Krise!: Wie 1923 die Welt erschütterte 9783534275212, 9783534275304, 9783534275311, 3534275217

Die Weimarer Republik wackelt und der Faschismus erwacht: Das Epochenjahr 1923 1923 war ein Jahr, das die Menschen welt

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Krise!: Wie 1923 die Welt erschütterte
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Table of contents :
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Alles Krise? Perspektiven auf das Jahr 1923 / Nicolai Hannig/Detlev Mares
Zeitenwende 1923? Wurzeln und Wirkungen eines Krisenjahrs / Eckart Conze
Der Hitler-Putsch und die Rolle des italienischen Faschismus / Christof Dipper
Weltrevolution? Die Herausforderung des Kommunismus im Krisenjahr 1923 / Christoph Cornelißen
Die Ruhrbesatzung. Gewaltauftakt zum Krisenjahr 1923 / Nicolai Hannig
Währung in der Krise: Die Hyperinflation 1923 und Falladas »Wolf unter Wölfen« / Eva-Maria Roelevink
Kampf dem ›Wucher‹. Stadt-Land-Konflikte während der Hyperinflation / Dieter Schott
»Eiserne Chirurgen« im Kampf gegen Korruption. Die Krise des Parlamentarismus und die autoritäre Versuchung im Europa der Zwischenkriegszeit / Jens Ivo Engels
Von idealisierten Müttern und »seelenlosen Weibern«. ›1923‹ im (Zerr-)Spiegel geschlechterpolitischer Diskurse / Julia Paulus
Die Ukraine im Jahr 1923. Gescheiterte Staatsbildung und die Krise des ukrainischen Nationalismus / Franziska Davies
Auf der Suche nach zeitgemäßen Gestaltungssystemen. Zwischen Bauhaus-Ausstellung und der Normierung des Alltags / Anna-Maria Meister
1923 in der Türkei. Krisen und Neuanfänge / Barbara Henning
Im Jahr des zuckenden Welses. Das Erdbeben von Kanto (Japan) am 1. September 1923 / Gerrit Jasper Schenk
»It is wonderful«. Tutanchamun und die Ägyptomanie zwischen Mythos und Inszenierung / Stefan Baumann
Böses Lachen. Feind- und Selbstbilder in der politischen Bildsatire des Simplicissimus / Detlev Mares
Bildnachweis
Rückcover

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Nicolai Hannig Detlev Mares (Hg.)

Epochenjahr 1923: Wirren und Wendepunkte in Deutschland, Europa und der Welt Hitler-Putsch, Ruhrkampf, Aufstieg des europäischen Faschismus – 1923 war ein Jahr, das sowohl Deutschland wie auch die Welt erschütterte und viele bisherige Sicherheiten infrage stellte: Kemal Atatürk greift nach der Macht, im japanischen Kantō sterben über 140 000 Menschen beim großen Erdbeben, und 1923 scheiterte zum ersten Mal der ukrainische Traum von einem eigenen Nationalstaat. Das spannungsvolle Panorama eines besonderen erscheinungen einen neuen, einen spiegelbildlichen historischen Blick auf das krisenhafte Jahr 1923 und schlägt bewusst auch einen Bogen in die Gegenwart. Mit Beiträgen von u. a. Eckart Conze, Christoph Cornelißen, Franziska Davies, Christof Dipper, Jens Ivo Engels und Gerrit Schenk.

ISBN 978-3-534-27521-2

€ 40,00 [D] € 41,20 [A]

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Nicolai Hannig Detlev Mares (Hg.)

Epochenjahres bietet angesichts aktueller Krisen-

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. wbg Academic ist ein Imprint der wbg. © 2022 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Lektorat: Dirk Michel Satz: Arnold & Domnick, Leipzig Einbandgestaltung: Harald Braun, Helmstedt Einbandabbildungen: Putschversuch in München © akg-images; Inflation in Weimar © akgimages/IAM/World History Archive; Franz. Soldat während der Ruhrbesetzung © akg-images/Sammlung Berliner Verlag/Archiv; Franz. MG-Position im Ruhrgebiet © akg-images. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-27521-2 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): ISBN 978-3-534-27530-4 eBook (epub): ISBN 978-3-534-27531-1

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Inhalt Alles Krise? Perspektiven auf das Jahr 1923 Nicolai Hannig/Detlev Mares . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Zeitenwende 1923? Wurzeln und Wirkungen eines Krisenjahrs Eckart Conze. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Der Hitler-Putsch und die Rolle des italienischen Faschismus Christof Dipper. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 Weltrevolution? Die Herausforderung des Kommunismus im Krisenjahr 1923 Christoph Cornelißen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 Die Ruhrbesatzung. Gewaltauftakt zum Krisenjahr 1923 Nicolai Hannig. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 Währung in der Krise: Die Hyperinflation 1923 und Falladas »Wolf unter Wölfen« Eva-Maria Roelevink . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Kampf dem ›Wucher‹. Stadt-Land-Konflikte während der Hyperinflation Dieter Schott. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 »Eiserne Chirurgen« im Kampf gegen Korruption. Die Krise des Parlamentarismus und die autoritäre Versuchung im Europa der Zwischenkriegszeit Jens Ivo Engels. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Von idealisierten Müttern und »seelenlosen Weibern«. ›1923‹ im (Zerr-)Spiegel geschlechterpolitischer Diskurse Julia Paulus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125

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6  Die Ukraine im Jahr 1923. Gescheiterte Staatsbildung und die Krise des ukrainischen Nationalismus Franziska Davies. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 Auf der Suche nach zeitgemäßen Gestaltungssystemen. Zwischen Bauhaus-Ausstellung und der Normierung des Alltags Anna-Maria Meister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 1923 in der Türkei. Krisen und Neuanfänge Barbara Henning. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Im Jahr des zuckenden Welses. Das Erdbeben von Kantō (Japan) am 1. September 1923 Gerrit Jasper Schenk. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 »It is wonderful«. Tutanchamun und die Ägyptomanie zwischen Mythos und Inszenierung Stefan Baumann. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Böses Lachen. Feind- und Selbstbilder in der politischen Bildsatire des Simplicissimus Detlev Mares . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 Bildnachweis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240

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Alles Krise? Perspektiven auf das Jahr 1923 Nicolai Hannig/Detlev Mares Richtet sich die deutsche historische Erinnerung auf die Zeit zwischen 1918 und 1933, so drängt sich fast unweigerlich ein Begriff auf: Krise! Die Jahre der Weimarer Republik scheinen gekennzeichnet durch ein stetes Taumeln angesichts innerer und äußerer Herausforderungen, die der ersten Demokratie auf deutschem Boden kaum eine Erfolgschance ließen. Aus dieser Zeit der Dauerkrise ragt das Jahr 1923 heraus als das Krisenjahr schlechthin, ein Jahr, in dem die junge Republik nur haarscharf dem frühen Scheitern entging. Die historische Forschung hat das Bild der dauerhaft krisengeschüttelten Weimarer Republik inzwischen deutlich modifiziert und betont die Aufbrüche und Chancen dieser Zeit. Dennoch ist der Krisentopos gerade mit Blick auf das Jahr 1923 durchaus angemessen. 1923 war ein Jahr, das die staatliche Ordnung auf eine harte Probe stellte und an den Rand des Zerfalls brachte. Verantwortlich dafür war eine ganze Reihe politischer Spaltungen und gewaltsamer ­Konflikte. Zu denken ist an Arbeitskämpfe und Unruhen, aber auch an die Besetzung des Ruhrgebiets durch französische und belgische Soldaten sowie den organisierten Widerstand der deutschen Bevölkerung. Der deutschfranzösische Antagonismus spitzte sich durch die Ruhrkrise zu und vergiftete die außenpolitische Lage. Doch auch im Inneren rangen Republik und republikfeindliche Kräfte miteinander. Belastungsproben waren unter anderem der Hitler-Putsch, die Reichsexekution gegen die Linksregierungen in Sachsen und Thüringen am 29. Oktober bzw. am 6. November oder der Separatismus im Rheinland, wo am 21. Oktober militante Separatisten die Rheinische Republik ausriefen. Die Gewalt politischer Auseinandersetzungen erreichte 1923 einen Höhepunkt. Zugleich legte die in Deutschland wirtschaftlich und vor allem sozial einschneidende Hyperinflation den Grundstein dafür, dass sich große Teile des Mittelstands und des an sich staatstreuen Bürgertums innerlich von der

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8 Alles Krise? ­ epublik distanzierten. Folglich zeigten diese Schichten in der Staatskrise, die R Ende der 1920er-Jahre zusätzlich zur Weltwirtschaftskrise ausbrach, keine belastbare Verbundenheit mehr mit Demokratie und Republik. Auch beim Blick über Deutschland hinaus zeigen sich Konflikte, die auf den Ersten Weltkrieg zurückgingen und sich um 1923 zuspitzten. Nicht nur das Herrschaftsmodell der Bolschewiki stellte seit der Oktoberrevolution von 1917 eine ständige Herausforderung für andere Staaten dar. Der Sieg der Faschisten im Oktober 1922 in Italien bot ein Vorbild für die völkische und autoritäre Rechte und ermunterte sie, eigene Machtstrategien zu entwickeln, die den Geltungsanspruch der Demokratien infrage stellten. Der Konflikt zwischen autoritären Herrschaftsformen mit populistischen Führerfiguren auf der einen Seite und liberalen Demokratien auf der anderen Seite bildete fortan ein Grundmuster europäischer Politik der Zwischenkriegszeit. Im östlichen Mittelmeerraum war 1923 das folgenreiche Jahr nach der türkischen Revolution. Das kemalistische Modernisierungsregime beseitigte die Überbleibsel der osmanischen Kultur und vertrieb mit seiner nationalistischen Expansionspolitik gewaltsam die griechischstämmige Bevölkerung der kleinasiatischen Küste. Der Vertrag von Lausanne im Juli 1923 prägte die Region nachhaltig und steht bis heute für fortwährende Konflikte und Zwangsmigration, die zu Grundstrukturen der Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts geworden sind. In Japan führte derweil eine Naturkatastrophe, das verheerende Erdbeben von Kantō (Tokyo), die Zerbrechlichkeit urbaner Zivilisationen vor Augen. Nicht nur in Deutschland wirkte 1923 also als Krisenjahr. In mancher Hinsicht teilte die Weimarer Republik mit anderen Ländern die Ursachen der Krisen, die sich aus den Nachwirkungen des Weltkriegs ergaben. Teilweise waren es aber auch damit unverbundene Ereignisse, wie das Erdbeben in Japan, die den generellen Eindruck einer Krisenzeit unterstreichen konnten – schon zeitgenössischen Beobachtern war klar: Allerorten brannte es. Obwohl sich in dieser Hinsicht von einem Jahr sprechen lässt, das die Welt erschütterte, bedarf diese Aussage doch der Einordnung. Während in den Zwanzigerjahren des 21. Jahrhunderts Krisen in weiten Teilen der Welt durch ökonomische, aber auch mediale Rückkopplungseffekte unmittelbar miteinander verflochten erscheinen, galt dies ein Jahrhundert zuvor trotz aller Vernetzungen noch nicht im gleichen Ausmaß. Während sich viele Herausforderungen aus den Nachwirkungen des Weltkriegs ergaben, hatten andere Krisen

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Perspektiven auf das Jahr 1923

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auch lokale Ursachen und Konsequenzen. Gleichwohl tragen sie, wie das Erdbeben von Kantō, zum generell krisenhaften Eindruck des Jahres bei. Zudem ist die ausschließliche Konzentration auf die Krisenhaftigkeit des Jahres irreführend. Sie kann dazu verleiten, den historischen Blick zu verengen und Chancen, die sich aus den Ereignissen des Jahres ergaben, zu übersehen. So war die Weimarer Republik keinesfalls zum Scheitern verurteilt. Dies zeigte sich bereits in den Notlagen des Jahres 1923. Trotz der vielfältigen Einschränkungen von Grundrechten und der ausgiebigen Nutzung der ­Notstandsrechte durch den Reichspräsidenten und die Reichsregierung brachen Demokratie und Rechtsstaat vorerst nicht zusammen. Dazu kam es erst zu Beginn der 1930er-Jahre in Zeiten der Weltwirtschaftskrise und der aufeinanderfolgenden Präsidialregime. Nach dem Jahr 1923 kehrte die Republik zunächst zu Demokratie und verfassungsmäßiger Ordnung zurück – die Regierungsverantwortlichen hatten die Notstandsverordnungen letztlich wie vorgesehen zum Schutz der Republik eingesetzt, nicht zu deren Beseitigung, wie es ihre Nachfolger im Folgejahrzehnt taten. Wenige Jahre nach der Ruhrkrise zeichnete sich mit dem Vertrag von Locarno eine außenpolitische Annäherung zwischen den ehemaligen Kriegsgegnern ab. Diese wies bei aller Kurzlebigkeit auf die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg voraus, in der die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, dann die Europäische Gemeinschaft und schließlich die Europäische Union sich anschickten, die Konflikte über zentrale Ressourcen durch deren gemeinsame Nutzung zu überwinden. Es zeigt sich also, dass 1923 eben nicht nur ein krisenund konfliktreiches Jahr war, sondern auch für Resilienz, Erneuerungen und sogar kulturelle Blüte steht. So lässt sich ein gesellschaftlicher Wandel ausmachen, der medienhistorisch eng mit der Etablierung des Rundfunks, populären Magazinen und der Fotografie verknüpft war. Die kulturhistorische Imaginationskraft erhielt einen nachhaltigen Impuls durch die Öffnung des Grabs von Tutanchamun, die eine europaweite Ägyptomanie auslöste. In Weimar markierte die Bauhaus-Ausstellung im Sommer 1923 die Hinwendung des Designs zu Technik und Industrie als positiven Wertorientierungen. Und im Privatleben begannen sich vielerorts die Rollenbilder zu verschieben, während man Sexualität und Fragen der Geschlechterordnung zunehmend öffentlich diskutierte. Der vorliegende Band bietet daher auch Perspektiven, die über das Krisennarrativ hinausweisen, um deutlich zu machen, wie trotz aller Verwerfungen der Blick der Zeit immer auch nach vorn gerichtet war, statt lediglich im

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10 Alles Krise? »Krisenmodus« zu verharren. Die Geschichte eines Jahres ist immer mehrdeutig und von widersprüchlichen Entwicklungen durchzogen – damit regt eine verdichtete Krisenzeit wie die des Jahres 1923 auch zum differenzierenden Blick auf gegenwärtige Entwicklungen an. Wenn die hundertjährige Wiederkehr des Jahres 1923 wissenschaftlich und medial starke Aufmerksamkeit erfährt, handelt es sich also um mehr als bloße »Jubiläumitis« (Marco Demantowsky). Gerade das gegenwärtige Krisenempfinden durch Pandemie, Krieg in der Ukraine und eine Kettenreaktion ökonomischer und finanzieller Probleme dürfte auch ohne Jubiläumsbezug dazu anregen, sich mit einem tief im Bewusstsein verankerten Krisenjahr auseinanderzusetzen. Phänomene wie die Hyperinflation, die zwar im kollektiven, aber nicht mehr im persönlichen Gedächtnis sind, werden angesichts der aktuellen Inflation zum Spiegel eigener Erfahrungen. Das Ziel des vorliegenden Buchs besteht in dieser Situation darin, nicht etwa den Schauer über die Vergleichbarkeit historischer und gegenwärtiger Konstellationen zu zelebrieren, sondern die historische Erfahrung eines Krisenjahrs in ihren widersprüchlichen Wirkungen wieder ins Bewusstsein zu bringen. Wenn wir das Jahr als Vergleichsfolie heranziehen, regt es zu differenzierender Reflektion über die Gegenwart an. Zudem zielt das Buch darauf ab, die Perspektive zu erweitern, indem es der eingespielten Kriseninterpretation Deutungen des Aufbruchs, der Reform und der Entdeckung gegenüberstellt. In aktuellen Debatten und Büchern findet sich mitunter eine Tendenz, die eine Art Entlastungsversuch der deutschen historischen Erinnerung zu erkennen gibt. Ähnlich wie schon bei der Erinnerung an Kaiserreich und Ersten Weltkrieg lässt sich offenbar auch das Jahr 1923 dazu nutzen, Fragen nach schuldhaftem Verhalten aufzuwerfen. Dabei scheint es gelegentlich so, als wollten Historiker wie der in Dublin lehrende Mark ­Jones ihrem Lesepublikum vermitteln, dass sich die Deutschen historisch auch als Opfer widriger politischer Umstände verstehen dürfen, mit Bezug etwa auf die Ruhrbesatzung oder die Inflation. Im vorliegenden Buch geht es nicht um Täter-Opfer-Perspektiven. Vielmehr lässt sich aus ihm erfahren, dass das Jahr 1923 vielfältigere Perspektiven auf die Geschichte bereithält. Diesem Ziel dient auch die internationale Dimension. Sie überwindet die deutsche Nabelschau und lädt dazu ein, Probleme und Chancen von Krisenwahrnehmungen in einen breiteren Horizont zu setzen, als es der ausschließlich nationalgeschichtlichen Blickrichtung möglich ist.

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Zeitenwende 1923? Wurzeln und ­Wirkungen eines Krisenjahrs Eckart Conze »Wo keine eigene Idee ist, richtet es der Kalender.« Überaus kritisch blickte der Publizist Gustav Seibt im Mai 2022 auf das boomende Genre der Jahresbücher, die im historisch-politischen Programm der Sachbuchverlage mittlerweile einen wichtigen Platz einnehmen.1 Solche Bücher nehmen nicht den Jahrestag eines wichtigen Ereignisses zum Anlass, um auf dieses Ereignis zurückzublicken, es breiter zu kontextualisieren oder zum Ausgangspunkt einer umfassenderen Darstellung zu machen. Vielmehr widmen sie sich einem kalendarischen Jahr, das wie in einem Kaleidoskop präsentiert wird als ein Zeitraum, in dem ganz unterschiedliche Ereignisse stattfanden. Aus deren Summe soll dann gewissermaßen ein Bild des Jahres entstehen: eine Art Kollage, die das Neben­ einander und die Gleichzeitigkeit des Unterschiedlichen zum Ausdruck bringt, aber doch auch diesem einen Jahr Bedeutung, besondere Bedeutung zuweist. Dass nun das Jahr 1923 mit all seinen Ereignissen und all seiner Dramatik genau hundert Jahre zurückliegt, hat, zumal in Deutschland, den Trend – fast könnte man sagen: die Mode  – der Jahresbücher nochmals verstärkt. Lange schon vor dem Jahreswechsel 2022/23 sind die ersten Bücher erschienen, andere sind angekündigt und auch der vorliegende Band reiht sich in die Serie ein.2 Wo liegen die Gründe für den – allgemeinen – Trend? Und warum, so möchte man fragen, hat gerade das Jahr 1923 eine solche Attraktivität bei Autoren, Verlagen und, so wird man vermuten dürfen, beim Lesepublikum? Als Hans Ulrich Gumbrecht 2001 sein Buch über das Jahr 1926 – »Ein Jahr am Rand der Zeit« – auf Deutsch veröffentlichte (die englische Originalausgabe war bereits 1997 erschienen), war er kein Trendsetter. Dem Literaturwissenschaftler ging es nicht um Jahrestage, nicht um ein Geschichtsjubiläum, sondern in kulturhistorischer Perspektive darum, fremde, zeitlich entrückte Welten zu erkunden. Seine Konzentration auf ein kaum exponiertes Kalenderjahr, nicht auf ein »Schwellenjahr«, nicht auf ein damals bevorstehendes öffent-

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Zeitenwende 1923?

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liches Gedenkjahr und damit gerade auf kein besonders herausgehobenes Jahr wie im deutschen Kontext der Zwischenkriegszeit beispielsweise die Jahre 1919, 1923 oder 1933, verstand Gumbrecht als einen »Versuch über die historische Gleichzeitigkeit«. Dabei war für ihn diese Perspektive der Gleichzeitigkeit nicht an eine einjährige Zeitspanne, gar an ein Kalenderjahr, gebunden. Aber der Fokus auf einen kalendarischen Zeitabschnitt half. Es war Gumbrecht darum zu tun, »eine historische Umwelt präsent zu machen, von der wir wissen, dass es sie während des Jahres 1926 an dem einen oder anderen Ort gegeben hat«.3 Es ging ihm darum, »manche Welten von 1926 heraufzubeschwören, sie im Sinne einer neuerlichen Vergegenwärtigung zu re-präsentieren«. Damit wollte er zugleich in »postdidaktischer« Absicht, wie er es nannte, Abstand nehmen von »dem Wunsch, ›aus der Geschichte zu lernen‹ und die Vergangenheit zu verstehen«. Er wollte sich befreien »von der Pflicht, am Anfang eines historiografischen Texts die spezifische Relevanz der vergangenen Zeitpunkte zu rechtfertigen, über die wir zu schreiben beschlossen haben«.4 Von den bereits erschienenen und noch erscheinenden Büchern über das Jahr 1923 wird man genau das wohl nicht behaupten können. Sie sind das Gegenteil postdidaktischer Geschichtsschreibung. Ihre Perspektive ist grundsätzlich – und ganz im Gegensatz zu Gumbrecht – auf Kausalität und Sequenzialität,5 auf Ursache und Wirkung gerichtet, wenn sie wie die meisten von ihnen nach dem Ort des Jahres 1923 in der Geschichte der Weimarer Republik fragen, manche auch nach dem Ort von 1923 in einer nicht nur deutschen, sondern europäischen oder gar globalen Zwischenkriegszeit. Und auch wenn sie sich – insbesondere im Hinblick auf die Geschichte der Weimarer Republik und den Aufstieg des Nationalsozialismus – von teleologischen Geschichtsbetrachtungen lösen, wenn sie die Offenheit der historischen Entwicklung am Ende des Jahres 1923 betonen, bleiben sie der Perspektive einer Vorgeschichte von 1933 und damit der Frage nach Kausalität verbunden. Ihr ist gerade mit Blick auf 1933 nicht zu entkommen und das erst recht für eine – im besten Sinne – präsentistische Geschichtsschreibung, deren Interesse für die Geschichte der Weimarer Republik nicht zuletzt in demokratie­ geschichtlicher Perspektive sich auch aus gegenwärtigen Herausforderungen, ­Bedrohungen oder Gefährdungen der Demokratie speist.6 Was Jahresbüchern in vielen Fällen besser als anderen Geschichtsdarstel­ lungen gelingt, ist nicht nur die Veranschaulichung der Gleichzeitigkeit vie­ler unterschiedlicher Ereignisse und Entwicklungen, sondern auch die Zusam­ menschau verschiedener Handlungs- und Entwicklungsebenen: von der politi-

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14 Eckart Conze schen G ­ eschichte auf nationaler Ebene zur Alltagsgeschichte einer Arbeiterfamilie, von den Entwicklungen der internationalen Wirtschafts- und Finanzpolitik zur Geschichte ländlicher Lebenswelten, von kulturellen Strömungen zu Erfindungen und Entdeckungen. Natürlich gibt es – auch bei den Publikationen zu 1923 – Unterschiede. Während manche bestimmte Akzente setzen oder problemorientiert vorgehen, beispielsweise im Hinblick auf die Demokratie in der Krise, entwerfen viele andere ein breiteres, bunteres Panorama. Nicht selten entsteht so der Eindruck einer Histoire totale in all ihren Facetten, Ausformungen und Dimensionen, das komplexe, vielschichtige Bild einer Zeit, und bereits die Gleichzeitigkeit des Geschehens, die sich in der additiven Darstellung ausdrückt, postuliert eine Verbindung. Aus dem Nebeneinander wird ein Wirkungszusammenhang, etabliert allein durch die Simultanität. Das kann zu neuen, teils überraschenden Einsichten oder Wahrnehmungen führen, es kann die nach Ernst Bloch für die Moderne charakteristische Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen zutage treten lassen. Es kann aber auch den Eindruck von Verbindungen und Zusammenhängen erwecken, die erst noch zu erklären und zu begründen wären. Bei Lichte betrachtet – und das gilt auch für die Neuerscheinungen zu 1923 – bieten Jahresbücher aber in der Regel gerade keine Histoire totale und das nicht nur, weil sie doch oftmals thematisch ausgerichtet sind und klare Akzente setzen, sondern auch, weil eine Histoire totale letztlich unmöglich ist. Jede additive – oder kalendarisch-annalistische – Geschichtsdarstellung wählt aus, auch wenn die Kriterien der Selektion nicht immer offengelegt oder reflektiert werden. Gibt es tatsächlich einen Zusammenhang zwischen dem Hitler-Putsch, dem Vertrag von Lausanne und dem Erdbeben in der japanischen Kantō-Ebene 1923, zwischen politischen Ereignissen und Naturkatastrophen? Wenn ja, wo läge er? Wie lässt er sich herstellen? Wie in seiner Wirksamkeit begründen? Ein analytischer und interpretatorischer Mehrwert des Jahreszugriffs ist also nicht selbstverständlich und deshalb stehen ein solcher Zugriff und eine Geschichtsschreibung, die auf einem solchen Zugriff beruht, unter besonderem Rechtfertigungsdruck.

Jahr der Deutschen? Der irische Historiker Mark Jones, dem wir eines der gerade erschienenen Bücher über das Jahr 1923 verdanken, hatte ursprünglich die Absicht, sein Buch »1923. Das Jahr der Deutschen« zu nennen.7 Dahinter steht zum einen seine

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These, 1923 seien Deutschland und die Deutschen zum Opfer antideutscher Großmachtpolitik geworden; Opfer der französischen Politik allen voran, aber durchaus auch der britischen und amerikanischen Politik. Über den analytischen Nutzen des Opferbegriffs lässt sich diskutieren. Zwar nimmt er eine zeitgenössische Selbstwahrnehmung vieler Deutscher auf, aber es bleibt fraglich, ob Kategorien wie »Opfer« – und damit zwangsläufig auch »Täter« – der Komplexität der politischen Entwicklung der 1920er-Jahre gerecht werden, ob nicht die Moralisierung, die sich mit diesen Begriffen verbindet, eine differenzierte historische Urteilsbildung erschwert, wenn nicht verhindert. Auch die Frage, ob nicht die Deutschen erst Opfer waren, bevor sie – nach 1933 – zu Tätern wurden, schwingt hier mit. Zum anderen, so Jones, sei 1923 zum »Jahr der Deutschen« geworden, weil es auch das Jahr des Sieges der deutschen Demokraten über ihre Widersacher – im Inland wie im Ausland, muss man wohl ergänzen – geworden sei: ein Erfolgsjahr der deutschen Demokratie, der größte Erfolg deutscher Demokraten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.8 Es ist ein Problem jüngerer demokratiegeschichtlicher Narrative, dass sie oftmals der Versuchung erliegen, Demokratiegeschichte als Erfolgsgeschichte zu erzählen. So wichtig es ist, die Geschichte der Weimarer Republik nicht von Anbeginn an als Geschichte von Niedergang und Scheitern zu betrachten, sondern gerade die Frühphase der Republik 1918/19 als demokratischen Aufbruch mit Hoffnungen, Erwartungen und Möglichkeiten,9 so wenig kann man ignorieren, wie gefährdet, wie bedroht, wie prekär und wie fragil diese Demokratie in den 14 Jahren ihrer Existenz stets war. Das wurde 1923 in besonderer Weise deutlich. Die Republik überlebte das Krisenjahr. Doch war das wirklich ein Sieg der Demokratie? Gibt man der in letzter Zeit nicht nur mit Blick auf Deutschland viel diskutierten Frage »Wie Demokratien sterben« eine historische Dimen­sion,10 dann lässt sich auch in dieser Perspektive auf das Jahr 1923 schauen: auf den Überlebenskampf der deutschen Demokratie, der damals gerade nicht endete. Die Republik war davongekommen, gerade noch. Das Jahrfünft, das folgte, war eine Atempause sowohl für die Demokraten als auch für die Feinde der Demokratie. Deren Sieg, die Zerstörung der Demokratie, war zwar nicht unausweichlich, der »Fortschritt zur Katastrophe« (Walter Benjamin) blieb aber weiterhin möglich. Nicht das zwangsläufige, das gleichsam von Anfang an vorherbestimmte Scheitern, sondern die Möglichkeit des Scheiterns einer Demokratie, die Möglichkeit ihrer Zerstörung prägt gegenwärtig den Blick auf Weimar in Geschichtswissenschaft und Öffentlichkeit. Nicht mehr

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16 Eckart Conze das selbstgewisse »Bonn ist nicht Weimar« der alten Bundesrepublik beherrscht die Erinnerung,11 sondern die Möglichkeit der »Weimarer Verhältnisse«.12 So spiegelt sich in der Erinnerung an Weimar die Erfahrung der Gegenwart. Aber auch umgekehrt spiegelt sich in der Wahrnehmung und Deutung der Gegenwart die Weimarer Erfahrung.

Vorwärts Almanach 1923. Titelblatt des Kalenders für das arbeitende Volk. Die demokratiegeschichtliche Perspektive rechtfertigt fraglos einen auf Deutschland konzentrierten Blick auf das Jahr 1923. Überdies lassen die deutschen Entwicklungen Grundfragen und Grundprobleme moderner Demokratien in besonderer Schärfe sichtbar werden. Ein Fokus auf Deutschland im Jahr 1923 lässt sich aber auch aus einer Perspektive der internationalen Politik begründen. Der Erste Weltkrieg war ein globaler Krieg, der Friedensschluss, der ihm folgte, zielte auf eine globale Ordnung. Gleichwohl stand der Frieden mit Deutschland im Zentrum der internationalen Ordnungsbemühungen.13 Die

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Pariser Friedenskonferenz verständigte sich 1919 zunächst auf den Völkerbund als globale friedenssichernde Institution. Zugleich jedoch verhandelte sie über den Frieden mit Deutschland. Die Völkerbundsatzung wurde in den Versailler Vertrag und alle weiteren Friedensverträge inkorporiert. Der Frieden mit Deutschland und eine neue, eine friedliche globale Ordnung bildeten zwei Seiten derselben Medaille. Der Frieden mit Deutschland – und damit in Europa – war nicht die einzige, aber doch eine entscheidende Voraussetzung für eine stabile internationale Ordnung. In Europa herrschte jedoch nach 1918 kein Frieden. Insbesondere im östlichen Europa, aber auch im östlichen Mittelmeerraum setzten sich kriegerische Auseinandersetzungen fort.14 Die Auflösung der multiethnischen Großreiche – des Habsburgerreiches, des Osmanischen Reiches, des russischen Zarenreiches und bis zu einem gewissen Grade, gerade im Hinblick auf Polen, auch des Deutschen Reiches – setzte enorme Gewaltpotenziale frei. Diese entluden sich in einer Reihe von Kriegen, in denen neu oder wieder entstandene Nationalstaaten um ihre territoriale Gestalt kämpften. Hinzu traten Bürgerkriege, die ihre Ursache auch in dem Bestreben fanden, anstelle multiethnischer Imperien möglichst homogene Nationalstaaten zu schaffen. Zum Teil waren gewaltige Bevölkerungstransfers die Folge, auch diese geleitet von der Idee des homogenen Nationalstaats. Hunderttausende verloren durch diesen Bevölkerungsaustausch, durch internationale Konventionen normiert, ihre Heimat. Saloniki, über Jahrhunderte ein Ort vieler Kulturen, Sprachen und ­Religionen, wurde als Thessaloniki eine griechische Großstadt. Das christlich geprägte Smyrna gab es nicht mehr; die Hafenstadt in Kleinasien hieß jetzt Izmir und hatte schon bald einen dominant türkisch-muslimischen Charakter.

Krisen und Katastrophen Der letzte Friedensschluss in der Folge des Ersten Weltkriegs war der Vertrag von Lausanne mit der Türkei vom Juli 1923, der den 1920 mit dem Osmanischen Reich abgeschlossenen Vertrag von Sèvres ersetzte. Die türkischen Nationalisten unter ihrem Führer Mustafa Kemal (Atatürk) hatten diesen Vertrag nie anerkannt. Aber auch im Zentrum und im Westen Europas stieß die in ­Paris geschaffene und in den Friedensverträgen 1919/20 fixierte Ordnung keineswegs auf Zustimmung. Nicht nur Deutschland und nicht nur die a­ nderen Verlierer­

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18 Eckart Conze staaten des Ersten Weltkriegs waren nach 1919 revisionistische Mächte. Italien fühlte sich um seinen Sieg betrogen, vom »verstümmelten Sieg« – »­vittoria ­mutilata« – war die Rede. Aber auch in Frankreich stießen der Versailler Vertrag und die auf ihm beruhende Ordnung keineswegs auf breite Zustimmung. Weit über das nationalistische Lager hinaus hielten viele den Frieden mit Deutschland für zu mild. Man glaubte die deutsche Gefahr nicht gebannt, sah französische Sicherheitsinteressen nach wie vor bedroht, sprach vom Versailler Vertrag als einem »Waffenstillstand für 20 Jahre«. Daraus erwuchs ein Revisionismus, der ähnlich wie in Deutschland nahezu die gesamte französische Gesellschaft einte. Sowohl der deutsche als auch der französische Revisionismus der unmittelbaren Nachkriegsjahre waren extrem konfrontativ, in Frankreich antideutsch, in Deutschland antifranzösisch. Für eine kooperativ-konstruk­tive Entwicklung der Friedensbedingungen, insbesondere der Reparationsfrage, war das keine gute Grundlage. Es war dieser doppelte konfrontative Revisionismus, der sich nach 1919 immer schärfer ausformte und schließlich 1923 mit Ruhrbesetzung und dem Widerstand der Deutschen in die Katastrophe führte. Der »Krieg in den Köpfen« (Gerd Krumeich), der nationalisierte Hass gerade zwischen Deutschen und Franzosen, gebar neue Gewalt. Aus dem »katastrophischen Nationalismus«, wie es der Historiker Michael G ­ eyer genannt hat,15 erwuchs ein katastrophischer Revisionismus. Revisionspolitik war bis 1923 ­Gewaltpolitik, und auf beiden Seiten stützten sich die extremen Nationalisten auf den breiten revisionistischen Konsens in den Gesellschaften, den sie für ihre Zwecke instrumentalisierten. Die Ambivalenz dieses Befundes liegt darin, dass erst die Katastrophe des Jahres 1923 – in Deutschland wie in Frankreich – eine Überwindung der Konfrontation ermöglichte. Das heißt nicht, dass die katastrophale Entwicklung mit all ihren Dimensionen notwendig war. Aber erst die beiderseitige Einsicht in die katastrophalen Folgen einer – fortgesetzten – Konfrontation bildete die Voraussetzung für den langsamen, tastenden und gerade zu Beginn noch von wechselseitigem Misstrauen geprägten Übergang zu einer Politik der Kooperation, die ihren Ausdruck insbesondere in den Verträgen von Locarno von 1925 fand. Hinzu trat der Druck, den Großbritannien, mehr noch aber die USA angesichts der Katastrophe von 1923 auf Frankreich und Deutschland ausübten und der eine entscheidende Bedingung war sowohl für die deutsche Währungsstabilisierung wie für den Weg nach Locarno. Den Revisionismus, nicht nur in Deutschland, beendeten die Locarno-Verträge und auch die Aufnahme

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Deutschlands in den Völkerbund im Jahr darauf nicht. Aber aus dem konfrontativen Revisionismus wurde – unter dem Dach des Versailler Vertrags, der ja weiterhin galt – ein kooperativer Revisionismus, der insbesondere in der Reparationsfrage durchaus Ergebnisse zeitigte, auch wenn dies die rechten Gegner der Weimarer Republik niemals zugeben konnten. Denn ihr Kampf gegen die »Ketten von Versailles« war zentrales Element einer Politik, die gar nicht primär auf den Versailler Vertrag und dessen Revision zielte, sondern danach trachtete, die Demokratie zu zerstören und die Republik zu überwinden.

Anti-Versailles-Demonstration, 1919. Nicht nur für Deutschland, sondern für ganz Europa hatte mit dem Ende des Ersten Weltkriegs eine »Epoche der großen Krisen« begonnen, wie der Historiker Christoph Cornelißen die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen überschreibt.16 Die Folgen des Großen Krieges wirkten tief in alle europäischen Gesellschaften hinein, in die der Verliererstaaten genauso wie in die der Siegermächte.17 Politische Instabilität und gesellschaftliche Verwerfungen kennzeichneten nicht nur Deutschland und die anderen Verliererstaaten, sondern auch die jungen, am Ende des Krieges entstandenen Nationalstaaten, ­insbesondere

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20 Eckart Conze im östlichen und südöstlichen Europa. Aber auch die Siegerstaaten im westlichen Europa, Großbritannien und Frankreich allen voran, hatten mit den direkten und indirekten Folgen des Krieges zu kämpfen, die ihre politischen Systeme vor bis dahin ungekannte, nicht zuletzt sozialpolitische Herausforderungen stellten. Eine starke Politisierung erfasste die meisten Länder, gesellschaftliche Spannungen und Konflikte nahmen zu, aus denen sich wiederum Vorstellungen nationaler Gemeinschaft und autoritärer Herrschaft speisten. In Italien resultierte aus diesen Dynamiken schon in den frühen 1920erJahren der Aufstieg des Faschismus. Mussolinis Marsch auf Rom im Oktober 1922 bildete seinerseits ein Vorbild für den 1923 gescheiterten Versuch der ­Nationalsozialisten, durch einen von Bayern ausgehenden Marsch auf Berlin die Macht auf nationaler Ebene zu übernehmen. In Spanien errichtete im September 1923 der General Miguel Primo di Rivera eine Diktatur. Aber auch in den großen Nationalstaaten Westeuropas wuchsen politische Spannungen. S­ oziale Unruhen und Streiks führten zusammen mit dem irischen Unabhängigkeitskrieg zu politischer Instabilität und mehrfachen Regierungswechseln in Großbritannien, wo 1924 erstmals die Labour Party eine Regierung bildete. In Frankreich war der deutschland- und reparationspolitische Konfrontationskurs der nationalistischen Regierung von Ministerpräsident Poincaré auch ein Versuch, nationale Geschlossenheit zu erzeugen. Nicht überall kulminierten diese Spannungen und Krisen im Jahr 1923 und in jedem Land formten sie sich unterschiedlich aus. Aber sie waren verbunden durch die Grundgemeinsamkeit des Krieges und seiner Folgen – selbst für Staaten, die am Krieg nicht teilgenommen hatten – und durch den beschleunigten sozialen Wandel, der die europäischen Gesellschaften seit dem späten 19. Jahrhundert erfasst und sie in die Moderne katapultiert hatte. Für die durch den Ersten Weltkrieg noch verstärkte Krisenhaftigkeit dieser Prozesse kann die Jahreszahl 1923 gleichsam als Chiffre stehen. Ohne Frage war das Jahr 1923 in Deutschland von ganz besonderer Dramatik. In der Geschichte der Weimarer Republik gilt es als Zäsur. In seinen Krisen und Katastrophen verdichteten und verbanden sich die Probleme und Belastungen der jungen Demokratie, die ihre Entwicklung schon seit 1918/19 bestimmt hatten, auf dramatische Art und Weise. Noch stärker als in den Jahren zuvor schien alles mit allem zusammenzuhängen: Außenpolitik, Innenpolitik, Wirtschafts- und Finanzpolitik. Zugleich unterlagen die Entwicklungen, so sahen es bereits die Zeitgenossen, einer unglaublichen Beschleunigung. Die Ereignisse überstürzten sich. Die Politik stand unter einem gewaltigen

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Handlungsdruck. Nicht nur waren schnelles Agieren und Reagieren erforderlich, sondern Handeln und Entscheiden unter präzedenzlosen Bedingungen höchster Komplexität und mit offenem Ausgang. Doch auch die alltäglichen Lebenswelten waren betroffen. Zwischen Gewalteruptionen und galoppierender Hyperinflation verloren Menschen ihre Orientierung, die Kontrolle über ihr tägliches Leben. Es schien keine Zukunft mehr zu geben. Die Bewältigung der Gegenwart war alles, das Überleben von Tag zu Tag. Tiefe Erschütterungen und Traumatisierungen waren die Folge, die nicht überwunden waren, als sich ab Ende 1923 der Silberstreif politischer Beruhigung und wirtschaftlicher Stabilisierung am Horizont abzeichnete. Es blieben die Angst, die Verunsicherung, der Vertrauensverlust. Leben blieb Leben in der Gegenwart, im Moment, im Hier und Jetzt, weil man der Zukunft nicht zu trauen wagte. Das Lebensgefühl der »Goldenen Zwanziger«, jenes Jahrfünfts zwischen 1924 und 1929, speiste sich auch daraus. Ohne die Erfahrungen des Jahres 1923 ist es nicht zu verstehen. Und den Aufstieg Hitlers und die Wahlerfolge der NSDAP seit Ende der Zwanzigerjahre können wir nicht erklären ohne das Zukunftsangebot, ja das Zukunftsversprechen des Nationalsozialismus, das darauf zielte, jene Verunsicherung und Orientierungslosigkeit zu überwinden, die auch eine Folge von 1923 war. Zur Bedeutung des Jahres 1923 gehört gerade in deutscher Perspektive ­seine Ambivalenz. Zur Überwindung der Katastrophe gehören ihre bleibenden Wirkungen. Die Demokratie wurde gerettet, aber sie blieb fragil. Sicher ist es zu einfach, aus dem Krisenjahr 1923, aus der Schwäche der Demokratie, der Stärke ihrer Gegner und den Folgen der Inflation direkt den Aufstieg des Nationalsozialismus zu erklären. Und dennoch waren all die Faktoren, die ab 1930 den Untergang der Republik bestimmten, 1923 bereits angelegt und erkennbar. Deutungen, welche die politische und ökonomische Stabilisierung seit Ende 1923 als Erfolg der Demokratie preisen, als Sieg der Demokraten über ihre Widersacher, die 1923 nicht als Vorgeschichte von 1933 betrachten und die Offenheit der Entwicklung betonen, müssen gleichwohl erklären, warum die Ende 1923 erfolgreiche Demokratie schon wenige Jahre später systematisch zerstört werden konnte. Und dann fällt der Blick wieder zurück auf 1923. Je stärker man den Erfolg der Demokratie Ende 1923 betont, desto beunruhigender ist dieser Befund, weil er dazu zwingt, anzuerkennen, dass auch eine scheinbar stabilisierte Demokratie in zumindest oberflächlich ruhigen wirtschaftlichen Fahrwassern über keine Überlebensgarantie verfügt.

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Das Erbe von Krieg und Vorkrieg In Deutschland verbanden und verstärkten sich 1923 nicht nur Entwicklungen der Nachkriegszeit seit der Novemberrevolution 1918. Vielmehr reichten nicht wenige Entwicklungslinien, die zur Katastrophe von 1923 führten, in die Kriegsjahre seit 1914 zurück, zum Teil sogar noch weiter in die Zeit des Kaiserreichs. Exemplarisch steht dafür die Inflation, die die Nachkriegsjahre bestimmte und sich 1922/23 zur Hyperinflation steigerte. Sie nahm ihren Ausgang bereits in den Kriegsjahren. Die Entwertung der Währung begann schon in der Zeit des Weltkriegs, die Mark war 1918 nur noch halb so viel wert wie vor Kriegsbeginn. Das lag in erster Linie an der deutschen Kriegsfinanzierung durch Anleihen und die Erhöhung der Geldmenge, gestützt auf die Erwartung, ein deutscher Sieg und entsprechende Reparationsleistungen der Kriegsgegner würden den Schuldenabbau ermöglichen und rasch zu einer wirtschaftlichen und finanziellen Konsolidierung führen. Nach der Niederlage von 1918 setzte sich die Inflation fort, ja sie verstärkte sich, weil die Demobilmachung und die Bewältigung der Kriegsfolgen die Staatsausgaben wachsen ließen und öffentliche Verschuldung und Geldentwertung weiter steigerten. Die junge Republik vermied so eine Nachkriegsrezession, wie sie andere europäische Nachkriegsgesellschaften erfasste, ja es herrschte sogar Vollbeschäftigung. Politisch speiste sich dieser wirtschafts-, finanz- und sozialpolitische Kurs aus dem Bestreben der frühen Weimarer Regierungen, eine Wirtschaftskrise und insbesondere Massenarbeitslosigkeit, nicht zuletzt der zurückkehrenden Soldaten, zu verhindern, um dadurch die Gesellschaft zu pazifizieren, die junge Demokratie zu stabilisieren. Doch der Preis dafür war hoch. Die Geldentwertung wurde nicht eingedämmt. Im Gegenteil, sie setzte sich fort, wuchs bereits 1922 enorm und geriet 1923 vollkommen außer Kontrolle. Nicht nur wurden Staatsausgaben weiter und zu einem immer größeren Teil mit der Notenpresse finan­ ziert, sondern hinzu kam noch die Finanzierung des passiven Widerstands im Ruhrkampf, insbesondere die Fortzahlung von Löhnen und Gehältern. Die Inflationsrate erreichte astronomische Höhen, die Geldentwertung war nicht mehr zu bremsen, die Papiermark verlor ihre Funktion als Zahlungsmittel und schließlich brach die Währung vollkommen zusammen. Die Inflation und die Währungskatastrophe von 1923 sind schon früh der Republik und ihren Regierungen angelastet worden, dienten den Gegnern der Demokratie als Argument, ja als Waffe in ihrem Kampf gegen den Weimarer

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Staat. Auch in der kollektiven Erinnerung der Deutschen blieb die Inflation lange – und ausschließlich – mit der Weimarer Republik verbunden. Dass die Wurzeln der Geldentwertung in einer verantwortungslosen Finanzpolitik seit 1914 lagen und damit zur Erblast des Kaiserreichs gehörten, fand lange keinen Eingang ins öffentliche Bewusstsein. Das Kaiserreich und seine politische Elite blieben gleichsam exkulpiert, die Verantwortung für den Währungsfall wurde den Weimarer Regierungen zugeschoben. Zur Diskreditierung der Republik trug das – weit über 1923 hinaus – entscheidend bei. Finanz- und Währungspolitik waren freilich nicht der einzige Bereich, in dem sich auch die demokratischen Kräfte der Weimarer Republik nicht entschieden vom Kaiserreich und seiner Führung distanzierten und auf deren Verantwortung für zentrale Probleme der Nachkriegszeit hinwiesen. Ganz allgemein scheuten sich die ­demokratischen Kräfte und ganz besonders die SPD und ihre Führung, auf die Politik des Kaiserreichs und ihre weit über 1918 hinauswirkenden Folgen hinzuweisen. Dahinter standen der Wille und das Bekenntnis zur eigenen poli­ tischen und demokratischen Verantwortung, dahinter stand aber auch die Furcht, durch eine Verurteilung des Kaiserreichs die Ablehnung von Republik und Demokratie noch zu verstärken. Aus dem gleichen Grund taten sich die demokratischen Parteien und insbesondere die Sozialdemokratie so schwer, der politischen und militärischen Führung des Kaiserreichs und nicht zuletzt dem Kaiser selbst eine zumindest partielle Verantwortung für den Kriegsbeginn 1914 zuzuweisen. In ihrer Abwehr des Kriegsschuldvorwurfs, wie er sich im Artikel 231 des Versailler Vertrags manifestierte, wollten sich gerade die Sozialdemokraten von niemandem überbieten lassen. Keineswegs wollten sie sich erneut dem Vorwurf nationaler Unzuverlässigkeit aussetzen, mit dem die nationalistische Rechte sie vor 1914 bekämpft hatte und wie sie es nun wieder tat. Für genau diese nationalistischen Kräfte war die Ablehnung des Kriegsschuldvorwurfs von Anfang an ein Mittel, die politische und militärische Führung des Kaiserreichs zu entlasten und zu rehabilitieren. Und dabei ging es nicht nur um den Sommer 1914, sondern ganz allgemein darum, die autoritäre Ordnung des Kaiserreichs gegen die Republik in Stellung zu bringen, die autoritäre Option als politische Möglichkeit zu legi­ timieren. Nur wenige demokratische Politiker erkannten das so klar wie der Sozialdemokrat Eduard Bernstein, der 1924, wenige Monate nach Überwindung der Krisen von 1923, feststellte: »Von der These aus, dass das kaiserliche System nicht allein schuld am Kriege sei, […] ist es leicht, den Massen ­plausibel

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24 Eckart Conze zu ­machen, dass das Kaisertum zu Unrecht gestürzt worden und die ›Judenrepublik‹ und ihre Erfüllungspolitik an allem Übel schuld seien, unter dem Deutschland leide.«18 Das änderte sich auch nach 1923 nicht. Der antisemitisch aufgeladene Hass auf die Republik und die sie tragenden Kräfte, in dem auch weiterhin die Dolchstoßlegende eine zentrale Rolle spielte, blieb stark und war weiter ein zentrales und verbindendes Element rechter Republikfeindschaft. Ein 1924 in der völkisch-nationalistischen Zeitschrift »Deutschlands Erneuerung« veröffentlichtes Gedicht setzt auch in dieser Perspektive ein Fragezeichen hinter die These vom »Sieg der Demokratie« am Ende des Jahres 1923: »Herr, mach‹ uns frei von dem Gesindel, / Das unsres Volkes Seele fälscht; / Von all dem schwarzrotgoldnen Schwindel, / Der uns verjudet und verwelscht. // Herr, mach‹ uns wieder unverdrossen! / Von Neid und Zwiespalt mach‹ uns frei! / Die Ketten, die der Feind gegossen, / Die brechen wir dann selbst entzwei!«19 Politik und Gesellschaft in Deutschland waren nach wie vor extrem fragmentiert. Tiefe Risse und starke Spannungen durchzogen die deutsche Gesellschaft. Die rasante Modernisierung, die Deutschland seit 1890 durchlief, erhöhte diese Spannungen: zwischen Stadt und Land, zwischen den Konfessionen, zwischen Kapital und Arbeit und zwischen den politischen Lagern. Der Erste Weltkrieg beendete diese Konflikte nicht, sondern verschärfte sie. Der Burgfrieden von 1914 war nur oberflächlich und von kurzer Dauer. Schon bald traten die Gegensätze der Vorkriegszeit wieder hervor. Mit der Diskussion über die Kriegsziele – Siegfrieden oder Verständigungsfrieden –, die sich seit 1916 angesichts der militärischen Entwicklung und der Abnutzungsschlachten mit ihren immensen Opferzahlen intensivierte, verband sich immer stärker die Frage nach der innenpolitischen Entwicklung des Kaiserreichs und einer Verfassungsreform. Die Oberste Heeresleitung unter den Generälen Hindenburg und Ludendorff und mit ihr das gesamte nationalistische Lager traten seit 1916 noch kompromissloser als vorher für einen Siegfrieden ein, der zugleich die Voraussetzung bilden sollte für ein Zurückdrängen der demokratischen ­Kräfte und eine Rekonsolidierung des politischen Autoritarismus, möglicherweise sogar in Gestalt einer Militärmonarchie. Die Demokraten demgegenüber setzten sich für einen Verständigungsfrieden ein und zugleich für innenpolitische Reformen von der Parlamentarisierung der Reichsverfassung bis hin zur Abschaffung des preußischen Dreiklassenwahlrechts. In der Friedensresolution des Reichstags vom 17. Juli 1917

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demonstrierten Sozialdemokraten, Zentrum und Linksliberale, die spätere Weimarer Koalition, dass sie über eine handlungsfähige Mehrheit im Parlament verfügten. Friedensfrage und Demokratiefrage beziehungsweise die ­Frage einer Verfassungsreform waren spätestens seit 1917 untrennbar miteinander verkoppelt. Und die Gegensätze in diesen Fragen wirkten weit über das Ende des Kaiserreichs hinaus. Selbst der Versailler Vertrag machte den Gegensatz nicht obsolet oder politisch unwirksam. In der Außenpolitik der Weimarer Republik, die über weite Strecken, wenn nicht ausschließlich, eine Politik des Umgangs mit dem Versailler Vertrag war, setzten sich die Gegensätze fort. Die Konstellation des Krieges und das Denken des Krieges verlängerten sich in den Frieden hinein. Und auch die unversöhnlichen politischen Ordnungsvorstellungen – Autoritarismus versus liberale, parlamentarische Demokratie – fanden mit dem Ende des Krieges und des Kaiserreichs kein Ende. Der Kampf ging weiter, er erreichte im Jahr 1923 einen neuen Höhepunkt, aber er endete danach nicht.

Trügerische Hoffnung Keines der grundlegenden Probleme der Weimarer Republik war am Ende des Jahres 1923 gelöst. Die Republik überlebte, weil ihre Gegner, rechts wie links, noch schwächer waren als die Demokraten, weil sie zum damaligen Zeitpunkt keine überzeugende und breit akzeptierte Systemalternative boten und weil sie noch viel weniger als die demokratischen Kräfte über die Fähigkeit und die Mittel verfügten, Staat und Gesellschaft aus der Krise zu führen.20 In den Jahren der relativen Stabilisierung, die auf 1923 folgten, schöpfte die Republik Atem, sie erholte sich von den Krisen ihrer Frühzeit und von den Dauerangriffen ihrer Gegner. Aber auch für die Feinde der Demokratie waren die Jahre zwischen 1924 und 1930 eine Phase der Konsolidierung, eine Phase der strategischen Neuorientierung. Wie der sogenannte Legalitätskurs der NSDAP zeigt, zielten die Gegner der Republik nun nicht mehr auf Putsch und Umsturz, sondern auf Systemüberwindung mit den Mitteln des Systems. Diese Mittel, nicht zuletzt die Entparlamentarisierung und der Ausnahmezustand des Notverordnungsrechts, waren 1923 erprobt und angewandt worden, um die Republik zu schützen. Aber sie ließen sich auch gegen die Republik richten.21 Die Chancen dafür verbesserten sich schon seit 1925 mit der Wahl Hindenburgs

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26 Eckart Conze zum ­Reichspräsidenten. Dass die Republik trotz ihres Überlebens 1923 in weiten Teilen der Bevölkerung an Akzeptanz und Legitimität verloren hatte, bot für diesen Kurs eine gute Voraussetzung. Die Republikfeinde brauchten Geduld, doch in der Rückschau wird klar, dass es lediglich einer weiteren Krise bedurfte, um sich als Systemalternative für Deutschland zu präsentieren, um die demokratische Ordnung erneut anzugreifen und zu diskreditieren und sie am Ende zu überwinden. Man wird fraglos Ereignisse und sicher auch gute Argumente finden, um an das Jahr 1923 in globaler Perspektive zu erinnern. Dafür finden sich auf den folgenden Seiten verschiedene Beispiele. Aber das Buch unterstreicht doch auch die herausragende Bedeutung dieses Jahres in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Diese war freilich nicht nur deutsche Geschichte in einem engen, nationalstaatshistorischen Sinne. Sie war zugleich europäische, internationale und globale Geschichte. Doch auch in einer solchermaßen geweiteten Perspektive gilt, dass sich zentrale Entwicklungsstränge der Weimarer Republik im Jahr 1923 wie in einem Brennglas bündelten. Genauso wenig wie 1918/19 war die junge Demokratie 1923 zum Scheitern verurteilt. Sie hatte überlebt, war noch einmal davongekommen. Am Ende eines Jahres am Rande des Abgrunds standen, gepaart mit Skepsis und noch immer voller Sorge, Hoffnungen und eine verhaltene Zuversicht. Im Berliner Tageblatt vom 1.  Januar 1924 schrieb Hugo Preuß, der liberale Staatsrechtslehrer und einer der Väter der Weimarer Verfassung, von »schwachen Symptomen, die der Hoffnung Nahrung geben können«, von »beginnenden Voraussetzungen für die Möglichkeit einer Änderung der bisher trostlosen Lage«. Von Euphorie war das weit entfernt. Eher atmen diese Zeilen eine erschöpfte Erleichterung, dass es die Republik überhaupt noch gab, dass ihre Gegner nicht obsiegt hatten und dass »am Wolkenhimmel der internationalen Politik […] einige Fleckchen […] von schwarz in dunkelgrau übergehen zu wollen scheinen«.22 Am Tag zuvor, in der Silvesterausgabe des Blattes, hatte der Journalist und spätere Gründungsherausgeber der FAZ, Erich Dombrowski, von einer »Zeitenwende« gesprochen, doch zugleich an die biblische Geschichte von Hiob erinnert.23 In der Londoner »Times« war am Neujahrstag 1924 von einem »nüchternen Gefühl der Hoffnung« – »sober hopefulness« – die Rede, mit dem das Jahr beginne.24 Das bezog sich nicht nur auf Deutschland, unterstreicht aber, dass die Entwicklungen in Deutschland und der deutschen Demokratie auch die internationale Wahrnehmung des Jahres 1923 und seiner Folgen prägten.

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Die »blockierte Transnationalität« (Michael Geyer), die die ersten Jahre der Nachkriegszeit bestimmte, verlor, auch das gehört zu den Folgen von 1923, an Wirksamkeit.25 Und auch wenn man die globale Einbettung und die transnationalen Beziehungen Deutschlands in der Zeit der Weimarer Republik sicher nicht überschätzen sollte,26 wird man der Bedeutung des Jahres 1923 auch für die Weimarer Republik ohne seine internationalen und transnationalen Dimen­sionen nicht gerecht. Das wurde spätestens mit der Weltwirtschaftskrise seit 1929 erneut sichtbar und – nicht nur in Deutschland – spürbar. Die Entwicklungen seit 1929, die den Hintergrund bildeten für die Agonie der Republik und schließlich den Triumph ihrer Gegner, lassen freilich auch erkennen, wie begrenzt, wie relativ, ja wie prekär der Stabilisierungserfolg von Ende 1923, Anfang 1924 war. Keines der Grundprobleme der Republik war überwunden. Die Katastrophe, der­ ­totale Zusammenbruch, sei es in Gestalt eines Umsturzes, sei es in Gestalt der Auflösung der staatlichen Einheit, war zwar verhindert. Die Krise, ein fundamentales und vieldimensionales Krisenbewusstsein, das sich verband mit fehlender Akzeptanz der Demokratie und einem auch nach 1923 nicht überwundenen Legitimationsdefizit der Republik, blieb aber der Aggregatzustand der Gesellschaft. In den fünf Jahren bis 1929 entwickelte sich zwar so etwas wie Normalität, doch diese Normalität blieb prekär, sie blieb oberflächlich und gefährdet. Vor allem aber erzeugte sie kein Vertrauen in Republik und Demokratie, in eine republikanische und demokratische Zukunft. Die Erfahrung von 1923 – Kalenderjahr oder Chiffre – war dafür von entscheidender Bedeutung.

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Gustav Seibt, Auch 1925 ist noch frei, in: Süddeutsche Zeitung 2.5.2022. Neben dem vorliegenden Band seien ohne Anspruch auf Vollständigkeit (und nur aus den Programmen deutschsprachiger Verlage) erwähnt: Christian Bommarius, Im Rausch des Aufruhrs. Deutschland 1923, München 2022; Jutta Hoffritz, Totentanz – 1923 und seine Folgen, Hamburg 2022; Mark Jones, 1923. Ein deutsches Trauma, Berlin 2022; Peter Longerich, Außer Kontrolle. Deutschland 1923, Wien 2022; Peter Reichel, Rettung der Republik? Deutschland im Krisenjahr 1923, München 2022; Ralf Georg Reuth, 1923 – Kampf um die Republik, München 2023 (angekündigt); Peter Süß, 1923 Endstation. Alles einsteigen!, Berlin 2022; Volker Ullrich, Deutschland 1923. Das Jahr am Abgrund, München 2022. Hans Ulrich Gumbrecht, 1926. Ein Jahr am Rand der Zeit, Frankfurt a. M. 2003, S. 9 und 13 (engl. Originalausgabe: In 1926. Living at the Edge of Time, Cambridge, Mass., 1997). Ebd., S. 9 und 476. Ebd., S. 479. S. zum Beispiel: Eckart Conze, Berlin ist nicht Weimar – was wir aus dem Scheitern der Weimarer Republik noch immer lernen können, in: Eric Hattke/Michael Kraske (Hrsg.): Demokratie braucht Rückgrat. Wie wir unsere offene Gesellschaft verteidigen, Berlin 2021, S. 36–49, oder Andreas Wirsching u. a. (Hrsg.): Weimarer Verhältnisse? Historische Lektionen für unsere Demokratie, Stuttgart 2018. Jones, 1923, S. 347. Ebd., S. 12, 343 und 349. Das hat geschichtspolitisch in den letzten Jahren vor allem Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier immer wieder betont, beispielsweise in seiner Rede zum 100. Jahrestag der Novemberrevolution von 1918; s. Frank-Walter Steinmeier, »Es lebe die deutsche Republik.« Rede des Bundespräsidenten bei der Gedenkstunde des Deutschen Bundestags zum 9. November 2018. Steven Levitsky/Daniel Ziblat, Wie Demokratien sterben. Und was wir dagegen tun können, Bonn 2018. Immer wieder im Rekurs auf den Schweizer Journalisten Fritz René Allemann, Bonn ist nicht Weimar, Köln 1956; vgl. auch Sebastian Ullrich, Der Weimar-Komplex. Das Scheitern der ersten deutschen Demokratie und die politische Kultur der frühen Bundesrepublik, Göttingen 2009. Wirsching u. a. (Hrsg.), Weimarer Verhältnisse. S. dazu Eckart Conze, Die große Illusion. Versailles 1919 und die Neuordnung der Welt, München 2018, oder Jörn Leonhard, Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt 1918–1923, München 2018. S. dazu u. a. Robert Gerwarth, Die Besiegten. Das blutige Erbe des Ersten Weltkriegs, München 2017, oder Omer Bartov/Eric D. Weitz, Shatterzone of Empires. Coexistence and Violence in the German, Habsburg, Russian, and Ottoman Borderlands, Bloomington 2013. Michael Geyer, Insurrectionary Warfare. The German Debate about a Levée en Masse in October 1918, in: Journal of Modern History 73, 2001, S. 429–527. Christoph Cornelißen, Europa im 20. Jahrhundert (Neue Fischer Weltgeschichte, Bd. 7), Frankfurt a. M. 2020, S. 123. S. im Überblick ebd., S. 125–214, oder Lutz Raphael, Imperiale Gewalt und mobilisierte ­Nation. Europa 1914–1945, München 2011, S. 82–165. Zit. nach: Ulrich Heinemann: Die verdrängte Niederlage. Politische Öffentlichkeit und Kriegsschuldfrage in der Weimarer Republik, Göttingen 1983, S. 243. Zit. nach: Thomas Lorenz: Die Weltgeschichte ist das Weltgericht. Der Versailler Vertrag in Diskurs und Zeitgeist der Weimarer Republik, Frankfurt a. M. 2008, S. 353.

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20 Vgl. hierzu auch Detlev Peukert, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen ­Moderne, Frankfurt a. M. 1987, S. 85. 21 Martin H. Geyer, Die Zeit der Inflation, in: Nadine Rossol/Benjamin Ziemann (Hrsg.), Aufbruch und Abgründe. Das Handbuch der Weimarer Republik, Darmstadt 2021, S. 66– 92, hier S. 88 f. 22 Hugo Preuß im Berliner Tageblatt, 1.1.1924. 23 Erich Dombrowski im Berliner Tageblatt, 31.12.1923. 24 The Times, 1.1.1924. 25 Michael Geyer, Zwischen Krieg und Nachkrieg. Die deutsche Revolution 1918/19 im Zeichen blockierter Transnationalität, in: Alexander Gallus (Hrsg.), Die vergessene Revolution von 1918/19, Göttingen 2010, S. 187–222. 26 Nadine Rossol/Benjamin Ziemann, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Aufbruch und Abgründe, S. 9–37, hier S. 22.

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Der Hitler-Putsch und die Rolle des italienischen Faschismus Christof Dipper

Der Hitler-Putsch 8. November 1923, abends: Adolf Hitler verkündet im Bürgerbräukeller vor der Münchener Prominenz die »nationale Revolution«, erklärt die bayerische Regierung für abgesetzt und proklamiert den »Marsch auf Berlin«; am nächsten Morgen schlägt die Landespolizei an der Feldherrnhalle den Putschversuch gewaltsam nieder. Der Hitler-Putsch gilt heutzutage als unheilvoller erster Akt der Geschichte des Nationalsozialismus. Dieses Urteil liegt nahe, denn wir wissen, was danach, insbesondere zwischen 1933 und 1945, geschehen ist, und stellen deshalb einen Zusammenhang zwischen beidem her. Das ist nicht falsch, aber es war nicht die Sicht der Zeitgenossen. Sie hatten ja in jenem Jahr schon ganz anderes erlebt: die Besetzung des Ruhrgebiets durch Franzosen und Belgier im Januar, die dadurch ausgelöste dramatische Entwertung der Mark sowie mehrfache Regierungswechsel in Berlin und im Herbst die kommunistischen Aufstandsversuche in Hamburg, Sachsen und Thüringen sowie die Ausrufung der separatistischen Rheinischen Republik und wenig später der Autonomen Pfalz. Vor allem die Hyperinflation erfasste alle, die damals in Deutschland lebten, und prägte weitgehend ihren Alltag. Die Putschversuche hingegen fanden schon nach kurzer Zeit ein blutiges Ende, wie überhaupt in jenem Jahr mehrere Tausend Opfer politischer Gewalt zu beklagen waren und die Wörter ›Putsch‹ bzw. ›Losschlagen‹ im allgemeinen Sprachschatz ein Allzeithoch verzeichneten.1 Mit anderen Worten: Es waren Verhältnisse, die unser Vorstellungsvermögen übersteigen. Aber die Weimarer Republik hat die vier Jahre – denn 1923 war kein Einzelfall, sondern trauriger Höhe- und Endpunkt der seit der Revolution von 1918 äußerst unruhigen Zeiten – überstanden und so brach 1924 eine

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Zeit an, die der Historiker Heinrich August Winkler als »Schein der Normalität« bezeichnete.2 Auch das ist ein Urteil der Nachgeborenen, denn die Zeitgenossen waren froh, dass es von nun an entschieden ruhiger zuging. Die Menschen waren also einiges gewohnt, vor allem von Bayern. Dort ­hatte 1918 Kurt Eisner als erster in Deutschland die Revolution ausgerufen und eine von der USPD getragene Regierung installiert. Nach seiner Ermordung im Februar 1919 riefen vornehmlich Literaten eine kurzlebige Räterepublik aus, die von Freikorps blutig niedergekämpft wurde. Viele Protagonisten dieser linken Regierungen waren jüdischer Herkunft. Das führte nach der Niederschlagung der Räterepublik besonders in München zu einer Welle von wüstem Antisemitismus, der die Stimmung für die Zukunft prägen sollte. Auf den mit Hunderten von Toten bezahlten neuerlichen Umsturz reagierte die weit nach rechts gerückte Bayerische Volkspartei mit dem von Gustav v. Kahr maßgeblich ausgearbeiteten Programm der »Ordnungszelle Bayern«, einem politischen Konzept mit antisozialistischer, antisemitischer, national-konservativer, teilweise auch monarchistischer Komponente, das gegen die Reichsregierung in Berlin nicht nur hetzte, sondern auch immer wieder mit Putsch drohte. Wohl nicht nur die liberale Politikerin und Frauenrechtlerin Gertrud Bäumer ­fragte sich Anfang November 1923, wie lange die Reichsregierung noch tatenlos dem »Kahristenspuk« zusehen wolle. »Der Marsch nach Berlin, der bis jetzt meist als eine Schwabinger Kraftmeierei erscheinen konnte, wird angesichts der Schwäche der Reichsregierung ernst.«3 Der Hitler-Putsch kam also nicht ganz unvermutet. Besorgte Demokraten sahen den »Untergang des Deutschen Reiches« gekommen,4 aber nur im ersten Moment. Schon am Nachmittag des 9. November spottete in Berlin Ministerialdirektor v. Schubert von einem »Karnevals Ulk«,5 am folgenden Tag der Münchener Journalist Bry vom »lächerlichen Rebellionsversuch der Schwachbegabten«, die hier eine weitere »Talentlosigkeitsprobe« abgaben,6 während Thomas Manns Schwiegermutter stoisch notierte: »Hier ist schon wieder der Teufel los.«7 Aber den Vogel schoss ein katalanischer Journalist ab, der am 8. November im Bürgerbräukeller zugegen war und seinem Lesepublikum eine von Ironie nur so strotzende Schilderung bot: Trachtenanzüge, Bierkonsum, absurde Reden und ein Hitler, der nach dem Schuss in die Decke eine dreiminütige Rede hält, nach der »die Welt – vor allem die bayerische Welt – eine völlig andere als zu Beginn war.«8 Und in Lion Feuchtwangers realistischem Roman zum Hitler-Putsch stärkte sich der Altmöbelhändler Cajetan Lechner

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32 Christof Dipper nach dem Marsch zur Feldherrnhalle im Gasthaus, wo er die letzten aufregenden Stunden Revue passieren ließ: »Aber es war doch gut, hier zu hocken. Wie die Kugeln an der Mauer zerspritzten, das war scheußlich gewesen. Jetzt hatte er einen Kalbsbraten und eine saure Lunge im Magen, und sein Gewehr war er auch los und die Armbinde, und jetzt geht er ins Volksbad und badet.«9

Der Münchener, Simplicissimus, 3.12.1923. Wer auf den ›Erlöser‹ hoffte, wurde wieder einmal enttäuscht. Aber auch so währte die Aufregung nur kurz. Sebastian Haffner hatte wohl recht mit seiner Erinnerung, wenn er 1939 im englischen Exil schrieb: »Hitler füllte die Schlagzeilen zwei Tage lang im November.«10 Und so kann man sich mit Recht dem Urteil des Historikers Hans Mommsen anschließen, demzufolge die Vor­gänge in München nicht der Anfang vom Ende (der deutschen Demokratie) waren, sondern der »Endpunkt gegenrevolutionärer Staatsstreich-Aktionen«, die seit Langem »das strategische Denken der äußersten Rechten beherrschten«.11 Weshalb Hitlers Putschversuch geradezu scheitern musste – die nationalsozia­

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listische Parteilegende mythisierte dagegen sofort die Schüsse vor der Feldherrnhalle mit großem Erfolg −, soll in vier Schritten geklärt werden.

