Kreativität – Handeln in Ungewissheit: Eine Studie zur Relevanz individueller und ko-konstruktiver kreativer Prozesse [1. Aufl.] 9783658311414, 9783658311421

Barbara Vollmer untersucht die Themen „Ästhetik“, „Kreativität“ und „Denken“. Die im ersten Teil verfolgte Grundlagenfor

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German Pages XV, 349 [358] Year 2020

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Kreativität – Handeln in Ungewissheit: Eine Studie zur Relevanz individueller und ko-konstruktiver kreativer Prozesse [1. Aufl.]
 9783658311414, 9783658311421

Table of contents :
Front Matter ....Pages i-xv
Einführung (Barbara Vollmer)....Pages 1-4
Forschungsstand zu Kreativität und Ästhetik (Barbara Vollmer)....Pages 5-44
Kreativität in Schule und Unterricht (Barbara Vollmer)....Pages 45-68
Forschungsdesiderat, Forschungsfrage und Forschungsdesign (Barbara Vollmer)....Pages 69-73
Methodischer Ansatz der Studie (Barbara Vollmer)....Pages 75-89
Teilstudie I: Darstellung der empirischen Ergebnisse (Barbara Vollmer)....Pages 91-239
Vergleich der Befunde und Hypothesen zu Teilstudie I (Barbara Vollmer)....Pages 241-258
Teilstudie II: Befunde zu kreativer Ko-Konstruktion (Barbara Vollmer)....Pages 259-296
Ansätze für eine theoretische Konzeption kreativer und ko-konstruktiver Prozesse (Barbara Vollmer)....Pages 297-331
Diskussion der Ergebnisse (Barbara Vollmer)....Pages 333-337
Back Matter ....Pages 339-349

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Barbara Vollmer

Kreativität – Handeln in Ungewissheit Eine Studie zur Relevanz individueller und ko-konstruktiver kreativer Prozesse

Kreativität – Handeln in Ungewissheit

Barbara Vollmer

Kreativität – Handeln in Ungewissheit Eine Studie zur Relevanz individueller und ko-konstruktiver kreativer Prozesse Mit Geleitworten von Sibylle Rahm und Dietrich Dörner

Barbara Vollmer Bamberg, Deutschland Dissertation Otto-Friedrich-Universität Bamberg, 2018 Namen des Erstgutachters: Prof. Dr. Sibylle Rahm Name des Zweitgutachters: Prof. Dr. Dr. h.c. Dietrich Dörner Tag der mündlichen Prüfung: 16.7.2018

ISBN 978-3-658-31141-4 ISBN 978-3-658-31142-1  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-31142-1 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa­ tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Geleitwort Kreativität, das ist Ersinnen neuer Ideen und das ist der Kern der menschlichen Intelligenz. Der Rest ist Beiwerk. Logik ist wichtig, aber leicht maschinell machbar, aus einem Kalkül kann jeder Computer mithilfe eines einfachen Programmes alles ableiten, was in den Axiomen steckt. Naja, vielleicht nicht alles, weil es oft unendlich viele Ableitungen gibt. (Beim Schachspiel aber gibt es nur eine endliche Anzahl von Positionen. Nämlich 24 Milliarden! Und deshalb gibt es so gute Schachprogramme!) Also, wenn man einen Computer lange genug laufen lässt, kann er im Hinblick auf Logik eine ganze Menge schaffen! Was er aber nicht kann, ist: ein Kalkül zu erfinden. Zumindest kann er das bislang nicht, denn um ein Kalkül zu erfinden, muss man kreativ sein, man muss, wie Charles Sanders Peirce das ausdrückt, äbduktiv"denken können, gewissermaßen in die Gegenrichtung, in die logisches Denken geht. Man denkt nicht von der Ursache zur Wirkung, sondern man denkt von der Wirkung zur Ursache. -Die abgeleierte Standardfrage: "was will der Künstler uns damit sagen?"wird belächelt, aber die Richtung ist schon richtig: wie kommt es, dass Goethe den Faust geschrieben hat und nicht irgendetwas anderes? Wahrscheinlich häte Goethe diese Frage gar nicht beantworten können und der Künstler will uns natürlich "gar nichtsßagen! Bzw. er weiß das gar nicht! Weiß die Rose, dass sie schön aussieht? - Aber die Frage nach der Motivation des Autors oder nach den Gründen, warum ein Text so aussieht wie aussieht ist schon sehr wichtig. Der menschliche Fortschritt besteht nicht darin, dass Menschen verallgemeinern können, also induktiv denken, dass sie logisch denken können, sondern der Fortschritt besteht darin, dass zum Beispiel der Homo sapiens sapiens Gerätschaften, Dinge erfinden konnte, die man dann zu bestimmten Zwecken benutzen konnte; Töpfe zum Kochen, Speerschleudern für die Jagd, Nadel und Faden, um damit kältesichere Kleidung nähen, um in arktischen Gebieten überleben zu können. Es reichte nicht, die Natur nachzuahmen; ein Anorak zum Beispiel hat kein Vorbild in der Natur. Und "Nadel und Fadenäuch nicht! Kein Mensch schätzt die Kreativität gering, aber man kann irgendwie wenig mit ihr anfangen. Es gibt Kreativitätstests, aber bei denen hat man irgendwie das flaue Gefühl, dass hier der freie Geist in eine Flasche gesteckt wird, aus der er nicht so recht wieder heraus kann. Viel kann man in der Schule lernen, Schreiben und Lesen und Rechnen. Und Mathematik und Literatur. - Und Kreativität? Ja eigentlich so direkt nicht so richtig. Man lässt die Schüler eben etwas Kreatives machen, Bilder malen, Texte schreiben. Oder man lässt die Schüler Gedichte interpretieren. Aber wie eigentlich sie das genau machen sollen, weiß auch niemand.- Dem einen fällt viel Neues ein dem anderen kaum etwas! Wie kommt das, kann man das ändern? Zunächst fällt auf, welches Wirrwarr an Prozessen angegeben wird, wenn von kreativen Leistungen die Rede ist. Neue Ideen kommen als plötzlicher Einfall, gewissermaßen aus dem Off. Neue Ideen bekommt man, wenn man "dabei"bleibt: Genie ist Fleiß! - Neue Ideen bekommt man, wenn man nicht dabei bleibt: man sollte die Sachen liegen lassen, sie brüten sich dann von allein aus. Inkubation ist das Zauberwort! Ohne Inkubation kein plötzlicher Einfall! - Wenn Du nicht weiter weißt, frag’ andere! Und da gibt es die

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Geleitwort

Änregung": "Wenn Du nicht mehr weiter weißt, bilde einen Arbeitskreis! Und dann ist es sowieso aus!- Schlaf’ drüber! Wenn du einen Impfstoff für Corona brauchst, frage die Fachleute!- Um Gottes willen, das ist genau das Falsche und verführt zum Methodismus! Nein, die Fachleute darfst du gerade nicht befragen, denn die stecken in ihren Traditionen und ßwingen"Dich in ihre vorgespurten Bahnen!- Aber- andererseits- die Fachleute können Dir doch sagen, wie sie es versucht haben! Und dann weißt du, wie man es nicht machen soll!- Stimmt auch wieder! Alles ist richtig und alles ist falsch! Es kommt darauf an! Es kommt drauf an, wo man steht, an welcher Stelle eines kreativen Prozesses man ist. Kreativität selbst sollte man kreativ gestalten! Und wenn Sie wissen wollen, wie das geht, dann sollten Sie Barbara Vollmers Buch lesen! Wenn Sie die Einzelfälle, die Barbara Vollmer schildert, lesen, etwa von der Seite 91 an, dann werden Sie hinterher erheblich mehr wissen darüber, wie ein kreativer Prozess sich (immer wieder anders) gestalten kann. Aber Sie erfahren etwas über die Dynamik dieses vielgestaltigen Prozesses, Sie erfahren etwas darüber, wann es sinnvoll ist, die Sachen liegen zu lassen, wann es sinnvoll ist, andere zu fragen, wann es sinnvoll ist, sich in eine Sache zu verbeißen, sie durchzuarbeiten, wann es sinnvoll ist, sich Mut zu machen, wann es sinnvoll ist, den Mut fahren zu lassen. - Nein, sie werden kein Leonardo da Vinci, wenn Sie dieses Buch gelesen haben. Aber sie verstehen besser, warum Sie keiner sind und wie man vielleicht daran etwas ändern kann. Vielleicht nur wenig, vielleicht aber auch viel! Nein, sie sollten nicht nur die Beispiele lesen, sondern auch das, was vorher über den kreativen Prozess geschrieben wird. Denn nur dann können Sie die Beispiele richtig verstehen! Es wird Ihnen vermutlich nützen! Prof. Dr. Dietrich Dörner

Geleitwort An die menschliche Kreativität richten sich angesichts komplexer globaler Entwicklungen hohe Erwartungen. Sie wird als eine Voraussetzung zur Lösung dringender gesellschaftlicher Herausforderungen betrachtet. Gerade in den Erziehungswissenschaften gilt die Kompetenz zur Lösung komplexer Probleme als Schlüsseldisposition. Die Imagination von Wirklichkeit gehört nämlich zu den menschlichen Fähigkeiten, die nicht (umfänglich) durch digitale Technik ersetzt werden können. Die gezielte Förderung von demzufolge gesellschaftlich bedeutsamen kreativen Kompetenzen im Rahmen von Bildungsprozessen muss auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basieren. Die Publikation von Frau Barbara Vollmer, in der Kreativität als individueller und ko-konstruktiver ästhetischer Prozess erforscht wird, trägt entscheidend zur Aufklärung des Gegenstandsbereiches dar. Angesichts der Herausforderung, den Forschungsgegenstand begreifbar zu machen, folgt die Verfasserin der vorangestellten Devise Joseph Beuys, zu einer Freundin von Freiheit und Unsicherheit zu werden und entwickelt offene experimentelle Settings, die den Proband(inn)en die Entwicklung prozessorientierter Strategien zur Bewältigung von komplexen Problemlagen ermöglichen. Die in der Studie vorgelegten feinsinnigen Fallanalysen und die Diskussion der gewonnenen Ergebnisse stellen einen wesentlichen Beitrag zur Kreativitätsforschung dar. Darüber hinaus liegt in der explorativen Untersuchung von Frau Barbara Vollmer ein großes Potential für die bildungstheoretische Debatte um einen problemorientierten, alle Sinne einbeziehenden Unterricht, der eine Regulierung von Unbestimmtheit ermöglicht und der kreative ästhetische Prozesse begünstigt. Solche Möglichkeitsräume zu schaffen, dürfte eine entscheidende Herausforderung zukünftiger Schul- und Unterrichtsentwicklung sein. Prof. Dr. Sibylle Rahm

