand bezieht, geht klar aus dem unmittelbar vorangegangenen Satz hervor, in dem es um die Frage geht, ob »die Menschen sich jemals in dem reinen Naturzustand befunden haben« – eine Frage die Rous­seau wieder einmal abschlägig bescheidet. Der ausdrücklich theologische Kontext, in dem die Frage aufgeworfen wird – Rous­seau verkennt nicht, dass viele meinen könnten, die Überzeugung von der historischen Wirklichkeit des Naturzustand widerspreche der biblischen Darstellung vom Ursprung des Menschen –, hat einige zu dem Schluss veranlasst, seine ausdrückliche Ablehnung der Historizität des Naturzustands ließe sich durch den Wunsch erklären, die Folgen einer theologischen Kontroverse zu vermeiden. (Christopher Brooke habe ich es zu verdanken, auf die Wichtigkeit dieser Möglichkeit gestoßen worden zu sein.) Obwohl Rous­seau sich bewusst war, welche realen Gefahren damit verbunden waren, der Kirchenlehre zu widersprechen, benötigt die These, dies sei sein einziger oder sein hauptsächlicher Grund gewesen, um den historischen Charakter des Naturzustands zu bestreiten, stärkere positive Belege, als die Schrift tatsächlich liefert. Denn : (1) treten nicht alle seine Zurückweisungen im Kontext theologischer Erörterungen auf (DU, 67 / OC III, 123) ; (2) gibt es keine einschlägigen positiven Belege für die gegenteilige Deutung (dass er eine historische Feststellung treffen will) ; und am wichtigsten (3) hätte Rous­seau sich mit der Auslegung des Naturzustands als eines historischen eine äußerst unglaubwürdige Auffassung aufgebürdet, die sogar ihm als eine solche erschienen sein muss. 27  René Descartes, Die Welt, Hamburg 2015, S. 49. Wie Rous­ seau so be266 | Anmerkungen 

schreibt auch Descartes seine Darstellung als eine »Fabel«, die nicht beansprucht, buchstäblich wahr zu sein (69). Auch in anderer Hinsicht hallt in Rous­seaus Beschreibungen seines Unterfangens das Descartes’sche nach, wie der folgende Abschnitt zeigt : »Wenn man auch vielleicht auf diese Weise erkennt, wie alle Naturkörper haben entstehen können, so darf man doch daraus nicht folgern, daß sie wirklich so gemacht worden sind. … und ich bin zufrieden, wenn die von mir erklärten Ursachen derart sind, daß alle Wirkungen, die sie hervorzubringen vermögen, denen gleich sind, die wir in den Erscheinungen bemerken …« René Descartes, Die Prinzipien der Philosophie, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Artur Buchenau, Hamburg 1992, S. 246. Allen Wood und David Hills verdanke ich den Hinweis auf diese Verbindung, während Elliot Paul sie mir erklärt und weitere Ähnlichkeiten zwischen den genealogischen Unternehmungen aufgezeigt hat. 28  Die Verbindung zwischen dem Künstlichen und dem Gesellschaftlichen werde ich im 2. Kapitel erklären. 29  Eine interessante, leicht verschiedene Deutung des Bildes der Natur des Menschen, wie sie im Zweiten Diskurs vorgestellt wird, findet sich bei John Scott, »Rous­seaus’s Unease with Locke’s Uneasiness«, in The Challenge of Rous­seau, hrsg. von Christopher Kelly und Eve Grace, Cambridge 2012, S. 302 – 311. 30  In diesem Buch verwende ich Selbstliebe in einem weiteren und in einem engeren Sinne. Im engeren Sinne ist Selbstliebe mit dem amour de soi-même identisch. Im weiteren oder allgemeinsten Sinne schließt Selbstliebe sowohl den amour de soi-même als auch den amour propre ein, weil beide Formen von Selbstinteressiertheit sind. 31  Sobald der amour propre im 2. Kapitel eingeführt worden ist, um das Bild zu erweitern, werden wir sehen, dass sich aus einer allgemeineren und genaueren Beschreibung des amour de soi-même ergibt, wonach dieser strebt : nach dem eigenen, nicht relativen (von der gesellschaftlichen Stellung unabhängigen) Wohlergehen. 32  Dass solch eine Überlegung in Rous­seaus Gedanken über die ursprüngliche Natur des Menschen eingegangen ist, wird aus seinem Verweis auf die »allgemeinen Beziehungen« ersichtlich, »welche die Natur allen belebten Wesen für ihre gemeinsame Erhaltung mitgegeben hat (DU, 69 / OC III, 124 ; Kursivierung hinzugefügt). An dieser Stelle geht es Rous­seau um die Charakterisierung des Naturgesetzes hinsichtlich seiner beschreibenden oder erklärenden Funk­t ion. Vgl. dazu Anmerkung 19. 33  Nicht nur an dieser Stelle bereiten Fragen des Geschlechts und des Geschlechterunterschieds Rous­seau im Zweiten Diskurs oder auch in seinen anderen Schriften Pro­bleme. Ein offensichtliches Beispiel dafür ist die Art und Weise, in der er ohne jede weitere Erklärung im zweiten Teil des Zweiten Diskurses (DU, 201 / OC III, 168) geschlechtsspezifische Lebensweisen einführt, obwohl die beiden Geschlechter im ersten Teil der Natur nach als praktisch Anmerkungen | 267

ununterscheidbar figurieren. Die im ersten Teil eingenommene Haltung scheint nach einer Erklärung des Geschlechterunterschieds im Zivilisationszustand zu verlangen, die auf zufällige soziale und historische Einflüsse verweist. Stattdessen führt Rous­seau die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern – Hausarbeit für sie, Jagen und Sammeln für ihn – so ein, als handle es sich um eine naturgegebene Einrichtung. Allerdings behandelt er in seiner Kritik an Locke (DU, Fußnote XII) Fragen des Geschlechterunterschieds sehr viel konsistenter. Mehr dazu findet sich bei Joel Schwartz, The Sexual Politics of Jean-Jacques Rous­seau, Chicago 1984. 34  Beispiele dafür, wie äußere Umstände die Entwicklung einer latenten Fähigkeit stimulieren, finden sich in Rous­seaus Erörterung, wie neue, durch veränderte äußere Bedingungen geschaffene Bedürfnisse den Verstand wachrütteln (DU, 137 / OC III, 143), und zu Beginn des zweiten Teils, wo natürliche Umweltveränderungen die Entwicklung der Fähigkeiten, etwas zu vergleichen und nachzudenken, anregen (DU, 195 / OC III, 165). 35  Die vor-darwinschen Aspekte von Rous­seaus Auffassung brauchen wohl nicht eigens betont zu werden : (1) unterscheidet die menschliche Gattung sich hinsichtlich des Vermögens zur Entwicklung und Veränderung grundlegend von allen anderen Gattungen ; (2) sind die latenten Vermögen der menschlichen Gattung selbst ihr vor jeder tatsächlichen Entwicklung ein für alle Mal von der Natur verliehen worden, selbst wenn die Art und Weise, in der diese vorgegebenen Vermögen sich konkret niederschlagen, von historischen und natürlichen Zufällen abhängt. 36  Vgl. etwa Victor Gourevitchs Bemerkungen in seiner Einleitung in den Zweiten Diskurs (DI, xxix-xx, engl. Ausgabe). 37  Es ist möglich, aber nur schwer mit Sicherheit zu belegen, dass Rous­seau etwas Stärkeres als die ihm von mir zugeschriebene Position vorschwebte – so etwas wie die Auffassung, es gebe ein mehr oder weniger festgelegtes Muster (oder eine kleine Anzahl möglicher Muster), an das sich die menschliche Entwicklung halten muss, sobald äußere Umstände sie in Gang gesetzt haben, und die betreffenden Fähigkeiten seien von vorneherein hinreichend von der Natur so bestimmt, dass sich sinnvoll sagen lässt, eine latente Fähigkeit würde in dem Sinn vervollkommnet, als sie vollständig verwirklicht oder in der Weise und in dem Ausmaß entwickelt wird, wie »die Natur es beabsichtigt hat«. Möglicherweise lässt sich diese stärkere Auffassung von der natürlichen Entwicklung im Emile finden – obwohl der Ausdruck »Vervollkommnung« sich meines Wissens nach nirgendwo in diesem Werk findet. Wie dem auch sei, mehr als die hier Rous­seau von mir beigelegte magere Auffassung braucht der Zweite Diskurs nicht, um soziale Ungerechtigkeit zu erklären und zu kritisieren, und mehr führt er ausdrücklich auch nicht an. 38  Der Unterschied zwischen Menschen und bloßen Tieren lässt sich auch so formulieren, dass diese Instinkte haben, die ihr Verhalten mit Notwendigkeit bestimmen, und jene (»vielleicht«) keine (DU, 129 / OC III, 143). 268 | Anmerkungen 

  An anderer Stelle beschreibt er diese Form der Freiheit so : »… sie besteht nur darin, daß ich nur wollen kann, was mir angemessen ist oder was ich für mir angemessen halte, ohne daß etwas von außen Kommendes mich dazu bestimmt« (E, 573 f. / OC IV, 586). 40  Es ist eine interessante, mir von Paul Guyer vorgelegte Frage, ob Rous­ seau tatsächlich diese starke Auffassung der metaphysischen Freiheit braucht, um an den Thesen über die menschliche Freiheit, die ihm im Zweiten Diskurs (und anderenorts) am wichtigsten sind, festhalten zu können. Um es anders zu formulieren : Ist die soziale Auffassung von Freiheit, die ihm am meisten am Herzen liegt, dass nämlich die einen nicht über die anderen herrschen, auf die metaphysische These vom freien Willen angewiesen ? Oder, mit Kant gesagt, verlangt Rous­seaus moralisches und politisches Projekt neben der praktischen Freiheit noch die transzendentale (Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, A802 / B830) ? Im Unterschied zu Rous­seau neige ich dazu, diese Fragen abschlägig zu beantworten. Siehe auch Anmerkung 99. 41  Auch an dieser Stelle spricht Rous­seau durch den Mund des savoyischen Vikars, doch dieselben Erklärungen finden sich auch in anderen Schriften, in denen Rous­seau eindeutig mit seiner eigenen Stimme spricht. 42  In der Anmerkung 2 deutet Rous­ seau mit einem Zitat von Buffon sogar an, dass ein »innerer Sinn« dieser Art notwendig ist, um zu der Erkenntnis der Natur des Menschen zu gelangen, wie der Zweite Diskurs sie fordert (DU, 63 / OC III, 196). 43 Kant, Kritik der reinen Vernunft, A802 / B830. 44  Meine Auffassung der Kantischen Position ist beeinflusst von Henry E. Allison, Kant’s Theory of Freedom, Cambridge 1990, S. 136. 45  Siehe auch Anmerkung 68. Mehr zum Mitleid und seiner Beziehung zur Geselligkeit im Zweiten Diskurs findet sich bei Charles L. Griswold, »Smith and Rous­seau in Dialogue : Sympathy, Pitié, Spectatorship and Narrative«, in : Vivienne Brown und Samuel Fleischacker (Hgg.), The Philosophy of Adam Smith : Essays Commemorating the 250th Anniversary of »The Theory of Moral Sentiments«, Bd. 5 der The Adam Smith Review, Oxford 2010, S. 59 – 84. 46  Die von mir Rous­ seau zugeschriebene These lautet, dass sich Sprache und Vernunft mehr oder weniger automatisch entwickeln, wenn soziale Beziehungen gegeben sind. Es handelt sich hier nicht um dieselbe These, die weiter oben in der Erörterung der Vervollkommnung zurückgewiesen wurde, dass nämlich Menschen von Natur aus mit einem inneren Trieb oder einer Neigung ausgestattet sind, ihre latenten Vermögen zu verwirklichen. 47  Allerdings muss man sich fragen  : Könnte es einen solchen Angreifer im reinen Naturzustand überhaupt geben ? Gleichgültig, wie man diese Frage beantwortet, jedenfalls sollte nicht aus dem Blick verloren werden, dass es für Rous­seau im Ganzen seiner Behauptung äußerst wichtig ist, dass solche Szenarien, selbst wenn sie vereinzelt möglich sind, im Naturzustand höchst 39

Anmerkungen | 269

selten stattfinden und folgenlos bleiben. Anders gesagt : Nichts in der Natur ruft zur Herstellung von Ungleichheiten auf. 48  Thomas Hobbes, Leviathan, Oxford 1998, Kap. II, §§ 13, Kap. 17, § 7. 49  Diese Beispiele unterscheiden normalerweise nicht zwischen verschiedenen Arten von Eigennutz. Wichtig ist, sich vor Augen zu halten, dass Rous­ seau sich durch seine präzise Unterscheidung zwischen amour de soi-même und amour propre auszeichnet und damit eine philosophische Neuerung von grundlegender Bedeutung einführt. Auch wenn der eine oder andere vor Rous­seau diese beiden Formen der Selbstliebe unterschieden hat, ist sein spezifisches Verständnis dieses Gegensatzes etwas Neues. Für mehr zur Geschichte des Begriffs der Selbstliebe vgl. Christopher Brooke, Philosophic Pride : Stoicism and Political Thought from Lipsius to Rous­seau, Princeton 2012 sowie Pierre Force, Self-Interest before Adam Smith : A Genealogy of Economic Science, Cambridge 2003. 50  Rous­seaus ausdrücklichste Bezugnahme auf sein Projekt der Entmystifizierung des Sozialen findet sich in einer Bemerkung, in der er frühere Versuche, den Naturzustand zu beschreiben, kritisiert : »Die Philosophen … haben alle die Notwendigkeit verspürt, bis auf den Naturzustand zurückzugreifen, aber keiner von ihnen ist dazu gelangt. … Endlich haben alle, die unaufhörlich von Bedürfnis, Begierde, Unterdrückung, Wünschen und Ehrgeiz sprechen, die Begriffe, die sie in der Gesellschaft aufgenommen haben, auf den Naturzustand übertragen. Sie sprachen vom Wilden und zeichneten den Zivilisierten (DU, 79 / OC III, 132). Kapitel 2

  Das heißt, philosophisch entsprechend dem Verständnis, das Rous­seau – und ein Großteil der Tradition – davon hat, worin eine philosophische Erklärung besteht. 52  Dabei handelt es sich um Nationen ohne Staaten, um Völker, die nicht durch politische Einrichtungen vereint sind, wohl aber durch Blutsbande und eine gemeinsame Lebensweise. 53  Obwohl es oftmals gute Gründe gibt, zwischen Wertschätzung und Achtung zu unterscheiden, sehe ich hier weitgehend von diesen Unterschieden ab. Ausführlich habe ich diese Unterscheidung behandelt in : Rous­seau’s Theodicy of Self-Love : Evil, Rationality and the Drive for Recognition, Oxford 2008, S. 61 – 70, 114 f. (Dt. : Pathologien der Selbstliebe. Freiheit und Anerkennung bei Rous­seau, Berlin 2012. 54  Niko Kolodny liefert provokative Antworten auf diese Fragen in »The Explanation of Amour-Propre«, Philosophical Review 119 (2010), S. 165 – 200. 55  Es ist von Belang, dass die Ziele des amour de soi-même sich nicht auf die Selbsterhaltung oder auch nur auf das leibliche Wohlbefinden beschränken. Das Gut, das der amour de soi-même bei zivilisierten Menschen anzustreben 51