Hitlers politische Strategie und Selbstverständnis12 Als der zum Redner ausgebildete Hitler auf Befehl von Hauptmann Mayr, dem Leiter der Abteilung Nachrichten und politische Aufklärung des ReichswehrKommandos 4, am 12. September 1919 einen Vortragsabend der DAP besuchte und ihr wenig später beitrat, führte Karl Harrer, einer ihrer Gründer, diese Partei im Stil einer Geheimgesellschaft. Das erklärt auch den ungewöhnlich hohen Anteil von wichtigen Persönlichkeiten des rechtsextremen Spektrums, die wegen ihrer Kontakte zu Politik, Militär und Geldgebern wichtig waren. Beides stand im Widerspruch zu Namen und Ziel der Partei, nämlich die durch Krieg und Niederlage gegangenen Arbeiter dem völkischen Nationalismus zuzuführen, ohne dass sie auf sozialistische Vorstellungen verzichten müssten. Die Rekrutierungserfolge blieben entsprechend bescheiden. Hitler, der ›Werbeobmann‹, wie der zum Propagandaredner ausgebildete Gefreite bezeichnet wurde, erkannte das sogleich und setzte alles daran, durch Massenveranstaltungen der DAP einen festen Platz im rechtsextremen Spek­trum Münchens zu erkämpfen. Tatsächlich waren bei der ersten Großveranstaltung am 24. Februar 1920 im Hofbräuhaus bereits 2 000 Personen anwesend. Hitler verkündete hier das für unveränderlich erklärte 25-Punkte-Programm und die Umbenennung der Partei in NSDAP. Harrer hatte da den Vorsitz bereits abgegeben. Der berufslose Zivilist widmete sich nun ausschließlich der Parteiarbeit und war schon deswegen vielen Konkurrenten überlegen. Überlegen war er freilich auch durch seinen politischen Instinkt, was taktische Irrtümer – und der 8./9.  November war wohl eine seiner größten Fehlkalkulationen  – nicht ausschloss. Drei seiner strategischen Zielsetzungen seien genannt: seine Führungsrolle, die Unabhängigkeit der Partei und deren Beschränkung auf Bayern. Seine Rolle beschrieb er selbst zunächst als ›Trommler‹. Er wollte nur »Trommler sein, das ist das Höchste«, er sei »nur Propagandist und Weckrufer« gewesen, sagte er im Schlusswort vor dem Münchener Volksgericht am 27. März 1924.13 Aber das war nur die halbe Wahrheit, denn sein innerparteiliches ­Verhalten wies ganz andere Züge auf als die subalterne Funktion des Trommlers. Ein wichtiger Hinweis dazu ist die am 29. Juli 1921 an sich g­ erissene

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34 Christof Dipper ­ ührung der NSDAP, als er ultimativ »diktatorische Machtbefugnisse« verlangF te14 und erhielt, sodass die Partei nun »ganz auf die Absicherung seines Führungsanspruchs zugeschnitten« war.15 Noch am Abend dieses Tages stellte Herman Esser ihn in einer Veranstaltung im Zirkus Krone als »unser Führer« vor.16 Das »entsprach dem herrschenden Sprachgebrauch«,17 war aber in seiner regelmäßigen Verwendung durch die Nationalsozialisten durchaus singulär, bis dann nach dem Vorbild Mussolinis aus »unser« alsbald »der Führer« wurde, also ohne Beschränkung auf seine Parteiämter.18 Den Parlamentarismus verachtete Hitler wie alle Rechts-(und Links-)Extremisten zutiefst, aber anders als die meisten seiner Konkurrenten plädierte er erst seit Mussolinis Marsch auf Rom offen für eine Diktatur, wobei er, wie sich am 8./9. November zeigen sollte, Mussolinis Taktik und Regierungsform gründlich missverstanden hatte. »Was Deutschland retten kann, ist die Diktatur des nationalen Willens und der nationalen Entschlossenheit.« Die Aufgabe der NSDAP sei es darum, »das Schwert zu schaffen, das die Person brauchen würde, wenn sie da ist. Unsere Aufgabe ist, dem Diktator, wenn er kommt, ein Volk zu geben, das reif ist für ihn.«19 Das sagte Hitler im Mai 1923, als seine Partei weit davon entfernt war, dieses Volk bereits zu repräsentieren. Er kam also um Bündnisse nicht herum. Nur scheinbar vereinfachte sich dieses Dilemma, weil die infrage kommenden Bündnispartner ausnahmslos ebenfalls Diktaturpläne verfolgten, insbesondere ab dem Spätsommer 1923 nach Stresemanns Abbruch des desaströsen passiven Widerstands im Ruhrgebiet – ganz abgesehen davon, dass Generalstaatskommissar v. Kahr in Bayern seit dem 26. September tatsächlich quasidiktatorisch regierte. Dass es ohne Gewalt nicht gehen würde, verstand sich von selbst. Gewalt war ein Kernelement faschistischen Handelns, nicht nur Notbehelf, sondern offen gelebte Kultur in Gestalt von Saalschlachten, Straßenaufmärschen oder Kämpfen um Lokale. Gezielte Provokationen und Grenzüberschreitungen gehörten zum politischen Alltag, die den politischen Gegner einschüchtern und die Obrigkeit herausfordern sollten. Gewalt stiftete – wie im Rechtsradikalismus bis heute üblich – Gemeinschaft. Darum wurde Passivität der Mitglieder nicht geduldet. Zum Vorbild wurde die brutale Gewalt der faschistischen Squadristen.20 Schon kurz nach dem Marsch auf Rom schrieb Hitler: »Gleich der faszistischen Bewegung in Italien hat es die junge Bewegung bisher verstanden, selbst bei einer Minorität an Zahl durch rücksichtslosesten Kampfwillen den jüdisch-marxistischen Terror niederzubrechen.«21

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Damit ist nun auch endlich der Hauptgegner des Nationalsozialismus ange­ sprochen. Das war alles andere als originell, denn auch Völkische und v­ iele Konservative dachten so. Es handelte sich bei dieser Form des Antisemitismus in erster Linie um einen »kulturellen Code«,22 das heißt um eine schlichte, die Vorurteile bedienende Erklärung der Gegenwart, nicht um ein Rezept zum Handeln. Die SA schlug damals keine Schaufenster jüdischer Geschäfte ein und die pogromartigen Misshandlungen von Juden 1923 im sogenannten Scheunenviertel in Berlin hatte nicht sie begangen. Vielmehr wurde die widersprüchliche Programmatik der NSDAP vom Antisemitismus zusammengehalten, da damit ja alles erklärt zu sein schien. Daneben existierte freilich auch seit Jahrhunderten ein brutaler Antisemitismus der Tat, hier wurde die Judenfeindschaft beim Wort genommen, Gewalt war das entscheidende Element. Hitler war er durchaus nicht fremd, spätestens 1923 hatte er den Gedanken einer ›Endlösung‹ entwickelt, die natürlich anders beschaffen war als die später tatsächlich versuchte. Dazu machte er damals keine öffentlichen Aussagen, doch in einem Interview sagte er Eugeni Xammar, dem Berliner Korrespondenten einer katalanischen Zeitung, unvermittelt: »Wenn wir wollen, dass Deutschland lebt, müssen wir die Juden vernichten…. Mit Prügeln? [fragte Xammar. (…)] Das wäre das beste, aber sie sind zu viele. […] Sie alle über Nacht umbringen? Das wäre natürlich die beste Lösung und wenn man das zuwege brächte, wäre Deutschland gerettet. Aber das ist nicht möglich. Die Welt würde über uns herfallen. […] Also bleibt nur die Vertreibung: die Massenvertreibung.« Bayern habe damit schon den Anfang gemacht, »aber zaghaft«, denn es seien v. Kahr »die Hände gebunden«.23

Hitler, die NSDAP und die Ordnungszelle Bayern 1922 Politisch war Bayern in der Weimarer Republik ein Sonderfall. Am Anfang herrschte für kurze Zeit die radikale Linke, nach deren gewaltsamem Ende dann die partikularistische Bayerische Volkspartei, die den Freistaat zur »Ordnungszelle« stilisierte, mit deren Hilfe das Reich ›gesunden‹ sollte. Ihre Politiker hatten sich dafür freie Hand verschafft, indem sie fast ununterbrochen mittels Ausnahmezustand regierten. Die meiste Zeit bestimmte Gustav v. Kahr die bayerische Politik, über den der bereits zitierte Carl Bry schrieb, er sei »der Schöpfer und Begünstiger alles dessen, was nicht erst am 9. November zum weithin sichtbaren Ausdruck gekommen ist«.24

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36 Christof Dipper Hitler hatte also nur in Bayern, genauer gesagt: in München, eine Chance, nirgendwo anders. Diese Chance barg jedoch gleichzeitig aus seiner Sicht die Gefahr, dass er von den dort tonangebenden rechtskonservativen Kreisen vereinnahmt und instrumentalisiert würde. Bestimmend für die Geschichte der NSDAP bis zum 9. November war daher das Wechselspiel von Zusammenarbeit und Alleingang, der naturgemäß nur in propagandistischer Überbietung und politischer Radikalisierung bestehen konnte. Aus Kahrs Perspektive war die NSDAP bloß ein nützlicher Helfer. Es dauerte einige Zeit, bis Hitler sich stark genug fühlte, um zu versuchen, diesem Dilemma zu entkommen. Gelungen ist es ihm in den frühen Jahren der Weimarer Republik nie, wie sein misslungener Putschversuch zeigt. 1922 begann Hitlers Aufstieg in der rechtsradikalen Szene Bayerns, aber sein Ruf reichte schon bis Berlin. Dort hielt er auf Vermittlung von keinem ­Geringeren als Heinrich Claß, dem Vorsitzenden des Alldeutschen Verbands, im »Nationalen Club von 1919« im Mai und Juni eine Rede, in der er offen die »nationale Diktatur« pries.25 Seine unzweideutige Ablehnung der Demokratie verschaffte ihm Zugang zu finanzkräftigen Kreisen in der Reichshauptstadt. Weitere Erfolge waren der Übertritt Julius Streichers am 8. Oktober und der Beitritt des Pour-le-MériteTrägers Hermann Göring im November in die Partei sowie der »Deutsche Tag« von Coburg am 14./15. Oktober. Mit Streicher fand ein seit Langem aktiver Politiker zu ihm, der Franken für den National­sozialismus erschloss. Seine Teilnahme am »Deutschen Tag« organisierte Hitler entgegen der Absprachen ganz nach dem Muster der squadristischen Straßenaufmärsche. In die »rote Hochburg« waren über 600 Mann mit dem Sonderzug gekommen und so lange durch die Stadt marschiert, bis es zur Straßenschlacht mit linken Gegendemonstranten kam. In seiner vergleichsweise kurzen Ansprache verwies Hitler erstmals öffentlich positiv auf den italienischen Faschismus. Das war noch vor Mussolinis Marsch auf Rom. »Aber jetzt wollen wir nach Italien und den dortigen Faszisten blicken, sie bewundern und ihnen in kurzer Zeit zeigen, daß wir gewillt sind, noch andere Kämpfe durchzuführen als in Italien.«26

Mussolini als Vorbild für eine Machtergreifung »Die Vorgänge in Italien haben hier sehr gefährlich gewirkt, man vergleicht die National-Sozialisten mit den Fascisten und sieht in Hitler einen deutschen

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Mussolini«, berichtete der württembergische Gesandte in Bayern am 7. November 1922 aus München.27 Er bezog sich offenkundig auf Hermann Essers Rede, der am 3. November im Festsaal des Hofbräuhauses Hitler zum »deutschen Mussolini« erklärt hatte.28 Das war kurz nach dem Marsch auf Rom, der natürlich international Aufsehen erregt hatte, weil diese Art von Machtübernahme neu war. Zwei Dinge konnten die Zeitgenossen daraus ableiten: erfolgreiche Ausschaltung der zuständigen Verfassungsorgane durch erpresserische Gewalt und die Rolle eines charismatischen Parteiführers. Hitler mit seinem ausgeprägten Machtinstinkt sah das sofort und sagte Anfang November 1922, »Mussolini habe gezeigt, was eine Minorität zu leisten vermag, wenn ihr der klare nationale Wille innewohne. Auch bei uns werde und müsse die Stunde kommen, wenn wir nicht zugrunde gehen wollen.«29 Wusste der ›deutsche Mussolini‹ über den ›italienischen Mussolini‹ überhaupt hinreichend Bescheid, um daraus seine Lehren zu ziehen? Er glaubte das jedenfalls, aber sein Scheitern am 8./9. November 1923 zeigt, dass er Mussolinis Doppeltaktik der symbolischen Straßenpolitik und der selbstbewussten Zusammenarbeit mit den alten Machteliten nicht begriffen hatte. Doch im Unterschied zu vielen seiner Anhänger und erst recht zu den vielen anderen, die in Mussolini einen »Teil der konservativen Gegenbewegung, die durch Europa geht,« sehen wollten,30 zeigte Hitler für Mussolinis Ideologie kaum Interesse. Sie war damals ja auch noch kaum sichtbar. Während der »Völkische Beobachter« von »Faszistenrüpel[n]« schrieb, die die Südtiroler drangsalieren, Mussolinis fehlenden Antisemitismus bedauerte, ihn gar als Instrument der jüdischen Hochfinanz bezeichnete und seine Deutschfeindlichkeit beklagte,31 bewunderte Hitler die charismatische Persönlichkeit. Versuche der Kontaktaufnahme blieben freilich ohne Ergebnis, denn Mussolini hatte an rechtsradikalen Splittergruppen – und als solche musste er von Mailand bzw. Rom aus die im Wesentlichen auf München konzentrierte NSDAP betrachten − kein Interesse.32 Er glaubte nicht an die Stabilität der Weimarer Republik und beachtete Bayern nur im Zusammenhang mit dessen markantem Separatismus und den Konsequenzen für Südtirol. Selbst als Hitler im November 1922, also nach dem Marsch auf Rom, in einer Rede namens der Nationalsozialisten auf Südtirol verzichtete, löste dies bei Mussolini keine ­Reaktion aus. Hitler übernahm vom Duce nach dessen »Marsch auf Rom« das Ziel der »Bildung einer nationalen Regierung nach faszistischem Vorbild«,33 den (von

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38 Christof Dipper seinen Gefolgsleuten organisierten) Führerkult und (neben zahlreichen anderen rechtsradikalen Gruppen) den Marsch auf Berlin. Ihm entging wohl auch nicht, dass Mussolini am 31. August 1923 nach der Ermordung eines italienischen Generals kurzerhand das griechische Korfu besetzte. Zwar erklärte sich Mussolini einen Monat später auf englischen Druck zum Rückzug bereit, aber seinen Gewaltstreich konnte er durchaus als Erfolg für sich verbuchen: Erstens hatte er im Außenministerium die traditionsverpflichteten Diplomaten überspielt, zweitens eine erhebliche Entschädigung erhalten und drittens den Völkerbund, Garanten des Status quo, desavouiert. So wurde damals der Staatengemeinschaft erstmals eine Art der internationalen Konfliktregelung vorgeführt, bei der der Aggressor beschwichtigt wurde, während das Opfer den Schaden hatte.34

Auf dem Weg zum Hitler-Putsch Das Jahr 1923 war in München gekennzeichnet durch wiederholte Machtproben zwischen bayerischer Regierung, Polizei und Reichswehr, dem sogenannten Triumvirat, auf der einen und Hitler und NSDAP auf der anderen Seite. Nur scheinbar steht dazu im Widerspruch, dass beide Seiten sich in ihrem Kampf gegen die Reichsregierung einig waren und im Laufe der Sommermonate dem Gedanken eines ›Marsches auf Berlin‹ nähertraten. Aus der Sicht v. Kahrs war die NSDAP so lange wohlgelittene Helferin, wie sie sich seiner Strategie unterwarf, aber keinen Anspruch auf eigene Politik erhob. Als Hitler sich dieser Gefahr bewusst wurde, legte er in einer Denkschrift »Protest ein gegen die Auffassung, daß die vaterländischen Kampfverbände – zu denen die NSDAP seit Anfang Februar gehörte – kein Recht zur politischen Betätigung besäßen«.35 Da hatte die erste Machtprobe schon stattgefunden. Sie ergab sich aus dem kurzfristig ausgesprochenen Verbot des ersten Parteitags der NSDAP vom 17. bis 19. Januar 1923 in München. Da Großversammlungen wichtigstes und wirksamstes Propagandamittel der Nationalsozialisten waren, konnte Hitler sich unmöglich fügen und erreichte bei der Regierung, die einerseits den Ausnahmezustand ausrief, es sich aber andererseits mit ihm nicht verderben ­wollte, schließlich in letzter Minute die Genehmigung. Das war ein eindrucksvoller Triumph über die Staatsgewalt, ein Prestigegewinn, der sich in rasch wachsenden Mitgliederzahlen niederschlug.

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Die nächste Machtprobe fand am 1. Mai statt, weil Hitler und die Arbeitsgemeinschaft der Vaterländischen Kampfverbände Ende April beschlossen hatten, die Maikundgebung der ›Marxisten‹ auf der Theresienwiese mit allen Mitteln zu verhindern. Die Regierung versuchte sich durchzulavieren, sie verbot sämtliche Umzüge und erlaubte nur Kundgebungen. Damit war Hitlers Konzept, die ›Marxisten‹ nach dem Muster der faschistischen Squadre brutal niederzuprügeln, für das er 2 000 SA-Männer aus allen Teilen Bayerns herbeibeordert hatte, hinfällig. Hinzu kam, dass Reichswehrgeneral v. Lossow ein Kommando zum Oberwiesenfeld schickte, um ultimativ die verbotswidrig aus Kasernen geholten Waffen einzusammeln. Hitler betrachtete das als »die größte Blamage meines Lebens«, wie er sich noch zwei Jahrzehnte später erin­ nerte,36 und zog sich frustriert wochenlang nach Berchtesgaden zurück. Der 1. Mai war auch für die von Hitler mobilisierten Kampfverbände eine schwere Schlappe, die sich einen »Rückzug […] vor den Machtmitteln des Staates« »ein zweites Mal […] nicht leisten« zu können glaubten.37 Es war Ludendorff, der in der depressiven Stimmung als erster wieder Worte fand und dem es dank seines außerordentlichen Ansehens gelang, die aktionsbereiten Verbände zu neuen demonstrativen Aktionen zu sammeln. Bei der größten Sedanfeier der Nachkriegszeit am 1./2. September 1923 in Nürnberg rief er vor der imposanten Kulisse von über 100 000 Teilnehmern offen zur Wiederherstellung des deutschen »Machtgedankens« auf. Ludendorff war so zur unumstrittenen Führungsfigur des Rechtsradikalismus geworden, der zwar in Bayern lebte, aber nicht den weiß-blauen Separatismus unterstützte, sondern die Restauration der Hohenzollern anstrebte. Ihm flossen darum die namhaften Geldspenden von jenseits der bayerischen Landesgrenzen zu; die NSDAP dagegen war so gut wie bankrott.38 Hitler wusste, dass er ohne Ludendorff nichts würde ausrichten können, und spielte ihm gegenüber weiterhin den ›Trommler‹. In der vierten Septemberwoche überschlugen sich die Ereignisse. In Berlin bereitete Stresemann, Kanzler einer Großen Koalition, das Ende des passiven Widerstandes vor, auch um die durch Separatismus und linke Unruhen in Mitteldeutschland außerordentlich gefährdete Lage in den Griff zu bekommen. Die absehbare Stabilisierung löste im Lager der bayerischen Radikalen die ­Sorge aus, die Initiative zu verlieren. In dieser Lage erreichte es Röhm bei Ludendorff, dass Hitler am 25. September im Deutschen Kampfbund, dem radikalen Ableger der zu Jahresbeginn gegründeten Arbeitsgemeinschaft, »politischer Führer« wurde. Dieser legte sofort für den 27. September eine Propagandaoffensive

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40 Christof Dipper mit 14 Massenkundgebungen am Abend dieses Tages in München fest, um die Gemäßigten zu überspielen. Als Stresemann am 26. tatsächlich den Ruhrkampf abbrach, den Ausnahmezustand im Reich verkündete und General v. Seeckt mit der vollziehenden Gewalt beauftragte, war das für Hitler der Anlass, seinen Kampf gegen das Reich zu intensivieren. Die bayerische Regierung wollte dagegen weder dem Reich noch Hitler bzw. Ludendorff die Dinge überlassen. Sie rief ihrerseits den Ausnahmezustand aus und ernannte v. Kahr zum Generalstaatskommissar mit diktatorischen Vollmachten. Dieser verbot als Erstes die für den Folgetag geplanten Veranstaltungen der NSDAP, weil er befürchtete, dass aus ihnen heraus zum Putsch geschritten würde. Hitler erklärte ihn daraufhin in einem Schreiben für unzuständig und legte »schärfsten Protest« ein.39 Fortan war das Verhältnis Hitler – v. Kahr schwierig, um das Mindeste zu sagen, und Hitler verkündete öffentlich, dass jener nicht »der geeignete Mann sei, um den Entscheidungskampf zu führen«.40 Kahr seinerseits äußerte sich in einer Pressekonferenz am 1. Oktober sehr kritisch über die NSDAP; die »Mitarbeit des Kampfbundes« sei zwar »willkommen«, aber »Extratouren werden nicht geduldet«.41 So herrschte im Oktober 1923 zwischen Hitler/Ludendorff und v. Kahr erbitterte Konkurrenz. Beide wollten in Berlin die Macht übernehmen. Uneinig war man in der Frage des Vorgehens. Kahr und seine Verbündeten spielten auf Zeit, das heißt, sie suchten Helfer im Norden Deutschlands, Hitler wollte dagegen mit Freiwilligenverbänden nach dem Muster des ›Marsches auf Rom‹ möglichst sofort ›losschlagen‹, auch weil er seine »abenteuernden Dauersoldaten«42 nicht unbegrenzt finanzieren konnte. Aus dem Konkurrenzverhältnis wurde für Hitler allerdings eine Zwangs­ lage, nachdem am 6. November Lossow nach fruchtlosen Sondierungen in Berlin die militärischen Führer der Vaterländischen Verbände zusammenrief und erklärte, man müsse den Marsch nach Berlin verschieben. Darauf beschloss Hitler, den Putsch im Alleingang zu wagen, und setzte dafür den symbolträchtigen 11. November, Jahrestag des Waffenstillstands, fest. Doch dieser Plan wurde am 7. fallen gelassen, als Hitler erfuhr, dass v. Kahr für den 8. November alles, was in München Rang und Namen hatte, in den Bürgerbräukeller lud, wo er seine nächsten Pläne vorzustellen gedachte. Vor diesem Publikum, so Hitlers Gedanke, würde er die »nationale Revolution« ausrufen, erst in München und dann mit Hilfe der von ihm ausgesuchten Personen auch in Berlin, wie ein Plakat veranschaulicht.

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Proklamation an das deutsche Volk!, Hitler-Putsch in München 8./9.11.1923. Weder dieser Bierhallenputsch noch der von Ludendorff am folgenden Vormittag entschiedene und angeführte Marsch durch die Münchener Innenstadt hatten in ihrem Dilettantismus43 auch nur das Geringste mit Hitlers gefeiertem Vorbild Mussolini zu tun. Und so überrascht nicht, dass die Zeitgenossen ­diese Ereignisse nicht wirklich ernst genommen haben. Nachgeborene dagegen können sich der leidvollen Einsicht Ian Kershaws nicht verschließen: »Hätte die Kugel, die Scheubner-Richter tötete, 30 Zentimeter weiter rechts getroffen, wäre die Weltgeschichte anders verlaufen.«44

9.11.1923: Barrikaden am Bayerischen Kriegsministerium in der Münchener Schönfeldstraße. In der Bildmitte Himmler mit der Fahne.

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Anmerkungen 1 Digitales Wörterbuch der Deutschen Sprache. Hier nicht abgebildete DWDS-Wortverlaufskurve für »Putsch, Führer und Losschlagen« 1920–1925, https://www.dwds.de/, erstellt am 23.3.2022. 2 Heinrich August Winkler, Der Schein der Normalität. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1924 bis 1930, Berlin/Bonn 1985. 3 Gertrud Bäumer, Der Marsch nach Berlin (Politische Notizen), in: Die Hilfe, Nr. 21, 1.11.1923, S. 365. 4 Harry Graf Kessler, Das Tagebuch, Bd. 8: 1923–1926, hg. v. Angelika Reinthal, Günter Riederer und Jörg Schuster, Stuttgart 2009, S. 138. Eintrag vom 9.11.1923. 5 Ebd., S. 140. Eintrag vom 13. 11.1923. 6 Carl Christian Bry, Der Hitler-Putsch. Berichte und Kommentare eines DeutschlandKorrespondenten (1922–1924) für das »Argentinische Tag- und Wochenblatt«, hg. v. Martin Gregor-Dellin, Nördlingen 1987, Münchner Brief, 29.3.1924, sowie Pasinger Tagebuch, 10.11.1923: Der 9. November, I., S. 207, 146. Bry hieß eigentlich Carl Decke. 7 Hedwig Pringsheim, Tagebücher, Bd. 7: 1923–1928, hg. u. kommentiert v. Cristina Herbst, Göttingen 2018, S. 105. Eintrag vom 9.11.1923. 8 Eugeni Xammar, der am Vormittag Hitler interviewt hatte, begann seinen Beitrag mit der Versicherung, der Münchner Putsch sei »großartig« gewesen »und jeder sollte in seinem Leben wenigstens einen Putsch miterlebt haben«. Der Putsch als Spektakel (La Veu de ­Catalunya, 17.11.1923). Eugeni Xammar, Das Schlangenei. Berichte aus dem Deutschland der Inflationsjahre 1922–1924, Berlin 2007, S. 137, 134. 9 Lion Feuchtwanger, Erfolg. Drei Jahre Geschichte einer Provinz. Roman. Ndr. München 2008, S. 682. Feuchtwanger war Augenzeuge, sein 1930 erschienener Roman eine einzige Parodie des Weges zum Putsch. 10 Sebastian Haffner, Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914–1933, Stuttgart, München 92001, S. 65. Haffner fügte sarkastisch an: »Die Erlöser hatten offensichtlich eine Chance.« 11 Hans Mommsen, Adolf Hitler und der 9. November 1923, in: Johannes Willms (Hrsg.), Der 9. November. Fünf Essays zur deutschen Geschichte, München 1994, S. 33. 12 Sofern nicht anders angegeben, stütze ich mich im Folgenden, abgesehen vom eben genannten Aufsatz Hans Mommsens, vor allem auf die Hitler-Biografien von Joachim C. Fest, Ian Kershaw, Volker Ullrich und Hans-Ulrich Thamer sowie auf Peter Longerich, Hitler, München und die Frühgeschichte der NSDAP, in: Manfred Nerdinger (Hrsg.), München und der Nationalsozialismus. Katalog des NS-Zentrums München, München 2015, S. 398– 407, 587 f. 13 Adolf Hitler, Sämtliche Aufzeichnungen 1905–1924, hg. v. Eberhard Jäckel und Axel Kuhn, Stuttgart 1980, S. 1210. 14 Rede auf einer NSDAP-Versammlung, in: ebd., S. 448. 15 Volker Ullrich, Adolf Hitler. Biographie, Bd. 1, Frankfurt a. M. 2013, S. 133. 16 Zitat in: Werner Maser, Die Frühgeschichte der NSDAP. Hitlers Weg bis 1924, Frankfurt a. M. 1965, S. 277. 17 Cornelia Schmitz-Berning, Vokabular des Nationalsozialismus, Berlin/New York 22000, S. 242. 18 Der Führerkult wurde nach Mussolinis Marsch auf Rom von Hitlers Gefolgsleuten, nicht von Hitler selbst, aufgebaut. Wolfgang Schieder, Adolf Hitler – politischer Zauberlehrling Mussolinis, Berlin/Boston 2017, S. 23. 19 Rede im Zirkus Krone, 4.5.1923, in: Hitler, Sämtliche Aufzeichnungen, S. 920.

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Der Hitler-Putsch und die Rolle des italienischen Faschismus

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20 Dazu Sven Reichardt, Faschistische Kampfbünde. Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Squadrismus und in der deutschen SA, Köln 2002. 21 Ausbau der NSDAP. Denkschrift, 22.10.1922, in: Hitler, Sämtliche Aufzeichnungen, S. 704. 22 Diesen Ausdruck prägte Shulamit Volkov und lieferte damit eine bis heute einflussreiche Deutung einer Form des Antisemitismus. Antisemitismus als kultureller Code, in: dies., Jüdisches Leben und Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert. 10 Essays, München 1979, S. 13–36. 23 Adolf Hitler oder die entfesselte Dummheit, in: Xammar, Schlangenei, S. 146–148. 24 Hitler, Ludendorff, Kahr, Kardinal Faulhaber. Und der Ausgang? Münchener Brief, 13.11.1923. Bry, Hitler-Putsch, S. 161. 25 Rede vor dem nationalen Klub 1919. Berlin, 29.5.1922, in: Hitler, Sämtliche Aufzeichnungen, S. 642. 26 Rede auf dem Deutschen Tag in Koburg, 14.10.1922. Ebd., S. 701. 27 Politik in Bayern 1919–1933. Berichte des württembergischen Gesandten Carl Moser v. Filseck, hg. v. Wolfgang Benz, München 1971, S. 111. 28 Zitat: Maser, Frühgeschichte, S. 356. Der »Völkische Beobachter« verkündete am 8.11., »Deutschlands Mussolini heißt Adolf Hitler«, zitiert in: Martin H. Geyer, Verkehrte Welt. Revolution, Inflation und Moderne, München 1914–1924, Göttingen 1998, S. 311, Anm. 128. 29 Rede auf einem Sprechabend vor dem 9.11.1922. Hitler, Sämtliche Aufzeichnungen, S. 726. 30 Arthur Moeller van den Bruck, Italia docet, in: Das Gewissen. Zeitung für Volksbildung, Jg. 4, Nr. 37, 6.11.1922, S. 1. 31 Alle Belege bei Karl Egon Lönne, Der »Völkische Beobachter« und der italienische Faschismus, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 51, 1971, S. 549 ff. 32 Einzelheiten dazu bei Klaus-Peter Hoepke, Die deutsche Rechte und der italienische Faschismus, Düsseldorf 1968. 33 Rede auf einem NSDAP-Sprechabend, 14.11.1922. Hitler, Sämtliche Aufzeichnungen, S. 728. 34 Einzelheiten bei Christof Dipper, »Mare nostro« und »British Interest«. Das Mittelmeer in der Zwischenkriegszeit, in: Trierer Beiträge 13, 1983, S. 44–54. 35 Zweck und Aufgabe der Arbeitsgemeinschaft Vaterländischer Kampfverbände. Denkschrift, 19.4.1923. Hitler, Sämtliche Aufzeichnungen, S. 903. 36 Wolfsschanze, 1.2.1942. Adolf Hitler, Monologe im Führerhauptquartier 1941–1944. Die Aufzeichnungen Heinrich Heims, hg. v. Werner Jochmann, Hamburg 1980, S. 250. 37 So der Sprecher der radikalen Wehren, Hptm. a. D. Wilhelm Weiß, zitiert nach: Harold J. Gordon jr., Hitlerputsch 1923. Machtkampf in Bayern, Frankfurt a. M. 1971, S. 189. 38 Mehr dazu bei Bruno Thoss, Der Ludendorff-Kreis 1919–1923. München als Zentrum der mitteleuropäischen Gegenrevolution zwischen Revolution und Hitlerputsch, München 1978, S. 325. 39 Schreiben an v. Kahr, 27.9.1923. Hitler, Sämtliche Aufzeichnungen, S. 1017. 40 Rede auf einem Deutschen Tag in Bamberg, 7.10.1923, Polizeiprotokoll. Ebd., S. 1029. 41 Aufzeichnung v. Kahrs. Ernst Deuerlein (Hrsg.), Der Hitler-Putsch. Bayerische Dokumente zum 8./9. November 1923, Stuttgart 1962, S. 187. 42 Joachim C. Fest, Hitler. Eine Biographie, Frankfurt a. M./Berlin 1973, S. 257. 43 Die detaillierte Schilderung bei Gordon, Hitlerputsch, Kap. II/10 und 11, offenbart eine kaum für möglich gehaltene Mischung von Planlosigkeit, Stümperei und Selbstüberschätzung der Putschisten. 44 Ian Kershaw, Hitler 1889–1936, Stuttgart 1998, S. 266.

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Weltrevolution? Die Heraus­forderung des Kommunismus im ­Krisenjahr 1923 Christoph Cornelißen Als sich im Sommer 1923 die politische und soziale Lage im Deutschen Reich verschärfte, glaubten viele Beobachter, schon bald stehe der Ausbruch eines »Deutschen Oktober« bevor: »Die Krise in Deutschland reift sehr schnell. Es beginnt ein neues Kapitel der deutschen Revolution«, heißt es dazu in einem Brief vom 31. Juli 1923 aus der Feder von Grigori Sinowjew, Generalsekretär des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale (Komintern), an seinen Genossen Josef Stalin. Der Zeitpunkt sei nahe, führte Sinowjew ergänzend aus, »an dem wir Entscheidungen von welthistorischem Ausmaß werden fällen müssen«.1 In seinen Planungen und denen anderer Funktionäre der im März 1919 gegründeten Komintern sollte Deutschland einen Dominostein abgeben, der mit seinem Fall eine Kette von Revolutionen in Europa und auch in anderen Weltregionen auslösen werde. Ähnlich lautete der Tenor einer zeitgenössischen Analyse in der »Roten Fahne«, dem führenden Organ der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD), vom Oktober 1922. Die Revolutionen des Westens wiederholten im Gefolge der gegenwärtigen Krise »in den grossen allgemeinen Zügen, aber in verlangsamtem Tempo und unter fortgeschrittenen wirtschaftlichen Verhältnissen die erste proletarische Revolution«, führt der Beitrag aus. Außerdem kündige sich das »Zeitalter der Weltrevolution« nicht minder drohend in den Kolonial- und Halbkolonialländern an, denn die »Weltbourgeoisie« habe sich in den Jahren nach Beendigung des Krieges völlig unfähig gezeigt, »die zerstörte kapitalistische Ordnung wiederherzustellen und ihren proletarischen Sklaven selbst innerhalb der kapitalistischen Sklaverei die Existenz zu sichern«.2 Wie die Eingangszitate andeuten, sahen führende Funktionäre und Intel­ lektuelle im Krisenjahr 1923 die Chance gekommen, die »kommunistische

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­ topie« in globalem Maßstab zu verwirklichen. Drei Merkmale stechen aus U den einschlägigen Diskussionen und Planspielen ins Auge. Zum einen zählen dazu die eher kurzen Erwartungshorizonte, verfestigte sich doch in großen Teilen der kommunistischen Bewegung der Glaube, dass nunmehr auch im Westen Europas, ja sogar weltweit der Ausbruch einer Revolution nach russischem Modell anstehe. Dafür schienen die wirtschaftlichen und politischen Krisen, aber auch die aktuellen Spannungen in der internationalen Politik einen günstigen Nährboden abzugeben, den es unter allen Umständen zu nutzen gelte. Immerhin seien seit dem »Versailler Friedensdiktat« rund vier Fünftel der Menschheit einem kolonialen Ausbeutungsregime der Siegermächte unterworfen, konstatierte Wladimir Iljitsch Lenin in seinem Eröffnungsreferat auf dem II. Weltkongress der Komintern im Juli 1920.3 Zum anderen waltet in den unzähligen öffentlichen Verlautbarungen und ebenso in den oft nur internen oder sogar geheim gehaltenen Verhandlungsprotokollen die Sprache des Unbedingten. In der Vorstellungswelt der Revolutionäre war alles und ohne jede Einschränkung veränderbar; »no change was beyond their reach”, so hat es der britische Historiker Eric Hobsbawm auf den Punkt gebracht hat.4 Des Weiteren zieht sich durch die zeitgenössischen Diskussionen und Beschlussfassungen der zahlreichen Parteigremien der internationalen kommunistischen Bewegung der Gedanke, wonach Deutschland für die Zukunft der bolschewistischen Revolution eine Schlüsselrolle zufalle. Im Grunde handelte es sich dabei um das Fortschreiben der leninschen Überlegungen aus dem Ersten Weltkrieg, in denen er zunächst dem industriell fortgeschrittenen Land im Fahrplan der Weltrevolution die Rolle einer Avantgarde zugewiesen, dann aber unter dem Eindruck der militärischen Niederlage des Zarenreiches die Führung Russland zugeordnet hatte. Im Krisenjahr 1923 sollte das Versäumte beziehungsweise bislang Unerreichte nachgeholt werden: »Die kommende deutsche Revolution bringt uns in höchstem Maße der Revolution in Europa und dann auch der Weltrevolution näher«, meinte Sinowjew im September, als er vor dem Zentralkomitee der russischen Kommunistischen Partei in Moskau seine Einschätzung der Lage in Deutschland skizzierte.5 Tatsächlich entwickelten sich die Dinge im Krisenjahr 1923 ein weiteres Mal in eine ganz andere Richtung. Denn die Gegner des bolschewistischen Projekts von der radikalen und bürgerlichen Rechten über die liberalen Kräfte bis hin zu den sozialdemokratischen Parteien bereiteten den Aufstandsversuchen eine entscheidende Niederlage. Wie in den Jahren zuvor hielten die Wochen des

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46 Christoph Cornelißen »Deutschen Oktober« – damit ist der Versuch gemeint, auf deutschem Boden eine Revolution bolschewistischen Typs auszulösen – sowohl für die Funktionäre als auch die Mitglieder und Sympathisanten der Kommunistischen Partei eher herbe Enttäuschungen bereit. Nicht nur, dass sich der Traum einer bolschewistischen Weltrevolution damals nicht bewahrheitete, sondern im Gegenteil: Das »Gespenst des Faschismus« machte danach die Runde. Schon im Oktober 1922 war mit dem »Marsch auf Rom« eine faschistische Bewegung erstmals an die Macht gelangt und auch in anderen Ländern nahm die Militarisierung der Politik von rechts ihren Lauf. Als mindestens ebenso problematisch mutete den Anhängern und Anhängerinnen der bolschewistischen Revolution die Rolle der sozialdemokratischen bzw. sozialistischen Parteien an, verweigerten sie sich doch den Sirenenklängen des Appells für eine »Einheitsfront«. Auch noch nach der Stabilisierung der innenpolitischen Lage in der Weimarer Republik und anderen europäischen Ländern sorgte die anhaltende Spaltung der Arbeiterschaft für tiefgreifende Zerwürfnisse zwischen den führenden linken Parteien. Zwar rückte die Komintern nach dem Scheitern des »Deutschen Oktober« 1923 von der Vorstellung einer von oben gesteuerten bolschewistischen Revolution zunächst ab, aber mit der taktisch bedingten Wendung einer »Einheitsfront von unten« hielt sie letztlich am Kernziel der Weltrevolution fest. Die wesentlichen Etappen der ideologisch und taktisch bedingten Umorientierungen zwischen dem Ersten Weltkrieg und der Mitte der 1920er-Jahre werden hiernach in drei chronologisch gestaffelten Abschnitten nachgezeichnet.

Die Pläne für eine Weltrevolution und ihr ­Scheitern 1919–1922 Weder die Vordenker noch die Anhänger der bolschewistischen Revolution zweifelten nach ihrem Sieg über die Kräfte des alten Russland daran, dass er nur die erste Etappe beim Durchbruch der »Weltrevolution« darstellte. Dafür sprach, dass es den Bolschewiki 1917 gelungen war, sich zum Sprachrohr der Hoffnungen und Gerechtigkeitsvorstellungen von Millionen Bauern und Arbeitern zu machen, die unter den Bedingungen von autokratischer Herrschaft, Krieg und Revolution letztendlich nie etwas anderes als ein System der Unterdrückung und Gewalt kennengelernt hatten. Nicht aber die Machtergreifung

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der Bolschewiki war das eigentlich Bemerkenswerte, sondern die Tatsache, dass sie sich danach an der Macht behaupten konnten, beruhte doch ihr Erfolg letztlich weniger auf konkreten materiellen Zugeständnissen als vielmehr auf einer chiliastischen Sprache, die weit in den Westen Europas und auch in andere Weltregionen ausstrahlte. Zwar nahm darin der Kult um die revolutionäre, zerstörerische Gewalt eine entscheidende Rolle ein, aber die bolschewistische Ideologie beschränkte sich keineswegs darauf; vielmehr versprach sie eine radikale Abkehr von den gesellschaftlich verkrusteten Verhältnissen der Vorkriegsgesellschaft sowie eine grundlegende Modernisierung des Landes. Für die Verwirklichung dieser und anderer Missionen ließen sich ab 1917 Millionen Menschen in Russland und vielen anderen Ländern bereitwillig einspannen, ja regelrecht begeistern.6 Die Dynamik der neuen Bewegung beförderte unter den Anhängern und Anhängerinnen der »kommunistischen Utopie« international die Erwartung, dass schon bald »die sozialistische Revolution in Europa kommen muss und kommen wird«, ganz so, wie es Lenin immer wieder proklamiert hatte. Als gegen Ende des Weltkriegs Revolutionen in Deutschland, Österreich und Ungarn sowie kleinere revolutionäre Aufbrüche in anderen Ländern registriert wurden, schien dieser Traum rasch in Erfüllung zu gehen. Freilich entwickelte sich die Lage in eine ganz andere Richtung, auch im Mutterland der bolschewistischen Revolution. Denn hier beschworen die Kämpfe während der Revolution und dann vor allem während des Bürgerkriegs eine schier endlose Gewaltspirale zwischen Bolschewisten und anderen militanten Radikalen, Antibolschewisten, lokalen Nationalisten, Anarchisten und Bauern herauf.7 Zudem verschärften die Entente-Mächte durch die Entsendung militärischer Kontingente, mit denen sie ihre jeweiligen außenpolitischen Interessen durchzusetzen suchten, die Lage zusätzlich. Nach sieben Jahren – in einigen Regionen Russlands dauerten die Kämpfe bis 1924 – belief sich die düstere Gesamtbilanz des Bürgerkriegs auf neun bis zehn Millionen Tote und auch die materiellen Zerstörungen hinterließen ein völlig ausgezehrtes Land. Mehr noch, die Hoffnungen Lenins auf einen revolutionären Aufstand in Polen und in anderen Ländern Mitteleuropas erfüllten sich nicht; dort, wo sich die kommunistische Linke zeitweilig mit Gewalt die Hebel der Macht erkämpfte, wurde sie von ihren Gegnern schon bald darauf besiegt. Angesichts der chaotischen Umstände in Russland flohen H ­ underttausende Angehörige der geistigen und politischen Elite des Landes in den Westen. Für

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48 Christoph Cornelißen etwa zwei Millionen Menschen mündeten Weltkrieg, Revolution und Bürgerkrieg im Exil, worüber nicht nur ein virulenter Nationalbolschewismus, sondern auch der russische Monarchismus den Weg in den Westen fanden. Vor allem Berlin, Prag und Paris sowie später New York stiegen zu Orten auf, an denen die Exilanten ihre jeweilige Vision des russischen Erbes pflegten und neue kulturelle Experimente wagten, die oft künstlerischen und intellektuellen Weltruhm erlangten. Mit den Migranten wurden jedoch zugleich die innerrussischen politischen Konflikte in den Westen transferiert, wo etliche Anhänger des bolschewistischen Projekts den revolutionären Terror legitimierten, weil er aus ihrer Sicht die einzig denkbare Antwort auf konterrevolutionäre Gewalt darstelle. Die politischen Gegner dieses Experiments setzten im Gegenzug alles daran, seine Ausdehnung auf alle Gebiete westlich der sowjetischen Grenzen zu unterbinden. Dabei blieben die Abwehrmaßnahmen keineswegs auf die Regionen Europas beschränkt, wo bolschewistische Gruppen über eine nennenswerte Größe verfügten; denn als sich über die Presse sowie Berichte von Augenzeugen in ganz Europa Nachrichten über reale oder nur vermeintliche Gräueltaten der Bolschewisten verbreiteten, kam überall die Rede von den russischen beziehungsweise »asiatischen« Verhältnissen auf. Gemeint war damit letztlich nichts anderes als die – wie es seine Gegner sahen – im Bolschewismus angelegte völlige Negierung westlicher Kultur. Der Antibolschewismus stieg so zum Losungswort einer fragmentierten politischen Szene auf, deren Auseinandersetzungen die sozialen, ethnonationalen, konfessionellen und ideologischen Spannungen in vielen Ländern Europas verschärften. Allerorten beteiligten sich daraufhin paramilitärische Verbände an den Kämpfen, bei denen sie konventionelle militärische Einheiten entweder ersetzten oder gelegentlich ergänzten. Allein in Deutschland organisierten sich ab Ende 1918 etwa 250 000 bis 400 000 Männer in ca. 120 Freikorps, während in Österreich und Ungarn die rechten paramilitärischen Organisationen nur halb so viele Mitglieder aufwiesen. Dem Tun dieser Verbände war es insgesamt geschuldet, dass politische Morde und Attentate das öffentliche Leben aufwühlten. Angesichts der gewalttätigen Übergriffe hatten zahlreiche Zeitgenossen den Eindruck, sie lebten in einem permanenten Bürgerkrieg. Selbst in den Staaten, in denen nach dem Ersten Weltkrieg die Konflikte unterhalb dieser Schwelle blieben, also in Skandinavien, Großbritannien, Frankreich, den Beneluxstaaten oder der Schweiz, verschärften erbitterte Arbeitskämpfe und Generalstreiks die gesellschaftlichen und politischen Konflikte. Bereits Ende

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1919/Anfang 1920 war jedoch den Hauptakteuren aufseiten der Kommunisten klar geworden, dass die Erwartungen eines unmittelbaren Umschlags des Weltkriegs in einen Bürgerkrieg oder gar eine Weltrevolution nicht eingelöst werden konnten.8 Vor diesem Hintergrund lancierten die Komintern und ihre nationalen Bruderparteien ab 1919 zahlreiche Streiks und Unruhen, um die ihnen verhasste »bürgerliche Ordnung« zu schwächen. Entscheidende Schützen­ hilfe erhielten sie dafür sowohl in materieller als auch ideologischer Hinsicht aus Russland. Von der Moskauer Zentrale strömten außerdem fortlaufend die Emissäre der Komintern aus, um ihre Genossen vor Ort zu instruieren, wobei für die deutschen Angelegenheiten der »Berufsrevolutionär« und Anhänger Leo Trotzkis, Karl Radek, eine führende Rolle beanspruchen durfte. Auch im Jahr 1921 gehörte er zu den »Vertrauensleuten« des Exekutivkomitees der Komintern, um den Auftrag an die deutschen Genossen zu übermitteln, einen Aufstandsversuch zu wagen. Der Appell fruchtete jedoch nur in wenigen Regionen Deutschlands wie in Mitteldeutschland und im Ruhrgebiet, wo radikale Kräfte führend waren. Nach rund zwei Wochen gelang es den staatlichen Ordnungskräften, die Aufstände gewaltsam niederzuschlagen. Für die kommunistischen Parteistrategen bedeutete diese letztlich aussichtslose Aktion einen herben Rückschlag. Gleichwohl hielt das ein führendes Mitglied der Bolschewiki wie Trotzki nicht davon ab, auf dem III. Weltkongress der Internationale im Frühsommer des Jahres den proletarischen Klassenkampf Westeuropas und den nationalen Befreiungskampf Asiens als die zwei Arme einer gewaltigen Zange zu bezeichnen, die den Kapitalismus und Imperialismus zerquetschen werde.9 Rhetorische Überhöhungen dieser Art vermochten indes kaum den endemischen Fraktionismus innerhalb und zwischen den kommunistischen Parteien zu überspielen. So oft sich die Funktionäre der nationalkommunistischen Parteien auch auf den Weg nach Moskau machten, um sich gleichsam am »Lernort des Bolschewismus« mit der Führung der russischen Kommunistischen Partei und den Gremien der Komintern über ideologische Grundsatzfragen und taktische Überlegungen abzustimmen, so deutlich traten immer wieder erhebliche Meinungsunterschiede zutage. Mehrere Ursachen können hierfür identifiziert werden. Dazu gehören zuvorderst die Ränkespiele der tonangebenden russischen Kommunisten, die ab 1922 untereinander einen verdeckten Kampf um die Nachfolge des schwer erkrankten Lenin führten. Weiterhin spielte der Streit zwischen den Flügeln der

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50 Christoph Cornelißen nationalen kommunistischen Parteien eine entscheidende Rolle, suchten sie doch jeweils ihre Position durch den Schulterschluss mit russischen Genossen und Genossinnen zu stärken. Darüber hinaus dürfen die nationalen Gegensätze zwischen den kommunistischen Parteien nicht übersehen werden, zumal es sich in vielen Ländern zunächst um eher mitgliederschwache Organisationen handelte. Zwar vermochte die stärkste Kraft dieser Gruppe, die KPD, nach der Vereinigung mit der linken Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD) zur Vereinigten Kommunistischen Partei Deutschlands (VKPD) durch einen Zuwachs von rund 350 000 Mitgliedern (verglichen mit vormals ca. 80 000 Mitgliedern) zu einer Massenpartei aufzusteigen – doch genau dieses Moment sorgte dafür, dass die innerparteilichen Debatten um eine Einheitsfront im Bündnis mit der Sozialdemokratie sich in Deutschland erheblich verschärften.10 Gewiss, nach dem Scheitern der von radikalen Kräften im Jahr 1921 vorangetriebenen Märzunruhen verständigte sich die VKPD unter der Führung Heinrich Brandlers und mit Unterstützung der Komintern-Zentrale noch im gleichen Jahr auf den Kurs einer Einheitsfrontpolitik von oben. Doch letztlich handelte es sich dabei um einen Formelkompromiss, den die linke Opposition in der KPD um Ruth Fischer, Arkadij Maslow und Ernst Thälmann weiterhin massiv bekämpfte. Im Zentrum der Weltrevolution ­setzte indes ein Sinneswandel ein, sprachen sich doch seit Sommer 1923 führende Funktionäre der Komintern in Moskau für die Auslösung eines »Deutschen Oktober« aus.11

Die Zuspitzung der Krisen im Deutschen Reich und das Scheitern des »Deutschen Oktober« Die Ruhrbesetzung durch französische und belgische Truppen im Januar 1923 sowie der von der Reichsregierung ausgerufene passive Widerstand bewirkten in Deutschland chaotische Zustände.12 Im Grunde stellte der von der Reichsregierung zunächst unterstützte »passive Widerstand« so etwas wie ein Finanzfass ohne Boden dar, weil die massive öffentliche Verschuldung die schon seit 1922 stark steigende Inflation massiv anheizte; im Herbst 1923 erreichte sie exorbitante Höhen. Die Begleiterscheinungen der wirtschaftlichen und sozialen Krisen waren unübersehbar, als sich im Krisenjahr die Versorgungslage der Bevölkerung fortlaufend verschlechterte. Die Reallöhne sanken erheblich ab und

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weite Teile der deutschen Bevölkerung verarmten, als auch die Vermögenswerte nur so dahinschmolzen. Die sozioökonomischen Krisen riefen neben einer Serie von Streiks zahlreiche Teuerungs- und Hungerkrawalle hervor, die auch starke innenpolitische Rückwirkungen zeigten. So provozierte ab November 1922 die Übernahme der Regierungsverantwortung durch ein »technisches ­Kabinett« unter der Führung des parteilosen Unternehmers Wilhelm Cuno scharfe Proteste nicht nur der Sozialdemokraten, die damals von den Hebeln der Macht verdrängt wurden, sondern insbesondere aus den Reihen der KPD.

Propagandaplakat der KPD während der Inflation Deutschland, 1923. Bereits auf ihrem VIII. Parteitag vom 28. Januar bis 1. Februar 1923 konstatierten die Funktionäre in Leipzig, dass »die Regierung Cuno zu einer Etappe auf dem Weg in die offene Diktatur des Großbürgertums nach Art des faschistischen Italien« werden könne, gegen den sämtliche Kräfte der linken Parteien

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52 Christoph Cornelißen unter Einschluss der SPD zu bündeln seien. Ähnlich lautende Appelle zugunsten einer Einheitsfront von oben kamen von der Komintern, zumal man die deutschen Genossen in einer immer stärkeren Verhandlungsposition wähnte. Dabei handelte es sich jedoch um eine grundlegende Fehleinschätzung, was sich ein weiteres Mal im Sommer und Herbst 1923 als ein gravierendes Problem erweisen sollte. Eine genauere Sichtung der Lage hätte schon früh gezeigt, dass die KPD-Führung ab dem Frühjahr 1923 zunehmend die Kontrolle über große Teile der politisch radikalisierten Arbeiterschaft verlor. Schon als Ende Januar und erneut im März und April syndikalistische Streiks an der Ruhr, danach auch Streikbewegungen in anderen Regionen ausbrachen, wurde die KPDFührung hiervon überrascht.13 Vor diesem Hintergrund radikalisierte sie ihre Positionen. Am 12. Juli lancierte Parteiführer Heinrich Brandler einen Aufruf zu einem »antifaschistischen Demonstrations- und Kampftag« für das Ende des gleichen Monats, wobei er in diesem Zusammenhang den Einsatz des »roten Terrors« gegen den Aufstieg des Faschismus ausdrücklich legitimierte. Darüber hinaus forderte er die Ausstattung der sogenannten Proletarischen Hundertschaften mit Waffen. Hierbei handelte es sich um paramilitärische Verbände, die ab dem August 1923 dazu übergingen, ausgedehnte Geländeübungen abzuhalten, Probealarme zu veranstalten und Schusswaffen zu horten. Angesichts dieser Bedrohungslage untersagten mehrere Länder – darunter Preußen – die Abhaltung des für den 19. Juli geplanten »antifaschistischen Tages«. Das hielt jedoch rund 200 000 Demonstranten in Berlin nicht davon ab, ihren Protest auf die Straße zu tragen. In anderen Ländern (Sachsen, Baden und Thüringen) wurden die Veranstaltungen in geschlossenen Räumen abgehalten, so wie es die KPD-Spitze empfohlen hatte.14 Obwohl sich in dieser Lage auch das Präsidium des Exekutivkomitees der Komintern im Juni 1923 mit den deutschen Problemen befasste, war im Sommer in Moskau von der Vorbereitung eines Aufstands in Deutschland zunächst noch keine Rede. Zwar drängte Sinowjew die deutsche KP-Führung um Heinrich Brandler und den Theoretiker August Thalheimer schon Ende Juli zu einem offensiveren Vorgehen, doch Stalin, inzwischen Generalsekretär der russischen KP, empfahl nachdrücklich Zurückhaltung: »Wenn heute in Deutschland die Macht sozusagen stürzt und die Kommunisten sie aufheben, dann werden sie mit Pauken und Trompeten scheitern. Im besten Falle. Im schlechtesten wird man sie in Stücke hauen und weit zurückwerfen.«15

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Zu den bemerkenswerten Begleiterscheinungen der Debatten dieser ­Phase zählt der Versuch Karl Radeks, die KPD in ein Bündnis mit rechtsradikalen Gruppen zu führen. Der von Radek favorisierte nationalbolschewistische Kurs zielte nach der Hinrichtung Leo Schlageters – der national gesinnte militärische Unterführer hatte im besetzten Ruhrgebiet Sprengstoffanschläge verübt – darauf ab, die parteiübergreifende Entrüstung im Deutschen Reich über die französische Besatzungsmacht zu nutzen, um eine revolutionäre S­ ituation zu begründen. Im Juni 1923 verstieg sich auch die Grande Dame der KPD, C ­ lara Zetkin, zusammen mit Radek bei einer Sitzung des Exekutivkomitees der ­Komintern zu der These, bei den deutschen Freikorpsleuten und italienischen Faschisten handele es sich keineswegs nur um »weiße« Konterrevolutionäre, sondern um die »energischsten, entwicklungsfähigsten Elemente aus den ins Proletariat abstürzenden kleinbürgerlichen Schichten«. Für einige Wochen konnte sich Radek der Zustimmung für sein Projekt aus Moskau sicher sein, weil damals führende Funktionäre der Partei die Furcht anleitete, die EntenteMächte könnten die kommunistischen Aufwiegelungsversuche zum Anlass für einen Krieg gegen die Sowjetunion instrumentalisieren. Es ist indes nicht zu übersehen, dass Radeks Appell an die »Völkischen«, ein Bündnis mit den russischen Bauern und Arbeitern zur Abschüttelung des »Jochs des Ententekapitals« zu schmieden, von vornherein zum Scheitern verurteilt war. Schließlich wandte sich im September auch die Zentrale der Komintern mit scharfen Worten von der Idee des Nationalbolschewismus ab.16 Gleichwohl kam in die Debatten über die Auslösung eines »Deutschen ­Oktober« neue Bewegung, als die Nachrichten von den sogenannten CunoStreiks und dem Rücktritt des Reichskanzlers (12. August) in Moskau bekannt wurden, was dort die Hoffnung nährte, die instabile Lage könne den Auftakt für eine revolutionäre Entwicklung abgeben. Schon von seinem südrussischen Urlaubsort Kislowodsk aus verfasste Sinowjew am 15. August die Anweisung, die KPD möge sich auf die herannahende revolutionäre Krise vorbereiten. Das wichtigste Datum für die Vorbereitung der deutschen Revolution war sodann der 22./23. August. An diesen Tagen versammelte sich das Politbüro der Kommunistischen Partei in Moskau zu einer Geheimsitzung, auf der Radek, Trotzki und Sinowjew eine revolutionäre Offensive der KPD befürworteten, da sie von einem regelrechten Entscheidungskampf in den nächsten Wochen ausgingen. Mehrere Motive erklären ihr Drängen gegenüber der KPD-Führung. Zum einen leitete die sowjetischen Funktionäre die Befürchtung, die Berliner

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Ministerpräsidenten Erich Zeigner wirklich bereit seien, Sachsen gegen Bayern und die Faschisten zu verteidigen. Und weiter heißt es wörtlich: »Sofortige Bewaffnung von 50 – 60 000 Arbeitern wirklich durchführen, den General Müller zu ignorieren. Dasselbe in Thüringen«.18 Für die nachfolgende Entwicklung waren die Unruhen und Aufstandsplanungen in Bayern und in Mitteldeutschland maßgeblich. Während die Rechte in Bayern immer offener mit einem Einmarsch in das »rote Mitteldeutschland« drohte, zeigte sich die Regierung um den sächsischen Ministerpräsidenten Erich Zeigner bereit, gemeinsam mit der KPD ein Kabinett der »republikanischen und proletarischen Verteidigung« zu bilden.19 Am 10. Oktober traten führende Politiker der KPD (neben Brandler waren dies Paul Böttcher und Fritz Heckert) der sächsischen und am 16. Oktober Karl Korsch und Albin Tenner der thüringischen Regierung bei. Zuvor hatte ihnen die Komintern nochmals explizit die Aufgabe zugewiesen, ihre neue Funktion zur Stärkung der »Proletarischen Hundertschaften« zu nutzen. Wie sehr die Hoffnungen auf einen »Deutschen Oktober« auf einer trügerischen, ja zuweilen grotesken Fehleinschätzung nicht nur der tatsächlichen Machtverhältnisse, sondern auch der Bereitschaft in den Reihen der deutschen Arbeiterschaft beruhten, ihr Leben für die Verwirklichung der »kommunistischen Utopie« zu gefährden, ­zeigte sich, als die Berliner Regierung unter der Führung von Gustav Stresemann dem Treiben der mitteldeutschen Landesregierungen nicht länger tatenlos zusah. Am 20. Oktober erklärte sie die verfassungsmäßige sächsische Regierung für abgesetzt und ordnete den Einmarsch von Reichswehrtruppen in Mitteldeutschland an. Hiergegen beschloss die Zentrale der KPD noch am Abend des 20. Oktober die Ausrufung eines Generalstreiks, was auch den bewaffneten Kampf einschloss, machte aber die Ausführung des Beschlusses vom Verlauf einer auf den nächsten Tag angesetzten Chemnitzer Betriebsrätekonferenz abhängig. Bei dieser Veranstaltung traf die Forderung Brandlers nach einem Generalstreik auf den entschiedenen Widerstand der linken Sozialdemokraten, sodass der KPD-Vorsitzende zum Rückzug blies. Nur in Hamburg kam es zu einem Aufstand, der schon nach wenigen Tagen niedergeschlagen wurde. Der erwartete Generalstreik blieb zudem aus und die Kämpfe lösten keine Massenbewegung aus. Unterdessen marschierte die Reichswehr in Leipzig, Meißen, Dresden und Pirna ein, wodurch der Terminkalender für den »Deutschen Oktober« effektiv durchkreuzt wurde. Die proletarische Erhebung fand tatsächlich nicht statt, ja, sie endete in einem Fiasko.20

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Vorgehen der Reichswehr gegen Kommunisten in Sachsen, Oktober 1923.

Zu den Folgen der gescheiterten »Weltrevolution« Aus Sicht der SPD-Führung war die eklatante Ungleichbehandlung der Landesregierungen in Bayern und Mitteldeutschland im Krisenjahr 1923 in keiner Weise zu rechtfertigen. Die sozialdemokratischen Minister im Kabinett Stresemann traten deswegen am 2. November von ihren Ämtern zurück, was letztlich bedeutete, dass die Kräfte der Gegenrevolution ihre wesentlichen Ziele erreicht hatten: Die SPD war direkt und indirekt aus der Regierung gedrängt worden, im Deutschen Reich herrschte eine Militärdiktatur und der Achtstundentag war unter tatkräftigem Zutun der Arbeitsgeberverbände gekippt worden. In dieser Situation sah die bayerische Regierung unter der Leitung von Generalstaatskommissar Gustav von Kahr keinen Grund mehr zum Sturz der Reichsregierung und ließ am 9. November Hitlers völkische Putschisten an der Münchner Feldherrnhalle von der bayerischen Landespolizei auseinandertreiben. Im Anschluss daran wurden sowohl die KPD als auch die NSDAP reichsweit ­verboten. Am 30. November konstituierte sich unter der Führung des Zentrumspolitikers Wilhelm Marx eine konservative Minderheitsregierung, die an die Wirtschaftspolitik der Kabinette Stresemann anknüpfte und auf diesem Weg die sozialen Notlagen allmählich in den Griff kriegen konnte.

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Wie aber stand es um die Aufarbeitung der gescheiterten Aufstandsplanungen in den Reihen der kommunistischen Parteien und vor allem aufseiten der Komintern, die zuvor eine führende Rolle eingenommen hatte? Ab dem Spätherbst 1923 setzten ununterbrochene Deutungskämpfe ein, die wiederum auf das engste mit innerparteilichen Machtfragen verknüpft waren. Während in Moskau Sinowjew und Stalin ab Mitte Dezember einen Großangriff gegen die »Trotzkisten« lancierten, setzten sich in Deutschland die Parteilinken mit ihrer Sichtweise durch. Das prominenteste Opfer dieser Auseinandersetzungen wurde der Parteivorsitzende Brandler, der seinen Posten aufgeben musste. Weit bedeutsamer als die personalpolitischen Auseinandersetzungen waren indes die Deutungskämpfe über das Scheitern des »Deutschen Oktober«, wurde doch darüber der zukünftige Kurs der Partei bestimmt. Auf der einen Seite agitierte unter anderen Thalheimer mit scharfen Worten gegen die »linke Oktober­legende«, der zufolge im Oktober eine »revolutionäre Situation« bestanden habe. Doch auf der anderen Seite setzte sich letztlich die linke Opposition mit ihrer Revolutionsdeutung durch, zumal sie sich ohne jeden Vorbehalt der Feststellung des Politbüros des Zentralkomitees der russischen Kommunistischen Partei vom 3. November 1923 anschließen konnte: Danach stellte von nun an »der schärfste Kampf gegen die linke Sozialdemokratie die Hauptaufgabe unserer Zeit« dar. Das Präsidium des Exekutivkomitees der Komintern sollte genau diese ­Linie nochmals am 19. Januar 1924 als eine der wichtigsten »Lehren der deutschen Ereignisse« bekräftigen. Zwar sei es im »Deutschen Oktober« gelungen, Teile des Kleinbürgertums für einen Kampf gegen das Großkapital und den französischen Imperialismus zu gewinnen. Aber in der Zeit von September bis zum November 1923 hätte die Parteiführung durch sich ständig steigernde Agitationen, Demonstrationen sowie die Organisation von Arbeiterräten die Entwicklung vorantreiben müssen, was sie nur sehr unzulänglich getan habe. Der KPD sei es letztlich nicht gelungen, ihren Einfluss auf Arbeitermassen auszudehnen. Dafür trage die Sozialdemokratie die Hauptschuld, vor allem deren linker Flügel, der nicht zu einer Kampfgemeinschaft mit den Kommunisten bereit gewesen sei.21 Ab dem V. Weltkongress der Komintern im Juni 1924 galt diese Deutung als absolut verbindlich. Allen kommunistischen Parteien wurde seither die Bolsche­ wisierung ihrer Organisation zur Pflicht gemacht. In diesem Sinn gehört die Durchsetzung der Vorherrschaft der Komintern über die kommunistischen Parteien im Ausland zu einer der bedeutenden Konsequenzen des Scheiterns eines

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58 Christoph Cornelißen »Deutschen Oktober«. In der Weimarer Republik waren die Nachwirkungen geradezu verheerend, weil sie hier den Bruch zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten weiter vertieften und darüber eine enorme Schwächung des Widerstands gegen den Aufstieg Hitlers bedeuteten. Bereits 1924 war außerdem in den Texten Sinowjews nachzulesen, dass die Sozialdemokratie im Grunde nur einen »Flügel des Faschismus« darstelle. Er formulierte damit einen Gedanken, der ab 1927/28 in die zur offiziellen Doktrin erhobenen Sozialfaschismustheorie einfließen sollte.22 In der Sowjetunion wiederum nutzte die Troika an der Spitze der Kommunistischen Partei (Stalin, Sinowjew und Kamenew) die Kritik an der »rechten« Brandler-Gruppe, um gegen Trotzki und seine Anhänger vorzugehen. Der Streit über die Ursachen der Oktoberniederlage verknüpfte sich auf diese Weise mit den Fraktionskämpfen in der sowjetischen Führung, aus denen Stalin als Sieger hervorging. Von dieser Position aus vermochte er seine Forderung nach dem »Aufbau des Sozialismus in einem Land« durchzusetzen, was dann das geopolitische Denken in Europa bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs entscheidend beeinflusste. In soziokultureller Hinsicht reichte die Bedeutung der gescheiterten Weltrevolution noch weit tiefer.23 Denn die andauernden Kämpfe zwischen den Anhängern der Revolution und denen der Gegenrevolution begünstigten nicht nur das Aufkommen eines ständig abrufbaren Arsenals an antagonistischen Kampfsymbolen und -begriffen, sondern die »rote Welle« blieb den jungen Demokratien als »Gespenst des Kommunismus« erhalten und vergiftete so deren politische Kultur bis in die zweite Nachkriegszeit.

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Brief Sinowjews an Stalin über die Krise in Deutschland, die Bekämpfung Trotzkis und des »kleinen Schwätzers« Radek vom 31.7.1923, in: Hermann Weber u. a. (Hrsg.), Deutschland, Russland, Komintern II. Dokumente (1918–1943), Bd. 1, Berlin 2015, S. 284 f. »Das Zeitalter der Weltrevolution«, ebd., S. 264–266. Hier zit. nach Gerd Koenen, Die Farbe Rot. Ursprünge und Geschichte des Kommunismus, München 2017, S. 864. Eric J. Hobsbawm, Interesting Times: A Twentieth-Century Life, London 2003, S. 136–138. Zu den Debatten über die »Kommunistische Utopie« vgl. Dietrich Beyrau, Das bolschewistische Projekt als Entwurf und als soziale Praxis, in: Wolfgang Hardtwig (Hrsg.), Utopie und politische Herrschaft im Europa der Zwischenkriegszeit, München 2003, S. 13–39. Grigori Sinowjew, Thesen über die kommende Deutsche Revolution und die Aufgaben der Russischen Kommunisten vom 22.9.1923, in: Bernhard H. Bayerlein u. a. (Hrsg.), Deutscher Oktober 1923. Ein Revolutionsplan und sein Scheitern, Berlin 2003, S. 155. Vgl. Silvio Pons, Stephen A. Smith (Hrsg.), Cambridge History of Communism, vol. 1: World Revolution and Socialism in One Country 1917–1941, Cambridge 2017; Dietmar Neutatz, Träume und Alpträume. Eine Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert, München 2013; Jörg Baberowski, Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt, München 32012. Ich folge hier den Ausführungen in: Christoph Cornelißen, Europa im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2020, S. 139f. John Paul Newman, Revolution and Counterrevolution in Europe 1917–1923, in: Pons, Smith, Cambridge History of Communism, S. 96–120. Siehe dazu Koenen, Die Farbe Rot, S. 875. Hermann Weber, Vorwort, in; Bayerlein, Deutscher Oktober, S. 21. Erklärung der russischen Delegation, in: Lenin, Briefe, IX, S. 550, Anm. 555. Umfassende Darstellung bei Heinrich August Winkler, Von der Revolution zu Stabilisierung. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1918–1924, Bonn 21985, S. 605–669. Siehe auch Otto Wenzel, 1923. Die Gescheiterte Deutsche Revolution, Münster 2003. Jens Becker, Heinrich Brandler. Eine politische Biographie, Hamburg 2001, S. 206. Winkler, Von der Revolution zur Stabilisierung, S. 620. Brief Stalins an Sinowjew zum vorläufigen Verzicht auf den Kampf um die Macht in Deutschland, in: Weber u. a. (Hrsg.), Deutschland, Russland, Komintern, S. 292 f. Wolf-Dietrich Gutjahr, Revolution muss sein. Karl Radek  – die Biographie, Köln 2012, S. 570 f. Sinowjew, Thesen, in: Bayerlein u. a. (Hrsg.), Deutscher Oktober, S. 155 f. Bayerlein u. a. (Hrsg.), Deutscher Oktober, S. 187. Vgl. Sebastian Zehetmair, Im Hinterland der Gegenrevolution. Die kommunistische Bewegung in der »Ordnungszelle Bayern« 1919–1923, Düsseldorf 2022, S. 412–428. Winkler, Von der Revolution zur Stabilisierung, S. 652. Bayerlein u. a. (Hrsg.), Deutscher Oktober 1923, S. 456–465. Koenen, Die Farbe Rot, S. 877. Vgl. Newman, Revolution and Counterrevolution, S. 118 f.

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Die Ruhrbesatzung Gewalt­auftakt zum Krisenjahr 1923 Nicolai Hannig Am 10. Januar 1923 war der Essener Stadtsaal bis auf den letzten Platz gefüllt. Tausende waren zu einer vaterländischen Kundgebung gekommen, zu der die politischen Parteien die Essener Bevölkerung eingeladen hatten. Am Ende der Veranstaltung stand die »gewaltige Zuhörerschar« mit »entblößtem Haupt« und stimmte innbrünstig das Deutschlandlied an, wusste die Dortmunder Zeitung zu berichten. Was war passiert? Der Essener Zentrumspolitiker Johannes Bell hatte vor der aufgebrachten Menge eine flammende patriotische Rede gehalten, während der Einmarsch französisch-belgischer Truppen unmittelbar bevorstand. Der frühere Reichskolonial- und -verkehrsminister schwor seine Zuhörer eindringlich auf einen bevorstehenden militärischen »Gewaltakt« Frankreichs ein. Die Essener würden nun gemeinsam mit dem gesamten Ruhrgebiet ihren Weg durch »Dickicht und Dornen, von Kreuzwegstation zu Kreuzwegstation gehen, getragen von der festen Zuversicht, daß wir durch Dunkel und Nacht schließlich durch furchtloses und treues Marschieren zum Licht und zur Freiheit gelangen«, so Bell. Ein anderer Redner pflichtete ihm bei und rief die Essener auf, ihre »opferfreudige Vaterlandsliebe« fortan dadurch auszudrücken, dass sie die Straßen nicht betreten, alle Fenster und Türen verschlossen hielten und die französischen Soldaten mieden.1 Und so war es tatsächlich: Als die Besatzer einmarschierten, glich Essen einer Geisterstadt. Von den knapp 500 000 Einwohnern ließ sich kaum einer auf der Straße blicken. Als »Zeichen des Protests« gegen den Militäreinmarsch hatten sie alle ihre Rollladen heruntergelassen, notierte damals eine Essenerin in ihr Tagebuch.2 In einer Note Raymond Poincarés vom 10. Januar 1923 hieß es hingegen, der Einzug französisch-belgischer Truppen in das Ruhrgebiet sei überhaupt keine »militärische Operation oder Besetzung politischer Art«. Man reagiere lediglich darauf, dass die deutsche Regierung nicht die als Reparationsleistungen vereinbarten Holz- und Kohlemengen geliefert habe. Frankreich

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sehe sich daher zu einem Einmarsch »gezwungen«, bei dem es sich jedoch nur um die Entsendung von Ingenieuren und Beamten handle. Die Truppen, die diese Mission begleiteten, sorgten lediglich dafür, dass die »Ausführung des Auftrags« sichergestellt sei.3 Die deutsche Regierung sah in den diplomatischen Formulierungen allerdings – ganz im Sinne der Essener Kundgebung – einen wohlfeilen »­Schleier«, den es zu »zerreißen« gelte. Der »wahre Charakter« sei ein ganz anderer. Vielmehr handle es sich um eine »Verletzung des Völkerrechts«, hieß es in der Antwortnote der deutschen Regierung an die französische Botschaft vom 12. ­Januar 1923. Frankreich wolle sich mit militärischer Gewalt »den wichtigsten Besitz der deutschen Wirtschaft« unter den Nagel reißen. Das deutsche Volk könne sich nicht dagegen wehren, schließlich stünde es seit dem Weltkrieg praktisch ohne Heer da. Doch man werde sich dem Friedensbruch nicht fügen und erst recht nicht an der Ausbeutung durch die Franzosen mitwirken. Die Verantwortung für die verheerenden Folgen trügen allein die Regierungen Frankreichs und Belgiens, zumal sich bereits abzeichne, dass die Mark zusehends an Wert verliere, während die Preise stiegen.4 Mit diesem Schriftwechsel waren die Fronten abgesteckt. Als die deutsche Regierung ihre Erwiderung formulierte, marschierten bereits rund 45 000 Soldaten unter dem Befehl des französischen Generals Jean-Marie Degoutte ins Ruhrgebiet – schon wenig später waren es mehr als 60 000. Die Ruhrbesetzung war der Auftakt zum Krisenjahr 1923 und zählt zweifelsohne zu dessen bedeutendsten Ereignissen. Sie stürzte die Weimarer Republik in die Hyperinflation, sorgte für mehr als 100 Todesopfer sowie Hunderte von Verletzten und Vergewaltigten, führte zu Hungerprotesten und motivierte Kommunisten, Separatisten und Rechtsextreme zu Aufständen. Darüber hinaus prägte sie viele noch bis heute bekannte Bilder von einmarschierenden Soldaten sowie nationalistische und rassistische Karikaturen. Die deutsche Reichsregierung unter Kanzler Wilhelm Cuno hatte die Menschen an der Ruhr bereits zwei Tage nach dem Einmarsch zu passivem Wider­ stand aufgerufen, zu Streiks und Kooperationsverweigerung. Doch schon sehr bald wurde daraus eine brutale Gegenwehr, die in zahlreiche Anschläge und Sabotageakte mündete. Damit knüpfte die Besetzung des Ruhrgebiets unmittelbar an den Ersten Weltkrieg an, ja setzte ihn in gewisser Weise fort. Die altbekannten Kriegsgegner standen sich erneut gegenüber und vielen wurde klar, dass der Krieg vielleicht doch noch nicht vorüber und man weiter vom Frieden

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62 Nicolai Hannig entfernt war, als man gehofft hatte. Rund fünf Jahre nach ­Kriegsende wurde deutlich, wie sehr der Krieg noch immer in die Weimarer Republik hineinragte. Es schien sich zu wiederholen, was mit der deutschen Besatzung Frankreichs und Belgiens während des Krieges begonnen hatte, auch wenn die Gewaltbilanz der Ruhrbesatzung am Ende nicht so dramatisch ausfiel wie die Besatzungen während des Ersten Weltkriegs.5 Dieser Zusammenhang zwischen den Besatzungen Frankreichs und Belgiens und der Ruhrbesatzung, der uns heute in der Rückschau so evident erscheint, spielte für die deutschen Zeitgenossen allerdings keine Rolle. Viele wussten schlichtweg nichts von den Gräueltaten ihrer Soldaten in Belgien und Nordfrankreich. Genauso wenig war ihnen bewusst, dass die Besatzungen während des Ersten Weltkriegs ebenfalls darauf abzielten, die besetzten Regionen auszurauben und die wirtschaftliche Stärke des Gegners für die eigenen Zwecke zu nutzen. Vielmehr sahen sich die Deutschen mehrheitlich als Opfer einer französischen Willkür- und ökonomischen Ausbeutungsaktion. Sie wähnten sich von einem auf den nächsten Tag fremdbeherrscht und um ihre Selbstbestimmung gebracht. Auf französischer und belgischer Seite jedoch spielten die Kriegserfahrungen für die Gestaltung und Durchführung der Besatzungsherrschaft eine nicht zu unterschätzende Rolle . Die Mediendebatten in Frankreich waren nach dem Ende des Ersten Weltkriegs bestimmt durch Sühneforderungen gegenüber dem ehemaligen Kriegsgegner und machten der Öffentlichkeit klar, dass die hohen Schulden, die während des Krieges bei den USA aufgelaufen waren, ohne regelmäßige Zahlungen aus Berlin kaum abzubauen waren. Die Besatzer wollten durch die Ruhrbesetzung daher alle Kriegsreparationen erledigt wissen, sich sicherheitspolitisch konsolidieren und die Machtbalance in Westeuropa nachhaltig verschieben. Vor diesem Hintergrund wird klar, dass der Begriff »Besetzung« die alltägliche Gewalt verschleiert, die bis zum Ende des passiven Widerstands am 26. September 1923 das Ruhrgebiet prägte. Gemeint sind damit zumeist die erbitterten Auseinandersetzungen zwischen Besatzern und Besetzten, die zweifelsohne die Hauptrolle in der Gewaltgeschichte der Ruhrbesetzung spielten. Etwas in Vergessenheit geraten ist jedoch eine weitere Dimension: die Gewalt unter den Besetzten. So kam es während der gesamten Besatzungszeit bis August 1925 und darüber hinaus zu zahlreichen gewaltsamen Übergriffen gegen vermeintliche Kollaborateure. Damit war der Besatzungsalltag von umfassender physischer und psychischer Gewalt geprägt, von Arbeitskämpfen und

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­ nschlägen, von Strafen und Überwachung. Besatzer gingen gegen Besetzte A vor, Besetzte gegen Besatzer und dann gingen sich auch noch die Besetzten gegenseitig an den Kragen. Möchte man den historischen Ort der Ruhrbesatzung im Krisenjahr 1923 bestimmen, kann also nicht allein die politische Diplomatie, das Taktieren in Paris und Berlin eine Rolle spielen. Insbesondere den Besatzungsalltag gilt es zu berücksichtigen, da er Aufschluss darüber geben kann, was die Menschen 1923 bewegte, wie es zu dieser gewalthaften, konfrontativen Stimmung kam und wie die Bevölkerung damit umging.