Danksagung Während des Dissertationsprojektes beobachtete ich an mir ähnliche Verhaltensweisen wie bei den Untersuchungsteilnehmenden. Unter Zeitdruck veränderte sich mein Denken, meine Wahrnehmung wurde grober; Ungenauigkeiten und Fehler schlichen sich ein. Bei Entspannung erkannte ich wesentliche Linien; bei Ärger konnte ich manches auf den Punkt bringen. Wenn ich mich überfordert fühlte, neigte ich zu Ersatzhandlungen. Danach wendete ich mich wieder den Problemen zu und war in der Lage, sie in Angriff zu nehmen. Wie in den Versuchen zeigte sich, dass rekursive Schleifen, Pausen und Rhythmen für eine originelle und brauchbare Leistung nötig sind. Eine Dissertation entsteht nicht an einem Tag. Sie erfordert viel Zeit und ist von unterschiedlichsten Impulsen und Umwegen begleitet. In diesem Sinne haben Viele zum Entstehen und Vervollständigen dieser Dissertation beigetragen. Ganz besonderen Dank möchte ich meinen beiden Betreuern, Sibylle Rahm und Dietrich Dörner, ausdrücken. Besonders möchte ich Sibylle Rahm dafür danken, dass sie mir den nötigen Freiraum für das Thema gelassen, mich aber auch immer wieder herausgefordert, gefördert und im Forschungsprozess begleitet hat. Nachhaltig beeinflusst haben mich die intensiven, oft sehr erhellenden und anregungsreichen Gespräche mit Dietrich Dörner. Lothar Laux möchte ich für sein Interesse und seine guten Hinweise zu den kreativen Ko-Konstruktionen danken. Besonders dankbar bin ich auch Notburga Karl, die mir mit ihrem Fachwissen und ihrer Persönlichkeit stets zuhörte, mich immer wieder ermutigte und zur Seite stand. Danke auch an die im Rahmen des qualitativ-rekonstruktiven Designs aufgestellte Interpretationsgruppe, sowie an meine Kollegen aus der Kunstpädagogik. Ihr kritisches Hinterfragen und Durchdenken der Untersuchung und der im Einzelnen stattfinden Prozesse hat mein Denken immer wieder geschärft.In diesem Zusammenhag möchte ich auch Ralf Bohnsack für seine ermutigenden Rückmeldungen danken. Die über Jahre andauernde Gelegenheit, die Arbeit im Forum Forschung zu präsentieren und zu diskutieren, hat mich sehr angeregt und zur Entwicklung der Arbeit beigetragen. Danke für die kritischen Diskussionen und Rückmeldung an Rita BrachesChyrek, Steffen Schaal, Marianne Schüpbach, Eva Heran-Dörr, Jürgen Abel. Herzlichen Dank auch an meine KollegInnen am Lehrstuhl, Daniela Sauer, Martin Lunkenbein, Christian Nerowski, Anke Penczek, Wolfgang Geiling und Angelika Schacht, die mich praktisch und theoretisch unterstützt und immer wieder aufgebaut haben. Maria Vollmer und die verschiedenen Hilfskräfte am Lehrstuhl haben mich mit Transkriptionen unterstützt. Danke für eure Verlässlichkeit, schnelles und gewissenhaftes Arbeiten. Ganz besonders danken möchte ich Maria für das Lektorat und Gabriele Thiem für das sorgfältige Korrekturlesen der ganzen Arbeit, aber auch Saskia Kießling und David für das Korrekturlesen einzelner Kapitel. Danke auch an Jörg Dettmer für das Design des Covers.

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Danksagung

Daneben gab es unglaublich viele Freunde und Bekannte, die mich immer wieder ermutigt haben durchzuhalten und nicht aufzugeben. Besonders danken möchte ich meinen Eltern, meiner Schwester und vor allem meinem Mann und meinen drei Kindern, David, Maria und Anna. Ihr habt mich in jeder Beziehung unterstützt, so lange ausgehalten und immer wieder ermutigt! Meinen ausdrücklichen Dank möchte ich zuletzt den Untersuchungsteilnehmenden für ihre Bereitschaft, am Versuch teilzunehmen, ihre Mitarbeit und Offenheit ausdrücken. Sie haben mir nicht nur das Schreiben dieser Arbeit ermöglicht, sondern mit ihrer Expertise zu dieser Forschung beigetragen. Immer war gerade dann eine Person da, wenn ich sie dringend gebraucht habe. Ohne Eure Unterstützung wäre diese Arbeit nicht das geworden, was sie ist! Vielen Dank!

Inhaltsverzeichnis

1 Einführung 2 Forschungsstand zu Kreativität und Ästhetik 2.1 Historische Einordnung der Arbeit . . . . 2.2 Kreativität und Ästhetik - Begriffsklärung 2.3 Die kreative Persönlichkeit . . . . . . . . . 2.4 Der kreative Prozess . . . . . . . . . . . . 2.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . .

1 . . . . .

5 5 7 12 29 43

3 Kreativität in Schule und Unterricht 3.1 Kreativität als pädagogische Ko-Konstruktionsleistung . . . . . . . . . . 3.2 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

45 57 68

4 Forschungsdesiderat, Forschungsfrage und Forschungsdesign 4.1 Zusammenfassung des Forschungsstands und der Forschungsdesiderate 4.2 Forschungsdesiderat und Forschungsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Forschungsdesign . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

69 69 71 71

5 Methodischer Ansatz der Studie 5.1 Grundannahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Datenerhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Versuchsaufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Auswahl transkriptions- und interpretationsrelevanter Passagen 5.5 Hypothesenbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6 Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.7 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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75 75 76 76 81 82 82 88

6 Teilstudie I: Darstellung der empirischen Ergebnisse 6.1 Fallanalyse Hans . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Fallanalyse Hannah . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Fallanalyse Hedwig . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Fallanalyse Herbert . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5 Fallanalyse Hubert . . . . . . . . . . . . . . . . 6.6 Fallanalyse Horst . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.7 Fallanalyse Harald . . . . . . . . . . . . . . . . 6.8 Zusammenfassung Teilstudie I . . . . . . . . .

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91 92 111 148 166 174 203 223 238

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7 Vergleich der Befunde und Hypothesen zu Teilstudie I

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Inhaltsverzeichnis 7.1 7.2 7.3 7.4

Visuelle Ästhetik versus Transformation . . . . . . . . . . . . . Kompetenzmanagement versus Fantasie . . . . . . . . . . . . . Vermeidungsverhalten versus Coping . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassender Vergleich der Hypothesen zu Teilstudie I

8 Teilstudie II: Befunde zu kreativer Ko-Konstruktion 8.1 Asymmetrische kreative Ko-Konstruktion . . . . . . . . . . . 8.2 Ko-Konstruktion von Sinn angesichts von Funktionslosigkeit 8.3 Vergleichshorizont symmetrische kreative Ko-Konstruktion 8.4 Zusammenfassende Ergebnisse Teilstudie II . . . . . . . . . .

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241 245 249 254

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259 260 274 285 291

9 Ansätze für eine theoretische Konzeption 9.1 Regulation von Unbestimmtheit als dominantes Motiv . . . . . . . . . . 9.2 Persönlichkeitsbezogene Variation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3 Einheit in Mannigfaltigkeit durch Erfassen der Stimmung . . . . . . . . . 9.4 Kreative Prozesse erfordern Mut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.5 Vermeidung von Kreativität durch alternierende Unbestimmtheitsregulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.6 Vermeidung von Inkompetenz verhindert die Anregung zu Kreativität . 9.7 Das Enigma kreativer Prozesse erzeugt Neugier . . . . . . . . . . . . . . 9.8 Unbestimmtheit als lustiger, kreativer Freiraum . . . . . . . . . . . . . . . 9.9 Kreative Prozesse als Copingstrategie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.10 Zusammenfassung der theoretischen Konzeption . . . . . . . . . . . . . .

304 307 308 312 315 323

10 Diskussion der Ergebnisse

333

297 298 298 299 301

Abbildungsverzeichnis

2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7

Phasenkonzept nach Wallas, 1927 (s.a. Vollmer, 2010) . . . . . Der Schaffensprozess apollinischer Künstler (Hertlein, 1990) . Der Schaffensprozess dionysischer Künstler (Hertlein, 1990 . . Von spezifischer Exploration zu Flow-Erleben (Vollmer, 2010). Abgleich im kreativen Prozess (Vollmer, 2010) . . . . . . . . . . Hypothesenbildung im kreativen Prozess (Vollmer, 2010) . . . Kreativer Prozess mit plötzlichem Einfall (Vollmer, 2010). . . .