270 | Anmerkungen 

sucht, ändert sich mit ihrer Verstellung von sich selbst. In dem Maße, in dem man sich nicht nur für ein leibliches Wesen hält, wird das angestrebte Gut daher die bloßen Lebensnotwendigkeiten übersteigen. (Siehe dazu N. J. H. Dent, Rous­seau : An Introduction to His Psychological, Social and Political Theory ; Oxford 1988, S. 98 – 103.) Mehr auf den Punkt gebracht, kann man sagen, die beiden Leidenschaften unterscheiden sich dadurch, dass die vom amour de soi-même angestrebten Güter stets absolute oder nicht-relative sind, und das in genau demselben Sinn, in dem die Ziele des amour propre, wie oben ausgeführt, stets relativ sind. 56  Es wäre töricht zu behaupten, Rous­seau arbeitete, und sei es nur implizit, mit genau demselben Begriff von Anerkennung, den später Fichte und Hegel entwickeln. Zugleich ist Rous­seaus Darlegung des amour propre – seines Wesens, seines Zwecks, seiner beklagenswerten Wirkungen – zweifellos die Quelle dieser späteren Konzeptionen. Trotz der Tatsache, dass Rous­seau das Wort niemals in Verbindung mit amour propre benutzt, geht man nicht zu weit mit der Behauptung, er sei  – möglicherweise neben Hobbes  – der erste Philosoph der Anerkennung in der westlichen Philosophie der Neuzeit. Einige Unterschiede zwischen den Anerkennungstheorien von Rous­seau und Hegel habe ich erörtert in »Rous­seau und Hegel. Zwei Begriffe der Anerkennung«, in Stefan Lang und Lars-Thade Ulrich (Hg.) Subjektivität und Autonomie. Grundpro­bleme der praktischen Philosophie nach Kant, Berlin 2013. 57  Wie Rous­seau in seinem Brief an Voltaire über das Erdbeben von Lissabon ausführt, beruhen selbst in diesem Fall die zerstörerischen Wirkungen oft auf künstlichen Umständen, etwa auf den schäbigen Behausungen der Armen, wodurch der Schaden der Naturkatastrophe in der Regel ungleich verteilt wird und unverhältnismäßig stark diejenigen trifft, die bereits in anderen Hinsichten benachteiligt sind (OC IV, 1059 f.). 58  Joshua Cohen arbeitet diesen Punkt besonders gut heraus in Rous­seau  : A Free Community of Equals, Oxford 2010, S. 101 – 104. 59  Dass viele Interpreten im Gegensatz zu mir bestreiten, Rous­ seau sähe ein egalitäres Potential im amour propre, ist durchaus verständlich. Die Belege für ein solches Potential sind im Zweiten Diskurs zugegebenermaßen recht dünn. (Ich lege sie oben unmittelbar im Anschluss an diese Anmerkung dar.) Klarer wird es hingegen im Emile : Es gehört essentiell zu einer gelungenen häuslichen Erziehung, den amour propre so zu formen, dass die Individuen sich selbst als moralisch Gleiche unter allen Menschen verstehen und eine gewisse Befriedigung ihres amour propre darin finden, als solche anerkannt zu werden. (Das zu leisten umreißt die Hauptaufgabe des Erziehers im 4. Buch.) Zudem ist die gleiche Achtung, die der Staat seinen Bürgern entgegenzubringen hat, ein wichtiges Thema im Gesellschaftsvertrag, und zu meinen, Rous­ seau beziehe dies nicht zum Teil auf die vom amour propre erzeugten Pro­ bleme, wie sie im Zweiten Diskurs beschrieben sind, fällt schwer. Diese Frage Anmerkungen | 271

erörtere ich ausführlicher in Rous­seau’s Theodicy of Self-Love, S. 33, 39 f., 59 f., 65 f., 166 – 69, 174 – 79. 60  Das Wort »primitivistisch« stammt von Arthur O. Lovejoy, der überzeugend die allgemeine Vorstellung widerlegt, Rous­seau fordere zu einer Rückkehr zum ursprünglichen Naturzustand auf oder idealisiere ihn wehmütig auf die eine oder andere Weise. Vgl. »The Supposed Primitivism of Rous­seau’s Discourse on Inequality«, in seinen Essays in the History of Ideas, Baltimore 1948, S. 14 – 37. 61 Das kommt der aristotelischen Definition des Menschen als animal rationale näher, als es scheint, denn Rous­seau lässt sich durchaus so lesen, als behaupte er, die Rationalität selber beruhe auf dem amour propre. (Vor diesem Hintergrund ist es interessant, sich daran zu erinnern, dass Aristoteles den Menschen auch als ein zoon politikon (ζῷον πολιτικόν), ein soziales oder politisches Lebewesen, definiert, als wäre gleichsam die Rationalität des Menschen an seinen sozialen Charakter gebunden). Zur Verbindung zwischen Rationalität und amour propre bei Rous­seau siehe mein Buch Rous­seau’s Theodicy of Self-Love, Kap. 7. 62  Hier heißt es sehr sorgfältig sein. Ich unterscheide solche Phänomene wie von sich mehr Aufhebens als von anderen zu machen und von sich selbst höher zu denken von dem breiteren Phänomen, nach einer überlegeneren Stellung zu streben. So wie ich Rous­seau lese, ist dieses, anders als jenes, ein unabdingbarer Teil menschlicher Existenz. Das aber heißt, einige Formen des Wunschs nach einer überlegenen Stellung wirken sich nicht schädlich auf das Sozialleben aus, etwa der Wunsch, von einem anderen »am meisten geliebt zu werden«, oder der Wunsch, als überlegener, ja bester Sänger oder Tänzer geschätzt zu werden. Vertieft habe ich diesen entscheidenden Punkt in Rous­ seaus’s Theodicy of Self-Love, Kap. 3. 63  Für Axel Honneth lässt sich meine optimistische Lesart des im amour propre angelegten Potentials nur schwer mit Rous­seaus späteren, stärker autobiographischen Schriften vereinbaren ; vgl. dazu seinen Aufsatz »Die Entgiftung Jean-Jacques Rous­seaus«, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 60 (2012), S. 625. Vielleicht sollten wir aber diese späteren Schriften einem philosophischen Unterfangen zurechnen, das sich von dem im Emile, im Gesellschaftsvertrag und im Zweiten Diskurs vorgestellten unterscheidet. Ich glaube, dass das spätere Projekt sich von der politischen Sozial- und Moralphilosophie in ihrer traditionellen Gewandung abwendet und stattdessen der Frage nachgeht, wie man so glücklich und integer wie möglich in einer hoffnungslos korrupten Welt leben kann, in der die in Rous­seaus früherem Werk vorgeschlagenen Heilmittel wirkungslos sind. 64  Belege dafür jenseits des Zweiten Diskurses finden sich in E, 486, 505, 689, 872 / OC IV, 523, 536, 670, 806. 65  Nietzsche verficht eine ähnliche Ansicht, wenn er den Ursprung der Zivilisation dazu in Beziehung besetzt, dass »eine Person sich an einer andern 272 | Anmerkungen 

misst«, und erklärt, die Feststellung von Äquivalenten durch den Vergleich sei »das Denken« (Zur Genealogie der Moral, Zweite Abhandlung, § 8. Verwandte Auffassungen über die Bedeutung des Vergleichs findet man bei Adam Smith, The Wealth of Nations, hrsg. von Edwin Cannan, New York 2000, S. 14. 66  Dieser Stolz ist noch nicht amour propre, denn erstens schielt dieser Blick auf sich selbst nicht auf die Meinungen anderer und zweitens geht es nicht um die Stellung, die Individuen zueinander einnehmen. Mit anderen Worten : Es fehlt an den beiden Arten von Relativität, die den amour propre definieren. 67  Vergessen wir nicht, dass diese Entwicklungen nicht als zeitliche Ereignisse verstanden werden sollten, so als behaupte Rous­seau, dass soziale Beziehungen tatsächlich zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Menschheitsgeschichte erst entstanden sind. Die Einführung des Soziallebens im zweiten Teil sollte stattdessen als Rücknahme einer Abstraktion gesehen werden, die im ersten Teil zu analytischen Zwecken vorgenommen worden ist. 68  Wenn Rous­seau in seiner Erörterung der Aufgabe des Gesetzgebers sagt, dass, »wer den Mut besitzt, einem Volk Einrichtungen zu geben, sich imstande fühlen muss, gleichsam die menschliche Natur umzuwandeln« (GV, II.7, 3), dann schwebt ihm nicht vor, dass der Gesetzgeber Geschöpfe, denen es am amour propre fehlt, für die Meinungen anderer, in diesem Fall seiner Mitbürger, empfänglich machen muss. Die Betonung liegt vielmehr auf »einem Volk Einrichtungen geben«, das heißt, eigeninteressierte Individuen dazu zu bringen, ihr eigenes Wohl als eng verbunden mit dem Wohl einer sozialen Gruppe zu betrachten, einschließlich des Wohls ihrer einzelnen Mitglieder. Sowohl der amour propre als auch der amour de soi-même müssen in diesem Sinn »sozialisiert« werden, wenn ein Volk, so wie Rous­seau es versteht, entstehen soll. Es müssen daher, anders gesagt, zwei Dinge unterschieden werden, die beide in herkömmlichen Auffassungen der Geselligkeit enthalten sind : die natürliche Fähigkeit, selbst ohne entsprechende Erziehungsmaßnahmen das Wohl einer sozialen Gruppe als sein eigenes zu wollen, und das in der eigenen Natur verankerte Haben gewisser Wünsche, die sich nur im Verkehr mit anderen befriedigen lassen, derart dass ein solcher Verkehr um seiner selbst willen und nicht nur zur Befriedigung der Ziele des amour de soi-même gesucht wird. Nur das zweite schreibt Rous­seau dem grundlegenden Charakter aller realen Menschen zu. 69  Zum Beispiel  : »Darum würde ich jemanden, der verhindern möchte, daß Leidenschaften überhaupt aufkommen, für nahezu ebenso töricht halten wie den, der sie gänzlich zerstören möchte. Und diejenigen, die glaubten, daß mein Erziehungsplan … darauf abzielte, haben mich ganz sicher gründlich mißverstanden (E, 440 / OC IV, 491).« Siehe auch E, 445 f., OC IV, 494. Vgl. auch Rous­seaus eigenen erfolglosen Versuch, sich von dem Wunsch nach der Bestätigung durch andere zu befreien (TES, 741, 743 / OC I, 1077, 1079). 70  Rous­ seau hat selbst erklärt, seine Bücher bildeten »ein zusammenhängendes System« (RJJ, 564 / OC I, 930, 934 f.). Vgl. auch Gustav Lanson, »The Anmerkungen | 273

Unity in Jean-Jacques Rous­seau’s Thought«, in John T. Scott (Hg.), Jean-Jacques Rous­seau : Critical Assessments, Oxford 2006, S. 11 – 29. 71  Es ist wichtig, wenngleich schwierig, im Kopf zu behalten, dass das »Erwachen« des amour propre ebenso wie die »Geburt« sozialer Beziehungen nicht als Ereignis in der Zeit verstanden werden sollte. 72  Weitere Bekräftigungen des kausalen Primats des amour propre finden sich in DU, 255 ff., 265 / OC III, 189, 193. 73 Obwohl Rous­ s eau dieses Wort nirgendwo im Zweiten Diskurs verwendet,hat es sich eingebürgert, die dort geschilderte Stufe der Zivilisation als das Goldene Zeitalter zu bezeichnen. 74  Für eine ausführliche Erklärung dieses wichtigen Merkmals des amour propre vgl. mein Buch Rous­seaus Theodicy of Self-Love, Kap. 4. 75  Auch wenn diese Menschen kurzfristig einen relativen Zweck verfolgen – den Ausbau ihrer Überlegenheit über andere Arten –, handelt es sich dennoch um eine nicht-relative Form der Selbstliebe, da der Endzweck ihres Handelns ein Gut ist – das Überleben –, das mit Bezug auf andere Geschöpfe weder bestimmt noch wertgeschätzt wird. Überlegenheit wird nur deshalb angestrebt, weil sie als Mittel zum Erreichen eines absoluten Zwecks dient. Wie gut andere hinsichtlich ihres Überlebens fahren, ist für den letztlich erwünschten Zweck bedeutungslos. 76  Um zu erklären, warum der Erste (nicht der Letzte) seine Lust erregen soll, muss man vielleicht auf die sehr schwache Form der Selbstbevorzugung – nämlich sein eigenes Wohl über das anderer stellen – zurückgreifen, die in allen Formen der Selbstliebe enthalten ist, auch im amour de soi-même. Obgleich diese Seite des amour de soi-même sich selten unter rein natürlichen Bedingungen äußert, tritt sie immer dann zutage, wenn ein grundlegender Interessenskonflikt zu einem Nullsummenspiel wird : Schließen sich mein Überleben und das deinige aus, liegt es, unabhängig vom amour propre, auf der Hand, dass ich mich selbst in einem gewissen Sinn dir gegenüber vorziehe (DU, 73 / OC III, 126). Durch dieses Element der Selbstbevorzugung wird der amour de soi-même nicht zu einem relativen Gefühl, da das begehrte Gut nicht dadurch bestimmt ist, wie gut andere hinsichtlich desselben Guts abschneiden. 77 Ähnliche Gedanken über die Beziehung zwischen geschlechtlicher Liebe und dem Wunsch, als der Beste anerkannt zu werden, finden sich in E, 445 / OC IV, 494. 78  Dieses Drama des sexuellen Begehrens wird vermutlich im Fall realer im Gegensatz zu bloß hypothetischen Menschen bereits in der kindlichen Sehnsucht ausagiert, von der Mutter (dem Erzieher ?) geliebt zu werden. Einige Passagen im Emile scheinen diese Annahme zu stützen (E, 163 / OC IV, 286). 79  Obwohl Rous­ seau mit seiner These, Metallverarbeitung und Ackerbau hätten »die Menschen zivilisiert und das Menschengeschlecht ruiniert« (DU, 213 – 217 / OC III, 171 ff.), die materielle Arbeitsteilung hervorhebt, verweist er 274 | Anmerkungen 