I. Die Besetzung des Ruhrgebiets geschah nicht aus heiterem Himmel. Bereits am 8. März 1921 hatten französische und belgische Truppen Duisburg, Ruhrort und Düsseldorf besetzt und eine Zollgrenze errichtet. Diese kappte abrupt Verbindungen zum rheinisch-westfälischen Industriebezirk und verteuerte schlagartig den Handel. Wenig später beschlossen auf der Londoner Konferenz im April/Mai desselben Jahres Großbritannien, Frankreich, Italien, Bel­ gien und Japan das Londoner Ultimatum, das Deutschland eine Summe von 132 Milliarden Goldmark als Entschädigungszahlung auferlegte. Die Höhe dieser Kapitalsumme war jedoch eher symbolisch, weil sie an die Bedingung geknüpft war, dass das Deutsche Reich entsprechend zahlungsfähig sein musste, was es wohl nie werden würde – das wusste man schon damals. Doch zugleich, und dies ist für unseren Zusammenhang von Bedeutung, stellte es eine Besetzung des Ruhrgebiets in Aussicht, sofern sich Deutschland weigern sollte, den Londoner Zahlungsplan zu akzeptieren. Die Reichsregierung unter Kanzler Joseph Wirth akzeptierte schließlich und druckte fleißig Geld, um den vielen Verpflichtungen nachzukommen. Doch bereits am 13. November 1922 baten die Deutschen in einer Reparationsnote um ein erstes Zahlungsmoratorium. Frankreich erkannte darin nur ein aufsässiges Taktieren, lehnte den Antrag ab und erwog offen die bereits zuvor im Londoner Ultimatum angedeutete Besetzung des Ruhrgebiets. Der am 22. November 1922 ins Amt des Reichskanzlers gerückte Wilhelm Cuno, dessen Amtsantritt einen spürbaren Rechtsruck bedeutete, hielt am Kurs seines Vorgängers fest. Er musste am 9. Januar 1923 miterleben, wie die i­nteralliierte

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64 Nicolai Hannig Reparationskommission feststellte, dass die Deutschen den ­ vereinbarten ­Reparationsleistungen vorsätzlich nicht nachgekommen seien. Zwei Tage später marschierten fünf französische und eine belgische Division ein. Sie besetzten das Ruhrgebiet zwischen Essen und Gelsenkirchen, Bochum und Dortmund sowie die restlichen Gebiete am Niederrhein. Die deutsche Politik reagierte prompt, scharf und martialisch, wenn auch nur rhetorisch. Man sprach von einem neuen »Gewaltstreich«, von einem »Hammerschlag des französischen Imperialismus«, von »französischen Annexionsgelüsten«, »Raubrittertum« und »blind[en] Instinkten« nach »Raub, Mord und Totschlag«.6 Damit war der Rahmen für Reaktionen abgesteckt. Da es keinerlei militärische Optionen gab, rief Reichskanzler Cuno wenig später zum passiven Widerstand auf mit dem Ziel, Industrie, Verwaltung und Infrastruktur durch Streiks lahmzulegen. Aus der Ruhrbesetzung wurde der zeitgenössisch so genannte Ruhrkampf. Und die Reichskasse finanzierte diesen Generalstreik – oder vielmehr die Notenpresse, da die Währung ohnehin schon stark inflationsgeschwächt war. Lange durchhalten ließ sich dieser staatlich und zu geringen Teilen durch Spenden finanzierte Widerstand freilich nicht. Schon Ende September kam er zum Stillstand. Doch diese knapp neun widerständigen Monate hatten es in sich. Sie gaben dem Krisenjahr 1923 sein gewalttätiges Gepräge und versetzten die Menschen im Ruhrgebiet in einen kriegsähnlichen Zustand. Das lag nicht zuletzt daran, dass der ausgerufene Widerstand nicht nur ein passiver war, sondern vielerorts aktiv wurde. Dabei handelte es sich gewiss nicht um ein ausgeklügeltes Guerillakonzept, das von langer Hand vorbereitet war. Nein, der Widerstand, ob aktiv oder passiv, baute sich erst im Laufe des Januars langsam auf. Er war geprägt von Improvisation und unkoordinierten Einzel­aktionen, getragen von Einzelgängern und Hasardeuren, darunter vor allem Freikorps, kleine Untergrundgruppen und Eisenbahner. Einige ­wenige Vorüberlegungen, die man innerhalb der Heeresabteilung in den Vorjahren angestellt hatte, spielten keine Rolle. Gleichwohl genoss der Widerstand politische und finanzielle Unterstützung von höchster Ebene und konnte an eine nationale Propagandamaschinerie anknüpfen, die über Flugblätter, Plakate, Zeitungen und eilig publizierte Bücher breite Bevölkerungskreise erreichte. Schauen wir in diese Pamphlete, so erscheint uns der Widerstand als weitgehend gewaltfreies, heroisches Auflehnen einer drangsalierten Ruhrgebietsbevölkerung, die im gemeinsamen Widerstand gegen französische Kolonialisten

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ihre ­nationale Identität zurückgewinnt. Dass Gewalt dabei ein Kernelement war, erzählen diese Quellen jedoch nicht oder deuten es nur am Rande an. Die französischen Besatzer agierten ebenfalls wenig koordiniert. Sie traten überwiegend repressiv, ruppig, schnell reizbar und nicht selten willkürlich gewalttätig auf. Sie verboten Zusammenrottungen in den Straßen und sperrten Zugänge, sie erließen Grußpflichten und forderten Ehrerbietungen bei Begegnungen zwischen Besatzern und Besetzten – übrigens in Anlehnung an die deutsche Besatzungspraxis während des Ersten Weltkriegs.7 Wer auf Bürgersteigen, die die Deutschen nun demonstrativ nicht mehr Trottoirs nannten, nicht schnell genug Platz machte, der hatte gelegentlich einen kurzen Bajonettstich aufs Hosenbein zu befürchten. Ferner kappten die Besatzer Telefon- und Telegrafenleitungen, requirierten Gebäude, verhängten Strafen, inhaftierten und wiesen aus. So entwickelte sich schon bald eine Gewaltspirale, die auf beiden Seiten zu zahlreichen Toten und Verletzten führte. Stets gab der eine vor, nur auf den anderen zu reagieren. Leitungen kappten die Besatzer nur, weil die deutsche Poststelle keine Verbindungen herstellen mochte. Zu ­Schießereien zwischen französischen Soldaten und deutschen Polizisten kam es nur, weil die Besatzer die Polizeiwachen entwaffneten. Auch wenn sich bei einigen Aktionen der Tathergang noch recht gut rekonstruieren lässt, hielt sich die Verteilung von Aktion und Reaktion insgesamt die Waage. Das Gewaltrepertoire aller Beteiligten war breit: Es gab S­ prengstoffanschläge, Attentate, Erschießungen, Überfälle und gewaltsame Verhöre; aber auch Vergewaltigungen, Lynchjustiz, erniedrigende Ehrstrafen und psychische Gewalt in Form von Prangern und anderen öffentlichen Diffamierungen. Die Straßenkämpfe, die bereits in den Monaten der Revolution und Konterrevolution nach dem Ersten Weltkrieg vor allem in Berlin und München tobten, fanden nun an der Ruhr ihre Fortsetzung – nur dass mit den Franzosen einer der Kriegsgegner involviert war. Dass das Ruhrgebiet dabei keineswegs in Anarchie abdriftete, belegen zahlreiche Dokumentationen von Gewalttaten, und zwar auf beiden Seiten. In der deutschen Botschaft sammelte man akribisch Meldungen zu Übergriffen französischer Soldaten und leitete sie an das Außenministerium in Frankreich weiter. Auch das französische Besatzungsregime dokumentierte Gewalt und an­ dere Straftaten. Zahlreiche Fälle brachte man zur Anklage, nur unterschieden sich die Kriterien teils erheblich, nach denen beide Seiten selektierten. Schulbesetzungen, Verhaftungen und Ausweisungen, die auf deutscher Seite als

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66 Nicolai Hannig ­ andalismus oder Misshandlung aktenkundig wurden, tauchten in den franV zösischen Unterlagen höchstens als notwendige Besatzungsmaßnahmen auf, wenn sie überhaupt Erwähnung fanden. Andere Fälle wie zum Beispiel Vergewaltigungen fehlten ganz in den Akten, während wiederum Sabotageakte bei den deutschen Behörden kein Thema waren, wenngleich sie die Propaganda zu Heldentaten stilisierte. Die flankierende Propagandaschlacht erschwert es uns heute, zu beurteilen, wer die Situation eigentlich eskalierte, wer auf wen reagierte und wer überhaupt hinter der Auflehnung gegen die Besatzer stand.8 Sicher, schauen wir auf die Parteienlandschaft und politische Prominenz in Berlin, so sehen wir eine in der jungen Republik nie da gewesene Einigkeit. Blicken wir in die Zeitungen, so finden wir leidenschaftliche Unterstützung. Franzosenhass gehörte zum guten Ton. Das »Tier ist die Übergangsstufe vom Franzosen zum Menschen«, schrieb der Journalist Adolf Stein, besser bekannt als Rumpelstilzchen oder Hugenbergs Landknecht, und brachte damit auf den Punkt, was viele Ruhrkämpfer dachten.9 Auch die Propaganda, die so viele Plakate und Flugblätter unter die Leute brachte wie zu keinem anderen politischen Ereignis, scheint eine eindeutige Sprache zu sprechen. Bürgermeister und andere hohe Beamte des Ruhrgebiets legten noch im Januar geschlossen ihre Arbeit nieder und machten den Besatzern klar, dass sie nur Befehle aus Berlin entgegennahmen. Aber versammelte sich hinter den vielen kernigen Worten, markigen Artikeln und eindringlichen Bildern tatsächlich auch eine breite Front von Anhängern, denen ihr Nationalstolz wichtiger war als ihr Arbeitsplatz, ihr Brot und ihre Sicherheit? Nur zum Teil, zumal sich viele der Wortführer schon wenig später vor Militärgerichten und in Gefängnissen wiedersahen oder ausgewiesen wurden. Anfangs war die Solidarität mit dem ausgerufenen Widerstand gewiss recht hoch. Das gewaltsame Vorgehen der Besatzer schweißte zusammen und führte dazu, dass sich viele Arbeiter ganz unabhängig von den Berliner Parolen gegen die Invasoren auflehnten. Doch schon in den ersten Monaten des Abwehrkampfes bröckelte der Zusammenhalt. Vor allem die Zentrumspartei, die den offiziösen Widerstand mittrug, hatte mit ihrer Basis gehörig zu kämpfen. Katholische Arbeitervereine und Gewerkschaften waren alles andere als angetan von ihrer Parteiführung und deren Kurs. Und wie erging es Einzelhändlern und Gastronomen, deren Verbände vollmundig beschlossen hatten, nicht an Franzosen zu verkaufen? Die Zeitungen schlachteten genüsslich die Fälle aus, in denen sich Inhaber gegen renitente Soldaten zur Wehr setzten, ihre G ­ eschäfte

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v­ erdunkelten und Türen verriegelten. Doch es gab auch genügend Ladenbesitzer, die heimlich für die Besatzer öffneten, sie bewirteten und als Kunden akzeptierten. Sie waren auf das Geschäft angewiesen oder hielten nichts von nationalistischem Säbelrasseln. Wahrscheinlich ist es nur dieser ausbleibenden breiten und dauerhaften Mobilisierung zu verdanken, dass die Gewaltbilanz nicht noch dramatischer ausgefallen ist. Doch es waren immer noch genügend Aktivisten im Revier, für die Brutalität kein Fremdwort war. Dass man ihnen Freikorpsführer und Wehrverbände an die Seite stellte, bändigte die Gruppen nicht. Ganz im Gegenteil, es ermunterte sie, den nationalen Kampf auszuweiten. Zur Symbolfigur und später zum Märtyrer erwuchs Albert Leo Schlageter, der sich bereits als Straßenkämpfer in der Niederschlagung des linken Ruhraufstands 1920 einen Namen gemacht hatte. Im Widerstand wirkte er vor allem in der Abwehr französischer Spitzel mit. Bestens ausgestattet durch lokale Polizeidienststellen, durchkämmte er mordend das Ruhrgebiet, stellte »Verräter« und verübte Anschläge. Am 26. Mai 1923 exekutierten ihn die Besatzer  – unter großem Protest nicht nur aus dem rechten, auch aus dem linken Lager. Schlageter wurde noch in Besatzungszeiten eine nationale Kultfigur, die in späteren Jahren schnell Heldenstatus mit Nationaldenkmal erlangte, allerdings nur noch in überwiegend rechten Kreisen. Die Nationalsozialisten besangen und dichteten Lobeshymnen auf ihn. Noch heute erweisen ihm Burschenschaften die Ehre. Aus den Quellen sind es immer wieder einzelne Gewaltaktionen, die hervorstechen, wie etwa Hinrichtungen, Mord- und Sprengstoffanschläge. Auch tragische Vorfälle, die sich aus der aufgeheizten Besatzungssituation und Gewaltspirale ergaben, waren keine Seltenheit. Wie etwa der blutige Karsamstag, als sich am 31. März 1923 französische Soldaten aus einer Werkshalle auf dem Krupp-Gelände den Weg freischossen und dabei 13 unbewaffnete Demons­tranten töteten. Der Aufschrei war groß, zumal die Franzosen den Fall nicht aufklärten, sondern Krupps Führungsetage verantwortlich machten und verhafteten. Zugleich erkennen wir auf der Seite Frankreichs das ständige Bemühen, jegliche Kriegsassoziation zu vermeiden. Wer die Deutschen als Feinde bezeichnete, den ermahnte Poincaré höchstpersönlich. Auch sollte nicht der Eindruck entstehen, dass man sich nun für das rächen würde, was die deutschen Besatzer während des Krieges den Franzosen angetan hatten. Je offensiver man das jedoch betonte, desto mehr entstand der Eindruck, dass genau dies der Fall

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68 Nicolai Hannig war. Immer wieder platzte es aus den Besatzern heraus. So nahm ein französischer General nach der Ermordung zweier französischer Soldaten in Buer den dortigen Bürgermeister fest und drohte, ihn auf der Stelle exekutieren zu lassen, sollte sich so etwas noch einmal ereignen. Sein Vorgehen rechtfertigte er mit einem Verweis darauf, dass deutsche Generäle im Ersten Weltkrieg unbeteiligte Franzosen für weitaus geringere Vergehen hingerichtet hätten. Das »Kriegserlebnis« war während der Ruhrbesatzung stets präsent, auch wenn die französische Regierung solche Aussagen scharf verurteilte und nichts davon wissen wollte, dass Soldaten und Offiziere ihr Handeln auf die eigenen Kriegserfahrungen zurückführten.10

Französische Besatzungstruppen auf der Bahnhofstraße [Gelsenkirchen] bei ­einer Gedenkfeier an deutsche und französische Gefallene organisiert durch Etienne Bach, 11.11.1923.

Den Kriegserfahrungen geschuldet war sicher auch das Vorgehen der Schwerindustrie an Rhein und Ruhr. Die Lage war zunächst diffus: In einer Nachtund-Nebel-Aktion hatte das Rheinisch-Westfälische Kohlesyndikat am 9. Januar seinen Sitz nach Hamburg verlegt. Als die Besatzer eintrafen, fanden

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sie weder Personal noch Unterlagen. Thyssen, Krupp sowie Vertreter der Reichsbahn und der Handelskammer waren besser vorbereitet als das Syndikat. Sie zählten zu den wenigen, die konkrete Pläne entwickelt hatten, was sie im Falle einer Besatzung zu tun gedachten, um zu vermeiden, dass Franzosen und Belgier sie wirtschaftlich ausbeuteten. In ihren Schubladen hatten sie Anordnungen, wann die Arbeit niederzulegen sei, wie man sich den Besatzern gegenüber verhalten sollte und welche Verkehrswege und Maschinen zu zerstören waren, um eine Vorteilsnahme Frankreichs auszuschließen. Fritz Thyssen plante zwischenzeitlich sogar, eine Privatarmee zu finanzieren, die er gegen die Besatzer aufmarschieren lassen wollte. Doch seine Rolle war zwiespältiger, als es auf den ersten Blick scheint. Denn andererseits waren Thyssen und Krupp wohl auch nicht abgeneigt, gegen entsprechende Zahlungen an die Besatzer zu liefern. Als die französische Besatzungsmacht am 20. Januar 1923 Fritz Thyssen und einige seiner Mitarbeiter gefangen nahm und zu einer Geldstrafe verurteilte, kam es in den Ruhrgebietsstädten zu massiven Protesten. Manch einer wird sich verwundert die Augen gerieben haben, als plötzlich Arbeiter auf die Straße gingen und sich für einen Ruhrindustriellen einsetzten. Nach dessen Freilassung säumten sie sogar die Bahngleise und bejubelten die Rückkehr Thyssens.11 Das Ruhrgebiet wirkte vereint wie noch nie, alte Arbeitskämpfe schienen vergessen. Nationalismus und Lohnzahlungen aus Berlin waren der Kitt, der die Arbeiter zusammenhielt. Die Besatzer hingegen mussten feststellen, dass es ihnen nicht gelungen war, die Ruhrindustrie auf ihre Seite zu bringen. Stattdessen forderten sie in Paris Verstärkung an. Unter den Arbeitern herrschte in den ersten Monaten der Besatzung eine Geschlossenheit und vor allem Ausdauer, die selbst für Streiks im Ruhrgebiet außergewöhnlich war. Wer sich nicht auf Linie befand, dem halfen die Kollegen in Sachen Solidarität nach und gaben Nachhilfe in Patriotismus. Ein ernst zu nehmendes Problem für die Ruhrkämpfer waren nämlich die Verführungen der Besatzer, die mit hohen Löhnen in stabiler Währung Arbeiter zurück in die Fabriken lockten, übrigens nicht nur die angestammte Belegschaft. Auch außerhalb der Besatzungszone suchten sie nach Arbeitskräften. Daher zählte die Zonengrenze bald zu den bestbewachten Regionen der Weimarer Republik, bewacht vor allem von deutschen Grenzschützern, die Arbeitswillige abfingen und als Verräter in Schutzhaft nahmen, während die Besatzer innerhalb der Zone immer mehr deutsche Dienststellen entmachteten.12

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Le Journal (Nr. 11060) / Flugblatt an die Werktätigen Westfalens über die ­angebliche Brutalität und Absichten der französischen Regierung.

II. Unter diesen Voraussetzungen entwickelten sich im Krisenjahr 1923 die Straßen des Ruhrgebiets zu einem Schauplatz des Widerstands und gewalttätiger Besatzungskonflikte. Aber dabei blieb es nicht. Zugleich wurden sie zu einem Ort brutaler Selbstjustiz, die vermeintliche Ehrverletzungen und Kollabora­ tionen ahndete. Der Ausnahme- und Besatzungszustand waren die Grundlage dafür. Sie ließen Strafrituale aufleben, die an alte Gewalttraditionen anknüpften, an Femegerichte, Charivaris, Katzenmusiken und andere Brauchtümer. Diese Auseinandersetzungen unter Deutschen sind ein Gewaltkapitel der

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­ esatzungsjahre, das die ansonsten detailreichen zeitgenössischen DarstellunB gen gerne aussparten.13 Die Besatzungsmächte hatten der deutschen Polizei bereits kurz nach ihrem Einmarsch untersagt, Amtshandlungen vorzunehmen. Daher versuchten Selbstschutzformationen als ›Notpolizei‹, Ruhe und Ordnung, wie sie es nannten, aufrechtzuerhalten. Diese Ruhrkampforganisationen wie etwa die Z ­ entrale Nord oder der Vaterländische Überwachungsausschuss Dortmund arbeiteten teils im staatlichen Auftrag, teils aber auch auf eigene Faust. Ihnen ging es in erster Linie darum, die Ruhrbevölkerung zu überwachen und für in ihren Augen unehrenhaftes Verhalten zu bestrafen. Dazu suchten sie dezidiert die Nähe zur mittelalterlichen Feme, einer meist heimlichen Prozessform, und reklamierten für sich, Traditionen westfälischer Freigerichte aufzugreifen, die im 15. Jahrhundert in Dortmund ihren Hauptsitz hatten. Reaktiviert hatten das Femekonzept bereits kurze Zeit zuvor Rechtsterroristen, die mit Mordserien die Republik zu destabilisieren versuchten – mit Walter Rathenau und Matthias Erzberger als ihren prominentesten Opfern. »Wir werden uns in der Verfolgung und Verurteilung von Volksverrätern nicht beirren lassen! Ihr seid nicht straffrei! Wir wachen und strafen! Die Feme«, hieß es 1923 auf einem Plakat selbst ernannter Überwacher. »Volksverräter« waren in ihren Augen all diejenigen, die sich mit den Besatzern einließen, für sie arbeiteten, sie in Gaststätten bedienten oder Beziehungen mit ihnen eingingen. Aktionen dieser Gruppierungen zielten zumeist darauf ab, Menschen, besonders Frauen, öffentlich zu demütigen und zu beschämen. Das geschah auf zweierlei Weise: Erstens setzten sie auf öffentliche Denunziationen und Pranger. Eigens aufgelegte Zeitungen wie der Beobachter an der Ruhr, aber auch viele andere Zeitungen wie das Essener Freie Wort veröffentlichten die Namen und Adressen vermeintlicher Kollaborateure und zeigten ein in ihren Augen unehrenhaftes Verhalten an. Hinzu kamen entsprechende Flugblätter, Annoncen und Broschüren, die martialisch vor Abstrafungen warnten. Zweitens kam es wiederholt zu tätlichen Übergriffen  – meist auf offener Straße. Die Fälle sind nur schlecht dokumentiert.14 Auch die revanchistische Ruhrkampfliteratur ging hier selten ins Detail, obwohl sich in fast allen Werken allgemeine Hinweise auf diesen »Ehrenkampf« fanden. Das mag überraschend sein, rühmten sich die Autoren doch zumeist als ehrbare Nationalisten, die während der Besatzung die Anständigkeit der Deutschen verteidigt hätten. Aber offensichtlich war es schon wenige Jahre später nicht mehr opportun,

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72 Nicolai Hannig seine Heldenhaftigkeit dadurch auszudrücken, dass man in größeren Gruppen vermeintlich unehrenhafte Frauen gewaltsam demütigte. Zudem ist davon auszugehen, dass es den Anhängern des Ruhrkampfs unvorteilhaft erschien, solche Taten en détail zu schildern. Den meisten offiziösen Darstellungen zur Geschichte des Ruhrkampfes ging es ja darum, das Bild einer französischen »Schreckensherrschaft« zu zeichnen. Nicht weniger »schreckliche« Taten deutscher Ruhrkämpfer passten da nicht ins Bild. Ergiebiger und vor allem detailreicher wird es, wenn wir in die zeitgenössischen Zeitungen schauen. Dort lesen wir von Arbeitern, die verprügelt werden, weil man sie verdächtigte, für die Franzosen zu arbeiten, von »Jungburschen«, die Frauen eine »ordentliche Tracht Prügel« verabreichten, von »deutschen Bürgern«, die Frauen in den Kanal warfen, von einer Männergruppe, die eine Frau in Castrop-Rauxel an eine Litfaßsäule fesselte, mit Farbe übergoss und ihr ein Schmähgedicht um den Hals hängte.15 Man trieb kahl geschorene Frauen durch die Straßen oder hängte abgeschnittene Zöpfe als Trophäe und Mahnmal an Häusern auf. Junge Männer organisierten sich eigens in sogenannten Scherenklubs, die Frauen für Kontakte zu französischen und belgischen Soldaten abstraften, indem sie ihnen die Haare abschnitten. Schere und Farbe dienten ihnen dabei als Werkzeuge und waren zugleich Symbol männlich-gewalttätiger Überwachung. Um noch mehr Schrecken zu verbreiten, schalteten die Klubs in Tageszeitungen Anzeigen im Stile einer Werbung für Friseursalons  – nur dass ihr »Angebot« nur einen Haarschnitt beinhaltete. Regionalblätter ließen sich für Aufrufe zu solchen Aktionen teils bereitwillig einspannen. So druckte etwa die Annener Zeitung mehrfach Anzeigen der Scherenklubs und Überwachungs­ organisationen: »Ehrlose Weiber! – Verräter: / Wenn Euch die feindliche Besatzungs-Behörde auch Schutz gewährt und Strafffreiheit verspricht, seid dessen eingedenk, daß wir rücksichtslos Euer ehrvergessenes Benehmen unsern Feinden gegenüber öffentlich brandmarken und richten werden. Ehrlose Weiber! Seid gewarnt! … Wir walten, wachen, richten! Die Fehme [sic].«16 Neu waren solche Praktiken sicher nicht. Schon in früheren Jahrhunderten hatte es ganz ähnliche Ehrstrafen gegeben, vor allem in dörflichen Gemeinschaften und zumeist gegen Frauen. Aber es gab auch weniger weit zurückliegende Anknüpfungspunkte. Bereits während des Ersten Weltkriegs stellten einzelne Denunzianten Frauen in aller Öffentlichkeit an den Pranger, die zum Beispiel Beziehungen mit Kriegsgefangenen eingegangen waren, und d ­ iffamierten sie als

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Vaterlandsverräterinnen. Doch die Menge und Brutalität solcher Aktionen während der Ruhrbesatzung waren von neuer Qualität. Beim Kopfscheren ging es darum, Frauen öffentlich als Glatzköpfe zu präsentieren und abzustrafen. Man entweiblichte und entpersonalisierte sie, schloss sie für alle sichtbar auf den Straßen des Ruhrgebiets aus der Gesellschaft aus.17 Halboffizielle Aufrufe in den Medien legitimierten diese Praxis, während Tatberichte mit Nennung von Klarnamen und Adressen Opfer zusätzlich peinigten und Täter in ihren Aktionen bestärkten. Die Praxis des Kopfscherens, wie wir sie vor allem aus der Zeit des Nationalsozialismus oder aus dem Frankreich der Nachkriegszeit 1944/45 kennen, war also nichts Neues. Vielmehr war das Kahlscheren im Europa des 20. Jahrhunderts ein typisches Strafritual in und nach Besatzungssituationen. Aber warum konnten Gewaltaktionen wie diese überhaupt auf offener Straße stattfinden? Ein weitverbreiteter Nationalismus, unterfüttert durch die Ruhrkampfpropaganda, Verhaftungen wie die von Thyssen oder repressive Aktionen der Besatzer, war die ideologische Grundlage. Hinzu kam Neid, denn den Personen, die sich mit den Besatzern gut gestellt hatten, ging es in Zeiten des Hungers, der Wohnungsnot und Armut sehr schnell und sichtbar besser – zumindest in den Augen ihrer Denunzianten. Ferner sprach aus den Demütigungen eine gewisse Abneigung gegenüber der Emanzipation junger Frauen, die sich ihre Männer – und noch dazu die feindlichen – selbst aussuchten. Die sexuelle Selbstbestimmtheit, die sich die verhassten »Franzosenliebchen« offenbar zu eigen gemacht hatten, entsprach in den Augen der selbst ernannten Sittenwächter allzu sehr dem verkommenen Geist der jungen Weimarer Republik, die man nicht nur politisch, sondern auch kulturell so schnell wie möglich beseitigen wollte. In deutschen Regierungskreisen billigte man solche Aktionen und ging nur in den seltensten Fällen gegen sie vor. Dadurch destabilisierte sich zugleich das Vertrauen in die Behörden, weil sie offensichtlich Aufgaben der Exekutive an gewaltbereite Bünde delegiert hatten, die sich noch dazu als Republikfeinde gerierten. Wie in Agentenfilmen spionierten Gruppierungen wie die Organisation Heinz Personen nach, tarnten sich auf den Straßen als Spaziergänger, stellten ihre Zielobjekte und straften sie häufig noch an Ort und Stelle ab. Mehrere Faktoren begünstigten solche Übergriffe: Erstens sind hier sicherlich die unklaren Rechtsverhältnisse durch die Besatzung zu nennen. Die allerwenigsten Vergehen wurden geahndet, somit konnten die Täter weitgehend ­gefahrlos vorgehen. Zweitens hatten deutsche Regierungsverantwortliche auf verschiedenen politischen Ebenen rechtsstaatliche Prinzipien preisgegeben

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74 Nicolai Hannig und der Selbstermächtigung national gesinnter Kleingruppen freien Lauf gelassen. Drittens sorgte die auf den Straßen und in der Öffentlichkeit stets präsente Gewalt dafür, dass Täter ihr Verhalten damit rechtfertigten, nur auf die Verrohung anderer zu reagieren, mal die der Besatzer, mal die deutscher Ruhrkämpfer. Unter den Widerständlern spielten neben nationalistischen Motiven viertens auch Abenteurerfantasien und Männlichkeitsideale eine Rolle. Nachdem sie die Besetzung nicht abwehren konnten und deutsche Frauen vermeintlich dem Feind überlassen mussten, glaubten sie, ihre Herrschaft über die Frauen wiederherstellen zu müssen. Fünftens schließlich sind die Gewaltaktionen des Widerstands als Kampf um Hoheitsansprüche auf den Straßenraum zu verstehen. Über öffentliche Lynchaktionen versuchten Widerständler, ihren Raum an Rhein und Ruhr zurückzuerobern.

III. Mit dem offiziellen Ende des Widerstands, das der neue Reichskanzler Gustav Stresemann am 26. September 1923 verkündete, beruhigte sich jedoch das Gewaltgeschehen zumindest fürs Erste. Mit dem Dawes-Plan, benannt nach dem Finanzexperten und späteren Vizepräsidenten der USA Charles G. Dawes, regelten die Siegermächte des Ersten Weltkriegs im September 1924 die Reparationszahlungen neu und gaben der deutschen Wirtschaft mit ihrer noch Ende 1923 auf den Weg gebrachten Währungsreform Zeit, sich zu erholen. Im Sommer 1925 zogen die Besatzer schließlich ab. Viele hatten nun die große Abrechnung erwartet und Schlimmstes befürchtet. Doch sie blieb aus. Dass in den Folgejahren der Besatzung nur noch wenige Übergriffe gegen vermeintliche Kollaborateure überliefert sind, ist allerdings trügerisch. Denn der in der Besatzungszeit aufgeblühte Nationalismus blieb stark. Öffentliche Denunziationen waren an der Tagesordnung. Das rechte Spektrum befand sich im Aufwind und fühlte sich durch den »Ruhrkampf« bestärkt. Die Berliner Reichsregierung hatte ihm indirekt den Boden bereitet und nur mit ansehen können, wie er Schlageter und andere zu rechtsnationalen Märtyrern und Helden machte. In München sahen Adolf Hitler und seine Gefolgschaft daher die Zeit für eine »nationale Revolution« gekommen und machten sich im November 1923 zum Marsch auf Berlin bereit. Einen Monat zuvor hatten bereits die Kommunisten eine Revolution in Gang zu setzen versucht. Beide Bewegungen scheiterten.18

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Auch der große Zahltag blieb am Ende aus  – für beide Seiten. Frankreich ­hatte zwar Deutschland und der Welt gezeigt, dass es bereit war, bis zum Äußersten zu gehen. Gelohnt hatte sich dieses Vorgehen jedoch nicht. Die K ­ ohleund Stahlmengen, die man sich an Rhein und Ruhr gesichert hatte, wogen bei Weitem nicht die Besatzungskosten auf. Deutschland wiederum hatte allen demonstriert, dass man keine x-beliebige Verfügungsmasse war, die sich besetzen und ausschlachten ließ. Der staatlich finanzierte Widerstand, der Streikenden Lohnfortzahlungen zusicherte und Unternehmen mit Krediten versorgte, trieb die junge Republik jedoch in die Hyperinflation und damit in den Ruin. Wer etwas gespart hatte, Arbeitnehmer oder Rentner, stand vor dem Nichts. Schuldner, Exportunternehmer und devisenstarke Konzerne waren die Gewinner. Die »sozialen Verwerfungen«, die im Krisenjahr 1923 daraus hervorgingen, schreibt der Historiker Michael Wildt, »können nicht unterschätzt werden« – genauso wenig wie die Nachhaltigkeit dieser Krisenerfahrungen.19 Was blieb, waren neben diesen Erfahrungen Praktiken der nationalistischen, teils völkischen Selbstermächtigung, die wir eher aus der Geschichte des Nationalsozialismus kennen. So übten Ruhrkämpfer mit ihren Anschlägen und Sabo­ tageaktionen nicht nur den Widerstand gegen Invasoren ein. Sie erprobten ebenso Formen aggressiver und gewalttätiger Exklusion aus einer imaginierten Ehrgemeinschaft, insbesondere gegenüber Frauen. So entstanden Verhältnisse und Stimmungen, die später ähnliche Praktiken im Rahmen der nationalsozialistischen ­Exklusions- und Gewaltpolitik vorbereiteten und ›normal‹ erscheinen ließen. Vor diesem Hintergrund zeichnet sich mehr als deutlich ab, dass die Ruhrbesetzung weit über das Krisenjahr 1923 hinauswirkte: zum einen im Alltagsleben des Ruhrgebiets, wo viele Frauen noch Jahre später Anfeindungen, Ausgrenzungen und Beschimpfungen wie »Frankenhedwig« oder »Franzosenbörse« über sich ergehen lassen mussten. Zum anderen schwappte nach der Besetzung eine zweite Propagandawelle über die Republik, die sich vor allem in den Geschichtsbüchern niederschlug und einen engen nationalen Erinnerungsrahmen schuf. Der »Ruhrkampf« reifte zu einem Fanal der Auflehnung gegen Versailles und das »Völklein an der Ruhr«, wie es der Wirtschaftsgeograf Hans Spethmann etwa ein Jahr vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs beschrieb, zu einem Vorkämpfer des Vaterlandes, das sich nun endlich aus seinen Nachkriegsfesseln befreit habe.20 Die Weimarer Republik ging am Ende tatsächlich mit gestärkter Souveränität aus der Besatzungszeit hervor. Allerdings nicht wegen, sondern trotz des gewalttätigen Ruhrkampfs.

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Anmerkungen 1 Eine gewaltige vaterländische Kundgebung in Essen, in: Dortmunder Zeitung, 11.1.1923. 2 Zit. nach Michael Wildt, Zerborstene Zeit. Deutsche Geschichte 1918 bis 1945, München 2022, S. 115. 3 Note der Französischen Regierung wegen des französisch-belgischen Einmarschs ins Ruhrgebiet vom 10. Januar 1923, gezeichnet vom französischen Ministerpräsidenten Raymond Poincaré, in: Urkunden über Besetzung und Räumung des Ruhrgebiets und die Arrêtés der französisch-belgischen Militärbefehlshaber, 2. Folge, bearbeitet von Dr. Werner Vogels, Regierungsrat im Reichsministerium für die besetzten Gebiete, 1925. Bundesarchiv R 2/50404 (online: https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/content/journal/entdecken/ aus-dem-archivportal-im-blickpunkt-beginn-der-besetzung-des-ruhrgebiets). 4 Antwortnote der Deutschen Regierung an die Französische Botschaft vom 12. Januar 1923, in: Reichstagsprotokolle, 1920/24, 33 (online: https://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt2_ w1_bsb00000060_00482.html). 5 Gerd Krumeich, Der »Ruhrkampf« als Krieg: Überlegungen zu einem verdrängten deutschfranzösischen Konflikt, in: ders., Joachim Schröder (Hrsg.), Der Schatten des Weltkriegs: Die Ruhrbesetzung 1923, Essen 2004, S. 9–24. 6 Zit. nach Benjamin Schulte, Das Scheitern »kultureller Demobilisierung« nach dem Ersten Weltkrieg: die Ruhrkrise 1923, in: Historisch-Politische Mitteilungen 19, 2012, S. 109–136, hier S. 115 f. 7 Conan Fisher, The Ruhr Crisis 1923–1924, Oxford 2003, S. 136–148. 8 Aktuelle Studien, die Zusammenhänge verstärkt aus Zeitungsartikeln rekonstruieren, laufen daher Gefahr, ein schiefes Bild zu zeichnen. So etwa bei Mark Jones, 1923. Ein deutsches Trauma, Berlin 2022. 9 Adolf Stein, Auf Erkundung im Ruhrgebiet. Ein Skizzenbuch, Berlin 1923, S. 12. 10 Stanislas Jeannesson, Übergriffe der französischen Besatzungsmacht und deutsche Beschwerden, in: Krumeich/Schröder, Schatten, S. 207–231, hier S. 220 f. 11 Felix De Taillez, Zwei Bürgerleben in der Öffentlichkeit. Die Brüder Fritz Thyssen und Heinrich Thyssen-Bornemisza, Paderborn 2017, S. 63–94. 12 Gerd Krüger, »Aktiver« und passiver Widerstand im Ruhrkampf 1923, in: Günther Kronenbitter, Markus Pöhlmann, Dierk Walter (Hrsg.), Besatzung. Funktion und Gestalt militärischer Fremdherrschaft von der Antike bis zum 20. Jahrhundert, Paderborn 2006, S. 119–130, hier S. 124 f. 13 Nicolai Hannig, Gewalt auf der Straße. Fünf Thesen zur Geschichte eines europäischen Konfliktraums seit 1800, in: Geschichte und Gesellschaft 47, 2021, S. 290–319, hier S. 304–309. 14 Einige Fälle sind zusammengetragen bei Gerd Krüger, Überwachung der Bevölkerung und »Bestrafung« nonkonformen Verhaltens während und nach der Ruhrbesetzung (1923–1926), in: Kulturwissenschaftliches Institut, Jahrbuch 1997/98, S. 264–284. 15 Gesammelt sind solche Berichte in der Broschüre: Spione, Spitzel, Verräter. Freunde und Freundinnen der französisch-belgischen Besatzung. Aus der Leidenschronik der Rheinund Ruhrbevölkerung, Essen 1926. 16 Annener Zeitung, 27.2.1923. 17 Ute Frevert, Die Politik der Demütigung. Schauplätze von Macht und Ohnmacht, Frankfurt a. M. 2017, S. 64 f., 126–129. 18 Siehe dazu die Beiträge von Christoph Dipper und Christoph Cornelißen in diesem Band. 19 Wildt, Zerborstene Zeit, S. 116. 20 Hans Spethmann, Der Ruhrkampf vor fünfzehn Jahren, in: Ruhr und Rhein. Wirtschaftszeitung vom 14.1.1938, S. 35, zitiert nach Christoph Cornelißen, Vom »Ruhrkampf« zur Ruhrkrise: Die Historiografie der Ruhrbesetzung, in: Krumeich/Schröder, Schatten, S. 25–45, hier S. 29.

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Währung in der Krise Die Hyperinflation 1923 und ­ Falladas »Wolf unter Wölfen« Eva-Maria Roelevink

Eilig aßen die Leute das lieblose Essen, eilig, weil sie eilig in die zu oft entfleckten, gewaschenen, ausgebeutelten Kleider gefahren waren. Eilig überflogen ihre Augen die Zeitungen. Es hatte Teuerungskrawalle, Unruhen und Plünderungen in Gleiwitz und Breslau, in Frankfurt am Main und Neuruppin, in Eisleben und Dramburg gegeben, 6 Tote und 1 000 Verhaftete. Daraufhin hat die Regierung Versammlungen unter freiem Himmel verboten. Der Staatsgerichtshof verurteilt eine Prinzessin wegen Begünstigung des Hochverrats und Meineids zu 6 Monaten Gefängnis  – aber der Dollar steht auf 414 Tausend Mark gegen 350 Tausend am 23. Am Ultimo, in einer Woche, gibt es Gehalt  – wie wird der Dollar dann stehen? Werden wir uns zu essen kaufen können? Für vierzehn Tage? Für zehn Tage? Für drei Tage? Werden wir Schuhsohlen kaufen, das Gas bezahlen können, das Fahrgeld –? Schnell, Frau, hier sind noch 10 000 Mark, kauf was dafür. Was, ist gleichgültig, ein Pfund Mohrrüben, Manschettenknöpfe, die S­ challplatte ›Bananen verlangt sie von mir‹  – oder einen Strick, uns aufzuhängen … Nur schnell, lauf, rasch –! 1 Als Hans Fallada, eigentlich Rudolf Wilhelm Friedrich Ditzen, einer der wichtigen Autoren der Zwischenkriegszeit, bekannt für seine Beobachtungen der Sozialmilieus im Stil der neuen Sachlichkeit, 1936 seinen Roman »Wolf unter Wölfen« geschrieben und 1937 bei Rowohlt veröffentlicht hatte, war die tiefschneidende Inflationserfahrung mit ihrem Höhepunkt von 1923 bereits vorüber. Die beispiellose Geldentwertung, die 1923 dazu geführt hatte, dass die Lohntüte (sofern man denn noch einen Arbeitsplatz hatte) mit Wäschekörben abgeholt und möglichst umgehend umgesetzt werden musste, feuchte Wände

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78 Eva-Maria Roelevink sich eher mit Noten statt mit Tapeten abdichten ließen und eine starke Verelendung der Massen ihren traurigen, wenn auch nicht letzten Höhepunkt erlebte, hatte sich tief in die gesellschaftliche Erinnerung eingebrannt. In seinen großen Romanen, besonders aber in »Wolf unter Wölfen«, kam Ditzen immer wieder auf die Währungskrise von 1923 zurück. Sie bildete den Fluchtpunkt der meisten seiner Romane. Auch darüber hinaus – bis in unsere Zeit – wird »Inflation« oft mit der Schreckenserfahrung von 1923 verknüpft.

Hans Fallada (Rudolf Ditzen), Aufnahme vom 1.1.1934

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Rudolf Ditzen (1893–1947) erlebte die in wirtschaftshistorischer Hinsicht zentralen Währungskrisen des 20. Jahrhunderts.2 Der Schriftsteller gehörte zu jener Generation, der auch Johannes R. Becher, Bertolt Brecht, Erich Kästner und Kurt Tucholsky angehörten. Sie alle wurden in den autoritären Glanz des Kaiserreichs hinein sozialisiert, erlebten den Verfall dieser Ordnung im Ersten Weltkrieg, waren konfrontiert mit der wechselhaften Zeit der Weimarer Republik und dann mit dem Nationalsozialismus. Damit erfuhr Ditzen nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich ein »Zeitalter der Extreme«.3 Von Ex­ tremen geprägt war auch Ditzens Leben. Gebeutelt von schwerer Alkohol- und Morphinsucht, verlief es allerdings – ganz anders als seine großen und erfolgreichen Romane es nahelegen – mit seinen eigenen Finanzen geradezu gegensätzlich zur allgemeinen deutschen Währungsentwicklung.

Vorher Als Ditzen zu Beginn der 1890er-Jahre in eine aufsteigende und wohlhabende bürgerliche Familie hineingeboren wurde, waren die deutschen Währungsverhältnisse noch in bester Ordnung.4 Seit 1870 war aus dem geteilten Währungsraum, Taler im Norden und Gulden im Süden, ein einheitlicher gebildet worden. Die Entscheidung für die Einführung der Goldwährung war dabei eine höchst strategische gewesen: Die deutsche Wirtschaft hatte sich bereits in den wachstumsintensiven Welthandel integriert. Der Entwicklung zum charakteristischen strukturellen Handelsbilanzdefizit standen steigende Exportraten gegenüber. Das Reich steigerte insbesondere seine Industriefertigwaren­exporte und dieserart seinen Anteil am Weltexport. Importiert wurden dagegen insbe­ sondere Getreide und Baumwolle. 1871 eingeführt, wurde der Übergang zur Goldwährung durch das Münzgesetz von 1873 vollzogen. Mit der 1875 gegründeten Reichsbank war eine Zentralbank geschaffen, deren Aufgabe es war, den Geldumlauf im Reich zu regeln, und zwar indem die Geldmenge gesteuert und die Konvertibilität der Mark in Gold von der Reichsbank gewährleistet wurde. Das Notenausgaberecht wurde in den nächsten Jahren auf die Reichsbank konzentriert. Damit stabilisierten sich die deutschen Währungs- und Finanzverhältnisse. Gleichzeitig war das Reich in das internationale Währungssystem – den Goldstandard  – eingebunden.5 Unter der Leitwährung des britischen Pfunds gehörten auch die USA, Russland und Japan dem System an.

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80 Eva-Maria Roelevink In Falladas Jugendzeit, die er u. a. in Berlin verbrachte, erhöhte der deutsche Staat auf der Grundlage dieser stabilen Währungsentwicklung seine Interven­tionstätigkeit. Damit ging eine Veränderung der Ausgabenpolitik einher. 1881 lag der Anteil der Staatsausgaben (Reich, Länder und Kommunen) bei 10,4  Prozent, bis 1913 stiegen die Staatsausgaben auf 14,5 Prozent des Anteils am Sozialprodukt an.6 Es war zum einen die Sozialversicherung, zum anderen waren es die Rüstungsausgaben, die diese Erhöhung der Staatsausgaben verursachten. Während aber Reich, Länder und Kommunen gemeinsam, wenn auch nicht gleichmäßig die Sozialausgaben schulterten, waren die Militärausgaben eine Reichsangelegenheit. Den Kern des Föderalismus bildeten das deutsche Steuer- und Finanzsystem. Das Reich erhielt seine Mittel von den Ländern, lediglich Zolleinnahmen und die Einnahmen aus Verbrauchsteuern standen allein dem Reich zu. Daher war es in seiner Ausgabenpolitik »Kostgänger der Einzelstaaten«7 – was etwa zur Schaumweinsteuer führte. Auch die nicht weniger bekannte Einführung der Tabaksteuer war in erster Linie der Versuch, die Einnahmen des Reichs zu erhöhen. Tatsächlich aber reichten die Reichseinnahmen für die Rüstungspolitik nicht aus. Als Heranwachsender bekam Ditzen von der Veränderung der Interventionstätigkeit wenig mit. Er wuchs in den Wandel hinein, zudem interessierte er sich in seiner Jugend- und Gymnasialzeit weniger für die Ausgaben von Reich und Ländern. Vielmehr zog es ihn zur romantisierenden WandervogelBewegung. Ditzens starker Individualisierungsdrang verband sich dabei mit der Entdeckung seiner Schreibbegabung und der Ablösung von seiner Familie. Bald folgten psychische Zusammenbrüche. Bei einem fingierten Duell 1911 erschoss Ditzen seinen Freund.8 Er begab sich in die Psychiatrie und erlebte dort – in der Isolation und Abgeschiedenheit der Anstalt – seine erste richtige Schaffensphase. Mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges mussten nicht nur das Militär und die Wirtschaft mobilisiert werden, auch finanziell musste mobilgemacht werden, um die Wirtschaftsleistung für die Zwecke der Kriegsführung umzulenken, und zwar dadurch, dass die Kaufkraft auf den Krieg führenden Staat konzentriert wurde, wobei zentral war, dass die Privatwirtschaft liquide blieb. Unter den Ausgabebedingungen des Kaiserreichs war das kaum möglich. Bereits im August 1914 musste daher der finanzpolitische Rahmen verändert und angepasst werden: Die Reichsbank, deren Aufgabe die Stabilisierung der Währung war, wurde von ihrer Pflicht entbunden, die ausgegebenen Noten in Gold

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­ mzutauschen. Damit hob das Reich zu Kriegsbeginn den Goldstandard de u ­facto auf. Aber nicht nur das. Gleichzeitig waren damit der Kreditvergabe an das Reich keine Grenzen mehr gesetzt. Zwar wurde auch der Kriegsschatz9 aufgelöst, mit dem man glaubte, den Krieg finanzieren zu können. Sehr schnell wurde aber klar, dass diese Reserve nicht einmal annährend ausreichte, um die gewaltigen Ausgaben für den Krieg zu schultern. Die Kriegsfinanzierung wurde auf diese Weise und schon im August 1914 auf eine Kreditgrundlage gestellt. Nennenswerte Steuererhöhungen, die eine direkte Kriegsfinanzierung durch die Bevölkerung bedeutet hätten, nahm der Staat nicht vor.10 Als Vorbild der Kriegsfinanzierung diente der Deutsch-Französische Krieg von 1870/71. Auch er war über Kriegsanleihen finanziert worden, die man mit den französischen (Gold-)Reparationen nach 1871 getilgt hatte. Allerdings sollten die Dimensionen im Ersten Weltkrieg gänzlich andere sein als die, die man 1870/71 erlebt hatte. Kriegsanleihen wurden also zum ersten Mittel der Kriegsfinanzierung. Und die Bürger zeichneten sie; nach dem Sieg  – so war es gedacht  – sollten die Schulden durch die Reparationen der Besiegten beglichen werden. Zweitens wurden kurzfristige Schuldentitel ausgegeben, die faktisch über die Notenpresse die verfügbare Geldmenge erhöhten. Diese Art der Kriegsfinanzierung wirkte schnell und hatte dazu den Vorteil, dass die einhergehenden Preissteigerungen von der Bevölkerung eher hingenommen wurden als die Kriegsfinanzierung über Steuern. Dieses Mittel der Geldbeschaffung wurde während des Krieges immer wichtiger, denn die Kaufkraft der Bürger, die die Kriegsanleihen zeichneten, war begrenzt und den finanziellen Erfordernissen der Materialschlachten nicht gewachsen. Auch Ditzens Familie, von der der junge Schriftsteller abhängig war, erwarb in der ersten Kriegshälfte in erheblichem Umfang Kriegsanleihen. Ab der zweiten Jahreshälfte 1916 überstiegen die durch Schatzwechsel finanzierten Ausgaben allerdings die gezeichneten Kriegsanleihen. Ab diesem Zeitpunkt wurde die Reichsschuld nicht mehr ausreichend konsolidiert. Der Staat druckte mehr Geld, sodass die Inflation – die stetige Erhöhung der Geldmenge – in Gang gesetzt war. Als »Inflation« blieb sie aber zunächst verdeckt; die staatlichen Preiskontrollen, die verhängten Höchstpreise für Lebensmittel zum Beispiel, bewirkten, dass die Anpassung von Geld- und Gütermenge zurückgestaut wurde. Der junge Schriftsteller Ditzen, obwohl willig, wurde nicht zum Kriegsdienst verpflichtet. Er wurde abgelehnt, nachdem er bereits 1913 für »dauernd

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82 Eva-Maria Roelevink kriegsuntauglich« erklärt worden war.11 Während des Krieges verdingte Ditzen sich dank seiner Fertigkeiten, die er in der Psychiatrie erlernt hatte, und wurde Landarbeiter. Daran schlossen sich rastlose Reiseaktivitäten zwischen Mecklenburg und Berlin an. Ditzen beobachtete auf seinen Reisen zwischen Stadt und Land die starken Unterschiede in der Lebensmittelversorgung. Tatsächlich hatte der Krieg führende Staat die Preise gedeckelt. ›Unsichtbar‹ zwischen Angebot und Nachfrage ausgehandelte Marktpreise gab es also längst nicht mehr, denn Lebensmittel wurden knapp. Die Bildung von Schwarzmärkten war die Folge. Sie waren es, die der Bevölkerung die Inflation anzeigten, und das immer deutlicher. Die Geld- und Kapitalmärkte blähten sich währenddessen auf und einige, die die Zeichen der Zeit erkannten, begannen damit, ihre Vermögen in Sicherheit zu bringen. Im Zug dieser Kapitalflucht wurde so manches Vermögen ins Ausland transferiert; der Amsterdamer Finanzplatz, der vor dem Krieg eher eine randständige Bedeutung hatte, wurde zu einem von vielen deutschen Kapitalflüchtigen bevorzugten Anlageplatz. Der empfindsame Fallada beobachte dies vom Reich aus. Gleichwohl, er wäre wohl kaum auf die Idee gekommen, seine bescheidenen Mittel zu sichern, hing er doch weiterhin am Finanztropf seiner Familie. Als der Krieg endete, war die deutsche Finanzlage ausgesprochen schlecht. Die währungspolitische Frage, die sich in Deutschland und auch in allen anderen kriegsbeteiligten Staaten stellte, lautete: Ist es sinnvoll, am erreichten Geldwert festzuhalten, oder sollte man ihn auf den Stand von vor dem Krieg zurückführen? Von den 150 Mrd. Mark, die der Krieg das Reich gekostet hatte, waren rund 100 Mrd. aus dem Ertrag der Kriegsanleihen und 50 Mrd. aus der Erhöhung der schwebenden Schuld finanziert worden.12 Die deutsche Konjunktur sprang beinahe unmittelbar nach der Umstellung von der Kriegs- auf die Friedenswirtschaft an, weil die gewählte deutsche Währungspolitik nicht dahin ging, den inflationären Preistrieb zu brechen. Die gute Konjunktur wurde dabei mit der weiterhin inflationierenden Währung erkauft. Etwaige Sozialisierungen als Folge der Novemberrevolution fielen dabei milde aus. Keineswegs bedeuteten das Kriegsende und der Beginn der Weimarer Republik einen Systemwandel in der Wirtschafts- und Währungspolitik. Vielmehr sollte die Integration in die Weltwirtschaft wieder aufgenommen werden. Der niedrige Außenwert der Mark wirkte dabei wie ein Konjunkturprogramm. Das große Problem aber bildeten die Kriegskosten, die der Staat aufgewendet hatte und die als Schuldenlast die finanzielle Neuintegration in das internationale Währungssystem erschwerten. Die deutsche Niederlage

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hatte die alte politische Ordnung abgeräumt, die internationalen Gläubiger- und Schuldnerstrukturen grundlegend verändert, während sich der Arbeitsmarkt schon durchaus vital zeigte. Ditzen vollzog nach dem Krieg gänzlich die Hinwendung zur Schriftstellerei. Er konnte dabei Nutzen aus seinem Geburtsstand ziehen und profitierte von seiner Herkunft. Im Frühjahr 1918 gewährte ihm sein Vater gar ein »Versuchsjahr« in der Schriftstellerei.13 Ditzen, der die Novemberrevolution im Unterschied zu seiner Familie gutgeheißen hatte, wenngleich er sich auch nie weitergehend politisch betätigte, betäubte seine Rast- und Orientierungslosigkeit mit Alkohol und Morphin. Der verzweifelte Vater sah sich gezwungen, die Alimentierung seines Sohnes 1919 zu verlängern. Und tatsächlich gelang Ditzen der Durchbruch; 1919 wurde er Rowohlt-Autor. Aus Rudolf Ditzen wurde Hans Fallada. Währenddessen hatten sich die Siegerstaaten gegen die Inflation ihrer Währungen und damit für einen Deflationskurs entschieden. Besonders Großbritannien führte als ehemalige Leitwährungsnation einen harten Kampf um die Sicherung des Pfunds. Großbritannien wie auch die anderen Siegermächte, vor allem Frankreich, bauten auf die Konsolidierung ihrer Kriegsschulden (insbesondere in den USA) mittels Reparationszahlungen aus dem besiegten Reich. Die deutsche Regierung stand durch diese Erwartungs- und Zwangslage und in der Angst vor einer neuen Revolution, die ein Deflationskurs aufgrund der erwartbaren hohen Arbeitslosigkeit bedeutet hätte, unter Druck und arbeitete der Inflation daher nicht entgegen. Schließlich, es klang bereits an, verbesserte die unterbewertete deutsche Mark die Position der deutschen Waren auf dem Weltmarkt. Die zurückkehrenden Soldaten konnten schnell wieder in Lohn und Brot gebracht werden. Zweifelsohne wusste die Regierung um die Folgen ihres währungspolitischen Kurses. Sie wählte aber das eine »Übel«, um »ein noch weit größeres Übel zu verhindern«.14 Und vor allem klärte sie die Bevölkerung nicht darüber auf, dass die Inflation eher Ergebnis der Kriegsfinanzierung und weniger der von den Siegermächten auferlegten Reparationen war. Denn es war der deutsche Staat, der von der Inflation am meisten profitierte: Die anhaltende Inflation bedeutete, dass die Schuld des Reichs bei seinen inländischen Schuldnern zusammenschmolz. Der Staat entschuldete sich zulasten seiner Bürger. Im Inflationsjahr 1923, als aus der schleichenden Inflation eine Hyperinflation geworden war, war die Kriegsschuld des Reichs von 164 Milliarden Mark schließlich auf 16,4 Pfennig zusammengeschmolzen.15

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84 Eva-Maria Roelevink »Irgendwie machen sie’s immer falsch«16, schrieb Fallada später. Aus Sicht der Regierung stellte sich das anders dar. Für sie war die »Besteuerungsmethode« der Inflation der Weg, der sich nicht mehr verlassen ließ.17 Auch Wilhelm Ditzen, der vor dem Krieg wohlhabende Vater des jungen Schriftstellers, hatte einen Großteil seines Vermögens eingebüßt. Der Verlust seines Vermögens sollte nicht sein einziges Problem bleiben. Noch vor der Veröffentlichung des ersten Romans »Der junge Goedeschal« 1920 musste sich sein Sohn zur Entwöhnung von Morphin und Alkohol erneut in psychiatrische Behandlung begeben.18

1923 Die Reparationen wurden nicht unmittelbar mit dem Versailler Vertrag, sondern nach dem Vertragsschluss festgelegt und dann in Umfang, Zahlungs­ weise und Zahlungsziel mehrfach angepasst.19 Unmittelbar waren Sachleistungen festgelegt worden: Lokomotiven, Waggons, Schiffe und Kohle. 1920 wurde dann eine Summe – in Goldmark – festgelegt und der erste Zahlungsplan erstellt. Bereits 1921 wurde die festgelegte Summe halbiert und die Zahlungsziele wurden verlängert. 1921 drohten die Siegermächte, sofern sich das Reich nicht an die bereits reduzierte Reparationszahlung halten sollte, das Ruhrgebiet, die industrielle Herzkammer des Reichs, zu besetzen. Das Reich als Schuldnerland und die Gläubigerländer, vor allem Frankreich, pokerten am Vorabend der Ruhrbesetzung hoch. Ab 1922 waren statt der Goldzahlungen Sachleistungen, insbesondere Kohlenlieferungen, festgelegt worden. Als das Reich sie nicht pünktlich leistete und mit seinen Kohlenlieferungen in Rückstand kam, besetzten französische und belgische Soldaten zwischen dem 11. und 16. Januar 1923 das Ruhrgebiet. Die Besatzung löste in der deutschen Bevölkerung, die ihre Notlagen auf die Reparationsansprüche der Siegermächte zurückführte, große Entrüstung aus. Die Regierung forderte die Ruhrgebietsbevölkerung zum passiven Widerstand auf und finanzierte die Bergleute und ihre Familien, indem sie erneut die Notenpresse anwarf. Das Ruhrgebiet stand still. Das hatte beschauliche Effekte. Im Ruhrgebiet verschwanden die Staubschleier und der dauernde Ruß, die Luft wurde rein. 1923 sollte als die seit Jahrzehnten beste Ernte in den Kleingärten eingehen. Der Stillstand bedeute aber auch erhebliche Produktionsausfälle und

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enorme zusätzliche finanzielle Lasten, denen nichts mehr entgegenstand. Der passive Widerstand ruinierte die alte Mark endgültig. Mit der Ruhrbesetzung wurde die Inflation zur galoppierenden Hyperinflation.

Papiergeld! Papiergeld! Zeitgenössische Illustration der Hyperinflation im ­Simplicissimus am11. Juni 1923. Die Hyperinflation zerstörte das Geldkapital. Trotzdem trafen Inflation und dann die Hyperinflation die Bevölkerung mit zu unterscheidender Härte: Die Vermögenden verloren quantitativ mehr. Sofern sie Geldvermögen besessen hatten, in der Regel alles. Diejenigen, die frühzeitig ihr Geldkapital in Sach-

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86 Eva-Maria Roelevink mittel umgemünzt hatten, konnten ihr Vermögen sichern, auch bekannt als Flucht in die Sachmittel.20 Diejenigen, die kreditfinanziert gekauft hatten, wurden zu den großen Gewinnern. Da die Regierung lange daran festhielt, dass Mark gleich Mark war, ließen sich so durchaus große Industriekonglomerate schaffen.21 Im November 1923 schließlich waren für einen Dollar 4,2 Billionen Mark zu zahlen. Damit brach der Zahlungsverkehr zusammen. Ditzen, der im Herbst 1922 mit den Erlösen aus seinen ersten Verträgen mit Rowohlt beabsichtigte, sich einen eigenen Bauernhof zu kaufen, konnte diesen »schönsten Traum« infolge der Hyperinflation zunächst nicht verwirklichen.22 Stattdessen wurde er beim Versuch, eine größere Menge Getreide seines Arbeitsgebers zu verschieben, auf einem der vielen Schwarzmärkte verhaftet. Die Inflation zehrte seinen ansehnlichen Rowohlt-Scheck auf. Wieder zog er umher, während seine ihn alimentierende Familie ihren Wohlstand nun endgültig einbüßte. Im Juli 1923 wurde Ditzen für sein aufgeflogenes Schwarzmarktgeschäft verurteilt. 1924 fuhr er für sechs Monate ein. Für den Schriftsteller Ditzen, durch seine Aufenthalte in Psychiatrien und anderen Anstalten gestählt, sollte das keine allzu schlechte Erfahrung werden, nicht zuletzt, weil ihm in der Haft das Schreiben erlaubt war. Seine Zeit in der Haft war ausgesprochen produktiv. Die Mark hatte keine Zukunft mehr. Mit der Gründung der Deutschen Rentenbank wurde eine neue Währung, die Rentenmark, eingeführt. Die Grundlage konnte Gold nicht sein, stattdessen wurde der Grundbesitz der Landwirtschaft, der Industrie und des Gewerbes mit einer Hypothek belastet. Die Sicherung der Rentenmark bestand im Volksvermögen. Ab November 1923 wurde die Rentenmark ausgegeben, der Wechselkurs zur Reichsmark betrug eins zu eine Billon. Auch Fallada musste seine Finanzverhältnisse nach der Entlassung aus der Haft umstellen. Seine Familie konnte ihn nicht mehr aushalten. Zur Einnahmequelle musste nunmehr seine Schreiberei werden. Und damit konnte er es sich auch bei Rowohlt nicht mehr leisten, am Zeitempfinden und am Geschmack der Leser vorbeizuschreiben.

Nachher Mit der Ausgabe der Rentenmark waren die Währungsverhältnisse aber längst noch nicht stabilisiert. Reichsfinanzminister Hans Luther und Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht hatten in den folgenden Monaten alle Hände voll

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zu tun, der neuen Währung Stabilität zu verleihen. Aber es gelang. Die Flucht in die Sachmittel kam zum Ende, nicht zuletzt, weil Schacht es ablehnte, dem Reich neue Kredite zu gewähren, wodurch er entscheidend zur Konsolidierung beitrug. Im August 1924 erhielt die Reichsbank schließlich ihre Souveränität. Das Problem der interalliierten Verschuldung und damit der internationalen Kriegsfolgen war damit aber nicht geklärt. Das Reich hatte sich über die Inflation nur der Verschuldung gegenüber der eigenen Bevölkerung entledigt, nicht aber die Schulden im Ausland beglichen. Dabei war die Verhandlungslage nicht schlecht, denn ohne die deutsche Währungsstabilisierung konnten wiederum Großbritannien und Frankreich ihre eigenen Währungen nicht stabilisieren. Deshalb war der Dawes-Plan von 1924 so wichtig. Hier wurde erstens eine Reduktion der deutschen Reparationsschuld festgelegt und zweitens konnte das Reich eine große internationale Anleihe aufnehmen. Diese Anleihe – 800 Mio. RM – machte den Großteil des ersten Schuldendienstes aus, der sich auf eine Mrd. Goldmark belief. Effektiv hatte das Reich also 200 Mio. Goldmark aufzubringen, um den Schuldendienst an seinen internationalen Gläubigern in Gang zu bringen. Der Dawes-Plan sorgte dafür, dass frisches Geld ins deutsche Finanzsystem floss, und half dabei, die deutsche Währung stabil zu halten. Das war ein erster Schritt, um das Problem der interalliierten Verschuldung aufzulösen, die eine gigantische Schuldner-Gläubiger-­Spirale war. Damit konnte nun, 1924, die neue Reichsmark eingeführt werden, mit der das Reich wieder über eine stabile Goldwährung verfügte. Anders als vor 1914 handelte es sich lediglich um eine Goldkernwährung; die ausgegebenen Noten waren nicht mehr wie vor dem Krieg zu einem Drittel mit Gold gedeckt. Das zentrale Problem war, dass die deutsche Handelsbilanz keine Handelsüberschüsse auswies und damit keine Einnahmen erwirtschaftete, mit denen die Reparationsschuld sich hätte abtragen lassen. In der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre war die deutsche Handelsbilanz (außer im durch den britischen Generalstreik als Ausnahme geltenden Jahr 1926) immer negativ. Die Reparationsschulden wurden deshalb nicht aus Handelsüberschüssen, sondern durch Kapitalimporte bedient, die sogenannte Kommerzialisierung der Reparationen.23 Dieser Modus ­Vivendi setzte hohe Zinsen und eine Währungsstabilität voraus, die in der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre als gegeben galt. Dieser Plan schien aufzugehen, die Industrieproduktion erholte sich. Fallada profitierte, sicherlich auch seiner Herkunft geschuldet, von den verbesserten Finanzverhältnissen – anders als viele Arbeiter und das a­ nwachsende

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88 Eva-Maria Roelevink Heer von Angestellten. Dennoch, wie die gesamtdeutschen Währungsverhältnisse, so blieben auch die Finanzverhältnisse Ditzens unbeständig. Trotz auskömmlicher Einnahmen veruntreute Ditzen Geld, um seine Morphinsucht zu finanzieren. Ein weiteres Mal wurde er verurteilt. 1926, hoch verschuldet, musste er sich erneut in Haft begeben. Ausgerechnet die »goldenen Jahre« der Weimarer Republik verbrachte Fallada in Haft. 1928 wurde er, vorläufig abstinent, entlassen. Erst 1929 traf er Ernst Rowohlt wieder. Rowohlt holte Ditzen als Redaktionsredakteur zum Verlag. Er siedelte erneut nach Berlin um, leistete im Verlag gute Arbeit, schrieb wie ein Besessener und sog gleichzeitig das soziale Elend der Stadt auf. Im Juni 1929 wurde ein neuer Zahlungsplan für die Reparationen ausgehandelt und vereinbart. Mit der Vereinbarung wurde der sogenannte Transferschutz – im Kern eine Kontrolle der deutschen Währungspolitik – aufgehoben. Ab 1929 war das Reich damit für seine Währungsstabilität wieder allein und selbst verantwortlich. Der Young-Plan wurde im Reich schlecht aufgenommen, obwohl er die Schuldenlast effektiv reduzierte und eine lange Laufzeit beinhaltete – letztlich ein Zugeständnis an das Land. Dauerhafte Wirkung entfalten konnte er allerdings nicht. Als Folge der Weltwirtschaftskrise wurde er 1932 in Lausanne aufgehoben. Tatsächlich zeigt ein Blick auf die bis dahin geleisteten Reparationszahlungen, dass es dem Reich ab 1924 gelungen war, die Reparationsschulden nicht vollständig zu zahlen. Die Zahlungen beliefen sich auf zwei bis drei Prozent des Volkseinkommens. Sie verschlangen einen wesentlichen Teil des Steueraufkommens, ein Problem, das sich im Laufe der Weltwirtschaftskrise deutlich zeigte. Am Schwarzen Donnerstag 1929 platzte die Spekulationsblase in mehreren Wellen. Das Platzen wäre verkraftbar gewesen, wenn nicht der Aktienhandel auf Krediten basiert hätte. So aber löste die Spekulationskrise eine Liquiditätskrise aus. Sie verbreitete sich auf den deutschen Aktienmärkten, war aber zunächst nur wenig spürbar. Der Zusammenbruch des US-Kreditsystems bedeutete, dass auch die amerikanischen Kapitalgeber, die dem Reich oder deutschen Kreditnehmern Geld geliehen hatten, ihre Mittel schnell flüssig machen mussten. Sie zogen ihr Kapital aus Europa und auch aus dem Reich ab und das verursachte nun eine Depression in Europa und im Reich. Direkt gefährdet waren damit die deutschen Reparationszahlungen, die ja hauptsächlich mit ausländischen Krediten finanziert waren. Deutschland wurde von der Weltwirtschaftskrise kurz, aber hart getroffen. Das Sozialprodukt pro Kopf sank rapide

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ab und lag 1932 schließlich auf dem Niveau von 1900. Nur das Hoover-Moratorium vom Sommer 1931 verhinderte eine erneute und unkontrollierbare Inflation. Der Einbruch der Industrieproduktion war dramatisch, der Einbruch der landwirtschaftlichen Produktion hingegen weniger stark. Die Nettoinvestitionen verkehrten sich ins Negative: Es wurde also mehr Kapital abgeschrieben als neues investiert. Die Arbeitslosigkeit schnellte empor. Ditzen tangierte das nicht. Er hatte sich längst für das unstete Leben als Schriftsteller entschieden. Er reagierte auf die Krise, indem er seine Erfahrungen und Beobachtungen in realistischen Romanen verarbeitete, beginnend mit »Bauern, Bonzen und Bomben«, der 1931 bei Rowohlt erschien. Das große finanzwirtschaftliche Problem war der Abzug des ausländischen Kapitals. Unter den Bedingungen des 1924 geschlossenen Dawes-Plans wäre Deutschland nicht so hart getroffen worden. Der Kapitalabfluss k­ onnte unter den Bedingungen des Young-Plans aber nicht gestoppt werden. Die ­Ergebnisse der Reichstagswahl im September 1930 verringerten das ausländische Vertrauen in die deutsche Stabilität zusätzlich. In Deutschland zeigte die Weltwirtschaftskrise nicht nur das Gesicht einer Wirtschaftskrise, sondern nahm die Form einer Zwillingskrise an: Neben die Wirtschaftskrise gesellte sich eine substan­zielle Bankenkrise. Infolge des Kapitalabzugs schmolzen die Devisenreserven der Reichsbank zusammen. Mit dem Nordwolle-Crash im Juli 1931 wurde dies zu einer Bankenkrise, die die deutschen Großbanken in den Abgrund zu reißen drohte, denn auch die Eigenkapitalquote der Banken war durch Krieg und Inflation stark zusammengeschrumpft. Deutschland hielt am Goldstandard fest, führte aber im September 1931 eine Devisenbewirtschaftung ein. Währenddessen war auch infolge des Zusammenbruchs des internationalen Währungssystems der internationale Handel eingebrochen. Für die exportierende deutsche Wirtschaft war das verheerend. Die Regierung Brüning reagierte darauf bekanntlich mit Notverordnungen. Unter den ergriffenen Maßnahmen stand auf der Einnahmenseite eine Erhöhung der staatlichen Steuereinnahmen (Lohnsteuer, Arbeitslosenversicherung und zahlreiche indirekte Steuern). Auf der Ausgabenseite wurden drastische Kürzungen an Gehältern, Pensionen, Zahlungen an Arbeitslose vorgenommen. Die sozialen Kosten dieser Deflationspolitik, die Massenverarmung besonders in den Städten, waren dramatisch.24 Auch der Rowohlt-Verlag musste kürzen.25 Als Roman über die Arbeitslosigkeit geplant, veränderte Ditzen die Handlung seines neuen Buchs während

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90 Eva-Maria Roelevink des Schreibens zu einem zukunftsoptimistischen »Zeugnis für eine Frau«.26 Als »Kleiner Mann – was nun?« 1932 erschien, wurde der Roman direkt zum Bestseller. Das Buch schilderte die Inflationserfahrung eng am just vergangenen Geschehen, vermittelte aber Optimismus. Mit dieser Veröffentlichung und auf dem Höhepunkt des sozialen Elends endete Ditzens finanzielle Not. Sein 1937 veröffentlichter Roman »Wolf unter Wölfen«, der 1937 ebenfalls zum Bestseller wurde, war dabei auch mit dem NS-Kulturbetrieb kompatibel. Denn nichts war den Nationalsozialisten lieber als Kritik an der Politik der Weimarer Republik. Auch »Wolf unter Wölfen« ließ Ditzen optimistisch mit dem Währungsschnitt von 1924 enden: Und nun erwachten sie alle. Sie erwachten aus einem wüsten, schweren, quälenden Traum. Sie standen still, und sie sahen sich um. Jawohl, sie konnten stille stehen, um sich sehen, sich besinnen. Das Geld lief ihnen nicht weg, die Zeit lief ihnen nicht weg, das Leben blieb bei ihnen.27 Tatsächlich waren die Währungsverhältnisse im Erscheinungsjahr durch die erneute Rüstungsaktivität bereits wieder arg gebeutelt. Eine neue Krise bahnte sich an. Ditzens Problem sollten die Finanzverhältnisse nicht mehr sein. Indes, auf die Inflation als Schauplatz für seine Erzählungen kam er immer wieder zurück.