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29 31 32 35 36 38 41

5.1 5.2

Material, Versuch 1, Teilstudie I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorgehen Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

79 83

6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6 6.7 6.8 6.9 6.10 6.11 6.12 6.13 6.14 6.15 6.16 6.17 6.18 6.19 6.20 6.21 6.22 6.23 6.24 6.25 6.26 6.27

Tablett Hans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Varianten Tablett Hans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zeichnung Hans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tablett Hannah . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Varianten Tablett Hannah . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zeichnung Hannah . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weitere Idee zur Zeichnung Hannah . . . . . . . . . . . . . . . . . Tablett Hedwig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Varianten Tablett Hedwig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zeichnung Hedwig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tablett Herbert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Varianten Tablett Herbert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zeichnung Herbert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erste Idee Hubert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abschließende Idee Hubert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tablett Hubert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Varianten Tablett Hubert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zeichnung Hubert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tablett Horst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erste Variante Tablett Horst. Ordnung als Haushaltsgegenstände. Zweite Variante Tablett Horst. Ordnung nach Material. . . . . . . Dritte Variante Tablett Horst. Ordnung nach Schönheit. . . . . . . Zeichnung Horst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tablett Harald . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erste Variante Tablett Harald . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zweite Variante Tablett Harald . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dritte Variante Tablett Harald . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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102 102 106 138 139 143 146 157 158 163 170 171 173 175 176 197 197 200 216 217 218 218 221 231 233 233 234

xiv

Abbildungsverzeichnis 6.28 Zeichnung Harald . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 7.1 7.2 7.3 7.4 7.5 7.6

Verlaufsschemata von Hedwig (gelb) und Horst (rot) Verlaufsschemata Harald (lila) und Hans (blau) . . . . Verlaufsschemata Herbert (türkis) und Hannah (grau) Verlaufsschema von Hubert . . . . . . . . . . . . . . . Überblick über Hedwig, Herbert, Horst und Hannah. Überblick über Hans, Harald und Hubert. . . . . . . .

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242 246 249 252 255 256

8.1 8.2 8.3

Produkt der asymmetrischen Ko-Konstruktion Hannah und Herbert . . 260 Produkt der symmetrischen Ko-Konstruktion von Hedwig und Horst . . 285 Drei Typen der Ko-Konstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293

9.1

Die plötzliche Idee wird durch Emotionen begünstigt (Vollmer, 2010) . . 319

Abstract Kreativität ist eine Schlüsselqualifikation, die zur Bewältigung der Zukunft benötigt wird. Obwohl Schulen Kreativität fördern sollen, replizieren zahlreiche Befunde, dass die Kreativität über die Schullaufbahn abnimmt. In der Studie werden 10 Lehrkräfte und 11 Schüler*innen in je drei Versuchen auf ihre individuelle Kreativität hin untersucht. Die Prozesse von sieben Untersuchungsteilnehmenden werden detailliert interpretiert. Anschließend werden sechs Untersuchungsteilnehmende mit gegensätzlichem kreativen Verhalten zur kreativen Ko-Konstruktion gebeten. Die Ergebnisse zeigen, dass kreative Prozesse ästhetisch sind, hoch variieren und über die bekannten Faktoren hinaus von der Persönlichkeit der Individuen abhängen. Die kreative KoKonstruktion gelingt nicht nur je nach Kreativität der Teilnehmenden sondern auch abhängig von ihrer Fähigkeit, die durch den Anderen hinzukommende Ungewissheit wertschätzend wahrzunehmen und aufzugreifen, die empfundene Wertschätzung zu kommunizieren und gemeinsam über den Workflow zu entscheiden. Kreative Persönlichkeiten wirken als Modell, dominantes Verhalten hemmt aber die Kreativität des Gegenübers. Even though creativity is one of the key elements in order to meet upcoming challenges of the future, multiple investigations give evidence to show that schools inhibit rather than foster creativity. In the study the individual creativity of ten teachers and eleven students was investigated. First, the processes of seven individuals were analyzed in detail. Secondly, six of the seven individuals, whose approaches had differed greatly, were asked to co-construct in a creative task. The results show that creative behavior consists of aesthetic elements, varies a lot and is in addition to known personality traits dependent on individual creative strategies. Creativity was fostered on settings of mutual appreciation, acceptance and reassurance of an appropriate workflow. On the other hand, creativity was inhibited in situations in which one or both of the participants was unable to accept and appreciate the others workflow or was not able to deal with situations of uncertainty. This was shown to be irrespective of the amount of creativity of each participant individually. Creativity serves as a model, whereas dominance inhibits creativity.

1 Einführung Kreativität stellt eine Schlüsselqualifikation unter den Qualifikationsfunktionen von Schule dar. Neben Bildung und Wissen ist sie einer der „Standortfaktoren“, an der eine demokratische, differenzierte und globalisierte Gesellschaft Interesse hat (Bildungskommission NRW, 1995; Guilford, 1950; Vygotzki, 1971). Das Leben im 21. Jahrhundert ist durch Wandel, hohe Ungewissheit und zunehmende Komplexität gekennzeichnet (Plucker/Beghetto/Dow, 2009). Deshalb argumentieren Plucker/Beghetto/Dow (2009), dass Schüler*innen besser auf ihre Zukunft vorbereitet werden müssen (Beghetto, 2010, S. 447). Kreativität weckt Hoffnungen auf das Lösen der immensen globalen Probleme des 21. Jahrhunderts, aber auch auf Innovation im Wettkampf von Wissenschaft und Forschung (u.a. Dalin, 1997; Bildungskommission NRW, 1995). Während konvergente Problemlösungen durch Algorithmen zu lösen sind, ist schöpferisches Denken eine Eigenschaft, die den Menschen besonders auszeichnet (s.a. Guilford 1968, 1968). Schöpferische Leistungen künstlerisch geprägter Kreativer werden als Ausgangspunkt der Wertschöpfung von Unternehmen und Wirtschaft gesehen. So betont die Kultusministerkonferenz (KMK) die „eminente Bedeutung der künstlerisch geprägten Kreativen für die Entwicklung der Kultur- und Kreativwirtschaft“ , die ein „dynamische[r], von Innovationen und schöpferischen Leistungen getriebene[r] Wirtschaftssektor“ sei (KMK, 2016a, S. 16). Während konvergente Problemlösungen durch Algorithmen zu lösen sind, ist schöpferisches Denken eine Eigenschaft, die den Menschen besonders auszeichnet (s.a. Guilford, 1968). Kreativität wird nicht nur als individuelle Kompetenz sondern auch als Möglichkeit der Selbstwerdung des Individuums gesehen. Um Zukunft gestalten zu können, ist die Fähigkeit zur Imagination notwendig. Das Training der Vorstellungskraft sollte deshalb nach Vygotzki eines der „herausragendsten Ziele“ von Schule sein (Vygotzki, 1967/2004; Vygotzki, 2004, orig. russ. 1967; Beghetto, 2010, S. 448). Schon Torrance stellte allerdings einen Mangel an Anerkennung und Wertschätzung von Kreativität und individuellen Ideen in Schulen fest. Eine positive Bewertung von Kreativität sei nötig, wenn kreatives Verhalten gefördert werden soll (Torrance, 1965). Nach wie vor wird kritisiert, dass Kreativität in Schulen eher gehemmt als gefördert wird. Robinson (2011) konstatiert, dass die Kreativität im Verlauf der Schulzeit sogar abnimmt (s.a. Krähenbühl, 2017; Burow, 2014). Entsprechend wird die kulturelle Bildung im Beschluss der Kultusministerkonferenz 2007 als „unverzichtbare[r] Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung junger Menschen“ bezeichnet (KMK, 2007, S. 1). Empfohlen wird, kulturelle Bildung als „gemeinsame Agenda aller an der kulturellen Kinder- und Jugendbildung beteiligten gesellschaftlichen Kräfte“ anzusehen. Zu Kompetenzen in der digitalen Welt gehöre nicht nur, eine Vielzahl von digitalen Werkzeugen zu kennen, sondern sie auch kreativ anwenden zu können (KMK, 2016b). Während die Suche nach Ursachen für den Mangel an Kreativitätsförderung in Schulen bis vor wenigen Jahren auf entsprechenden Hypothesen zum Verhalten von Lehr-

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 B. Vollmer, Kreativität – Handeln in Ungewissheit, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31142-1_1

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kräften im Unterricht basierte (u.a. Cropley, 1990), werden zunehmend auch institutionelle Rahmenbedingungen verantwortlich gemacht (u.a. Urban, 2004b, S. 83). So spricht Beghetto (2010) davon, dass „teaching to the test“ dazu führe, dass kreatives Verhalten und Denken gehemmt werde. Combe & Paseka (2012) meinen, Lehrkräfte müssten lernen, situiert kreativ zu reagieren. Sie wüssten jedoch häufig gar nicht genau, was Kreativität eigentlich ist. So zeigt sich, dass ihre Einschätzung, welche Schüler*innen kreativ sind, oft falsch ist (Beghetto, 2010). Allerdings sind die Definitionen von Kreativität aus wissenschaftlicher Sicht vielfältig und schlüssige Konzepte fehlen. Die Lückenhaftigkeit um stimmige Konzepte zeigt sich auch darin, dass der Begriff „Kreativität“ in der Kunstpädagogik1 unterschiedlich problematisiert wird. Kunstpädagoginnen und -pädagogen wenden sich gegen eine banalisierende Nutzung kreativer Techniken (Krebber, 2015). Da nicht immer geklärt ist, mit welchem Anspruch bzw. unter welchen Vor-Annahmen der Begriff eingesetzt wird, sprechen Kunstpädagoginnen und -pädagogen bspw. von schöpferischen Prozessen (u.a. bei Stenger, 2002). Die Unklarheit des Begriffs fördert andererseits, dass er jegliche Heilsversprechen bedient. Kritisiert wird deshalb die Funktionalisierung von Kreativität, der die Bedeutung der Unwägbarkeit ästhetischer Momente und des impliziten Wissens gegenübergestellt wird (u.a. Orgass (2007).2 Die Nutzbarmachung von Kreativität ließe außer acht, dass Kreativität die Bereitschaft erfordert, sich auf Unbestimmbarkeit einzulassen. Ebenso wird collaborative Kreativität als gemeinsames Einlassen auf unbestimmte Prozesse zu sehen. Folgende Kontroversen zu Kreativität werden diskutiert: Die Geniehypothese: Ist Kreativität eine grundlegende menschliche Eigenschaft, die jedem zugänglich ist oder etwas Ungewöhnliches, das Genies vorbehalten ist? Die Inkubation: Welche Bedeutung haben unbewusste Prozesse für die Ideenfindung? Entstehen kreative Ideen schrittweise oder gibt es plötzliche Einfälle? Inwiefern beeinflusst „vorsprachliches“ und „bildhaftes“ Denken im Unterschied zu sprachlichem Denken die Ideenfindung? Domänenspezifizität: Ist eine Person nur auf eine Domäne bezogen kreativ oder ist Kreativität ein generelles personenbezogenes Merkmal? Teamkreativität: Ist Kreativität eine individuelle Eigenschaft oder eine durch die soziale Gemeinschaft hervorgebrachte? Kreativität wurde lange nur als individuelle Herausforderung gesehen. Erst in den letzten Jahren sind Forscher auf kreative Teamarbeit aufmerksam geworden (u.a. Burow, 2015; Sawyer, 2007; Urban, 2004b, S. 17)). Auch die Hoffnungen an kreative Teamarbeit sind hoch gesteckt (Burow, 2015; Sawyer, 2007). Nicht ohne Grund seien so viele Nobelpreisträger Schüler*innen ehemaliger Nobelpreisträger (Simonton, 2007, S. 200ff). In kreativer Zusammenarbeit würden Potentiale entfaltet; Stärken und Schwächen ergänzten einander und führten zu ungeahnten Ergebnissen. Als Beispiel für die 1 2