auch auf die verderblichen Folgen der ersten Klassenunterschiede : »… seit man bemerkte, daß es einem Einzelnen nützlich war, Vorräte für zwei zu haben, verschwand die Gleichheit. Das Eigentum war eingeführt, die Arbeit wurde nötig und die weiten Wälder verwandelten sich in lachende Felder, die mit dem Schweiß des Menschen begossen werden mußten. Die Sklaverei und das Elend entsprossen bald auf ihnen und wuchsen mit den Ernten« (DU, 213 / OC III, 171). Wie ich unten ausführlicher darlegen werde, beruht die Existenz unterschiedlicher ökonomischer Klassen auf dem Privateigentum – oder genauer gesagt, auf dem ungleichen Privatbesitz von Produktionsmitteln. 80  Streng genommen gilt dies nur für rechtlich abgesicherte Formen des Privateigentums, denn »eine Art Eigentum« – der informelle Anspruch, den jede Familie auf die von ihr errichtete Hütte hat – soll der durch die Metallverarbeitung und den Ackerbau angestoßenen Arbeitsteilung vorausgehen. (Der durch den Geschlechterunterschied bedingten Arbeitsteilung, die von Rous­ seau als ein gleichsam natürliches Merkmal des Soziallebens der Menschen behandelt wird, geht sie freilich nicht voran. Diese näheren Bestimmungen unterstreichen die schier unbeherrschbare Komplexität der Rous­seau’schen Darlegung wie auch die Notwendigkeit, seine These in der Rekonstruktion zu vereinfachen.) 81  Am besten lässt sich das der Tatsache entnehmen, dass im zweiten Teil der ganze Entwicklungszug durch die Schwierigkeiten in Gang gesetzt wird, vor denen die Menschen stehen, um ihre physischen Bedürfnisse zu befriedigen – etwa die Höhe der Bäume und die Fresskonkurrenz zu den Tieren (DU, 193 / OC III, 165). 82  In unveröffentlichten Vorlesungen hat István Hont auf fruchtbare Weise die Bedeutung des Luxus für Rous­seau untersucht. Zu verwandten Themen bei anderen Denkern der Aufklärung vgl. seinen Aufsatz »The Luxury Debate in the Early Enlightenment«, in The Cambridge History of Eighteenth-Century Political Thought, hrsg. von Mark Goldie und Robert Wokler, Cambridge 2006, S. 377 – 418. 83  Dieser Zusatz ist einer von vielen Beispielen im Zweiten Diskurs, an denen deutlich wird, dass dem Fehlen einer bewussten Kontrolle oder Organisation in der Erklärung sozialer Ungleichheit eine große Bedeutung zukommt. 84  Tatsächlich hält Rous­ seau, wie aus Anmerkung i klar hervorgeht und von István Hont betont worden ist, eins von diesen Szenarien für wahrscheinlicher, nämlich das, in dem die Bauern, nicht die Schmiede benachteiligt sein würden (DU, 123 / OC III, 206). 85  Die Unfähigkeit unentwickelter Geschöpfe, die verderblichen Folgen ihrer eigenen Entscheidungen vorherzusehen, ist ein wiederholtes, wenngleich oft übersehenes Thema des Zweiten Diskurses, der an verschiedenen Stellen auf ihr mangelhaftes Wissen (DU, 201 / OC III, 168), ihre falschen Überzeugungen (DU, 227 ff. / OC III, 177), ihre Einfältigkeit (oder Naivität) (DU, 191 / OC III, 164) und ihre Verblendung (DU, 101 / OC III, 202) verweist, um zu Anmerkungen | 275

erklären, wie die Übel der Zivilisation (unbeabsichtigte) Folgen ihres eigenen Handelns sein können. Rous­seaus Darstellung hält damit an einem wesentlichen (seiner Substanz nach fortschrittlichen) Element der christlichen Version des Sündenfalls fest – die Menschen selbst sind die Quelle des Übels –, während er zugleich dessen (repressive) Moral und spirituelle Implikationen vollkommen auf den Kopf stellt. Denn jene schicksalhaften Entscheidungen werden nicht mehr auf die unheilbar üble Natur des Menschen zurückgeführt. 86  John Locke, The Second Treatise of Government, Kap. IX, § 124. 87 Die Zustimmung zur Gründung einer politischen Gesellschaft, wie sie im zweiten Teil des Zweiten Diskurses dargestellt ist (DU, 225 – 229 / OC III, 176 ff.) – einer Gesellschaft, die »dem Schwachen neue Fesseln und dem Reichen neue Macht« gab, lässt sich als Kritik an Lockes’ Version des Gesellschaftsvertrags lesen. Obgleich der von Rous­seau hier geschilderte Vertrag eine Reaktion auf den Kriegszustand darstellt – und daher nicht auf den Naturzustand wie Locke ihn begreift – , ist die Zustimmung selbst in dem Sinn eine Lockeanische, dass ihr einziger Zweck der Schutz des Eigentums ist, wobei dieses auch höchst ungleiche Eigentumsanteile, auch an Land, umfasst, die im vorpolitischen Naturzustand zusammengerafft worden sind. Rous­seau möchte hier behaupten, ein Lockeanischer Vertrag sei illegitim, weil er lediglich die Ungleichheiten (und die meisten anderen Übel) in Stein meißelt, die ihm vorausgehen und ihn notwendig machen. Zugespitzter gesagt, behauptet Rous­seau, ein Lockeanischer Vertrag ist eine ungerechtfertigte Antwort auf einen Hobbesianischen Kriegszustand. Der Zweite Diskurs lässt sich nämlich als eine Verteidigung von Hobbes Darstellung des Naturzustands als jener vorpolitischen Lage lesen, in der die Pro­bleme festgestellt werden, die ein legitimer Staat zu lösen verpflichtet ist – und natürlich zugleich auch als eine Kritik der Hobbes’schen These, der Kriegszustand ergebe sich aus den von der Natur den Menschen auferlegten Bedingungen. Der Gesellschaftsvertrag steht somit vor der Aufgabe, die Prinzipien der politischen Vereinigung auszubreiten, die den Kriegszustand durch die Errichtung einer Ordnung beenden, innerhalb derer sich die grundlegenden Interessen aller Individuen befriedigen lassen. 88  Locke hat, wie man weiß, Eigentum in seinem weitesten Sinn begriffen, so dass auch das Leben darunter fällt (The Second Treatise of Government, Kap. VII, § 87). Kapitel 3

  Man könnte auch sagen, zum erweiterten Bild des für den Menschen Guten gehöre auch die Entwicklung der latenten Vermögen, aus denen die Vervollkommnung besteht. Ich sehe hier davon ab und konzentriere mich ausschließlich auf den amour propre und sein Gut : die soziale Anerkennung. 90  In diesem Zitat ersetzt Rous­ seau den von der Akademie verwandten Ausdruck »la loi naturelle« (Naturgesetz) durch den Ausdruck »le droit na89

276 | Anmerkungen 

turelle« (natürliches Recht). Da er im unmittelbar anschließenden Satz zu »la loi de nature« zurückkehrt, gehe ich davon aus, dass er alle drei Ausdrücke als austauschbar betrachtet. Spricht Rous­seau dagegen im Gesellschaftsvertrag vom Recht (droit) im Naturzustand (»dem unbeschränkten Rechtes auf alles, was ihn reizt«), dann versteht er darunter im Wesentlichen dasselbe wie Hobbes : Es schafft moralische Befugnisse – alles zu tun, was ich als in meinem Interesse erachte –, die denen um mich herum keine entsprechenden Verpflichtungen auferlegen (GV, I.8). Das Naturrecht in diesem Sinn ist vom Naturgesetz, wie es im Zweiten Diskurs und in anderen Schriften aufgefasst wird, zu unterscheiden. In den letzteren umfasst das Naturgesetz echte Verpflichtungen außerhalb der politischen Gesellschaft und die dort vom Naturgesetz erzeugten Rechte beinhalten entsprechende Pflichten anderer, diese zu respektieren. John Scott schulde ich eine erhellende Erörterung dieser Frage. 91 In DU, 249 ff. / OC III, 186 f. findet sich die kurze Beschreibung einer solchen Gesellschaft. 92  »Man kann nicht [hinsichtlich realer Gesellschaften] fragen …, ob die Befehlenden notwendigerweise mehr wert wären als die Gehorchenden, und ob die Stärke des Körpers oder des Geistes, die Weisheit oder die Tugend sich stets in denselben Individuen entsprechend zu ihrer Macht und zu ihrem Reichtum fände. Dies wäre eine Frage, die vielleicht dazu taugt, um unter Sklaven, wenn ihre Herren zuhören, verhandelt zu werden, die jedoch nicht … Menschen ansteht, welche die Wahrheit suchen« (DU, 77 / OC III, 131 f.). 93  Andere Aussagen machen es schwer, dies tatsächlich für Rous­seaus Auffassung zu halten, so etwa seine später im Zweiten Diskurs geäußerte These, dass »das Eigentumsrecht nur auf Übereinkunft und menschlicher Satzung beruht« (DU, 243 / OC III, 184). Dies ist eine Stelle, die es uns erschwert, mit Sicherheit zu sagen, wie Rous­seau sich zu der Frage stellt, ob es ein das Privateigentum bestimmendes Naturgesetz gibt, denn an anderen (in diesem Paragraphen zitierten) Stellen scheint er genau das zu behaupten. Derselbe Mangel an Klarheit belastet viele seiner Bemerkungen zum Naturgesetz im Allgemeineren, ein Gegenstand, auf den ich kurz unten eingehen werde. Doch so wie ich es auslege, spielt das Naturgesetz in Rous­seaus Kritik der Ungleichheit ohnehin eine fast zu vernachlässigende Rolle, und daher schadet diese anscheinende Verwirrung seiner Position insgesamt nicht sehr. 94  Dass das Vorhaben des Zweiten Diskurses für die im Gesellschaftsvertrag formulierte Auffassung von Legitimität einschlägig ist, geht klar und deutlich aus DU, 73 ff. / OC III, 126 hervor : »Ebendiese Untersuchung des ursprünglichen Menschen … ist noch das einzige gute Mittel, das man zur Behebung jener Fülle von Schwierigkeiten benützen könnte, die sich … über die wahren Grundlagen für den Staatskörper … darbieten.« 95  Deutsche Übersetzung geändert. A. d. Ü. 96  Zur »Tatsache des Pluralismus« vgl. Rawls, Political Liberalism, New York 1993, S. 36. Anmerkungen | 277

  Von der Freiheit als einem Gut der Natur zu sprechen, wenn sie doch mit eben der Eigenschaft verbunden ist, die den Menschen über die bloße Natur erhebt, ist etwas seltsam. (Siehe aber Anm. 99.) Da die metaphysische Freiheit – die Undeterminiertheit des menschlichen Willens durch natürliche Kausalgesetze – jedoch nicht etwas ist, was die Menschen preisgeben können, muss Rous­seau hier in irgendeinem normativen Sinn von Freiheit als von einem Gut der Natur sprechen : Fehlen von Herrschaft (oder vielleicht Fehlen aller Verpflichtung, einem fremden Willen zu gehorchen. Das ergibt dann Sinn, wenn wir ihm die These zuschreiben, dass die Bedingungen der Möglichkeit von Herrschaft  – wie auch jede Verpflichtung, anderen zu gehorchen  – im ursprünglichen Naturzustand nicht gegeben sind ; in diesem Sinn könnte man von der Natur sagen, sie statte uns mit dem Gut der Freiheit aus. 98  Wenn soziale Wertschätzung (von der richtigen Art) und die Entwicklung der latenten Fähigkeiten zu den wesentlichen Gütern des Menschen zu rechnen sind – eine Ansicht, die ich unten vertrete –, dann werden auch sie zu charakteristisch menschlichen Gütern. Doch auch als solche rangieren sie immer noch tiefer als das Gut der Freiheit, da sie, so wie ich diese Idee hier definiere, weder als unschätzbares noch als höchstes Gut infrage kommen. 99  Was diesen Punkt betrifft – ob Freiheit ein charakteristisch menschliches Gut ist – scheint Rous­seau zu schwanken. Einerseits erklärt er, sich seiner Freiheit zu entäußern heiße »sich auf das Niveau der Tiere« stellen, »der Sklaven ihres Instinktes« (DU, 241 / OC III, 183), andererseits schreibt er zwei Absätze früher einigen Tieren, »einem ungezähmten Renner« und den »freigeborenen Tieren« (DU, 237 ff. / OC III, 181 f.), die Fähigkeit zu, auf eine bestimmte Weise frei zu sein und danach zu verlangen (ungehindert von Kandare und Fesseln zu sein). Er muss daher meinen, dass nicht-menschliche Lebewesen, obwohl sie nicht im metaphysischen Sinn frei sind – sie besitzen keine Willensfreiheit und sind immer Sklaven ihrer Instinkte –, sich von Natur aus gegen jeden Zwang sträuben, sich ihren Neigungen zuwider zu verhalten, und da sie sich gegen etwas sträuben, was ich unten als Herrschaft beschreiben werde, streben sie, wie wir anerkennen müssen, nach einer primitiven Form der Freiheit (danach, nicht beherrscht zu werden.) Daraus folgt, dass Rous­seau es für stimmig hält, Geschöpfen, die zugleich metaphysisch unfrei sind, ein Streben nach einer Art von Freiheit zuzusprechen. Bedenkt man jedoch, wie oft er den Wert der Freiheit mit (ausschließlich) menschlicher Würde verbindet, bezweifle ich, dass er in dieser Frage eine vollkommen kohärente Ansicht vertritt. Siehe Anm. 40 des 1. Kapitels, dort wird angenommen, das Gut der Freiheit (das Fehlen von Herrschaft) könnte von einer metaphysischen Auffassung der Freiheit abtrennbar sein. Eine weitere Frage ist die, ob die Geschöpfe des ursprünglichen Naturzustands (nicht-menschliche Lebewesen eingeschlossen) erkennen könnten, dass der Widerstand, der ihren Wünschen von willensbegabten Geschöpfen entgegengebracht wird, der Art nach anders und übler ist als der von rein 97

278 | Anmerkungen 

natürlichen Phänomenen ausgehende Widerstand  – und ob man folglich von ihnen sagen kann, sie würde es als ein Gut anerkennen, nicht beherrscht zu werden. Vgl. etwa Rous­seaus These : »Man würde viel Mühe haben [unmöglich wäre es aber nicht ? – F. N.], ihnen [den Wilden] beizubringen, was Knechtschaft und Herrschaft bedeuten« (DU, 187 / OC III, 161). So wie ich es sehe, treten solche ungelösten Pro­bleme immer wieder auf, denn wie viele neuzeitliche Philosophen hat Rous­seau keinen Weg gefunden, seine Ansicht, Freiheit fordere die metaphysische Unabhängigkeit von den Naturgesetzen, mit seinem gleichermaßen starken Wunsch zu versöhnen, alle menschlichen Phänomene, darunter unsere Wertschätzung der Freiheit, in den Lebensweisen nicht-menschlicher Tiere vorgezeichnet zu finden. R. J. Leland und Robin Celikates schulde ich erhellende Diskussionen über diese Gegenstände. 100  Die gleiche Ansicht findet sich im Gesellschaftsvertrag und im Wesentlichen in jeder Version einer liberalen Theorie des Gesellschaftsvertrags : »Auf seine Freiheit verzichten heißt auf seine Menschheit … verzichten. Wer auf alles verzichtet, für den ist keine Entschädigung möglich. Eine solche Entsagung ist mit der Natur des Menschen unvereinbar …« (GV, I.4). 101  Bekanntermaßen übernimmt Kant diesen Gegensatz von Preis und Würde von Rous­seau. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in : Kants Gesammelte Schriften, Akademie-Ausgabe Bd. 4, Berlin 1900 ff., S. 434. 102  Siehe aber dazu Anm. 99. 103  Neben der metaphysischen Freiheit (der Willensfreiheit) erwähnt der Gesellschaftsvertrag noch die natürliche, die bürgerliche und die moralische Freiheit (GV, I.8). Zu den entsprechenden Definitionen siehe Frederick Neuhouser, Foundations of Hegel’s Social Theory : Actualizing Freedom, Cambridge, Mass. 2000, S. 56 ff., 78 – 81, 186 – 189. 104  Man könnte auch sagen, was der Gesellschaftsvertrag natürliche, bürgerliche und moralische Freiheit nennt (GV, I.8), das sind – ebenso wie das Fehlen von Herrschaft – verschiedene Weisen, nur sich selbst zu gehorchen. Einem Gesetz zu gehorchen, das man sich selbst gegeben hat (moralische Freiheit), ist immer noch eine Form des sich selbst zu gehorchens, so wie auch die negativ definierte Freiheit – etwa die Freiheit, von anderen nicht in dem eingeschränkt zu werden, was man tun möchte – eine Form ist, sich selbst zu gehorchen. (Vgl. dazu Anm. 119.) Dass das Wesen der Freiheit ein einziges ist, das sich auf verschiedene konkrete Weisen verwirklicht, ist eine Vorstellung, die Hegel von Rous­seau übernommen und in den Mittelpunkt seiner »dialektischen« Entwicklung des Begriffs der Freiheit gestellt hat, wie er sie in seinem politischen und gesellschaftstheoretischen Denken vornimmt. Im Detail führe ich dies aus in Neuhouser, Foundations of Hegel’s Social Theory, Kap. 1. 105  Meine Charakterisierung der republikanischen Tradition vor Rous­seau steht stark in der Schuld von Philip Pettit und seiner Darstellung derselben in Republicanism : A Theory of Freedom and Government, Oxford 1997, Kap. 1 – 3. Da so unzweifelhafte Republikaner wie Machiavelli und Rous­seau in seiner Anmerkungen | 279