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Anmerkungen 1 Hans Fallada, Wolf unter Wölfen. Roman, Berlin [1937] 242008, S. 10. 2 Einführend: Richard Tilly, Geld und Kredit, in: Gerold Ambrosius, Dietmar Petzina u. Werner Plumpe (Hrsg.), Moderne Wirtschaftsgeschichte. Eine Einführung für Historiker und Ökonomen, München 22006, S. 281–303. 3 So die berühmte Formel von Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 102010; zu den Wirtschaftskrisen s. Werner Plumpe, Wirtschaftskrisen. Geschichte und Gegenwart. Unter Mitarbeit von Eva J. Dubisch, München 2010. 4 S. einführend Carsten Burhop, Wirtschaftsgeschichte des Kaiserreichs 1871–1918, Göttingen 2011. 5 S. dazu grundlegend Barry Eichengreen, Golden Fetters: The Gold Standard and the Great Depression, 1919–1939, Oxford 1992. 6 Tabelle Staatsausgaben nach Hauptfunktionen, in: Gerd Hohorst, Jürgen Kocka u. Gerhard A. Ritter, Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch. Bd. II. Materialien zur Statistik des Kaiserreichs 1870–1914, München 21978, S. 148. 7 Zit. nach Carl-Ludwig Holtfrerich, Die deutsche Inflation 1914–1923. Ursachen und Folgen in internationaler Perspektive, Berlin u. New York 1980, S. 106. 8 Ausführlich zum Duell Ute Frevert, Ehrenmänner: Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft, München 1991. 9 Der Kriegsschatz im Juliusturm von Spandau war zunächst mit den Kriegsentschädigungen der Franzosen aus dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 angelegt worden. Die französischen Kriegsentschädigungen hatten fünf Mrd. Franc betragen; 1914 umfasste er etwas über 200 Mio. Mark in Gold und Silber. Das konnte den Krieg nur wenige Tage finanzieren; insgesamt beliefen sich die Kosten für den Krieg auf 160 Mrd. Mark; Holtfrerich, Inflation, S. 10, 109 f. 10 In Großbritannien wurden Steuerquellen genutzt (20 bis 30 Prozent), dagegen wurden die Kriegskosten in Deutschland lediglich zu null bis sechs Prozent über die Besteuerung aufgebracht; Holtfrerich, Inflation, S. 105. 11 Zit. nach Jenny Williams, Mehr Leben als eins. Hans Fallada Biographie. Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser, Berlin 2002, S. 56. 12 Holtfrerich, Inflation, S. 114. Dabei wurde das deutsche Volksvermögen vor 1914 von Helfferich auf rund 300 Mrd. Mark geschätzt, ebd., S. 123. 13 Zit. nach Williams, Mehr Leben, S. 71. 14 Zit. des Hamburger Bankiers Friedrich Bendixen zum gewählten Inflationskurs, in: Holtfrerich, Inflation, S. 130. 15 Gerold Ambrosius, Von Kriegswirtschaft zu Kriegswirtschaft (1914–1945), in: Michael North (Hrsg.), Deutsche Wirtschaftsgeschichte. Ein Jahrtausend im Überblick, München 22005, S. 287–355, S. 311. 16 Hans Fallada, Der Eiserne Gustav. Roman, Berlin [1938] 22014, S. 456. 17 Zitat in Holtfrerich, Inflation, S. 134. 18 Williams, Mehr Leben, S. 77, 84. 19 S. Tabelle 29 (Reparationsleistungen des Deutschen Reiches bis 31.08.1923), in: Holtfrerich, Inflation, S. 145. 20 »Inflationen sind daher als Perioden anzusehen, in denen finanzwirtschaftliche Tüchtigkeit mehr wert ist als Stand oder Vermögen, in denen der Staat einen Teil seiner finanzpolitischen Autonomie an die Staatsbürger abgibt, unter denen die in wirtschaftlichen und finanziellen Dingen Tüchtigsten es erreichen, Subventionen oder Gewinne an sich zu ziehen, die die Inflation als Steuer bei anderen eintreibt.« (Holtfrerich, Inflation, S. 117).

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92 Eva-Maria Roelevink 21 Etwa das von Hugo Stinnes: Gerald D. Feldman, Hugo Stinnes. Biographie eines Industriellen 1870–1924 (aus dem Englischen übersetzt von Karl Heinz Siber), München 1998. 22 Zitat in: Williams, Mehr Leben, S. 91. 23 S. Tabelle 31: Anteil der Reparationszahlungen am deutschen Volkseinkommen und deutscher Kapitalverkehr mit dem Ausland 1925–32, in: Holtfrerich, Inflation, S. 151; zum »Reparations-Recycling« ausführlich Albrecht Ritschl, Deutschlands Krise und Konjunktur 1924–1934. Binnenkonjunktur, Auslandsverschuldung und Reparationsproblem zwischen Dawes-Plan und Transfersperre, Berlin 2002. 24 Vgl. Ritschl, Deutschlands Krise. 25 Williams, Mehr Leben, S. 155 f. 26 Zitat in: Williams, Mehr Leben, S. 157. 27 Fallada, Wolf unter Wölfen, S. 719.

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Kampf dem ›Wucher‹ ­ tadt-Land-Konflikte während S der Hyperinflation

Dieter Schott

Die Drohung mit dem ›roten Hahn‹ Ende November 1923 weigerten sich Allensbacher Bauern, von Hamsterern aus Konstanz Papiermark zur Bezahlung der landwirtschaftlichen Produkte entgegenzunehmen. Die Hamsterer drohten darauf den Bauern mit dem »roten Hahn«, das heißt damit, den Hof oder Nebengebäude in Brand zu stecken. Die Bauern aus Allensbach, einem damals kleinen Dorf etwa 15 km von Konstanz entfernt, am Untersee an der Bahnlinie gelegen, nahmen diese Drohung immerhin so ernst, dass sie nachts eine bewaffnete Sicherheitswache zum Schutz ihrer Höfe aufstellten.1 Offenbar blieb es bei der Drohung, aber die Episode zeigt doch, wie angespannt die Beziehung zwischen städtischen Verbrauchern und ländlichen Erzeugern auch in einer sonst eher nicht durch große Sozialkonflikte geprägten ländlichen Region an der Grenze zur Schweiz war. In diesem Beitrag werde ich untersuchen, wie sich die Hyperinflation auf das Stadt-Land-Verhältnis auswirkte. Dabei nutze ich Beispiele aus Südbaden, der Grenzregion um Konstanz, sowie aus Bayern, insbesondere dem Raum um München.2 Zum Verständnis der Dynamik der Hyperinflation, so die These, reicht es nicht aus, sich auf die eigentliche ›Hyperinflation‹ zu beschränken. Die Hyperinflation bildete vielmehr Abschluss und krisenhafte Zuspitzung einer fast zehnjährigen Geschichte von Spannungen und Projektionen zwischen Stadt und Land, die sich in erster Linie um die Lebensmittelversorgung drehten. Dabei war immer wieder der Vorwurf des ›Wuchers‹ zentral, der die populäre Form der Inflationsverarbeitung bildete.

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Lebensmittelversorgung und Mangel Seit Kriegsbeginn im August 1914 war die Lebensmittelversorgung eines der großen und letztlich katastrophal ungelösten Probleme der Kriegszeit für die Mittelmächte, die durch die Fernblockade der Entente recht erfolgreich von Importen abgeschnitten wurden. Im Vergleich zur Friedenszeit standen nur etwa drei Viertel der Lebensmittel zur Verfügung, vorübergehend – etwa im berüchtigten Steckrübenwinter – noch deutlich weniger. Andererseits musste aber ein Viertel der Bevölkerung keine wesentliche Einschränkung ihres Ernährungsstandards hinnehmen, die rund acht Millionen Soldaten und die etwa gleich starke landwirtschaftliche Bevölkerung.3 Um die verbleibenden Lebensmittel zu verteilen, baute der Staat ab 1915 ein immer umfassenderes System der Erfassung, Verteilung und preislichen Überwachung der Lebensmittel auf, zeitgenössisch ›Zwangswirtschaft‹ genannt. Dieses System erwies sich jedoch als unfähig, die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrung einigermaßen gerecht und ausreichend zu gewährleisten. Für die Landwirtschaft brachte die Bewirtschaftung eine zunehmend intensive Kontrolle der bäuerlichen Wirtschaft, allerdings ohne dass diese Kontrolle jemals vollständig sein konnte. Den Höfen wurden Abgabemengen für ihre wichtigsten Erzeugnisse auferlegt, die Bauern fanden dennoch hinreichend Gelegenheit, einen Teil ihrer Produkte für eigene Zwecke abzuzweigen. Sie verwendeten diese zum Selbstverbrauch, teilweise aber auch zum Verkauf an illegale Händler, häufig Schleichhändler oder Schieber genannt, die jenseits des offiziellen Zwangswirtschaftssystems Agrarprodukte aufkauften. Zudem verkauften die Landwirte auch – was eigentlich nicht statthaft war – an städtische Verbraucher, die in großer Zahl auf die Höfe kamen, um dort im offiziellen Verteilungssystem rare oder nicht vorhandene Produkte wie Butter, Eier, Käse, Milch und Fleisch zu ›hamstern‹. Gefördert wurde dieser ›Lebensmitteltourismus‹4 durch die nur zögerliche Anpassung der Bahntarife an die Geldentwertung. Dieser schwarze und graue Markt hatte erhebliche Dimensionen; während des Steckrübenwinters 1916/17 sollen 30–50 % der Lebensmittel dort gehandelt worden sein. Betroffen von der Ernährungsmisere waren in erster Linie die Städter als primäre Lebensmittelkonsumenten und dort vor allem diejenigen, die aufgrund ihres niedrigen Einkommens und ihrer sozialen Position kaum zusätzliche Mittel für den Kauf von Lebensmitteln aufbringen konnten; die Historikerin ­Belinda Davis spricht in ihrer Studie über die Lebensmittelversorgung Berlins von den

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»minderbemittelten Frauen«.5 Städter mit höherem Einkommen oder mit Wertsachen, die versilbert werden konnten, konnten dagegen auf dem städtischen Schwarzmarkt oder beim Hamstern auf dem Land ihre Ernährungssituation etwas verbessern. Das änderte jedoch nichts daran, dass die mangelhafte Versorgung und die organisatorischen Probleme zur Quelle umfassender Konflikte wurden, die letztlich zu einer grundlegenden Delegitimierung des Staates beitrugen. So wurden etwa die im Laufe des Krieges immer länger werdenden Schlangen vor den Lebensmittelgeschäften, auch ›Kriegs­polonaisen‹ genannt, oft zum Austragungsort der aufgestauten Erbitterung. Vor allem Frauen, ohnehin für die Versorgung der Familien zuständig, beteiligten sich am Plündern von Verkaufsständen und an gewaltsamen Preisreduzierungen.

Kampf dem Wucher Seit Kriegsbeginn versuchte der Staat mit Gesetzen und Verordnungen, etwa dem Höchstpreisgesetz vom 4. August 1914 oder der Preistreibereiverordnung vom Juli 1915, den Handel vor allem mit Lebensmitteln zu regulieren; das Fordern höherer Preise als der amtlich zugelassenen wurde unter Strafe gestellt. Es war verboten, Waren mit spekulativer Absicht zurückzuhalten und Preise zu fordern, »die unter Berücksichtigung der gesamten Verhältnisse, insbesondere der Marktlage, einen übermäßigen Gewinn enthielten«.6 Diese Vorschrift war unter den Bedingungen der Geldentwertung höchst problematisch, denn die Verkäufer mussten ja in der Regel, wenn sie Ersatzware bestellten, einen höheren Wiederbeschaffungspreis bezahlen. Und auch die Landwirte als Primärproduzenten mussten für ihre Produktionsmittel, sofern sie Düngemittel, Futter, Saatgut oder landwirtschaftliche Maschinen und Gerät einkauften, höhere Preise bezahlen, falls diese überhaupt erhältlich waren. Wurden die Produkte aufgrund des höheren Wiederbeschaffungspreises zu einem höheren Preis verkauft, dann entstand nominal vielleicht ein höherer Gewinn, der sich aber angesichts der Geldentwertung als fiktiv herausstellte. Tatsächlich sank bei vielen Handelsgeschäften im Krieg die Kapitalausstattung. Der Begriff des Wuchers als Straftatbestand geht historisch zurück auf das kanonische Zinsverbot des Mittelalters, das nur für Juden und Lombarden nicht galt. Daher schwingt im Wucherbegriff häufig eine Vorstellung vom ›­wucherischen Juden‹ mit. Antisemitismus war, wie wir noch sehen werden,

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96 Dieter Schott ein Grundton des ›Kampfs gegen den Wucher‹. In der Frühen Neuzeit wurde der Wucher dann durch Zinstaxensysteme und Preistaxen reguliert, nur das Überschreiten der dort zulässigen Zinsen galt dann als ›Wucher‹. Im Zeichen des Liberalismus und der Gewerbefreiheit wurde der Tatbestand des Wuchers vorübergehend vollständig aufgehoben, das Reichsstrafgesetzbuch von 1871 kannte keinen Wucher mehr. Allerdings hielt dieser bedingungslose Liberalismus nicht lange vor, bereits 1880 wurde wieder der Straftatbestand Kreditwucher als § 302 a–d ins Strafgesetzbuch aufgenommen und 1893 auf alle Rechtsgeschäfte erweitert.7 Am Vorabend des Weltkriegs bezog sich Wucher strafrechtlich in erster ­Linie auf Kreditgeschäfte, aber im Zuge der staatlichen Preisüberwachung während des Krieges und danach wurde ›Wucher‹ immer stärker zum Synonym für übermäßig hohe Preisforderungen. Zugleich wurde aus dem individuellen Wucher der Vorkriegszeit, der Einzelne übervorteilt hatte, ein ›Sozialwucher‹, der letztlich – so der Vorwurf – die Gemeinschaft insgesamt schädigte.8 Aber was war ›übermäßig‹, was war ein ›angemessener‹ Preis? Die Wuchergesetzgebung stellte ein ökonomisch rationales Verhalten, das die höheren Wiederbeschaffungskosten berücksichtigte, tendenziell unter Strafe. ›Teuerung‹, die aus dem Missverhältnis von unzureichendem Angebot und aufgeblähter Nachfrage resultierte, wurde so von einem makroökonomischen Ungleichgewicht zu einem moralischen Fehlverhalten uminterpretiert. Die Wut über die Mangelversorgung fokussierte sich in der Öffentlichkeit auf die ›Sozialfiguren‹ des ›Wucherers‹, ›Schiebers‹ und ›Spekulanten‹, die als öffentliche Feinde galten. »Der Typus des Spekulanten«, interpretiert der Historiker Martin Geyer, war »nichts anderes als ein Kürzel, mit dem die ›verkehrte Welt‹ der Nachkriegszeit gleichermaßen erklärt wie verdammt wurde«.9 Der in vielen Filmen, Bildern und Romanen dargestellte Typus des Spekulanten zeichnete sich durch überelegante Kleidung aus, fuhr Auto, unterhielt Frauen mit Bubikopf. Häufig wurde er auch als polnischer oder jüdischer Emporkömmling porträtiert, er war ungebildet, aber schlau, wusste, die Gesetzeslücken und Schlupflöcher der Zwangswirtschaft für sich zu nutzen. Er lebte in Saus und Braus, prasste in Schlemmerlokalen, kaufte moderne Kunst, ging in Varietés Tango und Schieber tanzen.10 Er verkörperte den Parvenü par ­excellence, der mit Glück, Skrupellosigkeit und seiner Fähigkeit, mit Geld und dem sich verändernden Geldwert umzugehen, seinen Aufstieg gemacht hatte. ­Natürlich gab es solche Figuren tatsächlich. Die Zeitumstände schufen r­ eichlich

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Gelegenheit für deren Aufstieg, zugleich war das Stereotyp des Profiteurs auch in den Köpfen der Bevölkerung präsent. Auch ein Intellektueller wie Thomas Mann war nicht frei davon. Er beschrieb einen Kunsthändler, von dem er 1919 zur Geldanlage Kunstwerke kaufte, so: »Der Mensch, blond-jüdisch und elegant, Mitte dreißig, mit Monokel und fetten, weißen, manikürten Händen, in gesteppter Hausjacke und Lackhausschuhen, wunderbar als Typus des international-kultur-kapitalistischen Schiebertums.«11

Brennholzwucher rettet Jan Hus. Der Grafiker Benno Eggert schlägt in einem 1922 ausgegebenen Notgeldschein der Stadt Konstanz einen großen historischen Bogen zwischen der ­Verbrennung des böhmischen Reformators Jan Hus beim Konstanzer Konzil 1415 und dem aktuellen Brennholzwucher. Er spekuliert in Reimform, dass Hus heute angesichts der exorbitanten Brennholzpreise die Hinrichtung ­erspart geblieben wäre: »O Huss, um deines Glaubens Lehr / würdst du heut nit ­verbronnen mehr / dieweil durch schnöden Wuchers List / das Brennholz viel zu teuer ist.« Nach dem Ende des Weltkriegs wurde die Zwangswirtschaft sukzessive abgebaut, zugleich wurde aber die Wucherbekämpfung nicht beseitigt, in Reaktion auf Versorgungskrisen und Teuerungswellen wurden sogar neue Verordnungen beschlossen. In Bayern drohte eine Verordnung vom Herbst 1920 für Preis-

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98 Dieter Schott treiberei mit »Zuchthaus und Geldstrafen in der Höhe von 100 000 bis einer Million Mark, der Einziehung des Vermögens sowie dem Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte.«12 Der ›Kampf gegen den Wucher‹ hatte propagandistisch eine enorme Bedeutung, zunächst ging aber die tatsächliche Zahl der vor Wuchergerichten verhandelten Fälle seit Sommer 1920 konstant zurück, einmal wegen der vorübergehenden Stabilisierung der Währung, zum anderen, weil sich seit Aufhebung der internationalen Blockade gegen Deutschland nach Annahme des Versailler Vertrags die Versorgungslage durch Lebensmitteleinfuhren doch etwas verbesserte. Anfang 1923 verschärfte sich der Kampf gegen Wucher, als die Gewerkschaften die Reichsregierung drängten, im passiven Widerstand gegen die Ruhrbesetzung initiativ zu werden.13 Konkret schlug man vor, Konsumentenvertreter zur Preiskontrolle beizuziehen, Standgerichte ohne Revision einzurichten, Marktgerichte zu etablieren, ›Wucherer‹ an den Pranger zu stellen und ihre Namen in der Presse zu veröffentlichen.14 In einer Rede vor den Ministerpräsidenten forderte Reichskanzler Cuno daraufhin diese dringend auf, gegen öffentliche Missstände wie Alkoholmissbrauch, Luxussucht, Wucher und Spekulation vorzugehen.15 In Umsetzung dieser Leitlinie formulierte der badische Generalstaatsanwalt Ende Februar, als die Preise nicht im Einklang mit dem vorübergehend gesunkenen Dollarkurs zurückgingen, eine – wie ich dies nennen möchte – ökonomische Moral der Opfergemeinschaft: Weniger denn je dürfen in dieser Zeit der allgemeinen Not ­einzelne Gruppen für sich beanspruchen, daß ihre Sachwerte, ihre ­Lagerbestände, ihre Kapitalien in ihrem Wert erhalten bleiben; jeder Einzelne muß vielmehr an den Opfern der Gesamtheit teilnehmen. Wer anders denkt und handelt, versündigt sich am Volksganzen und beutet seine Volksgenossen aus; er bestiehlt sie genau so wie ein gemeiner Dieb. Im Kampf gegen die Preistreiber, Wucherer und Schieber stehen die Staatsanwaltschaften in vorderster ­Reihe. Sie müssen mit allen Mitteln dafür sorgen, daß diese Schädlinge rücksichtslos bestraft und öffentlich gebrandmarkt werden.16 Den Worten folgten Taten: Anfang März 1923 wurde bei der Staatsanwaltschaft Konstanz eine Wucherabteilung gebildet, die Bevölkerung gebeten, wucherisches Verhalten anzuzeigen. Als Mitte März das Wuchergericht – nach einem Jahr Pause  – wieder tagte, konstatiert die Presse vor allem ein mangelndes

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Schuldbewusstsein der Angeklagten. Typisch seien Aussagen wie »Die anderen bezahlen auch so viel, oder haben auch so viel bekommen«, oder »Ich will keinen Verlust erleiden, die anderen sollen schauen, wie es ihnen geht« gewesen.17 Die vom Generalstaatsanwalt geforderte ›Opfergemeinschaft‹ ließ sich also bei den Angeklagten nicht nachweisen. Das Wuchergericht hatte gut zu tun, wegen zahlreicher Anzeigen tagte es bald wöchentlich. ›Wucher‹ hatte schon kulturell bedingt eine antisemitische Tendenz. Nicht selten wurde in der bürgerlichen Presse en passant oder mit Emphase darauf verwiesen, dass Spekulanten, Profiteure oder Wucherer Juden seien. Im Februar 1923 notierten die ›Konstanzer Nachrichten‹ im Hinblick auf Fleischpreise und die Rolle von Viehaufkäufern im Dienst der französischen Besatzungsmacht: »Wenn irgendwo ein Schlachtochse steht, erscheinen sofort, teilweise im Auto, jüdische Händler aus Frankfurt, Mainz, Kehl usw. und bezahlen Preise, die der Metzger nicht bieten kann.«18 Auf dem Höhepunkt der Inflationskrise im Herbst 1923 wurden in München auf Befehl des Staatskommissars von Kahr Hausdurchsuchungen bei einer Reihe von ›Ostjuden‹ durchgeführt und rund 40 ausgewiesen. Die Betroffenen mussten innerhalb von 14 Tagen München verlassen, ihre Wohnungen wurden beschlagnahmt. Bereits 1920 hatte Kahr schon über 300 Personen in einer solchen Aktion ausgewiesen. Anfang November kam es im Berliner Scheunenviertel zu pogromartigen Plünderungen jüdischer Geschäfte durch aufgehetzte Arbeitslose. 19

Der Wochenmarkt als Streitplatz Ende Juni 1923 kam zum Wuchergericht noch ein Marktgericht hinzu, das allerdings an den Missständen auf dem Markt wenig ändern konnte. Der Konstanzer Wochenmarkt war offenbar ein Spiegelbild der im Sommer 1923 sich zuspitzenden Inflationsdynamik: Lebensmittelhändler boten dort häufig höhere Preise als die privaten Käufer, was das Preisniveau in die Höhe trieb. Dies hatte auch Folgen für die Städter, die zu den Bauern der Region pilgerten, um dort zu ›hamstern‹. Die Marktbeschicker, meist selbst regionale Landwirte, gewannen den Eindruck, die Preise seien insgesamt gestiegen und verlangten von den Hamsterern höhere Preise. Auch der Versuch, durch die Veröffentlichung der Wochenmarktpreise in der Presse für mehr Transparenz zu sorgen, blieb erfolglos. Und so ging das Überbieten durch das »allzu kauflustige Publikum«

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100 Dieter Schott munter weiter.20 Diese ›Kauflust‹ dürfte auch schon eine Folge der ›Flucht in die Sachwerte‹ gewesen sein, die ganz Deutschland in der Hyperinflation erfasste. Auch wenn die wenigsten Marktgüter dauerhaft werthaltig waren, konnte doch ein Teil durch Einmachen oder Einlagern auf mittlere Frist haltbar gemacht werden. Zumindest war es allemal besser, das täglich zwischen den Fingern zerrinnende Papiergeld in Lebensmittel umzusetzen, als dem Wertverlust tatenlos zuzusehen. Auf dem Wochenmarkt entlud sich der aufgestaute Unmut zu einer Zeit, als die Preise wöchentlich um 50–100 % stiegen. Am 8. August 1923 baten die Konstanzer Gärtner in einer großen Zeitungsanzeige die »verehrliche Einwohnerschaft«, im »Interesse einer genügenden Zufuhr des hiesigen Gemüsemarkts denselben nicht zur Austragungsstelle des im Laufe der Woche angehäuften Unmutes über die allgemeine furchtbare Teuerung und Geldentwertung zu machen«. Die Gärtner betonten, ihre wirtschaftliche Lage gestalte sich »ebenso wie diejenige der Mehrzahl unserer arbeitenden Volksgenossen, täglich schlechter«. Sie unterstrichen, dass ihre Preise sich ständig »ganz erheblich unter der Teuerung aller anderen Lebensmittel und Bedarfsartikel« bewegten.21 Das Konstanzer Wuchergericht war recht fleißig: Von Januar bis April wurden gegen mehr als 1 000 Personen Strafantrag gestellt. Man verhängte 64 Monate Gefängnis, 122 Millionen Mark Geldstrafe und die Einziehung größerer Geldbeträge. Von Mai bis August wurden immerhin noch 907 Personen angeklagt. Die Tätigkeit der Wuchergerichte hatte erhebliche Folgen, sowohl wirtschaftlich wie politisch. Die Wucherbekämpfung trocknete den städtischen Markt weitgehend aus, zahlreiche Bauern und Gärtner, die diesen früher beschickt hatten, kamen nicht mehr. Angesichts des chronischen Mangels und der Flucht in die Sachwerte konnten sie ihre Produkte dennoch absetzen, denn die Hamsterer suchten sie nun vermehrt auf ihren Höfen und Gärtnereien auf. Dort waren Preisbildung und Zahlungsmodus  – viele Bauern forderten offenbar Zahlung in Schweizer Franken – der polizeilichen Kontrolle entzogen. Züge und Schiffe waren, meldete die Konstanzer Presse, am Wochenende regelmäßig überfüllt. Mit vollen Taschen und Rucksäcken kehrten die Städter von ihren Streifzügen zurück.22

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Wucherbekämpfung aus Sicht der Bauern Politisch formierte sich unter den Bauern bald erheblicher Widerstand gegen die Tätigkeit des Wuchergerichts. Nach einer Versammlung der Zentrumspartei in Großschönach bei Pfullendorf wurde der Redner, der Kreisvorsitzende Dr. Hugo Baur aus Konstanz, mit heftiger Kritik an der Verurteilung »einer Anzahl ehrenwerter Landwirte vor dem Wuchergericht Konstanz« konfrontiert: »Es seien Fälle vorgekommen, wo Landwirte ihre Produkte oder Vieh vielfach zu dem ihnen gebotenen Preis verkauft hätten und dann wegen Wuchers und Preistreiberei bestraft worden seien; das werde als Ungerechtigkeit empfunden. Kein Fabrikant und kein Kaufmann, dem eine Ware der Industrie und des Handels zu Riesenpreisen abgekauft werde, komme deswegen vor das Wuchergericht, »nur den Landwirt packt man«, wenn er den Preis nehme, den man ihm biete!«23 Die Bauern sahen sich als Opfer einer einseitig gegen ihren Berufsstand gerichteten Sondergerichtsbarkeit. Der Protest bewirkte zumindest, dass die zentrumsnahe Deutsche Bodensee-Zeitung, bis dahin eifrige Verfechterin eines scharfen Durchgreifens gegen Wucherer, sich auch für die Gegner der Wucherbekämpfung öffnete und die Sinnhaftigkeit dieser Form der Wuchergerichte infrage stellte. Offenbar wurde die Zeitung auch in bäuerlichen Kreisen häufiger gelesen, denn im November 1923 bot der Verlag an, dass die Leser wegen des Mangels an Zahlungsmitteln ihr Zeitungsabo mit Naturalien bezahlen könnten: Für 15 Pfund Weizen oder ein Pfund Butter las man die BodenseeZeitung einen Monat lang.24 Aber was bedeutete eigentlich ›Land‹ bzw. ›Landwirtschaft‹ zur Zeit der Hyperinflation? Der Agrarsektor hatte in den 1920er-Jahren noch einen erheblich größeren Umfang als heute. Er trug 1930 18,3 % zum BIP bei und beschäftigte 1925 14,4 Mio. Arbeitskräfte bei einer Gesamtbevölkerung von 63,2 Mio. Von den 5,1 Millionen landwirtschaftlichen Betrieben 1925 hatten allerdings fast 60 % weniger als 2 ha bewirtschaftetes Land. Diese Kleinstbetriebe waren häufig keine ›Vollhöfe‹, von deren Ertrag eine ganze Familie leben konnte.25 Oft arbeitete deren Familienvater noch außerhalb der Landwirtschaft, der Hof, der von anderen Familienangehörigen bewirtschaftet wurde, war Nebenerwerb, der die Subsistenz der Familie absicherte. In solchen Höfen dürfte der Überschuss, der an Hamsterer abgegeben werden konnte, recht gering gewesen sein. Bei den Betriebsgrößen war das Bild sehr unterschiedlich. Im Südwesten

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102 Dieter Schott Deutschlands, gerade im hier untersuchten Südbaden, dominierte der kleine und mittlere Familienbetrieb, während in den östlichen Provinzen Deutschlands der Anteil der großen Gutsbetriebe, der sogenannten Junkerhöfe, recht hoch war. Während des Weltkriegs hatten die meisten Höfe wegen des Mangels an Vorprodukten und der rigiden Zwangswirtschaft wohl eher eine Posi­ tionsverschlechterung erfahren, aber in der Nachkriegs- und Inflationszeit profitierten viele Landwirte nicht unerheblich vom Schwarzmarkt. Als Sachwertbesitzer waren die Landwirte in einer vorteilhaften Position. Sie konnten ihre Schulden, immerhin vor Ausbruch des Krieges 17,5 Mrd. Goldmark, ein Drittel des Sozialprodukts des Reiches von 1913, mit entwerteter Papiermark zurückzahlen. Ihre eigenen Guthaben und Forderungen wurden allerdings auch entwertet. Diese Entschuldung war aber nicht von Dauer; bereits 1928 hatte die Landwirtschaft wieder 8 Mrd. Reichsmark neue Schulden aufgehäuft, die dann – angesichts der nach der Inflation sehr hohen Zinsen und sinkender Weltmarktpreise für die wichtigsten Agrarprodukte – wesentlich zur Strukturschwäche vor allem der großen ostdeutschen Güter in der Weltwirtschaftskrise beitrugen.26

Städter und Bauern – wechselseitige Projektionen Der chronische Lebensmittelmangel in der Stadt und die Erfahrung beim Hamstern auf dem Land, wo die Städter als Bittsteller auftraten und mit hohen Angeboten und guten Worten die Bauern überzeugen mussten, ihnen etwas abzugeben, verschärften schon länger bestehende Ressentiments zwischen Stadt und Land. Für die Städter waren die Bauern gewissenlose Profiteure. Umgekehrt verwiesen die Bauern darauf, dass die Städter selbst durch ihre Hamsterfahrten die Preise auf dem Land in die Höhe trieben. Aus städtischer Sicht gab es auf dem Land keine Not, Sonntag für Sonntag fänden Feste statt, man backe die Faschingsnudeln mit Butterschmalz wie im Frieden, ein Produkt, das man in der Stadt gar nicht mehr kenne. Berichte über das Anhäufen von eigentlich städtisch-bürgerlichen Konsumgütern wie Nähmaschinen, Klavieren und Perserteppichen in bäuerlichen Wohnstuben gehörten zum Repertoire städtischer Klischees vom Bauern als Profiteur der Notjahre.27 Bauern galten als Wucherer. Dementsprechend sah man die Maul- und Klauenseuche im Sommer 1920 als »Strafe für die Wucherpreise der Bauern«, wie die bayerische Polizei festhielt,

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und äußerte Genugtuung über das Abbrennen von Höfen. Selbst der Regierungspräsident von Oberbayern notierte im Juli 1923, der Besitzer eines abgebrannten Ökonomiegebäudes sei für sein wucherisches Verhalten allgemein bekannt.28 Sprecher der Bauern wiederum machten ihre Machtposition teilweise recht drastisch deutlich: Der Bürgermeister der Stadt Kempten, der die dortige ›Allgäuer Butter- und Käse-Börse‹ leitete, reagierte auf Kritik an dieser Börse mit der Drohung, »in Zukunft werde es im Allgäu den Kälbern und Schweinen gut gehen und nicht den Säuglingen«. Das sollte heißen, die Milch der Kühe werde eben nicht mehr an die Städte abgegeben und auch nicht mehr zu offiziell vermarkteter Butter und Käse verarbeitet, sondern an Kälber und Schweine verfüttert, um diese weiter zu mästen.29 Als in Konstanz im Frühjahr 1923 die im Rahmen des offiziellen Abgabesystems abgelieferte Milch als häufig verunreinigt und verwässert kritisiert wurde, schimpfte der Molkereileiter der Gemeinde Kippenhausen bei Immenstaad am Bodensee: »Die Konstanzer müssen noch froh sein, wenn sie am Kuhdreck lecken dürfen.«30 Dies verweist auf ein strukturelles Problem der Zwangswirtschaft: Die Landwirte hatten letztlich, außer bei Produkten wie Getreide, die einigermaßen gut erfasst und abgeschöpft werden konnten, vielfältige Möglichkeiten, ihre Produkte wie Milch auf dem offiziellen Weg zu verkaufen oder, falls dies finanziell unattraktiv war, in hofinterne Wertschöpfungsketten einzuspeisen. So griff im März 1923 im Bodenseeraum die Staatsanwaltschaft ein, weil die Bauern wieder die verbotenen Separatoren verwenden würden, um Milch zu verbuttern. In Bayern konnten aufgrund einer Verordnung vom Oktober 1923 Separatoren beschlagnahmt werden, was die Bauern jedoch nicht daran hinderte, sich umgehend neue zu beschaffen. Die Dorfgendarmen nahmen es mit der Überwachung in dieser Hinsicht offenbar nicht so genau.31 Die Städter forderten von den Bauern, sich in eine auch vom Staat immer wieder geforderte ›Opfergemeinschaft‹ einzureihen. Der Münchner Hausfrauenverein drohte Ende 1922 mit einem »Kinderkreuzzug aufs Land«, um den Bauern das Elend der städtischen Kinder plastisch vor Augen zu führen. Umgekehrt hatte der Staat schon während des Krieges sogenannte Bauernreisen in die Industriestädte organisiert, um den Landwirten deutlich zu machen, dass die städtische Bevölkerung nicht untätig in Lokalen herumlungerte, sondern hart arbeitete. Aus bäuerlicher Sicht war es allerdings nicht nachzuvollziehen, warum nach dem Krieg – im Zeichen vorübergehend hoher Arbeitslosigkeit in der Demobilmachung – die städtischen Arbeitslosen

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»Mutter, ist es wahr, daß die Bauernkinder so viel Milch trinken dürfen, wie sie wollen?« Die Karikatur aus dem Simplicissmimus vom 8. Oktober 1923 thematisiert die Wahrnehmung der Stadt-Land-Unterschiede in der Milchversorgung seitens der städtischen Bevölkerung. Die Landwirte mit Milchvieh hatten in der Regel ausreichend Milch zumindest für die Bedürfnisse ihrer eigenen Familie. Wenn die Abnahmepreise für Milch nicht attraktiv waren, verbutterten die Bauern die Milch lieber oder verfütterten sie an Schweine und Kälber. vom Staat versorgt wurden, aber bei der Kartoffelernte und beim Holzeinschlag auf dem Land Arbeitskräfte knapp waren. Die Bauern sahen sich von den in der Stadt angesiedelten staatlichen Institutionen in Form der Zwangswirtschaft und auferlegter Abgabequoten und Strafen drangsaliert und von den hamsternden Städtern, falls sie nicht nach deren Vorstellungen Lebensmittel abgaben, beschimpft und beleidigt. Zudem steigerten sich auf dem Land in den unruhigen Jahren der Revolutions- und Nachkriegszeit Vorbehalte und Ablehnung der Bauern gegen große Städte, die von Arbeitslosen, Hetzern, Schiebern und Juden geprägt schienen.32

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Einheit oder Vielfalt städtischer Interessen Auch die Städter waren kein einheitlicher Block: Neben der oberflächlichen Interessenidentität im Hinblick auf gute und preiswerte Lebensmittel zeigte sich nach dem Krieg eine zunehmende Tendenz zur Ausschaltung des Zwischenhandels, der als ›wucherisch‹ gesehen wurde. So verzeichneten die Konsumgenossenschaften enorme Zuwachsraten. Der Münchner Konsumverein, der eine eher bürgerliche Klientel vertrat, hatte 1920 17 000 Mitglieder; der eher proletarische Konsumverein Sendling 54 000, die in 78 über die Stadt verteilten Verkaufsstellen versorgt wurden. Die Konsumvereine bauten ein überregionales Netzwerk von Lebensmittelbetrieben (Mühlen, Bäckereien, Konservenfabriken etc.) auf. Diese genossenschaftliche Organisierung städtischer Konsuminteressen kollidierte mit den Interessen des mittelständischen Einzelhandels, der sich von Konsumgenossenschaften und den ebenfalls rasch expandierenden Warenhäusern in die Enge getrieben sah. Die Organisierung wirtschaftlicher Interessen nicht nur, wie dies vor 1914 dominant gewesen war, entlang von Klasseninteressen in Lohnkonflikten, sondern entlang der Konfliktlinie von Erzeuger–Verbraucher oder Händler–Verbraucher war in der Inflationszeit vorübergehend recht bedeutsam und handlungswirksam, sie sollte jedoch nicht längerfristig stabil bleiben. Die Problematik zeigt etwa der Fleischabnahmestreik der Stadt München im Sommer 1920. Gegen den Beschluss der Reichsfleischstelle zur Erhöhung der Schlachtviehpreise, um die Abgabefreudigkeit der Bauern zu steigern, protestierte der Münchner Stadtrat. Etliche größere bayerische Städte schlossen sich der Initiative an. Der Versuch, eine Massenunterstützung der Münchner Verbraucher für einen Boykott zu mobilisieren, scheiterte jedoch: Der Allgemeine Verbraucherbund, der im Auftrag der Stadt in einer Massenversammlung über die Fortsetzung des Streiks abstimmen sollte, konnte keine 300 Teilnehmer mobilisieren. Der Münchner Hausfrauenverein lehnte eine Resolution zur Weiterführung des Streiks mit dem Argument ab, »die mangelnde Fleischversorgung führe zu einer unannehmbaren Belastung der Haushalte«.33 Letztlich stiegen die Fleischpreise im Schleichhandel trotz des Streiks deutlich. Städtische Verbraucher konnten ihre Einkommen auch sehr unterschiedlich gut der Geldentwertung anpassen. Gelang dies den gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten meist noch recht gut, so waren die nicht mehr im Erwerbsprozess Verankerten, die Sozialrentner und die sogenannten Klein-

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106 Dieter Schott rentner, die vor dem Krieg von den Erträgen ihres mehr oder weniger umfangreichen Geldvermögens leben konnten, die Opfer. In Konstanz – und in Grenzregionen generell  – waren die rund 1 000 Beschäftigten, die in der Schweiz arbeiteten, ausgesprochen privilegiert; viele junge deutsche Textilarbeiterinnen in Kreuzlinger Betrieben konnten bzw. mussten mit ihren Frankenlöhnen jetzt eine größere Familie durchbringen. Eine Zwitterposition nahm der Hausbesitz ein: Einerseits waren die Mieten durch die Wohnungszwangswirtschaft reguliert und wurden nur stark verzögert an die Geldentwertung angepasst – im Herbst 1923 betrug die durchschnittliche Belastung der Privathaushalte durch Mieten nur noch etwa 1 % des Einkommens. Das heißt, die laufenden Mieteinnahmen der Hausbesitzer reichten kaum noch zu deren Lebenshaltung, geschweige denn für Reparaturen oder Investitionen. Andererseits war der Hausbesitz als Sachwert im Prinzip gegen die Geldentwertung geschützt und viele Hausbesitzer konnten ihre vor 1914 aufgenommenen Hypotheken  – ähnlich wie die Landwirte – mit entwerteter Papiermark zurückzahlen.34

Selbsthilfe Ein beliebtes Schlagwort der Nachkriegszeit war ›Selbsthilfe‹. Weil sich die verschiedensten sozialen Gruppen in ihrer Existenz bedroht und vom Staat nicht hinreichend geschützt sahen, artikulierten sie ein moralisches Recht auf Selbsthilfe. Diese konnte etwa die Form von Preisfestsetzungsunruhen annehmen. Käufer – meist Frauen – weigerten sich auf dem Wochenmarkt oder in Geschäften, die angebotenen Waren zu den Preisen zu kaufen und setzten dann selbststätig niedrigere Preise fest, ähnlich der von E. P. Thompson für das 18. Jahrhundert beobachteten ›sittlichen Ökonomie‹ der englischen Unterschichten. Im Anschluss an solche Unruhen gab es teilweise auch regelrechte Preisabbaubewegungen, die von Gewerkschaften und politischen Parteien getragen wurden.35 Eher unorganisiert war Selbsthilfe in Form von Diebstahl: »So war in der Umgebung aller Städte der Wald- und Feldfrevel ein weitverbreitetes Delikt der Nachkriegszeit.«36 Ulrich Kluge betont, dass diese ›Selbsthilfe‹ aus dem Hamstern resultierte und unterstreicht den konfrontativen Charakter der Situation: »Bauer und städtischer Konsument begegneten sich nach Zeiten der zunehmenden Trennung durch das entpersönlichte Marktgeschehen wieder direkt. Der geschwächte Anbieter sah sich einem starken Andrang von N ­ achfragenden

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sozusagen ›Aug in Aug‹ gegenüber. Das Verhältnis der Marktbeteiligten zu­ einander konnte nicht heikler sein.«37 Nach Martin Geyer stand einfacher und schwerer Diebstahl in der Hyperinflation 1923 auf einem weder vorher noch nachher in der deutschen Geschichte erreichten Höhepunkt.38 Die Tatsache, dass Sachsen und andere Länder 1923 Nahrungsdiebstahl zu einem Bagatell­ delikt erklärten, dürfte dieser Selbsthilfe weiteren Vorschub geleistet haben. Letztlich war auf dem Höhepunkt der Inflation im November 1923, als die Wirtschaft praktisch kollabierte, für wachsende Teile der Bevölkerung keine ›Selbsthilfe‹ mehr möglich: In München, auch damals schon eine eher wohlhabende Stadt, mussten gut 20 % der Bevölkerung unterstützt werden, in Konstanz lag der Anteil bei rund einem Drittel. Sehr viele Kleinrentner und Arbeitslose überlebten nur dank Massenspeisungen, die von Staat und Wohlfahrtsverbänden organisiert wurden. In Konstanz geschah dies von Arbeitgebern in den Schweizer Nachbarorten, die – finanziert auch durch Zwangsbeiträge der deutschen Arbeitnehmer in den Schweizer Betrieben – eine Massenspeisung von bis zu 1 400 Konstanzern (bei einer Bevölkerung von etwa 30 000) über viele Winterwochen durchführten.39

Wucherbekämpfung in der Hyperinflation In der Hyperinflation rückte die Versorgung mit Lebensmitteln, die seit Kriegsbeginn immer wieder hochproblematisch gewesen war, erneut in das Zentrum öffentlichen Interesses. Weil die normale Organisation des Lebensmittelhandels angesichts der wenig effektiven Versuche des Staates, übermäßige Preissteigerungen – etwa durch die Wuchergerichte – zu verhindern, zunehmend zusammenbrach, standen sich städtische Verbraucher und ländliche Erzeuger immer häufiger direkt auf dem Wochenmarkt oder dem von Hamstern aufgesuchten Bauernhof gegenüber. Dabei kam es zu erheblichen Konflikten und starken emotionalen Schuldzuweisungen. ›Wucher‹ war dabei eine moralisch aufgeladene Chiffre, mit der die Akteure die für sie unverständlichen Preissprünge begreifbar zu machen suchten. Zugleich bediente sich auch der Staat dieser Interpretation, um von seinem währungspolitischen Versagen abzulenken und Druck auf die Agrarproduzenten aufzubauen, sich an den Opfern der Gesamtheit zu beteiligen. Nimmt man die zeitgenössischen Quellen vom Herbst 1923, in denen häufig vom ›Krieg aller gegen alle‹ die Rede

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108 Dieter Schott war, beim Wort, so lag ein Bürgerkrieg zwischen Stadt und Land in der Luft. Tatsächlich wehrten sich die Bauern gegen den umfassenden Diebstahl und ­weitergehende vermutete Gefahren durch Aufstellung dörflicher Flurwachen und privater Dorfmilizen, aber in den meisten Fällen blieb es offenbar, wie im eingangs ­zitierten Beispiel mit dem ›roten Hahn‹ in Allensbach, bei Drohungen und Verbalradikalismus. Obwohl die Nerven blank lagen, kam es im November 1923 nicht zum Bürgerkrieg zwischen Stadt und Land, was Kluge letztlich der »Apathie der Hungernden« zuschreibt.40

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Deutsche Bodensee-Zeitung (i. F. DBZ) 29.11.1923. Dieter Schott, Die Konstanzer Gesellschaft 1918–1924. Der Kampf um Hegemonie zwischen Novemberrevolution und Inflation, Konstanz 1989; Martin H. Geyer, Verkehrte Welt. Revolution, Inflation und Moderne: München 1914–1924, Göttingen 1998. Vgl. Roger Chickering, Das Deutsche Reich und der Erste Weltkrieg, München 2002, S. 55 f. Ulrich Kluge, Die Krisen der Lebensmittelversorgung 1916–1923 und 1945–1950. StadtLand-Konflikte und wechselseitige Stereotypen, in: Clemens Zimmermann (Hrsg.), Dorf und Stadt. Ihre Beziehungen vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Frankfurt a.  M. 2001, S. 209–239, hier S. 230. Siehe dazu auch den Beitrag von Eva-Maria Roelevink in diesem Band. Vgl. Belinda Davis, Home Fires Burning. Food, Politics and Everyday Life in World War I Berlin, Chapel Hill/London 2000, S. 48–75. Geyer, Welt, S. 187 f. Vgl. Detlev Heinsius, Das Rechtsgut des Wuchers: Zur Auslegung des § 302a StGB, Frankfurt a. M. u. a. 1997, S. 4–16. Vgl. Geyer, Welt, S. 188. Geyer, Welt, S. 243. Vgl. die Charakterisierung bei Geyer, Welt, S. 244. Thomas Mann, Tagebücher, S. 143 (2.11.1919), zit. nach Geyer, Welt, S. 246. Geyer, Welt, S. 190. Siehe zur Ruhrbesetzung auch den Beitrag von Nicolai Hannig in diesem Band. Vgl. Martin H. Geyer, Teuerungsprotest und Teuerungsunruhen 1914–1923. Selbsthilfe und Geldentwertung, in: Manfred Gailus, Heinrich Volkmann (Hrsg.), Der Kampf um das tägliche Brot. Nahrungsmangel, Versorgungspolitik und Protest, 1770–1990, Opladen 1994, S. 319–345, hier S. 323. Rede des Reichskanzlers vom 12.1.1923, in: Das Kabinett Cuno. 22. November 1922 bis 12. August 1923, bearbeitet von Karl H. Harbeck, Boppard 1968, S. 135–141. Konstanzer Nachrichten 23.2.1923. Konstanzer Nachrichten 9., 19. und 21.3.1923. Konstanzer Nachrichten 3.2.1923. Vgl. Geyer, Welt, S. 342–345. Vgl. Schott, Gesellschaft, S. 462. DBZ 8.8.1923, Anzeige »Teuerungs- und Gemüsepreise«. Vgl. Schott, Gesellschaft, S. 464; DBZ 14.5. u. 10.9.1923. DBZ 20.7.1923. DBZ 5.11.1923. Vgl. Gunter Mahlerwein, Grundzüge der Agrargeschichte. Bd. 3: Die Moderne (1880– 2010), Köln/Weimar/Wien 2016, S. 23–25, 125. Vgl. Heinrich Becker, Handlungsspielräume der Agrarpolitik in der Weimarer Republik zwischen 1923 und 1929, Stuttgart 1990, S. 88–106, hier S. 88/89. Zur wechselseitigen Wahrnehmung von Städter und Bauern vgl. Gesine Gerhard, Das Bild der Bauern in der modernen Industriegesellschaft. Störenfriede oder Schoßkinder der Industriegesellschaft?, in: Daniela Münkel, Frank Uekötter (Hrsg.), Das Bild des Bauern. Selbst- und Fremdwahrnehmungen vom Mittelalter bis ins 21. Jahrhundert, Göttingen 2012, S. 111–130; Geyer, Welt, S. 182. Vgl. Geyer, Welt, S. 183. Geyer, Welt, S. 183.

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Konstanzer Volksblatt 6.7.1923. Konstanzer Nachrichten 9.3.1923; Schott, Gesellschaft, S. 457; Geyer, Welt, S. 340. Vgl. Geyer, Welt, S. 186. Vgl. Geyer, Welt, S. 179–182, Zitat S. 181 f. Vgl. Schott, Gesellschaft, S. 477; Geyer, Welt, S. 237–242. Vgl. E. P. Thompson, Die ›sittliche Ökonomie‹ der englischen Unterschichten im 18. Jahrhundert, in: Detlev Puls (Hrsg.), Wahrnehmungsformen und Protestverhalten. Studien zur Lage der Unterschichten im 18. und 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1979, S. 13–80; Schott, Gesellschaft, S. 411–416. Geyer, Welt, S. 262. Kluge, Krisen, S.231. Geyer, Welt, S. 261. Vgl. Geyer, Welt, S. 321; Schott, Gesellschaft, S. 477–481. Vgl. Kluge, Krisen, S. 233–237, Zitat S. 233.

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»Eiserne Chirurgen« im Kampf ­ gegen Korruption Die ­Krise des Parlamentarismus und die autori­ täre Versuchung im ­Europa der Zwischenkriegszeit Jens Ivo Engels

Der Putsch des Miguel ­Primo de Rivera in der ­Tradition der spanischen ­Korruptionskritik Am 13. September 1923 geschah etwas, was in der spanischen Geschichte des frühen 19. Jahrhunderts häufig, aber zu diesem Zeitpunkt seit etwa 50 Jahren aus der Mode war. Ein General der spanischen Streitkräfte erklärte in Barcelona die Regierung für abgesetzt und das Parlament für aufgelöst. Zwei Tage blieb die Situation in der Schwebe, auch weil Teile der Armee sich zunächst nicht entschließen konnten, den Putsch zu unterstützen. Doch der spanische König unterstützte das Vorhaben. Am 15. September war es so weit: Die Regierung trat zurück und König Alfonso XIII. berief General Miguel Primo de Rivera zum neuen Regierungschef mit weitgehenden Vollmachten. Die erste spanische Diktatur des 20. Jahrhunderts war installiert. Seit dem späten 19. Jahrhundert hatte der General, der aus einer Offiziersfamilie stammte, sich vor allem in unterschiedlichen Kolonialkriegen als erfolgreicher Kommandeur einen Namen gemacht. Primo de Rivera sah sich als Träger einer Mission. Sie bestand darin, das notorisch zurückgebliebene Land von einer inkompetenten und korrupten Politikerkaste zu befreien. Seine D ­ iagnose glich in frappierender Weise dem, was in Teilen auch heute über p ­ olitische ­Verhältnisse in vielen Demokratien gesagt wird. Spanien sei reformunfähig und zurückgeblieben, die Rückständigkeit sei eine Folge von politischer Korruption und Selbstbereicherung unter Politikern und Beamten.1

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Verkündung des Machtantritts von Primo de Rivera. In dieser Einschätzung war Primo alles andere als allein. Zum Zeitpunkt seines Staatsstreiches blickte Spanien bereits auf eine mehr als zwanzigjährige Geschichte intensiver Selbstanalyse zurück. Der erste Anstoß kam 1898. Damals hatte Spanien in einem kurzen und völlig chancenlosen Krieg gegen die USA die Reste seines ehemals weltumspannenden Kolonialreichs verloren, insbesondere Kuba und die Philippinen. Diese Niederlage auf dem Höhepunkt des Hochimperialismus, als andere europäische Mächte wie Deutschland und sogar Belgien ihren Kolonialbesitz ausdehnten, hatte eine heftige Reformdebatte ausgelöst. Daran beteiligten sich nicht nur politisch Interessierte, sondern auch Künstler und Intellektuelle. Hinzu kamen bürgerliche und liberal geprägte Funktionseliten aus Universitäten, Zeitungen, Gerichten und Anwaltskanzleien sowie der Wirtschaft. Sie debattierten in den kommenden Jahren heftig über die Frage, wie Spanien Anschluss an die Moderne finden konnte. Denn es gab nicht nur militärische Schwächen, sondern kaum Industrie, ein katastrophales Bildungswesen und ein geringes Wirtschaftswachstum. Das Zauberwort der sogenannten Regenerationisten lautete: Kampf gegen Korruption! In der Diagnose dieser Gruppe rangierte die Herrschaft der soge­

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nannten Kaziken ganz oben auf der Problemliste. Tatsächlich wurden ­Politik und öffentliche Verwaltung in Spanien durch komplexe Klientelsysteme gesteuert, die vom Parlament in Madrid bis in die letzten Dörfer des Landes reichten. Auf den ersten Blick muten diese Strukturen vormodern an. Doch wissen wir durch jüngere Forschungen, dass die Klientelsysteme nicht starr ­waren, sondern sich ständig erneuerten und modernisierten. Im Gegensatz zu der Annahme der Regenerationisten um 1900 dominierten im Kazikentum nicht einfach lokale Adelige und Priester. Vielmehr übten hier auch ›moder­ nere‹ soziale Gruppen Einfluss aus wie etwa Staatsbeamte, Unternehmer, teilweise sogar Arbeiterführer.2 Allerdings ist unbestreitbar, dass das Kazikentum die politischen Wahlen zum Parlament in Madrid regelmäßig in eine Farce verwandelte. Tatsächlich ›bestellten‹ die Parteiführungen bei ihren Klientelsystemen das jeweilige Wahlergebnis. Interessanterweise beschloss man hier über längere Zeit im Konsens, dass die Mehrheiten regelmäßig wechselten. So entstand die Farce eines Spiels von Regierung und Opposition nach dem Westminster-Modell. Die Regenerationisten strebten in den Jahren ab 1900 in ihren vielfältigen Aktivitäten nach einer echten Demokratisierung des Landes  – begleitet von einer Bildungsoffensive. Sie hofften, die Spanier zu mündigen und politisch selbstständigen Staatsbürgern zu machen. Mit dem Ende der Korruption komme die politische und gesellschaftliche Modernisierung. Allerdings erwies sich der Weg dorthin als steinig, mühsam und langwierig. Nicht alle wollten oder konnten die Botschaft der hochgebildeten Regenerationisten hören. Daher brachte einer der einflussreichsten Vertreter der Regenerationisten schon 1902 eine Idee ins Spiel, die exakt 21 Jahre später immer noch sehr populär war: den eisernen Chirurgen der Korruptionsbekämpfung.3 Joaquín Costa y Martínez veröffentlichte 1902 die Zusammenfassung einer Reihe von Konferenzen zur Modernisierung des Landes, die er weitgehend selbst organisiert hatte. Costa war Anwalt und Publizist und hatte sich als Bildungsaufsteiger aus einfachsten Verhältnissen nach oben gearbeitet. Er forderte die Beseitigung von Korruption und Oligarchie, und zwar schnell. ­Anschließend breche dann fast naturnotwendig eine Zeit der Freiheit und des Fortschritts an. Weil das kaum gebildete Volk dazu nicht in der Lage sei, bedürfe es einer Revolution von oben. Diese Revolution solle einerseits durch die »natürliche Aristokratie« der Leistungsträger und Intellektuellen getragen werden. Und zum anderen von einem Politiker mit absoluter Macht: einem

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114 Jens Ivo Engels eisernen Chirurgen, welcher das Krebsgeschwür der Korruption aus dem nationalen Körper entfernen solle. Costa bemühte also einerseits die Herrschaft moderner Experten, andererseits rekurrierte er indirekt auf die spanische Tradition des Umsturzes von oben.4 Costas Ideen blieben in der öffentlichen Debatte der folgenden Jahre sehr präsent, auch wenn sich eine radikale Lösung zunächst nicht abzeichnete. Der Philosoph und Publizist José Ortega y Gasset war nach 1910 einer der profiliertesten Vertreter des Regenerationismus, der sich mit vielen Gleichgesinnten beispielsweise in der 1913 gegründeten Liga de Educación Política organisierte. Für den Rückgriff auf Costa sorgte eine weitere Niederlage im kolonialen Kontext. Ab dem frühen 20. Jahrhundert versuchte Spanien in Absprache mit Frankreich, sich Teile von Marokko einzuverleiben. Doch brach 1921 im spanischen beherrschten Teil Marokkos der Rif-Krieg aus, in dem die iberischen Truppen zunächst empfindliche Niederlagen erlitten. Angesichts der militärischen Misere in Nordafrika und politischer Instabilität im Inland entschloss sich Primo de Rivera zum Putsch. Er selbst sah sich zunächst wohl tatsächlich in der Rolle von Costas eisernem Chirurgen. In seinem politischen Manifest zum Staatsstreich vom 13. September 1923 benutzte er eine Reihe von Schlüsselbegriffen Costas, vom eisernen Chirurgen über die natürliche Elite bis hin zu Regeneration. Er wolle nur wenige Monate im Amt bleiben, um die korrupten Strukturen zu zerstören, ließ er erklären. Darauf reagierte die Presse von links bis rechts zunächst geradezu euphorisch.5 In den ersten Monaten seiner Herrschaft machte er sich tatsächlich an die Arbeit und versuchte, mit einer Vielzahl von Dekreten die Kazikenstrukturen zu brechen. Im Oktober 1923 erließ er beispielsweise eine Regelung, die man heute als »Karenzzeit« für ehemalige Spitzenpolitiker diskutiert6: Aus dem Amt geschiedene Minister und Regierungschefs durften fortan nicht mehr in Verwaltungsräten von Privatunternehmen sitzen. Hiermit beginne eine neue Form moralischer Integrität in der spanischen Politik, hoffte Primo. Zudem setzte eine intensive Kampagne gegen Korruption und Verflechtung in der staatlichen Verwaltung ein. Das Gesetz über die Trennung von politischer Karriere und unternehmerischer Tätigkeit zeigt aber auch: Es ging im Kampf gegen Korruption schon lange nicht mehr nur um ländliche Kaziken, sondern insbesondere um das, was wir heute Interessenkonflikte zwischen Regierungspolitik und Großindustrie nennen würden. Im weiteren Ver-

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lauf schwenkte Primos Propaganda darauf um, den Korruptionsvorwurf mit Ressentiments gegen Parlamente und politische Parteien zu verbinden mit dem Ziel, diese komplett zu entmachten. Aber Primo wurde nicht so schnell fertig mit seinem Vorhaben. Die Diktatur dauerte bis 1930, nachdem die Militärherrschaft im Jahre 1925 offiziell in eine zivile Diktatur umgewandelt worden war. Auch die korruptionspolitischen Ziele erwiesen sich als Illusion. In Regierung und Verwaltung wurden zwar viele als korrupt geltende Personen ausgetauscht. Doch in Ermangelung einer politischen Bewegung oder gar einer politischen Partei konnte sich die Diktatur nur auf informelle Strukturen bei der Herrschaftsdurchsetzung stützen. Sie hatte schlicht keine Organisation oder Anhängerschaft, welche bei der Durchdringung von Staat und Verwaltung hätte helfen können. Mit anderen Worten: Der vorgeblich unideologische und angeblich politisch neutrale Charakter dieses sich zunächst als Übergang verstehenden Regimes machte es notwendig, neue Klientelstrukturen aufzubauen, um den angepriesenen Kampf gegen Korruption überhaupt führen zu können.7 Verkürzt gesagt, handelte es sich um Korruption zum Zwecke der Korruptionsbekämpfung. Ein Paradox, das auch den Zeitgenossen nicht verborgen blieb. Der spanische Staatsstreich von 1923 ist natürlich in erster Linie durch natio­nale Besonderheiten auf der Iberischen Halbinsel zu erklären. Doch in einem zentralen Punkt verweist er auf eine europaweite Krise: die Krise von Parlamentarismus und Demokratie unter dem Vorzeichen der Korruptionskritik.8 Nicht nur in Spanien, sondern nahezu in ganz Europa standen die parlamentarisch geprägten politischen Systeme der Zwischenkriegszeit unter Rechtfertigungszwang. Es war mittlerweile eine Art Common Sense, dass gewählte Parlamentarier und ihre Regierungen zur Korruption neigten. Und dieses Argument nutzten jene ausgiebig, die Diktaturen oder autoritäre Regime errichten wollten.

Großbritannien: Von liberaler Plutokratiekritik zum Faschismus Werfen wir dazu kurz einen Blick auf Großbritannien, dessen parlamentarische Tradition tief im nationalen Selbstverständnis verwurzelt war und wo keine Diktatur entstand. In Westminster hatte rund ein Jahr vor Primo de Riveras

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116 Jens Ivo Engels Golpe de Estado ein politischer Kriegsheld sein Regierungsmandat aufgrund von Korruptionsvorwürfen verloren. Gemeint ist David Lloyd George, der das Land als Premierminister ab 1916 zum Sieg im Ersten Weltkrieg geführt hatte. Lloyd George musste 1922 zurücktreten, weil er über einen Mittelsmann eine Form der Parteienfinanzierung betrieben hatte, die seit dem späten 19. Jahrhundert existierte – und im Übrigen auch im frühen 21. Jahrhundert noch nicht ganz überwunden zu sein scheint. Allerdings war er dabei allzu unvorsichtig vorgegangen. Lloyd George hatte nach der Spaltung seiner Liberalen Partei während des Weltkriegs eine neue politische Kraft begründet, die naturgemäß besonderen Finanzbedarf hatte. Um diesen zu decken, nutzte er sein Recht, dem König bindende Vorschläge für die Erhebung in den Adelsstand zu machen. Mit anderen Worten: Lloyd George verkaufte Adelstitel gegen Spenden an seine Partei. Als ein rechtskräftig verurteilter südafrikanischer Geschäftsmann in diesen Genuss kommen sollte, ließ der offensichtlich geschockte Buckingham-Palast die Personalie durchsickern und sorgte so für einen Aufschrei in Parlament und Medien, den der Premier politisch nicht überlebte. Korruptionspolitisch war Lloyd George übrigens kein Unbescholtener: Er war bereits gut zehn Jahre zuvor in den sogenannten Marconi-Skandal verwickelt.9 Glaubt man den einschlägigen Kritikern, so waren die Verfehlungen des ­David Lloyd George keine Einzelfälle. Auch in Großbritannien gab es ab etwa 1900 eine Debatte über Niedergang und Korruption des politischen Systems.10 Der antisemitische Publizist Arnold White publizierte 1901 ein Pamphlet, in dem er ein düsteres Bild des britischen Empire zeichnete. Dessen Verwaltung sei völlig unzureichend. Der wichtigste Grund dafür sei Korruption im politischen System von Westminster.11 White war nur eine Stimme in einer breiteren Debatte über die angebliche Plutokratie in Großbritannien. Dahinter stand der Vorwurf, das parlamentarische System werde im Hintergrund von den Reichen des Landes gelenkt. Die politischen Auseinandersetzungen auf der öffentlichen Bühne seien Theater, dienten allein dem schönen Schein. Tatsächlich diene p ­ olitisches Handeln nur zwei Zwecken: den Interessen wohlhabender Industrieller und des großen Geldes sowie der persönlichen Bereicherung einer Handvoll von Spitzenpolitikern. Hinter all dem wurden vor allem jüdische Bankiers vermutet.12 Auch wenn der Antisemitismus in der spanischen Debatte eine kleinere Rolle gespielt hatte, so sind doch einige Parallelen zu erkennen. In beiden Ländern wurde ein verschwörungstheoretisches Narrativ bedient, in dem das Parlament als reine Schaubühne erschien. In beiden Ländern wurde allgemeiner

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David Lloyd George. Niedergang diagnostiziert. Eine dritte Gemeinsamkeit: In beiden Fällen entstammte die Kritik um 1900 noch einer liberalen, nach mehr Partizipation und mehr Demokratie rufenden Gruppe. Das war auch in London so. In beiden Ländern verfestigte sich die Antikorruptionsdebatte aber über die Jahre zu einer letztlich antidemokratischen Haltung. Das lässt sich für England an folgendem Beispiel zeigen. Anlässlich des gerade erwähnten Marconi-Skandals gründeten Hilaire Belloc und Cecil Chesterton, zwei eher liberal und zugleich antisemitisch gesinnte Autoren, 1911 die Zeitschrift Witness (die ihr Erscheinen im Krisenjahr 1923 einstellte). Daneben riefen beide die Nationale Liga für saubere Regierungsführung ins Leben (National League for Clean Government). Ihr Thema war die angeblich grassierende Korruption. Es ging ihnen darum, die unsichtbaren wirtschaftlichen Verflechtungen aufzudecken, von denen Regierung und einzelne Abgeordnete abhängig seien. Allerdings gelang es ihnen im Unterschied zur spanischen Situation nicht, eine breite nationale Debatte in Gang zu setzen. Vielmehr drifteten sie zunehmend an den rechten Rand des politischen Spektrums ab, da sie sich zunehmend auf antisemitische Polemik verlegten.

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118 Jens Ivo Engels Im Verlauf der 1920er-Jahre wurde die Argumentation des Witness von der eher kleinen faschistischen Bewegung in Großbritannien aufgegriffen und fortgeführt. Hinter der Korruptionskritik versammelten sich jene, die den Westminster-Parlamentarismus ablehnten. 1926 benannte sich die National League for Clean Government in Distributist League um – ein Hinweis darauf, dass sie nunmehr die Programmatik der britischen Faschisten vertrat. Tatsächlich gab es in der Folge enge Verbindungen zu Oswald Mosley, dem späteren Führer der British Union of Fascists. In den Publikationen Mosleys bzw. seiner Parteizeitung Blackshirt dominierte die Idee, Demokratie und Parlamentarismus seien korrupte Netzwerke. Diesen Filz könne man nur durch ein konsequentes Führerprinzip überwinden.13

Italien: Der Faschismus in autoritärer Tradition als Antwort auf die Korruption des Parlaments Mosley war ein großer Bewunderer der faschistischen Bewegung in Italien und namentlich von Benito Mussolini. Angesichts der Bedeutung des Korruptionsvorwurfs bei Mosley, ebenso wie bei Primo de Rivera, liegt natürlich die Frage nahe, ob es ähnliche Argumentationsfiguren auch in Italien gab. Und in der Tat, dort wird man ebenfalls fündig – allerdings hauptsächlich im Vorfeld der Regierungsübernahme durch Mussolini 1922. Auch in Italien bestand seit den 1860er-Jahren, also seit der nationalen Einigung, ein parlamentarisches politisches System, in welchem die Regierungen parlamentarische Mehrheiten benötigten. Die Debatte über politische Korruption war in Italien fast so alt wie die Nationalstaatsbildung. Vor allem standen die südlichen Landesteile und ihre politischen Vertreter in dem Verdacht der Käuflichkeit. Tatsächlich gab es auch in Italien Mechanismen, mit denen Regierungen Abgeordnete durch Begünstigungen an sich banden und dabei tendenziell radikale Kräfte ­gewissermaßen domestizierten oder »transformierten« – diese Mechanismen nannte man auch »Trasformismo«. Dies wird gelegentlich mit der spanischen Variante der bestellten Wahlen und Regierungswechsel verglichen, auch wenn es zahlreiche Unterschiede gab.14 Zugleich kam aber auch erhebliche Kritik an den Zuständen auf und eine ganze Reihe von Publizisten und Abgeordneten profilierte sich mit dem behaupteten oder tatsächlichen Ansinnen, die Korruption bekämpfen zu wollen.

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Neben allgemeinen Aufrufen zu besserer Moral kam es ab dem letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts zu konkreteren Vorschlägen, die auf eine Entmachtung des Parlaments und Übertragung der Macht auf Regierung oder König hinausliefen. Anlass dafür waren die Verwerfungen im sogenannten BancaRomana-Skandal der Jahre 1893/94. Der Wissenschaftler, Abgeordnete und Publizist Roberto Bonghi forderte seitdem in unterschiedlichen Schriften eine stärkere Konzentration der Macht beim König und die Unabhängigkeit der Regierung von parlamentarischen Mehrheiten. Schon in den Jahren zuvor hatte er den Niedergang der Moral im Parlament beklagt und lokale Klientelstrukturen dafür verantwortlich gemacht.15 Der italienische Politiker Francesco Crispi nahm derartige Ideen auf und versuchte in den kommenden Jahren, den König von Italien von einem Regierungsmodell zu überzeugen, wie es in Deutschland dominierte. Ihm schwebte also ebenfalls eine engere Bindung zwischen Regierung und Krone vor – all dies mit der Begründung, damit könne man die Korruption vermeiden. Nachdem Crispi als Ministerpräsident 1896 seine Parlamentsmehrheit verloren hatte, erwartete er, dass die Krone autoritäre Maßnahmen ergreife, um das Parlament zur Raison zu bringen, etwa Verhaftungen von missliebigen Abgeordneten. Allerdings war der König zum Staatsstreich nicht bereit. Diese gemäßigt autoritären Konzepte wurden in den Jahrzehnten bis zum Ersten Weltkrieg von immer mehr ursprünglich demokratisch eingestellten Politikern wohlwollend betrachtet.16 Die faschistische Bewegung in Italien konnte in den Jahren ihrer Entstehung also auf ein verbreitetes Deutungsmuster verweisen, nämlich die Korruptheit des Parlaments. Mussolini konnte ferner davon ausgehen, dass Teile des liberalen politischen Spektrums und damit Teile der herrschenden Eliten für eine stärker autoritäre Regierungsform empfänglich waren. Tatsächlich glaubten viele Politiker, das Land benötige eine Art Therapie gegen verbreitete Käuflichkeit. Auf dieser Grundlage wurde Mussolini im Oktober 1922 aus der Mitte der herrschenden politischen Klasse als neuer Ministerpräsident vorgeschlagen. Der wichtigste Theoretiker des italienischen Faschismus, Giovanni Gentile, beschrieb die Motivation ein paar Jahre später so: Mussolini habe sich durchgesetzt, weil er der parlamentarischen Korruption, die zu einem kranken Staat geführt habe, eine energische Erneuerung (auch mit Gewalt) verpasst habe. Der Kampf gegen Korruption gehörte zumindest in den ersten Jahren zum Selbstverständnis eines Teils der Faschisten. So mahnte die Zeitschrift Critica Fascista 1923 den Duce, lokalen Parteigrößen nicht zu viel Einfluss zu geben

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120 Jens Ivo Engels und sie daran zu hindern, Klientelsysteme aufzubauen. Damit würde man die Fehler der liberalen Politiker nur wiederholen. 17 Allerdings blieb diese Stimme ungehört. Ähnlich wie Primo de Rivera stützte sich auch Mussolini zunehmend auf personale Netzwerke und untergrub damit den Ruf des neuen Regimes als korruptionsfrei.

Deutschland: Späte, aber intensive Korruptionskritik Teilweise ähnliche Muster können wir in Deutschland feststellen, allerdings mit einer anderen Chronologie. Im Kaiserreich kam es zwar bereits zu einigen Korruptionsskandalen, doch war deren Tragweite sehr begrenzt. Eine kontinuierliche Diskussion über die Korruptheit des politischen Establishments gab es kaum. In den 1870er- und frühen 1880er-Jahren warfen konservative Kritiker Otto von Bismarck und seinem Umfeld Korruption vor und zielten dabei vor allem auf dessen liberale Wirtschaftspolitik. Später versuchten Vertreter der wichtigsten Oppositionspartei, der SPD, eine entsprechende Debatte anzuregen, doch konnten sie diese nicht dauerhaft etablieren. Insbesondere blieben die deutschen Parlamentarier weitgehend unberührt von dem Vorwurf der Käuflichkeit – im europäischen Vergleich war das durchaus eine Besonderheit.18 Allerdings spricht daraus keine grundsätzliche Resistenz gegen Antikorruptionspolemik. Interessanterweise erblühte eine heftige Korruptionsdebatte in dem Augenblick, als das Parlament in Deutschland manifest an Macht gewann. In der Weimarer Republik gehörten Korruptionsskandale und hieraus abgeleitete Herabwürdigungen der parlamentarischen Demokratie fast sofort zum Repertoire der innenpolitischen Debatte. Insbesondere die politischen Ränder aus Kommunisten, Nationalkonservativen und – später – National­sozialisten wandten sich schon bald routinemäßig gegen die vorgebliche Korruption innerhalb der die Demokratie stützenden »Weimarer Koalition«, insbesondere der SPD. Fast durch die gesamte Zeit der Weimarer Republik prägten verschiedene Korruptionsskandale die politische Debatte. Die prominentesten darunter waren Korruptionsvorwürfe gegen Matthias Erzberger ab 1919, der Fall Sklarz-Parvus, der Barmat-­Kutisker-Skandal ab 1924 oder die Sklarek-Affäre ab 1929. Sie dienten kontinuierlich als Referenzen für jene, die die Demokratie bekämpften. In den meisten Fällen wurden antisemitische und antikapitalistische Ressentiments in den Debatten lautstark artikuliert. Zusammen mit einer Vielzahl kleinerer

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Korruptionsaffären entstand bei vielen Beobachtern der Eindruck, Käuflichkeit stelle das Wesen eines demokratischen Staates dar. War die deutsche Korrup­ tionsdebatte vor 1918 durch Zurückhaltung geprägt, so entfaltete sie in Weimarer Zeit mindestens die gleiche Dynamik wie in anderen Ländern.19 Wie andernorts wurde nun auch in Deutschland eine autoritäre Wende als Lösung angepriesen. Auch wenn die Nationalsozialisten ihren Machtanspruch vor allem mit ihrer rassistischen und expansionistischen Ideologie begründeten, so standen sie ihrem Selbstverständnis nach durchaus für den Kampf gegen Korruption – und viele Wähler sahen das zunächst als ihre Stärke an. Allerdings breitete sich nach 1933 in Deutschland rasch Desillusionierung in dieser Hinsicht aus. Selbstbereicherung und Korruption von »NS-Bonzen« gehörten schon bald zur Hauptkritik am neuen Regime – während die grundsätzliche Zustimmung zur NS-Herrschaft in der deutschen Bevölkerung bis weit in die Kriegsjahre hinein erhalten blieb.20

Fazit Dass parlamentarische und demokratische Systeme im Jahr 1923 in einer Legi­ timitätskrise waren, ist gut bekannt. Ich habe versucht, die Bedeutung von Korruptionskritik für die Delegitimation des Parlamentarismus und für die Selbstlegitimation autoritärer bis faschistischer Bewegungen darzustellen. Als eine Regel darf gelten, dass einschlägige Debatten in nahezu allen europäischen Ländern aufkamen – neben den hier präsentierten Fällen gibt es entsprechende Erkenntnisse insbesondere zu Frankreich, Portugal, den Niederlanden und Rumänien. Daher ist die generelle Aussage gut begründet, dass Korruptionskritik einen wesentlichen Baustein für die Begründung antidemokratischer Regierung in der Zwischenkriegszeit darstellte. Wie immer in solchen Fällen unterschieden sich die nationalen Debatten in einige Punkten. Es lassen sich aber durchaus Ähnlichkeiten feststellen. So haben sich mit Ausnahme Deutschlands in den meisten Fällen bereits ab etwa 1900 wichtige Kräfte aus der politischen Mitte vom Parlamentarismus entfremdet. Häufig hatten diese ursprünglich nicht im Sinn, Partizipation abzuschaffen. Im Gegenteil: Durch kurze autoritäre Schnitte wollten sie die Herrschaft der Reichen zurückdrängen. Unter diesem Aspekt betrachtet, erscheinen die autoritären Lösungsansätze nicht als Selbstzweck, sondern als Reparatur­ betriebe parlamentarischer Systeme. Auch unser Einstiegsbeispiel, Primo de

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122 Jens Ivo Engels Rivera, gab sich zunächst dieser Illusion hin. Wie alle anderen scheiterte dieses Experiment jedoch. Der Kampf gegen Korruption, so zeigen es die errichteten Diktaturen, konnte die Öffentlichkeit zwar vom demokratischen Modell entfremden. Es ist aber keinem autoritären Regime gelungen, auf klientelistische Strukturen zu verzichten. Im Gegenteil: Autoritäre Regime benötigen in hohem Maße informelle Systeme der Machterhaltung, die neben Zwang und Gewalt immer auch auf intransparenten Begünstigungssystemen beruhen. Die Geschichte der Korruptionskritik im frühen 20. Jahrhundert ist auch für die aktuelle Debatte nicht ohne Bedeutung. Sie zeigt, wie gefährlich ein undifferenzierter und generalisierender Umgang mit dem Korruptionsvorwurf sein kann. Insbesondere dann, wenn die politischen Eliten selbst zu dem Schluss kommen, dass der Parlamentarismus im Kern käuflich sei, besteht die Gefahr, dass vorschnelle Konsequenzen daraus gezogen werden. Vor dem Hintergrund einer inflationären Elitenkritik und dem Wiederauftauchen populärer Verschwörungsmythen sollten heutige Staatsbürgerinnen und Staatsbürger jegliche Korruptionsvorwürfe kritisch begleiten. Das heißt gewiss nicht, individuelle Verfehlungen von Politikerinnen und Politikern zu akzeptieren. Es bedeutet aber sehr wohl, immer auch die Interessen hinter vorgetragener Korruptionskritik im Blick zu haben. Und es bedeutet vor allem, der Versuchung zu widerstehen, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Es gibt keine radikalen Mittel gegen Korruption.