Dies lässt sich u.a. seit einem Heft zum Thema in der Zeitschrift Kunst und Unterricht beobachten. Der Mannigfaltigkeit kreativer Prozesse und dem daraus resultierendem Umgang mit Unbestimmtheit wird bspw. von Reck, (2007) in seinem umfassenden Band „Index Kreativität“ zu Phänomenen in kreativen Prozessen begegnet.

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so entstehenden Flow-Prozesse werden Jazzbands herangezogen, bei denen es durch intuitive Vorgehensweisen ungeplant zu gemeinsamen Glücksmomenten kommt.3 Je vielfältiger ein soziales Netzwerk sei, desto nachhaltiger und höher sei die Produktivität (Simonton, 2007, S. 200ff). In Wirtschaftsunternehmen wird deshalb seit Jahren auf kreative Entwicklungspotentiale von Teamarbeit gesetzt. Die Förderung von Kreativität bezieht sich also nicht mehr nur auf Konstruktionsprozesse einer Person, sondern zunehmend auf Ko-Konstruktion. Die Literatur zu Ko-Konstruktion in kreativer Teamarbeit ist allerdings überschaubar. Erkenntnisse sind noch gering. Höck (2015) zeigt, dass Ko-Konstruktion hohe soziale Kompetenzen erfordert. Welche Faktoren zusammenkommen müssen, damit es tatsächlich zu gemeinsamer Konstruktion und zum im Zusammenhang mit Jazzbands beschriebenen Team-Flow kommt, ist jedoch noch weitgehend unklar. Zusammenfassend gilt Kreativität als Schlüsselkompetenz für Schüler*innen. Ihre Förderung wird gesellschaftlich, politisch und wirtschaftlich als notwendig erachtet. Sie ist unverzichtbarer Bestandteil der Persönlichkeitsentwicklung, anhand derer persönliche Krisen und gesellschaftlicher Wandel gemeistert werden können. Trotz vielfacher Forderung nach der Förderung von Kreativität in Schulen gelingt dies noch wenig. Hypothesen für die Ursachen reichen von Rahmenbedingungen zur Professionalisierung von Lehrkräften bis hin zu einem Mangel an Konzepten zu Kreativität. Große Hoffnungen werden an kreative Teamarbeit gestellt. Ko-Konstruktion rückt deshalb in den Fokus schulischen Lernens. Genauere Untersuchungen zur sozialen Ko-Konstruktion in kreativen Kontexten sind noch überschaubar. Die vorliegende Arbeit leistet in Teilstudie I als Grundlagenforschung einen Beitrag zur Klärung der Konzepte um Kreativität; es zeigt sich, dass die ästhetische Bearbeitung kreativer Ausgangslagen unabdingbar für die Förderung von Intelligenz ist. Insofern münden die theoretischen Erkenntnisse in Anwendung. Die zweite Teilstudie zur KoKonstruktion zielt von vorne herein auf Anwendung. Insbesondere im Hinblick auf Dominanz und Motivation zeigen sich drei Typen der Ko-Konstruktion, die sich - auch im Hinblick auf die Entwicklung von Produkten - erheblich voneinander unterscheiden. Die Ergebnisse stellen grundlegende Anfragen an bestehende Ansätze zu kreativer Teamarbeit. Die Geniehypothese berührt die Arbeit ebenfalls grundlegend mit der Frage, wie sich unterschiedliche Persönlichkeiten in kreativen Prozessen verhalten. Die These der Inkubation bezieht sich auf die Frage, inwiefern unbewusste Prozesse das Entstehen kreativer Ideen beeinflussen. Den Forschungsstand dazu behandle ich unter Kapitel 2.4.2. In Kapitel 2.3.4 wird der Zusammenhang von Kreativität, bildhaftem und sprachlichem Denken kreative Prozesse thematisiert. Die Frage, ob kreatives Denken domänenspezifisch stattfindet, oder ein Persönlichkeitsmerkmal ist, wird durch die drei unterschiedliche Modalitäten der Kreativität ansprechenden drei Versuche in Teilstudie I aufgegriffen. Die Ergebnisse der Studie stelle ich in Kapitel „Ästhetische Prozesse“ zur Diskussion (s. Kap. 9). Die Kontroverse um Teamkreativität wird unter Teilstudie II mit Untersuchungen zur Ko-Konstruktion behandelt (s. Kap. 3.1.3, sowie Kap. 8). Die Arbeit beginnt mit der Klärung historischer Hintergründe und Definitionen der Begriffe „kreativ“ und „ästhetisch“ . Anschließend wird der Forschungsstand zum kreativen Prozess und der kreativen Persönlichkeit dargestellt. Das dritte Kapitel gibt einen Überblick über den Forschungsstand zum Thema Kreativität in der Schule. Im 3

Interessante Forschung liefert hierzu insbesondere Sawyer (2007); Burow (2014).

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vierten Kapitel werden die Forschungsfrage und das Forschungsdesign geklärt, in Kapitel fünf relevante Aspekte zur Methodik erläutert. Das Herzstück der Arbeit stellt die darauf folgende Interpretation dar. Teilstudie I enthält eine detaillierte Analyse von sieben Prozessen der 21 Untersuchungsteilnehmenden, die jeweils aus drei Einzelversuchen bestehen (s. Kap. 7). Die Gegenüberstellung der einzelnen Fälle und Versuche dient als Grundlage für die darauf folgenden drei Ko-Konstruktionen in Teilstudie II (s. Kap. 8). Die entstehenden Ko-Konstruktionsprozesse zwischen Erwachsenen und Jugendlichen werden in Bezug auf die Frage untersucht, wie unterschiedliche Persönlichkeiten gemeinsam kreativ werden. Im anschließenden Kapitel werden theoretische Schlussfolgerungen zu ästhetischen Prozessen gezogen. Die Arbeit endet mit einem Ausblick und der kritischen Bewertung der Ergebnisse.

2 Forschungsstand zu Kreativität und Ästhetik Zur wissensbasierten Förderung von Kreativität werden detailliertere wissenschaftliche Erkenntnisse über kreative Prozesse benötigt. Im Zentrum der Arbeit steht deshalb die Untersuchung kreativer Prozesse. Auf den folgenden Seiten wird ein Überblick über den Forschungsstand zu Kreativität und Ästhetik gegeben. Neben einer Klärung der Begriffe vor dem Hintergrund ihrer historischen Entwicklung werden die kreative Person, der kreative Prozess, kreatives Denken und Handeln erläutert. In einem weiteren Kapitel wird die aktuelle Literatur zu Kreativität in Schule und Unterricht dargestellt. Dafür werden Forschungsergebnisse zu Kreativität von Schüler*innen, Kreativität von Lehrkräften und Kreativität im Unterricht vorgestellt. Anschließend wird der Begriff Ko-Konstruktion geklärt, und seine theoretischen Hintergründe mit bisherigen Befunden erörtert. 2.1 Historische Einordnung der Arbeit Die Erforschung der Kreativität geht weit zurück und hat verschiedene Ursprünge. Neben den schönen Künsten beschäftigte sich die Philosophie mit ästhetischen Fragestellungen. Heute stellt sie eine eigene Wissenschftsdisziplin dar (Metzler, 2006, S. 29). Mit dem beginnenden 20.Jahrhundert setzt sich die Psychologie mit Fragestellungen der Kreativitätsforschung auseinander. Der folgende Überblick über die entsprechenden historische Ansätze soll zum Verständnis der Debatte beitragen. Alexander Gottlieb Baumgarten (1983) beschreibt in seinem Werk „Aesthetica“ (1750/ 1758) Ästhetik als die Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis und setzt sie ins Verhältnis zur Vernunft. In seiner 1790 herausgegebenen „Kritik der Urteilskraft“ entwirft Kant eine Theorie ästhetischer Urteilskraft. Er unterscheidet zwischen dem ästhetischen Urteil und dem der Vernunft (Kant,1790).1 Kant betrachtet das Zusammenspiel von vorbegrifflicher „Einbildung“ und Verstand als wesentlich. Er unterscheidet zwischen ästhetischen Ideen, die sich sprachlich nicht darstellen lassen und Vernunftideen, denen infolge ihrer Abstraktheit keine konkrete Anschauung entspricht (Brandstätter, 2013, S. 54f.). Schiller entwickelt die Idee, dass die ästhetische Erfahrung erzieherisch wirken und befreien kann. Schiller beschreibt einen Zustand der „freien Stimmung“ , der zu Ausgewogenheit von Sinnlichkeit und Vernunft führe. Die von Schiller (1795) formulierte Hoffnung, dass im Streben nach Schönheit die Möglichkeit liegt, zu einem guten und vernünftigen Urteil zu kommen, beschäftigt die Kreativitätsforschung bis heute. So wurde der emanzipatorische Charakter ästhetischer Erfahrung vielfach aufgegriffen und hinterfragt. So erklärt Hegel, über die Schönheit der Kunst sei die Wahrheit unmittelbar erkennbar, und beschreibt in seinen „Vorlesungen über die Ästhetik“ (1835) das „sinnliche Scheinen der Idee“ (Hegel, 1835/1842, S. 130ff). Kants Idee, dass Äs1