Geschichte des Republikanismus eine so geringe Rolle spielen, ist es vielleicht präziser zu sagen, dass das, was er den traditionellen Republikanismus nennt, nur eine wichtige Ausrichtung der Tradition und nicht die ganze darstellt. 106  Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft  : Grundriss der verstehenden Soziologie, 5. rev. Auflage, Tübingen 1980, S. 28. 107  Indem ich von elterlicher, statt von väterlicher Autorität spreche, setze ich mich von Rous­seau ab. Es ist typisch, dass Rous­seau nur diese verteidigt, wenn er die Machtverhältnisse innerhalb der Familie erörtert. 108  Pettit, Republicanism, 272. 109 Pettit, Republicanism, S. 22, 272. 110  Die Rede von der Selbstbestimmung soll hier keine positive Auffassung von Freiheit nahelegen : »Selbst zu bestimmen« ist hier der Gegensatz dazu, dass andere für einen entscheiden, und das ist vereinbar damit, dass man seinen Wünschen oder Launen entsprechend handelt, solange es nur die eigenen und nicht die eines anderen sind. Anders ausgedrückt ist das Fehlen des Eingreifens anderer hinreichend, um die eigenen Entscheidungen und Handlungen als einen Fall von »selbst zu bestimmen«, wie man handelt, anzusehen. 111  Genauer gesagt besteht das Ideal darin, unanfällig für Eingriffe in die eigene Handlungsfreiheit zu sein, derart dass dadurch die eigenen Interessen missachtet werden. 112  Eine Spielart dieser These ist notwendig, um Rous­seaus Aussage einen Sinn zu geben, »daß jeder, der dem allgemeinen Willen den Gehorsam verweigert, … dazu gezwungen werden soll ; das hat keine andere Bedeutung als daß man ihn zwingen werde, frei zu sein« (GV, I.7). Zu einer ausführlichen Erörterung dieses Pro­blems vgl. mein Buch Foundations of Hegel’s Social Theory, S. 60 – 63, 73, 78 f. 113  Um dies auszuführen : Wenn ich mich selbständig entscheide, meinen Interessen entgegen zu handeln, ist der Wille, dem ich Folge leiste, im zweiten, aber nicht im ersten Sinn fremd. Von Herrschaft kann klarerweise keine Rede sein, obwohl man das für eine Art von Selbsttyrannei und vielleicht sogar für den Verlust einer bestimmten Art von Freiheit halten könnte. Rous­seau ist für dieses Phänomen weder blind, noch steht er ihm unkritisch gegenüber (DU, 107 ff. / OC III, 142), aber es handelt sich nicht um Herrschaft. 114  Pettit beispielweise greift nach dieser kontraintuitiven Folgerung : »Intendierte Eingriffe, die nicht willkürlich sind, gleichen natürlichen Hindernissen darin, dass … sie Freiheit nicht beeinträchtigen« (Pettit, Republicanism, 77). 115  Genauer gesagt erklärt Rous­seau, ein Kind sei »nur so lange« verpflichtet seinen Eltern zu gehorchen, »als seine [des Vaters] Hilfe diesem nötig ist« (DU, 239 / OC III, 182). 116  Vgl. die nachstehende Anmerkung. 117  Da einige Interpreten bestreiten, dass Rous­seau beabsichtigt hat, die Gesetze, über die sie abstimmen, tatsächlich von der souveränen Versammlung 280 | Anmerkungen 

aller Bürger vorschlagen zu lassen, habe ich diese nähere Bestimmung hinzugefügt, die beinhaltet, dass das, was ich direkte Demokratie nenne, darauf hinauslaufen könnte, dass die Bürger den ihnen von ihrer Regierung vorgelegten Gesetzen zustimmen oder sie ablehnen (GVI, II.7 ; IV.2). Ich glaube, die Belege für Rous­seaus Haltung zu dieser Frage sind mehrdeutig. Allerdings schließt selbst die schwächste Version der direkten Demokratie ein, dass die allgemeine Teilnahme hinreichend substantiell sein muss, damit die aus ihr hervorgegangenen Gesetze als solche gelten, die im relevanten Sinn »von uns stammen«. 118 Pettit, Republicanism, S. 35. 119  Darüber hinaus wirft dieses Argument für die Notwendigkeit einer direkten Demokratie ein Licht auf die Verbindung zwischen der negativ definierten Freiheit als Fehlen von Herrschaft und der positiven Freiheitsauffassung, die wir normalerweise mit Rous­seau verbinden, dass nämlich »moralische Freiheit« – oder Autonomie – definiert ist als »das Gesetz, das man sich selber vorgeschrieben hat (GV, I.8). Man könnte sagen, der negative Freiheitsbegriff führe »dialektisch« auf folgende Weise zum positiven : Die Verwirklichung der negativen Freiheitsauffassung für alle, die Abschaffung von Herrschaft, erfordert Gesetze, welche die materielle und andere Ungleichheiten unter unabhängigen Bürgern regeln. (Die These ist Thema im 4. Kap.). Sollen diese Gesetze jedoch nicht selbst zur Quelle von Knechtschaft werden, müssen sie von eben den Subjekten, die ihnen unterworfen sind, ausgehen oder von ihnen vorgeschrieben werden, und dazu gehört, dass die Bürger tatsächlich am Prozess der Gesetzgebung teilnehmen. Damit ist zugleich gesagt, dass Bürger, die unter den für die Abschaffung von Herrschaft notwendigen Bedingungen leben, nur dann vollkommen frei sein können – vollkommen der Knechtschaft entgehen können –, wenn sie zugleich autonom sind. Siehe dazu Anm. 103 und 104. 120  Selbstverständlich teilen nicht alle Republikaner diese Ansicht. 121  Dass jemand im Allgemeinen am besten beurteilen kann, was für ihn gut ist, heißt nicht, dass ein diesbezüglicher Irrtum unmöglich ist oder selten vorkommt. Ein großer Teil des Zweiten Diskurses ist dem Nachweis gewidmet, wie es sein kann, dass Individuen falsche Vorstellungen von ihren Interessen haben und genau das Gegenteil dessen erstreben, was für sie gut ist. Rous­seaus Abhilfe für dieses Pro­blem liegt jedoch nicht darin, nach anderen, klügeren Personen zu suchen und ihnen zu gehorchen, vielmehr möchte er die verderblichen sozialen Kräfte auflösen, die die Vorstellung der Individuen darüber verzerren, worin das für sie wahrhaft Gute besteht. 122  Hingegen ist Freiheit (als Herrschaftslosigkeit) für traditionelle Republikaner in erster Linie ein rechtlicher Status, insbesondere der, ein Bürger im Gegensatz zu einem Sklaven zu sein (Pettit, Republicanism, S. 30 ff., 36, 66). 123  Regelmäßig einem anderen aufgrund von Zwang zu gehorchen, gilt zwar immer noch als Herrschaft, bloß nicht als die Sorte von Herrschaft, die Rous­ Anmerkungen | 281

seau am meisten interessiert. Möglicherweise hat dies seinen Grund darin, dass er glaubt, nur wenige reale Fälle von Herrschaft ließen sich ausschließlich auf diese Weise erklären. Um wirkungsvoll zu sein, müssen sich ständige Gewaltandrohungen üblicherweise auch auf die (falschen) Meinungen der Beherrschten über die Legitimität der Befehle des Herrschenden stützen. Das bedeutet, dass Herrschaft, sieht man einmal von dem im Text hervorgehobenen Fall ab – wo ich gehorche, um nicht die Zusammenarbeit einer bevorteilten Partei zu verlieren –, auch einem falschen Bewusstsein hinsichtlich der Legitimität oder Naturgegebenheit sozialer Hierarchien entspringen kann. Einige Fälle von falschem Bewusstsein können natürlich auch in asymmetrischen Abhängigkeitsverhältnissen gründen, wenn beispielsweise mein Glaube daran, dass die Bessergestellten zu Recht Befehle erteilen, dazu dient, meine eigene Unterwürfigkeit zu rationalisieren, um sie mir selber schmackhafter zu machen. In solchen Fällen gibt es Herrschaft, ohne dass der Beherrschte sich ihrer als solcher bewusst ist. 124  Adam Smith, The Wealth of Nations, hrsg. von Edwin Cannon, New York 2000, S. 75 f. [Dt. : Der Wohlstand der Nationen, übersetzt von Horst Claus Recktenwald, München 1983, S. 58]. 125  Vgl. jedoch Anmerkung 99. 126  »Denn was heißt wünschen, daß einer nicht leide, anderes, als wünschen, daß er glücklich sei ?« (DU, 175 / OC III, 155) 127  Rous­ seau verwendet »Bedürfnis« (besoin) nicht konsistent, obwohl es möglich ist, eine kohärente Ansicht zu konstruieren, die sich ihm nachvollziehbar zuweisen lässt. Dazu ist in einem ersten Schritt nötig, wahre (echte) Bedürfnisse von bloß eingebildeten zu unterscheiden. Während natürliche, biologische Bedürfnisse in diesem Sinn wahre Bedürfnisse sind, erschöpfen sie dennoch nicht diese Kategorie. Grob gesagt bezeichnen wahre Bedürfnisse all das, was der Mensch braucht, um seine grundlegenden Interessen – die an Freiheit, Selbsterhaltung und Wohlergehen  – zu verwirklichen. Für die hypothetischen Bewohner des ursprünglichen Naturzustandes zählen dazu ihre biologischen Bedürfnisse, aber auch alles, was sie benötigen, um frei von Herrschaft zu bleiben. Für die zivilisierten Menschen schließen ihre wahren Bedürfnisse zusätzlich alles ein, was nötig ist, damit sie eine für sie befriedigende Anerkennung durch andere finden (die Befriedigung des amour propre). Siehe 4. Kapitel, Anmerkung 167. 128  [In der deutschen Übersetzung heißt es einmal »echte« und ein anderes Mal »wirkliche« Bedürfnisse. Rous­seau spricht durchgängig von »vrais besoins«. Anm. d. Ü.] 129  »Jedes Schmerzgefühl ist untrennbar von dem Verlangen, sich davon zu befreien« (E, 187 / OC IV, 303). 130  Das ist ein Hauptanliegen des Emile, der die Bedingungen des wahren Glücks untersucht (E, 188 / OC IV, 304). 131  Ich bin versucht, von der vollständigen (statt der umfassenden) Entwick282 | Anmerkungen 

lung der menschlichen Vermögen zu sprechen, obgleich Rous­seau das Wort nicht verwendet. Doch er arbeitet offensichtlich mit einer vordarwinschen Auffassung von den natürlichen Vermögen einer Spezies, der zufolge solche Vermögen, obgleich sie ursprünglich latent sind, sowohl ihrer Zahl als auch ihrem Charakter nach festgelegt sind. Nach dieser Auffassung scheint es sinnvoll zu sein, von der vollständigen Entwicklung einer Spezies zu sprechen. Eine Vorstellung, die freilich nach Darwin nicht mehr haltbar ist. 132  Lesern hat es Mühe bereitet, Rous­seaus Punkt in dieser wichtigen Anmerkung zu verstehen. Es steht jedoch außer Zweifel, dass er eine Rückkehr in die Wälder mit der Erniedrigung der Gattung gleichsetzt : »… um auf ihre Laster zu verzichten, [verzichtet ihr] auf ihre Kenntnisse«. Im dritten Satz dieses Absatzes erklärt er klipp und klar, es sei blamabel, einen solchen Schluss aus seinen Argumenten zu ziehen, und nur seine Gegner hätten darauf verfallen können (DU, 125 f. / OC III, 207). 133  E, 445, 507 f., 511 f., 520, 540, 871, 876/ OC III, 494, 538, 541, 562, 806, 809. Siehe auch OC III, 288 und PÖ, 28, 34 / OC III, 255, 260. 134  Frederick Neuhouser, Rous­seaus’s Theodicy of Self-Love : Evil, Rationality and the Drive for Recognition, Oxford 2008, S. 15 – 18, Kap. 6 – 7 (Dt. : Pathologien der Selbstliebe – Freiheit und Anerkennung bei Rous­seau, Berlin 2012). 135  »Darum würde ich jemanden, der verhindern möchte, daß Leidenschaften überhaupt aufkommen, für nahezu ebenso töricht halten wie den, der sie gänzlich zerstören möchte. Und diejenigen, die glaubten, daß mein Erziehungsplan bisher darauf abzielte, haben mich ganz sicher gründlich mißverstanden« (E, 440 / OC III, 491). 136  Nach diesem Kriterium ist persönliche Sicherheit ein erlaubter Zweck, denn sie lässt sich für alle gleichzeitig verwirklichen und bildet kein zwangsläufiges Hindernis für jemandes Leben, Freiheit oder Wohlergehen. Wenn andererseits ein Bediensteter-sein unvereinbar damit ist, Herr über seinen Willen zu bleiben, dann ist der Wunsch, sich mit Dienern zu umgeben, moralisch unzulässig und damit gehört er nicht zu den echten Gütern einer Person, ganz unabhängig davon, wie weitverbreitet oder »natürlich« er ist. 137  Joshua Cohen hat diese wichtige Unterscheidung sehr gut auf den Punkt gebracht (Rous­seau : A Free Community of Equals, Oxford 2010, S. 10 – 104). Rous­seau selbst formuliert sie, wenn er die Form des amour propre, die in einem guterzogenen Menschen entstehen kann, mit der verzerrten und entfachten Form vergleicht, »die wir als natürlich betrachten« (E, 445 / OC III, 494). 138  Einige dieser Bedingungen habe ich im 3. Kapitel von Rous­seau’s Theodicy of Self-love besprochen. 139  Wenn der amour propre nicht als entfacht gelten soll, muss die Wertschätzung zudem im rechten Maße und aus den richtigen Gründen gewünscht werden. 140  Die sexuelle Liebe ist vom amour propre untrennbar, weil sie eine starke und intime Bestätigung des Werts beinhaltet, den man für einen anderen hat. Anmerkungen | 283