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Anmerkungen 1 Zur Diktatur Primos vgl. etwa Shlomo Ben-Ami, El cirujano de hierro. La dictadura de Primo de Rivera (1923–1930), Barcelona 2012. 2 Zum Kazikentum Javier Moreno Luzón, Political Clientelism, Elites, and Caciquismo in Restoration Spain (1875–1923); in: European History Quarterly 37, 2007, S. 417–441; Juan Pro Ruiz La culture du caciquisme espagnol à l’époque de la construction nationale (1833– 1898); in: Mélanges de l’École française de Rome 116, 2004, S. 605–635; Maria Gemma Rubí i Casals, Coaliciones de turno: corrupción electoral y política competitiva en la Cataluña de la Restauración; in: Mélanges de la Casa de Velázquez 43, 2013, S. 273–293; José Varela ­Ortega, Los amigos políticos. Partidos, elecciones y caciquismo en la restauración (1875– 1900), Madrid 2001. 3 Zum Regenerationismus etwa José Álvarez Junco, Spanish Identity in the Age of Nations, Manchester 2011, S. 358–362; Pol Dalmau Palet, Fighting against Corruption. Newspapers and Public Morality in Modern Spain; in: Frédéric Monier, Olivier Dard, Jens Ivo Engels, Andreas Fahrmeir (Hrsg.), Scandales et corruption à l’époque contemporaine, Paris 2014, S. 31–50; María del Mar Pozo Andrés, Jacques F.  A. Braster, The Rebirth of the ›Spanish Race‹: The State, Nationalism, and Education in Spain, 1875–1931; in: European History Quarterly 29, 1999, S. 75–108; Maria Gemma Rubí i Casals, The Fight against Corruption and the new Politics in Urban Spain (1890–1923), in: Jens Ivo Engels, Andreas Fahrmeir, Cesare Mattina, Frédéric Monier (Hrsg.), Stadt – Macht – Korruption, Stuttgart 2017, S. 99– 107. 4 Joaquín Costa y Martínez, Oligarquía y caciquismo como la forma actual de gobierno en España. Urgencia y modo de cambiarla, Madrid 21902; Rui Ramos, Oligarquía e caciquismo em Oliveira Martins, Joaquín Costa e Gaetano Mosca (c. 1880–c. 1900); in: Análise Social 41, 2006, S. 31–53. 5 María Teresa González Calbet, La Dictadura de Primo de Rivera. El Directorio Militar, ­Madrid 1987, S. 263–264. 6 Vgl. entsprechende Forderungen der deutschen Organisation Lobbycontrol aus dem Jahr 2014, https://www.lobbycontrol.de/wp-content/uploads/Argumentationspapier-Karenzzeiten.pdf (Zugriff am 13.12.2021). 7 Pedro Izquierdo Jerez, Morfologia y fracaso del regeneracionismo primorriverista en la provincia de Murcia (1923–1930); in: Anales de Historia Contemporanea 4, 1985, S. 161–202. 8 Jens Ivo Engels, Die Geschichte der Korruption. Von der Frühen Neuzeit bis ins 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2014. 9 Don M. Cregier, The Lloyd George Political Fund, in: Research Studies 35, 1967, S. 198–219; Gerald Macmillan, Honours for Sale. The Strange Story of Maundy Gregory, London 1955. 10 Geoffrey R. Searle, Corruption in British Politics 1895–1930, Oxford 1987. 11 Arnold White, Efficiency and Empire, London 1901. 12 Hilaire Belloc, Cecil Chesterton, The Party System, London 1911. 13 Tom Villis, Reaction and the Avant-Garde. The Revolt against Liberal Democracy in Early Twentieth-Century Britain, London/New York 2006; Jay P. Corrin, G.  K. Chesterton & Hilaire Belloc. The Battle Against Modernity, Athens 1981; Bryan Cheyette Hilaire Belloc and the ›Marconi Scandal‹ 1900–1914: A Reassessment of the Interactionist Model of Racial Hatred, in: Immigrants & Minorities 8, 1989, S. 131–143; Thomas Linehan British fascism 1918–39. Parties, ideology and culture, Manchester 2000; Stephen Dorrill, Blackshirt. Sir ­Oswald Mosley and British Fascism, London 2006.

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124 Jens Ivo Engels 14 Manuel Suárez Cortina, Trasformismo y Turno: dos versiones latinas de la política liberal europea de la »Belle Epoque”; in: Silvana Casmirri, Manuel Suárez Cortina (Hrsg.), La Europa del sur en la época liberal: España, Italia y Portugal. Una perspectiva comparada, Santander 1998, S. 225–250. 15 Ruggero Bonghi, Il diritto del principe in uno stato libero; in: Giovanni Gentile (Hrsg.), Opere di Ruggero Bonghi; Bd. 1: Programmi politici e partiti, Firenze 1933, S. 525–536 (Erstveröffentlichung im Dezember 1893); Ruggero Bonghi, Una questione grossa. La decadenza del regime parlamentare; in: La Nuova Antologia 1884, S. 483–497. 16 Christopher Duggan, Francesco Crispi, the problem of the monarchy, and the origins of Italian nationalism; in: Journal of Modern Italian Studies 15, 2010, S. 336–353. 17 Massimo Rocca, Fascismo e paese, in: Critica Fascista 1 N. 7, 1923, S. 129–131; Giovanni Gentile, Grundlagen des Faschismus, Stuttgart 1936. 18 Anna Rothfuss, Korruption im Kaiserreich. Debatten und Skandale zwischen 1871 und 1914, Göttingen 2019. 19 Annika Klein, Korruption und Korruptionsskandale in der Weimarer Republik, Göttingen 2014; Martin H. Geyer, Kapitalismus und politische Moral in der Zwischenkriegszeit. Oder: Wer war Julius Barmat, Hamburg 2018. 20 Frank Bajohr, Parvenüs und Profiteure. Korruption in der NS-Zeit, Frankfurt a. M. 2001.

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Von idealisierten Müttern und »seelenlosen Weibern« ›1923‹ im (Zerr)Spiegel geschlechterpolitischer Diskurse Julia Paulus »Alle Deutschen sind vor dem Gesetz gleich, Männer und Frauen haben grundsätzlich dieselben staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten.« Mit diesem Bekenntnis in Art. 109 der Weimarer Reichsverfassung (WRV) wurde erstmals in Deutschland die formale Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern festgeschrieben, wenngleich mit der einschränkenden Formulierung »grundsätzlich«. Zwar erhielten Frauen nun erstmals die Möglichkeit, an allen politischen Wahlen teilnehmen sowie in alle Parlamente gewählt werden zu können, allerdings besaßen die beiden für das Wahlrecht relevanten Art. 109 und Art. 119 keine unmittelbare Rechtskraft. Sie waren nur mit gesetzlichen Garantien ausgestattet. Ebenso wenig korrigierte die Reichsverfassung die dem Gleichberechtigungsgrundsatz entgegenstehenden Bestimmungen des im Jahre 1900 veröffentlichten Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB), dessen Inhalte auf einer patriarchalen Ehe- und Familienauffassung basierten. Stattdessen entzündeten sich aus dem Widerspruch zwischen Verfassungs- und Familienrecht im Laufe der kommenden Jahre heftige Konflikte, die letztlich bis in die frühe Bundesrepublik hineinreichten. Vor allem dieser Widerspruch beeinträchtigte den Handlungsspielraum von Frauen im Privaten wie im öffentlichen (Arbeits-)Leben der Weimarer Republik massiv. So war eine Ehefrau in erster Linie zur Familien- und Hausarbeit verpflichtet, wohingegen ihr Ehemann berechtigt war, die Arbeitsverträge seiner Gattin zu kündigen und in allen ehelichen Angelegenheiten die alleinige Entscheidungsgewalt auszuüben.1 Immerhin jedoch verfügte die Reichsverfassung von 1919 in Art. 128 für verheiratete Frauen  – so sie von ihrem Gatten die Erlaubnis erhielten, im ­öffentlichen Dienst beschäftigt zu sein – die Aufhebung aller bis dato beste-

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126 Julia Paulus henden Ausnahmebestimmungen gegenüber Beamtinnen, sollten in der neuen Republik doch »[a]lle Staatsbürger ohne Unterschied […] nach Maßgabe der Gesetze und entsprechend ihrer Befähigung und ihren Leistungen zu den Öffentlichen Ämtern zugelassen« werden. Zuvor waren die im staatlichen Dienst beschäftigten Frauen der sogenannten Zölibatsklausel unterworfen, nach der verbeamteten Frauen nach ihrer Eheschließung gekündigt werden konnte. Gleichwohl hielt die verfassungsmäßige Anerkennung der Gleichstellung von Frauen im Staatsdienst das Überleben dieser zuvor über Jahre fest verankerten geschlechtsspezifischen Diskriminierung nicht auf. Wie zuvor bereits die Demobilmachungsverordnung, die unmittelbar nach Kriegsende dafür sorgte, dass erwerbstätige Frauen ihren Arbeitsplatz für aus dem Krieg zurückkehrende Männer aufgeben mussten, wurden im Krisenjahr 1923 die Möglichkeiten des Art. 128 der Verfassung durch die Personalabbauverordnung (PAV) unterlaufen. Am Beispiel von drei Entwicklungen, die ihren Ausgang im und um das Jahr 1923 nahmen, möchte dieser Beitrag auf die Bedeutung und Wirksamkeit von Geschlechterrollenzuschreibungen im Privaten wie vor allem aber im öffentlichen Raum aufmerksam machen. Deutlich wird, dass sowohl im Kontext der staatlichen Reglementierung weiblicher Erwerbstätigkeit, der erstmaligen Einführung des ›Muttertages‹ in Deutschland, vor allem aber im Zusammenhang mit der Delegitimierung politischer Partizipationsforderungen von Frauen wesentliche Diskurse um die scheinbar ins Wanken geratene Geschlechterordnung stattfanden.

Das prekäre Recht auf weibliche Erwerbsarbeit Bereits an der Frage der Demobilmachung hatte sich beispielhaft die schwierige Mischung aus traditionellen Rollenerwartungen, Verunsicherungen über die Zukunft und Handlungsoptionen aufseiten der Frauen gezeigt: Zuvor schon waren gesetzliche Vorschriften des Frauenschutzes – wie zum Beispiel das Verbot der Nachtarbeit –, die während des Kriegs gelockert wurden, im November 1918 wieder eingeführt worden, wodurch bereits viele Frauen ihre Beschäftigung verloren. Mit den beiden Demobilmachungsverordnungen vom März 1919 und Januar 1920 über die Freimachung von Arbeitsplätzen zugunsten der aus dem Krieg heimkehrenden Männer wurden schließlich zuerst

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alle – in der Hauptsache verheiratete – Frauen entlassen, die nicht von ihrem Einkommen abhängig waren, was u. a. den Anteil von Frauen an der Indus­ triearbeiterschaft an vielen Orten auf das Niveau von 1913 oder darunter sinken ließ. Zusätzlich unterstützt wurden all diese Maßnahmen durch öffentliche Forderungen männlicher Arbeitnehmergruppen wie etwa dem Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verband, der bereits im Kaiserreich und auch später noch die Idee propagierte, dass Ehefrauen kein Arbeitsplatz zustehe, da sie ja versorgt seien.2 Darüber hinaus griff die Verordnung analog zu ihrer Funktion als Bestandteil einer geschlechtersegregierenden Arbeitsmarktpolitik tief in das System der sozialen Sicherung ein. So lauteten die Paragrafen 6 und 7 der Demobilmachungsverordnung vom 13. November 1918: »Weibliche Personen sind nur zu unterstützen, wenn sie auf Erwerbstätigkeit angewiesen sind.« (§ 6). Und noch deutlicher Paragraf 7: »Personen, deren frühere Ernährer arbeitsfähig zurückkehren, erhalten keine Erwerbslosenunterstützung.«3 Als im Krisenjahr 1923 die Personalabbauverordnung als Sparmaßnahme eine drastische Reduzierung des Personals im öffentlichen Dienst vorsah, waren es wiederum die weiblichen Staatsbediensteten – neben den verheirateten diesmal explizit auch die alleinstehenden Frauen, die in ihren Familien lebten oder nur eine oder zwei Personen zu versorgen hatten –, die durch Aufgabe ihrer Erwerbstätigkeit ein nationales Opfer erbringen sollten.4 Viele Frauenverbände kritisierten die Bestimmung als offenen Verfassungsbruch. Dadurch konnten sie immerhin erreichen, dass die Formulierung in einen Kompromiss abgemildert wurde, der zumindest die Kündigungsfrist von einem auf drei Monate verlängerte und Ruhegehaltsansprüche einräumte. Letztlich jedoch waren die so entlassenen Frauen ihrer gesamten erworbenen Sozialrechte beraubt. Für verheiratete männliche Staatsdiener hingegen galt diese Bestimmung, der im Reichstag alle Parteien bis auf die Kommunistische Partei zugestimmt hatten, nicht. Diese zunächst als Ausnahmebestimmung in der Krise angelegte Verordnung hatte letztlich bis 1929 Bestand, wurde dann außer Kraft gesetzt, um jedoch knapp drei Jahre später wieder eingeführt zu werden. Allein in den Jahren zwischen 1923 und 1925 waren von dieser Maßnahme insgesamt 14 Prozent aller Reichsbeamtinnen und 45 Prozent der in staatlichen Diensten beschäftigten Angestellten betroffen. In der Folge blieben weiblichen Verheirateten durch die Exklusionsmaßnahme zentrale Berufsfelder für höher qualifizierte F ­ rauen im

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128 Julia Paulus Schul- und Sozialwesen verschlossen. Die Gesamtzahl derer, die diese Bestimmungen betrafen, war im Verhältnis zu den Beschäftigten in anderen Wirtschaftssektoren nicht allzu groß und die Einsparungen, die man durch Entlassungen erzielte, fielen eher gering aus. Dennoch erhielt die grundsätzliche Intention, die der Personalabbauverordnung zugrunde lag, eine fatale Signalwirkung: Nur allzu leicht konnte nun das vermeintlich moralische Diktum vom weiblichen ›Doppelverdienertum‹ weitere Ressentiments schüren, die insbesondere in Zeiten wirtschaftlicher Engpässe regelmäßig wieder aufgegriffen wurden. Trotz dieser Eingriffe in die Erwerbsmöglichkeiten von verheirateten Frauen zeigte sich in den Folgejahren mit dem allgemeinen Anstieg der Frauenerwerbstätigkeit auch wieder ein Anstieg der Zahl verheirateter erwerbstätiger Frauen. Immerhin betrug ihr Anteil nach der Volks-, Berufs- und Betriebszählung im zweiten Jahr nach der Krise 31,8 Prozent. Insgesamt wies die Berufszählung des Jahres 1925 gegenüber der von 1907 knapp zwei Millionen mehr weibliche Vollerwerbstätige aus; eine genauere Betrachtung zeigt allerdings, dass die weibliche Erwerbsquote nur wenig  – von 34,9 auf 35,6 Prozent (bei den Männern hingegen von 61 auf 68 Prozent) – gestiegen war. Die Zahl der weiblichen Beschäftigten in der Land-, vor allem aber in der Hauswirtschaft war sogar um 20 Prozent gesunken. Dies erklärt sich aus den Folgen der Inflation, die viele Privathaushalte zum Verzicht auf die Beschäftigung von Personal zwang. Immerhin betrug der Frauenanteil in der Landwirtschaft noch mehr als die Hälfte des Gesamtvolumens aller weiblichen Beschäftigten, da Deutschland trotz seiner Industriezentren, die – wie im Ruhrgebiet – im hohen Maße aus sogenannten Männerindustrien der Stahl- und Bergwerke bestanden, in seinen ›Provinzen‹ noch vornehmlich ländlich strukturiert war. In den sogenannten Frauenindustrien der Textilproduktion oder Feinmechanik hingegen arbeitete lediglich ein Fünftel aller berufstätigen Frauen.5 Am augenfälligsten, wenngleich relational nur mit 13 Prozent weiblichen Erwerbstätigen vertreten, machten sich die Veränderungen im expandierenden Dienstleistungssektor bemerkbar. Hier hatte sich die Zahl der weiblichen Angestellten gegenüber der Vorkriegszeit auf ca. 1,5 Millionen verdreifacht, davon allerdings 90 Prozent ledige Frauen, von denen zwei Drittel jünger waren als 25 Jahre. Grundsätzlich vermochte die massive Diskriminierung erwerbstätige (Ehe)Frauen nicht vom Arbeitsmarkt zu verdrängen. Die Kampagnen waren aber gewiss ein wirksames Mittel, um sowohl verheiratete wie ledige Frauen

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jeglicher Branchen weiterhin vor allem auf besonders schlecht bezahlte und niedrig qualifizierte Arbeitsplätze zu verbannen, um sie, falls nötig, als ›stille ­Reserve‹ – in zumeist als ›Krisenzeiten‹ titulierten Ausnahmesituationen – wieder zu mobilisieren. Überhaupt zeigte sich in diesen Krisen, aber auch während der Aufbruchsjahre und über alle Parteienlager und Lobbygruppen hinweg ein relativ breiter Konsens, wenn es darum ging, das weibliche ›Zweiphasenmodell‹ zu legitimieren. Kaum Zweifel bestanden für die meisten Männer wie für Frauen an der schon im BGB festgeschriebenen Behauptung, die Frau gehöre ihrem Wesen nach in die Familie. Lediglich davor, in der kurzen Phase zwischen Schulzeit und Verheiratung, könne, dürfe oder müsse sie sogar – je nach sozialer oder politischer Perspektive der Betrachtenden  – am Erwerbsleben teilhaben. Dieses »Zwischenstadium der persönlichen Unabhängigkeit«,6 wie es Gertrud Bäumer, die langjährige Vorsitzende des ›Bundes Deutscher Frauenvereine‹ (BDF), formulierte, schien genau die Phase zu sein, in der es neuerdings jungen und ledigen Frauen möglich war, mit neuen Lebensentwürfen zu experimentieren. Auf diese Lebensphase konzentrierte sich das aus vielen Weimar-Darstellungen bekannte Leitbild der ›Neuen Frau‹.

›Mutterschaft‹ als Beruf und Berufung: die Initiierung der Muttertagsbewegung im Mai 1923 Dieses Leitbild der von Familienpflichten unabhängigen und experimentierfreudigen ›Neuen Frau‹ korrespondierte mit dem oben erwähnten Anwachsen des Angestelltenberufs. Es stand im Kontrast zum traditionellen Rollenbild der verheirateten Frau als ›Gattin‹, ›Hausfrau‹ und ›Mutter‹,7 das das Ideal der ›Mutterschaft‹ besonders betonte. Den deutlichsten Ausdruck ihrer Politisierung bildete die wohl nicht ohne Grund im Krisenjahr 1923 initiierte ›Muttertagsbewegung‹. Diese Initiative versammelte neben (sozial)eugenisch argumentierenden Sozialpolitiker:innen auch all jene Kulturpessimist:innen, die sich biologistischen wie ›rassehygienischen‹ Vorstellungen vom Menschsein und seinem dazugehörigen ›Volkskörper‹ verschrieben hatten. Ausgehend von den USA, wo der Muttertag bereits 1914 zum offiziellen Feiertag erklärt worden war, ging in Deutschland die Werbung für einen solchen Fest- und Aktionstag zunächst vom ›Verband deutscher Blumengeschäftsinhaber‹ aus. 1925 schloss sich dann die ›Arbeitsgemeinschaft für Volksgesundung‹ der Muttertagsbewe-

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130 Julia Paulus gung an. Hinter dieser standen neben Geschäftsinteressen vor allem politische Ambitionen nationalkonservativer und völkischer Kreise, die mit Unterstützung eines breiten, unverdächtig erscheinenden Bündnisses und unter Zuhilfenahme eines allseits probaten und moralisch hoch aufgeladenen Themas versuchten, einen Gegenpol zu den von ihnen diagnostizierten Verfallserscheinungen in der Weimarer Republik zu schaffen.8 Dabei ging es der Bewegung jedoch bereits zu Beginn ihrer Aktionen weniger um die realen sozialen und ökonomischen Lebensverhältnisse von Müttern und Hausfrauen.9 Insofern ist es wohl eher ein Zufall, dass zeitgleich mit der Errichtung von Suppenküchen und Kleiderkammern im Mai 1923 die von der Lobbyorganisation der Floristikbranche veranstalteten Muttertagskampagnen einsetzten.10 Neben konservativen Mahner:innen war es vor allem aber der Staat, der die Mutterschaft als eigentliche und endgültige Rolle der Frau bekräftigte. Sein Umgang mit dem Thema spiegelte sich nicht zuletzt in der Kontroverse um den Paragrafen 218 wider. Zwar gehörten Abtreibungen zu den sozialen Realitäten der Weimarer Gesellschaft, sie blieben aber weithin im Dunkel und Halbdunkel der Illegalität, da das Strafgesetzbuch für das Delikt der Abtreibung besonders harte Strafen vorsah.11 Erst 1927 beschloss eine Reichstagsmehrheit auf Initiative der SPD, Abtreibungen nicht mehr mit Zuchthaus, sondern lediglich mit Gefängnis zu bestrafen. Trotzdem war und blieb das Thema weiterhin virulent. Bereits in den Anfangsjahren der Republik war deutlich geworden, dass die hohe Anzahl an Abtreibungen als ein Indiz dafür gelesen werden konnte, dass die Kenntnis, Verbreitung und wohl auch Akzeptanz von kontrazeptiven Mitteln gering war. Umso wichtiger wurden vor diesem Hintergrund Einrichtungen, die Ehe- und generell Sexualberatung für Frauen und Männer anboten.12 Die erste Einrichtung dieser Art stellte das 1919 von Magnus Hirschfeld gegründete ›Institut für Sexualwissenschaft‹ in Berlin bereit. Andere vergleichbare Sexualberatungsstellen entstanden ab 1924 im Rahmen der Arbeit des von Helene Stöcker geleiteten ›Bundes für Mutterschutz‹, die in ihrer Begründung zur Einrichtung dieser Stellen aus einer dezidiert geschlechterpolitischen Pers­ pektive auf den Zusammenhang von sozialer Notlage, Geschlecht und Kriminalisierung hinwies: »Wir leben in einem Deutschland, in dem Millionen hungern […], und nun sollen Frauen vor Gericht gezerrt werden, weil sie in Sorge und Not sich weigerten, einem Kind das Leben zu geben, für das der Staat, die Gesellschaft heute kein Existenzminimum garantieren kann?«13 Während Sozialdemokrat:innen und Kommunist:innen sich für eine Mischung aus ­

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medi­zinischer und psychologischer Beratung, sexueller Aufklärung und – angesichts der wirtschaftlichen Krise kinderreicher Familien  – sozialer Hilfen entschieden, legten Vertreter:innen der politischen Rechten wie erstmals 1923 durch die Unterstützung in der Einrichtung eines Lehrstuhls für R ­ assenhygiene den Akzent auf eine ›qualitative‹ Bevölkerungspolitik.14

Stille Woche: »Aber Frau! Sie waschen in der stillen Woche, das bringt Unglück, da kann Ihnen was sterben!« – »Schad’ nischt, Frau Rat, wenn eens weniger wird, wir hab’n jenug!« Aus: H.Zille, Mein ­Milljöh, Berlin 1923. Fragen nach der rechten, wenngleich nicht unbedingt gerechten Geschlechterordnung, von Mutterschaft wie nach einer angemessenen Regulierung von ­Sexualität mündeten nicht selten in Diskurse, die von einer grundsätzlichen Krise ›der Frau‹ ausgingen, nach der sich Frauen den an sie gestellten Anforderungen entweder bewusst entzogen oder aber vor der Last verschiedenartigster Aufgaben zu versagen drohten.

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132 Julia Paulus Diese Einschätzung gründete nicht zuletzt auf der Vorstellung, es gäbe so etwas wie natürliche, zeitlos gültige und unveränderliche Verhältnisse, die sich nirgends so deutlich zeigten wie auf dem Gebiet der Beziehungen zwischen Frauen und Männern. Ein beliebter Topos stellte hierbei die Annahme dar, es gäbe ein unwandelbares Naturgesetz, das Frauen zu Müttern und Männern zu Versorgern und Beschützern bestimmt habe. Insbesondere, wenn diese Grenzen Gefahr liefen, überschritten zu werden, wurde im Namen der ›Sittlichkeit‹ an dieses ›Gesetz‹ erinnert. Nicht ohne Grund sprachen Kritiker:innen der Republik deswegen der ­patriarchalen Familie die Funktion eines letzten, fundamentalen Stabilitätsfaktors zu. Schließlich zählte wie bereits im Kaiserreich die Familie als klassischer Gradmesser, anhand dessen man glaubte, die ›Qualität‹ gesellschaftlicher Entwicklungen feststellen zu können. Entsprechend entscheidend wie strittig war auch die Frage, welche Aufgabe einer Familienpolitik zukommen sollte, die vor dem Hintergrund des Gleichberechtigungsgebots der Weimarer Reichsverfassung die Frage aufwerfen musste, welche Mitwirkungs- und Teilhabemöglichkeiten Frauen zugestanden werden sollten. Das Spektrum der Meinungen darüber reichte von kulturpessimistischen Szenarien, die den ›Volkskörper‹ durch eine individualistische Haltung junger Frauen bedroht sahen, bis hin zur Hoffnung auf neue Formen des partnerschaftlichen Zusammenlebens. Reformorientierte Kreise plädierten dafür, die Familie zu entlasten und einen Teil ihrer Aufgaben an das Gemeinwesen zu delegieren, die Familie also wenigstens partiell durch neue Formen des Wohnens und unter Zuhilfenahme neuer Techniken zu ›vergesellschaften‹. Demgegenüber suchten konservative Kräfte die Familie als Keimzelle entweder der göttlichen Schöpfungsordnung oder eines patriarchalen Staates in althergebrachten Bahnen zu stabilisieren. Sie konnten sich dabei auf die Weimarer Verfassung berufen, erklärte doch deren Art. 119 die Ehe »als Grundlage des Familienlebens und der Erhaltung und Vermehrung der Nation« wie überhaupt die »Reinerhaltung, Gesundung und soziale Förderung der Familie« zu besonders bewahrenswerten Gütern. Konzepte wie ›Ehe auf Probe‹, Partnerschafts- und Kameradschaftsehe verlangten demgegenüber eine Reform des patriarchalisch geprägten BGB, in diesem Fall des Eherechts. Bemühungen auf diesem Weg scheiterten jedoch früh, wie an den im Reichstag wenig erfolgreich eingebrachten Initiativen zur Liberalisierung des Scheidungsrechts abgelesen werden kann, die das bisher geltende Verschuldensprinzip durch das Zerrüttungsprinzip ersetzen sollten.15

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Während Frauen in der Ehe ihre rechtliche Gleichheit wie auch in Bezug auf ihren Körper das Selbstbestimmungsrecht versagt wurden, konnten Abolitionist:innen wie Anna Pappritz nach immerhin 24-jährigem Engagement gegen die polizeiliche und strafrechtliche Reglementierungspraxis von weiblicher Prostitution mit dem 1923 vom Reichstag verabschiedeten ›Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten‹ einen entscheidenden Sieg für die Würde von Frauen erringen. Zuvor galten Kasernierung, Zwangsuntersuchungen und – bei Zuwiderhandlung – Arrest für Prostituierte als Voraussetzung, um Freier vor Ansteckung zu schützen. Unter dem Schlagwort »Es gibt nur eine Moral, sie ist die gleiche für beide Geschlechter« hatte die Vereinigung dafür gekämpft, dass im Rahmen einer Anklage gegen Vergehen gegen die öffentliche Sittlichkeit auch die Freier zu belangen seien, was nun durch das Gesetz festgeschrieben wurde. Seine eigentliche Inkraftsetzung allerdings zog sich noch weitere vier Jahre bis zum 1. Oktober 1927 hin, da der Reichsrat unmittelbar Einspruch gegen die Inhalte des Gesetzes erhoben hatte.16 Inwieweit die eigentliche Verabschiedung des Gesetzes im Jahre 1923, das Prostitution nun nicht mehr im strafrechtlichen Sinne als Delikt beurteilte und mit Zuchthaus bestrafte, auch vor dem Hintergrund der zeitgenössisch äußerst prekären Bedingungen sozial deklassierter Mütter erfolgte, lässt sich nicht eindeutig bestimmen, erscheint aber plausibel. Immerhin gehörte zu den Protagonist:innen einer Reform des Sexualstrafrechts auch Helene Strecker, die Gründerin des ›Bundes für Mutterschutz‹, die stets auf die Situation von ledigen Müttern aufmerksam machte, die von der Gesellschaft verachtet und von geringen Löhnen allein für ihre Kinder sorgen mussten. Viele dieser Frauen hielten sich mit Prostitution über Wasser und in allen gesellschaftlichen Schichten grassierten die Syphilis und andere Geschlechtskrankheiten.

Geschlechterpolitik vor, während und nach dem­ ­Krisenjahr So wie bei vielen das Vertrauen in die althergebrachte politische Ordnung spätestens mit der Novemberrevolution über Bord gegangen war, so war die Gewissheit darüber, was Männer zu tun und Frauen zu lassen hatten, bereits während des Krieges bis zur Unkenntlichkeit verwischt worden. Die Beziehung zwischen Frauen und Männern waren förmlich aus den Fugen geraten und

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134 Julia Paulus jedwede Eindeutigkeit in der Vorstellung darüber, wie Männer und Frauen leben, arbeiten und an der Gestaltung ihrer politischen Umwelt teilnehmen sollten, schien (erstmals neu) verhandelbar zu sein. Doch so sehr wir heute mit Bildern von Pionierinnen der Weimarer Republik in den Bereichen Kunst und Kultur, Erwerbstätigkeit, Mobilität und nicht zuletzt Politik Vorstellungen von Selbstbewusstsein, Selbstständigkeit und Unabhängigkeit verbinden, waren diese Vorstellungen von ›der modernen Frau‹ im zeitgenössischen Kontext nicht selten eher negativ konnotiert. Wurden sie in der bildenden Kunst  – als Ausnahmefrauen  – noch zur ›Avantgarde‹ gezählt, lösten diese als Grenzüberschreitung empfundenen Aus- und Aufbrüche aus Gewohntem im konkreten Leben zwischen den Geschlechtern eher Ängste und Gegenwehr aus. Dies galt auch und insbesondere in der Politik. Mit der am 12. November 1918 erfolgten Ausrufung allgemeiner, gleicher, geheimer und direkter Wahlen und den daran anschließenden Wahlen zur verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung am 19. Januar 1919 war nicht nur der Auftakt zur ersten deutschen Demokratie gelegt worden, sondern gleichzeitig auch zu einer Premiere, die erstmals die Gruppe der Frauen als politisch Mündige ansprach.17 Nicht nur deshalb mussten sich die Parteien die Frage stellen, woher nun in aller Kürze jene Kandidatinnen kommen sollten, die für ein politisches Engagement auf kommunaler oder überregionaler Ebene zu begeistern waren und als Rollenvorbilder die weibliche Wählerschaft zum Urnengang motivieren konnten. Schließlich konnte die Mehrzahl der Parteien auf keine lange Tradition in Sachen politischer Beteiligung von Frauen verweisen. Da jedoch 17,7 Millionen wahlberechtigten Frauen nur 15 Millionen wahlberechtigten Männer gegenüberstanden, hing der Ausgang der Wahl entscheidend von ihren Stimmen ab. Während noch im Oktober 1918 von den im Reichstag vertretenen Parteien nur die SPD das Frauenwahlrecht befürwortet hatte, waren nun alle Parteien gezwungen, Frauen als politisch Handelnde anzusprechen, um sie für sich zu gewinnen. Allerdings sprachen sie hierzu die potenziellen Wählerinnen nur selten wie männliche Wähler als Angehörige einer sozialen Schicht oder einer Berufsgruppe an, sondern über die ihnen zugeschriebene soziale und kulturelle, vor allem aber erzieherische und moralische Verantwortung. Dabei zitierten die Parteien von links wie rechts wiederum eine jener zeitgenössischen Schreckensvisionen, nach der der allgemeine wirtschaftliche einen moralischen Niedergang nach sich zöge, wodurch eine baldige Zerstörung des Familienlebens

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drohe, vor dem nur die Frauen in ihrer Funktion als Mütter die Nation retten könnten. Auch viele der schließlich nur 37 weiblichen von insgesamt 423 Abgeordneten in der Weimarer Nationalversammlung sahen ihre Aufgabe vornehmlich darin, ihren zum Teil langjährigen sozialpolitischen Erfahrungen im Kontext einer ›geistigen Mütterlichkeit‹ einen angemessenen Platz in den Debatten des Parlaments einzuräumen.18 Da diese Themen wiederum jenen als ›weiblich‹ definierten Tätigkeitsbereichen zugeschrieben wurden, entsandten die Parteien in der Regel nur ihre weiblichen Mandatsträger in die entsprechenden Ausschüsse, wobei die eigentlichen Entscheidungen zumeist ohne die Expertise der zuständigen weiblichen Abgeordneten gefällt wurden. Demgegenüber wurde ihnen vonseiten der Parteivorstände jeglicher Couleur Kompetenzen in den vermeintlich wesentlichen Politikfeldern wie Wirtschafts-, Außen- oder Innenpolitik abgesprochen. Generell herrschte statt einer Haltung der Inklusion in weiten Teilen der Parlamentsarbeit eher ein Zustand der Exklusion vor. Nicht zuletzt trugen zu diesem Klima auch viele Politikerinnen selbst bei, da sie sich in der Legitimation ihrer politischen Teilhabe in der Regel auf ein Differenzmodell bezogen, das Frauen als »anders geartete« Menschen begriff.19 Ihre Erfolge im Hinblick auf die damit verbundene Hoffnung, eine andere ›Kultur‹ in die Parlamentsarbeit implementieren zu können, fielen allerdings nur dürftig aus. Stattdessen wurden in fast allen Parteien Themen und Initiativen von Politikerinnen in extra dafür eingerichteten exklusiven Frauenbeiräten oder Arbeitsgemeinschaften exkludiert. Die Herstellung dieser exklusiven Räume wiederum verfestigte die Vorstellung geschlechtsspezifischer ›Sphären‹, in der die weiblichen Mitglieder zuallererst als Interessengruppe ›Frau‹, die männlichen Mitglieder hingegen als Staatsbürger mit unterschiedlichen sozialen, kulturellen oder politischen Interessen angesprochen wurden. Hofften viele Politikerinnen zunächst noch, auf diese Weise bislang vernachlässigte Inhalte in die Politik einbringen zu können, mussten viele von ihnen bereits nach nur einer Wahlperiode und dem Verlust von aussichtsreichen Listenplätzen feststellen, dass sich die verbliebenen Abgeordneten zur Durchsetzung ihres »Fraueneinflusses«, wie es in einer Petition des BDF an die Vorstände der im Reichstag vertretenen Parteien vom 3. November 1924 hieß, nun auf einen langwierigen und zähen Machtkampf einzustellen hatten.20 Tatsächlich hatten sich die 41 Sitze einschließlich Nachrückerinnen in der Nationalversammlung zu Beginn der zweiten Wahlperiode bereits auf 29 verringert. Der

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136 Julia Paulus Grund hierfür lag wie bereits bei der Ansprache der Wählerinnen nicht zuletzt in jenem Distinktionssystem, das Zuschreibungen mit Zuordnungen in einer hierarchisch klar strukturierten Geschlechterordnung verband. Bereits bei der Listenaufstellung um ein Abgeordnetenmandat wurden die Bewerberinnen von ihren Parteien nicht als Repräsentantinnen der von Frauen besetzten Berufsstände wie etwa der Lehrerinnen oder der Fürsorgerinnen aufgestellt, sondern ausschließlich als Vertreterinnen ihres Geschlechts. Gegen eine solche »Standesvertretung der Frau« wandte sich Helene Drießen, eine der führenden Politikerinnen innerhalb der westfälischen Zentrumspartei, die erst 1931 im Nachrückverfahren für einen verstorbenen Zentrumspolitiker in den Reichstag einziehen sollte, mit dem letztlich aussichtlosen Hinweis an ihre Parteikollegen, dass Frauen eine »Menschheitshälfte« und kein Analogon von Berufsgruppen seien.21 Parallel zu dem zähen Ringen der Politikerinnen um mehr Einfluss in den Parlamenten wurde nicht nur ihnen, sondern nun auch den Wählerinnen die zur Teilhabe notwendige politische Entscheidungskompetenz streitig gemacht. Insbesondere vor dem Hintergrund der Wahlerfolge von SPD und KPD gerieten sie nun nicht selten bei konservativen Medienvertretern in die Kritik. Dabei wurde Frauen regelmäßig vorgeworfen, dass sie – wie in der dem Zentrum nahestehenden Zeitung ›Germania‹ am 9. September 1923 vermerkt – generell nur »wenig Neigung« für die Politik besäßen und »ihre Sympathie für eine extreme Richtung mehr reinen Gefühlsmomenten als der nackten Überlegung« entspräche. »Aus der Sorge und dem seelischen Miterleben mit ihrer darbenden Familie«, so der Feuilletonist weiter, »wurden nun seelenlose Weiber.« »Nur deshalb«, so folgerte er warnend, »haben die Kommunisten so großen Zulauf von Seiten der Frauen, weil sie ihre Agitation auf diese Widersprüche in der Frau einstellen.«22 Zielte diese Form der Diffamierung in bekannter Manier auf die angeblich geistige Inferiorität von Frauen, deren Einfluss – sobald sie nicht zugunsten ihres Milieus votierten – gebrochen werden musste, geriet mitunter auch eine als ›­deviant‹ markierte Männlichkeit ins Visier einer Rhetorik der Demütigung und aggressiven Verachtung, die sich gleichermaßen gegen die demokratische Verfasstheit der neuen Republik richtete wie auf deren Repräsentanten. Im »Bild des demokratischen Politikers als Zuhälter« entfaltete diese Rhetorik ihre »Wirkung in einem über viele Jahre immer wieder erneuerten Sinnhorizont geschlechtlich konnotierter Politik- und Gesellschaftsbeschreibungen«.23 Dazu nutzten

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die rechtskonservativen bis völkischen Gegner der Demokratie die zum Teil gleichen hoch aufgeladenen moralischen Kategorien, mit denen sie alles ›Moderne‹ und in diesem Kontext vor allem das selbstbewusst Weibliche als ›undeutsch‹ denunzierten. Einer ähnlichen Semantik bedienten sich auch vor allem

Im besetzten Gebiet. Simplicissimus, 13.12.1922.

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138 Julia Paulus jene, die in der ­französischen Besatzung bzw. Ruhrkrise 1922/23 Anzeichen eines ­generellen Verfalls der Demokratie zu erkennen glaubten. Bekannt sind hierbei all die ­Karikaturen, die französische Besatzungsoffiziere ebenfalls als Zuhälter oder afrikanische Kolonialsoldaten rassistisch als Vergewaltiger deutscher Frauen darstellten,24 während deutsche Politiker als ebensolche Bordellbesitzer auftreten oder sich als Verräter vom Feind bestechen lassen.25

Fazit So wie insbesondere Krisenzeiten dazu genutzt wurden, einer vermeintlichen Verflüssigung von Geschlechterrollen entgegenzuwirken, bedienten sich die Gegner der Republik in ihrem Kampf um die Wiederherstellung einer in ihren Augen stabilen politischen Ordnung einer im hohen Maße misogynen Abwertungssemantik, die zusätzlich über eine Effemination ihrer männlichen politischen Gegner auf eine Delegitimierung des politischen Systems der Demokratie zielte.26 Dieser angefeindeten kultivierten, weil angeblich kontrollierten ›republikanischen‹ Männlichkeit, die den Gedanken des Teamgeists und der klaren (Spiel-)Regeln für die neue Demokratie zu adaptieren suchte und selbstbewusste Frauen weder als Gefahr noch als ›Degeneration‹ ihrer Art begriffen, sondern als Gleiche unter Gleichen, als Partnerinnen, zuweilen auch als ›Kameradinnen‹27 stand eine militarisierte, wenngleich nun in hohem Maße als ›natürlich‹ unbändig verstandene Männlichkeit gegenüber. Das Verhältnis dieser beiden antagonistischen Männlichkeitsentwürfe war jedoch nicht nur im hier untersuchten Zeitraum des ersten Viertels der jungen Demokratie recht ungleich verteilt. Und auch der Umgang mit den hier angesprochenen Themen deutete weniger auf einen grundsätzlichen Aufoder Umbruchsdiskurs hin. Vielmehr markierte er deutliche Anzeichen einer ­Retraditionalisierung, die sich nicht allein auf den Krisenmodus der Republik bezogen. Ähnlich wie die Relationalität der Kategorie Geschlecht innerhalb einer heteronormativen Gesellschaftsordnung unaufhebbar ist und Konstruktionen von Geschlecht demnach immer mit der Konstruktion von ­Geschlechterdifferenz verbunden sind,28 zeigt sich für die Weimarer Republik eine unmittelbare Parallelität zwischen der Feindschaft zur Demokratie auf der einen und der Ablehnung von Gleichberechtigung auf der anderen Seite, die letztlich für ihre Kritiker:innen zu einem entscheidenden Symbol für den kul-

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turellen Niedergang der deutschen Nation werden konnte. Nicht nur hier, aber an diesem in der Folge so wirkmächtigen Beispiel, zeigt sich die Omnipräsenz der Wechselwirkungen zwischen Staat, Demokratie und Geschlecht im zeitgenössischen Diskurs.29

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Ute Gerhard, Grenzziehungen und Überschreitungen. Die Rechte der Frauen auf dem Weg in die politische Öffentlichkeit, in: dies. (Hrsg.), Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, München 1997, S. 509–546; Dieter Schwab, Gleichberechtigung und Familienrecht im 20. Jahrhundert, in: Gerhard, Frauen in der Geschichte des Rechts, S. 790–827. Susanne Rouette, ›Gleichberechtigung‹ ohne ›Recht auf Arbeit‹. Demobilmachung der Frauenarbeit nach dem Ersten Weltkrieg, in: Unter allen Umständen. Frauengeschichte(n) in Berlin, Berlin 1986, S. 159–182. Karin Hausen, Arbeiterinnenschutz, Mutterschutz und gesetzliche Krankenversicherung im Deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Zur Funktion von Arbeits- und Sozialrecht für die Normierung und Stabilisierung der Geschlechterverhältnisse, in: Gerhard, Frauen in der Geschichte des Rechts, S. 713–743. Claudia Hahn, Der öffentliche Dienst und die Frauen. Beamtinnen in der Weimarer Republik, in: Frauengruppe Faschismusforschung (Hrsg.), Mutterkreuz und Arbeitsbuch. Zur Geschichte der Frauen in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus, Frankfurt a.  M. 1981, S. 49–78; Barbara Greven-Aschoff, Die bürgerliche Frauenbewegung in Deutschland 1894–1933, Göttingen 1981, S. 170–175. Volks-, Berufs- und Betriebszählung vom 16. Juni 1925. Die berufliche und soziale Gliederung der Bevölkerung des deutschen Reiches. Bd. 402 der Statistik des deutschen Reiches, Berlin 1927. Zitat nach: Ute Frevert, Frauen-Geschichte. Zwischen bürgerlicher Verbesserung und neuer Weiblichkeit, Frankfurt a. M. 1986, S. 180. Sabine Becker, Verhaltenslehren der Emanzipation. »Neue Frauen« in Weimar, in: Zeitschrift für Ideengeschichte14, 4, 2020, S. 30–37; Katharina Sykora (Hrsg.), Die neue Frau. Herausforderung für die Bildmedien der zwanziger Jahre, Marburg 1993. Vgl. auch im Folgenden: Karin Hausen, Mütter, Söhne und der Markt der Symbole und Waren. Der »Deutsche Muttertag« 1923–1933, in: Hans Medick, David W. Sabean (Hrsg.), Emotionen und materielle Interessen. Sozialanthropologische und historische Beiträge zur Familienforschung, Göttingen 1984, S. 473–523. Hedwig Stieve, Tagebuch einer Fürsorgerin (Nachdr. d. Orig.-Ausg. Berlin 1925 mit e. Nachw. von Norbert Preusser), Weinheim 1983, wie auch: Silke Fehlemann, Armutsrisiko Mutterschaft: Mütter- und Säuglingsfürsorge im rheinisch-westfälischen Industriegebiet 1890–1924, Essen 2009. Vgl. u.  a Gudrun Wittig, »Heldinnen des grauen Alltags«. Vom Muttertag zum Mutterkreuz Mütterehrung in Gladbeck 1925 bis 1943, in: Beiträge zur Gladbecker Geschichte 95, 6/7, 1994, S. 63–80. Katja Patzel-Mattern, »Volkskörper« und »Leibesfrucht«. Eine diskursanalytische Untersuchung der Abtreibungsdiskussion in der Weimarer Republik, in: Clemens Wischemann, Stefan Haas (Hrsg.), Körper mit Geschichte. Der menschliche Körper als Ort der Selbstund Weltdeutung, Stuttgart 2000, S. 191–222; Cornelie Usborne, Frauenkörper – Volkskörper. Geburtenkontrolle und Bevölkerungspolitik in der Weimarer Republik, Münster 1994. Vgl. im Folgenden: Kristine von Soden, Die Sexualberatungsstellen der Weimarer Repu­ blik 1919–1933, Berlin 1988. Helene Stöcker, 600 Frauen auf der Anklagebank wegen Abtreibung!, in: Die neue Generation. Publikationsorgan des Bundes für Mutterschutz und der Internationalen Vereinigung für Mutterschutz und Sexualreform 20, ½, 1924, S. 33–37, hier: S. 36.

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14 Mit Fritz Lenz wurde dieser Lehrstuhl 1923 an der Universität München als erster Lehrstuhl für Rassenhygiene eingerichtet. Vgl. Gerhard Bader, Von der Sozialhygiene zur Rassenhygiene, in: Heinz-Georg Tenorth (Hrsg.), Geschichte der Universität Unter den Linden 1810–2010. Bd. 5, Berlin 2010, S. 753–777. 15 Vgl. Rebecca Heinemann, Familie zwischen Tradition und Emanzipation. Katholische und sozialdemokratische Familienkonzeptionen in der Weimarer Republik, München 2004; Raffael Scheck, Mothers of the Nation. Right-Wing Women in Weimar Germany, Oxford 2004. 16 Kerstin Wolff, »Es gibt nur eine Moral!« – Die bürgerliche Frauenbewegung und ihre Debatten um Prostitution (1880 bis 1933), in: Digitales Deutsches Frauenarchiv, 2018, URL: https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/themen/es-gibt-nur-eine-moral-diebuergerliche-frauenbewegung-und-ihre-debatten-um-prostitution (zuletzt besucht am 20.08.2022). 17 Vgl. im Folgenden: Julia Paulus, Die Parteien und die Frauen, in: Dorothee Linnemann, Jan Gerchow (Hrsg.), Damenwahl! – 100 Jahre Frauenwahlrecht, Frankfurt a. M. 2018, S. 158– 161; dies., Zivilisierung der Politik in der Weimarer Republik, in: Linnemann, Gerchow, Damenwahl!, S. 204–207. 18 Vgl. Christoph Sachße, Mütterlichkeit als Beruf. Sozialarbeit, Sozialreform und Frauenbewegung 1871–1929, Frankfurt a. M. 1986. 19 Marie Juchacz in der Verhandlung der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung in ihrer Rede am 19.2.1919: Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Von der 1. Sitzung am 6. Febr. 1919 bis zur 26. Sitzung am 12. März 1919. 11. Sitzung, Berlin 1920, S. 177. 20 Petition des BDF an die Vorstände der im Reichstag vertretenen Parteien vom 3. November 1924, in: Die Frau 32, 1924/25, S. 91. 21 Zitiert nach: Elisabeth Prégardier, Anne Mohr, Politik als Aufgabe. Engagement christlicher Frauen in der Weimarer Republik, Essen 1990, S. 199. 22 Germania vom 9.9.1923, Beilage Frauenwelt. 23 Martina Kessel, Demokratie als Grenzverletzung. Geschlecht als symbolisches System in der Weimarer Republik, in: Gabriele Metzler, Dirk Schumann (Hrsg.), Geschlechter(un) ordnung und Politik in der Weimarer Republik, Bonn 2016, S. 81–108, hier: S. 85. 24 Vgl. Simplicissimus 27/37, 13.12.1922, S. 535; 28/35, 26.11.1923, S. 432; 28/5, 30.4.1923, Titelblatt; 27/45, 5.2.1923; 28/9, 28.5.1923, Titelblatt. Vgl. hierzu auch: Sandra Maß, Das Trauma des weißen Mannes. Afrikanische Kolonialsoldaten in propagandistischen Texten (1914– 1923), in: L’homme. Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft 12, 1, 2001, S. 11–33. 25 Vgl. u. a. Simplicissimus 28/35, 26.11.1923, Titelblatt; ebd., S. 432. 26 Vgl. hierzu auch: Claudia Bruns, Politik des Eros. Der Männerbund in Wissenschaft, Politik und Jugendkultur (1880–1934), Köln 2008. Vgl. zu diesem ›Motiv‹ auch die Darstellung eines französischen Besatzungsoffiziers im Simplicissimus, 27/40, 3.1.1923, Titelblatt. 27 Änne Söll, Der Neue Mann? Männerporträts von Otto Dix, Christian Schad und Anton Räderscheidt 1914–1930, München 2016. Vgl. hierzu z. B. auch die geschlechteregalisierende Funktion des Sports: Frank Becker, Amerikanismus in Weimar. Sportsymbole und politische Kultur. 1918–1933, Wiesbaden 1993, S. 306–335. 28 Michael Meuser, Geschlecht und Männlichkeit. Soziologische Theorie und kulturelle Deutungsmuster, Wiesbaden 22006, S. 122. 29 Ute Planert, Kulturkritik und Geschlechterverhältnis. Zur Krise der Geschlechterordnung zwischen Jahrhundertwende und »Drittem Reich«, in: Wolfgang Hardtwig (Hg.), Ordnungen in der Krise. Zur politischen Kulturgeschichte Deutschlands 1900–1933, München 2007, S. 191–214.

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Die Ukraine im Jahr 1923 ­ escheiterte Staatsbildung und die Krise G des ­ukrainischen ­Nationalismus

Franziska Davies Die Zwischenkriegszeit begann im östlichen Europa später als im Westen, denn 1918 war der Erste Weltkrieg nicht vorbei. Auf dem Territorium der zusammengebrochenen Imperien der Romanovs und der Habsburger folgten noch »vielerlei Kriege«: Revolutionskriege, Staaten- und Nationsbildungs­ kriege, Bürger­kriege und zwischenstaatliche Kriege, wobei sich viele dieser Kriege nicht eindeutig einer der Kategorien zuordnen lassen.1 Die Dominanz der Imperien in Ostmitteleuropa wurde abgelöst durch eine Reihe unabhängiger Staaten, die sich als Nationalstaaten begriffen und deren Grenzen umstritten und umkämpft waren. Im November 1918 formierte sich die Zweite Polnische Republik, nachdem 1795 durch die Aufteilung Polens zwischen Preußen, dem Russischen Reich und der Habsburger Monarchie die polnisch-litauische Adels­republik von der europäischen Landkarte verschwunden war. Estland, Lettland und Litauen, die Teil des russischen Zarenreichs waren, erklärten ihre Unabhängigkeit. Die Begriffe der »Russischen Revolution« und des folgenden »Russischen Bürgerkriegs« verdecken, dass 1917 auch ein Vielvölkerreich zusammenbrach, auf dessen Trümmern konkurrierende Vorstellungen der postimperialen Ordnung aufeinandertrafen. Eine zentrale Rolle spielte dabei die Ukraine: Keine andere Nationalbewegung wurde bereits im 19. Jahrhundert sowohl von staatlichen Akteuren als auch von russischen Nationalisten unterschiedlicher Lager so leidenschaftlich bekämpft. Die Februarrevolution sowie das Ende der Habsburger Monarchie im darauffolgenden Jahr rückten zum ersten Mal die Möglichkeit einer unabhängigen Ukraine in greifbare Nähe. Insofern sahen ukrainische Nationalist:innen im Ersten Weltkrieg und Zusammenbruch der imperialen Ordnung in Ostmitteleuropa nicht nur eine Krise, sondern auch eine Chance.

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Die Ukraine im Jahr 1923

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Zwischen 1917 und 1920 versuchten Ukrainer sowohl in der Zentral- und Ostukraine als auch in der Westukraine, einen unabhängigen Staat zu gründen. Weder die neue sowjetische Macht noch der wiedergegründete polnische Staat waren allerdings bereit, dies zu akzeptieren. Militärisch unterlagen die Ukrainer im Sommer 1919 endgültig der polnischen Armee; die Zentral- und Ostukraine war einer der Hauptschauplätze des Russischen Bürgerkriegs, den die Bolschewiki  – nach vielfachen Herrschaftswechseln  – 1920 eroberten und im folgenden Jahr auch tatsächlich kontrollierten. Das Leid der Bevölkerung ging weiter: Wie andere Regionen der zukünftigen Sowjetunion war auch die ­Ukraine 1921 von einer Hungersnot betroffen. Als Reaktion auf die sozialen und ökonomischen Verwüstungen des jahrelangen Kriegs verkün­dete Vladimir Lenin 1921 die »Neue Ökonomische Politik« (NEP), die den Bauern wieder gewisse Freiräume erlaubte, marktwirtschaftliche Elemente zuließ und eine ­Periode der Erholung einläutete. Außerdem waren die 1920er-­Jahre eine Dekade der korenizacija (Einwurzelung), jene P ­ eriode ­sowjetischer Nationalitätenpolitik, die sich durch die Förderung indigener Kulturen und Sprachen auszeichnete. Insofern könnte man die 1920er-Jahre eher als eine zeitweilige Atempause für die Ukraine sehen, die eine gewisse Erholung von Jahren des Kriegs und der Massengewalt zuließ, die 1914 ihren Anfang genommen ­hatten. Auch wenn 1923 nicht als Schlüsseljahr ukrainischer Geschichte gilt, war es dennoch für die rechtliche Kodifizierung einer neuen Ordnung auf dem Territorium der heutigen Ukraine wichtig – einer Ordnung, die zumindest bis 1939 Bestand haben sollte: In der Westukraine erkannte der Völkerbund offiziell die Zugehörigkeit des umstrittenen Ostgalizien zur Zweiten Polnischen Republik an, nachdem Polen im Jahr zuvor den Schutz seiner Minderheiten zugesichert hatte – darunter eine große Zahl Ukrainer:innen. Das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei billigte in diesem Jahr den Verfassungsentwurf der 1921 offiziell gegründeten Sowjetunion, der im Januar 1924 verabschiedet wurde.2 Die Verfassung schrieb das Schicksal der drei ostslawischen Nationen Russland, Belarus und der Ukraine im sowjetischen Staat formal fest. Erstens blieb entgegen der Versprechungen der Bolschewiki das Zentrum des offiziell föderalen Staats Moskau. Weder Belarus noch der Ukraine noch den transkaukasischen Sowjetrepubliken wurden tatsächlich politische Rechte eingeräumt. Zweitens aber legte die Verfassung fest, dass sowohl Belarus als auch die U ­ kraine als eigene Sowjetrepubliken verfasst sein würden. Durch die

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144 Franziska Davies ­ efinition von nationalen Territorien und die Schaffung von administrativen D Grenzen auf dieser Grundlage hatten die Bolschewiki damit zumindest formal dem »großrussischen Chauvinismus« des zarischen Vorgängerstaats eine Absage erteilt und die Existenz einer belarusischen und ukrainischen Nation anerkannt  – eine Entscheidung, die innerhalb der Kommunistischen Partei durchaus umstritten gewesen war. Es ist kein Zufall, dass der russische Diktator Vladimir Putin 2021 in seinem pseudohistorischen Essay »Über die historische Einheit von Russen und Ukrainern« in genau dieser Entscheidung für die Föderalisierung der Sowjetunion in der Verfassung von 1923/24 eine »Zeitbombe« für die »Staatlichkeit« sah, die zum Auseinanderfallen der Union im Jahr 1991 geführt habe.3 Hier glaubt Putin den Gründungsakt der ukrainischen Staatlichkeit zu erkennen, die er zu vernichten versucht. Freilich unterschlägt er in seinem Text, dass die Gründung der ukrainischen Sowjetrepublik vor allem eine strategische Entscheidung Vladimir Lenins war. Die Stärke der ukrainischen Nationalbewegung, die durch die Erfahrungen in Krieg und Revolution auch breitere Schichten erfasst hatte, zeigte sich in den Jahren 1917/18 deutlich. Das Zugeständnis einer eigenen Sowjetrepublik war Lenins Versuch, die politische Loyalität der Ukrainer:innen gegenüber Moskau zu stärken und ihren Nationalismus einzuhegen – »national in der Form, sozialistisch im Inhalt«.4 Die Politik der Förderung der ukrainischen Sprache, Kultur und Bildung sowie die Schaffung sowjetukrainischer Institutionen waren die Manifestation dieser Strategie.5 Insofern könnte man das Jahr 1923 als das Jahr deuten, in dem die ukrainischen Bemühungen um einen eigenen Nationalstaat für einige Jahrzehnte gescheitert waren – auch die Hoffnungen auf politische Autonomie innerhalb der Sowjetunion erfüllten sich nicht. Die 1920er-Jahre waren in diesem Sinne auch ein Zeitalter der Krise des ukrainischen Nationalismus. Der Geograf und ukra­ inische Aktivist Stepan Rudnyc’kyj konstatierte dies in seinem 1923 erschienenen Buch über die »Grundlagen des ukrainischen Nationalismus«: »[D]ie ukra­inische Staatlichkeit durchlebt eine schwere Krise. Wer weiß, wie sie endet?« Sicher sei nur, dass sie »negativ« enden würde.6 Rudnyc’kyjs Text kann als eine Manifestation der Krise des ukrainischen Nationalismus in den 1920er-Jahren gelesen werden, in dem man über die Ursachen des ukrainischen Scheiterns in den Kämpfen für einen unabhängigen Staat nachdachte. Damit war eine Übergangsphase abgeschlossen, die mit der Februarrevolution begonnen hatte.

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Revolution, postimperiale Kriege und gescheiterte Unabhängigkeit: die Zentral- und Ostukraine Nachdem die Februarrevolution die über 300-jährige Herrschaft der Romanov-­ Dynastie beendet hatte, waren die nächsten Monate von einer Doppelherrschaft zwischen Provisorischer Regierung und dem Arbeiter- und Soldatenrat in Petrograd geprägt  – in dem sozialistische Parteien dominierten. In Kyjiw formierte sich die Zentralna Rada (Zentralrat) unter Vorsitz von Mychajlo Hruševs’kyj. Der berühmte ukrainische Historiker war eine Schlüsselfigur für die Entstehung einer modernen ukrainischen Historiografie und später der erste Präsident der Ukrainischen Volksrepublik. Zunächst waren die Ansprüche der Rada in Richtung Petrograd bescheiden: Ziel war die Autonomie innerhalb eines neuen demokratischen Russlands. Im Verlauf der nächsten Monate aber gewannen auch diejenigen Politiker an Einfluss, die eine stärkere Eigenständigkeit der Ukraine anstrebten. Einer von ihnen war der Schriftsteller Volodymyr Vynnyčenko, der als Vorsitzender des Generalsekretariats der Rada im Juni die erste ukrainische Regierung anführte. In diesem Monat erklärte die Rada schließlich die Autonomie der Ukraine – ein Schritt, den die Provisorische Regierung als Affront auffasste. Versuche, die Rada dazu zu bewegen, ihre Autonomieerklärung wieder zurückzunehmen, scheiterten. Allerdings gelang es der Provisorischen Regierung, die Rada als ihre Repräsentantin in der Ukraine einzubinden. Dieser Kompromiss war aber aus Sicht russischer Nationalisten viel zu weitreichend: Schon eine Autonomie der Ukraine stellte ihr Diktum einer großrussischen Nation infrage, in dem die Ukraine und Belarus lediglich als untergeordnete Varianten akzeptiert wurden. Zunehmend aber verlor die Provisorische Regierung nicht nur in Russland, sondern auch in der Ukraine an Legitimität. Hier gelang es vor allem den ukrainischen Sozialrevolutionären, die Bauernschaft für sich zu mobilisieren, deren politischen Ziele deutlich radikaler waren als die der Rada, ganz besonders im Hinblick auf die Frage der Neuverteilung des Grundbesitzes. In Petrograd gelang es bekanntlich im Oktober 1917 den Bolschewiki, die Macht an sich zu reißen. Sie taten dies auch im Namen des Selbstbestimmungsrechts der Völker und grenzten sich damit vom zarischen Vorgängerregime ab, das sie eines »großrussischen Chauvinismus« bezichtigten. Der Anführer der Bolschewiki, Vladimir Lenin, gab in dieser Hinsicht die Richtung vor. Eine Rolle spielten dabei wohl vor allem taktische Überlegungen: Das Versprechen

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146 Franziska Davies nationaler Selbstbestimmung diente dazu, die politische Attraktivität der Bolschewiki in den umkämpften Randgebieten des ehemaligen Zarenreichs zu erhöhen. Lenins Nationalitätenpolitik speiste sich auch aus der Erkenntnis, dass nationale Identitäten ein zu hohes Mobilisierungspotenzial hatten, um sie zu ignorieren.7 Tatsächlich aber zeigte sich im Verlauf des postimperialen Kriegs, der auf den bolschewistischen Coup folgte, dass die vermeintlich antikolonialistischen Bolschewiki die Unabhängigkeitserklärungen in den Randgebieten des ehemaligen Zarenreiches in vielen Fällen nicht akzeptierten. Einmal mehr galt dies in ganz besonderer Weise im Fall der Ukraine. Die Bolschewiki verweigerten der Rada die Anerkennung als Vertreterin der Ukraine und etablierten stattdessen bereits im Dezember 1917 eine sowjetukrainische Gegenregierung in Charkiw. Wenig später, im Januar 1918, erklärte die Rada in Kyjiw die Unabhängigkeit der Ukraine. Die Bolschewiki reagierten mit militärischer Gewalt – freilich begründeten sie dies nicht mit einem großrussischen Chauvinismus, sondern im Namen der sozialistischen Revolution, die in die Welt getragen werden müsse. In den folgenden Jahren wurde die Ukraine zu einem Schauplatz der Massengewalt.8 Die Vielfalt der Akteure und ihrer Ziele sowie die sich ständig verschiebenden Fronten machen diese Periode ausgesprochen unübersichtlich, der komplizierte Verlauf der Ereignisse soll hier nicht nacherzählt werden.9 Für das endgültige Scheitern des ukrainischen Projekts eines unabhängigen Nationalstaats in der Zentral- und Ostukraine spielten unterschiedliche Faktoren eine Rolle. Am wichtigsten war die militärische Stärke von (Sowjet-) Russland, das im Namen der sozialistischen Revolution die Ukraine eroberte, bzw. die Schwäche seiner Gegner. Auf dem Territorium des ehemaligen Zarenreiches vollzog sich unter dem Banner des Sozialismus eine Reimperialisierung des Raums, anders etwa als in der Habsburgermonarchie, die keinen vergleichbaren Nachfolgestaat hatte. Zweitens genoss die Ukraine – anders als Polen – kaum internationale Unterstützung für ihre Staatsgründungsversuche. Die einzigen Staaten, die die kurzlebige Ukrainische Volksrepublik anerkannten, waren die Mittelmächte, die bekanntermaßen den Krieg verloren. Die oft von ukrainischen Nationalisten in den 1920er- und 1930er-Jahren angeführte Schwäche der ukrainischen Nationalbewegung war diesen Faktoren eher nachgeordnet.10 Tatsächlich führte gerade die Kriegserfahrung zu einer nationalen Mobilisierung unter den bäuerlichen Bevölkerungsschichten. Die Vision einer unabhängigen Ukraine war kein Elitenphänomen mehr.

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Die Folgen des Zusammenbruchs des Zarenreichs und der bolschewistische Coup waren für die Ukraine verheerend: Jahrelange militärische Auseinandersetzungen, antijüdische Massengewalt, bolschewistischer und weißer Terror in sich abwechselnden Besatzungsregimes sind Kennzeichen dieser Jahre. Zugleich sind die Jahre zwischen 1917 und 1920 die Zeit, in der zum ersten Mal in der Geschichte ein moderner ukrainischer Nationalstaat entstand. Dies hat sie zu einem wichtigen Thema der ukrainischen Historiografie, aber auch der kulturellen Erinnerung und ukrainischer nationaler Diskurse gemacht. Untrennbar damit verbunden war die Frage nach den Gründen des Scheiterns der ukrainischen Nationalbewegung und ihrer Agenda – eine Frage, die ukrainische Nationalisten bereits in den 1920er-Jahre beschäftigte und die vor allem in der Westukraine zu einer Radikalisierung des ukrainischen Nationalismus beitrug.

Das Ende der Habsburgermonarchie, die Zweite ­Polnische Republik und die westukrainische Volksrepublik Im Gegensatz zum russischen Zarenreich genossen die Ukrainer:innen Ostgaliziens und der Bukowina (die ab 1849 ein eigenes Kronland im Habsburgerreich war) im 19. und frühen 20. Jahrhundert viel größere kulturelle und politische Freiräume.11 Anders als der zarische Staat erkannte die Habsburgermonarchie die Existenz einer ukrainischen Nation an. In Ostgalizien waren es eher die traditionell dominierten polnischen (Adels-)Eliten, die die ukrainische Nationalbewegung bekämpften und diese – in gewisser Hinsicht parallel zu russischen Nationalisten und imperialen russländischen Bürokraten  – lediglich als korrumpierte Variante der eigenen Nation akzeptierten. Die Habsburger Bürokratie machte sich den polnisch-ukrainischen Gegensatz zeitweise zunutze, um die beiden Gruppen gegeneinander auszuspielen, und stärkte dabei mal die eine, mal die andere Seite. Tatsächlich gelang es im föderalen System des österreichisch-ungarischen Vielvölkerstaates, die polnisch-ukrainische Konkurrenz, die sich besonders deutlich in Lemberg/Lwów/Lwiw zeigte, zumindest nicht eskalieren zu lassen.12 Der Erste Weltkrieg, der – anders als in Westeuropa – im östlichen Europa durch die ständige Verschiebung der Frontlinie gekennzeichnet war, hatte verheerende Auswirkungen auf das Dreiecksverhältnis zwischen Juden/Jüdinnen, Pol:innen und Ukrainer:innen, welches

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148 Franziska Davies das Leben in den westukrainischen Städten prägte.13 Der Wechsel verschiedener Besatzungsregime führte zu gegenseitigen Verdächtigungen und Vorwürfen der Illoyalität sowohl untereinander als auch vonseiten der österreichischen und russischen Okkupationsmächte. Für Polen war der Erste Weltkrieg eine Chance, endlich das zu erreichen, wofür polnische Aufständische im 19. Jahrhundert mehrfach vergeblich gekämpft hatten: die Wiedererrichtung polnischer Staatlichkeit, die die sich bekämpfenden Imperien schon zu Beginn des Kriegs in Aussicht stellten. Mit dem Ende des Kriegs wurde dies Wirklichkeit. Am 11. November 1918 wurde die Zweite Polnische Republik offiziell gegründet. Dabei beanspruchten polnische Politiker vielfach das Territorium der im 18. Jahrhundert zerstörten multiethnischen und multireligiösen polnisch-litauischen Adelsrepublik. Dies konnte nur in Konflikte münden, waren doch inzwischen auf diesem Territorium moderne Nationalbewegungen entstanden, die eigene Forderungen erhoben. Ukrainische Nationalisten sahen Ostgalizien, Teile der Bukowina und der Karpaten als Teil eines zukünftigen ukrainischen Staats. Das Zentrum dieses unabhängigen Staates sollte Lwiw (Lwów, Lemberg) sein. Hier riefen Ukrainer am 1. November 1918 die Westukrainische Volksrepublik aus. Polen reagierte mit militärischer Gewalt. Der Ukrainisch-Polnische Krieg endete bereits 1919 mit einem Sieg Polens. Damit war aber der Konflikt zwischen den beiden Gruppen nicht gelöst. Gerade unter ukrainischen Nationalist:innen im Polen der Zwischenkriegszeit lässt sich eine Radikalisierung beobachten. In den 1920er-Jahren entwickelte sich der ukrainische »integrale Nationalismus« zu einer einflussreichen Strömung. Dieser zeichnete sich durch seinen Antisemitismus, seine Militanz, die sakrale Überhöhung der Nation und die ausgeprägte Feindschaft gegenüber Polen und Russland aus. Ab den 1930er-Jahren gewannen auch rassenideologische und biologistische Gedanken immer mehr Einfluss.14 Die in Wien 1929 gegründete Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) gab diesem Nationalismus eine institutionelle Basis.15 Die Organisation konnte ihrer Mitgliederbasis besonders unter jungen ukrainischen Männern vergrößern, die sozial unterprivilegiert waren und deren ablehnende Haltung dem polnischen Staat gegenüber durch die Diskriminierung von Ukrainer:innen verstärkt wurde. Die 1920er-Jahre waren auch die Geburtsstunde des politischen westukrainischen Terrorismus, der sich sowohl gegen Repräsentanten des Staates richtete als auch gegen jene Ukrainer, die den Ausgleich mit diesem suchten.