Vorrede zur ersten Auflage, Kapitel 2, IV

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Forschungsstand zu Kreativität und Ästhetik

thetik eine Einheit in der Mannigfaltigkeit vermittelt, wird in gestaltpsychologischen Fragestellungen aufgegriffen. Der Gestaltpsychologie zufolge lassen sich psychische Phänomene nicht als eine Summe von Einzelelementen erklären, sondern sind vor dem Horizont eines ganzheitlichen, dynamischen Geschehens zu verstehen. Die gestaltpsychologischen Ansätze der Berliner und Leipziger Schule waren grundlegend für wahrnehmungspsychologische Phänomene, gehen aber darüber hinaus. Brandstätter meint schließlich, dass Kunst auf etwas Geistiges, Dahinterliegendes oder Höheres verweist (Brandstätter, 2013, S. 56; s.a. Voigt, 2005). Sowohl Baudelaire, 1975 als auch Adorno (1973, S. 182ff) stellen dagegen den Rätselcharakter kreativer Werke heraus, die etwas sichtbar machen und zugleich verstecken (s.a. Donne, 2012, S. 274). Mit seiner Überlegung, dass Kunst als Versuch, neue Ordnungen zu erstellen, zu verstehen ist, knüpft Arnheim an dieser Argumentation an (Arnheim, 1965). Fechner (1801-1887) zieht als Beispiel für diese Form der Sinnlichkeit das freie Spiel heran. Es sei nicht nur zutiefst sinnlich, sondern auch subjektiv. Lust und Unlust seien der Antrieb im Spiel (Fechner, 1876/1925; Donne, 2012, S. 274). Lust ist das Streben nach Bedürfnisbefriedigung und stellt eine angenehme Erregung dar, die durch die Erfüllung eines Bedürfnisses ausgelöst wird. Unlust entsteht, wenn ein Mangel an befriedigenden Erfahrungen besteht (Dörner, 2008, S. 407ff). Auch von Kreitler werden Lust und Unlust als Formen des Antriebs zu kreativen Prozessen beschrieben. Er geht davon aus, dass das Kunsterlebnis durch Spannungszustände motiviert wird, die schon vor dem Kunsterlebnis da waren, durch das Kunstwerk aber „aktiviert werden“ (Kreitler, 1980, S. 31). Kreitler geht von einer Homöostase-Funktion von Lust und Unlust aus, die mit Bedeutungszuschreibungen zusammenhängt (Kreitler, 1980, S. 27ff). Mit dem beginnenden 20. Jahrhundert setzt die moderne Kreativitätsforschung ein. Sie besteht aus zwei psychologischen Forschungsansätzen: der biografischen Forschung, die Berichte besonders kreativer Persönlichkeiten untersuchte und der Intelligenzforschung. In einer heute als Initialzündung geltenden Rede an die APA2 beklagt Paul Guilford 1950 den Mangel an kreativem Potential unter Wissenschaftlern und Wirtschaft (Ulmann, 1968). Er fordert, dass mehr Kraft in die Erforschung von Kreativität investiert wird. In seiner bis heute beeindruckenden Rede schreibt er schulischen Lernprozessen Transfer-Effekte zu. Obwohl er mehrfach erwähnt, dass schöpferische Kreativität selten vorkommt, geht er davon aus, dass sie erlernbar wäre, wenn ihre Hintergründe besser erforscht wären. Angeheizt wurde die Kreativitätsforschung durch den Sputnik-Schock (1957). Ausgelöst wurde der Sputnik-Schock durch den ersten künstlichen Satelliten, den die UdSSR vor den USA in den Weltraum geschickt hatte. In der Folge setzt vor allem im amerikanischen Raum eine intensive Forschungstätigkeit zu Kreativität ein. In Deutschland veröffentlicht Gisela Ulmann 1973 ein vielzitiertes Werk zur Kreativitätsförderung. Vor allem Arthur Cropley prägt in den folgenden Jahrzehnten die deutsche Literatur zur Kreativitätsförderung in Schulen. Erst seit etwa 10 Jahren finden sich Ansätze zur Förderung und Erforschung kreativer Teamarbeit. Verschiedene Kreativitätstechniken und Testverfahren gehen auf das von Guilford eingeführte divergente und konvergente Denken zurück. Während Beghetto & Plucker (2009) der Meinung sind, kreativ sei nur, wer auch kreative Produkte hervorbringt, werden im von Rüppel entwickelten DANTE-Test verschiedene kognitive Stile und 2

American Psychological Association.

Kreativität und Ästhetik - Begriffsklärung

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Denkapparate abgefragt. Urban & Jellen (1995) entwickeln den sprachfreien TSD-Z zum zeichnerischen Denken (Urban/Jellen, 1995; Urban, 2004b). Da die Vorstellungen davon, was Kreativität eigentlich ist, nach wie vor sehr ungenau sind, bleiben die mit der Entwicklung von Tests verbundenen Ergebnisse unbefriedigend (s. hierzu auch Kap. 2.3). Die Kreativitätsforschung hat zusammenfassend verschiedene Ursprünge, zu denen die Schönen Künste, die Philosophie, Psychologie und als eigener Zweig die Ästhetische Forschung gehören. Ästhetische Prozesse enthalten eine enigmatische Seite. Arnheim (1973) stellt dazu fest, dass sie mit einem Herstellen von Ordnung einhergehen. Sie hängen mit Lust und Unlust zusammen (Fechner, 1876/1925). Der Ansatz, über Kreativität eine Einheit in der Mannigfaltigkeit wahrzunehmen, geht zurück auf Überlegungen von Kant und wird in der Gestaltpsychologie aufgegriffen. Die moderne Kreativitätsforschung setzt sich etwa ab der Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert mit kreativem Denken und dem Verhalten kreativer Persönlichkeiten auseinander. Mit dem Sputnik-Schock setzt vermehrte Forschung zum Thema ein. Mit der Wende zum 21. Jahrhundert rückt das kreative Team als Potential zur Förderung von Kreativität in den Fokus. 2.2 Kreativität und Ästhetik - Begriffsklärung Der Begriff „Kreativität“ ist auf der einen Seite nur schwer zu fassen, weckt aber andererseits überhöhte Erwartungen. Von Hentig kritisiert deshalb die Unbefangenheit, mit der das Wort „Kreativität“ eingesetzt und benutzt wird. Urban & Jellen (1993) zählen Kreativität zu den vieldeutigsten und mehrdeutigsten Begriffen der Psychologie. Das Gleiche gilt für den Begriff der Ästhetik. Barck (2000, S. 308) erklärt die „Pluralität des Begriffs und seines Umfangs [...] sogar zum Kern der Debatte“ um Ästhetik. Auch Metzler meint, Ästhetik ließe sich „nicht gerne festlegen und sperr[e] sich der Definition“ (Metzler, 2006, S. V). Auf den folgenden Seiten kläre ich die Begriffe „Kreativität“ und „Ästhetik“ mit dem Ziel, für die vorliegende Arbeit einen Arbeitsbegriff von Kreativität zu entwickeln. Dieser soll im Verlauf der Arbeit konturiert werden. Da es in der vorliegenden Arbeit im Wesentlichen um den Blick auf kreative Prozesse geht, soll der mit Ästhetik zusammenhängende Begriff der Schönheit nur insoweit behandelt werden, als er für den kreativen Prozess eine Rolle spielt. Auch die Definition von „Ästhetik“ behandle ich stärker unter dem Aspekt der ablaufenden ästhetischen Prozesse, als unter dem des (schönen) Produktes. Die Definition von „Ko-Konstruktion“ greife ich in Kapitel 3.1.1 auf. Für die Definition von Kreativität gebe ich zunächst einen Überblick über Definitionen von Ästhetik, weil diese als Grundlage in verschiedene Definitionen von Kreativität einfließen. 2.2.1 Begriffsklärung Ästhetik Die Untersuchung „ästhetischer“ Fragestellungen lässt sich bis weit vor Platon und Aristoteles verfolgen. Der Begriff leitet sich vom griechischen Wort „aisthesis“ ab. Ästhetik wird aufbauend darauf als „Theorie der sinnlichen Wahrnehmung und ihrer Reflexion“ bezeichnet (Donne, 2012, S. 19; Metzler, 2004, S. 3). Als Adjektiv wird „äs-