Da man die Bestätigung des eigenen herausragenden Werts nur von einer Person statt von vielen erwartet, ist der Wunsch nach einer die anderen überragenden Stellung im Prinzip für alle erfüllbar. 141  Man beachte auch, dass die Geschöpfe des Goldenen Zeitalters, von denen gesagt wird, sie lebten »so frei, so gesund, gut und glücklich, wie sie es ihrer Natur nach sein konnten« (DU, 213 / OC III, 171), bereits Geschöpfe des amour propre sind, die nach einfachen Formen der Achtung von ihresgleichen streben. 142  Vgl. auch E, 118, 154, 552 / OC III, 253, 279 f., 570 f. In OC I, 1801 wird das Gefühl der Existenz von dem Wunsch unterschieden, glücklich zu sein, und mit »allem, was unsere Existenz zu erweitern und zu stärken scheint«, gleichgesetzt, eine Beschreibung, die eindeutig zu der Anerkennung passt, die vom amour propre gesucht wird, eine affektiv gefärbte Wahrnehmung des eigenen Seins als eines Ichs. Rous­seau verknüpft ausdrücklich das Gefühl der eigenen Existenz mit dem (entfachten) amour propre, wenn er die Neigung des zivilisierten Menschen beklagt, er entnehme »das Gefühl seiner eigenen Existenz sozusagen aus deren [der anderen] Urteil allein« (DU, 267 / OC III, 193). Nicht alles, was unsere Existenz stärkt oder erweitert, muss aus der Wertschätzung der anderen gezogen werden, doch bei zivilisierten Menschen geschieht größtenteils genau das (und Entfremdung ist der Zustand, in dem dies ausschließlich oder allzu sehr der Fall ist). 143  N. J. H. Dent arbeitet diesen Punkt sehr schön aus in Rous­seau : An Introduction to His Psychological, Social and Political Theory, Oxford 1988, S. 49. 144  Ähnliches wird im Emile vertreten, wo wir aufgefordert werden, die »ursprünglichen Anlagen« eines Kindes zu beobachten und auf dieser Grundlage zu bestimmen, welche Ziele die Erziehung in Übereinstimmung mit der Natur haben sollte (E, 111, 115, 119 / OC III, 248, 251, 254). 145  Da der amour propre ohne Meinungen nicht wirksam werden kann, ist es selbstverständlich unmöglich zu sagen, was er abgesehen von dem sehr allgemeinen Ziel, in irgendeiner Form die gute Meinung anderer zu gewinnen, »von Natur aus« zu suchen geneigt wäre. Siehe dazu Anmerkung 147. 146 Aufgefordert, das Ziel von Emiles Erziehung anzugeben, antwortet Rous­seau ganz in diesem Sinne, »es ist die Natur selbst« (E, 110 / OC III, 247). Das bedeutet nun nicht, dass Emile, gleich den Geschöpfen im Naturzustand, einzelgängerisch, roh und bar jeder Meinung sein soll. Es bedeutet stattdessen, dass, obwohl er in dem Sinn künstlich sein wird, als er sprechen, überlegen, lieben und in Gesellschaft leben wird, er dies in Übereinstimmung mit den natürlichen Werten der Selbsterhaltung, des Wohlergehens und der Freiheit tut. 147  Selbst wenn es eine »natürliche« Leidenschaft (im erweiterten Sinn) gibt, die dem Gut des öffentlich bestätigten Ichseins entspricht (amour propre), ist die Beziehung zu diesem Gut komplexer als die, die zwischen dem amour de soi-même und der Selbsterhaltung besteht. In letzterem Fall vermag der amour de soi-même seinen natürlichen Zweck im rein ursprünglichen Naturzustand 284 | Anmerkungen 

zu erreichen, in dem es seitens der fraglichen Geschöpfe keinerlei Meinungen gibt. Der amour propre kann, wie wir gesehen haben, ohne die Meinungen anderer nicht wirksam werden, seien es die Meinungen derer, die nach Wertschätzung streben, oder derer, die sie verleihen. Dadurch wird er, anders als die Anlagen der ursprünglichen Natur des Menschen, sehr viel anfälliger für die Verfälschungen und die Verzerrungen, die Meinungen leicht mit sich bringen. Diese erhöhte Anfälligkeit schmälert jedoch nicht die Tatsache, dass der vom amour propre erstrebte Zweck sowohl gut als auch wichtig ist, jedenfalls dann, wenn er im Einklang mit den anderen wesentlichen Gütern des Menschen erreicht wird. Worauf es hier ankommt, ist vielmehr, dass im Streben der Menschen nach Befriedigung ihres amour propre besonders viele Gefahren und Fußangeln lauern, was nur eine andere Weise ist, wie man die Hauptthese des Zweiten Diskurses beschreiben könnte. 148  Ähnliches wird gesagt in DU, 187, 235 ff., 239 / OC III, 161, 180 f., 182 ; vgl. Anmerkung 99. 149  Man erinnere sich jedoch an meine frühere Behauptung, Rous­seaus Position könnte sowohl stärker als auch konsistenter sein, wenn er seine »metaphysische« Freiheitsauffassung aufgeben und sich nur auf eine naturalistische berufen würde. Siehe 1. Kapitel, Anmerkung 40. 150  Wie das Beispiel von Aristoteles und den Stoikern jedoch zeigt, muss eine natürliche Theologie dieser Art sich nicht auf eine göttliche Schöpfung berufen. 151  Diesen Weg schlägt Rawls im Wesentlichen ein, wenn er den Aristotelischen Grundsatz in seine Darlegung des Guten aufnimmt : »[D]ie Menschen [möchten] gern ihre … Fähigkeiten einsetzen, und ihre Befriedigung ist desto größer, je besser entwickelt oder je komplizierter die beanspruchte Fähigkeit ist« (John Rawls, A Theory of Justice, Cambridge, Mass. 1971, S. 426). [Dt. : Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a. Main 1979, S. 464] 152  »[In seinem zweiten Diskurs] … zeigt er [Rous­ seau] ganz richtig den unvermeidlichen Widerstreit der Kultur mit der Natur des menschlichen Geschlechts, als einer physischen Gattung, in welcher jedes Individuum seiner ganz erreichen sollte ; in seinem Emil aber [und in] seinem gesellschaftlichen Kontrakte … sucht er wieder das schwere Pro­blem aufzulösen : wie die Kultur fortgehen müssen, um die Anlagen der Menschheit als einer sittlichen Gattung zu ihrer Bestimmung gehörig zu entwickeln, so daß diese jener als Naturgattung nicht mehr widerstreite.« Immanuel Kant, »Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte«, in : Gesammelte Werke, Akademie-Ausgabe, Berlin 1900 ff., Abt. I, Bd. 8, S. 116. 153  Ein zentrales Thema ist dies auch in Rous­seaus fabelhaft beliebtem Roman Julie oder Die neue Héloïse. Vgl. dazu meinen Aufsatz »Rous­seau’s ›Julie‹ : Passion, Love, and the Price of Virtue, in : Susan Wolf und Christopher Grau (Hg.), Understanding Love through Philosophy, Film, and Literature, Oxford 2013, S. 209 – 230. Anmerkungen | 285

  Hier ist zu bemerken, dass diese Interpreta­tion des Rous­seau’schen Denkens nicht unumstritten ist. Viele Interpreten deuten Rous­seau so, dass er im Emile und im Gesellschaftsvertrag unterschiedliche, nicht-kompossible Lösungen für die im Zweiten Diskurs aufgeworfenen Pro­bleme anbietet und die Vereinbarkeit von Freiheit, Glück und den Zielen des amour propre bestreitet. In Rous­seau’s Theodicy of Self-Love, besonders im 5. Kapitel, habe ich ausführlich gegen solche Interpreta­t ionen argumentiert. Zwei solcher Interpreta­ tionen, die von der meinigen abweichen, stammen von : Judith Shklar, Men and Citizen : A Study of Rous­seau’s Social Theory, Cambridge 1985, S. 1 – 21 ; und Tzvetan Todorov, Fréle bonheur. Essai sur Rous­seau, Paris 1985. 155  Rous­ seau scheint die Naturrechtstheorie nicht in allen ihren Gewandungen verwerfen zu wollen, wohl aber bestimmte, von seinen Vorgängern und Zeitgenossen vertretene Versionen dieser Theorie. Es sieht so aus, als halte er daran fest, dass es wahre »Regeln des Naturrechts« gebe und dass die moralischen Gesetze, die für zivilisierte Geschöpfe verbindlich sind, in irgendeinem Sinn auf ihnen beruhen (DU, 73 / OC III, 126). Wie aber genau diese Thesen aussehen, bleibt zumindest mir dunkel. 156  Man könnte im 1. Kapitel dieses Buchs die Erklärung für Rous­ seaus These sehen, dass der Mensch von Natur aus gut ist ; vgl. dazu jedoch auch Victor Gourevitchs Einleitung in den Discourse on Inequality, in The Discourses and Other Early Political Writings, übersetzt von Victor Gourevitch, Cambridge 1997, S. xx – x xi sowie John T. Scott, »The Theodicy of the Second Discourse : The ›Pure State of Nature‹ and Rous­seau’s Political Thought«, in American Political Science Review 86 (September 1992), S. 704 f. Eine ausführliche Ausarbeitung der These findet sich bei Cohen, Rous­seau, S. 110 – 113. 157  Und wenn die Anmerkung 155 richtig ist, kann dies nicht in Rous­seaus Absicht gelegen haben, denn er scheint einen Ort für gültige Naturrechte reservieren zu wollen. 154

Kapitel 4

  »Elend« meint nicht bloß Armut, sondern ist im Wesentlichen das Gegenteil von Glück oder Wohlergehen. An anderer Stelle definiert Rous­seau Elend als »schmerzhafte Entbehrung und das Leiden des Körpers und der Seele« (DU, 163 / OC III, 152). Es ist zudem erwähnenswert, dass die Ungleichheit, um die es in dem Abschnitt geht, eine ökonomische ist. 159  Ich füge die Einschränkung »größtenteils« deshalb hinzu, weil einige Arten sozialer Ungleichheit für Rous­seau an sich ein Unrecht darstellen. Eine Gesellschaft, die nicht die moralische Gleichheit ihrer Mitglieder anerkennt, indem sie ihnen etwa die gleichen Rechte – die positiven wie die negativen – vorenthält, ihnen die Gleichheit vor dem Gesetz abspricht und sie nicht gleichermaßen bei der Verfassung der Gesetze berücksichtigt, begeht ein Unrecht, dessen Unrechtmäßigkeit nicht allein in seinen Folgen liegt. Ungleichheiten 158

286 | Anmerkungen 

der Behandlung dieser formalen Natur sind an sich Unrecht, weil sie die grundlegende Gleichheit des Status verletzen, auf den, wie Rous­seau meint, alle Menschen als solche einen Anspruch haben, sofern sie Bürger sind. Darüber hinaus zeichnet sich Herrschaft selbst als eine Form der sozialen Ungleichheit aus, die, weil sie den Verlust von Freiheit beinhaltet, an sich schlecht ist. Siehe dazu sowohl die Diskussion über Freiheit als Fehlen von Herrschaft im dritten Kapitel sowie in Anmerkung 171 unten. 160  Wie ich unten deutlich machen werde, ist Rous­seaus normative Position nicht in dem stärkeren Sinn konsequentialistisch, dass sie die Gesamtsumme der Güter maximieren will, die sie als für die Menschen wichtige anerkennt. 161  Dass das, was ich Entfremdung nenne, eine Wirkung der sozialen Ungleichheit ist, geht klar hervor aus DU, 257 ff., 265 / OC III, 189, 193. 162  Übersetzung geändert. A. d. Ü. 163  Genauer gesagt : Ich werde Rous­seaus Thesen über die Beziehung zwischen Ungleichheit und Laster größtenteils beiseitelassen. Ungleichheit, die zu Zwietracht führt, ist ein wichtiger Teil von Rous­seaus Ansicht, sie lässt sich allerdings leicht in die Erörterung der Bedrohungen aufnehmen, die sich für das Wohlergehen ergeben, denn dauerhafte soziale Konflikte wirken sich offensichtlich auf das Glück der Individuen aus, die sie ertragen müssen. In meiner Diskussion der Frage, wie Ungleichheit das Wohlergehen der Gesellschaftsglieder beeinträchtigt, werde ich kurz die Entfremdung besprechen, obwohl man sie vermutlich aus der Kategorie Wohlergehen herausnehmen sollte, da sie die grundlegendste Beziehung betrifft, die ein Subjekt zu sich selbst hat, und sich daher nicht ohne weiteres mit den anderen Faktoren zusammennehmen lässt, die das Wohlergehen ausmachen : Glück, Bedürfnisbefriedigung und Schmerzfreiheit. 164  Der Ausdruck »entfacht« ist zum ersten Mal von N.J.H. Dent in der Sekundärliteratur geprägt worden, in der Absicht, die Unterscheidung zwischen den entfachten und nicht-entfachten Äußerungen des amour propre zu einem Kernstück des Rous­seau’schen Denkens zu machen (Rous­seau : An Introduction to His Psychological, Social and Political Theory, Oxford 1988, S. 52, 256). 165  Axel Honneth hat sich diesen Rous­ seau’schen Gedanken auf fruchtbare Weise angeeignet und zusammen mit Hegel entnommenen Einsichten um ihn herum eine umfassende Sozialphilosophie entworfen. Vgl. vor allem sein Buch Das Recht der Freiheit. Grundriss einer demokratischen Sittlichkeit, Berlin 2013. 166  Servitude und asservir sind gleichbedeutend mit »Herrschaft« und »herrschen« (domination und dominer) (DU, 187 / OC III, 161). 167  Wie diese Beispiele verdeutlichen, sind selbst »materielle« Bedürfnisse nicht durch eine festgelegte, strikt biologische Quantität (das für die Selbsterhaltung und die Reproduktion benötigte Minimum) bestimmt. Unsere Vorstellung von den Lebensnotwendigkeiten entwickelt sich vielmehr historisch und ist von einer Vorstellung über den minimalen Lebensstandard geprägt, Anmerkungen | 287