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Stepan Rudnyc’kyj über die »Grundlagen des ­ukrainischen Nationalismus« (1923) Auch im Exil entwickelte sich der ukrainische Nationalismus dynamisch. Stepan Rudnyc’kyj veröffenlichte 1923 sein Buch über die »Grundlagen des ukra­ inischen Nationalismus« in Wien. Rudnyc’kyj stammte aus Ostgalizien, wo er 1877 geboren wurde. Sein Studium absolvierte er an den Universitäten von Lemberg und Wien. Als Geograf lehrte er an der Universität Lemberg, war aber zugleich in der ukrainischen Nationalbewegung aktiv und gehörte zu denjenigen, die den Ersten Weltkrieg als Chance für eine Staatsgründung sahen. Genau wie der spätere ukrainische Präsident Hruševs’kyj publizierte er während des Kriegs im Verlag des Bunds zur Befreiung der Ukraine in Wien.16 1918 und 1919 war er als Berater für die Regierung der Westukrainischen Volksrepublik tätig, bevor er nach ihrem Scheitern die Ukraine verließ. Wie so viele seiner Generation waren seine wissenschaftlichen und politischen Tätigkeiten untrennbar miteinander verbunden. Sein Lebensweg war gekennzeichnet durch ständige Grenzüberschreitungen zunächst in imperialen, dann in nationalen Räumen, die er selbst mit zu schaffen versuchte.17 Wie andere Mitglieder der ukrainischen Intelligenzija beschäftigte ihn die Frage, warum die unabhängige Ukraine gescheitert war. Rudnyc’kyj gilt – besonders in der ukrainischen Historiografie – (zu Recht) als einer der Väter der modernen ukrainischen Geografie und als positive Figur der Nationalbewegung.18 Weniger Raum erhält dabei, dass Rudnyc’kyj bereits früh auf biologistische und rassistische Denkfiguren zurückgriff, die in den 1930er-Jahren im westukrainischen radikalen Nationalismus immer einflussreicher wurden. Bemerkenswert an Rudnyc’kyjs Krisendiagnostik ist, dass er die Jahre zwischen 1917 und 1920 nicht in erster Linie mit der Massengewalt verband, die sie begleitet hatte. Ganz im Gegenteil, die Millionen Toten, die antijüdischen Pogrome – all das findet in seinem Buch über den ukrainischen Nationalismus aus dem Jahr 1923 keine Erwähnung. Stattdessen erinnerte er sich an die »großartigen Tage«, die die Ukraine vor kurzer Zeit erlebt habe. Anders aber als die Tschechen, denen es gelungen war, einen unabhängigen Staat zu haben, hätten die Ukrainer keinen Masaryk, jenen Intellektuellen, der 1918 zum ersten Staatspräsidenten der Tschechoslowakei wurde.19 In der Tat bestand in dieser Hinsicht ein Kontrast zwischen anderen (ost) mitteleuropäischen Staaten und der Ukraine: Auf den Ruinen des Habsburger

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Wie so viele seiner Generation waren bei dem ukrainischen Wissenschaftler Stepan Rudnyc’kyj wissenschaftliche Tätigkeit und politischer Aktivismus kaum voneinander zu trennen. Datum und Urheber der Aufnahme sind unbekannt. Imperiums entstand die Tschechoslowakei. Polen gelang die Wiedergründung eines unabhängigen Staates und die baltischen Staaten, die bis 1917 Teil des Zarenreiches gewesen waren, konnten sich ebenfalls etablieren. Dieses b ­ esondere Schicksal der Ukraine wurde auch von nicht-ukrainischen Zeitgenossenen thematisiert. Der jüdisch-österreichische Schriftsteller Joseph Roth, der selbst aus der Kleinstadt Brody in Ostgalizien, der heutigen Westukraine, stammte, schrieb ebenfalls in den 1920er-Jahren über das in Europa »vergessene« Volk der Ukrainer: »In diesem Europa, in dem die möglichst große Selbstständigkeit der Nationen das oberste Prinzip der Friedensschlüsse, Gebietsteilungen und Staatengründungen war, hätte es den europäischen und amerikanischen Kennern der Geographie nicht passieren dürfen, daß ein großes Volk von 30 Millionen, in mehrere nationale Minderheiten zerschlagen, in verschiedenen Staaten weiterlebe.« Die Ukrainer, so Roth weiter, »verdienten gewiss einen eigenen Staat«.20 Der Schriftsteller wies darauf hin, dass die »Popularisierung der ukrainisch-nationalen Idee« unter den bäuerlichen Massen im Grunde erstaunlich sei. Schließlich sei der ukrainische Nationalismus bis vor wenigen Jahrzehnten

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vor allem die Sache einer »geringen[n] Schicht Intellektueller« gewesen, die zu einer »anderen Welt« gehört habe als die ukrainische Bauernschaft. Während Roth implizit die internationale Gemeinschaft für die Nichtgründung einer unabhängigen Ukraine verantwortlich machte, war der ukrainische Geograf ­Rudnyc’kyj anderer Meinung: Für ihn war eben jene Intelligenzija verantwortlich, der Roth attestierte, eigentlich die Vorreiterin der national-ukrainischen Idee gewesen zu sein. Dabei hatte Roth nicht unrecht: In der Tat war es – wie bei anderen europäischen Nationalbewegungen auch  – zunächst eine kleine Elite gewesen, die die Idee einer modernen ukrainischen Nation zu ihrem Projekt gemacht hatte. Bei dem Versuch, auch die Bauernschaft für diese Idee zu gewinnen, war die ukrainische Intelligenzija im habsburgischen Ostgalizien zunächst erfolgreicher gewesen als jene im Zarenreich, wo der Staat die ukrainische Nationalbewegung besonders ab den 1860er Jahren massiv bekämpfte.21 Einen nationalen Mobilisierungsschub brachte in der Zentral- und Ostukraine die Erfahrung von Krieg, Revolution und Bürgerkrieg. Als Rudnyc’kyjs seine »Grundlagen des ukrainischen Nationalismus« veröffentlichte, waren weit mehr Schichten von der ukrainischen Nationalbewegung erfasst als vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Bemerkenswert an Rudnyc’kyjs Ausführungen ist, dass die militärischen Faktoren und die Reimperialisierung (Sowjet-)Russlands, das seine Ansprüche auf die Ukraine keinesfalls aufgeben wollte, in seiner Analyse kaum eine Rolle spielten. Insgesamt blendete er das politische Umfeld, in dem sich die ukrainischen nationstate-builders bewegt hatten, komplett aus. Die fehlende ­internationale Unterstützung der Siegermächte, die andere ostmitteleuropäische Nationalprojekte wie das polnische und tschechoslowakische genossen hatten, interessierten ihn ebenfalls nicht. Vielmehr handelt es sich bei seiner Abhandlung um eine Abrechnung mit der ukrainischen Intelligenzija. Für Rudnyc’kyj waren die ukrainischen Eliten die Schuldigen für das Scheitern der Staatsbildung, sie hatten versagt – und zwar seit Jahrhunderten. Die Überbrückung des sozialen und kulturellen Grabens zwischen Bauernschaft und Intelligenzija war ein Kernanliegen ukrainischer Nationalisten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts gewesen. Für Rudnyc’kyj bestand das Versagen der Intelligenzija aber nicht darin, diese Kluft nicht überwunden zu haben, sondern er sprach der Intelligenzija den Anspruch ab, Vorreiter der ukrainischen Nation zu sein. Den Selbstwiderspruch, der darin lag, als Vertreter eben jener Intelligenzija diese These zu verfechten, konnte Rudnyc’kyj freilich nicht auflösen.

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152 Franziska Davies Rudnyc’kyj attestierte der Ukraine einen »seichten Nationalismus« (milken’kyj nacionalizm), für den er zum einen den Einfluss »fremder Kulturen«, zum anderen »unterschiedliche Universalismen« verantwortlich machte. Wenn diese Art des Nationalismus aber nicht »aus unserem Geist und unseren Herzen ausgerottet« werden würde, dann »wird die Zukunft unseres ukrainischen Volkes nicht glücklich sein!«22 Rudnyc’kyjs verband in seinem Essay seine Vorstellung eines nationalen territorialen Raums mit der Vorstellung eines in der ukrainischen Bauernschaft verankerten Nationalismus, der weit vor dem 19. Jahrhundert existiert habe und den er als statische Größe der Geschichte definierte. Selbstständige Nationen würden gemeinhin auf der Grundlage von fünf Kriterien definiert werden: der »anthropologischen Rasse«, einer eigenen Sprache, einer historischen sowie einer kulturellen Tradition und einem Territorium.23 Tatsächlich hatten Vorstellungen der rassischen Reinheit schon in früheren Werken Rudnyc’kyjs eine Rolle gespielt. 1923 formulierte er sie einmal mehr aus: Anders als die ukrainische Intelligenzija, die sich durch ihre »schädlichen« Kontakte mit den Ukrainern unterlegenen Rassen, besonders Polen, Russen und Juden, auszeichne, sei die Bauernschaft »reinrassig« und würde sich mit diesen nicht mischen.24 In diesem Zusammenhang äußerte sich der Geograf besonders abfällig über jüdische Einflüsse, auch wenn er an anderer Stelle betonte, dass Antisemitismus grundsätzlich einen »unangenehmen« (nezgidnyj) Einfluss auf den Nationalismus habe.25 Der radikale Antisemitismus als integraler Bestandteil eines militanten ukrainischen Nationalismus lag Rudnyc’kyj also fern. An dem eindeutigen Ausschluss der Jüdinnen und Juden aus der ukrainischen Wir-Gemeinschaft änderte diese Einschränkung allerdings nichts. Genau wie die Bauernschaft bei Rudnyc’kyj Träger der »Reinrassigkeit« war, sei sie diejenige Schicht, die anders als die ukrainische Intelligenzija ihr Territorium kenne. Genauso seien es eben die Bauern, die Sprache, Kultur und Geschichte der Ukraine getragen hätten. Dabei deutete Rudnyc’kyj die vermeintliche Schwäche der ukrainischen Geschichte, nämlich nach dem Niedergang der Kyjiwer Rus keinen eigenen Staat mehr gehabt zu haben, in eine Stärke um. Dadurch nämlich sei das einfache Volk und nicht der Staat zum Träger der »historisch-politischen Tradition« geworden. Aus diesem Grund würden sich die »einfachen Menschen« der Ukraine auch viel stärker mit ihrer Nation identifizieren, als es die vermeintlich großen und alten Nationen der Franzosen oder Deutschen täten.26

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Das Territorium der Ukraine laut dem Geografen Stepan Rudnyc’kyj, publiziert 1914 in Wien. Die Staatsferne des Volkes wiederum habe dieses vor jenen »Universalismen« geschützt, die Rudnyc’kyj zufolge für die Gegensätze in anderen nationalen Gemeinschaften verantwortlich seien: die Klassengegensätze etwa, die der Kapitalismus hervorgebracht habe. Als den aktuellsten und für die Ukraine folgenreichsten »Universalismus« identifizierte Rudnyc’kyj aber den »sozialistischen-kommunistischen Universalismus«, der die natürliche Ordnung ignoriere, indem er die Existenz unterschiedlicher Rassen, Stämme, Völker und Nationen negiere.27 Eben dieser Universalismus habe schon im 19. Jahrhundert begonnen, die ukrainische Intelligenzija zu erfassen, die in den entscheidenden Jahren zwischen 1917 und 1920 eine »Klassenpolitik« gemacht und sich schließlich in unterschiedlichen parteipolitischen Streitigkeiten und Programmen verloren habe. Der Siegeszug des »Universalismus« innerhalb der ukrainischen Intelligenzija sei wiederum verbunden mit dem starken Einfluss der russischen Kultur und Sprache: In ihren Händen habe zwischen 1917 und 1920 die ukrainische Staatlichkeit gelegen, die damit letztlich an ihrer »nationalen Indifferenz« gescheitert sei.28 Rudnyc’kyj war überzeugt, dass der Sozialismus mit der ukrainischen Nation unvereinbar sei. Diese sei für den Sozialismus ebenso wenig geeignet wie für die Monarchie  – das habe das Schicksal des Regimes von Skoropads’kyj gezeigt.29 Stattdessen empfahl er für die Ukraine eine demokratisch verfasste

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154 Franziska Davies föderative Bauernrepublik.30 Er imaginierte den zukünftigen Nationalstaat der Ukraine also als eine sozial und ethnisch homogene nationale Gemeinschaft und schloss damit implizit die Intelligenzija aus dem zukünftigen Staatsaufbau aus. Paradoxerweise plädierte Rudnyc’kyj damit für das sozialistisch anmutende Modell einer klassenlosen Gesellschaft, nur dass hier die Bauern- und nicht die Arbeiterschaft als der eigentliche Kern der politischen Gemeinschaft definiert war. Zugleich aber verweigerte sich Rudnyc’kyj jeder Überlegung, auf welchem politischen Weg ein solches Ziel zu erreichen war. Jener militante Nationalismus, der den gewaltsamen Kampf als Mittel der Nationalstaatswerdung propagierte und der im Laufe der Jahre den »integralen Nationalismus« der OUN prägte, ist bei Rudnyc’kyj nicht zu finden. In seinem persönlichen Leben traf Rudnyc’kyj 1926 die bemerkenswerte Entscheidung, der Einladung der Sowjetunion zu folgen und in Charkiw, zu diesem Zeitpunkt noch Hauptstadt der Sowjetukraine, die geografische Forschung aufzubauen. In seinem Werk von 1923 hatte er den schlechten Zustand der Wissenschaften in der Ukraine beklagt und sah die Chance, selbst etwas für deren Stärkung zu tun.31 Sein Lebensweg aber war der vieler ukrainischer Intellektueller und Wissenschaftler:innen in der Sowjetunion: Den ersten Massenterror gegen die ukrainische Intelligenzija zu Beginn der 1930er-Jahre überlebte er noch, wurde aber dennoch schon zu diesem Zeitpunkt Opfer der stalinistischen Repressalien. Im März 1933 wurde er von der GPU, der sowjetischen Geheimpolizei, verhaftet, der »Konterrevolution«, des Faschismus und des »bourgeoisen Nationalismus« beschuldigt, wenig später als ein »Wegbereiter des Faschismus in der Geographie« zu einer mehrjährigen Haftstrafe in einem Speziallager auf den Solowezki-Inseln im Norden Sowjetrusslands verurteilt und 1937 schließlich in Stalins »Großem Terror« erschossen.32 Die Repressionen gegen Rudnyc’kyj bereits zu Beginn der 1930er-Jahre waren Teil eines umfassenderen Angriffs Stalins auf die Ukraine und läuteten endgültig das Ende der Politik der korenizacija in der Ukraine ein. Gleiches galt auch für die anderen Sowjetrepubliken. Nun gab es inoffiziell wieder eine eindeutige Hierarchie der sowjetischen »Völker«, an deren Spitze unangefochten das russische stand. Gleichwohl war die Sowjetukraine ein besonderer Fall. Zum einen aufgrund des großrussischen Chauvinismus, in dem der ­ukrainische ­Nationalismus (ähnlich wie der belarusische) eine ­Sonderrolle spielte, eben weil er als Infragestellung der russischen Nation interpretiert w ­ urde.

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Zum anderen aber galt die Ukraine vielen Kommunist:innen inklusive Stalin seit ihrem Widerstand gegen die sowjetische Invasion im postimperialen Bürgerkrieg als widerständig. Das war ein wesentlicher Faktor für Stalins Agieren in den 1930er-Jahren. Bereits kurz nach der Festigung seiner Macht Ende der 1920er-Jahre setzte sein Kampf gegen die Bauernschaft ein. Die massenhafte Verfolgung und Deportation der sogenannten Kulaken (russisch) bzw. Kurkuly (ukrainisch) waren der Auftakt der gewaltsamen Kollektivierung der Landwirtschaft, die zu Beginn der 1930er-Jahre in vielen Regionen der ­Sowjetunion zu Hungersnöten führte. Von den insgesamt etwa acht Millionen Hungertoten starb fast die Hälfte in der Ukraine. Nicht nur darin zeigt sich, dass im Falle der Ukraine die staatliche Politik auch gegen die Nation gerichtet war. Die etwa zeitgleiche Verfolgung der ukrainischen nationalen Intelligenzija als »­Nationalisten« war die zweite Komponente von Stalins Angriff auf die ­Ukraine, der das Ziel hatte, ihr das Rückgrat zu brechen und sie endgültig in die Unterwerfung zu zwingen. Die dritte Opfergruppe von Stalins Terrorpolitik waren diejenigen ukrainischen Kommunist:innen, die die Hungersnot zu lindern versuchten.33 Für die Ukraine waren die 1920er-Jahre also zweierlei: eine Atempause in einem Kontinuum der Krise und massiven Gewalterfahrung zwischen 1914 und 1945 und eine Zeit der Krisendiagnostik, für die Rudnyc’kyjs »Grundlagen des ukrainischen Nationalismus« ein Beispiel ist. Diese Gleichzeitigkeit zeigt sich nicht zuletzt in Rudnyc’kyjs eigener Biografie: Die Politik der korenizacija ermöglichte es ukrainischen Intellektuellen, Politiker:innen und Wissenschaftler:innen, sich zumindest in der Sowjetukraine am Aufbau ukrainischer Institutionen in Wissenschaft, Bildung, Kunst und Kultur zu beteiligen. Die Machtübernahme Stalins, der der Ukraine seit ihrer Widerständigkeit im Bürgerkrieg tief misstraute, beendete die Phase der Erholung mit brachialer Gewalt.

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Anmerkungen 1 Christoph Mick, Vielerlei Kriege. Osteuropa 1918–1921, in: D. Beyrau, M. Hochgeschwender, D. Langewiesche (Hrsg.), Formen des Krieges. Von der Antike bis zur Gegenwart, Paderborn 2007, S. 311–326; Stephan Lehnstaedt, Der vergessene Sieg: der Polnisch-Sowjetische Krieg 1919/20 und die Entstehung des modernen Osteuropa, München 52022. 2 Ivan Salin, Alexander Semyonov, Autonomy and Decentraliziation in the global imperial crisis: The Russian Empire and the Soviet Union in 1905–1924, in: Modern Intellectual History 17, 2, 2020, S. 543–560. 3 Vladimir Putin, Ob istoričeskom edinstve russkich i ukraincev, 12.7.2021 [URL: http:// www.kremlin.ru/events/president/news/66181, Zugriff am 28.9.2022]. 4 Siehe dazu z. B. Yuri Slezkine, The USSR as a Communal Apartment, or how a Socialist State promoted Ethnic Particularism, in: Slavic Review 53, 2, 1994, S. 441–452. 5 Terry Martin, The Affirmative Action Empire: Nations and Nationalism in the Soviet Union, 1923–1939, Ithaca, NY 2001; Ronald Suny, Terry Martin (Hrsg.), A State of Nations: Empire and Nation-making in the Age of Lenin and Stalin, Oxford 2001. 6 Stepan Rudnyc’kyj, Do osnov ukraïns’koho nacjonalizmu, Viden’, Prag 1923, S. 110 f. 7 Analog zu seinem Verständnis der Diktatur des Proletariats als Übergangsphase auf dem Weg zu einer klassenlosen Gesellschaft verstand Lenin die Befreiung unterdrückter Nationen und ihr Recht auf Selbstbestimmung als Übergangsphase zu einer sozialistischen Gesellschaft, in der nationale Gegensätze verschwinden würden, siehe: Vladimir Lenin, Socialističeskaja revoljuciia i pravo nacij na samoopredelenie, Sbornik social’-demokrata Central’nago Organa Rossijskoj Social’-Demokratičeskoj Rabočej Partii, 1916, S. 1. Der Text erschien auf Deutsch im April 1916 in der Zeitschrift Vorbote (Nr.2). Siehe auch: Vladimir Lenin, O prave nacij na samoopredelenie, Prosveščenie, 1914, S. 4–6. 8 Siehe z. B. Felix Schnell, Räume des Schreckens: Gewalträume und Gruppenmilitanz in der Ukraine, 1905–1933, Hamburg 2012. 9 Einen ersten Überblick bietet Andreas Kappeler, Kleine Geschichte der Ukraine, München 72022, S. 192–210. 10 Einer der radikalsten Vertreter dieser These war Dmytro Doncov, der in der Zwischenkriegszeit in Lwiw zum Ideologen eines aggressiven und militanten »integralen Nationalismus« wurde, der in der 1929 gegründeten Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) immer einflussreicher wurde. Siehe dazu z. B.: Trevor Erlacher, Ukrainian nationalism in the age of extremes: an intellectual biography of Dmytro Dontsov, Cambridge, MA, 2021. 11 Zur ukrainischen Nationalbewegung in Ostgalizien siehe z. B.: Anna Veronika Wendland, Die Russophilen in Galizien. Ukrainische Konservative zwischen Österreich und Rußland, 1848–1915, Wien 2001. 12 Zum Föderalismus in der Habsburgermonarchie siehe: Jana Osterkamp, Vielfalt ordnen. Das föderale Europa der Habsburger Monarchie (Vormärz bis 1918), Göttingen 2020. 13 Siehe hierzu beispielhaft Lemberg/Lwów/Lwiw und Buczacz: Christoph Mick, Kriegserfahrungen in einer multiethnischen Stadt: Lemberg 1914–1947, Wiesbaden 2010; Omer Bartov, Anatomie eines Genozids. Vom Leben und Sterben in einer Stadt namens Buczacz, Berlin 2021. 14 Per Anders Rudling, Eugenics and Racial Anthropology in the Ukrainian Radical Nationalist Tradition, in: Science in Context 31, 2019, S. 67–91. 15 Franziska Bruder, »Den ukrainischen Staat erkämpfen oder sterben!«: Die Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) 1929–1948, Berlin 2007. 16 Stepan Rudnyc’kyj, Ukraina: Land und Volk. Eine gemeinfassliche Landeskunde, Wien 1916.

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17 Siehe grundlegend dazu: Steven Seegel, Map Men. Transnational Lives and Deaths of Geographers in the Making of East Central Europe, Chicago/London 2018. 18 Oleh Šablij, Akademik Stepan Rudnyc’kyj. Fundator ukraïns’koï heohrafii, Lwiw 1993; Ihor Stebelsky, Placing Ukraine on the map: Stepan Rudnytsky’s nation-building geography, Kingston 2014. 19 Runyc’kyj, Do osnov, S. 10. 20 Joseph Roth, Reisen in die Ukraine und nach Russland, München 2015, S. 9–14. 21 Kai Struve, Bauern und Nation in Galizien: Über Zugehörigkeit und soziale Emanzipation im 19. Jahrhundert, Göttingen 2005; Alexei Miller, The Ukrainian Question: Russian Empire and Nationalism in the 19th Century, Budapest/New York 2022. 22 Runyc’kyj, Do osnov, S. 26. 23 Ebd., S. 22–23. 24 Ebd., S. 75–76. 25 Ebd., S. 76. Steven Seegel ist skeptisch, ob Rudnyc’kyj als Antisemit gelten kann: Seegel, Map Men, S. 112. 26 Ebd., S. 45–47. 27 Ebd., S. 35–38. 28 Ebd., S. 145 f. 29 Das von Deutschland und Österreich-Ungarn gestützte ausgesprochen konservative Regime des »Hetmans« Pavlo Skoropads’kyj bestand von Ende April bis November 1918. Nach dem Sturz Skoropads’kyjs übernahm das Direktorium der Ukrainischen Volksrepublik die Macht, das kurz zuvor gegründet worden war. 30 Ebd., S. 146. 31 Seegel, Map Men, S. 110–112. 32 Ebd., S. 163–164. 33 Serhii Plohky, The Frontline. Essays on Ukraine’s Past and Present, Cambridge, MA, 2021, S. 95–103.

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Auf der Suche nach zeitgemäßen Gestaltungssystemen Zwischen Bauhaus-Ausstellung und der ­Normierung des Alltags Anna-Maria Meister Wenn Sie an einer deutschen Universität 2023 einen Antrag ausdrucken, ein Formular ausfüllen oder eine Hausarbeit korrigieren, haben Sie ein DIN-A4Papier vor sich. Als Stapel oder Blättersammlung ist das Format in jeder bürokratischen Umgebung ein Alltagsgegenstand – fast unbemerkt ist es geradezu allgegenwärtig. Das Grundformat unserer Arbeits- und Denkwelt ist in Druckersoftware und automatisierten Formatierungsvorgaben, in Ablagekörben und Büromöbeln, in Locherabständen und Ordnersystemen so fest verankert, dass die meisten es nicht mehr bemerken. Doch das Format ist keine Selbstverständlichkeit: Es wurde entworfen, geformt und genormt. Seine Maße von 297 auf 210 Millimeter sind weder Zufall noch Tradition. Im Gegenteil: Der Alltagsgegenstand von heute wurde vor 100 Jahren geplant. Nehmen wir also dieses Blatt Papier – scheinbar unscheinbar – als Protagonisten zum Jahr 1923 aus Sicht der Architekturgeschichte. Kein Gebäude, keine Stadt, keine gebaute Umwelt, sondern ein fast zweidimensionales standardisiertes Billigprodukt, oft zerknüllt und weggeworfen, kopiert und abgeheftet, gelocht, gefaltet oder beschrieben, millionenfach jeden Tag. Denn Architektur als praktizierte und gelehrte Disziplin findet zunächst nicht auf der Baustelle statt, sondern auf (analogen oder digitalen) Plänen; genauer: seit 1922 auf nach DIN A genormten und gefalteten Formaten. Ebenso war die Genese, Aushandlung und Rezeption von Architektur lange papiergebunden, sei es als Abzug einer Fotografie in den DIN-B-Formaten, als Illustration in Artikeln und Büchern oder als Archivdokumente. Auch das »Neue Bauen« der 1920er-Jahre in Deutschland wurde nicht zuletzt als Papierarchitektur erzeugt: nicht, weil nichts gebaut worden wäre (obwohl auch das zunächst beim Bauhaus ein Prob-

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lem war), sondern weil das Form-, Farb- und Selbstverständnis über Publikationen, Postkarten, Plakate und Einladungen zirkuliert und produziert wurde – alles auf Papier, versteht sich. Dabei waren die zwei bis heute nachwirkenden, scheinbar voneinander völlig unabhängigen Einrichtungen des Deutschen Instituts für Normung (DIN) und des Bauhauses gestalterisch, gesellschaftlich und über Personen schon früh miteinander verbunden. Als das Bauhaus die Einladungskarten zu seiner Ausstellung 1923 verschickte, war Laszlo Moholy-Nagy gerade als Formmeister an die Schule gekommen und gestaltete ihre Erscheinung maßgeblich mit. Die Karten – mit Grafiken von Oskar Schlemmer, Herbert Bayer, Moholy-Nagy selbst und anderen – waren noch nicht ganz im DIN-Format:1 Die kartonierten Postkarten waren zwar DIN-hoch, aber etwas breiter als das spätere Standardformat. Die Gestaltungsleitung an der Schule war eine Schlüsselposition, denn die Werbeoffensive für die Ausstellung lief auf vollen Touren. Immerhin ging es um das Fortbestehen der erfolgreichsten deutschen Architektur- und Gestaltungsschule. Da die Schule mit öffentlichen Geldern finanziert wurde, war die Forderung nach sichtbaren Ergebnissen seit ihrer Gründung 1919 zunehmend stärker geworden. Entsprechend professionell war die Kampagne aufgestellt mit der Postkarten- und Posterserie der verschiedenen Bauhausmeister als Demonstration der vertretenen gestalterischen Bandbreite. Und die versandten, plakatierten und verteilten Karten und Poster zeigten Wirkung: Die Ausstellung war ein Erfolg, das Bauhaus wurde finanziell weiter gefördert und blieb noch weitere zwei Jahre in Weimar, bis es aus politischen Gründen 1925 infolge des wachsenden Drucks der NSDAP-dominierten Regierung in Thüringen und Weimar selbst nach Dessau umzog. Die Wirkung ging aber weit über Weimar hinaus, geografisch wie zeitlich: Bis heute als Marke genutzt, zuletzt für die EU-Initiative »Neues Europäisches Bauhaus«, diente das Bauhaus lange als Projektionsfläche für gute Gestaltung jenseits politischer Ideologien – ein sicheres deutsches Erbe, wenn man so will, in einem Jahrhundert der dramatischen Regimewechsel; die Ausstellung 1923 trug entscheidend zu diesem Bild der Schule bei. Als multimediales Ereignis war sie gewissermaßen ein Gesamtkunstwerk. Von der Präsentation der mittlerweile berühmten Teekannen und Teppiche über die 1:1-Darstellung der architektonischen Vorstellungen in Gropius‹ Direktorenbüro im Schulgebäude und dem Musterhaus Am Horn hin zu Darbietungen des »Triadischen Balletts« von Oskar Schlemmer oder Uraufführungen von ­Werken von Komponisten wie Paul Hindemith oder Ferrucio Busoni wurde

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160 Anna-Maria Meister der allumfassende Gestaltungsanspruch der jungen Institution in der begleitenden »Bauhauswoche« schillernd dargestellt, die passenderweise mit einem Feuerwerk endete. Es verwundert also nicht, dass in der Geschichte des Bauhauses das Jahr 1923 oft immer noch im Zeichen der Ausstellung steht. Dieser Essay möchte jedoch zeigen, dass 1923 ein fragiler Moment mit Vor- und Nachlauf war – es handelt sich hier gewissermaßen um ein Jahr zwischen den Stühlen. Die Ausstellung, die als Bestätigungs- und Verfestigungsgeste nach innen und außen gedacht war, hatte den erhofften Effekt – und dennoch war sie auch der Anfang vom Ende des »ersten« Bauhauses in Weimar, das zwei Jahr später nicht mehr erwünscht war und drei Jahre später in Dessau nochmal anfangen musste oder durfte. Paul Betts nennt das Ausstellungsjahr den Wechsel von einem Bauhaus mit künstlerischer Ausrichtung zu einem mit technologischem Schwerpunkt.2 Solche Kipp- und Höhepunkte mögen retrospektiv erkennbar (oder konstruiert) werden, dennoch ist gerade 1923 hier ein Jahr zwischen »noch nicht« und »nicht mehr«, bestimmt von Überzeugungen und dem Versuch, diese zu verbreiten – als zunächst lokale Maßnahme gegen die deutsche Nachkriegskrise. Die kleine Schule in Weimar und der deutsche Verein in Berlin waren 1923 zwar international ambitioniert, aber der spätere Siegeszug des Formats sowie der globale Ruf der berühmtesten Architekturschule der Geschichte einerseits sowie die Weltwirtschaftskrise am Ende des Jahrzehnts andererseits waren noch nicht absehbar.

Erfolg: retrospektive Kategorie und Methode Doch dieser Erfolg war nicht selbstverständlich. Ein Jahrhundert später scheint er fast unausweichlich, doch 1923 stand die Schule in ihrer gesamten Existenz auf dem Spiel. Vier Jahre nach der Gründung versammelte der damalige Direktor Walter Gropius (1883–1969) Lehrende und Studierende, um der Krise mit einer Demonstration des Schaffens zu begegnen: Die neue Gestaltung musste manifestiert und gezeigt werden, um die Finanzierung und damit das Fortbestehen der Institution in Weimar zu gewährleisten. Zu planen, zu bauen oder zu gestalten, war nicht genug, es musste auch gesehen werden. Was man genau sah, war nicht unbedingt »das Bauhaus«, sondern eine vermarktbare Version einer Schule, die Fördergelder brauchte; so meinte etwa der deutsche Architek-

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turkritiker Adolf Behne, dass man das »richtige« Bauhaus erst in der nächsten Ausstellung sehen werde.3

Walter Porstmann, Zeichnung »das papierformat und sein gefolge« zur DIN-A-Serie der DIN 476, undatiert (vor 1927).

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162 Anna-Maria Meister Auch bei dem eingangs erwähnten neuen Papierformat war im Jahr nach seiner Konzeption 1922 der Erfolg noch nicht direkt absehbar. Was nun das meistverwendete Papierformat weltweit ist (und die DIN-formatierte Gestaltung von Hemdtaschengrößen, Möbeln und sogar Häusern als »Gefolge« nach sich zog), hatte zunächst nicht viel Reichweite. Doch das Bauhaus und das DIN würden die Architektur Deutschlands über Jahrzehnte hin prägen. Beide hatten den Anspruch, systemisch und ganzheitlich zu gestalten, beide arbeiteten vorrangig über den Maßstab von Objekten und beide verfolgten zunehmend eine Ideologie der rationalen, standardisierten Produktion. Es verwundert also nicht, dass neben Gropius noch andere Architekten der ­Moderne wie ­Peter Behrens in DIN-Ausschüssen aktiv waren; ebenso wenig wie die positive Rezep­tion der DIN-Normen (wie zum Beispiel der Papierformate) im Bauhaus. Das Deutsche Institut für Normung, 1917 als »Normenausschuß der deutschen Industrie« gegründet, ging aus dem »Königlichen Fabrikationsbüro« (FABO) der deutschen Armee hervor. 1926 umbenannt in »Deutscher Normenausschuß« (DNA), um die nationalen Interessen deutlich zu machen, bekam das Institut erst 1975 den noch heute verwendeten Namen »DIN Deutsches Institut für Normung e. V.« Der Erfolg des Vereins war auch hier kein Selbstläufer, das Format eher ein Papiertiger, wenn man so will. Die Rhetorik des DIN des Geld- und Materialsparens durch die Teilungslogik (jedes kleinere Format war genau die Hälfte des größeren) und des damit entfallenden Verschnitts des neuen Formats konnte höchstens die Produzenten überzeugen; wie sollte also das DIN-Format zum universalen Erfolg werden? In der ersten von vielen selbsthistorisierenden Festschriften des DIN beschrieb einer der Normierungsprotagonisten 1927 zum zehnjährigen Bestehen des Instituts das Vorgehen: Da Normen nicht gesetzlich verordnet wurden, wirkte stattdessen Lobbyarbeit darauf hin, eine »normgerechte« Bearbeitung bei öffentlichen Ausschreibungen als Teil der Leistung zu verlangen.4 Wenn Erfolg also historisch retrospektiv definiert und attestiert wird, k­ önnte man meinen, er würde sich (als Umkehrung der Definition von Versagen als »Spiegelbild von Erfolg«5) durch die Abwesenheit von Versagen manifestierten, doch diese Logik greift zu kurz. Erfolg sowohl für die DIN-Normen wie für die Bauhaus-Objekte musste gewollt, konstruiert und h ­ erbeigeschrieben werden – durch Werbeplakate und auf Postkarten zum einen, durch Werbung und Ausschreibung zum anderen. Erfolg war die Devise als Instrument gegen das Versagen – nicht als Ergebnis, sondern als Methode. Erfolg kam nicht über Nacht

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und er kam nicht überraschend, sondern wurde im Gegenteil sorgfältig (man könnte sagen ingenieurwissenschaftlich) konstruiert. Die Hinwendung zur Wissenschaft als Grundlage zeitgemäßer Gestaltung (und ihrer Vermarktung) war in den 1920er-Jahren weitverbreitet, von den logischen Positivisten um Ludwig Wittgenstein und Otto Neurath in Wien zu Walter Gropius und später Hannes Meyer hin zu den Ingenieuren des DIN (alles Männer; Frauen wie Marie-Elisabeth Lüders waren als Expertinnen für die wissenschaftliche Auswertung des Haushalts und für das Management dabei):6 Sie alle versuchten, die deutschsprachige Welt nach dem (verlorenen und katastrophalen) Weltkrieg wieder neu aufzubauen. Dies erfolgte bei ihnen nicht durch das Gesamtkunstwerk der Jahrhundertwende oder die Fragmentierung des Expressionismus und Dadaismus, sondern durch die fein säuberliche Teilung komplexer Strukturen in überschaubare, standardisierte Teile, die dann – so die Hoffnung – sicher und effizient wieder zusammengebaut werden konnten.7 Die Bezeichnung »Fabrikationsbüro« für das DIN sowie die Rhetorik des Bauhauses von »Laboratorien« zur Herstellung moderner Gestaltung deuten beide auf ein Verständnis von Formgebung als Ergebnis wissenschaftlicher Prozesse hin – aller idiosynkratischen Stilbildung zum Trotz. Das Gesamtkunstwerk bestand nun aus einer industriell produzierten Serie von zusammengefügten Objekten mit scheinbar objektiv ermittelten Formen.

1922: das Jahr davor Die Vorbereitungen für die Ausstellung liefen auf Hochtouren. Bereits im März 1922 hatte Gropius seine Überlegungen zu einer Ausstellung als unausweichlicher, kollektiver Demonstration des Schaffens des Bauhauses niedergelegt, präzisierte sie im September und stellte sie im Oktober dem Rat der Bauhausmeister vor.8 Als Verkaufsausstellung sollte Geld eingeworben werden, doch wichtiger noch war die öffentliche Wirkung solch eines Kraftakts. Nicht alle waren begeistert. Das Entscheidungsgremium des Bauhauses, der Meisterrat, bestehend aus den Formmeistern aller Fachrichtungen (und bis 1923 nur einer Frau, Gertrud Grunow)9, protestierte offiziell, doch trotz Skepsis und ­Bedenken wegen der kurzen Zeitschiene (und der gerade erst arbeitsfähigen Werkstätten) sahen auch Zweifler wie Lyonel Feininger ein, dass es ohne ein Überzeugen »der Industriellen« das Bauhaus nicht mehr lange geben würde.10

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164 Anna-Maria Meister Man begann also, vorzubereiten – von der Planung der ­Architekturbeispiele wie des Hauses Am Horn über die Ausgestaltung der Innenräume sowohl im Bauhausgebäude als auch in den Ausstellungen bis zur Werkstatttätigkeit komplett in Hinsicht auf die Ausstellung. Doch die wichtigste Aufgabe war die ­Frage der Publizistik. Ein einheitliches Auftreten, nachdrückliche, wiederholte Werbung und Reklame waren die Kernaufgaben eines fast 20-köpfigen Teams unter der Leitung Wassily Kandinskys.11 Denn die Finanzierung des Bauhauses seitens des Landes Thüringen war an Auflagen geknüpft: Man wollte sehen, wofür man bezahlte. Die Ausstellung war also keineswegs nur eine kreative Lösung für ein politisches Problem, sondern eine administrative Bedingung zur Förderung durch öffentliche Gelder. Ohne sichtbare Leistung keine Mittel, ohne Ausstellung kein Bauhaus. Der Band »Das Staatliche Bauhaus in Weimar 1919–1923«, der die bislang verfolgten Ziele als Erfolgsgeschichte zwischen die Buchdeckel spannte, war (ganz gemäß der deutschen Festschrifttradition und einer damit verbundenen Hingabe zur Selbstchronifizierung) ein Hauptbestandteil dieser hier beschriebenen Konstruktionen eines Bauhauses auf Papier. Als Schule mit internationalem Anspruch und Studierendenschaft erschien das Buch neben Deutsch noch auf Englisch und Russisch und bestand aus einer Sammlung von opinion pieces, wie man heute vielleicht sagen würde, sowie einer ausführlichen Dokumentation der Tätigkeiten an der Schule. Gestaltet von Moholy-Nagy und Bayer wurde es nicht nur zum Manifest für die Erhaltung des Bauhauses, sondern zu einem exemplarischen Gestaltungsleitfaden für Druckmaterial, dessen Erscheinungsbild die nächsten Jahre weit über die Schule hinaus bestimmen sollte. Bei der DIN hatte man um die gleiche Zeit einen Coup gelandet. Der Ingenieur und Mathematiker Walter Porstmann (1886–1959) hatte für das Institut ein Papierformat entwickelt, das 1922 als DIN-Norm 476 veröffentlicht wurde: das DIN-Format. Endlich konnte man das Chaos der Bürokratie besiegen, endlich würde es nur noch eine richtige, schlüssige, sparsame, schöne und vor allem rationale Lösung geben: die DIN-A-Serie, in ihrem Zentrum das DIN A4. Ein unscheinbares Blatt Papier wurde zum zentralen Objekt der deutschen Normbewegung. Die Klarheit seiner Herleitung (das A0 entsprach genau einem Quadratmeter an Fläche), seine Präzision (mit dem ­Seitenverhältnis so errechnet, dass jede Halbierung genau das nächstkleinere Format erzeugte) und nicht zuletzt sein proportionales Seitenverhältnis (in Anlehnung an den goldenen Schnitt) machten es nicht nur zum idealen Vorzeigenormobjekt,

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sondern zur Grundlage aller weiteren Normen, die auf ebendieses Format gedruckt werden sollten. Und seine Ambitionen waren nicht allein auf bürokratische Effizienz beschränkt; nein, das neue Format sollte laut dem ersten Direk­ tor des DIN Waldemar Hellmich zum »Träger des geistigen Verkehrs der Welt« werden. Als erfolgreichste Norm bis heute wurde genau diese DIN 476 zentrale Verkörperung der Normbestrebungen und als Urgrund, als Träger aller zukünftigen Normen selbst zur machtvollen Demonstration des Systems. Schon bald wuchs das Gefolge der neuen Norm. Normen provozierten weitere Normen und genormte Objekte bestimmten die Normen anderer ­Objekte. Genormtes Papier bedurfte genormter Ordner, genormter Locher und genormter Schreibtische. Die genormten Ordner wiederum brauchten genormte Regale, die Regale genormte Räume und schließlich: genormte Häuser. Alle diese Prozesse zur Normfindung waren wiederum durch Normen geregelt. Die Norm normte aber natürlich auch sich selbst: 1923 wurde die DIN 820 ausgegeben, Titel »Normblatt  – Abmessungen und Ausgestaltung«. Sie wurde die »Mutter aller Normen«, wie sie in einer Festschrift des DIN betitelt wurde, denn das DIN normte sich natürlich auch selbst:12 Normprozesse wurden genauso normiert wie die Normblätter für weitere Normen und das Normlogo sowieso. Alles (wie auch sonst) auf DIN-A4-Blättern. Und alles im Namen von Sicherheit, Effizienz und Sparsamkeit.

1925: drei Jahre danach Es war kein Zufall, dass sich die beiden fanden – nicht zuletzt war Gropius beiden Institutionen maßgeblich verbunden. Das Bauhaus als früher Anwender der neuen DIN-Formate stellte bereits 1925, drei Jahre nach dem Erscheinen der DIN 476, unter Walter Gropius (mit Herbert Bayers Gestaltung) die gesamte Korrespondenz der Schule auf die neuen Formate um. Dies war jedoch kein rein pragmatischer Akt, sondern auch performativ – das Bauhaus stellte sich auf die Seite der rationalen, effizienten Gestaltung der (nicht nur gebauten) Umwelt. Briefe, Postkarten und Faltblätter, eine nach dem anderen, jeweils gefaltet und in einem DIN-formatierten Briefumschlag, sollten zeigen, wie fortschrittlich das Bauhaus war. Porstmann, der Autor des Normformats, stand im Austausch mit den Bauhäuslern, schickte seine Bücher nach Dessau und bekam dafür Partyeinladungen.13 Es war ein Austausch G ­ leichgesinnter:

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166 Anna-Maria Meister ­ orstmann wollte dem Bauhaus bessere kaufmännische Fähigkeiten vermitP teln, das Bauhaus lernte von Porstmann seine ikonische Kleinschrift als »zeitsparende Maßnahme«, eine Referenz, die ab 1925 auf den Briefbögen als Botschaft an den Empfänger am unteren Rand direkt aufgedruckt war. Ab 1925 wurde auf jedem Briefbogen des Bauhauses die frohe Botschaft in die Welt gesandt – rot gedruckt, wurde erklärt, dass Kleinschreibung das neue, rationale Motto sei, und auf jedes A4-Briefblatt war (ebenfalls rot) die Bezeichnung des Formats abgedruckt – es war eben noch nicht selbstverständlich geworden. Früher im selben Jahr (also drei Jahre nach der Ausstellung) war das Bauhaus gezwungenermaßen von Weimar nach Dessau umgezogen, da es in Weimar aus politischen Gründen durch die wachsende Einflussnahme der NSDAP keine ­Zukunft für die Schule gab. Die bis dato produzierten Gebrauchsgegenstände wurden inventarisiert und musealisiert, »gleichsam zur Tatenlosigkeit verdammt«, wie Ute Ackermann es beschreibt.14 Was zuvor als Produkt für den Hausgebrauch beworben worden war, hatte nun eine neue Funktion bekommen: die physische Dokumentation der Vergangenheit der Schule. Der attestierte Wechsel vom künstlerischen zum rationalen Bauhaus fand also vielleicht nicht, wie von Betts diagnostiziert, im Jahr der Ausstellung 1923 statt, sondern im Prozess des Umzugs drei Jahre später. Denn in Dessau – im neuen Gebäude und mit neuem Rückenwind – begann die rationalistische Phase der Schule nach der noch eher kunstgewerblichen Orientierung in Weimar ohne die Bürde der repräsentativen Marke »Bauhaus« von 1923 – die war in Weimar geblieben als »Kunst« im Museum. Gropius hatte sich in der Zwischenzeit im DIN für die Standardisierung architektonischer Bauteile engagiert. In seinen Publikationen zum Bauhaus schrieb er über die Vorteile normierten Bauens und in seinen Reden im DIN sprach er von der neuen Architektur an seiner Schule. Er betrieb vehement die fortschreitende Formatierung einer neuen Welt durch standardisierte Teile, denn, so dachte er, »eine Vereinheitlichung der Bauelemente wird die heilsame Folge haben, daß unsere neuen Wohnhäuser und Städte wieder gemeinsamen Charakter tragen«.15 Er sah in der Normierung also nicht nur eine pragmatische Antwort auf die Ressourcenknappheit der Nachkriegszeit, sondern eine bewusste Entscheidung von moralischer und politischer Tragweite: Normierung war für ihn eine (positive) »Eigenart der Nation«.16

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Herbert Bayer, Briefkopf für das Bauhaus in Dessau, 1925. Unten in Rot der Hinweis auf die Kleinschreibung, von Walter Porstmann übernommen, und links am Rand der Hinweis auf das DIN-A4-Format.

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Eine Zukunft aus Papier gebaut Es ist also durchaus eine politische Geschichte, wenn (und welche) Architektur auf Papier zirkuliert, sei es die kolonialisierende Dynamik eines Papierformats, das mit seinem Gefolge die Welt erobern sollte (und würde), oder der Ausbau einer Marke wie dem »Bauhaus« durch Einladungskarten, Poster, Faltblätter und endlose Briefe. Die »Papierarchitektur« der 1920er-Jahre hatte langfristige Nachwirkungen: Viele der damals publizierten Normen gelten noch heute und am Bauhaus als Schule wurden im In- und Ausland mehrmalige Wiederbelebungsversuche erprobt (wie in Ulm, im Black Mountain College und anderswo). Politisch nicht nur im jeweiligen historischen Kontext, sondern zeitgenössisch: Was bedeutet das Bauhaus, wenn von der Europäischen Union 2020 das Projekt eines »Neuen Europäischen Bauhaus« ausgerufen wird – nun nicht mehr zur Gestaltung von Massenprodukten, sondern als kulturpolitische Antwort des Immobiliensektors auf die Klimakrise? Und was ist ein Institut für Normung, das als gemeinnütziger Verein für Zehntausende deutsche Normen als internationale (ISO) Normen in Europa verantwortlich ist? Sowohl beim Bauhaus als auch beim DIN ging es in den Jahren vor und nach 1923 um die Organisation komplexer Umwelten in überschaubare, kon­ trollierbare und gestaltbare Teile. Bei der Gestaltung von Teekannen, Stühlen, Papierblättern, Türklinken oder Fenstern ging es den Institutionen und ihren Akteuren um eine normierte Gestaltung der Wahrnehmung, multipliziert durch die Massenformgebung unscheinbarer Alltagsgegenstände. Für beide war dies ein zutiefst nationales Projekt, gerade wegen der jeweils angestrebten Internationalisierung. Was verbreitet werden sollte waren deutsche Gestaltung und deutsche Standards; eine Intention, die sich im »Neuen Europäischen Bauhaus« in der Formulierung des »Erlangens eines Zugehörigkeitsgefühls« widerspiegelt.17 Die politisch-ästhetischen Gestaltungsabsichten, die sich in den Jahren vor und nach 1923 manifestierten, waren eben nicht die Errungenschaften eines Jahres. Man kann in ihnen die Folgen des Ersten Weltkriegs nachzeichnen; die (immer noch aktuelle) Rhetorik technologischer Notwendigkeit und wirtschaftlicher Effizienz schwingt in ihnen schon mit; die gesuchte Teilbarkeit und Kontrolle über eine Welt, die erschüttert wurde, wird auf jedem Normblatt deutlich. Die Suche nach einem verlässlichen, vermeintlich objektiven und zeitlosen System verband beide Institutionen. So gelesen ist das Jahr der

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Bauhausausstellung 1923 in der versuchten Konstruktion eines »Neuen Bauens« durch ein Papierblatt nach dem anderen nicht Höhepunkt oder Ausnahme, sondern eine Momentaufnahme. Wie ein Türspalt, durch den Licht auf beide Seiten fällt, war das Jahr 1923 sowohl ein Vorher und ein Nachher, ein Versprechen und ein Nachwirken – kurz: ein Jahr, das seine Vergangenheit und seine Zukunft beleuchtet.

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Anmerkungen 1 Herbert Bayer (Entwurf), Reineck & Klein, Weimar (Drucker/in). Postkarte Nr. 11 zur »Bauhaus-Ausstellung Weimar« im Sommer 1923. Bauhaus Archiv Berlin, Inv. Nr. 3586/4, Blattmaß (HxB): 154 x 104 Millimeter. Das Standardmaß laut DIN ist A6 mit 148 x 105 Millimetern. 2 Paul Betts, The Bauhaus as Cold-War Legend: West German Modernism Revisited, in: German Politics & Society 14, 2 (39), 1996, S. 79. 3 Zitiert in Martina Ullrich, Weimar 1923: Die erste Bauhaus-Ausstellung und das Haus Am Horn im Spiegel der zeitgenössischen Rezeption, in: Hellmut Seemann, Thorsten Valk (Hrsg), Entwürfe der Moderne: Bauhaus-Ausstellungen 1923–2019, Jahrbuch/Klassik Stiftung Weimar, Göttingen 2019, S. 31. 4 Hanns Frommhold, 40 Jahre Baunormung, 1917–1957, Berlin 1957, S. 10. 5 Allan McConnell, Understanding Policy Success: Rethinking Public Policy, Basingstoke 2010, S. 356. 6 Anna-Maria Meister, ›Housewives and Architects‹: Marie-Elisabeth Lüders’ Management of the New Architecture from Pot Lid to Siedlung, in: Architectural Histories, 10, 1,2022, S. 1–24. DOI: https://doi. org/10.16995/ah.8286. 7 Siehe Peter Galison, Aufbau/Bauhaus: Logical Positivism and Architectural Modernism, in: Critical Inquiry 16, 4 (July 1, 1990), S. 709–752; Anna-Maria Meister, From Form to Norm: Systems and Values in German Design ca. 1922, 1936, 1953 (Dissertation, Princeton University, 2018). 8 Martina Ullrich, Weimar 1923: Die erste Bauhaus-Ausstellung und das Haus Am Horn im Spiegel der zeitgenössischen Rezeption, in: Entwürfe der Moderne: Bauhaus-Ausstellungen 1923–2019, hg. von Hellmut Seemann und Thorsten Valk, Göttingen 2019, S. 33; Klaus-Jürgen Winkler, Die große Bauhausausstellung 1923, in: Klaus-Jürgen Winkler (Hrsg.), Bauhausausstellung 1923, Haus Am Horn, Architektur, Bühnenwerkstatt, Druckerei, Weimar 2009, S. 13. 9 Linn Burchert, Gertrud Grunow (1870–1944) Leben, Werk und Wirken am Bauhaus und darüber hinaus, Berlin 2018, hattps://edoc.hu-berlin.de/handle/18452/20284. 10 Winkler, Bauhausausstellung, S. 13. 11 Winkler, Bauhausausstellung, S. 15. 12 Albrecht Geuther und DIN Deutsches Institut für Normung (Hrsg.), 75 Jahre DIN: 1917 bis 1992. Ein Haus mit Geschichte und Zukunft; Festschrift, Berlin/Köln 1992, S. 9. 13 Sammlung Freese, Nachlass Porstmann. 14 Ute Ackermann, Konstruktion von Geschichte: Die historische Bauhaus-Sammlung in den Beständen der Klassik Stiftung Weimar, in: Seemann, Valk, Entwürfe der Moderne, S. 88. 15 Walter Gropius, Normung und Wohnungsnot, in: Technik und Wirtschaft 20 (1927) H. 1, S. 7–10, hier S. 10. 16 Ebd. 17 Siehe Punkt 4 auf der Projektwebsite: https://new-european-bauhaus.europa.eu/about/­ delivery_en (Zugriff am 18.8.2022).

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1923 in der Türkei Krisen und Neuanfänge Barbara Henning Das Jahr 1923 bedeutete für die Türkei einen Moment des Neuanfangs – aber auch der Krise. Es ist das Jahr der Republikgründung und steht in dieser Eigenschaft im Zentrum staatlicher Erinnerung, zusammen mit den zentralen Akteuren der Ereignisse, Mustafa Kemal Atatürk und İsmet İnönü, dem Unterzeichner des Vertrags von Lausanne. Dieses Vertragswerk schrieb die Grenzen der heutigen Türkei als Nationalstaat fest und revidierte damit im Sommer 1923 die nur drei Jahre zuvor im Vertrag von Sèvres von den Siegermächten des Ersten Weltkrieges vereinbarten Pläne zur Aufteilung des osmanischen Anatolien. Lausanne statt Sèvres, nationale Unabhängigkeit und Souveränität statt drohender Aufspaltung des Staatsgebiets, so lauteten die Stichworte des kollektiven Aufatmens im Jahr 1923, mit dem für die Bevölkerung im ehemaligen ­osmanischen Anatolien mehr als zehn Jahre des kontinuierlichen Kriegszustands und fünf Jahre des Ringens um eine konsensfähige Friedensordnung ihr Ende fanden. Seit 1911 hatte sich das Osmanische Reich im Zustand bewaffneter Auseinandersetzung befunden, hatte Gefallene beklagt, Soldaten rekrutiert und Flüchtlinge umgesiedelt – zunächst in Libyen, dann im Zuge der Balkankriege und schließlich im Verlauf des Ersten Weltkrieges sowie dem sich unmittelbar anschließenden türkischen Unabhängigkeitskrieg gegen Griechenland. Eine ganze Generation war mit dem Krieg aufgewachsen, hatte Hunger, Vertreibung und Gewalt erlebt. Die damit verbundenen Langzeitfolgen sollten die junge türkische Republik ebenso wie andere postosmanische Staaten in der Region über die kommenden Jahrzehnte hinweg prägen. Vieles wäre nach dem Friedensvertrag von 1923 in den ehemaligen osmanischen Gebieten aufzuarbeiten, aufzuklären, zu versöhnen gewesen. Dafür hat die nationalistische Historiografie des 20. Jahrhunderts in der Folge jedoch keinen Raum gelassen und auch deshalb beschäftigt und polarisiert die Zeit zwischen 1918 und 1923 die türkische Öffentlichkeit bis heute. Offiziell erinnert werden die Ereignisse von 1923 in der Türkei als durchschlagende Erfolgs­

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172 Barbara Henning geschichte und triumphaler Endpunkt in einem Existenzkampf, in dem die türkische Nation gegen äußere Bedrohungen zusammenhielt und bestand. In dieser selbstbewussten nationalen Erzählung ist kein Platz für Nuancen oder Ambiguität, ebenso wenig wie für persönliches Leid, Trauer über Verlorengegangenes oder alternative Deutungen. Wer genauer hinschaut oder Zeitzeugen zuhört, wie es beispielsweise die Historikerin Leyla Neyzi in ihren Studien zur Stadt İzmir in dieser Zeit getan hat,1 erkennt die Narben und Risse in den persönlichen Erinnerungen und Biografien jedoch sehr genau. Selbst Erlebtes und von staatlicher Seite Erinnertes passen nicht immer nahtlos zusammen. Für die Betroffenen und häufig auch ihre Nachkommen ergeben sich Widersprüche hinsichtlich der eigenen Identität, der Haltung zum türkischen Nationalismus und zum Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk sowie in der Sicht auf den griechischen Nachbarstaat.

Das Jahr 1923 als Gründungsmoment der ­modernen Türkei Im Sommer 1923 war die Lage in der Türkei angespannt: Einerseits sollte das zähe Warten auf eine Friedensordnung bald ein Ende finden. Ideologen des türkischen Nationalismus beschworen einen Neuanfang und die Geburt einer souveränen jungen Republik. Viele hatten zu diesem Zeitpunkt wenig außer der Hoffnung auf diese Republik, auf das sie noch setzen konnten, waren Waisen und Entwurzelte der vorangegangenen Auseinandersetzungen und im wahrsten Sinne der Wortes Kinder dieser Kriegsjahre, Savaşın Çocukları – wie es der türkische Autor Ahmet Yorulmaz im Titel eines Buches über diese Zeit formulierte.2 Andererseits ließen sich bei aller optimistischer Aufbruchsstimmung die Altlasten der kriegerischen Auseinandersetzungen der vergangenen Jahre nicht leugnen. Um die zukünftige Staats- und Gesellschaftsordnung musste ebenso gerungen werden wie um die Rolle der Religion. Daneben waren die Demobilisierung bewaffneter Akteure und die Befriedung Anatoliens dringende Themen für die türkische Nationalversammlung in dieser Zeit. Die gerade erst gegründete Republik war herausgefordert und musste glaubhaft machen, dass das Gewaltmonopol nunmehr unbestritten bei der Regierung lag und dass die Zeiten der warlords und bewaffneten Partisanen ein für alle Mal vorüber waren.

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Diese Frage stellte sich im März 1923 besonders akut, als der oppositionelle Abgeordnete und landesweit bekannte Publizist Ali Şükrü Bey in Trabzon ermordet wurde. Osman Topal, ein mächtiger Partisanenführer und Verbündeter der Nationalisten um Mustafa Kemal, war mit seiner über einhundert Mann starken Privatarmee in die Tat verwickelt. So wurde der Umgang mit den Ereignissen zur Feuerprobe für die junge türkische Regierung. Osman Topal und seine Anhänger wurden schließlich auf der Flucht vom Militär erschossen. Die Stimmung blieb jedoch auch in den folgenden Wochen konfrontativ und angespannt, denn im Mai 1923 standen Wahlen an. Die nationalistische Presse nahm im Vorfeld zur Abstimmung insbesondere die Nichtmuslime ins Visier, die beispielsweise İsmail Müştak [Mayakon] in der Zeitung Tanin vom 1.5.1923 unter der Überschrift »Die Zeiten haben sich geändert!« vom aktiven und passiven Wahlrecht gänzlich ausgeschlossen sehen wollte. Auch hochrangige Politiker wie Rıza Nur, Mitglied der türkischen Delegation am Verhandlungstisch in Lausanne, machten aus ihrer ausgesprochenen Abneigung gegenüber nichtmuslimischen Bevölkerungsgruppen in der Türkei öffentlich keinen Hehl. Das Innenministerium hingegen sah keinen Grund für einen Ausschluss und auch die Repräsentanten der nichtmuslimischen Gemeinschaften vor Ort erklärten sich zur Teilnahme an den Wahlen grundsätzlich bereit. Die Auseinandersetzung darum, wer als zur türkischen Nation zugehörig betrachtet wurde, war in vollem Gange. Bis heute gilt für viele in der Türkei das Jahr 1923 inmitten all dieser teilweise widersprüchlichen Entwicklungen nicht als Moment der Krise. Vielmehr wird es als der entscheidende Wendepunkt gelesen, mit dem eine jahrzehntelange Krise letztlich doch noch einen Abschluss und ein glückliches Ende fand: 1923 als Gründungsmoment der modernen Türkei. Untrennbar verbunden mit der türkischen Staatsgründung waren die einschneidenden demografischen Veränderungen während und unmittelbar nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, die dazu führten, dass die Bevölkerung homogener  – türkischsprachiger und muslimischer – wurde, während armenische, griechisch-orthodoxe und jüdische Gemeinschaften durch Völkermord, Gewalt und Diskriminierung vernichtet und vertrieben und die Spuren ihrer jahrhundertelangen Präsenz auf dem Staatsgebiet der heutigen Türkei nahezu vollständig ausgelöscht wurden. Man schätzt heute, dass etwa 20 Prozent der Bevölkerung Anatoliens zwischen 1911 und 1923 ums Leben kamen. Einschlägige Beispiele für die an diese demografischen Umbrüche anschließende und bis heute andauernde

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174 Barbara Henning Politik des Vergessens und Verschweigens hat die Kunsthistorikerin Heghnar Watenpaugh genauer untersucht:3 Auf den Spuren eines aufwendig illustrierten armenischen Manuskripts, das über viele Umwege im 20. Jahrhundert seinen Weg ins Getty Museum nach Los Angeles gefunden hatte, reiste sie durch Anatolien. Dabei stieß sie immer wieder auf rezente Zerstörungen an historischen armenischen Gebäuden, Kirchen und Klöstern. Inschriften in armenischer Schrift und andere visuelle Marker wie Wappen oder Kreuze wurden in republikanischer Zeit – oft auf Initiative der lokalen Verwaltung – zerstört und so wurde die armenische Geschichte der Region im wahrsten Sinne des Wortes »unleserlich« gemacht. Ähnliche Beobachtungen lassen sich in der vor 1923 zu großen Teilen von pontischen Griechen bewohnten Hafenstadt Samsun am Schwarzen Meer anstellen. Und auch in Griechenland zeugen heute ­ungenutzte, ihrem Verfall überlassene Moscheen und andere islamische Bauwerke von einer ehemals gemeinsamen muslimisch-christlichen Lebenswelt, Alltagskultur und Geschichte, über die heute weitgehend geschwiegen wird.

Umbrüche und Krisen der Nachkriegsjahre Für die Generation der Gründerinnen und Gründer der modernen Türkei hatte sich 1923 vieles verändert in den zurückliegenden Jahren und Monaten. Die Verhältnisse zwischen Statusgruppen, zwischen Jung und Alt, aber vor allem zwischen Männern und Frauen wurden nach dem Ende des Ersten Weltkrieges von Grund auf neu ausgehandelt. Auf althergebrachte Privilegien, Vorrechte und Prestige konnte man sich nicht länger berufen und es erschien 1923 zumindest unklar, welche Rolle die Religion in Zukunft spielen würde, auch wenn die Abschaffung des Kalifats erst 1924 erfolgte. Die wirtschaftliche Not der Nachkriegsjahre hatte im besetzten und mit Flüchtlingen überfüllten Istanbul dazu geführt, dass Ehefrauen und Töchter  – aus der einfachen Bevölkerung, aber auch aus den Haushalten der ehemaligen osmanischen Beamten und hohen Würdenträger  – ihre Rollen und Handlungsräume neu bestimmen mussten. Als Klavierlehrerinnen und Vermieterinnen versuchten sie, ein Auskommen zu finden. Als Sekretärinnen und Verkäuferinnen in Textilgeschäften traf man sie nun morgens in Scharen in der Straßenbahn auf dem Weg zur Arbeit in abgetrennten, für Damen reservierten Abteilen und in einfacher Kleidung, die oft viel bessere Zeiten gesehen hatte, wie Demetra Vaka, eine US-amerikani-

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sche Autorin mit osmanisch-griechischen Wurzeln, in ihrer Reisebeschreibung ­Unveiled Ladies of Stamboul anschaulich schildert.4 Der Stadt Istanbul waren die vergangenen Kriegsjahre überdeutlich anzusehen. Wohnungsnot, Lebensmittelknappheit und Krankheiten bestimmten den Alltag, Brände hatten in vielen Teilen der Stadt die alten Holzhäuser zerstört und Familien auseinandergerissen. Geflüchtete und Kriegsversehrte prägten das Stadtbild, als Muslime waren sie in den nun unabhängigen Staaten des Balkans nicht länger willkommen. Hinzu kam eine weitere Gruppe Flüchtender, die Angehörigen der Weißen Armee, die auf ihrer Flucht vor der Revolution in Russland über das Schwarze Meer nach Istanbul gelangten. Russische Generäle in zerlumpten Uniformen und Damen des Zarenhofs, die ihre Juwelen verkauften und Bars eröffneten oder auf dem Platz vor der Hagia Sofia ihre notdürftigen Lager aufschlugen, prägten in diesen Nachkriegsjahren das Stadtbild. Ab 1920 war Istanbul eine besetzte Stadt.5 Französische, britische und italienische Truppen patrouillierten, konfiszierten Wohnhäuser zur Einquartierung von Truppen und machten darüber hinaus die Nacht zum Tage – und sorgten damit häufig für Irritationen und Entsetzen bei der lokalen Bevölkerung. Als unberechenbare und gewaltbereite, untereinander rivalisierende Militärpatrouillen und Horden feiernder, selbstbewusster Sieger, die nachts durch die Straßen rund um die Rue de Péra zogen, hinterließen sie kein schmeichelhaftes Bild. Ihre Präsenz erinnerte nicht zuletzt an die bis zur Unterzeichnung des Friedensvertrags von Lausanne im Sommer 1923 sehr reelle Gefahr eines Wiederaufflammens der kriegerischen Auseinandersetzungen. Die Bevölkerung atmete auf, als die Besatzer mit der Republikgründung die Stadt wieder sich selbst überließen. Überhaupt verlagerte sich um 1923 der Blick von Istanbul, der alten imperialen Hauptstadt der osmanischen Dynastie am Bosporus, nach Ankara, in das neue politische Zentrum in Zentralanatolien. Hier, in der desig­ nierten Hauptstadt der Nationalbewegung um Mustafa Kemal, schien es, als ob man ganz neu beginnen konnte – ohne das vielschichtige, komplizierte Erbe des untergegangenen osmanischen Staates sortieren zu müssen. Sooft auch davon erzählt wird und sosehr diese Erzählung zum Gründungsmythos des türkischen Nationalismus und seiner Wehrhaftigkeit geraten ist und bis heute einen festen Platz im Lehrplan türkischer Schulen und Universitäten wie auch im öffentlichen Gedenken hat – dieser vermeintliche Schlussstrich und die sich anschließende Erfolgsgeschichte der Türkei von 1923 sind hochkomplex, im Grunde sogar fadenscheinig. Denn diese Erzählung

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176 Barbara Henning ist nicht zu haben ohne die Verluste, die Brüche mit der Vergangenheit und zahlreichen Traumata, die diesen Neuanfang begleitet haben und über die die offizielle Geschichtsschreibung in der Türkei beharrlich schweigt, die jedoch immer wieder hinter dem Gewebe der nationalistischen Erzählungen und Deutungen aufscheinen. Die Krise von 1923 hat viele Gesichter. Sie war eine Krise der Erinnerung, eine biografische Krise für Tausende, die ihre Heimat und den vertrauten imperialen Deutungsrahmen verloren hatten, oft zusätzlich zum Verlust ihrer Angehörigen und ihrer wirtschaftlichen Lebensgrundlage. Sie war auch eine Krise des pluralen Zusammenlebens. Die Prämissen des Vertrags von Lausanne lesen sich als eine Bankrotterklärung einer multiethnischen und multireligiösen imperialen Gesellschaft, die nach Kriegsende keine starken Fürsprecher mehr fand.

Der griechisch-türkische Bevölkerungsaustausch Am Beispiel der türkisch-griechischen Verflechtungsgeschichte in diesem Zeitraum sollen die Umbrüche im Folgenden veranschaulicht werden. Denn 1923 markiert nicht nur das Gründungsjahr der Türkischen Republik  – 1923 ist auch das Jahr des griechisch-türkischen Bevölkerungsaustausches und damit untrennbar verbunden mit Exil, Vertreibung und Enteignung. Hier muss unterstrichen werden, dass diese Erfahrungen auf individueller Ebene zwar als enorm leidvoll und traumatisch erfahren worden sind – dass die internationale Gemeinschaft und die politisch Handelnden der Zeit den Austausch als solchen jedoch nicht als krisenhaft, sondern im Gegenteil als angemessene und vor allem dringend notwendige Maßnahme im Umgang mit der Konkursmasse des Osmanischen Reichs verstanden haben. Eine Nation, so der Zeitgeist dieser Jahre, gehörte vermeintlich untrennbar zu einem fest umrissenen Territorium, einem Nationalstaat. Wo immer Bevölkerungsgruppen außerhalb der physischen Grenzen des ihnen zugehörigen Nationalstaats verblieben, konnten sie Anlass zu irredentistischen Forderungen geben und waren, so befürchtete man, eine potenzielle Gefahr für Stabilität und Frieden in der gesamten Region. Griechische Akteure gehörten dieser Logik zufolge nach Griechenland, türkische in die neu entstandene Türkei. Mit dieser nur vermeintlich einfachen Gleichung glaubte man, in Zukunft Gewalt und Konflikte verhindern zu können. Der griechisch-türkische

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­ evölkerungsaustausch sollte die beiden Faktoren Bevölkerung und TerritoriB um wieder deckungsgleich zusammenbringen. Auch wenn Mitarbeiter humanitärer Hilfsorganisationen und internationale Beobachter vor Ort, darunter prominent auch der Autor Ernest Hemingway, das menschliche Leid der Umsiedlungen mit drastischen Worten schilderten, sahen die Staatengemeinschaft und internationale Organisationen wie der Völkerbund in den Maßnahmen ein notwendiges Korrektiv, mit dem die Verhältnisse in Ordnung gebracht werden sollten. Diese Sicht wurde auch von den am Verhandlungstisch beteiligten türkischen und griechischen Akteuren geteilt, so tief ansonsten die Gräben zwischen ihnen auch sein mochten. Beide Regierungen wollten sich auf die Errichtung eines neuen Staatswesens konzentrieren, möglichst frei von Altlasten und potenziellen Auslösern für Spannungen aus osmanisch-imperialer Zeit. Die Initiative für ein Abkommen zum wechselseitigen Bevölkerungsaustausch mit der Türkei ging im Herbst 1922 wohl vom griechischen Premierminister Eleftherios Venizelos aus. Sie wurde aber sowohl in der internationalen Gemeinschaft als auch von den türkischen Machthabern mit Zustimmung aufgenommen und als alternativlos betrachtet. Alle Seiten sahen in einem wechselseitigen Bevölkerungsaustausch eine Chance, die bereits seit Kriegsende kontinuierlich auf beiden Seiten stattfindende Vertreibung und Enteignung mit einem regulierenden Überbau und dem Anstrich eines wechselseitig abgestimmten und völkerrechtlich legitimierten Vorgehens zu versehen. Auf internationaler Ebene spielte der norwegische Forscher und Diplomat Fridtjof Nansen, dem 1922 gerade der Friedensnobelpreis für sein Engagement für die nach Kriegsende aus Russland Geflüchteten und Kriegsgefangenen zuerkannt worden war und der seitens des Völkerbunds zum High Commissioner for Refugees ernannt wurde, eine Schlüsselrolle bei der Aushandlung des griechisch-türkischen Abkommens. Für die Umsetzung und i­ nsbesondere die Klärung von Besitz- und Entschädigungsansprüchen der Vertriebenen wurde schließlich eine Kommission mit griechischen, türkischen und internationalen Mitgliedern eingerichtet. Auf außenpolitischer Ebene ermöglichte der Bevölkerungsaustausch einen Neuanfang in den griechisch-türkischen Beziehungen. Im Oktober 1930 schlossen die beiden Staaten ein bilaterales Abkommen, welches auch einige offengebliebene Punkte des Bevölkerungsaustauschs, darunter Entschädigungsfragen und den Umgang mit Besitzansprüchen, zu klären versuchte. Die Auseinandersetzungen dazu hielten jedoch auch in der Folgezeit weiter an.

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178 Barbara Henning Es wäre interessant, zu untersuchen, wann genau diese weitgehend positive öffentliche Wahrnehmung des Austauschs umschlug – denn heute betrachten wir die Ereignisse des Jahres 1923 aus einer anderen Perspektive und sind hellhöriger geworden für das Leid der Betroffenen und kritischer gegenüber den Erzählungen nationalistischer Ideologie. Als eine legalisierte Form des ethnic cleansing, der ethnischen Säuberungen, ist der Bevölkerungsaustausch von ­Renée Hirschon in ihrem wegweisenden Sammelband Crossing the Aegean beschrieben worden.6 Andere Autoren wie der Journalist Bruce Clark, der sich vor dem Hintergrund der anhaltenden Konflikte in den postjugoslawischen Staaten mit der Geschichte des griechisch-türkischen Bevölkerungsaustauschs beschäftigt hat, fragen sich hingegen, ob der Austausch und die damit einhergehende zwangsweise Homogenisierung der Bevölkerungen bei allem Leid der Betroffenen nicht langfristig auch dazu beigetragen hat, gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Griechenland und der Türkei im Zeitalter der wiederaufflammenden Nationalismen zu vermeiden.7

Vorläufer und Grundlagen des Austauschs Die Vorgeschichte der Statuten von 1923 reicht weit ins 19. Jahrhundert zurück. Der Bevölkerungsaustausch erscheint in dieser Perspektive als Versuch einer neuen Antwort auf ein altbekanntes Problem. 1829 hatte sich mit dem Königreich Griechenland ein Staat vom Osmanischen Reich unabhängig erklärt, der sich als ausschließlich christlich verstand. Muslimische Bewohner der Region wurden entweder im Zuge der kriegerischen Auseinandersetzungen ermordet und vertrieben oder konvertierten in der Folge zum griechisch-orthodoxen Glauben. Parallel dazu hatten Flüchtlingsströme bereits im Zuge der osmanisch-russischen Kriege im 19. Jahrhundert und dann verstärkt während der Balkankriege und des Ersten Weltkrieges zu tiefgreifenden Veränderungen in der Zusammensetzung der Bevölkerung sowohl in Südosteuropa als auch im osmanischen Anatolien geführt. In diesem Kontext wurde Anatolien muslimischer, bestimmte Regionen des Balkans hingegen christlicher. Schon damals hatten die beteiligten Regierungen bevölkerungspolitische Maßnahmen ergriffen, darunter die Vertreibung von Muslimen aus Serbien und Bulgarien in Richtung Istanbul, die gezielte Ansiedlung von als verlässlich eingestuften Gruppen in den jeweiligen Grenzregionen und die Zwangsumsiedlung ­anderer,

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aus Sicht der jeweiligen Machthaber weniger vertrauenswürdiger Gruppen aus diesen Gebieten. Auch mit der Idee, statt wie bisher auf Koexistenz auf Des­ integration und staatlich verordneten Austausch von Bevölkerungsgruppen zu setzen, experimentierten die politischen Entscheidungsträger bereits in diesem Kontext. So einigten sich beispielsweise Griechenland und Bulgarien 1919 auf einen wechselseitigen Bevölkerungsaustausch, der im Unterschied zu den 1923 getroffenen Vereinbarungen zwischen Griechenland und der Türkei allerdings noch keinen Zwangscharakter hatte. Im Juli 1923 trat die bereits während der Wintermonate 1922/23 ausgehandelte Konvention über den griechisch-türkischen Bevölkerungsaustausch als Teil des Vertrags von Lausanne in Kraft. Betroffen von diesem auf OsmanischTürkisch als mübādele bezeichneten Austausch waren griechisch-orthodoxe Einwohner der Türkei sowie muslimische Einwohner Griechenlands, wobei ­Istanbul, Westthrakien und zwei Inseln in der Ägäis von diesen Regelungen ausgenommen blieben. Die Ausnahmeregelung betraf zu diesem Zeitpunkt allein in Istanbul eine Gruppe von mehr als 250 000 Menschen. Hinter der Sonderbehandlung dieser Gebiete steckte auch politisches Kalkül. Über die Situation der so geschaffenen religiösen Minderheiten auf beiden Seiten konnte politischer Druck ausgeübt werden. Sie wurden zur geschickt genutzten Verhandlungsmasse, was die Auseinandersetzungen in der Zypernfrage in den kommenden Jahrzehnten eindringlich zeigten. Grundlage für den Bevölkerungsaustausch waren nicht die Sprache oder gar das eigene Selbstverständnis und die selbst zugeschriebene Identität, sondern allein die religiöse Zugehörigkeit. Die Umsiedlung hatte Zwangscharakter. Mitspracherechte oder die Möglichkeit eines effektiven Einspruchs gab es für die Betroffenen nicht. Einige folgten dem Beispiel des muftis von Salonika, der sich noch während der Verhandlungen in Lausanne mithilfe von Petitionen an die Friedenskonferenz dafür einsetzte, dass seine Gemeinde vom Austausch ausgenommen blieb, jedoch ohne Erfolg. Der Fokus auf religiöse Zugehörigkeit war nicht zuletzt auch ein Erbe des osmanischen millet-Systems, an welches die kemalistischen Ideologen im Sinne des türkischen Nationalismus anknüpften. Nationale und religiöse Identität waren eng miteinander verflochten. Eine vollumfängliche Zugehörigkeit zur türkischen Nation war nur für Muslime möglich, nichtmuslimische Minderheiten galten in dieser Perspektive als Fremdkörper und potenzielle Bedrohung für die Einheit der türkischen Nation. Das letztlich nicht umgesetzte Vertragswerk von Sèvres aus dem Jahr 1920 hatte für

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180 Barbara Henning Der Aufteilungsplan von Sèvres 1920

heutige türkische Staatsgrenze Staatsgrenze vor 1918 vorgesehene Staatsgrenzen Grenze v. Mandats-Interessenund Einflussgebieten

Spätes Osmanisches Reich Schwarzes Meer Batum

an Georgien Zonguldak Edirne

Bursa

Lesbos

Elazıgˇ

Italienisches Interessen-Gebiet

Konya Mersin

Adana

Antep

(noch strittig)

Aleppo

is

FR AN ZÖSISC HES MAN D AT

(ital.) Rhodos Zypern

(brit.)