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Forschungsstand zu Kreativität und Ästhetik

hetisch“ in der Regel mit einem Nomen verwendet, das genauer definiert, in welchem Zusammenhang das „Ästhetische“ steht. Ästhetische Erkenntnis ist an eine sinnliche und deshalb auch körperliche Erfahrung gebunden. Sie ist individuell, subjektiv und mit Emotionen verknüpft (Brandstätter, 2013). Ästhetische Momente enthalten Leerstellen, Brüche, Unwägbarkeit und Unbestimmtheit (u.a. Kneip, 2001; Kathke, 2012; Starker, 1998). Sabisch untersucht die kunstpädagogische Literatur zum Begriff „Ästhetische Erfahrung“ und stellt fest, dass er „als Platzhalter (...) für etwas Unsagbares“ fungiert. Ästhetische Erkenntnisgewinnung lässt grundsätzlich Raum für Offenheit, für Widersprüchliches und Ungelöstes. In diesem Raum bestünde die besondere Chance des kreativen Schaffens. Ästhetische Transformationen entstehen nach Brandstätter deshalb in einem „Dazwischen“ (Brandstätter, 2013, S. 145). Ästhetische Transformationen werden von Brandstätter im Übergang verschiedener Medien, wie Sprache und Bildern oder Tanz und Musik beschrieben. Im Ausdruck einer dahinter liegenden, sich im Übergang zwischen den Medien entwickelnden Bedeutung entstehen ästhetisch anregende Handlungen, Stimmungen und Wahrnehmungsprozesse, die transformieren können (ebda., S. 172ff). Baumgarten (1793) nennt dies die „Oberta Sensitiva“ , also die Überfülle des Sinnlichen, die verschwinde, wenn man sich nur klar definierten Begriffen öffne. Nach Engel (2011) kann die ästhetische Erfahrung zur Öffnung für neue Erfahrungen und einer veränderten Aufmerksamkeit, sowie zu neuen „Sinnentdeckungen und -erschließungen“ führen. Über eine „mimetische[n] Zuwendung“ könne es zu einem Aufmerken und zu intuitiven Verstehensprozessen kommen, die Entscheidungen und Handeln beeinflussen. Engel schreibt ästhetischen Erfahrungen zu, die „Freiheit eigener Entscheidung, Kritik an Bestehendem, sowie die Antizipation und Imagination von Neuem“ hervorzubringen. Dies könne, so Engel, tatsächlich eine politische Funktion haben und zur Weiterentwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse beitragen (Engel, 2011, S. 78). Adorno (1973, S. 182ff) überlegt, dass es nur durch eine Theorie, die die Erfahrung von Kunst reflektiert, möglich ist, ihrem Rätsel auf die Spur zu kommen. Kunstwerke zu verstehen bedeute, sie nochmals durch eigene Erfahrung hindurch „von innen her, gleichsam hervorzubringen“ (ebda., S. 184). Andere Autoren verweisen auf „Unbestimmheitsstellen“ (Ingarden, 1968) oder „Leerstellen“ (Iser, 1976). Diese stellen offene Räume dar, die den Leser animieren, was unklar ist, weiter zu denken, oder „Lücken“ in der Informationsverarbeitung zu füllen (Brandstätter, 2013, S. 68ff). Ähnlichkeiten und Differenzen in Erkenntniswegen werden, so Brandstätter, besonders im mimetischen Nachvollzug von Kunst deutlich. Auch Stenger (2002) meint, man könne sich einem Kunstwerk innerlich annähern und es nachvollziehen. Adorno (1973) schlägt ein Konzept der mimetischen Rationalität vor, nach dem eigene Logiken das Erkennen durch Kunst ermöglichen. Durch eine „kunstinterne formale Stimmigkeit und Folgerichtigkeit erfolge eine mimetische Annäherung an den Gegenstand der Erkenntnis“ (Brandstätter, 2013, S. 59). Differenz und Annäherung sind demnach typische Elemente der Ästhetischen Erkenntnisgewinnung. Block und Dörner (2012) untersuchen die ästhetische Rezeption in Texten anhand von zwei unterschiedlichen Übersetzungen eines Textes. „Einen Text zu lesen bedeutet, wenn man von ganz trivialen Texten absieht, ein Problem zu lösen. Man muss den Text insgesamt verstehen, muss dazu Lücken auffüllen, Annahmen machen über das was vorausging

Kreativität und Ästhetik - Begriffsklärung

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und das was folgt. Man muss herausfinden, was die Wörter jeweils bedeuten; denn je nach Kontext können sie Verschiedenes meinen. Auch sollte man herausfinden, was der Text sagen will, was die eigentliche, verborgene Botschaft des Textes ist oder sein könnte. Der Leser muss also ein Rätsel lösen, Unbestimmtheit beseitigen, muss Hypothesen über Bedeutungen konstruieren und sie wieder verwerfen.“ (Dörner/Block, 2012, S. 9). Der „Einheit in der Mannigfaltigkeit“ auf die Spur zu kommen, gelinge, wenn in einem Gebilde Gesetzmäßigkeiten syntaktischer und semantischer Art gefunden werden, die das gesamte Gebilde zu einer Einheit zusammenfügen. Dies sei ein ästhetischer Prozess. Fechner meint: „daß die Wohlgefälligkeit um so mehr wächst, ein je intensiveres oder deutlicheres Gefühl der Einheit sich durch eine je größere Mannigfaltigkeit durch erstreckt“ (Fechner, 1876/1925, S. 76). Entweder ließen sich die Elemente eines Objektes nach einem bestimmten „Bauplan“ zu einer Einheit zusammenfügen, hinter dem Objekt stehe eine Aussage, oder beides sei der Fall. Nach Boehm (2007, S. 199) enthalten Bilder ebenfalls Unbestimmtes und unterscheiden sich durch Rahmung und Kontraste, die Boehm (1994, S. 29ff) als „ikonische Differenz“ bezeichnet (Brandstätter, 2013, S. 28). Brandstätter (ebda., S. 37) bezieht sich auf Adorno (1971, S. 182), wenn sie dem Bild einen Rätselcharakter zuspricht. Das Metaphorische in Bildern werde aufgrund von Ähnlichkeiten und Differenzen konstruiert (Brandstätter, 2013, S. 121). Dadurch, dass es ein unendliches Maß an unterschiedlichen Möglichkeiten gäbe, Bilder zu konstruieren, entstünde ein weites Feld an Variationen und Widersprüchen, die sich nicht auflösen ließen (Brandstätter, 2013, S. 37). Wie Donne (2012, S. 66) erklärt, müssen ästhetische Objekte nicht unbedingt schön sein; vielmehr könne die ästhetische Rezeption als eine komplizierte Form der Unbestimmtheitsreduktion verstanden werden. Beispielsweise können Bilder von George Grosz oder Otto Dix, in denen Kriegseindrücke verarbeitet wurden, nicht als schön, wohl aber als ästhetisch bezeichnet werden. Durch die Einordnung in einen größeren Rahmen erzeugten sie damit letztlich Bestimmtheit und Lustempfinden. Auch Starker (1998) kommt in ihrer Dissertation zum Schluss, dass ästhetische Prozesse als wesentliches Merkmal die Regulation von Unbestimmtheit aufweisen. Die entworfene Theorie schließt damit an Thesen Arnheims (1965) an, der Kunst als Versuch versteht, neue Ordnungen zu erstellen. Zusammenfassend entsteht Ästhetik demnach unabhängig vom Medium durch das Spiel mit Unbestimmtheit. Ästhetische Momente lösen nach Fechner (1925) Lust und Unlust aus, sind nach Baudelaire (1975) rätselhaft und können Einfachheit in Mannigfaltigkeit vermitteln. Für die Ästhetik eines Sachverhalts ist weniger entscheidend, ob er schön ist, begrifflich, akustisch, visuell oder motorisch gespeichert wird, als inwieweit er Unbestimmtheit im Rezipienten produziert. 2.2.2 Begriffsklärung Kreativität Der Begriff „Kreativität“ geht zurück auf auf das lateinische Wort „creare“, das „schaffen“, „schöpfen“ bedeutet. Historisch ist dieser Begriff mit der göttlichen Schöpfung verknüpft und geprägt von der Ansicht, dass künstlerische Werke über sich hinaus weisen. Entsprechend geht Stenger davon aus, dass künstlerische Prozesse schöpferische Prozesse sind, die sich durch einen Dimensionen-Sprung im Erkennen auszeichnen

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(Stenger, 2002). Von Hentig verweist auf drei althochdeutsche Bedeutungen von Kreativität: Die erste geht zurück auf „schöpfen“ , „schäpfen“ , „schaffen“ , „scheppen“, das dem ethymologisch verwandten englischen „shape“ ähnelt und damit mit der Tätigkeit zusammenhängt, etwas zu formen. Als Wurzel der Kreativität sieht Robinson die Imagination. Sie sei die Fähigkeit, etwas zu erkennen, das noch nicht bewusst ist. Kreativität ist seinem Verständnis nach die Umsetzung dieser Imagination (Robinson/ Aronica, 2015, S. 118). Das Wort „Einbildung“ oder „Vorstellung“ bezieht sich auf das Bild, das man vor dem innere Auge hat. Das lateinische Wort „imaginatio“ für Vorstellung beinhaltet mit dem lateinischen Verb „imaginari“ die reflexive Bedeutung „sich ein Bild machen“. Kant definiert „Einbildungskraft“ als „das Vermögen, einen Gegenstand auch ohne dessen Gegenwart in der Anschauung vorzustellen“ (von Hentig, 2000, S. 39; Kant, 1974, S. 151). Die von Rhodes (1961) entwickelten „Four P´s of Creativity“ geben Struktur in das Phänomen Kreativität. Gemeint sind vier Bereiche, an denen sich Kreativität zeigt: das kreative Produkt, die kreative Person, der kreative Prozess und „Press“, was im Deutschen mit der Not, etwas Neues zu erfinden, übersetzt werden kann; im weitesten Sinne kann damit auch das kreative Feld (Burow, 2012) gemeint sein, das dazu beiträgt oder verhindert, dass kreative Erfindungen überhaupt stattfinden (Torrance, 1965, S. 2f.). Weitgehende Übereinstimmung besteht darin, dass Kreativität als Fähigkeit gesehen wird, etwas Neuartiges zu schaffen. Um Neuartigkeit zu messen, wird die statistische Seltenheit eines Einfalls herangezogen. Dazu werden z.B. verschiedene Ideen in einem Test miteinander verglichen. Ideen, die ansonsten selten oder nie vorkommen, werden als neuartig angesehen. Boden nähert sich dem Kreativitätsbegriff, indem er neue von kreativen Ideen unterscheidet: „Eine Idee, die (. . . ) neu ist, kann mit derselben Gruppe generativer Ideen beschrieben und/oder produziert werden, wie andere, bekannte Ideen. Eine Idee, bei der das unmöglich ist, ist wirklich ursprünglich oder kreativ“ (Boden, 1994). Mayer (1999) subsumiert im Handbook of Creativity (1999) Neuartigkeit unter Originalität und fasst die Definitionen der verschiedenen Autoren zusammen: Für Graham und Wallas (1999) zählt neben Neuartigkeit die Wertschätzung eines kreativen Produkts durch eine von außen kommende Instanz. Martindale (ebda., 1999) betont neben Originalität die Angemessenheit der Problemlösung. Lumsden (ebda., 1999) spricht eher von einer Fähigkeit, sich etwas auszudenken, das ebenfalls von anderen Menschen als bedeutend eingestuft wird. Wie Mayer meint, machen Brauchbarkeit und Originalität Kreativität aus (Mayer, 1999a). Diese Überlegung findet sich schon bei Ulmann. Sie kritisiert, dass Nützlichkeit, Angemessenheit oder Brauchbarkeit nicht messbar sind, zumal sie immer auch vor dem Hintergrund einer Zeit und Kultur, also im Sinne von Brauchbarkeit für etwas, zu denken sind (Ulmann, 1968, S. Vorwort). Pädagogische Ansätze betonen anstelle der statistischen Seltenheit, Angemessenheit oder Relevanz des Werks die individuelle Erfahrung als Bezugspunkt für Kreativität. Auch Robinson/Aronica (2015, S. 118) setzt sich anhand des Prozesses, „in dem wertvolle originelle Ideen entstehen“ mit Kreativität auseinander. Ideen müssten nicht für die ganze Menschheit neu sein, aber für den, der sie entdeckt hat. Nach Thurstone (1952) zeichnet sich eine kreative Idee typischerweise durch einen Überraschungseffekt aus (Torrance, 1965, S. 2f.). Damit rückt er den Prozess als Kriterium für Kreativität in den Blick. Dieser enthalte ebenso kritisches Nachdenken darüber, ob die Idee gut war, wie eine Unbestimmbarkeit des Prozesses