der mit einer menschenwürdigen Existenz einhergeht. Wird dieser minimale Standard nicht erreicht, führt man eine menschenunwürdige Existenz, die auch als solche gesehen würde, und das wiederum ist unvereinbar mit der vom amour propre erstrebten anerkannten Stellung. Der amour propre ist also auch an den Bedürfnissen beteiligt, die wir gemeinhin als biologische oder materielle betrachten. 168  Rous­seau verwendet den Ausdruck »wahre Bedürfnisse« (vrais besoins) im Zweiten Diskurs, wenngleich er es nicht konsistent tut. Manchmal versteht er darunter, wie im zweiten Kapitel erwähnt, lediglich eingebildete Bedürfnisse (DU, 203 / OC III, 168), und manchmal bezieht sich der Ausdruck ausschließlich auf die natürlichen oder körperlichen Bedürfnisse, die Menschen im ursprünglichen Naturzustand haben (DU, 185 / OC III, 160). Der Sinn, in dem ich hier »wahre Bedürfnisse« verwende  – nämlich für das, was wir brauchen, um zu leben, frei und gut dran zu sein –, kommt der Verwendung am nächsten, die wir im Emile finden, wo den wahren Bedürfnissen stets die Launen oder die Willkür entgegengesetzt wird (E, 195, 198 / OC IV, 309 f., 312). Vermutlich ist das auch der Sinn, in dem er den Ausdruck im Vorwort zum Zweiten Diskurs verwendet. Dort schreibt er, die »Untersuchung des ursprünglichen Menschen« sei die Untersuchung »seiner echten Bedürfnisse«, und deren Bestimmung sei wesentlich um die »wahren Grundlagen für den Staatskörper [und] die wechselseitigen Rechte seiner Glieder« zu verstehen (DU, 73 ff. / OC III, 126). Vgl. auch Kapitel 3, Anm. 127. 169  Kurz zusammengefasst hat meine Erörterung der Bedürfnisse vier Unterscheidungen vorgestellt zwischen (1) biologischen und psychischen (oder geistigen) Bedürfnissen, (2) wahren und falschen Bedürfnissen, (3) natürlichen und künstlichen Bedürfnissen und (4) wahrgenommenen und nichtwahrgenommenen Bedürfnissen. Obgleich ich es hier nicht erwâhnt habe, ist es möglich, dass ein Bedürfnis, ob biologisch oder psychisch, natürlich oder künstlich, von dem Subjekt, dessen Bedürfnis es ist, nicht wahrgenommen, nicht als solches erlebt wird. Dies scheint in der Tat in Rous­seaus Beschreibung des zivilisierten Menschen häufiger vorzukommen. 170  Man erinnere sich aus dem ersten Kapitel daran, dass eine Meinung oder eine Überzeugung zu haben die Ausübung von Freiheit beinhaltet. 171  Im Gegensatz zu anderen ist dieser Typ der sozialen Ungleichheit selbstverständlich nicht deshalb zu vermeiden, weil er Sklaverei hervorbringt ; vielmehr ist Herrschaft einfach das Fehlen von Freiheit (einer bestimmten Art). 172  Ich möchte hier keine Aussage dazu machen, ob man Armut am besten absolut – anhand eines nicht-relativen Maßes an Mangel – definieren sollte oder relativ. (So definiert der oft benutzte Armutsmaßstab der OECD Armut als relative Größe, gemessen daran, ob das Einkommen unterhalb von 60 Prozent des Medianeinkommens einer Gesellschaft liegt. Ich vermute, Rous­seau würde dem zustimmen, dass in den allermeisten Fällen die sinnvollste Weise, Armut zu messen, die ist, relative Maßstäbe einzubeziehen.) Ich möchte nur 288 | Anmerkungen 

deutlich machen, dass Rous­seau in seiner Kritik der Ungleichheit die Frage aufwirft, ob Ungleichgewichte hinsichtlich des Reichtums selbst dann von Belang sind, wenn kein absoluter Mangel zur Debatte steht. Wer es vorzieht, Armut als relative Größe zu definieren, wird praktisch Rous­seaus grundlegendem Punkt beipflichten, dass Ungleichheit und nicht allein das absolute Niveau von Armut das Wohlergehen diejenigen beeinflusst, die am schlechtesten dastehen. 173  Empirische Unterstützung für diese These findet sich bezogen auf gegenwärtige Gesellschaften bei Richard G. Wilkinson, Unhealthy Societies : The Affliction of Inequality, London 1996, insbesondere Kapitel 5. Seine These besagt, dass Gesellschaften mit großer Einkommensungleichheit dazu neigen, im strikt medizinischen Sinn ein niedrigeres Gesundheitsniveau als egalitärere Gesellschaften aufzuweisen, was zwar primär, aber nicht ausschließlich auf die ärmeren Schichten zutrifft : »In der ersten Welt sind nicht die reichsten Länder die mit dem höchsten Gesundheitsniveau, sondern die egalitärsten« (S. 3). Vgl. auch Kate Pickett und Richard Wilkinson, The Spirit Level : Why Greater Equality Makes Societies stronger, London 2011. 174  Am überzeugendsten dafür argumentiert Harry Frankfurt in The Importance of What We Care About, Cambridge 1988, S. 134 – 37, 149 – 156. 175  Allerdings spricht er im Emile von »enflamer« in Verbindung mit dem amour propre (OC IV, S. 540). [Die deutsche Übersetzung begnügt sich nüchtern mit »wecken« (E, 510). A. d. Ü.] 176 Platon, Politeia, 369a-374e. [So die englische Übersetzung. Schleiermacher spricht in seiner Übersetzung von »aufgeschwemmt«. A. d. Ü.] 177 Platon, Politeia, 372d-373e. Anders als Rous­seau scheint Platon den Verlust von Autarkie selbst, sei es seitens des Staates oder der in ihm lebenden Individuen, nicht als eine Gefahr für die Gesellschaft zu betrachten. Sowohl eine auf Spezialisierung beruhende Arbeitsteilung als auch eine Abhängigkeit vom Außenhandel lassen sich pro­blemlos mit einer gesunden Polis vereinbaren (370a-3). 178  Ausführlich erörtere ich dies in Pathologien der Selbstliebe. Freiheit und Anerkennung bei Rous­seau, Kapitel 3. 179  Erinnern wir uns daran, dass im zweiten Kapitel gesagt wurde, nicht alle Versionen des Wunsches nach einer überlegenen Stellung seien notwendig entfacht oder destruktiv. Diese Komplikation in Rous­seaus Ansicht sollte hier eingeklammert werden. 180  Thomas Hobbes, Leviathan, Oxford 1998, Kapitel 13. 181  In der deutschen Übersetzung fehlt das »relative« des Originals. A. d. Ü. 182 Hobbes, Leviathan, übersetzt von Walter Euchner, Berlin 1976, Kap. 11, § 1. 183  Bei der Interpreta­t ion und Bewertung dieser These heißt es sehr sorgfältig sein. Wie wir wissen, hat »natürlich« für Rous­seau verschiedene Bedeutungen, und der Sinn, in dem er das Wort hier verwendet – als Gegensatz zu Anmerkungen | 289

»künstlich«  – ist sicherlich nicht der, den Hobbes gebraucht, wenn er vom Naturzustand spricht. 184  Zugegeben, es ist nicht eindeutig klar, dass »Pflichten der Höflichkeit (civilité)« sich auf die respektvolle Behandlung beziehen, die alle Personen als solche (gleichermaßen) verdienen. Die Erklärung »jeder erhob Anspruch« auf diese Art der Berücksichtigung scheint mir jedoch darauf hinzudeuten, dass dies die beste Weise ist, solche Pflichten zu deuten. Victor Gourevitch scheint dies ebenfalls zu meinen : ›Civilité‹,besteht darin, seine Mitbürger im Einklang mit dem Naturrecht zu behandeln« (Einleitung zum Discourse on Inequality, S. ii). Die überzeugendsten Belege für die Auffassung, der amour propre könne eine egalitäre Form annehmen, stammen letztlich aus dem 4. Buch des Emile. 185  G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, in Gesammelte Werke, Bd. 14, Hamburg 2010, §§ 158, 253 f. Möglicherweise lassen sich in Rous­seaus eigenen Schriften Schritte in diese Richtung finden : Viele seiner Werke betonen beispielsweise, dass man öffentliche Wertschätzung, ja »Ruhm« erringen kann, wenn man sich als mutiger und tugendhafter Bürger auszeichnet und bestimmte Eigenschaften und Leistungen an den Tag legt, die das allgemeine Wohl fördern (KW, 47 / OC III, 26 ; PÖ, 26 ff., 36 / OC III, 253 ff., 261). 186  Zu einer umfassenden Darlegung dieses scheinbaren Vertrags vgl. JeanFabien Spitz, La liberté politique, Paris 1995, S. 249 – 63. 187  Berühmt geworden ist der Ausdruck durch Rawls, der es für die plausibelste Interpreta­t ion der Theorie des Gesellschaftsvertrags hält, ihr einen hypothetischen Konsens statt eines tatsächlichen zuzuschreiben (Rawls, Lectures on the History of Political Philosophy, hrsg. von Samuel Freeman, Cambridge, Mass. 2007, S. 15 ; Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 28). 188  Eine Komplikation gibt es freilich. Zur Kritik des Zweiten Diskurses an der modernen Gesellschaft gehört auch, dass verderbte Institutionen unsere Fähigkeit beschädigen können, die wahre Natur unserer Bedürfnisse, unseres Glücks und unserer Freiheit zu erkennen und unsere wesentlichen Güter zu schätzen. In einer solchen Situation fehlt es letztlich an den Bedingungen, die dafür sorgen, dass die für die Legitimation sozialer Einrichtungen geforderte Zustimmung stattfinden kann. In solch einer Gesellschaft gäbe es kein Recht und keine wirkliche Freiheit. 189  Diese Auffassung der öffentlichen Vernunft ist fraglos eng damit verwandt, wie Kant, in Anlehnung an Rous­seau, später den Kern der moralischen (»reinen praktischen«) Vernunft charakterisiert. Vgl. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in : Kants Gesammelte Schriften, Akademie-Ausgabe Bd. 4, Berlin 1900 ff. 190  Übersetzung geändert. A. d. Ü. 191  An einigen Stellen deutet Rous­ seau sogar an, dass der amour propre dazu beiträgt, die moralische Motivation zu ermöglichen; vgl. Neuhouser, Rous­seau’s Theodicy of Self-Love, S. 229 – 6 4. 290 | Anmerkungen 

  Das vierte Buch des Emile ist ausschließlich der Erziehung der Leidenschaften Emiles gewidmet, auf dass er tugendhaft, fähig und willens wird, den moralischen Geboten zu folgen. 193  »Das Notwendigste … [ist,] den Armen gegen die Tyrannei des Reichen zu beschützen … Eine der wichtigsten Aufgaben der Regierung besteht also darin, diese äußerste Ungleichheit der Besitztümer zu verhindern, … indem man alle der Mittel beraubt, sie anzuhäufen, … indem sie die Bürger davor schützt, arm zu werden« (PÖ, 32 f. / OC III, 258). (Übersetzung geändert, A. d. Ü.) 194  Rous­seaus Prinzip ist geradezu deckungsgleich mit dem, was Elizabeth S. Anderson die »demokratische Gleichheit« nennt, die für »alle gesetzestreuen Bürger den wirksamen Zugang zu den sozialen Bedingungen ihrer Freiheit gewährleistet« (»What is the Point of Equality ?«, Ethics 109, Januar 1999, S. 289). 195  Um genauer zu sein  : Rous­seau scheint zu glauben, weniger radikale Reformmaßnahmen seien nahezu immer zum Scheitern verurteilt, weil sie nicht die tiefer liegenden Ursachen der Pro­bleme angehen, die sie lösen wollen. Deshalb ist er jedoch in den meisten realen Fällen, in denen der Staat die Bedingungen der Legitimität nicht erfüllt, noch lange kein Befürworter einer Revolution, da er auch glaubt, dass, hat sich die politische Korruption erst breitgemacht, es nahezu unmöglich ist, dagegen Abhilfe zu schaffen, nicht einmal durch eine Revolution. Ich stelle Rous­seau hier als jemanden dar, der für die radikalere politische Alternative eintritt, weil er der Meinung ist, dass, wenn ein Heilmittel zu finden ist, dieses (in den meisten Fällen) verlangt, die Gesellschaft von Grund auf neu zu errichten. In ihrer Begeisterung für das politische Denken Rous­seaus haben die Vertreter der Französischen Revolution die letztere Einsicht aufgegriffen, aber die erstere ignoriert. 196  Philip Pettit unterscheidet dieselben beiden Strategien, doch seine Version des Republikanismus bevorzugt im Gegensatz zu Rous­seau die zweite (Republicanism : A Theory of Freedom and Government [Oxford 1997], S, 67, 85). 197  Karl Marx, »Zur Judenfrage«, in Marx-Engels-Werke, Bd. 1, S. 370. 198  Wie ich unten erkläre, muss Rous­ seau die Position einnehmen, dass ökonomische Ungleichheit eine notwendige Bedingung für Herrschaft ist – während Armut ohne Ungleichheit nichts dergleichen hervorbringt –, dass aber, sobald es Ungleichheit gibt, Armut jemanden noch anfälliger für Herrschaft macht als der Umstand, lediglich weniger als andere zu besitzen. 199  Eine weitere Folge des partiell relativen Charakters der Armut ist, dass es theoretisch denkbar ist, Armut dadurch zu verringern, dass man lediglich die Ungleichheit verringert, ohne dadurch das Los der Ärmsten absolut zu verbessern. Und was noch paradoxer ist : Es wäre möglich, Armut zu verringern, indem man Ungleichheit verringert, selbst wenn dadurch die am schlechtesten Gestellten absolut gesehen schlechter dran sind, als sie es vor diesen Maß192

Anmerkungen | 291

nahmen zur »Armutsbekämpfung« waren. Rawls’ Differenzprinzip, betrachtet man es losgelöst von den anderen Prinzipien der Gerechtigkeit, könnte die erste Maßnahme, nicht aber die zweite tolerieren. Von seiner Warte aus könnte Rous­seau beide Maßnahmen rechtfertigen, aber dann nur zum Zweck der Reduktion von Herrschaft – eine Überlegung, für die das Differenzprinzip an sich unempfänglich ist. Da Rous­seau uns Gründe an die Hand gibt, unter bestimmten Umständen das zweite Szenario zu befürworten – es ist zulässig, ja notwendig, die am schlechtesten Gestellten absolut gesehen noch schlechter dastehen zu lassen, wenn damit verhindert wird, dass sie unter eine Herrschaft geraten –, stattet er uns mit einem Grund dafür aus, uns mitunter eher für Gleichheit als für die Maximierung der Lage des am schlechtesten Gestellten zu entscheiden. Das Differenzprinzip könnte das nicht tun. Dass es einen solchen Grund gibt, spiegelt den Vorrang, den Rous­seau der Gleichheit über das Wohlergehen einräumt. (Vermutlich stünde Rawls ein ähnliches Ergebnis offen, eines, das ebenfalls im Vorzug der Freiheit, allerdings einer bestimmten Art, gegenüber dem Wohlergehen gründet, dann nämlich, wenn ökonomische Ungleichheit den fairen Wert gleicher politischer Rechte gefährdet.) Um den Unterschied zwischen Rawls und Rous­seau hinsichtlich einer solchen Politik zu ermessen, ist die entscheidende Frage die, ob Betrachtungen, die in Rawls’ Theorie über das Differenzprinzip hinausgehen  – beispielsweise wie es mit der Gewährleistung fairer Chancengleichheit oder des fairen Werts gleicher politischer Rechte steht – letzten Endes im Hinblick auf zulässige Grade ökonomischer Ungleichheit zu ähnlichen Ergebnissen führen. Diese Frage werde ich im nächsten Kapitel behandeln. 200  Zweck von Rous­ seaus Abhandlung über die politische Ökonomie ist es selbstredend, eine solche Theorie der Ökonomie vorzulegen, aber im Gegensatz zu Hegels Behandlung dieses Themas (und Rawls’ beschränkteren Bemerkungen dazu), ist sie für moderne Marktwirtschaften wenig relevant. Gleichwohl beweist die Existenz dieser Schrift, dass der Gegenstand der politischen Ökonomie – »das öffentliche Wohl auf der Grundlage einer Gerechtigkeitsvorstellung« (Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 292) – in Rous­seaus Gesamtprojekt einen wichtigen Platz einnimmt, auch wenn die Details seiner ökonomischen Ausführungen für uns heute kaum von Belang sind. 201  Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, in Kritische Studienausgabe, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1999, Vorrede § 3. 202 Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1, § 10. 203  Rous­seau verwendet die Rede vom »entwirren« in DU, 67 / OC III, 123. 204 Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 11, § 24.