Mittelmeer 0

100

Mosul

Brit. Mosul-Gebiet

gr

Sandschak v. Alexandrette

»Zone Nord«

Ti

Antalya

Kreta

Britisches InteressenGebiet

Bitlis

Mögliches Kurdistan Französisches Interessen-Gebiet Diyarbakır Maraş

Manisa

an Griechenland

Van

Ankara

Kütahya

Chios Izmir

an Armenien

Tokat

Eskişehir

Kars

Erzurum

Kastamonu

Istanbul

an Griechenland Entmilitarisierte Zone Mudanya

Trabzon

Samsun

Damaskus

Eu

ph

ra

t

BRITISC HES MAN D AT

200km

Aufteilungsplan von Sèvres. den postosmanischen Raum zunächst eine Aufteilung des osmanischen Anatoliens sowie die Angliederung der Region um İzmir an Griechenland und die Gründung armenischer und kurdischer Autonomiegebiete vorgesehen. Diese Pläne hatten wiederum das Misstrauen der türkischen Nationalisten gegenüber nichttürkischen Minderheiten weiter verstärkt. Die Langzeitwirkungen dieser Haltung sind in der Forschung unter dem Schlagwort Sèvres-Syndrom diskutiert worden8 und prägen die Haltung des türkischen Staates gegenüber nichttürkischen Minderheiten wie Kurden und Armeniern, in der Konfrontation mit Griechenland in der Zypernfrage sowie in Fragen der eigenen Geschichtsund Erinnerungspolitik bis heute. Der Bevölkerungsaustausch steht vor diesem Hintergrund nicht für sich allein. Vielmehr war er Teil einer Kette eng miteinander verflochtener repressiver Maßnahmen im Umgang insbesondere mit nichtmuslimischen Minderheiten seitens des türkischen Staats während der ersten Jahrzehnte seines Bestehens. Diskriminierungen durch erhebliche steuerliche Benachteiligungen sowie wie-

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derkehrende, von türkisch-nationalistischen Kreisen initiierte und von der Regierung geduldete Gewaltausbrüche und Pogrome gegen die verbliebene griechische, armenische und jüdische Bevölkerung in Istanbul verstärkten im Laufe der 1930er-bis 60er-Jahre die Emigration, sodass die entsprechenden Gemeinden heute auch in Istanbul fast verschwunden sind.

Folgen des Bevölkerungsaustauschs in Griechenland und der Türkei Insgesamt waren 1923 etwa 1,5 Millionen Menschen vom Bevölkerungsaustausch zwischen der Türkei und Griechenland betroffen. Mehr als 1,2 Millionen griechisch-orthodoxe Bewohner Anatoliens wurden nach Griechenland ausgewiesen und etwa 400 000 Muslime kamen aus Griechenland in die Türkei. Diese Zahlen bilden das tatsächliche Ausmaß der demografischen Umwälzungen jedoch nur sehr bedingt ab. So waren bereits während des türkischen Unabhängigkeitskriegs gegen Griechenland und insbesondere im Zuge der türkischen Rückeroberung der Stadt İzmir und der umliegenden Ägäis-Region zahlreiche griechisch-orthodoxe Bewohner ums Leben gekommen. Viele weitere waren zusammen mit den sich nach der erfolgreichen türkischen Offensive in Richtung Ägäis im Spätsommer 1922 hastig zurückziehenden griechischen Truppen aus der Region geflohen oder kurz darauf vertrieben worden. Vor allem Frauen und Kinder flüchteten in Richtung Griechenland, während ein Großteil der männlichen griechischen Bevölkerung von den Kemalisten zunächst als Kriegsgefangene zurückgehalten und zu Arbeitseinsätzen abkommandiert wurde. Es stellte sich schnell heraus, dass die Kategorien, anhand derer die jeweiligen Bevölkerungen ausgetauscht werden sollten, die komplexen, noch nicht von nationalistischen Sehgewohnheiten geprägten Realitäten vor Ort in keiner Weise abbildeten: So wurden auf griechischer Seite nicht nur türkischsprachige Muslime, sondern auch Angehörige anderer, nicht eindeutig als griechisch-orthodox verstandener Gruppen wie Pomaken, Albaner, Roma und Mitglieder der kryptojüdischen Gemeinschaft der dönme oder Sabbatäer in die Türkei ausgewiesen. Auf türkischer Seite hingegen waren die Karamanliden von der Ausweisung nach Griechenland betroffen, eine griechisch-orthodoxe Gemeinschaft aus Zentralanatolien, die zwar das griechische Alphabet verwendete, dabei aber türkischsprachig war.

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182 Barbara Henning Die Zwangsausweisung von Akteuren ohne jegliche Verbindungen zum Zielland und ohne die dort notwendigen Sprachkenntnisse erschwerte die Inte­gration der betroffenen Familien erheblich. Sogar die vermeintlich grundsätzliche Trennung zwischen Muslimen und Christen war bei Weitem nicht so absolut, wie es das heutige Begriffsverständnis nahelegt: Überschneidungen und Ambivalenzen ließen im Gegenteil in osmanischer Zeit Raum für Phänomene wie mehrheitlich christliche Familien, von denen ein Zweig zum Islam konvertiert war oder Gemeinden von Kryptochristen, die nur nach außen hin muslimisch lebten. Einige in der Schwarzmeerregion ansässige griechisch-orthodoxe Familien hatten sich vor dem Austausch dem imperialen Russland zugehörig gefühlt, andere verstanden sich dezidiert als osmanische Griechen – die Rahmen für solche imperialen Identitätsentwürfe waren jedoch mit dem Ersten Weltkrieg unwiederbringlich verschwunden. Die darauf bezogenen Kategorien von Zugehörigkeit waren nur schwer in neue, von nationalistischen Sichtweisen geprägte Kontexte übersetzbar. Ganz unterschiedliche Gruppen waren von der Zwangsumsiedlung betroffen und ihr Weg ins Exil und die dabei gemachten Erfahrungen stellten sich nicht einheitlich dar. So hatten die griechischen Bewohner İzmirs angesichts der drohenden militärischen Niederlage der griechischen Armee die Stadt überstürzt verlassen. Währenddessen standen große Teile der Stadt in Brand, was die Evakuierung erheblich erschwerte. Ein Großteil der Betroffenen kam traumatisiert und völlig mittellos in Griechenland an. Die Evakuierung der gesamten Ägäisregion lief chaotisch und unkoordiniert ab, da Kommunikationsnetzwerke angesichts des griechischen Rückzugs weitgehend zusammengebrochen waren. Oft blieben den Betroffenen nur wenige Tage oder Stunden für die Vorbereitung ihrer Abreise. Ähnlich gewaltvoll und traumatisierend, jedoch mit längerem zeitlichen Vorlauf, ging die Vertreibung der griechischen Bevölkerung aus Nordanatolien und der Schwarzmeerregion vonstatten. Die hier ansässigen griechisch-orthodoxen Gemeinden wurden ab 1919/20 als potenzielle Bedrohung für das Hauptquartier der Kemalisten in Ankara betrachtet und daher systematisch in langen Flüchtlingstrecks in Richtung Schwarzmeerküste vertrieben. Der Weitertransport auf dem Seeweg vom Schwarzmeerhafen Samsun über eine Zwischenstation in den zum Flüchtlingslager umfunktionierten, völlig überlasteten Selimiye-Kasernen in Istanbul und schließlich in Richtung Griechenland erwies sich als logistischer Albtraum und humanitäre Katastrophe. Die Ereignisse forderten zahlreiche Todesopfer und rissen Familien

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auseinander. Für die griechisch-orthodoxe, türkischsprachige Bevölkerung ­Kappadokiens, die weiter entfernt von den unmittelbaren Kriegsschauplätzen des Unabhängigkeitskriegs ansässig war und einen Verbleib in der Türkei bis zuletzt für realistisch gehalten hatte, kam die Zwangsumsiedlung hingegen völlig überraschend. In umgekehrter Richtung lief die Umsiedlung der Muslime aus Griechenland in die Türkei demgegenüber von den Wintermonaten 1923/24 an koordinierter und systematischer ab, da die Abreise nicht aus dem unmittelbaren Kriegsgebiet heraus erfolgte. Diese Vertreibung mit Ansage war jedoch für die Betroffenen keineswegs weniger traumatisierend oder einschneidend. Infolge des Krieges und des anschließenden Bevölkerungsaustauschs, der bis Ende 1924 andauerte, wurden beide Staaten in ethnischer und religiöser Hinsicht sehr viel homogener  – sahen sich aber gleichzeitig ganz neuen sozialen Verwerfungen ausgesetzt. Insbesondere für Griechenland, wo die Zahl der durch den Bevölkerungsaustausch ins Land gekommenen Individuen einen höheren Anteil der Gesamtbevölkerung ausmachte, stellte die ­Integration der zahlreichen Neuankömmlinge über Jahrzehnte hinweg eine wirtschaftliche und soziale Herausforderung dar. Geplant war, Familien aus ländlichen Regionen der Türkei mit Kenntnissen in der Landwirtschaft in Gegenden mit ähnlichen Bedingungen in Griechenland anzusiedeln und Stadtbewohner hingegen in die urbanen Zentren zu dirigieren, wo sie beispielsweisen ihren früheren Handwerksberuf wiederaufnehmen konnten. In der Praxis ließ sich diese Vision auch aufgrund des Tempos der Entwicklungen nur selten reibungslos umsetzen. In das zuvor weitgehend ländlich geprägte Griechenland kamen im Zuge des Bevölkerungsaustauschs zahlreiche Menschen, die zuvor in kosmopolitischen osmanischen Städten wie İzmir oder Trabzon gelebt hatten. Ihre Ankunft veränderte und bereicherte die griechische Gesellschaft und das kulturelle Leben nicht zuletzt auch in vieler Hinsicht. So stammte zum Beispiel der erste griechische Literaturnobelpreisträger Giorgos Seferis (1900– 1971) ursprünglich aus İzmir. Trotzdem kam es zu Konflikten, denn auch die bereits in Griechenland ansässige Bevölkerung bekam die wirtschaftlichen Folgen des Bevölkerungsaustauschs unmittelbar zu spüren. Der Zustrom der Flüchtlinge auf den Arbeitsmarkt hatte in der Breite sinkende Löhne zur Folge, die daraus resultierenden Spannungen entluden sich in Demonstrationen und Streiks. Griechenland bewältigte die mit der Integration der Flüchtlinge einhergehenden erheblichen finanziellen Belastungen nur mithilfe von Auslandskrediten, wodurch langfristige Abhängigkeiten und Staatsverschuldung

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184 Barbara Henning festgeschrieben wurden. Aber auch für die Türkei, der mit der Ausweisung der griechischen Bevölkerung nicht zuletzt auch umfangreiches Wissen in Handwerksberufen und in spezialisierten Bereichen der Landwirtschaft wie Fischerei, Wein- oder Olivenanbau sowie Netzwerke und Wirtschaftskraft verloren gingen, waren die Herausforderungen immens. Anders als in Griechenland entschied man sich, die Integration ohne finanzielle Unterstützung aus dem Ausland zu bewältigen, wodurch sich die Maßnahmen teilweise sehr lange hinzogen. Im Rahmen der Zuweisung von Entschädigungen und enteigneten Immobilien kam es immer wieder zu Vorwürfen der Korruption und persönlichen Bereicherung lokaler Politiker. Gleichzeitig wurden öffentliche Proteste gegen solche Missstände zunehmend schwieriger, da die Türkei im Zuge der gewaltsamen Niederschlagung von kurdischen Aufständen ab 1925 die Presseund Versammlungsfreiheit stark einschränkte. Vom Bevölkerungsaustausch Betroffene in beiden Ländern sahen sich Ausgrenzung, Stereotypisierung und Diskriminierungen ausgesetzt.

Selbstverständnis und Erinnerungskultur der ­Betroffenen Die Flüchtlinge blieben zunächst unter sich. Sie besuchten eigene Kirchen und Moscheen oder lebten in separaten Stadtvierteln. Häufig handelte es sich dabei um hastig errichtete Slums in den Außenbezirken der Großstädte. Es dauerte letztlich eine ganze Generation, bis Heiratsbeziehungen zwischen Alteingesessenen und Neuankömmlingen zur Normalität wurden. Viele erhielten die Erinnerung an die alte Heimat in kulinarischer Kultur, aber genauso auch in Literatur, Musik und Film aufrecht, wie beispielsweise der von Flüchtlingen aus Anatolien auch unter Rückbezug auf osmanische Elemente mitgeprägte und ab den 1930ern in Griechenland insgesamt sehr populäre Musik- und Tanzstil des Rembetiko zeigt. Im Umgang mit der eigenen Geschichte mussten und müssen die vom Bevölkerungsaustausch Betroffenen und ihre Nachkommen sehr widersprüchliche Emotionen aushalten: In der Türkei war für alternative, dem offiziellen nationalen Gedenken an die triumphalen Gründungsjahre der Republik zuwiderlaufende Erinnerungen lange Zeit kein Platz. Inzwischen werden die Betroffenen und Nachkommen von aus Griechenland umgesiedelten Muslimen

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jedoch in der türkischen Öffentlichkeit sichtbarer. Die Ereignisse von 1923 werden in Memoiren, aber auch in Film und Literatur thematisiert. Einige haben sich in Vereinigungen wie der Lozan Mübadilleri Vakfı zusammengeschlossen, die regelmäßige Begegnungen zwischen Betroffenen und ihren Nachkommen und Reisen nach Griechenland organisiert. In der Stadt Çatalca in der Nähe von Istanbul hat diese Stiftung im Jahr 2001 außerdem ein Museum eröffnet, in dem mit Alltagsobjekten dem Schicksal der Vertriebenen, aber auch ihrer Zugehörigkeit zum Osmanischen Reich gedacht wird. Prominent ausgestellt sind hier zum Beispiel auch Orden und Auszeichnungen aus osmanischer Zeit. Heute – einhundert Jahre nach den Ereignissen – gibt es kaum noch ­überlebende Zeitzeugen. Erinnerungen gehen somit entweder verloren oder durchlaufen aktuell Prozesse der Verfestigung, Verallgemeinerung und Institutionalisierung. Die damit verbundenen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen lassen sich gegenwärtig in Griechenland und der Türkei beobachten.

Resonanzen des globalen Krisenjahres 1923 Zum Abschluss noch ein Blick über die Türkei und Griechenland hinaus: Welche Verflechtungen mit anderen Momenten der Krise und des Krisenmanagements des Jahres 1923 sind erkennbar? Mit Blick auf den Streit um die türkischen Reparationsforderungen an Griechenland verfolgte man in der Türkei im Sommer 1923 die Debatten um die Forderungen an Deutschland und die Besetzung des Ruhrgebiets mit großem Interesse. Die türkische nationalistische Presse argumentierte dabei, dass die Kriegsverbrechen Griechenlands in der Türkei um ein Vielfaches schlimmer seien als die von Deutschland gegenüber Frankreich begangenen. Sie forderte daher eine der französisch-belgischen Besetzung des Ruhrgebiets ähnliche Regelung für die griechische Ägäis und Thrakien. Die Nachwirkungen des Bevölkerungsaustausches zwischen Griechenland und der Türkei insbesondere auch für die deutsche Geschichte reichen jedoch noch weiter: Als nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges etwa zwölf Millionen deutsche Staatsangehörige aus den ehemaligen Ostgebieten umgesiedelt wurden, nahmen sich die Entscheidungsträger Winston Churchill und Franklin D. Roosevelt den Bevölkerungsaustausch von 1923 und sein leitendes Prinzip, dass Staatsgrenzen mit ethnischer und sprachlicher Zugehörigkeit in Einklang zu bringen seien, explizit zum Vorbild. Und auch für die zweite Hälfte

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186 Barbara Henning des 20. Jahrhunderts und bis in die Gegenwart lässt sich das Erbe des Bevölkerungsaustausches bis in unser unmittelbares Umfeld nachvollziehen. Denn seit den 1960er-Jahren kamen im Rahmen der Anwerbung von Gastarbeitern aus Griechenland gerade auch aus den vom Bevölkerungsaustausch besonders betroffenen, wirtschaftlich geschwächten Regionen im Norden Griechenlands Einwanderer nach Deutschland – mit im Gepäck waren auch Erinnerungen an die griechische Präsenz, Sprache und Alltagskultur in ihrer früheren Heimat, der türkischen Schwarzmeerregion.

Anmerkungen 1

Leyla Neyzi, Remembering Smyrna/Izmir: Shared History, Shared Trauma, in: History and Memory 20, 2 2008, S. 106–127. 2 Ahmet Yorulmaz, Savaşın Çocukları. Girit’ten sonra Ayvalık, Istanbul 1997. 3 Heghnar Watenpaugh, The Missing Pages. The Modern Life of a Medieval Manuscript, from Genocide to Justice, Stanford 2019. 4 Demetra Vaka, Unveiled Ladies of Stamboul, Boston 1923. 5 Nur Bilge Criss, Istanbul under Allied Occupation 1918–1923, Leiden 1999. 6 Renée Hirschon (Hrsg.), Crossing the Aegean. An Appraisal of the 1923 Compulsory Population Exchange between Greece and Turkey, New York 2003. 7 Bruce Clark, Twice a Stranger: How Mass Expulsion Forged Modern Greece and Turkey, London 2007. 8 Fatma Müge Göçek, The Transformation of Turkey: Redefining State and Society from the Ottoman Empire to the Modern Era, London 2011.

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Im Jahr des zuckenden Welses Das Erdbeben von Kantō (Japan) am 1. September 1923 Gerrit Jasper Schenk Das Jahr 1923 war für Japan ein Jahr wie jedes andere auch. Das Jahr 1923 war für Japan ein Jahr wie keines je zuvor und je danach. Beide Sätze treffen zu, obwohl ihre Zusammenstellung paradox wirkt. Denn der Wert jeder Zeit beruht, wie der Historiker Leopold von Ranke bemerkte, auf ihrer Eigenart selbst. So ist jedes Jahr einzigartig und unvergleichlich, aber alle Jahre sind in ihrer jeweiligen Einzigartigkeit auch wieder gleich, miteinander verbunden und vergleichbar. Die verstreichende Zeit verbindet das Vorher und das Nachher zu einem umso größeren Kontinuum, je weiter entfernt sich der eigene Standpunkt befindet. Es kommt darauf an, welchen Maßstab man anlegt, um das Einzigartige vom Ähnlichen zu unterscheiden. Dies trifft auch für das Erdbeben in Japan am 1. September 1923 zu, das weltweit für Entsetzen und Anteilnahme sorgte. Es steht für ein Ereignis, das einerseits eng mit bereits lange vorher geschaffenen Strukturen und Umständen in Verbindung stand, vielleicht als ein Ausdruck oder sogar Resultat langsam ablaufender Entwicklungen verstanden werden kann. Andererseits lässt es sich als ein Ereignis lesen, das wir als K ­ rise, Wendepunkt und Anfang neuer Entwicklungen interpretieren können. In dieser Ambivalenz steht das Erdbeben von Kantō sowohl für die Einzigartigkeit eines Ereignisses als auch für die Beständigkeit von Strukturen. Doch ob die Untersuchungsperspektive nun eher ein Trägheitsgesetz menschlicher Geschichte oder eine Lesart der Moderne als einer Abfolge von Krisen und Katastrophen in den Vordergrund stellt, ist angesichts der menschlichen Schicksale und der Erzählung, wie diese gemeistert (oder nicht gemeistert) werden, als plastisches und vielstimmiges Beispiel der conditio humana, vielleicht nicht so zentral. Eine besondere Aufmerksamkeit muss daher den Stimmen, Bildern und Vorstellungswelten der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen gelten.

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188 Gerrit Jasper Schenk Für Otis Manchester Poole (1880–1978) stand das Einzigartige des Erdbebens sicher im Vordergrund. Er erlebte den 1. September 1923 in der japanischen Region Kantō, in der Japans Hauptstadt Tokyo mit ihrer direkt benachbarten Hafenstadt Yokohama liegt. Der Sohn eines amerikanischen Teehändlers war seit 1923 Vertreter der englischen Handelsfirma Dodwell & Co. und lebte mit seiner Frau und drei Kindern in Yokohama. Dort lag die japanische Niederlassung der Firma in einem Viertel, das hauptsächlich Nichtjapaner bewohnten. In seinem später entstandenen, vielfach aufgelegten Bericht vom »Untergang des alten Yokohama im Großen Japanischen Erdbeben« schildert er den Moment des Bebens so:1 Als sich die Mittagszeit näherte, saß ich an meinem Schreibtisch in meinem Privatbüro, das neben der Eingangshalle mit großen Fenstern zur Straße hin gelegen war. Kurz zuvor hatte ich auf die Uhr geschaut, festgestellt, dass es bald Zwölf war, und mich bereitgemacht, um zum ›United Club‹ am Bund zu gehen, wo sich an der langen Bar, der ›Nachrichtenbörse‹ unserer Exilgemeinde, die übliche fröhliche Samstagsnachmittagsrunde zu versammeln pflegte. […] Ich war kaum an meinem Schreibtisch zurück, als – ohne Vorwarnung – der erste donnernde Schlag des Erdbebens kam, ein schreckliches Schwanken, grausames Knirschen von Holz und, binnen weniger Sekunden, ein zunehmender Aufruhr, als sich der Fußboden zu heben und das Gebäude wie betrunken zu schwanken begann. Nach alter Gepflogenheit der Japanerfahrenen sprang ich unter den Türbogen, um mich zu schützen und in Sicherheit zu bringen. Ich hatte in den fünfunddreißig Jahren in Japan zahllose Erdbeben miterlebt und einige davon waren ziemlich scheußlich gewesen; doch trotz der Gewöhnung an ihre Stärke und geübt, nach außen cool zu wirken, konnte man den grauslichen Gedanken nicht unterdrücken, wie schlimm es diesmal werden würde. Jede Erdbebenwelle scheint auf eine Grenze physikalischen Widerstands zuzudonnern, einen Horizont, kurz vor dem noch Sicherheit liegt und jenseits dessen Zerstörung. […] Vielleicht eine halbe Minute hielt das Gefüge unserer Umgebung stand, dann kam ihr Zerfall. Placken von Verputz lösten sich von den Decken, fielen uns um die Ohren und erfüllten die Luft mit einer Sicht raubenden,

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erstickenden Staubwolke. Wände wölbten sich, brachen auf und sackten ein; Bilder tanzten an ihrer Aufhängung, fielen herunter und zerbarsten in Splitter. Schreibtische schlitterten umher, Schränke, Tresore und Möbelstücke kippelten, drehten sich einen Moment und stürzten auf die Seite. Es fühlte sich an, als hebe und senke sich der Boden unter den Füßen in kniehohen Wellen. Im Korridor neben mir schlingerten einige unserer japanischen Angestellten herum, fielen, taumelten die Wände entlang, krabbelten auf Händen und Füßen in vergeblicher Mühe, ihr Gleichgewicht wieder zu finden. […] Wie lang es dauerte, weiß ich nicht: Es schien eine Ewigkeit, doch der offizielle Bericht spricht nur von vier Minuten. Wir klammerten uns einfach ans schiere Leben und warteten auf das Ende […] Dann, ganz plötzlich, Stille. Kein allmähliches Abflauen, nur eine abrupte und ziemlich scheußliche Ruhe. Es war vorbei. Damit hatten Poole und seine Mitarbeiter sehr großes Glück gehabt. Eine zwölf Monate nach dem Ereignis erstellte Statistik führte 107 858 Tote und 13 275 Vermisste an, womit sich die Zahl der Opfer auf insgesamt 121 133 belief.2 Zum Vergleich: Das verheerende Erdbeben von San Francisco am 18. April 1906, das bis heute als eine der schlimmsten ›Naturkatastrophen‹ in der Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika gilt, hatte etwa 3 000 Menschen das Leben gekostet. Schuld an der enormen Opferzahl und den großflächigen Zerstörungen war aber nicht allein das Erdbeben, das eine Oberflächenmagnitude von 7,9 bis 8,1 erreichte bei einem Epizentrum, das ca. 60 bis 100 Kilometer südwestlich von Tokyo lag. Für das Vorstellungsvermögen plastischer wird diese Angabe, wenn man sich verdeutlicht, dass das Erdbeben die Landmassen an der Nordküste der Sagami-Bucht um etwa zwei Meter anhob. Die physikalische Ursache des Bebens ist plattentektonisch einfach zu erklären und stellt einen keineswegs außergewöhnlichen Vorgang am Rand des ›Feuerrings‹ aus Vulkanen und erdbebengefährdeten Zonen rund um die große Pazifische Platte dar. Verantwortlich war der Bruch eines Teils der Grenzzone, an der sich drei Platten treffen, die Philippinische, die Ochotsk- und die Amurplatte (die auch zur großen Eurasischen Platte gezählt wird). Hier schiebt sich die Philippinische Meeresplatte längs der Sagami-Subduktionszone langsam, aber unaufhörlich

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190 Gerrit Jasper Schenk unter die Ochotskische Platte. Dieser Vorgang erfolgt jedoch nicht unbedingt gleichförmig gleitend, sondern manchmal auch ruckartig und genau das muss am 1. September 1923 in einer Tiefe von ca. 23 Kilometern die Erdbewegung an der Oberfläche ausgelöst haben.3 Zur Katastrophe wurde dieses geophysikalisch ganz natürliche und insofern normale Ereignis dadurch, dass es im Ballungsgebiet von Tokyo und ­Yokohama auf verwundbare  – nämlich von Menschen gebaute  – Strukturen an der Erdoberfläche traf. Das Beben traf eine Baustruktur, die trotz einiger neuerer Gebäude aus Backstein und wenigen modernen aus eisen- oder stahlbewehrtem Beton zu einem großen Teil noch aus traditionellen japanischen Holzhäusern bestand. An sich sind leicht gebaute hölzerne Strukturen bei Erdbeben vorteilhaft, jedoch nicht, wenn sie wie hier mit schweren Ziegel­ dächern versehen sind. Hinzu kam, dass der Baugrund für die Konstruktionen wegen der enormen Expansion Tokyos und vor allem Yokohamas in der Moderne auf Zonen ausgeweitet worden war, die bei Erdbeben keine ausreichende Stabilität boten. Geomorphologische Untersuchungen haben gezeigt, dass die Zerstörungsquote von Gebäuden vor allem in den Schwemmlandzonen längs des Flusses ­Sagami extrem hoch war und mit der Mächtigkeit der Böden aus grobem Kies und Sedimenten korreliert.4 Auch aufgeschüttete Zonen, auf die in der expandierenden Stadt Gebäude gesetzt worden waren, erwiesen sich als unsicherer Baugrund.5 Von den rund 34 000 durch das Erdbeben zerstörten Gebäuden waren allein 32 000 Holzkonstruktionen, also ca. 94 Prozent.6 Eine spätere Analyse der Erdbebenschäden an den nicht aus Holz erbauten Gebäude­strukturen ergab, dass Ziegel- und Mauerwerksstrukturen zu 60–70  Prozent schwere Schäden zeigten, sieben Prozent von ihnen stürzten ganz oder teilweise ein, von den Gebäuden aus Mauerwerk mit behauenen Steinen jedoch nur vier bis fünf Prozent. Die Stahlbeton- und Stahlkonstruktionen wurden zwar zu 40 Prozent stark beschädigt, stürzten aber nur zu ein bis zwei Prozent ganz oder teilweise ein. Doch der Erdbebenkatastrophe, so schlimm sie war, folgte eine zweite und noch schlimmere: Feuer! Für 90 Prozent der am Ende 375 000 zerstörten baulichen Strukturen waren Brände der zerstörendste Faktor. So wie Otis Manchester Poole wollten um die Mittagszeit viele eine Pause machen, etwas essen und trinken, und so brannten in vielen der dicht an dicht gebauten Holzhäuser im Herzen Tokyos Herdfeuer aus Kohle zur Vorbereitung der Mahlzeiten. Wie verhängnisvoll sich die enge Holzbauweise auswirkte, wurde später auf der

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­ asis vieler Augenzeugenberichte überlebender Japaner im ersten Band der ofB fiziösen ›Geschichte der Erdbebenkatastrophen der Stadt Yokohama‹ 1926 so skizziert:7 Gleich nachdem das fürchterliche Erdbeben den Menschen alle Kraft geraubt hatte, brachen an Dutzenden von Orten in der Stadt Feuer aus. Einige entzündeten sich sofort, andere etwa eine Stunde später. […] Einer Untersuchung des örtlichen Wetteramts Yokohama zufolge […] brachen an 289 Orten Feuer aus und ein starker Südwestwind […] schürte den Brand […] und um fünf Uhr morgens […] stand der Großteil der Stadt in Flammen. Außerdem traten an zwanzig Stellen starke Wirbelwinde auf. […] Die Flammen traten so schnell auf, dass Eltern zusehen mussten, wie ihre unter dem Schutt eingeklemmten Kinder verbrannten, ohne sie retten zu können. Ehemann und Ehefrau, Bruder und Schwester teilten unvorstellbares Leid. Durch das Erdbeben wurden die Holzhäuser zum Einsturz gebracht und ihre schweren Dachziegel töteten und verletzten viele Menschen. Die Herdfeuer entflammten das leicht entzündliche Material, zerborstene Gasleitungen taten ein Übriges und binnen Kurzem loderte an vielen Stellen der Stadt Feuer auf. Auch die im Text erwähnten Wirbelwinde sind keine Einbildung traumatisierter Zeitgenossen, sondern lassen sich auf der Grundlage der vom erwähnten Wetteramt gesammelten Daten minutiös rekonstruieren. In der Nacht vor dem Erdbeben zog ein tropischer Sturm im Westen Japans vorüber, gefolgt von einer Kaltfront.8 Am Nachmittag des Erdbebentages frischte der Wind in Tokyo allmählich auf, erreichte in der Stadtregion noch vor Mitternacht Spitzen von über 50 Stundenkilometern und drehte von Süden über Westen nach Norden. Der Wind fachte einem Blasebalg ähnlich das Feuer an, Funkenflug führte vor allem im Osten der Stadt zu immer neuen Bränden, die ihrerseits lokale Winde auslösten. Der Feuersturm währte mehrere Tage und muss entsetzlich gewesen sein. Allein auf dem fast sieben Hektar großen Gelände des ehemaligen kaiserlichen Kleiderdepots Honjo, auf das obdachlos gewordene Erdbebenopfer zunächst geflohen waren, verbrannten rund 38 000 Menschen. Unbeschreibliche Szenen spielten sich ab, denn die aus den Trümmern und vor den Bränden Fliehenden versuchten, ihre Besitztümer mit sich zu nehmen, und blockierten sich so gegenseitig, zumal die Infrastruktur zerstört und Straßen wie Schienenwege kaum noch nutzbar waren. Der Augenzeuge Tanaka

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192 Gerrit Jasper Schenk Kōtarō schrieb Wochen später, nie werde er den Anblick und Gestank Zehntausender verbrannter Leichen vergessen können und schilderte die Szenen, die sich auf den Wegen und Schienen abspielten:9 Im Strudel von Leuten war eine Gruppe mehrerer Männer und Frauen, die einen Karren vor sich her stießen und einen hohen Stapel von Gegenständen, einschließlich Futons, schleppten; ein Mann schob einen zweirädrigen Karren mit einer Kommode und in Tücher gewickelten Bündeln; eine Frau in Unterwäsche mit einem Neugeborenen auf ihrem Rücken und einem kleinen Kind an der Hand, […] ein Mann im Unterhemd, einen Safe tragend […] ein Mann, der unter seinem Arm einen Jungen mit blutigem Kopf trug und so weiter: Alle diese Leute liefen in einer chaotischen, wirren Weise durcheinander. Das Durcheinander aus einstürzenden Bauten, brennenden Trümmern und verwundet fliehenden Überlebenden sorgte für Szenen, die europäische Beobachter am ehesten mit kulturellen Erinnerungsfiguren wie dem Brand Trojas oder der christlichen Apokalypse zu charakterisieren versucht sind. Die zeitgenössischen japanischen Berichte charakterisierten den Grad an Zerstörung mit dem Begriff zenmetsu (Vernichtung).10 Aber mit dem Ausbruch der Brände war die Ereigniskette noch nicht am Ende. Als Stadt am Meer traf Tokyo auch noch ein durch das Erdbeben ausgelöster Tsunami, von dem der Bericht einer Deutschen, der noch die Erregung des Augenblicks atmet, ein zeitnahes Zeugnis gibt. Es handelt sich um die Erzieherin der Kinder des deutschen Botschafters in Tokyo und früheren Gouverneurs der Kolonie Deutsch-Samoa, Wilhelm Solf (1862–1936). Sie hielt sich mit den drei Kindern des Botschafters in Kamakura am Strand von Shichiragahama (in der Präfektur Kanagawa bei Yokohama südlich von Tokyo) auf, wo während der Wochenenden zahlreiche Sommerhäuser als Zuflucht der Wohlhabenderen vor dem Gedränge der Hauptstadt dienten. Die Erzieherin, Fräulein Flad, war eine Tochter des badischen Geheimrats Otto Flad (1864–1945), Präsident des Badischen Verwaltungsgerichtshofes in Karlsruhe. Sie kümmerte sich um das Kleinkind Otto Isao (im Bericht japanisch Akachan: Baby genannt) und unterrichtete die zwei älteren Kinder. Ihr tagebuchartiger Bericht zeigt sie als eine aufmerksame Beobachterin, die sich auf die japanische Lebenswirklichkeit einlässt und offenbar auch Japanischkenntnisse hat. Wie sie mit Sympathie von den ­Hausangestellten

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erzählt und mit Offenheit deren auf lokales Wissen zurückgehenden Ratschläge beherzigt, spricht für einen unverstellten, von kulturellen Vorurteilen weitgehend ungetrübten Blick. Sie berichtet von den spielenden Kindern der Familie am Strand, während sie selbst sich mit Unwohlsein hingelegt hatte. Es war kurz vor 12 Uhr mittags:11 Ganz urplötzlich – ganz unerwartet ein Dröhnen und Wanken des Hauses, zunächst nicht heftiger und ebenso horizontal, wie ich es bei kaum der Erwähnung werten Beben im vergangenen Winter erlebt hatte. Und das ist der Beginn jener verheerenden Katastrophe. – Was nun geschieht, ist das gesteigerte, bis zu den Grenzen menschlichen Könnens gesteigerte Erleben weniger Minuten, die wie Ewigkeiten scheinen und die die kürzeste und längste Rede nie treffend wird schildern können. Ich fühle das erste Vorbeben, das vielleicht 3 Sekunden gedauert haben mag, springe auf mit einem »Ich gehe zu den Kindern, sie werden Angst haben!« Kaum stehe ich auf den Füssen[,] da setzt das erste grosse Beben ein – durch die Verandatüren hinaus? Keine Möglichkeit – die Scherben stürzen mir klirrend entgegen – das Haus schwankt horizontal, bald vertikal hin und her, auf und nieder – durch das Esszimmer und durch die Küche ins Freie – auch das ist schwer – das Haus wackelt und dröhnt und schlägt mich der Länge nach zu Boden mit Stühlen und Möbeln. Schnell hoch – an den schwankenden Hausbalken halt – und dann – bei dem Ruf der nurse in Akachans Kindersprache: »Fladdi kumm!« – stürze ich ans Fenster und bin mit einem Satz im Freien! Draussen finde ich ganz ruhig, still, sicher Akachan in den Armen seiner Onosan: sie sitzt mit dem Kleinen im Arm auf einer Holzschiebetür – die beim ersten Stoß der Koch für sie hinausgetragen hat. Die Japaner haben die Erfahrung, daß ein Holzbrett lebensrettend sein kann, da es eventuell entstehende Erdspalten überbrückt und so verhindert, daß Menschen lebendig begraben werden. – Nun folgen die furchtbarsten Augenblicke: Wo sind die 2 anderen Kinder? […] Ich renne die Dorfstrasse hinunter  – rechts  – links, frage jeden, denn jeder kennt die 2 blonden Kinder. Keine Spur von ihnen. Ueberall fliehende Menschen. Gähnende Erdspalten, zusammenfallende Häuser – so kehrte ich vielleicht nach 5 Minuten zurück in den Garten – auch noch keine Spur. Akachan! Noch heute habe ich dies Heiligenbild vor Augen: da sitzt die Japanerin, andächtig, gefasst, ruhig – beinahe glücklich über das Kind im Arm und der blonde, kleine, ahnungs­lose Bub,

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194 Gerrit Jasper Schenk so geborgen und ruhig – ganz stumm. Ein Wort an Onosan – und an den Strand. Bei mir eine Amah [Nonne]: »Sensei [Meisterin], da Kinder gesehen – da – da!« Ja, da war der Platz – aber da war nichts als Meer – Meer; also verloren? Oksan! – Plötzlich sehe ich in der Ferne 3 Punkte, gleichzeitig im Garten der Nachbarn, Freunde der Kinder, ohne die sie selten spielen! Also hinüber. […] Ich rase hinunter an den Strand und will an der anderen Seite hinauf. Da – mit riesenhaftiger Geschwindigkeit rasen 2 haushohe Wellen auf mich zu und hinter mir her – und ich machtlos zu helfen, zu sorgen, zu rufen; kann nur noch betende Worte auf die Kinder einstellen. Als ich durch eine wunderbare Fügung mein Leben neu geschenkt bekommen hatte und den Fluten entrissen wurde, kam gleich ein alter Ojisan [Onkel] auf mich zu mit der Freudenbotschaft, dass die Kinder gesund und im Reisfelde sind. Dort auf dem Brett finden wir uns also wieder. – […] Ich überlege, was zu tun ist. Da kommt Rat. Ein Japaner aus dem Dorfe, der selbst im Retten seiner Habe begriffen ist, denkt inmitten aller Gefahren an uns und schickt uns einen Boten mit der Aufforderung, ihn in seinen Bambuswald zu folgen, der anerkannt sicherste Ort in der Gegend, weil die Wurzeln des Bambus stärker sind, als die erschütterte Erdoberfläche, die überall Abgrund und Verderben schafft. Ich fühle, das ist das Richtige, und wir folgen […]. Hier, in Sicherheit, berichten nun die älteren Kinder, wie sie am Strand beim Muschelsuchen gerettet wurden. Die europäisch erzogenen Kinder werden das unverkennbare Vorzeichen eines Tsunami, das plötzliche Zurückweichen des Meeres, genauso wenig wie ihre Erzieherin erkannt haben, aber der sie begleitende Japaner erfasste offenbar sofort die tödliche Gefahr und rettete die Kinder vor den Wellen des Tsunamis, die unweigerlich auf das Zurückweichen des Meeres folgen. Auch sonst profitierten die Erzieherin, die ihren eigenen Überlebenskampf im Tsunami kaum eines Wortes würdigt, und ihre Schützlinge erkennbar vom Erfahrungswissen der Ortsansässigen. Unmittelbar nach den Ereignissen dominierte der Eindruck physischer Vernichtung von Leib, Leben und Besitz. Einige wenige nüchterne Zahlen müssen hier für das Ausmaß an Zerstörung und Elend stehen, für das Leid und Chaos, das sich nicht nur im Großraum Tokyo, sondern auch in den angrenzenden Gebieten entfaltete. Es reichte von der Beseitigung der enormen

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Mengen an Leichen, die in der sommerlichen Hitze schnell ein hygienisches Problem darstellten, durch Verbrennen bis hin zum Elend der Obdachlosen, die auf der Suche nach Wasser, Nahrung und Erster Hilfe durch die Trümmerlandschaft irrten und, den zerstörten Bahnlinien folgend, in die Umgebung flohen.12 Allein im eigentlichen Stadtgebiet Tokyos verloren 311 775 von 483 000 Familien ihre Wohnung (rund 65 Prozent) und von den 2,26 Millionen Einwohnern Tokyos insgesamt 1,38 Millionen ihr Zuhause. 7 000 Fabriken waren zerstört. Als Folge sprang die Arbeitslosigkeit allein in der Stadt Tokyo auf 45 Prozent, in der Präfektur Tokyo betrug die Arbeitslosigkeit auch noch im November 1923 rund 37 Prozent. Die Gesamtkosten des Erdbebens beliefen sich auf mehr als den vierfachen Betrag des Staatshaushalts Japans von 1923. Wer vom täglichen Lohn leben musste, hatte ein Problem. Aber es traf auch diejenigen, die auf Ersparnisse zurückgreifen wollten, da in Tokyo von 138 Banken nur 17 vom Erdbeben und Feuer verschont geblieben waren und auch alle Pfandund Leihhäuser vernichtet waren, die für die Ärmsten der Arbeiterklasse überlebenswichtig waren. Hauseigentümer mit Versicherungspolice hofften vergeblich auf Zahlungen, denn die Versicherungen hatten Schäden aus Erdbeben ausgeschlossen. Zwar sprang nach langen Diskussionen der japanische Staat ein und stellte der Versicherungsbranche einen lang laufenden Kredit mit niedrigen Zinsen zur Verfügung, doch am Ende wurden nur 5,6 Prozent der versicherten Summen an Erbebenopfer ausgezahlt. Die öffentliche Infrastruktur war fast vollständig zerstört: 362 Brücken im Stadtgebiet von Tokyo zusammengebrochen, 70 weitere schwer beschädigt, der wichtigste Aquädukt an über 200 Stellen unterbrochen, 82 Brücken in den benachbarten Präfekturen eingestürzt, über die weitere Wasserleitungen zur Versorgung der Metropole liefen. Die Versorgung von Millionen Menschen mit Wasser und Lebensmitteln war von einem Moment zum anderen kaum mehr möglich. An die Stelle der 162 zerstörten privaten und staatlichen Hospitäler traten zwar einige rasch errichtete Feldhospitäler, die aber der großen Zahl an Patienten nicht Herr wurden. Die staatliche Autorität war schon rein materiell kaum mehr präsent. Von 196 Grundschulen waren 117 in Schutt gefallen, die ohnehin geringen Angebote der sozialen Wohlfahrt wie öffentliche Kantinen und Billigunterkünfte für männliche Lohnarbeiter gab es nicht mehr. Wer Trost in seiner Religion suchen wollte, stand vor den Trümmern von 3 633 buddhistischen Tempeln, 151 Shintō-Schreinen und 202 christlichen Kirchen.

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196 Gerrit Jasper Schenk Rasch setzte ein oft zu beobachtender katalysatorischer Effekt der Kata­ strophe ein und machte Konflikte und Bruchlinien der japanischen Gesellschaft sichtbar. Schon seit 1920 befand sich Japan in einer Phase wirtschaftlicher Schwäche, die einer stark expansiven Phase gefolgt war. Japan hatte 1910 Korea annektiert, sich 1912 mit Russland in einem Geheimvertrag über Einfluss­zonen geeinigt (Mongolei, Mandschurei), 1915 an China in imperialistischer Manier 21 Forderungen gerichtet und teilweise gewaltsam durchgesetzt, war aber 1918–1922 in Sibirien mit Interventionen gegen die Bolschewisten gescheitert. Während im Jahrfünft von 1916 bis 1920 die Wirtschaft im Schnitt noch jährlich 4,8 Prozent gewachsen war, sackte das Wirtschaftswachstum in den folgenden fünf Jahren auf einen jährlichen Durchschnitt von 1,9 Prozent ab.13 Die im Ersten Weltkrieg eroberten Absatzmärkte waren zum Teil wieder verloren gegangen. 1921 war der erste Premierminister bürgerlicher Herkunft, Hara Takashi, ermordet worden und Japan hatte im Neun-Mächte-Vertrag vom 6. Februar 1922 in Washington seine imperialen Ansprüche in China (Provinz Shandong) weitgehend aufgeben müssen. Am 24. August 1922 war Premierminister Katō Tomosaburō an Darmkrebs gestorben und so traf die Dreifachkatastrophe ein Land im Übergang, ohne Regierung und offenbar so verunsichert, dass sich im Chaos des 1. September und in den folgenden Tagen etwas ereignete, das bis heute Gegenstand von Kontroversen ist: brutale Massaker an koreanischen Einwohnern vor allem Yokohamas und Tokyos durch Bürger, Bürgerwehren, Polizei und Soldaten. Die ethnische Minderheit der Koreaner in Japan zählte 1923 gerade einmal 81 000 bei ca. 56 Millionen Einwohnern.14 Offizielle japanische Untersuchungen in den Folgejahren nannten nur fünf Tote als Folge der Massaker an den Koreanern, betonten die Rolle von Gerüchten über angeblich verbrecherische Koreaner als Auslöser für die als spontane Panik charakterisierten Massaker durch japanische Erbebenopfer und hoben die Rolle von Polizeioffizieren bei der Verhängung von ›Schutzhaft‹ für die bedrohten Koreaner positiv hervor.15 Die jüngere Forschung konnte hingegen wahrscheinlich machen, dass allein schon in Tokyo 1 781 Koreaner umgebracht wurden, in Yokohama sogar zwischen 2 000 und 4 000. Auch die deutsche Erzieherin bekam in ihrer dörflichen Zuflucht die Gerüchte mit, erkannte sie aber rasch als »Räubermärchen«: Am Nachmittage des dritten Tages treibt uns ein strömender Regen aus dem Wald ins Dorf, wo freundliche Japaner uns […] einladen. Kaum sind wir unten, werden wir mit allen Frauen und Kindern dieser Dorfstrasse

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in ­einen Holzschuppen verladen, dürfen nicht sprechen, uns nicht rühren, denn es geht das Gerücht: »Aus dem Gefängnis entkommen(e) Koreaner ziehen plündernd, sengend, brennend, mordend durchs Land und sind eben nahe bei uns.[«] Es ist dies ein japanisches Räubermärchen gewesen, aber ernst genug insofern, als alle Männer bewaffnet ausziehen.16 Es ist bekannt, dass Mehrheitsgesellschaften in Krisen und Katastrophen nicht selten nach Sündenböcken unter marginalisierten Gruppen suchen. Tatsächlich ähneln einige der Gerüchte über die angeblichen Untaten der Koreaner, namentlich Brandstiftung, Diebstahl und Brunnenvergiftung, geradezu erschreckend den Vorwürfen, die zum Beispiel marginalisierten Gruppen wie den Juden bei den europäischen Pestwellen Mitte des 14. Jahrhunderts gemacht wurden.17 Es gibt Versuche, dieses verbreitete Krisen-Reaktionsmuster als Paranoia oder als einen Versuch der Kontingenzbewältigung zu interpretieren. Angesichts einer unüberschaubaren und bedrängenden Situation oder unerklärlich erscheinender Vorgänge könne eine solche Verschwörungserzählung Sinn stiften und kurzfristig für Entlastung sorgen, sowohl mental und psychisch als auch von der eigenen Verantwortung.18 Doch der entschuldigende Verweis auf eine gleichsam kultur- und epochenübergreifende menschliche Konstante erklärt im Grunde genommen wenig, sondern verschleiert Strategien von Zeitgenossen und verdeckt die Verantwortung für Taten, die als bewusst begangene Verbrechen zutreffender charakterisiert sind. Tatsächlich lässt sich zeigen, dass für die Durchführung von Pogromen in Krisenzeiten zwei Faktoren entscheidend sind, nämlich handelnde Personen innerhalb von informellen und institutionalisierten Netzwerken mit einer entsprechenden Agenda und bestehende kulturelle Rahmensetzungen, wie zum Beispiel Vorurteile gegenüber bestimmten Gruppen oder Parteien. Einige der 1923 bei den Pogromen maßgeblichen Akteure aus Politik, Verwaltung und Polizei waren zuvor im kolonialisierten Korea ebenfalls in führenden Positionen gewesen, so zum Beispiel der Leiter der Sonderpolizei der Präfektur Kangawa Nishizaka Katsuto, der als Offizier der japanischen Kolonialpolizei 1919 die als ›Bewegung des ersten März‹ bekannt gewordene Protest- und Unabhängigkeitsbewegung Koreas miterlebt hatte, die äußerst gewaltsam niedergeworfen worden war.19 Es liegen sogar Hinweise vor, dass die Polizei 1923 selbst die angeblich spontan sich bildenden Bürgerwehren aufstellte und zeitweise sogar zum Töten von Koreanern aufforderte, weil diese sich zu einem Aufstand

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198 Gerrit Jasper Schenk zusammengerottet hätten.20 Da zugleich verbreitet wurde, dass Kommunisten und Linke einen Umsturz planten, spricht einiges dafür, dass eine extrem konservative, nationalistische Elite die Situation nutzte, um ihre Vorstellungen von einer reinen und überlegenen japanischen Volksgemeinschaft gegen Gruppen einzusetzen, die als zersetzende Bedrohung dargestellt wurden. Vor dem Hintergrund des Wirtschaftsabschwungs wird diskutiert, ob die Hetze der japanischen Elite gegen die Koreaner im Krisenmoment nach dem Erdbeben auch deswegen auf fruchtbaren Boden fiel, weil die armen japanischen Lohnarbeiter die Koreaner als eingewanderte Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt empfunden haben mögen.21 Die objektiv zahlenmäßig unerhebliche Konkurrenz und geringe Wahrscheinlichkeit eines koreanischen Aufstands spricht eher dafür, dass die Weltbilder und Ideologien der anstachelnden Eliten für die Instrumentalisierung dieser marginalisierten Gruppe als Sündenbock und Blitzableiter maßgeblich waren. Die Katastrophe forderte das gesamte politische System heraus. Am 2. September wurde Yamamoto Gombē (1852–1933) zum neuen Premierminister ernannt (Abb.  S. 199). Der ehemalige Admiral, bereits 1913/14 Premierminister, richtete sein Erdbebenkabinett an den Erfordernissen der Situation aus und verhängte am selben Tag noch das Kriegsrecht, sodass bis in den November hinein rund 20 Prozent der stehenden Armee Japans im Großraum Tokyos stationiert wurde. Ein kaiserlicher Erlass setzte für den Zeitraum vom 17. September 1923 bis zum 31. März 1924 die Zölle für lebenswichtige Waren und Lebensmittel aus und es spricht für die weit fortgeschrittene Globalisierung, dass eine weltweite Welle an Solidarität und Hilfe einsetzte. Auch die deutsche Kolonie in Kobe spendete einen im internationalen Vergleich zwar kleinen, aber von den Japanern geschätzten Betrag, weil jeder Deutsche schon bis an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit zu den Ruhrsammlungen beigesteuert habe und bedürftige Angehörige in der Heimat unterstütze, wie vom deutschen Konsulat nach Hause berichtet wird.22 Gotō Shimpei (1857–1929), der vom Dezember 1920 bis zum April 1923 Bürgermeister Tokyos gewesen war, wurde zum Innenminister und Vorsitzenden der Wiederaufbaukommission ernannt und entwickelte dezidiert modernisierende Aufbaupläne mit zum Beispiel Straßenverbreiterungen und radialen Hauptstraßen. Den Wiederaufbau begleitete eine ­Kontroverse über die geeignete erdbebenresistente Bauweise, denn die im kolonialen Stil gemauerten Bauwerke hatten sich im Gegensatz zu Stahlbetonbauten als wenig widerstandsfähig erwiesen, während sich die ­traditionellen

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Kitazawa Rakuten, Titelblatt der Manga-Beilage der Zeitung Jiji shinpô am 7. Oktober 1923: Sonderausgabe zum Erdbeben: Bumm! Das Erdbeben um 2 vor 12 Uhr gebar das Kabinett des Bosses Gombē. Holzhäuser als zwar im Prinzip konstruktiv an Erdbewegungen angepasst, aber brandgefährdet erwiesen hatten.23 Auch wenn die umfassenden Pläne von Shimpei wegen verkrusteter gesellschaftlicher Strukturen, Korruption und Interessenspolitik nur ansatzweise umgesetzt werden konnten, entstanden in den sieben Jahren nach dem Beben allein schon 253 Kilometer neue Straßen, 424 Brücken und 121 feuersichere Schulen.24 Die Art und Weise, wie die Katastrophe kulturell gedeutet und verarbeitet wurde, war ein Spiegelbild der sich zwischen Tradition und Moderne rasant entwickelnden japanischen Gesellschaft. Weitverbreitet war selbst bei eher

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200 Gerrit Jasper Schenk weltlich orientierten Persönlichkeiten eine bei Katastrophen weltweit und epochenübergreifend verbreitete Wertung als göttliche Bestrafung (japanisch tenken, tenbatsu).25 Sie variierte entsprechend der gesellschaftspolitischen Einstellungen, je nachdem, ob für die Strafe Konsumismus, Individualismus oder die korrupte Bereicherung der Eliten an den Kriegsgewinnen der Kolonialkriege als ursächlich angesehen wurden. Industrialisierung, Urbanisierung und der wachsende, aber ungleich verteilte Wohlstand setzten auch den Rahmen für unterschiedliche Lesarten der Katastrophenbewältigung. Führte die Katastrophe zu spiritueller Katharsis oder beschleunigte sie den Weg in die moderne Industriegesellschaft mit Massenkonsum und Materialismus? Waren die zaghaften Anfänge einer pluralen Demokratie zu begrüßen oder abzulehnen? Bald nach der Katastrophe erschienen Bilder und Karikaturen, die die gesellschaftlichen Entwicklungen bildmächtig verdichteten.26 Die Künstler griffen dafür auf eine alte japanische Bildtradition der Darstellung von Erdbeben zurück, den Wels als Verkörperung des Verderben wie Erneuerung bringenden Erdbebens. Diese Erbebenallegorie hatte sich vermutlich aus einer Bildtradition des 12. Jahrhunderts in Almanachen buddhistischer Tempel entwickelt. Diese zeigten eine Art Erdbebeninsekt, das eine schematische Karte des japanischen Inselarchipels in ambivalent drohender wie schützender Weise umfing. Als magische Karten vom sogenannten Gyôky-Typ, auf denen ein nun drachenartiges Schlangenwesen Japan umfing, wurden diese Karten im 17. Jahrhundert und in Verbindung mit mantischen Praktiken der Erbebenvorhersage populär. Im Lauf der Jahrhunderte verschmolz die Drachendarstellung mit der eines großen, kosmischen Fisches in der Gestalt eines Welses (jap. namazu), dem auffälliges Verhalten kurz vor Erdbeben zugeschrieben wurde. Nach volkstümlichen Vorstellungen ruhte auf dem Kopf des Welses ein Schlussstein, der ein Zucken des Welses und damit Erdbeben verhinderte. Der Schlussstein wurde mit einem aus dem Erdreich ragenden Stein beim Schrein der Gottheit Kashima in der heutigen Präfektur Ibaraki in Verbindung gebracht, der seinerseits den Ort der irdischen Ankunft der Gottheit anzeigte. Dieser kosmologische Mythos von Zerstörung und Neubeginn gewann nach dem großen AnseiEdo-Erdbeben 1855 für satirische Welsholzschnitte (jap. namazu-e) große Popularität. Sie sollten durch Überspitzung, derbe Komik und Satire zum ­Lachen reizen und so etwas Abstand zum entsetzlichen Geschehen schaffen. Auch 1923 wurde darauf zurückgegriffen. Der als einer der Manga-Gründungs-

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väter geltende Cartoonist Kitazawa Rakuten (1876–1955) verwandte auf dem Titelblatt der Karikaturenbeilage der Zeitung Jiji shinpô am 7. Oktober 1923 einen unter der Erde zuckenden Wels, dessen Bewegung eine Erdspalte aufreißt. Einem Springteufel gleich wird der Krisenpremier Yamamoto Gombē in einer mächtigen brandroten Rauchwolke aus dem Spalt geschleudert, die Fäuste geballt. Feistes Lachen, babygleiche Haltung, weiße Haare und Anzug deuten die Ambivalenz dieser absurden Geburt des neu-alten Premiers aus dem Untergang der Stadt an.

Kitazawa Rakuten, Titelblatt der Manga-Beilage der Zeitung Jiji shinpô am 1. September 1925.

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202 Gerrit Jasper Schenk Rakuten nahm sich auch der Probleme des Wiederaufbaus karikierend an, der wie nach jeder Katastrophe Gewinner und Verlierer kannte.27 Zum zweiten Jahrestag des Erdbebens droht die riesige Gestalt eines Welses auf dem Titelblatt der Karikaturenbeilage der Zeitung Jiji shinpô: »Soll ich sie noch einmal kräftig durchschütteln, um ihnen die Augen zu öffnen?« Vor ihm tanzt in einer goldenen Rauchwolke ein westlich gekleidetes Paar vor einer Reihe moderngleichförmiger Häuser, rechts von ihm stopft sich ein fetter, grinsender Mann die Taschen mit Geld voll, links schläft ein Regierungsbeamter des Büros für Raumplanung an seinem Schreibtisch und im Vordergrund sitzt zusammengesackt eine in traditionelle Kleidung gewandete Gestalt auf einem Stapel Bauholz. Die Beischrift der rechten Spalte macht die Kritik explizit: »Schaut euch die Wirklichkeit […] an. Die Landreform ist noch immer nicht vollzogen. Es gibt keine Baumaterialien mehr und es wird nicht weiter gebaut. Die Regierung weiß nicht, wie sie die 7 200 000 Yen aus dem Katastrophen[hilfs]fonds einsetzen soll. Frauen tanzen auf dem ausgebrochenen Vulkan mit westlicher Kleidung und kurzen Haaren.« Die Geburt der Erdbebennation Japan aus den katastrophalen Erdbeben des späten 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts erfolgte unter Schmerzen. Für Japan war das große Kantō-Erdbeben am 1. September 1923 sicher ein einzigartiger Moment seiner Geschichte, zugleich aber auch nur eine Etappe auf seinem langen Weg in die globalisierte Moderne. Seit dem 1. September 1960 ist der Tag des Kantō-Erdbebens der »disaster prevention day« Japans und trägt auf diese Weise dazu bei, dass die Erinnerung an die große Katastrophe des Jahres 1923 nicht verloren geht.

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Anmerkungen 1 Otis Manchester Poole, The Death of Old Yokohama in the Great Japanese Earthquake of September 1, 1923, London 1968, S. 30–32 (Übersetzung G. J. Schenk). 2 Die Zahlen nach J. Charles Schencking, The Great Kantō Earthquake and the Chimera of National Reconstruction in Japan, New York, Chichester 2013, S. 38–46. 3 William H. Bakun, Magnitude and location of historical earthquakes in Japan and implications for the 1855 Ansei Edo earthquake, in: Journal of Geophysical Research: Solid Earth 110, B02304, 2005, S. 11f. https://doi.org/10.1029/2004JB003329. 4 Saburoh Midorikawa, Importance of damage data from destructive earthquakes for seismic microzoning. Damage distribution during the 1923 Kanto, Japan, earthquake, in: Annals of Geophysics 45, 6, 2002, S. 769–778. 5 Iokibe Makoto, The Era of Great Disasters. Japan and Its Three Major Earthquakes (Michigan Monograph Series in Japanese Studies, 89), Ann Arbor 2020, S. 23. 6 Die Zahlen in diesem Abschnitt nach Gregory Smits, When the Earth Roars. Lessons from the History of Earthquakes in Japan, Lanham u. a. 2014, S. 89. 7 Zitiert nach Makoto, Era of Great Disasters, S. 23 f. (Übersetzung Gerrit J. Schenk). 8 Angaben nach Fumiaki Fujibe, Localized strong winds associated with extensive fires in central Tokyo: Cases of the Great Kanto Earthquake (1923) and an air attack in World War II (1945), in: Journal of Wind Engineering & Industrial Aerodynamics 181, 2018, S. 79–84, hier S. 80–82. 9 Zitiert nach Schencking, Great Kantō Earthquake, S. 14, 20 f. (Übersetzung Gerrit J. Schenk). 10 Ebd., S. 38. 11 Frank Käser (Hrsg.), Deutschland und das Große Kantō-Erdbeben von 1923. Quellen aus deutschen Archiven (OAG Taschenbuch Nr. 100), Tokyo 2014, S. 40–43. 12 Zahlen und Angaben nach Schencking, Great Kantō Earthquake, S. 38–46; Diane Wei Lewis, Powers of the Real. Cinema, Gender, and Emotion in Interwar Japan, Cambridge, London 2019, S. 26–28. 13 Tessa Morris-Suzuki, The technological transformation of Japan. From the Seventeenth to the Twenty-first Century, Cambridge 1994, S. 132f. 14 Zahl nach Schencking, Great Kantō Earthquake, S. 26. 15 Im Folgenden nach Hasegawa Kenji, The Massacre of Koreans in Yokohama in the Aftermath of the Great Kanto Earthquake of 1923, in: Monumenta Nipponica 75, 1, 2020 S. 91– 122. 16 Käser, Deutschland, S. 45. 17 J. Michael Allen, The Price of Identity: The 1923 Kantō Earthquake and Ist Aftermath, in: Korean Studies 20, 1996, S. 64–93, hier S. 66; František Graus, Judenpogrome im 14. Jahrhundert: Der Schwarze Tod, in: ders., Ausgewählte Ausätze (1959–1989) (Vorträge und Forschungen, 55), hg. v. Hans-Jörg Gilomen, Peter Moraw und Rainer C. Schwinges, Stuttgart 2002, S. 289–301, hier S. 296–301. 18 Christian Pfister, When Europe Was Burning: The Multi-season Mega-drought of 1540 and Arsonist Paranoia, in: Gerrit Jasper Schenk (Hrsg.), Historical Disaster Experiences. Towards a Comparative and Transcultural History of Disasters Across Asia and Europe, Cham 2017, S. 155–185, hier S. 181–185; Jan Dietrich, Katastrophen im Altertum aus kulturanthropologischer und kulturphilosophischer Perspektive, in: Angelika Berlejung (Hrsg.), Disaster and Relief Management. Katastrophen und ihre Bewältigung (Forschungen zum Alten Testament, 81), Tübingen 2012, S. 85–116, hier S. 106–110. 19 Zum Abschnitt Kenji, Massacre, S. 93f.

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204 Gerrit Jasper Schenk 20 Sonia Ryang, The Great Kanto Earthquake and the Massacre of Koreans in 1923: Notes on Japan’s Modern National Sovereignity, in: Anthropological Quarterly 78, 4, 2003, S. 731– 748, hier S. 733f. 21 Byung Wong Jung, Migrant Labor and Massacres: A Comparison of the 1923 Massacre of Koreans and Chinese during the Great Kanto Earthquake and the 1931 Anti-Chinese Riots and Massacre of Chinese in Colonial Korea, in: Cross-Currents: East Asian History and Culture Review 6, 1, May, 2017, S. 177–204. 22 Käser, Deutschland, S. 156. 23 Gregory Clancey, Earthquake Nation. The Cultural Politics of Japanses Seismicity, 1868– 1930, Berkeley, Los Angeles, London 2006, S. 220–226. 24 Tokyo and Earthquakes (TMG Municipal Library series, 29), hg. v. Liaison and Protocol Sect., Internat. Affairs Div., Bureau of Citizens and Cultural Affairs, Tokyo Metropolitan Government, Tokyo 1995, S. 24. 25 Zum Abschnitt Schencking, Great Kantō Earthquake, S. 116–152, 226–262. 26 Zum Abschnitt Gennifer Weisenfeld, Die Verbildlichung der Katastrophe in Japan, in: Gerrit Jasper Schenk, Monica Juneja, Alfred Wieczorek, Christoph Lind (Hrsg.), Mensch. Natur. Katastrophe. Von Atlantis bis heute. Begleitband zur Sonderausstellung »Mensch. Natur. Katastrophe. Von Atlantis bis heute« (Publikationen der Reiss-Engelhorn-Museen, 62), Regensburg 2014, S. 154–161, 279; Anna Andreeva, The »Earthquake Insect«: Conceptualizig disasters in pre-modern Japan, in: Monica Juneja, Gerrit Jasper Schenk (Hrsg.), Disaster as Image: Iconographies and Media Strategies across Europe and Asia, Regensburg 2014, S. 81–90. 27 Zitate in diesem Abschnitt nach Weisenfeld, Verbildlichung, S. 161.

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»It is wonderful« Tutanchamun und die Ägyptomanie zwischen Mythos und Inszenierung Stefan Baumann Tal der Könige, Freitag, der 16. Februar 1923. Es waren bereits fünf Jahre vergangen, seit Howard Carter begonnen hatte, in dem abgelegenen Wüstental bei ­Luxor nach dem Grab des in Vergessenheit geratenen Pharaos Tutanchamun zu suchen. Archäologen hatten dort zuvor beinahe jeden Quadratmeter umgegraben und es galt als aussichtslos, hier noch eine große Entdeckung machen zu können. Um das Tal war es daher in der medialen Berichterstattung relativ ruhig geworden. Das änderte sich schlagartig mit der Entdeckung des Grabeingangs Ende des Jahres 1922: Das Wüstental glich im folgenden Frühjahr einem Rummelplatz. Hohe Staatsbeamte, Abgesandte der Antikenbehörde, Vertreter aller großer Medienhäuser sowie Dutzende Touristen waren nach Luxor gereist. Gleichzeitig warteten die Menschen rund um den Globus gebannt auf Berichte über den Höhepunkt der Ausgrabung: die Öffnung der Sargkammer, in der man die Mumie des Pharaos vermutete. Die Welt war Zeuge einer der größten Entdeckungen in der Geschichte der Archäologie. Es war die Geburtsstunde des Mythos Tutanchamun, der durch die Macht der Medien und der Inszenierung der Ausgräber eine Ägyptomanie bis dato unbekannten Ausmaßes auslöste – eine Ägyptomanie, die bis heute nachwirkt. Überraschend dabei ist, wie wenig wir noch heute über die Entdeckung des Grabes und seine kostbaren Beigaben wissen. Während vieles noch unerforscht, rätselhaft oder widersprüchlich ist, stellen sich bei genauem Hinschauen sogar einige der über 100 Jahre lang als sichere Tatsachen erachtete Aspekte als unwahr heraus. Wie konnte es ausgerechnet bei einer der bekanntesten archäologischen Entdeckungen der Menschheitsgeschichte zu einem derartig desaströsen Missverhältnis zwischen vordergründig verfügbarem und gesichertem Wissen kommen? Um dies zu beantworten, bedarf es eines genaueren Blicks auf den Mythos Tutanchamun und seine Inszenierung.

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Das Grab und die Sargkammer Bereits die Geschichte der Entdeckung des Grabes könnte von einem Drehbuchautor nicht dramatischer in Szene gesetzt worden sein. Nach mehreren kostspieligen Ausgrabungskampagnen mit mehr als 100 Arbeitern, die mit ­Hacken und Körben das Geröll im Tal der Könige umschichteten, stand die Unternehmung zwischenzeitlich vor dem finanziellen Aus. Es schien sich zu bewahrheiten, was andere Archäologen vermutetet hatten, nämlich dass bereits alle bedeutenden Gräber vor Ort entdeckt worden waren. Der Financier der Unternehmung, George Herbert, 5. Earl of Carnarvon, wollte die Arbeiten daher einstellen lassen. Doch Carter gelang es, ihn zu einer letzten Kampagne zu überreden. Wie sich sehr bald herausstellte, hätte der Lord andernfalls in tragischer Weise kurz vor dem Ziel aufgegeben. Am 4. November 1922, gerade mal drei Tage nach der Wiederaufnahme der Arbeiten, entdeckten die Ausgräber die ersten Stufen zum Eingang der unterirdischen Grabkammern. Was sich Carter und seinen Getreuen wenige Zeit später offenbarte, war nichts Geringeres als eine Sensation. In die vermauerte Tür zur Vorkammer wurde ein kleiner Durchbruch geschlagen, gerade groß genug, um die Hand durchstrecken zu können. Im Schein einer Kerze ließen sich goldene Tierfiguren, Truhen und Statuen erkennen. Das Grab war anscheinend unberaubt. Während die Öffnung der Eingangstür zu den unterirdischen Kammern noch in einem kleinen privaten Kreis ohne Medienvertreter erfolgte, wurde drei Monate später der Durchbruch zur Sargkammer offiziell und feierlich begangen. Carter war sich zum Zeitpunkt der Öffnung der ersten Tür noch nicht bewusst, was er genau entdeckt hatte, denn der Eingang war eigentlich viel zu klein für ein Königsgrab. Carter konnte zu diesem Zeitpunkt auch noch nicht ahnen, welchen Medienhype die Entdeckung auslösen, und erst recht nicht, wie sehr sie das Bild des antiken Ägypten in der öffentlichen Wahrnehmung zukünftig prägen würde.

Die Inszenierung eines Mythos Als Carter schließlich drei Monate nach der Entdeckung des Grabes die Vermauerung zur Sargkammer mit Hammer und Meißel durchbrach, hatte er bereits viel über Medien, die Macht der Bilder und den Einfluss der Bericht-

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erstattung gelernt. Diese Erfahrung hatte er mühevoll im Umgang mit einer Schar unliebsamer Journalisten erworben, die selbstverständlich alle Zugang zum Grab und Informationen aus erster Hand erhalten wollten. Angesichts der großen Herausforderung, die eine sachgerechte und gleichzeitig zügige Dokumentation und Bergung der Grabfunde mit sich brachte, waren die Massen von Journalisten und auch der sich um das Grab tummelnden Touristen eine große Belastung für das Grabungsteam. Es waren daher sicher nicht nur das Bedürfnis, die Grabungskasse aufzubessern, sondern wohl auch der Wunsch nach etwas mehr Zeit und Ruhe am Grab, die nach wenigen Wochen zu einem Exklusivvertrag mit der Times führten. Zeitungen, die persönliche Kontakte zu Carnarvon und Carter hatten, konnten allerdings nach wie vor an Informationen aus erster Hand gelangen. Die Carters Familie nahestehende Illustrated London News veröffentlichte beispielsweise regelmäßig Sonderausgaben mit Fotografien, die sie vom Grabungsteam erhielt. Gleichzeitig machte der Einsatz von Filmkameras die Entdeckung zu einem Medienereignis noch nie da gewesenen Ausmaßes. Die neue Technik brachte etwas Bahnrechendes mit sich: Durch die Fotografien und Filmsequenzen waren die Geschehnisse in Ägypten später auch für die Menschen in anderen Teilen der Welt in bisher undenkbarer Weise erfahrbar. Dass die Bilder ihre Wirkung nicht verfehlten, zeigt sich am Bekanntheitsgrad, der dem jung verstorbenen Pharao, aber auch dem Entdecker seines Grabes innerhalb kürzester Zeit zuteilwurde. Vor allem auch die High Society rund um diverse Königshäuser war sehr am Grab des ägyptischen Herrschers und einem persönlichen Treffen mit dem Entdecker interessiert. Einer Lady, die bei einem späteren Treffen enttäuscht war, dass Carter sie nicht mehr erkannte, obwohl sie zur Zeit der Entdeckung das Grab besucht hatte, entgegnete er: »Gute Dame, Sie können mir wirklich nicht vorwerfen, dass ich mich nicht an Sie erinnere. Ich habe in diesem Winter eben mal 78.642 Menschen getroffen und den meisten von ihnen das Grab gezeigt.«1 Auch wenn er die Zahl humorvoll übertrieb, lässt das Zitat doch erahnen, welche unüberschaubare Masse an Besuchern die Entdeckung innerhalb kürzester Zeit anlockte. Obgleich das Grabungsteam die Medien verwünschte, wurde ihm sehr bald deren Einfluss auf die Außenwirkung der Unternehmung und ihrer Mitglieder bewusst, sodass man begann, sie für die eigenen Zwecke zu nutzen. Während von der Öffnung der Vorkammer keine einzige Fotografie existiert, wurde wenige Monate später bei der Öffnung der Sargkammer und des goldenen

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208 Stefan Baumann Schreins, der den Sarkophag umgab, gleich eine ganze Serie geschossen. Einige dieser Aufnahmen – inklusive derer, die den Entdecker Carter höchstpersönlich bei der Öffnung des Durchgangs zeigen – wurden dann auch an die Zeitung weitergegeben. Dadurch gelang es, das in den Köpfen der Menschen bereits bestehende Bild des Entdeckers physisch zu manifestieren und zu bewahren. Erst im Nachhinein ergriff Carter die Gelegenheit, auch den magischen Moment des ersten Blickes in die Vorkammer gebührend in Szene zu setzen und für die Nachwelt festzuhalten. Die Möglichkeit, die Macht der Bilder zu nutzen, hatte er bei dieser ersten Etappe der Entdeckungsgeschichte vertan, aber zumindest in schriftlicher Form konnte der Augenblick noch unsterblich gemacht werden und zwar in einem Band, der die Entdeckung des Grabes behandelt. Mit der Beschreibung seiner Reaktion auf den unerwarteten Anblick der kostbaren Grabbeigaben kreierte Carter eines der ikonischsten Zitate in der Geschichte der Archäologie. Nicht nur dieser kurze Ausspruch, auch die hinleitende Passage ist meisterhaft und eingehend formuliert, sodass das Lesepublikum förmlich der Entdeckung beiwohnt: »Zuerst konnte ich nichts sehen, da die aus der Kammer entweichende heiße Luft das Licht der Kerze zum Flackern brachte. Als meine Augen sich aber an das Licht gewöhnten, tauchten bald Einzelheiten im Innern der Kammer aus dem Nebel auf, seltsame Tiere, Statuen und Gold – überall glänzendes, schimmerndes Gold! Für den Augenblick – den andern, die neben mir standen, muß es wie eine Ewigkeit erschienen sein – war ich vor Verwunderung stumm. Als Lord Carnarvon die Ungewißheit nicht länger ertragen konnte und ängstlich fragte: ›Können Sie etwas sehen?‹ war alles, was ich herausbringen konnte: ›Ja, wunderbare Dinge!‹«2 Der Ausspruch »wunderbare Dinge« beziehungsweise im Original »wonderful things« ist seither fest mit dem Grabschatz des Tutanchamun verbunden. Er findet sich nicht nur in Titeln von zahlreichen wissenschaftlichen und populären Artikeln, Büchern, Ausstellungen, Vorträgen, sondern auch auf allen Arten von ägyptischen Merchandiseartikeln. Das Entscheidende dabei ist allerdings, dass Carter diesen Satz mit einiger Sicherheit so nie gesagt hat. In seinem Grabungstagebuch findet sich am 26. November 1922 eine sehr ähnliche, aber weniger ausgeschmückte Beschreibung der Ereignisse mit einer weitaus weniger griffigen Version des Ausspruchs: »Ich antwortete ihm, ja, es ist wunderbar.” (»I replied to him yes, it is wonderful.”)