Kreativität und Ästhetik - Begriffsklärung

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selber. Ebenfalls bezeichnet Urban (2004) Kreativität als die Fähigkeit, ein „neues, ungewöhnliches und überraschendes Produkt zu schaffen“ (Urban, 2004b, S. 11). Er bezieht Erkenntnisse zur ästhetischen Erfahrung in seine Definition ein. Das Produkt stelle die Lösung eines „sensitiv wahrgenommenen Problems oder eines gegebenen Problems“ dar. Das Problem würde „mit Hilfe einer sensitiven und breiten Wahrnehmung existierender und offen zugänglicher, aber auch gezielt gesuchter Daten und Informationen durch Analyse, durch lösungsgerechte, aber höchst flexible Verarbeitung, durch ungewöhnliche Assoziationen und neue Kombinationen von Daten und Informationen und mit der Hinzunahme von Daten aus der Erfahrung oder mit imaginativen Elementen, durch Synthetisieren, Strukturieren und Kombinieren dieser Daten und Elemente zu einer neuen Lösungsgestalt (...) ausgearbeitet“ und könnte „durch Kommunikation von anderen sinnenhaft und als sinnhaft erfasst und erfahren werden.“ (Urban, 2004b, S. 11). Kreative Prozesse könnten, so Urban, „simultan auf verschiedenen Verarbeitungsund Bewusstseinsebenen ablaufen“ (ebda.). Jackson & Messick (1964/1968) thematisieren den von Kant aufgebrachten Gedanken der Einfachheit in der Mannigfaltigkeit. Aus ihrer Sicht zeichnen sich kreative Produkte durch die vier Merkmale der Ungewöhnlichkeit, der Angemessenheit, der Transformation und der Verdichtung aus. Die Eigenschaft der Ungewöhnlichkeit steht für die Neuartigkeit und Originalität des Produktes. In Angemessenheit wird einbezogen, dass eine gesellschaftliche oder persönliche Relevanz erkennbar sein muss. So soll durch das entstandene Produkt beim Betrachter oder Nutzer eine Befriedigung ausgelöst werden. Das Kriterium der Transformation bezieht sich auf den Überraschungseffekt, den kreative Produkte mit sich bringen, bezieht aber auch den Aspekt der Veränderung der Sichtweisen des Rezipienten ein. Zur Verdichtung schreiben Jackson & Messick (1968): „In der höchsten Form kreativer Verdichtung sind die polaren Begriffe von Einfachheit und Komplexität vereint.“ (Jackson/Messick, 1968, S. 102). Mit diesem Begriff von Kreativität als Transformation, der Glück und anhaltend verändernde Stimulierung bewirkt, ähneln sie dem Begriffsverständnis, das auch Ursula Stenger vertritt, wenn sie von einem Dimensionen-Sprung spricht (Stenger, 2002). So meinen Jackson & Messick (1968, S. 101), „ während die Begegnung von etwas Ungewöhnlichem vom Betrachter verlangt, das Produkt zu assimilieren, es gewissermaßen zum Teil seiner Welt zu machen, erfordert die Begegnung mit einer Transformation dass er seine Welt revidiert. (...) Ein transformierendes Produkt fordert den Betrachter auf, sich intellektuell in neue Richtungen zu bewegen.“ Sie erklären weiter, Produkte mit hoher Verdichtung seien auf „vielen Bedeutungsebenen wirksam.“ Ihnen sei „eine Intensität und Bedeutungskonzentration eigen, die ständiges Durchdenken erfordert“ (ebda., S. 102ff) und von ihnen als entschleunigtes Genießen und Auskosten beschrieben wird (Jackson/Messick, 1968).3 Csikszentmihalyi (2010) greift den Gedanken der Transformation und der Angemessenheit auf und denkt ihn weiter. So sei „jede Handlung, Idee oder Sache, die eine bestehende Domäne verändert oder eine bestehende Domäne in 3

Nach einer Übersetzung von Wolfgang Schulz in Ulmann (1968).

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eine neue verwandelt“ kreativ (Csikszentmihalyi, 2010b, S. 48). Er stellt ein systemisches Modell von Kreativität vor, bei dem die Entwicklung kreativer Ideen in einen sozialen Zusammenhang eingebunden wird: „whatever individual mental process is involved in creativity, it must be one that takes place in a context of previous cultural and social achievements“ (Csikszentmihalyi, 2014, S. 162). Bei der Domäne spielt die Kultur, für die Person der Hintergrund ihrer familiären Erfahrung und für das Feld die Gesellschaft, in der eine kreative Idee entwickelt wird, eine Rolle. Dieses Modell verändert seine Definition von Kreativität: „What we call creativity always involves a change in a symbolic system - a change, that in turn, will effect the thoughts and feelings of other members of the culture.“ (Csikszentmihalyi, 2014, S. 167). Ich lehne mich als Arbeitsbegriff an die Definitionen von Urban (2004) und Jackson & Messick (1964/1968) an. Eine Idee, ein Produkt oder eine Lösung für ein Problem ist demnach für ein Individuum originell, wenn sie ungewöhnlich oder unkonventionell ist. Anders als in diesen Aussagen wird Originalität in der vorliegenden Arbeit als Überraschungseffekt verstanden, der Originalität nicht dichotomisiert. Eine Lösung für ein Problem ist also dann originell, wenn sie einen Überraschungseffekt enthält, ungewöhnlich, unkonventionell oder alltagsfern ist und sie ist angemessen, wenn sie im Sinne einer Transformation die Sichtweise des Produzierenden verändert. Für den Arbeitsbegriff lässt sich feststellen, dass ein Gedanke kreativ ist, wenn er für das Individuum neu ist, auch wenn daraus kein Produkt entsteht. Im Rahmen dieser Arbeit ist deshalb nicht relevant, ob die Idee gesellschaftlich bedeutsam, angemessen oder brauchbar ist. Vielmehr geht es darum, jede Form von Verhalten zu beobachten und zu beschreiben, um herauszufinden, auf welche Art(en) ein Individuum Neuartiges und Originelles entdeckt. Kreativität wird zusammenfassend als grundlegende Fähigkeit des Menschen gesehen, seine Umwelt zu gestalten, Probleme zu bewältigen, aber auch völlig Neues zu schaffen und sich in diesem Sinne weiterzuentwickeln. Im Verlauf der Arbeit wird sich zeigen, in wieweit dieser Begriff weiter zu konturieren ist. Um die Forschungsergebnisse dieser Studie einordnen zu können, soll ein kurzer Überblick über für den kreativen Prozess relevante Forschungsergebnisse zur kreativen Persönlichkeit erfolgen. 2.3 Die kreative Persönlichkeit Die Auffassung, dass die Muse dem Künstler seine kreative Idee eingibt, lässt sich bis in die Antike zurückverfolgen. So findet sich in Berichten über geniale Künstler die Vorstellung einer göttlichen Eingebung wieder. Mozart soll z.B. mit drei Jahren ohne vorheriges Üben in der Lage gewesen sein, Geige zu spielen und als Erwachsener Stücke ohne jegliche Streichungen oder Verbesserungen komponiert haben. Die Annahme, dass Genies einen besseren Zugang zu kreativen Ideen haben als andere Personen, hat um die Jahrhundertwende des letzten Jahrhunderts umfassende biografische Forschung angeregt. So untersucht Catherine Cox (1926) Biografien von 300 genialen historischen Persönlichkeiten. Sie stellt einen Intelligenzquotienten mit einem Schätzwert von 154 fest und beobachtet Merkmale wie Beharrlichkeit, Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und Charakterstärke (Cox, 1926). Der historiometrische Ansatz stellt den Versuch dar, Künstler unter Rückgriff auf biographisches Material zu untersuchen. Ein Problem dieses Ansatzes besteht darin, dass es sich um in ihrem