292 | Anmerkungen 

Kapitel 5

  Etwa die von Elizabeth S. Anderson in »What is the Point of Equality ?«, Ethics 109, Januar 1999, S. 287 – 337. Dennoch werde ich mich in erster Linie auf Rawls konzentrieren, da seine Ansichten zur ökonomischen Ungleichheit stärker als die ihrigen ausgearbeitet sind. 206  Rawls’ Rückgriffe auf die Geschichte der politischen Philosophie treten viel deutlicher in seinen Lectures on the History of Political Philosophy zutage (S. 191 – 248).als in Eine Theorie der Gerechtigkeit. 207 Rawls, Justice as Fairness, Harvard University Press 2001, S. 60 ; A Theory of Justice, S. 440 ; siehe auch 546. (Dt. Gerechtigkeit als Fairneß, Frankfurt am Main 2003, S. 102, Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 479 ; siehe auch 592.) 208 Rawls, Justice as Fairness, S. 102 f., 105 ff., 110, 113 ; Lectures on the history, 219, 217 f. 225 f. (Dt. Gerechtigkeit als Fairneß, S. 165, 167 f, 174, 178] 209 Rawls, Theory of Justice, S. 440, 443. (Dt. S. 480, 483.) 210  Siehe Rawls, Justice as Fairness, S. 114 (Dt. S. 179)  ; Theory of Justice, S. 440, 536. (Dt. S. 480, 581.) 211  Da Rous­seau glaubt, Neid habe seine Quelle im entfachten amour propre (und sei eine seiner Äußerungen), gibt es zwischen den beiden Positionen eine erhebliche Überschneidung, auch wenn Rous­seau ein umfassenderes Verständnis der Gefahren hat, die von entfachten sozialen Leidenschaften ausgehen. 212 Rawls zählt Selbstachtung zu der Gruppe von Grundgütern, deren Verteilung durch das Differenzprinzip zu regeln ist (Theory of Justice, S. 546 (Dt. S. 592) ; Justice as Fairness, S. 59 (Dt. S. 101)). Das beinhaltet – Rous­seaus Punkt –, dass zulässige Verteilungen von Reichtum anhand von Erwägungen einzuschränken sind, wie sich ökonomische Ungleichheiten auf die Fähigkeit eines jeden Bürgers auswirken, ein angemessenes Maß an Selbstachtung zu erreichen : »Das Selbstwertgefühl der Menschen könnte in gewissem Maße von ihrer institutionellen Stellung und ihrem relativen Einkommen abhängen« (Theory of Justice, S. 546 / dt. S. 592). Ein weiterer Beleg für diesen Befund findet sich in Rawls, Lectures on the History of Philosophy, S. 245. Elizabeth Anderson vertritt eine ähnliche Position »Der Grad an akzeptabler Einkommensungleichheit würde zum Teil davon abhängen, wie leicht Einkommen sich in Statusungleichheit verwandelt« (»What Is the Point of Equality ?«, S. 326). 213  Vermutlich weichen sie bezüglich der Frage ab, wie zentral und gewichtig die vom entfachten amour propre verursachten Pro­bleme sind. Rawls geht auf diese Themen in seiner Theorie der Gerechtigkeit erst relativ spät ein (§ 82) und meint, man könne sie »am besten unter den Gesichtspunkten der Gesetzgebung unterscheiden« statt auf den grundlegenderen Ebenen seiner Theorie (S. 546/dt. S. 592). 214  Man erinnere sich, dass, obwohl Rous­seau im Allgemeinen dieser Tradition zugeordnet wird, Pettit behauptet, Rous­seaus weiche in wichtigen Hin205

Anmerkungen | 293

sichten von ihr ab. Richtiger wäre es vermutlich zu sagen, dass es innerhalb der republikanischen Tradition eine beachtliche Bandbreite gibt und dass nicht alle ihrer Vertreter diejenigen Merkmale teilen, die Pettit als ihre entscheidenden herausstellt. Vgl. Kapitel 3, Anm. 105. 215  Philip Pettit, Republicanism : A Theory of Freedom and Government, Oxford 1997, 158 – 163. 216 Pettit, Republicanism, 15. 217  Diese Behauptung setzt voraus, dass Rawls nicht zur republikanischen Tradition gehört, sondern, um Pettits Kategorien zu verwenden, ein Liberaler ist. Obwohl Rawls zweifellos als ein Liberaler im weitesten Sinn des Worts zu betrachten ist, ist mir nicht deutlich, warum wir Rawls auf der Grundlage dessen, wie er den Liberalismus begreift, aus den Reihen der republikanischen Theoretiker verbannen sollten. Zumindest enthält Rawls’ Denken substantielle republikanische Elemente, etwa seine zentrale Vorstellung von freien und gleichen Bürgern. 218  Dieser Punkt ist besonders komplex. Der Zweck des Differenzprinzips ist der, für alle Bürger, die als Teilnehmer am System der Kooperation gelten, einen Anteil an einer bestimmten Untermenge von Grundgütern zu gewährleisten. Freiheit, wie Rawls sie in der Hauptsache auffasst (die »Grundfreiheiten«) unterliegt nicht dem Differenzprinzip, da sie gleich verteilt werden muss, und das bevor die Verteilung anderer Grundgüter festgelegt wird. Für die Grundgüter, deren Verteilung durch das Differenzprinzip bestimmt wird, ist Fairness durch das Maximin-Prinzip definiert, das die Wahl des Systems der Kooperation vorschreibt, das für die am schlechtesten Gestellten am vorteilhaftesten ist (wobei die gleiche Freiheit für alle höher rangiert). Wie ich oben schon sagte, sollten die sozialen Grundlagen der Selbstachtung am besten als ein vom Differenzprinzip abgedecktes Grundgut betrachtet werden, und das beinhaltet, dass ökonomische Ungleichheit so zu regulieren ist, dass die Chancen der am stärksten Benachteiligten steigen, sowohl Selbstachtung als auch ihre Voraussetzung, soziale Anerkennung, zu finden. Das Differenzprinzip selbst liefert uns aber keine Gründe, ökonomische Ungleichheit zu dem Zweck der gleichen Freiheit zu beschränken, ob man sie nun so begreift, wie Rawls es tut, oder als Fehlen von Herrschaft. 219 Rawls, Justice as Fairness, S. 136 f. (Dt. S. 211 f.). 220  Ebd., S. 139 (Dt. S. 216 f.). 221  Wie ein solches System ausschauen könnte, dazu finden sich Ideen in dem von Martin O’Neill und Thad Williams herausgegeben Sammelband Property-Owning Democracy : Rawls and Beyond, Hoboken, NJ, 2012. 222  Zu mehr dazu, wie diese beiden Ideale innerhalb eines Rawls’schen Systems ökonomische Ungleichheit begrenzen, siehe Erin Kelly, »Inequality, Difference, and Prospects for Democracy«, in Jon Mandle und David A. Reidy (Hrsg.), A Companion to Rawls, Oxford 2013. 223 Rawls, Justice as Fairness, S. 43 f. (Dt. S. 79). 294 | Anmerkungen 

  Ebd., S. 44 (Dt. S. 80). 225  Das hat große Ähnlichkeiten mit dem Punkt, den Thomas Scanlon hervorhebt, wenn er zwei Gründe für die Durchsetzung von Gleichheit unterscheidet : Zum einen sollte dadurch die Fairness von Verteilungsprozessen gewährleistet werden und zum anderen ist sicherzustellen, dass einige »kein unakzeptables Maß an Kontrolle über das Leben anderer« haben. Siehe sein Buch The Difficulty of Tolerance : Essays in Political Philosophy, Cambridge 2003, S. 205 f. 226  Man beachtet, dass hier der relative und nicht bloß der absolute Reichtum zur Debatte steht. Seine politischen Freiheiten wahrzunehmen schließt ein, mit anderen um politischen Einfluss zu konkurrieren. (Rawls, Justice as Fairness, S. 46, [dt. S. 83 ].) 227  Das heißt das Recht zu wählen, sich politisch zu betätigen, sich um ein politisches Amt zu bewerben und sich in politischen Parteien zu engagieren (Ebd., S. 44, 148, [dt. S. 80, 230]). 228  Ebd., S. 46 (dt. S. 83). 229  Ebd., S. 149 (dt. S. 231). 230  Ebd., S. 45 (dt. S. 81). Deutsche Übersetzung geändert, A. d. Ü. 231  Samuel Scheffler betont, dass Gleichheit für Rawls nicht nur ein politisches, sondern auch ein soziales Ideal ist, und das beinhaltet, nicht-politische Formen der Herrschaft beunruhigen ihn nicht weniger als politische (Equality and Tradition, Oxford 2010), S. 191, 199, 225. 232  Anders als Rous­seau und Marx dachte Smith vermutlich, das Pro­blem der Herrschaft in der ökonomischen Welt könne angemessen mit politischen Mitteln gelöst werden ; eine fundamentale Veränderung der herrschenden Klassenverhältnisse sei dafür nicht nötig. 233  Diese Rous­seau’sche Einsicht ließe sich sogar auf einen sozialen Bereich ausweiten, auf den er sie nicht selbst angewendet wissen wollte : die Familie. Es wäre zwar falsch, die geschlechtsspezifische Herrschaft in der Familie ganz und gar auf die ökonomische Ungleichheit von Ehemann und Ehefrau zurückzuführen, aber es scheint doch immerhin deutlich zu sein, dass diese Herrschaft sich zum Teil ebenso aus den Ungleichheiten bezüglich der Kontrolle des Familieneinkommens speist wie aus der ungleichen Erwerbskraft und dass eine Angleichung der ökonomischen Positionen von Frauen und Männern zu ihrem Abbau betragen könnte. 234 Rawls, Justice as Fairness, S. 139 (dt. S. 216 f.) 235 Rawls, Political Liberalism, New York 1991, S. 267. 236 Rawls, Lectures on the History of Philosophy, S. 245. 237  Wo liegt der »Kippunkt«, an dem ökonomische Ungleichheit Hindernisse für die Freiheit der am schlechtesten Gestellten aufbaut ? Und welche spezifischen Gesetze und Institutionen aus einer Vielzahl möglicher Abhilfen empfiehlt Rous­seaus Theorie ? 238  Das lässt sich an der Tatsache ablesen, dass sich etwa ein Großteil seiner 224

Anmerkungen | 295

Kritik an der Pariser Gesellschaft gegen die Überreste einer früheren, aristokratischen Gesellschaftsordnung richtet. 239  Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft  : Grundriss der verstehenden Soziologie, 5. rev. Auflage, Tübingen 1980, S. 28. 240  Joseph E. Stiglitz, Globalization and Its Discontents, New York 2003, S. 6 ff., 18 und im Ganzen des Buches. (Dt. : Die Schatten der Globalisierung, Berlin 2002.) 241  Diese Aufzählung habe ich Andersons Aufsatz »What Is the Point of Equality ?« (S. 312) entnommen.

Personen- und Sachregister A Abhandlung über die politische ­Ökonomie 292 Abhängigkeit 86, 108 ff. siehe ­Bedürfnisse; amour propre – Bedrohung der Freiheit 193–201, 210 – definiert 193 – grundlegend für die menschliche Existenz 129, 201 – ökonomische 201, 232, 248, 289 – verbunden mit Ungleichheit 112, 115 ff., 232, 234 f., 248 Achtung, auch Wertschätzung 82–88  siehe amour propre – als ein wesentliches Gut 132, 171 – definiert 198 – öffentliche 80 f. – und entfachter amour propre 172 – und Glück 196 – und Selbstwert 87 – Ungleichheit der 215 f., 246 Ackerbau 109, 112 ff., 116, 194– siehe Arbeit, Teilung der Allison, Henry E. 269 amour de soi-même 49–55, 60 ff., 68–75, 81–93, 110, 119, 160, 177, 179, 199, 202 ff., 210, 222, 225, 234, 267, 270 f., 273 f., 284 siehe Meinungen; Wohlergehen; Selbsterhaltung – als Förderer von Tugend 225 – Beziehung zum Mitleid 51, 175, 184, 223 – definiert 50, 52 f., 81 f., 102 f., 175 – natürlich 41, 50, 64, 69, 142, 184 – nicht Quelle der Ungleichheit 68–70, 75

– und Sexualität 54 – unterschieden vom amour propre 69, 81–93, 169 amour-propre 63 ff. siehe Knappheit; Meinungen, Liebe; Herrschaft – als Bestandteil der menschlichen Natur im erweiterten Sinn 44 – als Quelle der Abhängigkeit 196 – als Quelle von Übeln 82, 90, 175, 195 f., 207 f., 224, 241, 246 – als Quelle von Ungleichheit 32, 81, 96–107, 190, 239 f. – als Wunsch nach einer überlegenen Stellung 85 f., 89 f., 96–107, 115, 119 f., 126, 164, 170 ff., 196, 206–210, 234, 241 – definiert 80–95 – entfacht 165, 170–173, 187, 195 f., 198, 203–214, 221, 236, 240 – Formbarkeit 88 f., 142, 170 f., 240 – Gegenstand von 82–88, 96, 170– 173, 175, 196, 198, 209 – Gründe ihn anzunehmen 86–88 – Künstlichkeit des 42, 66, 127 – positives Potential des 82 f., 90, 168 f., 198, 212 f., 225 – Relativität des 83, 92, 273 – Unauslöschlichkeit 169, 240 – und Abhängigkeit 81, 168, 199, 234 f.  siehe Bedürfnisse – und Geselligkeit 47, 66, 86, 94, 174 – und Sexualität 54, 105, 283 – und Wohlergehen 204 f. – unterschieden vom amour de ­soi-même 50, 69, 81–95 – Ursprung des 93, 97, 102, 110, 215  297

– vergleichender Charakter des 86 ff., 93, 205 Anderson, Elizabeth 264, 291, 293, 296 Anerkennung 82, 85, 89, 126  siehe Wohlergehen – als ein wesentliches Gut 166–173, 199, 202, 212 – ein geringeres Gut als Freiheit 143 – Fehlen von 190 – gleiche 85, 212 – politische 212, 235 – und Selbstachtung 247 Arbeit, als Quelle von Eigentum 133 f. Arbeit, Teilung der 97 f., 100, 108, 110–117, 123 f., 129  siehe Metall­ bearbeitung; Ackerbau – als kontingent 240 – als Quelle der Abhängigkeit 108, 194 – bei Platon 206 – in der Familie 110, 113 – und Privateigentum 110, 115 Aristoteles 14 f., 35, 40, 272, 285 Aristotelischer Grundsatz 285 Armut 36, 202 f., 232–234, 249, 286, 288 f., 291 f. – Definitionen von 202 f. – versus Ungleichheit 202 f., 232 ff. Autarkie 193, 232, 289 Autonomie 59, 281  siehe Freiheit, moralische Autorisierung, siehe Grundlegungen – durch das Naturgesetz 10, 14, 32, 119, 131–139, 153, 189, 227 – durch Zustimmung 20, 27–30 Autorität – politische 150, 154 – väterliche (oder elterliche) 150, 153