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Da diese Version am Tag des Ereignisses niedergeschrieben wurde, dürfte sie eher den tatsächlichen Wortlaut wiedergeben. Die viel zitierten Worte, die die Gefühlslage des überwältigten und fast sprachlosen Entdeckers auf so nahbare Weise nachvollziehbar machen, wurden daher ein wenig aufpoliert. Es handelt sich nicht um einen großen Akt, aber er zeigt bereits deutlich, dass zu dieser Zeit bewusst an der Inszenierung des Mythos gearbeitet wurde und dass nicht alles, was in den Berichten steht, den Tatsachen entspricht.

Der magische Moment der Entdeckung: Carter blickt mit einer Kerze in das Grab. Nachgestellte Szene aus dem Trailer zur Ausstellung Tutanchamun – Sein Grab und seine Schätze.

Carters Vermächtnis Trotz der schwierigen Beziehung zu den Medien ist Carters Ruhm in erster Linie der damaligen Berichterstattung zu verdanken. Noch heute ist er neben Indiana Jones wahrscheinlich der bekannteste Vertreter der Archäologenzunft, wobei Carter selbstverständlich im Gegensatz zu Letzterem tatsächlich existiert hat. Heutzutage wird Howard Carter in Lexika gelegentlich als Ägyptologe bezeichnet, während ihn die zeitgenössischen Fachvertreter nicht als einen von ihnen erachteten. Er war zunächst als Zeichner nach Ägypten gekommen, um

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210 Stefan Baumann den Forschern bei der Dokumentation ägyptischer Altertümer zu helfen. Nach und nach erlernte er vor Ort das Grabungshandwerk, sodass er Ausgrabungen auch selbstständig leiten konnte. Er war aber kein Akademiker. Seinen Doktortitel hat ihm erst später die Yale-Universität ehrenhalber verliehen. Tatsächlich hat Carter niemals eine wissenschaftliche Studie publiziert. Das dreibändige Werk über das Grab des Tutanchamun ist in erster Linie eine populärwissenschaftliche Veröffentlichung. Sie umfasst in weiten Teilen einen Bericht über die Abläufe während der Kampagnen im Tal der Könige, eine grobe Beschreibung des Grabes sowie eine Präsentation ausgewählter Funde. Aus ägyptologischer Perspektive ist nicht nur besonders bitter, dass der Ausgräber dem Desiderat einer umfassenden Veröffentlichung nicht nachkam, sondern dass ein derart bedeutendes Grab selbst 100 Jahre nach der Entdeckung noch immer nicht als Gesamtkomplex bearbeitet und publiziert wurde. Nichtsdestotrotz wird Carter in der populären Darstellung gerne idealisiert und als Vorzeigearchäologe porträtiert. In Filmadaptionen wird aus dem in der Realität wohl oft schwierigen, 46 Jahre alten Briten ein junger charismatischer Held, der eine geheime Liebesbeziehung mit der ebenfalls jungen Lady Evelyn, Carnarvons Tochter, einging. Einen Teil dieser heroischen Aura erhielt Carter sicherlich durch seine spannende Biografie und die außergewöhnlichen Umstände der Entdeckung des in Vergessenheit geratenen Pharaos Tutanchamun. Geboren als jüngstes von elf Geschwistern, erhielt der kränkliche Howard keine substanzielle Schulbildung. Und so kam der junge Carter nicht als Forscher, sondern als unbedarfter Zeichner nach Ägypten, wo er sich nach und nach bis zum Oberinspektor der Altertümerverwaltung hocharbeitete. Bevor es zur entscheidenden Anstellung als Projektleiter im Dienste Lord Carnarvons kam, erlitt er einen tragischen Rückschlag, der den aufstrebenden Mann zunächst vor das berufliche Nichts stellte. Ein Disput mit französischen Touristen führte zu seiner Entlassung aus dem Antikendienst und Carter fristete wieder als Zeichner und Touristenführer sein Dasein. Selbst die einige Zeit später erfolgte glückliche Kehrtwende mit der Anstellung unter Lord Carnarvon war mit einer langen Durststrecke verbunden, während der das Projekt zu scheitern drohte. Im Endeffekt wurden schließlich sein Scharfsinn und sein Durchhaltevermögen vom Schicksal belohnt, wogegen in der etablierten Wissenschaft kaum jemand an seinen Erfolg geglaubt hatte. Dies sind die bekannteren Aspekte seines Lebens, aber zur Aura eines Helden gehört häufig auch ein tragisches Ende. In seinem Fall besteht die Tragik

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darin, dass sein Ruhm bereits früh zu seinen Lebzeiten wieder zu verblassen begann. Nach dem anfänglichen Medienhype ließ das öffentliche Interesse in den folgenden Jahren stetig nach. 1932 waren die Arbeiten im Tal der Könige abgeschlossen und Carter zog sich die letzten sieben Jahre seines Lebens weitgehend zurück. Während die Times bei der Entdeckung des Grabes noch um Exklusivrechte kämpfte, war sein Tod im Jahr 1939 derselben Zeitung keine gesonderte Meldung mehr wert. Zwar wurden einige Blumengebinde aus der Londoner Gesellschaft gespendet, aber die Trauergemeinde an seinem Grab war erstaunlich klein und es ist bemerkenswert, dass kein einziger Ägyptologe anwesend war. Die Anerkennung seiner Leistungen für die Erforschung des antiken Ägypten seitens der Ägyptologie und seitens seines Heimatlandes blieb selbst bei seinem Tod demonstrativ aus. Zeitliche Distanz, möglicherweise gepaart mit der Loslösung von einer Art Klassendenken, führte schließlich zu der heute verbreiteten positiven Rezeption Howard Carters auch in ägyptologischen Kreisen. Vor allem seine akribische Dokumentation der über fünftausend Fundstücke wird immer wieder hervorgehoben. Hierzu zählen in erster Linie die zahlreichen Zeichnungen der einzelnen Objekte, aber auch Lagepläne für die Grabkammern, die uns zusammen mit den Fotografien eine gute Vorstellung von den Fundverhältnissen vermitteln. Eine derart umfassende Befundaufnahme war bisher nicht üblich, Carters Vorgehen kann daher als Pionierarbeit gesehen werden. Angesichts der weiteren bekannten Fakten aus dem Leben des britischen Ausgräbers ist dieses positive Bild nicht selbstverständlich. Bereits in den Vierzigerjahren berichtete das damalige Teammitglied Alfred Lucas, dass Carter den Befund im Grab heimlich manipuliert hatte. Ziemlich sicher ist demnach, dass sich Lord Carnarvon, seine Tochter Evelyn und Carter bereits einige Zeit vor der offiziellen Öffnung Zutritt zur Sargkammer verschafft hatten. Das Loch in der Wand, durch das sie gekrochen waren, hatte Carter schnell wieder verschlossen. Später behauptete er, es sei bereits in der Antike von der Nekropolenverwaltung versiegelt worden, nachdem Diebe dadurch eingedrungen waren. Ob jemals ein Dieb in der Sargkammer war, ist daher fraglich. Fraglich ist folglich auch, wer das Siegel durchbrach, das die Tür des äußersten der vier Schreine sicherte, die wie eine Matrjoschka den Sarkophag umgaben. Es ist gut vorstellbar, dass das Dreiergespann bei ihrer Erkundungstour die Spannung nicht aushielt und Gewissheit haben wollte, dass sich im Schrein auch die Mumie des lange gesuchten Pharaos befindet.

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212 Stefan Baumann Der Vorfall widerspricht zwar dem integren Bild, das die Öffentlichkeit dank der medialen Berichterstattung von dem britischen Helden der Archäologie hatte, haben sollte und wahrscheinlich auch haben wollte. Möglicherweise wird aber darüber gerne hinweggesehen, weil es sich um ein so menschliches, nachvollziehbares und daher für viele entschuldbares Verlangen handelt. In jedem Fall wird dabei die Tragweite dieses Übertritts unterschätzt. Wenn ein Aspekt in der Dokumentation des Königsgrabes manipuliert wurde, ist naheliegend, dass auch andere Elemente nicht so vorgefunden wurden, wie uns der Ausgräber glauben lassen will. Besonders Carters Antworten auf die Fragen, ob in der Antike Räuber in das Grab vordrangen, welches Chaos sie hinterließen und was sie entwendeten, müssen hinterfragt werden. Der Vorfall mit dem heimlichen Durchbruch der Mauer steht zudem nicht allein, sondern gehört zu einer Reihe von anderen Fällen, die die integre Art des Briten in Zweifel ziehen. Bereits während der Arbeiten im Tal der Könige kam es zu einem Vorfall, bei dem Carter vorgeworfen wurde, ein Objekt nicht registriert und für den Transport nach London vorbereitet zu haben. Es handelt sich um ein außergewöhnliches Objekt, einen aus Holz gefertigten Kopf des jugendlichen Tutanchamun, der durch die Bemalung eine faszinierende Lebendigkeit besitzt. Inspektoren fanden das Stück in einer Weinkiste verpackt in einem Magazin, als Carter gerade nicht in Luxor weilte. Die von mehreren Seiten vorgebrachten Erklärungsversuche waren widersprüchlich und demontierten sich dadurch selbst. Dennoch ließ man die Affäre auf sich beruhen, sodass das Projekt ohne weitere Skandale abgeschlossen werden konnte. In jüngerer Zeit ließ sich schließlich beweisen, dass Carter – wahrscheinlich zusammen mit Carnarvon – einige der kostbaren Grabbeigaben entwendet hatte. In Carters Nachlass fanden sich einige Stücke wieder, teilweise wurden sie auch verkauft oder als besondere Geschenke verteilt. Bemerkenswert ist letztendlich, dass das heldenhafte Bild Carters, das die Medien in den Zwanzigerjahren aufbauten, mit jahrzehntelanger Verzögerung schließlich auch von den Ägyptologen verinnerlicht wurde. Selbst die Erkenntnisse um Carters heimliche Unternehmungen trüben das Bild des archäologischen Heroen in wissenschaftlichen Kreisen kaum. Ein amerikanischer Ägyptologe, der unlängst gefragt wurde, wie wir Howard Carter heute in Erinnerung halten sollen, umschiffte in seiner Antwort jeglichen negativen Aspekt. Man solle ihn als Pionier sehen, der trotz aller Widerstände niemals sein Ziel aus den Augen verlor, das Grab zu entdecken.3 Mit dieser positiven Sichtweise steht er nicht

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allein. Manchen Archäologen dient er noch heute als Identifikationsfigur und sie inszenieren sich gerne in Posen, die an berühmte Episoden bei der Arbeit im Grab erinnern. Ein besonders eingehendes Beispiel stammt von dem erfolgreichsten Sachbuchautor zur alternativen Sichtweise der Menschheitsgeschichte, Erich von Däniken. Zeitweise schmückte seine Homepage ein Foto, das ihn mit einer Kerze in einer unterirdischen Krypta eines ägyptischen Tempels zeigte. Im Stile des Entdeckers Carter, der mit einer Kerze zum ersten Mal in das Innere des Grabes blickte, inspiziert von Däniken im Schein dieses mystischen Lichts die Darstellungen an den Wänden, als hätte er soeben diese Kammer entdeckt.

Der Fluch Die Öffnung der Sargkammer mit den sterblichen Überresten des jungen ­Tutanchamun im Jahr 1923 brachte eine neue Dynamik in die bereits groß angelegte Medienkampagne. Zwar war bereits vorher klar, dass es sich bei dem von Carter entdeckten Grab um die letzte Ruhestätte dieses Pharaos ­handelte, aber von dem Moment an, da tatsächlich auch der Sarg mit seinem Körper gefunden war, bestand eine unmittelbare Verbindung zwischen dem Besitzer all jener glitzernden Grabbeigaben und denen, die diese, fein säuberlich verpackt, Stück für Stück aus seiner Ruhestätte entfernten, bis nur noch der Sarg selbst mit der Mumie übrig blieb. Vor allem sie musste einiges ertragen. Da für die Bestattung literweise harzige Flüssigkeit in die drei ineinandergeschachtelten Sarkophage gegossen worden war, waren diese untereinander fest verbunden und auch der mumifizierte Leichnam war von dieser dunklen, über die Jahrtausende fest gewordenen Masse umgeben. Letztlich konnte der Körper mühsam freipräpariert und aus dem Sarg genommen werden, doch während der gesamten Prozedur wurde die Mumie schwer beschädigt. Unter anderem trennten die Wissenschaftler die Arme, die Beine und den Kopf vom Rumpf ab.4 Letzterer wurde daraufhin wie eine antike Marmorbüste auf einem Sockel drapiert. All dies geschah mit der Absicht, an die zahlreichen Schmuckstücke und Amulette zu kommen, welche Priester dem Toten eigentlich angelegt hatten, um ihn genau vor einer solchen Misshandlung zu schützen. Man kann daher ohne Übertreibung sagen, dass die Ruhe des Pharaos auf recht drastische Art und Weise gestört wurde. Wenn Tutanchamun tatsächlich die Macht gehabt hätte, einen Fluch über seine Ausgräber zu verhängen, er hätte es zweifelsohne getan.

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214 Stefan Baumann So wie bei der Öffnung der Sargkammer Fotos von Carter geschossen wurden, die ihn als Entdecker inszenierten, so wurden nun auch bei der Untersuchung der Mumie Aufnahmen gemacht, die gezielt einen bestimmten Eindruck von der Arbeitsweise vor Ort vermitteln sollten. Die Fotos zeigen Carter allein im Angesicht des Pharaos, wie er mit feinem Besteck fast schon kontemplativ die Mumie freipräpariert. Dabei vermitteln die Szenen eine gewisse Ruhe, Sorgfalt und eine intime Nähe zwischen Carter und dem jungen König. Doch auch diese Bilder sind Teil der Inszenierung, die, wie man heute weiß, in krassem Widerspruch zu dem stehen, wie der Leichnam tatsächlich behandelt wurde. 1923 wusste man von der malträtierten Mumie noch nichts, es genügte den Medien offenbar allein die Tatsache, dass sie entdeckt worden war, um Gerüchte eines Fluches voranzutreiben.

Howard Carter und ein ägyptischer Kollege bei der Untersuchung des inneren Sargs (Carter Nr. 255), wahrscheinlich 26. Oktober 1925.

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Der Glaube an Flüche im Zusammenhang mit altägyptischen Mumien war bereits vor der Entdeckung des Grabes von Tutanchamun gang und gäbe. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts wurde der Fluch eines ägyptischen Priesters für den gewaltvollen Tod eines britischen Soldaten verantwortlich gemacht, der einen kunstvoll bemalten Mumienkasten samt Inhalt in Ägypten erstanden hatte. Der tragische Jagdunfall, bei dem er von einem Elefanten zu Tode getrampelt wurde, und der Umstand, dass seine Leiche nicht mehr geborgen werden konnte, da sie von einem Sturzbach weggespült worden war, passten perfekt zu einem Fluch, der mit der vollständigen Vernichtung drohte. Die Londoner ­Medien spekulierten wild darüber und der Fall wurde auch von einem Vertreter des Britischen Museums angeheizt, der die Inschriften auf dem Sarg untersucht hatte.5 Okkulte Gesellschaften und generell der Glaube an übersinnliche Phänomene waren um 1900 weitverbreitet, sodass die mediale Berichterstattung auf ein breites Interesse stieß. Die britische Hauptstadt war auch der Schauplatz einer weiteren Fluchepisode, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts für Aufsehen sorgte. Am Anfang standen hier mehrere ernsthafte Verletzungen, die auf den Fluch einer im Britischen Museum ausgestellten Mumie zurückgeführt wurden. So weit ist dieser Fall noch nichts Besonderes. Bemerkenswert wird er jedoch, da sich in seiner Entwicklung sehr deutlich die Tragweite und die Auswirkungen von derartigen Spukgeschichten auf sämtliche Bevölkerungskreise fassen lassen. Premierminister Herbert Henry Asquith zeigte sich zwar selbst von solchen Flüchen unbeeindruckt, doch hinderte ihn schließlich sein Stab an einem Museumsbesuch, um negative Folgen für die Regierung auszuschließen.6 Selbst wenn wie in dem letzten Fall die höchsten Kreise der Politik involviert waren, so blieben die Fluchgeschichten dieser Zeit weitgehend auf ein regionales sowie kurzfristiges Interesse beschränkt. Mit der Entdeckung der Mumie Tutanchamuns erhielten Berichte über einen altägyptischen Fluch nun zum ersten Mal globale und zudem ­Jahrzehnte währende Aufmerksamkeit. Die mediale Begleitung der Ausgrabung war bei der Öffnung der Sargkammer im Jahr 1923 bereits auf dem Höhepunkt. Die Journalisten lauerten nur darauf, eine neue Sensationsmeldung drucken zu können. Nachdem schließlich die königliche Mumie entdeckt worden war, fehlte nur noch ein tragisches Ereignis, um die ersten Gerüchte eines Fluches mit einem handfesten Beleg zu unterfüttern und zu einer Topstory auszubauen. Die Presse musste nicht lange darauf warten. Bereits wenige Wochen nach der Öffnung der Sargkammer wurde Lord Carnarvon krank. Eine durch ­einen

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216 Stefan Baumann e­ ntzündeten Insektenstich ausgelöste Blutvergiftung führte schließlich zusammen mit einer Lungenentzündung innerhalb von kurzer Zeit zum Tod des Finanziers der Unternehmung. Die Geschichte vom »Fluch des Pharao« war nicht mehr aufzuhalten. Der Tod jedes weiteren Mitglieds der Ausgrabungsmannschaft oder jeder anderen Person, die in Kontakt mit dem Grab gekommen war, wurde von den Medien als Opfer des Fluches inszeniert. Dabei war es gleichgültig, ob sich der Tod erst viele Jahre nach der Graböffnung ereignete. Und so wurde »der Fluch des Pharao« in den Folgejahren zu einem untrennbaren Bestandteil des Mythos Tutanchamun. Der junge König war zu einer Marke geworden, die in Schlagzeilen ein Garant für öffentliches Interesse war und noch immer ist. Die Fluchgeschichte entwickelte sich schnell zu einer Art Selbstläufer, bei dem nach wie vor immer mehr Details hinzugefügt werden, sodass die Entwicklung im ständigen Fluss ist. Spielfilme greifen das Thema gerne auf, aber auch sogenannte Wissenschaftssendungen beschäftigten sich bereits mit dem Fluch des Tutanchamun, wobei das erklärte Ziel nicht unbedingt zu sein scheint, den Mythos zu widerlegen, sondern ihn am Leben zu halten. Nüchtern betrachtet, wurde jedenfalls schon früh von amüsierten Ägyptologen dargelegt, dass die meisten angeblichen Opfer des Fluches bei ihrem Tod ein hohes und daher natürliches Sterbealter erreicht hatten.

Tutmanie und die Rezeption des alten Ägypten Das enorme Interesse an dem angeblichen Fluch des ägyptischen Königs ist nur ein Aspekt der Ägyptenfaszination, die durch die Entdeckung des Grabes zwar nicht ursprünglich ausgelöst, aber auf eine völlig neue Stufe gehoben ­wurde. An der Schwelle zum 19. Jahrhundert hatten bereits Napoleons großformatig gedruckte Expeditionsberichte ein lebendiges Bild Ägyptens im Bewusstsein der Nachwelt entstehen lassen. In Kombination mit den Ausführungen der klassischen antiken Autoren wie Herodot und Strabon, die die Weisheit und das enorme Alter der Zivilisation am Nil hervorheben, wurde Ägypten in der westlichen Wahrnehmung zu einem Land von verlorenem Wissen voller Mystik und Exotik. Die Entdeckung des Grabes von Tutanchamun und dessen journalistische Begleitung mit Film- und Fotokameras markieren einen Meilenstein in der sich immer schneller ändernden Medienwelt. Tutanchamun wurde Teil der

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modernen Popkultur und seine goldene Maske zum Sinnbild für das antike Ägypten. Schnell war klar, dass sich mit dem Label Tutanchamun eine Menge Geld verdienen lässt. Carnarvon und Carter hatten bei der Entdeckung des Grabes bereits auf einen Geldregen gehofft, der aus dem Verkauf vieler Stücke an Museen resultiert hätte. Am Ende blieb dieser aber aus, weil die ägyptische Regierung beschloss, die Funde nicht zwischen Ausgräbern und ägyptischem Staat aufzuteilen. Zur bitteren Enttäuschung der Ausgräber wanderten in diesem Fall alle Stücke ins Kairoer Museum, das sie für die nächsten Jahrzehnte auch nicht mehr verlassen sollten. Es dauerte etwa 40 Jahre, bis schließlich die ersten Grabbeigaben auf eine der wenigen Wanderausstellungen geschickt wurden, die die Welt unweigerlich ins Staunen versetzten und hierbei auf beeindruckende Weise die ungebrochene Faszination für den jungen Pharao demonstrierten. Anhand einer groß angelegten Ausstellung in den Siebzigerjahren lässt sich das enorme wirtschaftliche Potenzial des Mythos Tutanchamun fassen und deutlich in Zahlen belegen. Weltweit strömten während der neun Jahre dauernden Tournee etwa 15 Millionen Menschen in die Museen und spülten den teilnehmenden Städten zudem teilweise das Hundertfache an zusätzlichen Einnahmen in die Kassen. Während damals noch originale Stücke zu sehen waren, zeigt eine aktuell tourende Ausstellung lediglich aus Kunststoff gefertigte Repliken, was aber offenbar dem Besucherstrom keinen Abbruch tut. Im Mittelpunkt stehen Tutanchamun und die Grabbeigaben selbst, aber natürlich auch die modernen Protagonisten Lord Carnarvon und Howard Carter. Der bereits vor 100 Jahren begründete Mythos des früh verstorbenen und in Vergessenheit geratenen Pharaos und seiner heroischen Entdecker wird in der Konzeption dieser Sonderausstellung unreflektiert am Leben gehalten. Nach dem, was wir heute wissen, ist die Geschichte aber etwas komplexer, als sie häufig dargestellt wird. Bei aller Kritik gebührt Howard Carter selbstverständlich die volle Anerkennung für seine Leistungen bei der Entdeckung des Königsgrabes. Sein Beispiel inspirierte Generationen von heranwachsenden Archäologen, denn es lehrt uns, dass man ans Ziel gelangt, wenn man seiner Vision folgt und sich nicht durch die etablierten Autoritäten des Faches beirren lässt, die möglicherweise in ihren alten Denkmustern gefangen sind. Ohne Howard Carters Vision wäre westliche Kultur heute in vielen Bereichen eine andere. Beispielsweise sind Kunst, Mode, Literatur und Film maßgeblich durch die Ägyptenbegeisterung beeinflusst, welche die Entdeckung mit sich brachte.

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218 Stefan Baumann So bedeutend diese Entdeckung somit für gewisse Entwicklungen im Verlauf des 20. und 21. Jahrhunderts ist, so muss man sich auch bewusst machen, dass das Grab ohne Carter für die Menschheit nicht für immer vergessen geblieben wäre. Früher oder später wäre es entdeckt worden. Wahrscheinlich wüssten wir heute noch nichts von den sagenhaften Grabbeigaben, aber in nicht allzu ferner Zukunft werden technische Hilfsmittel es erlauben, tief in den Felsboden getriebene Hohlräume zu entdecken. Anstatt Carters Zeichnungen würde man dann 3-D-Scans der originalen Fundlage aller Grabbeigaben anfertigen. Wir hätten bessere Konservierungsmethoden, um vor allem die zahlreichen fragilen organischen Objekte zu erhalten wie zum Beispiel die feinen Leinentücher, Fächer mit Straußenfedern oder die Blumengebinde, die mittlerweile allesamt fast oder vollständig zu Staub zerfallen sind. Wir wüssten mit Sicherheit mehr darüber, wann und wie oft Diebe in das Grab gelangten, wie weit sie vordrangen und was sie entwendeten, ohne darüber spekulieren zu müssen, was zulasten der Ausgräber geht. So gesehen, lässt sich heutzutage mit Blick auf die aktuellen Möglichkeiten ägyptologischer Forschung etwas überspitzt sagen, dass wir sogar viel gewonnen hätten, wenn das Grab damals nicht entdeckt worden wäre, aber was alles würden wir dadurch verlieren? Am Ende sind es gerade die vielen offenen Fragen und Rätsel, die zur Faszination der Entdeckung beitragen. Der Verlust wäre daher nicht mehr und nicht weniger als ein Mythos, der die Wahrnehmung Altägyptens entscheidend ­prägte, auf vielfältige Weise unsere Kultur beeinflusste und nicht zuletzt aufgrund der individuellen menschlichen Tragik auch nach 100 Jahren noch immer die Menschheit in Atem hält.

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Anmerkungen 1 2 3 4 5 6

T. G. H. James, Howard Carter, The path to Tutankhamun, London/New York 2000, S. 463 (eigene Übersetzung ins Deutsche). H. Carter, A. Mace, Tut-Ench-Amun. Ein ägyptisches Königsgrab, entdeckt von Earl of Carnarvon und Howard Carter, I, Leipzig 61927, S. 113. A. Soussi, Why Howard Carter’s discovery of King Tut’s tomb will never be forgotten, in: https://www.thenationalnews.com/arts/why-howard-carter-s-discovery-of-king-tut-stomb-will-never-be-forgotten-1.842543 (28.03.2019) (Zugriff am 01.04.2022). . J. Marchant, The Shadow King. The Bizarre Afterlife of King Tut’s Mummy, Boston 2013, S. 69–70. Hierzu zuletzt S. Baumann, Nesmin, priest of Akhmim. A study on his coffin and mummy cartonnage at RISD Museum (RI), in: Revue d’Égyptologie 72, 2022 (mit einem Beitrag von G. Borromeo, im Druck). A. Wiedemann, Der Geisterglauben im Alten Ägypten, in: Anthropos 21, 1–2, 1926, S. 1–37, S. 37.

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Böses Lachen Feind- und ­Selbstbilder in der politischen ­Bildsatire des Simplicissimus Detlev Mares Ende 1922 verhieß die Titelseite der Satirezeitschrift Simplicissimus ein »Höllisches Neujahr«. Eine Karikatur mit dieser Überschrift zeigte in dramatischer orange-schwarzer Farbgebung drei Teufel, die in einem großen Kochtopf mit der Aufschrift »1923« ein diabolisches Gemisch zubereiten (Abb. S. 221). Dabei loben sie die »französischen Rezepte«, auf deren Grundlage die u ­ nheilschwangere Zukunft zusammengebraut wird.1 Auch eine andere Stelle der Titelseite ließ nichts Gutes erahnen: Der Preis für das Heft betrug aufgrund der Inflation des Jahres 1922 bereits 100 Mark. Selbst dies sollte sich nur als schwacher Vorgeschmack auf die Hyperinflation des Jahres 1923 erweisen, die den Preis bis auf zwei Millionen Mark für die Ausgabe vom 24. September 1923 hochtrieb. Der böse Humor dieses Titelblatts setzte das Leitmotiv für das kommende Krisenjahr. Weit davon entfernt, auf harmlose, lustige Pointen abzuzielen, begleitete die Bildsatire des Jahres 1923 gerade in Deutschland Krisen und Katastrophen wie den ›Ruhrkampf‹, die Hyperinflation und Putschversuche, die zeitweilig die Politik und das gesellschaftliche Leben vor existenzielle Herausforderungen stellten. Allerdings hatten zentrale Problemfelder des Jahres 1923, wie die Reparationsfrage und die Inflation, die Republik schon seit Kriegsende geprägt. Auch die bevorstehende Verschärfung hatte sich bereits im Vorjahr angedeutet und kam 1923 nicht überraschend.2 Die Bildwelten der Satirezeitschriften für das Krisenjahr mussten daher nicht neu geschaffen werden, sondern bedienten sich aus einem reichhaltigen Reservoir bereits eingeführter Motive, das teilweise bis in die Zeit des Kaiserreichs und des Ersten Weltkriegs zurückreichte. Als visuelle Kommentare ihrer Zeit verdichteten und beeinflussten diese Karikaturen die Selbstwahrnehmung der deutschen Gesellschaft angesichts einer Fülle von Herausforderungen. Wie schon in den Jahren ­zuvor boten die Karikaturen des Jahres 1923 eine Sicht auf Gesellschaft und Politik,

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Simplicissimus 27/39, 27.12.1922, S. 553 (Th. Th. Heine: Höllisches Neujahr). die soziale Verhältnisse und Mentalitäten reflektierte, diese Gegebenheiten aber gleichzeitig mitgestaltete. Der hier im Mittelpunkt stehende, 1896 gegründete Simplicissimus hatte sich im Ersten Weltkrieg vom scharfen Kritiker des Kaiserreiches zum bedingungslosen Unterstützer der deutschen Kriegsanstrengungen gewandelt. Nach 1918 stellte er sich im Unterschied zu anderen bekannten Satireblättern der Zeit, wie dem Kladderadatsch, auf den Boden der neugeschaffenen Republik, ohne diese aber, wie Der Wahre Jacob, energisch zu verteidigen.3 Diese doppeldeutige Position zeigte sich auch in seinen Karikaturen des Jahres 1923. Sie transportierten Selbstverständnisse, Feindbilder und Krisenvorstellungen, die die Wahrnehmung politischer Zusammenhänge über das Jahr hinaus prägten und Denkmuster verfestigten, die für die Republik problematisch werden sollten.

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I. Allein schon die mehrfarbigen Titelblätter des Simplicissimus dokumentieren die Themen, die die Macher des Blattes im Jahr 1923 umtrieben: die internationale Politik und die ökonomische Lage. Nur wenige Tage nach dem »höllischen Neujahr« begann am 11. Januar die französisch-belgische Besetzung des Ruhrgebiets. Sie hatte sich wegen entsprechender Drohungen Frankreichs in der festgefahrenen Reparationsdebatte schon seit mehreren Monaten abgezeichnet. Bereits eine Woche vor dem französischen Schritt prognostizierte die erste Ausgabe des Simplicissimus im neuen Jahr den »Besatzungswahnsinn« und zeigte einen champagnertrinkenden französischen Offizier über einem Leichen- und Gräberfeld, der verkündet: »Leben und sterben lassen ist unsere Devise!«4 Nach der Ruhrbesetzung übten sich die Zeichner des Simplicissimus gelegentlich in hämischem Spott gegenüber den Invasoren, deren angebliches Heldentum der Lächerlichkeit preisgegeben wurde.5 Doch im Verlauf des Jahres malten sie vor allem das düstere Bild des über Leichen gehenden Besatzers in grellen Farben aus. In der Drastik der Darstellungen stehen die Zeichnungen der Hass- und Gräuelkarikaturistik des Ersten Weltkriegs6 in nichts nach: Das erste Märzheft zeigt einen leicht antikisiert gestalteten französischen Kürassier. Breitbeinig steht er in einem Meer aus Blut und Leichen, während er ein auf dem Schwert aufgespießtes Kind in die Höhe reckt. Die Karikatur trägt den Titel »Die Bestie« und greift in der Textzeile einen (wohl fälschlich) dem Euripides zugeschriebenen Satz auf: »Wen die Götter verderben wollen, dem nehmen sie vorher den Verstand.«7 Zahlreiche weitere Karikaturen präsentieren die Ruhrbesetzung als bestialische Wahnsinnstaten einer gewissenlosen, im Blutrausch agierenden Besatzungsmacht. Das »Weltgewissen« steht auf einem Titelblatt aus dem Juli madonnenhaft und hilflos im Abseits, während ein französischer Offizier deutlich macht, dass für ihn nur die Macht der Waffen zählt. Wie in vielen anderen Darstellungen ist dabei der Boden übersät mit Leichenteilen. Auch als Ende März in Essen 13 Krupp-Arbeiter bei einem französischen Truppeneinsatz gegen Streikende ums Leben kamen, kommentierte dies der Simplicissimus mit einer Personifikation Frankreichs als brutaler Marianne, die mit blutüberströmter Schürze dem »Weltgewissen« eine höhnische Absage erteilt.8 Die Bezugnahme der Zeichner auf eine höhere moralische Autorität reflektierte die Ideale, die der nach dem Weltkrieg neu geschaffenen internationalen Ordnung zugrunde

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lagen, enthüllte aber zugleich deren faktische Schwäche nach dem »unvollendeten Frieden«9. Frankreich erscheint in den Karikaturen keineswegs nur in allegorischer Form, sondern auch in zeitgenössischen Personen. Relativ selten sind unmittelbare Bezüge auf Politiker, obwohl die Unversöhnlichkeit der französischen Politik wiederholt auf Poincarés Haltung zurückgeführt wird: »Hunger und Tod« erscheinen nach Abbruch des passiven Widerstands im Ruhrgebiet als die einzigen Vertreter, durch die der Ministerpräsident zu verhandeln gedenkt.10 Häufiger gezeigt werden heimtückische französische Soldaten und Offiziere, die sich selbst auf Kosten deutscher Zivilisten bereichern, schamlos Propaganda betreiben und aus purer Langeweile oder fadenscheinigen Vorwänden Morde an der deutschen Bevölkerung begehen.11 Den Franzosen wird vorgehalten, die Deutschen als Freiwild zu betrachten. So fragt in einer Karikatur ein französisches Kind, das mit seinen feisten Großeltern gezeigt ist, beim Eintreffen der Feldpost aus dem Ruhrgebiet: »Warum erschießt Papa nicht alle Deutschen? Sie können sich doch nicht wehren.«12 Mit seinen bluttriefenden Szenarien war der Simplicissimus Teil der »Propagandaschlacht« (Nicolai Hannig), die während der Ruhrbesetzung tobte. Das Blatt überzeichnete die ohnehin schon brutale Gewalt und aktivierte Feindbilder aus dem Ersten Weltkrieg, die nie ganz verschwunden waren – wie auch deren rassistische Ausprägungen, veranlasst durch die Präsenz von ca. 20 000 Algeriern und Marokkanern unter den Besatzungstruppen an Rhein und Ruhr.13 Zahlreiche Darstellungen zeigen schwarze französische Soldaten, die entweder als willfährige Handlanger weißer Offiziere oder gar als affenähnliche Instinktwesen erscheinen, die Unglück und Elend bringen. Bereits am 5. Februar appellierte der Simplicissimus »An das Weltgewissen«, indem er Deutschland als Opfer eines französischen affenartigen Menschen zeigte, der mit blutigem Säbel und Dolch grimmig über Gräberfeldern steht und eine Flagge hält. Diese verzeichnet mit Zahlenangaben seine Missetaten – Mord und Totschlag, Misshandlungen und Überfälle sowie besonders zahlreiche »Sittlichkeitsdelikte«. Im Laufe des Jahres folgte eine Reihe vergleichbarer Darstellungen, die Schwarze in unterschiedlichem Grad als affengleich oder aber als stereotype ›Wilde‹ präsentierten.14 Ein anderes Darstellungsmuster scheint an der Oberfläche Deutschland mit den Opfern des französischen Kolonialismus gleichzusetzen und damit den Rassismus in gemeinsamer Opfersolidarität zu überwinden. So zeigte eine

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224 Detlev Mares ­ arikatur aus der Frühzeit der Besatzung einen französischen Offizier in KaK merun, der nach verrichteter Verwüstungstat seinen Blick nun auf Deutschland richtet.15 Diese Art der Darstellung wirkt antirassistisch, zeigt sie doch (weniger durch rassistische Überzeichnungen gestaltete) Schwarze als Opfer französischer Politik, nicht als Täter. Dennoch lässt sich im Hinweis auf kulturelle Differenzen in zeitgenössischer Perspektive ein rassistischer Subtext erkennen, wenn Deutschland gegenüber dem ›weißen‹ Besatzer auf einmal auf demselben Niveau wie ein afrikanisches Land zu stehen scheint. Diesen Verdacht unterstreicht eine Darstellung, die zeigt, wie beduinenhaft gekleidete »Afrikaner« Eisenbahner mit ihren Familien aus Trier vertreiben – die rassistische Spitze liegt vor allem im Titel: »Kulturbild aus dem besetzten Gebiet«. Dies suggeriert eine kulturelle Inversion, bei der das ›eigentliche‹ Kulturvolk durch »Afrikaner« dominiert wird.16 Offensichtlich sollte bei den Leserinnen und Lesern des Simplicissimus der Eindruck entstehen, die Anwesenheit ›schwarzer‹ Besatzungstruppen auf deutschem Boden sei eine besondere Demütigung. Gleich mehrere Motive der Feindbildkonstruktion brachte Karl Arnold, einer der Hauptkarikaturisten der Zeitschrift, in einer Zeichnung unter. Sie erschien im Herbst des Jahres, als die Lebenssituation vieler Deutscher infolge von Besatzung und Hyperinflation den Gipfel der Not erreicht hatte (Abb. S. 225). Unter dem Titel »Frankreich im Rheinland« zeigt sie einen fetten französischen Offizier an reich gedeckter Tafel und auf einem thronähnlichen Sessel, neben dem ein dumpf-tierhaft dreinblickender schwarzer Soldat postiert ist. Das gesamte Arrangement ist errichtet auf den Leibern ausgemergelter, in grau gehaltener, teilweise sicher bereits verhungerter Deutscher, darunter Kinder. Gnadenlos verkündet der Offizier: »Es müssen noch viele verhungern, ehe ich satt werde.«17 Offizier – schwarzer Soldat – darbende Deutsche: Typische Motive sind vereint zur Grundaussage, die Franzosen setzten zivilisationsbrechend den Hunger als Waffe gegen die Bevölkerung an Rhein und Ruhr ein. Solche Stereotype bildeten und bekräftigten eigene Identitäten. Die Historikerin Martina Kessel hat in ihrer Untersuchung über die Bedeutung des Humors in der Darstellung und Herausbildung des ›Deutschseins‹ vom Ersten Weltkrieg bis zum Ende des »Dritten Reiches« gezeigt, wie wichtig die Schaffung eines Anderen oder gar Dritten war, um durch das Gelächter die Selbstwahrnehmung zu formen. Es entstanden Gemeinschaften des Lachens, indem Objekte des Spotts, der Verachtung oder auch der Wut präsentiert wurden, die durch ständige Wiederholung die Vorstellungen vom eigenen Wert festigten.18 Die Darstellung der

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Simplicissimus 28/37, 10.12.1923, S. 464 (Karl Arnold: Frankreich im Rheinland). Franzosen im Simplicissimus des Jahres 1923 erzielt diese Wirkung durch die Gestaltung eines kulturell und sogar rassisch Anderen, der mit dem Selbst nichts zu tun hat, sondern als dessen extremes Gegenbild fungiert. Ähnliche Funktionen erfüllt die Darstellung anderer Nationen im Kontext des Ruhrkampfs, wenngleich im Fall der USA und Großbritanniens die Stoßrichtung des Spotts eine andere war. Bei diesen Nationen handelte es sich nicht um Besatzer, sondern um diejenigen Großmächte, von denen eine Zügelung der Franzosen und Belgier erwartet wurde. Die USA erscheinen anfangs als das Reich des »allmächtigen Goldes«, dessen Banker nur mit der Stirn runzeln müssen, um die Franzosen in die Knie zu ­zwingen. Das Titelblatt vom 17. Januar zeigt Adam und Eva, die auf die Entde-

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226 Detlev Mares ckung Amerikas warten, um wieder zurück ins Paradies gelangen zu können. Als die Hoffnung auf die USA mit dem Andauern der Besatzung schwand, verlor auch der amerikanische Reichtum den Charakter eines Rettungsinstruments. Im Sommer des Jahres erschien der amerikanische Dollar nur noch als »Deutschlands Unstern« – ein Komet von »beängstigendem Ausmaß«, der den Himmel einnimmt, während Wilsons 14 Punkte vom Horizont verschwunden sind.19 Im Unterschied zu den USA präsentiert das Satireblatt Großbritannien/England vornehmlich in Beziehung zu Frankreich. Aus den Karikaturen sprechen Verbitterung und Enttäuschung gegenüber England, das häufig als williger Unterstützer der französischen Politik charakterisiert wird. In einer Zeichnung fungiert John Bull, die verbreitete Personifikation Großbritanniens, als steigbügelhaltender Sancho Pansa für den französischen Don Quichotte, der sich zur Zerstörung von Windmühlen aufmacht.20 Von England hätten sich die Deutschen eigentlich mehr Unterstützung erhofft. Grimmig wird das Land an seine Tradition des fair play erinnert, die durch das Hinnehmen oder gar Fördern der französischen Politik verraten werde. Von der verzweifelt-appellhaften Frage »Ist das englisch?« reicht die Bandbreite der Darstellungen bis hin zur verbitterten Aussage »Das ist englisch!«, nachdem das Selbstverständnis einer fairen Nation als Heuchelei entlarvt erscheint. So hält John Bull auf einer Karikatur einen wehrlosen Deutschen fest, auf den ein (auch in diesem Fall tierhaft dargestellter) schwarzer französischer Boxer einprügelt – unter der bitter-sarkastischen Überschrift »Fair play gegen Deutschland« (Abb. S. 227).21 Das angeblich stolze England erscheint in vielen Darstellungen als Nation, die keine eigenen Handlungsoptionen auslotet, sondern unter der Fuchtel Frankreichs steht und hinterhältig an dessen verwerflichen Gewinnen partizipiert, ohne sich selbst die Hände schmutzig zu machen. Das vor allem im Kaiserreich verbreitete Diktum vom ›perfiden Albion‹ drängt sich bei der Betrachtung solcher Karikaturen geradezu auf.

II. Im Gegensatz zu den Feindbildern steht die deutsche Selbstwahrnehmung im Simplicissimus – also die Kehrseite derselben Medaille: Deutschland ist das alleingelassene Opfer, in einer Zeichnung repräsentiert durch ein im Dornengestrüpp gefangenes, schlafendes Dornröschen mit heruntergefallener Krone, dem keiner der vorbeziehenden Ritter aus unterschiedlichen Nationen

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Simplicissimus 28/5, 30.4.1923, S. 57 (Erich Schilling: Fair play gegen Deutschland). zur ­Hilfe eilen will.22 Neben solchen symbolischen Darstellungen malen viele Zeichnungen das Leid der Bevölkerung plastisch aus. Die Deutschen erscheinen als Opfer willkürlicher Besatzungsgewalt oder als heldenhafte Märtyrer in einem Freiheitskampf.23 Je länger der Ruhrkampf und dessen Folgen im Reich sich hinzogen, umso stärker wurden die französische Besatzungspolitik und der Versailler Vertrag für das Hungern der Deutschen verantwortlich gemacht. Als Leidtragende inszenierte der Simplicissimus vor allem Frauen und Kinder. Anklagend präsentiert eine in fahlem Gelb unterlegte Zeichnung im August, kurz vor dem Abbruch des passiven Widerstands, einige hagere Frauen, die zusammen mit bis auf die Knochen abgemagerten Kindern den Bildbetrachter mitleiderregend anblicken (Abb. S. 228).24 Selbst bei im wahrsten Sinne des Wortes fernliegenden Ereignissen wird der deutsche Opferstatus unterstrichen. So zeigte im September eine flammendrot gehaltene Zeichnung in stilisierter Form die Verheerungen des Erdbebens im japanischen Kantō, in dessen Folge

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Simplicissimus 28/22, 27.8.1923, S. 280 (Erich Schilling: Die Opfer). über 140 000 Menschen starben. Die pathetisch formulierte Bildunterschrift bemängelt, dass »die Welt« im Fall »blinder« Naturgewalt Hilfsleistungen biete, während sie schweige, »wenn der Haß sehend das Leben erwürgt«.25 Das Gefühl, einer ungerechten Behandlung unterworfen zu sein, symbolisiert die Figur der Justitia. Womöglich wäre diese Göttin für die deutsche Sache eingetreten, doch sie wird als gefesselt oder gar am Galgen hängend präsentiert. Auch dieses Motiv ließ sich mit einer rassistischen Deutung versehen: In einer Zeichnung liegt »Justitia im Ruhrgebiet« an der Kette eines als hämisch grinsendes schwarzes Affenwesen dargestellten Franzosen, der auch ihr Schwert mit der Waage in der Hand hält. Die Bildunterschrift enthumanisiert den Feind vollends: »O Urteil, du entflohst zum blöden Vieh!« (Abb. S. 229).26 Nicht immer kamen aber Anklage- und Opfergestus in solch plakativer Form daher. Häufig fanden sie sich in stilisierten Darstellungen, eindringlichen Bildern des Leidens und des Jammers, die keinen unmittelbaren Hinweis auf die

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Simplicissimus 28/9, 28.5.1923, S. 105 (Karl Arnold: Justitia im Ruhrgebiet). Ursache oder die Verursacher des Leids enthalten mussten.27 Visuell ähnlich gestaltet, aber in der Botschaft expliziter war eine Zeichnung, die zum Abbruch des passiven Widerstands im Ruhrgebiet die Titelseite des Simplicissimus einnahm. Auf grünlicher Grundfarbe steht im Vordergrund eine Frau, die Hände vor das gesenkte Gesicht geschlagen, während im Hintergrund der gebeugte Rauch aus hohen Schloten die titelgebenden »Trauerfahnen an der Ruhr« bildet. Die Bildlegende seufzt: »Umsonst. Das französische Kapital hat gesiegt.«28 Nur in einem weiten Sinn lassen sich diese Darstellungen als Bildsatire bezeichnen. Statt punktueller bildlicher Zuspitzung dominiert in ihnen der Versuch, ein Identifikationsangebot zu schaffen, das vor allem die Stimmung der Betrachtenden einfangen und vertiefen soll. Eine ähnliche emotionale ­Ebene sprachen neben den Opfer- und Anklagedarstellungen die Ermutigungs- und Trotzbilder an. Stets stand neben dem Opfernarrativ das H ­ eldenmotiv, das deutsche Männer, Frauen und Kinder als standhaft im Angesicht der feind­ lichen Bedrohung präsentierte. Während des Ruhrkampfs erschien der

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230 Detlev Mares a­ ufrechte deutsche Arbeiter als Symbolfigur, die dem französischen Offizier ­bedeutet, dass der passive Widerstand erst beendet werde, wenn die Fesseln abgenommen seien. Der unbeugsame Arbeiter suggeriert eine potenzielle Schaffenskraft – und damit ein Gegenbild zum zerstörerischen Besatzer (wie auch zum streikenden revolutionären Arbeiter).29 Wohl nicht zufällig weist die Ikonographie dabei Anklänge an die Darstellung des deutschen Soldaten bei Kriegsende auf. Das Titelblatt vom 12. Februar präsentierte einen unbewaffneten Arbeiter in statuenhafter, erhabener Untersicht, dessen Wille stärker sei als die Waffen der in seinem Rücken wütenden Franzosen. Dieselbe Perspektive war bei Kriegsende für den deutschen Soldaten gewählt worden: ebenfalls als Vollfigur in Untersicht, diesmal vor einer befriedeten Landschaft. Auch in diesem Fall betonte die Bildlegende die Unbeugsamkeit des Willens – wenn auch friedensbereit, solle der Soldat doch »nicht den Nacken beugen«.30

Simplicissimus 23/32, 5.11.1918, S. 385 (Eduard Thöny: Nach vier Jahren).

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Auch nach dem Ende des Ruhrkampfs und im zeitlichen Umfeld der Währungsreform fanden sich neben den Bildern des Hungers und des Jammers weiterhin trotzige Bilder von Kraft und Zuversicht. So verhieß das Bild »Spätherbst«, das eine ausschreitende, nach vorn blickende Landarbeiterin zeigt, einen neuen Frühling und Sommer, denen mit Kraft entgegengegangen werden solle.31 Die Deutungsmuster der Feind- und Eigenbilder fügten sich ein in eine »Militarisierung der politischen Kultur«, die als Nachgeschichte des Ersten Weltkriegs die Republik auch in den Phasen ihrer »fragilen Normalisierung« belastete.32 Doch die Deutschen sahen sich nicht nur im Selbstbehauptungskampf gegen äußere Feinde; Ungemach lauerte auch im Innern.

Simplicissimus 27/46, 12.2.1923, S. 641 (Erich Schilling: Nein!).

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III. Insbesondere in der zweiten Jahreshälfte boten die Banknotenstapel der Hyper­ inflation, die eine Folge des teuer finanzierten passiven Widerstands während des Ruhrkampfs war, den Anlass für zahlreiche Karikaturen. Große Sorge bereitete die tiefer werdende Kluft zwischen Arm und Reich. Wieder sind es Frauen und Kinder, die als Opfer der Geldentwertung im Mittelpunkt stehen. Bereits im Juni zeigte eine Karikatur eine Mutter, die mit ihrem ausgemergelten Kleinkind und dem Ruf nach Brot in den Fluten aus Papiergeld untergeht, während im Dezember der Weihnachtsmann keinen Grund mehr sah, deutschen Kindern Geschenke zu bringen – schließlich sei ihr einziger Wunsch nur noch Brot.33 Die angekündigte Rentenmark drohte angesichts der Hungersnot zu spät zu kommen.34 Dem Ringen um Grundnahrungsmittel, das bis in den Mittelstand hinein­ reichte, stellte der Simplicissimus das Luxusleben der Reichen gegenüber.35 ­Deren Wohlstand scheint fast durchgehend moralisch fragwürdig zu sein (Abb.  S. 233). Die Hefte sind bevölkert von Wucherern, Schiebern und Börsenspekulanten, die ihre Gewinne ohne Rücksicht auf Verluste der restlichen Bevölkerung machen und deren Erwerbsmethoden alle gleichermaßen illegitim wirken. Das bloße Spekulieren an der Börse machte jemanden im Blick des Simplicissimus bereits zum »Aasgeier«.36 Nur selten erhält man einen Eindruck davon, dass auch ›Normalbürger‹ Börsengeschäfte betrieben37, es dominieren Kapitalisten und Großindustrielle wie Hugo Stinnes, die ihre Gewinne ins Ausland verfrachten, um sie vor heimischem Wertverlust in Sicherheit zu bringen.38 Die Hintergründe der verfahrenen Situation bleiben allerdings im Dunkeln. So gibt es kaum Hinweise auf die bewusste Inflationspolitik der Regierung, die in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg zumindest eine gute Beschäftigungslage ermöglichte und zugleich dazu beitragen sollte, die Unerfüllbarkeit der Reparationsforderungen zu demonstrieren.39 Wenn die Deutschen nicht im Kampf gegen den »Wucher« als mythischem Monster mit Kapitalistenantlitz gezeigt werden40, dann erscheinen Versailles, Ruhrbesetzung und individuelles Gewinnstreben als Ursache allen Übels, alle Kollaborateure mit den Besatzern als eigensüchtige Profiteure. Bei den Karikaturen der Krisen- und Besatzungsprofiteure ist es ähnlich wie bei den außenpolitischen Feindbildern: Mit dem verfressenen Wucherer und dem hemmungslosen Kapitalisten reproduzierte die Zeitschrift wohlbe-

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Simplicissimus 28/12, 18.6.1923, S. 143 (Karl Arnold: Die kreuzfidelen Zwischenhändler). kannte Motive aus früheren Jahren. Auch »Klischees jüdischen Aussehens« finden sich bei Zeichnern des Simplicissimus.41 Martina Kessel hat den Antisemitismus als ein wesentliches Charakteristikum der deutschen Humorproduktion vom Kaiserreich bis zum Dritten Reich ausgemacht, der als konstruiertes Gegenbild wesentlich für die Formung eines deutschen Selbstverständnisses war.42 Angesichts dieses Befundes fällt eine Karikatur aus dem Juni 1923 umso mehr ins Auge: Sie zeigt das antisemitische Stereotyp des wandernden Juden, doch die Pointe richtet sich gegen rechte Kräfte. Der Zeichner lässt die Figur des Ahasver spotten: »Völkische Wandervogelvereine! Da muß ich doch lachen als alter Veteran!«43 Besondere Verachtung hielten die Karikaturisten für die Separatisten bereit, die im Laufe des Jahres u. a. im Rheinland, in der Pfalz und in Bayern aktiv waren und die Abtrennung ihrer Regionen vom Reichsverband betrieben. Sie gehörten als Landesverräter auf den »französischen Thron« – die Guillotine –, da ihre Bestrebungen letztlich nur den Interessen Frankreichs in die Hände spielten. Der gleiche Vorwurf traf kommunistische Umsturzversuche und bayerische Eigenständigkeitsambitionen.44 Den Hitler-Putsch kommentierte die Zeitschrift allerdings in erster Linie als lokales Phänomen. Eine bierselige Gemütlichkeit macht den Bayern zum »Dickhäuter«, dessen Vorstellung von geordneten V ­ erhältnissen

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234 Detlev Mares »a Judenpogrom« und einen »Diktator« nicht als übermäßig problematisch erscheinen lässt. Ein Jahr später scheint der Nationalsozialismus in Bayern nur noch als unangenehme Störung des Fremdenverkehrs zu interessieren, der durch eine Rückkehr zur ›Gemütlichkeit‹ begegnet wird.45 Die Karikaturen zu den innenpolitischen Verhältnissen sind gekennzeichnet von einem patriotischen und populistischen Duktus, der einen Gegensatz zwischen dem leidenden und heldenhaften Volk einerseits sowie der Profitgier und landesverräterischen Aktivitäten Einzelner oder kleiner Gruppen andererseits konstruiert. Diese Deutungsmuster finden sich auch in der Schilderung gesellschaftlicher Verhältnisse, wie sich am Beispiel der Frauendarstellungen zeigen lässt. Diese sind vielschichtig, längst nicht immer politisch zugespitzt, aber in der Ausrichtung des Spotts doch selten ohne übergreifende Aussageabsicht. Bereits erwähnt wurden die Darstellungen von Frauen in der M ­ utterrolle – diese Mütter sind im Jahr 1923 als Opfer von Inflation und »Franzosenherrschaft« nicht mehr in der Lage, ihren Kindern ausreichend Nahrung oder gar Wohlstand zu bieten.46 Nicht immer heben diese Karikaturen auf arme Frauen generell oder Frauen als Personen ab – weibliche Figuren lassen sich auch metaphorisch interpretieren als geknechtetes, vergewaltigtes Deutschland, dessen ›männliche‹ Selbstbehauptung durch die selbst auferlegte ›Tatenlosigkeit‹ des passiven Widerstands und die Aushungerung infrage gestellt ist.47 Keinesfalls aber bieten diese Zeichnungen Belege für eine Selbstaufgabe. Sie dienten vielmehr der Anklage gegenüber dem Deutschland angetanen Unrecht und ­müssen im Zusammenhang mit den oben genannten Darstellungen gesehen werden, die zu Widerstand und Selbstbehauptung aufriefen. Die ›Mutter‹ ist aber nicht die einzige Rolle, in der die meist männlichen Zeichner des Simplicissimus Frauen präsentierten. In manchen Karikaturen bilden (meist junge) Frauen einen eigenen Typus von Krisengewinnlern. Sie nutzen ihre weibliche Attraktivität, um sich den Besatzern oder männlichen Profiteuren anzubiedern. Auf diese Weise sichern sie sich Kleidung, Heizung und einen gewissen Luxus.48 Bei diesen Darstellungen handelt es sich um eine auf das Jahr 1923 zugeschnittene Variante eines übergreifenden Motivs: die Frau als Provokation. Die jungen Frauen mit ihrem selbstbewussten Lebensstil und sexueller Selbstbestimmung erscheinen als Herausforderung – sie rütteln an den Grundlagen der hergebrachten Geschlechterordnung.49

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Simplicissimus 28/7, 14.5.1923, S. 84 (Kurt Heiligenstaedt: Fürs Höhere). Die Frauendarstellungen im Jahr 1923 reflektieren also die spezifischen Verwerfungen dieses Krisenjahres, aber wohl auch eine gewisse grundsätzliche Distanz der Karikaturisten zu gesellschaftlichen Entwicklungen der Moderne. Die spöttische Charakterisierung junger Frauen ist ein Beispiel für Identifikationsangebote an Kritiker der Moderne durch die Abgrenzung von deren Trägerinnen. Damit ist auch der Simplicissimus nicht frei von einem antimodernistischen Narrativ, das in der Weimarer Republik schon eine weitaus unheilvollere Tradition hatte: Frühe, oft kurzlebige Satirezeitschriften von ›rechts‹ hatten moderne Entwicklungen bekämpft. Revolution und Republik präsentierten sie als Werk ›undeutscher‹, oft ausländischer Mächte, grundiert durch Feindbilder wie Juden und Kommunisten.50 Die Ruhrbesetzung legte einen betont patrioti-

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236 Detlev Mares schen Gestus nahe, der sich nicht nur als gemeinsame Haltung gegenüber dem Aggressor, sondern auch im Aufbrechen innergesellschaftlicher Bruchlinien manifestierte. Der Simplicissimus spiegelt auch solche Tendenzen.

IV. Insbesondere gegen Jahresende mahnten viele Karikaturen zum Zusammenhalt und warnten vor einem Auseinanderdriften der Nation, die durch Putsche, Separationsbestrebungen und Parteienstreit unter Druck stand.51 Ein Titelblatt mit der Überschrift »Silvester 1923« zeigt einen betrunkenen Mann in schneebedeckter dörflicher Umgebung, der sich an einen Laternenpfahl klammert und sinniert: »I bin fei‹ net zu beneiden – i seh‹ die Zuständ‹ doppelt!«52 Auch wenn aus dieser Karikatur die Sorge sprach, die Krisen des Jahres 1923 würden sich im neuen Jahr fortsetzen, blieb die Katastrophe aus; die Republik stabilisierte sich. Dennoch stützten und verbreiteten Blätter wie der Simplicissimus Motive und Feindbilder, die langfristig Denkmuster prägten und sich im »Dritten Reich« als regimekompatibel erweisen sollten. Beispielsweise wies die Zeitschrift schon im Krisenjahr 1923 auf die Sehnsucht nach dem »starken Mann« hin, der energisch alle Probleme lösen würde.53 Zwar sparte die Zeitschrift in der Weimarer Zeit nicht mit satirischer Kritik auch am Nationalsozialismus, doch nach dessen Machtübernahme 1933 lavierte sie ein Jahrzehnt, um ihr Erscheinen fortführen zu können. Dabei verwiesen ihre Macher nicht zuletzt auf die Karikaturen des Jahres 1923. Mit ihrer Kritik an Versailler Vertrag, Ruhrbesetzung und Inflationsgewinnlern erschienen sie als Ausweis eines patriotischen Geistes, der den Fortbestand der Zeitschrift auch unter dem neuen Regime rechtfertigen sollte.54 Schon 1923 waren viele der Zutaten zusammengetragen, aus denen im Folgejahrzehnt ein diabolisches Gemisch nach ›deutschem Rezept‹ gebraut werden sollte.

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Anmerkungen 1

Simplicissimus, 27. Jahrgang, Heft 39 (im Folgenden: 27/39), 27.12.1922, S. 553 (Th. Th. Heine: Höllisches Neujahr). Der Simplicissimus ist digitalisiert verfügbar unter: www.simplicissimus.info. 2 Martin H. Geyer, Die Zeit der Inflation 1919–1923, in: Nadine Rossol, Benjamin Ziemann (Hrsg.), Aufbruch und Abgründe. Das Handbuch der Weimarer Republik, Darmstadt 2021, S. 66–92. 3 So das Ergebnis von Frank Zeiler, Verfassungsbildsatiren zwischen Republikfeindschaft, Vernunftrepublikanismus und Republiktreue. Eine Darstellung der Bildbeiträge zur Weimarer Verfassung in den Satiremagazinen Kladderadatsch, Simplicissimus, Der Wahre Jacob und Lachen Links, in: Jahrbuch der Juristischen Zeitgeschichte 17, 2016, S. 395–435. 4 Simplicissimus 27/40, 3.1.1923, S. 569 (Karl Arnold: Besatzungswahnsinn). 5 Simplicissimus 27/44, 31.1.1923, S. 617 (Wilhelm Schulz: Die französischen Helden im Ruhrgebiet); Simplicissimus 27/50, 12.3.1923, S. 689 (Karl Arnold: Der Held an der Ruhr). 6 Vgl. als Überblick Eberhard Demm, Caricatures, in: 1914–1918-online. International Encyclopedia of the First World War, hg. von Ute Daniel u. a., Berlin 2016. DOI: 10.15463/ ie1418.11023 7 Simplicissimus 27/49, 5.3.1923, S. 677 (Olaf Gulbransson: Die Bestie). 8 Simplicissimus 28/18, 30.7.1923, S. 221 (Erich Schilling: Frankreich und das Weltgewissen); Simplicissimus 28/4, 23.4.1923, S. 45 (Th. Th. Heine: Der Massenmord in Essen). 9 Adam Tooze, Sintflut. Die Neuordnung der Welt 1916–1931, München 2015, S. 315. 10 Simplicissimus 28/34, 19.11.1923, S. 420 (Erich Schilling: Hunger und Tod). 11 Vgl. z. B. Simplicissimus 28/3, 16.4.1923, S. 43 (Eduard Thöny: Waffenkontrolle); Simplicissimus 28/11, 11.6.1923, S. 139 (Erich Schilling: Aus dem Einbruchsgebiet); Simplicissimus 28/2, 9.4.1923, S. 23 (Karl Arnold: Französische Propaganda); Simplicissimus 28/7, 14.5.1923, S. 91 (Wilhelm Schulz: Aus Langerweile); Simplicissimus 28/2, 9.4.1923, S. 24 (Eduard Thöny: Buer). 12 Simplicissimus 28/4, 23.4.1923, S. 54 (Karl Arnold: Feldpost aus dem Ruhrgebiet). 13 Zur Ruhrbesetzung vgl. den Beitrag von Nicolai Hannig im vorliegenden Band. 14 Simplicissimus 27/45, 5.2.1923, S. 629 (Karl Arnold: An das Weltgewissen), Zitat ebd. Allg. zu rassistischen Motiven bei Arnold: Andreas Strobl, Karl Arnold. Zeichner des Simplicissimus, München 2012, S. 290–293. Vgl. auch Simplicissimus 28/8, 21.5.1923, S. 104 (Th. Th. Heine: Ausblick). 15 Simplicissimus 27/43, 24.1.1923, S. 605 (Wilhelm Schulz: Die Franzosen in Kamerun). 16 Simplicissimus 28/5, 30.4.1923, S. 68 (Eduard Thöny: Kulturbild aus dem besetzten Gebiet). Dieselbe Stoßrichtung bereits sehr drastisch in: Kladderadatsch 69/30, 23.7.1916 (A. Johnson: Die Zivilisierung Europas). 17 Simplicissimus 28/37, 10.12.1923, S. 464 (Karl Arnold: Frankreich im Rheinland). 18 Vgl. Martina Kessel, Gewalt und Gelächter. ›Deutschsein‹ 1914–1945, Stuttgart 2019, für die Weimarer Zeit S. 95–147, zum Jahr 1923 insb. S. 103–104. 19 Simplicissimus 27/41, 10.1.1923, S.  581 (Olaf Gulbransson: Das allmächtige Gold); Simplicissimus 27/42, 17.1.1923, S. 593 (Karl Arnold: Hoffen und Harren); Simplicissimus 28/22, 27.8.1923, S. 269 (Karl Arnold: Deutschlands Unstern). 20 Simplicissimus 28/10, 4.6.1923, S. 117 (Wilhelm Schulz: Der französische Ritter von der traurigen Gestalt). 21 Simplicissimus 28/6, 7.5.1923, S. 80 (Eduard Thöny: Ist das englisch?); Simplicissimus 28/29, 15.10.1923, S. 368 (Eduard Thöny: Das ist englisch!); Simplicissimus 28/5, 30.4.1923, S. 57 (Erich Schilling: Fair play gegen Deutschland).

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238 Detlev Mares 22 Simplicissimus 28/32, 5.11.1923, S. 404 (Wilhelm Schulz: Deutschland, ein Wintermärchen). 23 Vgl. z. B. Simplicissimus 28/3, 16.4.1923, S. 36 (Th. Th. Heine: Auf dem Heimweg von der Arbeit); Simplicissimus 27/47, 19.2.1923, S. 653 (Wilhelm Schulz: Ausweisungen); Simplicissimus 28/3, 16.4.1923, S. 41 (Wilhelm Schulz: Ausquartiert); Simplicissimus 28/12, 18.6.1923, S. 144 (Wilhelm Schulz: Albert Leo Schlageter). 24 Simplicissimus 28/22, 27.8.1923, S. 280 (Erich Schilling: Die Opfer). 25 Simplicissimus 28/26, 24.9.1923, S. 324 (Th. Th. Heine: Das Erdbeben in Japan). Vgl. den Beitrag von Schenk in diesem Band. 26 Simplicissimus 28/9, 28.5.1923, S. 105 (Karl Arnold: Justitia im Ruhrgebiet). 27 Vgl. z. B. Simplicissimus 28/12, 18.6.1923, S. 151 (Alphons Woelfle: Totenklage); Simplicissimus 28/35, 26.11.1923, S. 431 (Eduard Baudrexel: Bruderkrieg). 28 Simplicissimus 28/29, 15.10.1923, S. 357 (Th. Th. Heine: Trauerfahnen an der Ruhr). 29 Simplicissimus 28/8, 21.5.1923, S. 93 (Wilhelm Schulz: Die Vorbedingung). Vgl. Kessel, Gewalt und Gelächter, S. 109/110. 30 Simplicissimus 27/46, 12.2.1923, S. 641 (Erich Schilling: Nein!); Simplicissimus 23/32, 5.11.1918, S. 385 (Eduard Thöny: Nach vier Jahren). Vgl. Sherwin Simmons, War, Revolution, and the Transformation of the German Humor Magazine, 1914–27, in: Art Journal 52, 1, 1993, S. 46–54, S. 47. 31 Simplicissimus 28/34, 19.11.1923, S. 428 (Erich Schilling: Spätherbst). 32 Vgl. Dirk Schumann, Nachkriegsgesellschaft. Erbschaften des Ersten Weltkriegs in der Weimarer Republik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 68, 18–20, 2018, S. 33–38, S. 38, Zitate ebd. 33 Simplicissimus 28/11, 11.6.1923, S. 140 (Karl Arnold: Papiergeld! Papiergeld!); Simplicissimus 28/39, 24.12.1923, S. 484 (Karl Arnold: Himmlische Ausfuhrstelle). 34 Simplicissimus 28/31, 29.10.1923, S. 381 (Erich Schilling: Die neue Währung kommt  – zu spät). 35 Vgl. z. B. Simplicissimus 28/40, 1.1.1924, S. 492 (Wilhelm Schulz: Mittelstands-Silvester); Simplicissimus 28/14, 2.7.1923, S. 165 (Wilhelm Schulz: Front und Etappe); Simplicissimus 28/15, 9.7.1923, S. 187 (Th. Th. Heine: Die Kleinen hängt man …). 36 Simplicissimus 28/17, 23.7.1923, S. 211 (Th. Th. Heine: Bei Aasgeiers). Vgl. z. B. Simplicissimus 28/1, 3.4.1923, S. 19 (Karl Arnold: Verbote – die Freude der Schieber); Simplicissimus 28/12, 18.6.1923, S. 143 (Karl Arnold: Die kreuzfidelen Zwischenhändler). 37 Simplicissimus 28/24, 10.9.1923, S. 306 (Eduard Thöny: Entlarvt). 38 Vgl. z. B. Simplicissimus 28/32, 5.11.1923, S. 393 (Eduard Thöny: Ein Volkslied am Kurfürstendamm); Simplicissimus 28/31, 29.10.1923, S. 384 (Th. Th. Heine: Ritter Hugos Ritt nach Frankenland). 39 Vgl. zur Hyperinflation und den daraus folgenden gesellschaftlichen Verwerfungen die Beiträge von Roelevink und Schott in diesem Band. 40 Simplicissimus 27/51, 19.3.1923, S. 701 (Th. Th. Heine: Der Wucher). 41 Vgl. Strobl, Karl Arnold, S. 290-300, Zitat S. 290. 42 Kessel, Gewalt und Gelächter, S. 85–93. 43 Simplicissimus 28/10, 4.6.1923, S. 120 (Karl Arnold: Ahasver). 44 Simplicissimus,28/2, 9.4.1923, S.  32 (Erich Schilling: Separatisten), Zitat ebd.; vgl. Simplicissimus 28/11, 11.6.1923, S. 138 (Eduard Thöny: Deutsche Kommunisten im Ruhrgebiet); Simplicissimus 28/33, 12.11.1923, S. 408 (Th. Th. Heine: Wie Nord und Süd zum Henker gehen). 45 Simplicissimus 28/7, 14.5.1923, S. 89 (Olaf Gulbransson: Der Dickhäuter); Simplicissimus 28/36, 3.12.1923, S. 441 (Karl Arnold: Der Münchner); Simplicissimus 29/28, 6.10.1924, S. 376 (Karl Arnold: Wiederaufbau des Fremdenverkehrs).

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Böses Lachen

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46 Simplicissimus 28/25, 17.9.1923, S. 310 (Heinrich Zille: 1923); Simplicissimus 28/24, 10.9.1923, S. 297 (Wilhelm Schulz: Franzosenherrschaft). 47 Vgl. Kessel, Gewalt und Gelächter, S. 103–107. Vgl. z. B. Simplicissimus 28/35, 26.11.1923, S. 437 (Erich Schilling: Der Felddieb). 48 Vgl. z.  B. Simplicissimus 28/7, 14.5.1923, S.  84 (Kurt Heiligenstaedt: Fürs Höhere); Simplicissimus 28/33, 12.11.1923, S. 410 (Heinrich Zille: Die Sirene). 49 Simplicissimus 28/10, 4.6.1923, S. 127 (Eduard Thöny: Ein Zwischenfall); Simplicissimus 28/11, 11.6.1923, S. 131 (Olaf Gulbransson: Feldeinsamkeit); Simplicissimus 28/13, 25.6.1923, S. 156 (Kurt Heiligenstaedt: Zweckmäßigkeit). Selten greifen die Karikaturisten – meist im Kontext von Darstellungen des Berliner Lebens – nicht-heteronormative Weiblichkeit auf, vgl. z. B. Simplicissimus 28/18, 30.7.1923, S. 224 (Karl Arnold: Schwuhl); für Belege aus anderen Jahren der Weimarer Zeit vgl. Strobl, Karl Arnold, S. 141, 154 u. 183. 50 Vgl. Simmons, Humor Magazine, S. 49. 51 Vgl. z. B. Simplicissimus 28/33, 12.11.1923, S. 405 (Wilhelm Schulz: Zusammenhalten!). 52 Simplicissimus 28/40, 1.1.1924, S. 489 (Karl Arnold: Silvester 1923). 53 Simplicissimus 28/38, 17.12.1923, S. 474 (Th. Th. Heine: Großhandel); Simplicissimus 28/21, 20.8.1923, S. 257 (Wilhelm Schulz: Schiff in Not). 54 Vgl. Strobl, Karl Arnold, S. 34 u. 39.

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Bildnachweis Trotz sorgfältiger Recherche ist es nicht immer möglich, die Inhaber:innen von Urheberrechten zu ermitteln. Berechtigte Ansprüche werden selbstverständlich im Rahmen der üblichen Vereinbarungen abgegolten. S. 16: Landesausschuß der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, München 1922; Scan: abebooks.com; S. 19: akg-images; S. 32: Klassik Stiftung Weimar/Herzogin Anna Amalia Bibliothek; S. 41 oben: akg-images; S. 41 unten: akg-images; S. 51: Deutsches Historisches Museum, Berlin, Inv.-Nr.: P 55/196; S. 56: Bundesarchiv Bild 102-00189; S. 68: Foto: Franz Donner, Stadtarchiv Gelsenkirchen, FS I, AC 03 – RB. 016, Nr. 00185; S. 70: Stadtarchiv Gelsenkirchen, Plakatsammlung, Sign. WR/FI 43; S. 78: akg-images/TT News Agency/ SVT; S. 85: Klassik Stiftung Weimar/Herzogin Anna Amalia Bibliothek; S. 97: Stadtarchiv Konstanz, Z X Zeitgeschichtliche Sammlung; S. 104: Klassik Stiftung Weimar/Herzogin Anna Amalia Bibliothek; S. 112: Bundesarchiv Bild 10209103; S. 117: wikicommons; S. 131: akg-images; S. 137: Klassik Stiftung Weimar/ Herzogin Anna Amalia Bibliothek; S. 161: Sammlung ­Freese; S. 167: Sammlung Freese; S. 180: Peter Palm, Berlin; S. 199: The Ohio State University, Billy Ireland Cartoon Library and Museum; S. 201: The Ohio State University, Billy Ireland Cartoon Libra­ry and Museum; S. 209: http://www.tut-ausstellung.com; S. 214: akg-images; S. 221, 225, 227, 228, 229, 230, 231, 233, 235: Klassik Stiftung Weimar/ Herzogin Anna Amalia Bibliothek

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Nicolai Hannig Detlev Mares (Hg.)

Epochenjahr 1923: Wirren und Wendepunkte in Deutschland, Europa und der Welt Hitler-Putsch, Ruhrkampf, Aufstieg des europäischen Faschismus – 1923 war ein Jahr, das sowohl Deutschland wie auch die Welt erschütterte und viele bisherige Sicherheiten infrage stellte: Kemal Atatürk greift nach der Macht, im japanischen Kantō sterben über 140 000 Menschen beim großen Erdbeben, und 1923 scheiterte zum ersten Mal der ukrainische Traum von einem eigenen Nationalstaat. Das spannungsvolle Panorama eines besonderen erscheinungen einen neuen, einen spiegelbildlichen historischen Blick auf das krisenhafte Jahr 1923 und schlägt bewusst auch einen Bogen in die Gegenwart. Mit Beiträgen von u. a. Eckart Conze, Christoph Cornelißen, Franziska Davies, Christof Dipper, Jens Ivo Engels und Gerrit Schenk.

Nicolai Hannig Detlev Mares (Hg.)

Epochenjahres bietet angesichts aktueller Krisen-

KRISE! Wie 1923 die Welt erschütterte