298 | Personen- und Sachregister 

B Barbeyrac, Jean 65 Bedürfnisse 66, 96, 144 – als Quelle der Abhängigkeit 193– 198 – des amour propre 85–92, 94, 169, 195, 234 – eingebildete 109, 111, 159, 195 ff., 233 f. – falsche 197 f. – künstliche 109, 197 f. – natürliche 39, 70, 109, 147, 162, 198 – nicht historisch festgelegt 233 – und Abhängigkeit 112–117,159, 197 – und Knappheit 73 ff. – und Wohlergehen 161–163 – versus Wünsche 161–163 – »wahre« 161, 195, 197, 282, 288, 290 Brooke, Christopher 266, 270 Buffon, Comte de 269 C Celikates, Robin 279 Cohen, Joshua 271, 283, 286 D Darwin, Charles 180, 283 Demokratie 156 f., 250, 255, 281 Dent, N. J. H. 271, 284, 287 Descartes 46, 266 f. Dworkin, Ronald 264 E Eigentum, privates 21, 72, 97 f., 100, 107–111, 115–129, 134 f., 187, 199, 221, 230, 240 ff., 247, 275, 277 siehe Interessen, grundlegende; Arbeit, Teilung der – als grundlegendes Interesse 221 – als kontingente Entwicklung 240 – als Quelle der Ungleichheit 35, 97, 100, 107 f., 116, 126 f. – an Produktionsmitteln 109, 116,

118 f, 121, 123 f., 126, 230, 242, 250, 275 – bei Locke 124 f., 134 – legitime Formen von 131, 247 – primitive Formen des 110, 122 – sein Fehlen im Naturzustand 221 – und amour propre 120, 187, 196 – Ursprung des 100, 122, 199 Emile 22, 40, 43, 55, 82 f., 90, 95, 101 f., 105, 128, 165–168, 170, 181, 183, 216, 226, 268, 271 f., 274, 282, 284, 286, 288–291 Entfremdung 21, 82, 127, 129, 144, 187, 190, 192, 205, 207, 211 f., 217, 284, 287 – als Folge sozialer Ungleichheit 192, 205, 217 – definiert 207, 211 – und Freiheit 211 – und Wohlergehen 192, 211 Erbsünde 64 Erziehung 40, 43, 90, 95, 166, 170, 181, 187, 216, 226, 271, 273, 283 f., 291 Existenz, Gefühl seiner eigenen 173,207 F Familie 183, 295  siehe Autorität, elterliche; Arbeitsteilung – Autorität innerhalb der 153 – bei Hegel 217, 236 – bei Rawls 245 – Herrschaft in der 237, 280 Feuerbach, Ludwig 263 Fichte, Johann Gottlieb 22, 82, 263, 271 Force, Pierre 270 Frankfurt, Harry 289 Freiheit   siehe Ungleichheit, soziale; Abhängigkeit; Meinungen; Natur – als Fehlen von Herrschaft 147–160 – als Fehlen von Verpflichtungen 143

– als unterschieden vom Wohler­ gehen 145, 161 – als wesentlich für den Menschen 140, 142–145, 174, 176 – als Zweck des allgemeinen Willens 167, 191 – bürgerliche 148 Willensfreiheit 63, 177, 278 f., – moralische 147, 155 – natürliche 144, 146, 157 – natürliche Neigung zur 176 – negative 148, 171 – praktische 63 – Vorrang bezogen auf Selbsterhaltung 144–147 – Wesen der 148 Freud, Sigmund 7 G Genealogie 11 ff., 21, 27, 77 f., 112, 126 ff., – und Kritik 238–243 Gerechtigkeit 33, 115, 121 f., 124, 206, 228, 245, 249 f., 254 ff., 268, 292  siehe Recht in der Gesellschaft; Privateigentum; Legitimität Geselligkeit 65 f., 86, 94 f., 269, 273 Gesellschaft – Künstlichkeit der 42, 66 ff., 88 f. Gesellschaftsvertrag 22, 59, 83, 90, 94 f., 114 f., 120, 122, 124, 129, 136 f., 147, 151 f.154 f., 157 f., 165, 165, 168, 170 f., 181, 187, 191, 200, 214 f., 218, 220, 223, 228, 254, 264 f., 271, 276 f., 279, 286 siehe Erziehung Gesellschaftsvertrag 136 f., 146, 154, 158 f., 170, 218 ff., 227, 229, 231, 226, 245, 254, 264, 266, 276, 279, 290  siehe Zustimmung; Interessen, grundlegende; John Locke Gesetzgeber 94, 225, 273 Personen- und Sachregister | 299

Gleichheit – aller Menschen 19 f., 191, 215 f. – als Ziel des allgemeinen Willens 191 – politische 85, 171, 191, 206, 246, 252 f. Glück 181, 192 f., 194  siehe Achtung, Wohlergehen – als Kriterium der Gesellschaftskritik163 f., 221, 286 – Bedrohungen für 57, 95, 163 f., 193, 204 f., 208, 287 – definiert 161, 192 – im Naturzustand 132, 144, 161, 192 – und Bedürfnisse 192 – und Entwicklung der Fähigkeiten 166 – und Gefühl seiner eigenen Existenz 172, 205 – und Wohlergehen 143, 160–165 – »wahres« 163 f., 282 Goldenes Zeitalter 100, 102, 140, 144, 172, 183, 192, 274, 284 Gott, als Schöpfer der Natur 16, 33, 38, 64, 174, 180 f. Gourevitch, Victor 266, 268, 286, 290 Griswold, Charles L. 269 Grotius, Hugo 65 Grundlagen 22, 136, 198, 200 – Begriff der 10, 31, 115, 131, 186, 218, 220 f. – versus Autorisierung (durch das Naturgesetz) 135 f. Guyer, Paul 269 H Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 7, 22, 82, 182, 217, 236, 262 f., 271, 279, 287, 290, 292 Heidegger, Martin 263 Herrschaft 144, 176 f., 192, 229 – als Folge von Ungleichheit 232 300 | Personen- und Sachregister 

– definiert 147–160, 195 – kein Rechtsstatus 156 ff. – ökonomisch fundierte 115, 229, 231 f., 237, 252 ff., 259 – politische 115, 251–254 – republikanische Auffassungen von 149–154 – und Zwang 158 f., 237 – versus Paternalismus 150, 156 – Wille zur (und amour propre) 82, 208 ff. Hills, David 267 Hobbes, Thomas 69, 207, 209, 265, 270 f., 276 f., 289 f. Höflichkeit 84 f., 99, 216, 290 Honneth, Axel 272, 287 Hont, István 275 I Ichsein 173, 198, 211, 284 Interessen, grundlegende 118, 144, 227, 254 – definiert 220 ff., 236 – und normative Auffassung der menschlichen Natur 223 Internationaler Währungsfond 258 J Julie oder Die Neue Héloïse 285 K Kant, Immanuel 22, 62 f., 180, 182, 269, 271, 279, 285, 290 – »Idee zu einer allgemeinen ­Geschichte in weltbürgerlicher Absicht« 182 – »Mutmaßlicher Anfang der ­Menschengeschichte« 285 Kapitalismus 8, 12, 49, 89, 116 f., 122, 159, 167, 250, 257 ff. Kelly, Erin 294 Klasse 15, 18, 116, 156, 187, 214, 230 f., 237, 250 f., 253, 257 ff., 275, 295

Knappheit 17 f., 71–75, 212 Kolodny, Niko 270 Konsequentialismus 227  siehe Gesellschaftsvertrag Kriegszustand 120, 125, 207, 265, 276 L Lanson, Gustav 273 Laster 57, 80, 82 f., 97, 127, 129, 144, 185, 192, 283 Legitimität 154   siehe Zustimmung; Demokratie; Ungleichheit, soziale; Naturgesetz; Verpflichtung, Vernunft; Eigentum, privates – Begriff der 20, 33, 136–139, 154 – definiert 124, 277 – Prinzip der 140, 147, 220–228 – scheinbare 29 f., 282, 291 Leland, R. J. 279 Liberalismus 245, 294 Liebe 42, 54, 82 f., 87, 105 f., 172, 194, 196, 274, 283  siehe Sexualität Locke, John 12, 122, 124 f., 134, 263, 265, 267 f., 276 Lovejoy, Arthur O. 272 Luxus 98, 109, 111, 113, 115 f., 122 f., 126, 196, 206, 275 Lykurgos 231 M Machiavelli, Niccolò 22, 279 Marx, Karl 7, 22, 110, 116, 167, 231, 257, 291, 295 – »Zur Judenfrage« 291 Masters, Rogers D. 266 Meinung 28, 41, 50, 86, 88, 106, 131, 156, 196 f., 199, 207 f., 235, 284, 288, 291 Metallbearbeitung 100, 109, 112 ff., 116, 123, 194, 274 f.  siehe Arbeit, Teilung der Mitleid 94, 184

– als Antrieb der Tugend 50 f., 81, 175, 225 – Argumente für 53, 60 – Beziehung zum amour de soimême 50 f., 92, 175, 177, 184, 223 – definiert 50 f. – natürliches 41, 49, 53, 60, 142, 184 f. – nicht Quelle der Ungleichheit 69, 74, 208 – schwächer als der amour propre 90, 169, 208 – und Geselligkeit 66, 95 – und Sexualität 54 f. Montesquieu 22 Muße 80, 97 f., 108, 110 f., 115 f., 122 f., 126, 196 N Natur 54 – als entzauberte 182 – als Quelle der Ungleichheit 12 ff., 35 ff., 71 ff., 127 ff. – als teleologisch 50 ff., 174 ff. – für die Griechen 14 – versus Freiheit 19 f. – versus Künstlichkeit 25 ff., 43, 66 Natur, menschliche – als individualistische aufgefasst 64–68 – Argumente für die 52 f. – Entlastung der 127 ff. – erklärende Auffassung der 37–68, 94 f., 139 ff., 173–187 – Formbarkeit der 140 ff. – im erweiterten Sinn 44, 93 f., 128, 131 f., 138, 142, 165, 169, 173, 175, 181, 198 – nicht Quelle der Ungleichheit 8, 25 ff., 37 ff., 68 ff., 85 f. – Normative Auffassung der 37 ff., 64 f., 131 ff., 160–187  siehe Interessen, grundlegende Personen- und Sachregister | 301

– ursprüngliche 37 f., 42, 44–68, 94, 112, 115, 131 f., 139 f., 142, 144, 148, 162, 165 f., 174, 176 f., 182, 239 f., 267, 285, 288 – Verbindung zwischen normativen und erklärenden Auffassungen 43 f., 173–187, 223 – versus tierische Natur 41, 44 – »wahre« 42 ff., 65, 81, 139, 140 ff., 143 f., 157, 160, 165–183, 189, 198, 217, 223, 290 Naturgesetz 12, 20 f., 29, 61 f., 118– 123, 131–139, 153, 184 ff., 189, 217 f., 224, 227, 265 ff., 276 f., 279 Naturrecht 65, 136, 184 ff., 189, 223, 227, 265, 277, 286, 290 Naturzustand 25, 37–54, 60, 64 f., 67 f., 72 f., 78 f., 81, 97, 112, 115, 125, 138 ff., 144, 147, 155, 162, 165 ff., 172, 174 ff., 180, 182–187, 207, 218, 221, 224 f., 265 f., 269 f., 272, 276 ff., 282, 284, 288, 290  siehe John Locke Neid 293 Newton, Sir Isaac 48 Nietzsche, Friedrich 7, 11, 22, 238 f., 242, 263, 272, 292 P Paternalismus 150, 153, 156 Paul, Elliott 267 Pettit, Philip 247 f., 279 ff., 291, 293 f. Platon 14 f., 22, 35, 206, 289 Plattner, Marc F. 266 R Rawls, John 122, 228, 245–256, 277, 285, 290, 292–295  siehe Gerechtigkeit Recht, in der Gesellschaft 21, 120, 123, 136 f., 186 – Kriterium des 137 f., 217–239 – seine Verbindung zur Natur 223 Rechte, individuelle 89, 171, 253 302 | Personen- und Sachregister 

Republikanismus 150, 153, 247 f., 280, 291 S Savoyardischer Vikar 266, 269 Scanlon, Thomas 295 Schwartz, Joel 268 Scott, John T. 266 Selbsterhaltung 70, 82 f., 85, 92, 143 ff., 160 ff., 167, 174 ff. 179 f., 182, 187, 224, 227, 265, 270, 282, 284, 287 Sexualität 105 Shklar, Judith 286 Siep, Ludwig 265 Sklaverei 191 f., 275, 288 Smith, Adam 12, 27, 200, 229 f., 255 ff., 263 f., 273, 282, 295 Spitz, Jean-Fabien 290 Sprache 26, 42, 55–68, 80, 87, 92 f., 100, 102, 141, 180, 269 Staat 29, 66, 115, 143, 145, 154, 158, 172, 186, 216, 228 – als Hilfsbedingung der Ungleichheit 98–110 – Lockes Staatsauffassung 124– 127 Stiglitz, Joseph E. 263, 296 Stoiker 22, 41, 285 Stolz 93, 102–106, 273 T Todorov, Tzvetan 266, 286 Tugend 51, 81, 83, 176, 185, 225, 277, 290 f. U Ursprung – Begriff des 10–17, 25, 35 f., 77, 122, 190, 238 – Beziehung zur Kritik 10 ff., 38, 238

V Verdienst 18, 20, 81 f., 86, 93, 95, 104, 106, 135, 213, 264 Vernunft – Abhängigkeit vom amour propre 92 f. – als Quelle von Normen 78, 143, 145, 221–224 – fehlt bei Tieren 87, 180 – Künstlichkeit der 42 f., 87, 95, 224, 226 – öffentliche 221 ff. – praktische 63 – und Freiheit des Willens 63, 278 – und Tugend 81 – und Vergleiche 92 – Vermögen der 63, 100, 179 Verpflichtung 63, 134, 138, 143, 146, 154, 157 f., 185, 220, 277 f.

Vervollkommnung 55–65, 87, 100, 102, 133, 142, 177–180, 225, 268 f., 276 Voltaire 242, 271 W Weber, Max 148 f., 258, 280, 296 Wertschätzung 81, 86–89, 131 f., 164, 166–173, 181, 196, 198, 202, 204– 207, 210, 212–217, 236, 246, 270, 278 f., 283 ff., 290   siehe Achtung Wesen des Menschen 40, 139–143 Wilkinson, Richard 289 Wille, allgemeiner 137, 215, 280 Wood, Allen 267 Würde 85, 99, 143, 234, 278 f. Z Zufall 15, 92, 122, 175, 240, 242

Personen- und Sachregister | 303