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Werk einmalige Personen handelt, die kaum zu vergleichen sind. Trotzdem gibt es übereinstimmende Erkenntnisse aus ihren Biografien. Dies bestätigt auch eine Studie von Taylor & Holland (1964), in der versucht wurde, über den Lebenslauf Voraussetzungen für die Entwicklung von Kreativität zu erfassen. Demnach stammten die Probanden aus Familien mit besonderen Akzenten auf intellektuellen Interessen und dadurch verbundenen vielseitigen intellektuellen Anregungen wie Lesen oder Reisen oder Tagträumen (Taylor/Holland, 1964). Guilford (1950) differenziert divergentes von konvergentem Denken, betont jedoch, dass auch konvergentes Denken wichtig für kreatives Schaffen ist. Entsprechend wird zunehmend die Auffassung vertreten, dass sowohl divergentes als auch konvergentes Denken eine Rolle für die kreative Ideenfindung spielen (Urban, 2004b; Weisberg, 1989). Guilford charakterisiert Kreativität als Offenheit für neue Erfahrungen, als Fähigkeit zu Originalität, zu Problemsensitivität, Flüssigkeit und Flexibilität im Denken, zu Redefinition und Elaboration. Mit Problemsensitivität ist gemeint, dass Probleme besonders gut wahrgenommen und elaboriert werden; Flüssigkeit im Denken bezeichnet die Fähigkeit, unterschiedliche „Ideen, Symbole und Bilder“ zu entwickeln; mit „Flexibilität“ im Denken ist die Bereitschaft, „gewohnte Denkschemata“ zu verlassen, Bezugssysteme zu wechseln und Informationen unterschiedlich einzusetzen, gemeint; mit Redefinition eine neue Interpretation von Objekten oder Sachverhalten; Elaboration meint eine explorative Herangehensweise in der konkreten Ausgestaltung einer noch vagen Idee (Stemmler et al., 2011, S. 218f.; Guilford 1968, 1968). Nach Laux (2008, S. 313) unterscheiden sich kreative von weniger kreativen Persönlichkeiten vor allem durch hohe Offenheit für neue Erfahrungen, die mit Ambiguitätstoleranz, also der Fähigkeit Vieldeutigkeit zu ertragen, verbunden ist. Wie Maier et al. (2007) feststellt, zeichnen sich kreative Persönlichkeiten durch hohe Selbstsicherheit, geringe Gewissenhaftigkeit und durch hohe intrinsische Motiviertheit aus. Auffallend sei geringe Konventionalität, die sich als Nonkonformismus zeige. Diese könne zwar, so Maier et al. (2007), auf die Erwartungen des Kunstmarktes zurückzuführen sein. Das erkläre allerdings nicht deren hohe Werte in den Bereichen Dominanz und Eigenwilligkeit bis hin zu Unverträglichkeit. Kreative Persönlichkeiten haben die Fähigkeit, Widersprüche, Unverträglichkeiten und Unstimmigkeiten zu erkennen. Sie sind zu einer hohen Flüssigkeit im Denken in der Lage, das heißt, sie können in kurzer Zeit viele Ideen produzieren; dazu zeigen sie eine hohe Flexibilität im Denken, also die Fähigkeit zur Neuorganisation von Wissen und zum Abruf von Wissen aus verschiedenen Kategorien. Daneben können kreative Persönlichkeiten nach Schuler & Görlich (2007) nebensächliche von entscheidenden Lösungsansätzen unterscheiden. Sie zeichnen sich durch eine hohe Motivation und eine überdurchschnittliche Frustrationstoleranz aus. Dazu verfügten kreative Persönlichkeiten über breites und gründliches Wissen und die Fähigkeit, Ideen kommunizierbar zu machen (Schuler/Görlich, 2007, S. 11ff; Vollmer, 2010, S. 11). Eine der bedeutendsten Studien zu Persönlichkeitsmerkmalen kreativer Persönlichkeiten ist die Studie MacKinnons (1964), in der die 40 kreativsten Architekten der USA mit zwei Kontrollgruppen verglichen wurden. Die erste Kontrollgruppe bestand aus 43 Architekten, die Mitarbeiter der kreativsten Architekten waren; die zweite Gruppe aus 41 Architekten, die niemals mit einem der benannten kreativen Architekten zusammengearbeitet hatte. Die kreativeren Architekten erwiesen sich als signifikant

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femininer (was als sensibler für Gefühle interpretiert wird); ästhetische Gesichtspunkte waren ihnen eindeutig wichtiger als ökonomische, sie waren weniger sozial und weniger selbstkontrolliert (MacKinnon, 1968, S. 166ff). Insbesondere im Hinblick auf Introversion und Extraversion sind die Ergebnisse zur Erforschung der kreativen Persönlichkeit allerdings auch uneinheitlich. Cattel/ Eber/Tasuoka (1970) stellt mithilfe des 16-Persönlichkeits-Faktoren-Tests zusätzlich zur Intelligenz besonders hohe Werte in den Merkmalen Empfindsamkeit und Selbstgenügsamkeit, Dominanz, Selbstsicherheit, Unkonventionalität und Offenheit für Veränderungen fest. Geringe Werte zeigten die Probanden im Hinblick auf Kontaktorientierung, Lebhaftigkeit und Zurückhaltung (Schuler/Görlich, 2007, S. 11ff). Joachim Hertlein (1990) sieht Zusammenhänge zwischen dem Schaffensprozess von Künstlern und ihrer Persönlichkeit. Wie Hertlein feststellt, hängt der emotionale Ausdruck der Werke mit der Persönlichkeit der Künstler zusammen. Er ermittelt bei 48 Künstlern aus der Umgebung Bambergs anhand des Freiburger Persönlichkeitsinventars, dass diese „depressiver, weniger gelassen, weniger dominant, gehemmter und weniger maskulin“ sind (Hertlein, 1990, S. 192). Amabile (1983) konzeptualisiert Kreativität nicht als Persönlichkeitsmerkmal, sondern als Verhalten, das „aus bestimmten Konstellationen persönlicher Charakteristika, kognitiver Fähigkeiten und sozialer Umwelten resultiert“ (Amabile, 1983).4 Sie nennt drei Hauptkomponenten: erstens bereichsrelevante, zweitens kreativitätsrelevante, sowie drittens motivationale Faktoren. Diese stünden in Wechselwirkung zueinander, wobei verschiedene interne und externe Faktoren zusammenspielten. Im Anschluss an solche Überlegungen entwickeln Urban & Jellen (1995) einen Test, der Kreativität unabhängig von sprachlichen Kompetenzen erfasst. Die Teilnehmenden bekommen ein Blatt, auf dem sich unfertige Linien und Formen befinden. Die Aufforderung ist, diese weiter zu zeichnen. Die Auswertung des TSD-Z erfolgt anhand der folgenden 14 Kriterien: 1. Weiterführung von Elementen (1 Punkt) 2. Ergänzungen oder Ausgestaltungen (je 1 Punkt) 3. Neue Elemente (1-6 Punkte) 4. Zeichnerische Verbindungen (je 1 Punkt, max. 6 Punkte) 5. Thematische Verbindungen (je 1 Punkt, max. 6 Punkte) 6. Figur-abhängige Begrenzungsüberschreitungen (je 1 Punkt, max. 6 Punkte) 7. Figur-unabhängige Begrenzungsüberschreitungen (6 Punkte) 8. Perspektive (je 1 Punkt, max. 6 Punkte) 9. Humor, bzw. Affektivität, Emotionalität oder expressive Kraft (0-6 Punkte) 10. Unkonventionalität A: physische Manipulation des Materials (3 Punkte) 11. Unkonventionalität B: Fiktion durch abstrakte oder surreale Elemente (3 Punkte) 12. Unkonventionalität C: Verwendung von Zeichen oder Symbolen zusätzlich zum Titel (3 Punkte) 4

Übersetzung nach Urban, 2004b, S. 47

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13. Unkonventionalität D: für Nichtverwenden von Stereotypen (3 Punkte, davon je ein Punkt Abzug) 14. Zeitfaktor ab einem „bestimmten schöpferischen Niveau“. Bewusst geht es bei dem Test nicht um die Auswertung technischer, zeichnerischer oder künstlerischer Fähigkeiten (Urban/Jellen, 1995). Urban & Jellen (1995) berichten von einer Interrater-Reliablität von r=.89 bis r.97; Krähenbühl (2016) stellt eine Interrater-Reliablität von ICC(2.1)= .749 fest (two-way random, single measure). Er sieht die Einschätzung einer konvergenten Validität jedoch kritisch, weil „kaum vergleichbare Instrumente zur Gegenüberstellung herangezogen werden können“ (Krähenbühl, 2017, S. 139). Auch die Test-Retest-Validität muss kritisch gesehen werden, da das Blatt bei einer Wiederholung lediglich um 90° gedreht wird und Lerneffekte oder Effekte von Langeweile und Neuorientierung auftreten können. Die Ergebnisse fallen mit einer Varianzbreite von .47 tatsächlich unterschiedlich aus. Urban & Jellen sehen eine Ursache in unterschiedlich homogenen Stichproben. Dukat & Piesbergen (2009) verglichen allerdings die Testergebnisse im TSD-Z einer Künstlergruppe mit einer Kontrollgruppe. Dabei kamen sie zu kritischen Befunden, die das Konzept, das hinter dem Test steht, hinterfragen. So lagen die Testergebnisse der Künstlergruppe im Mittelwertvergleich über dem der Kontrollgruppe. Signifikant bessere Ergebnisse lagen nur bei wenigen Bewertungskriterien vor, nämlich Humor und Affektivität, Begrenzungsüberschreitung (figurabhängig), Verbindungen (thematisch) und bei der unkonventionellen Behandlung des Materials. Diese Kriterien lassen sich zu den häufig genannten Persönlichkeitseigenschaften Nonkonformismus, antiautoritäres Verhalten, Risikobereitschaft, Mut und Humor kreativer Persönlichkeiten in Beziehung setzen. Ausgehend von Nonkonformismus war allerdings davon ausgegangen worden, dass die Streuung bei Künstlern höher sein müsste. Bis auf die Skalen Ergänzungen und neue Elemente traf dies zu. Im Punkt „thematische Verbindungen“ schnitt die Künstlergruppe sogar weniger hoch ab als die Kontrollgruppe. Dies wurde auf die Konzeption besserer SinnGestalten zurückgeführt. Konsequenzen für den Test wurden bisher nicht gezogen. In Bezug auf Bewertungskriterien, die auf kognitive Aspekte fokussieren, unterschieden sich die Versuchsgruppen kaum. Zusätzlich wurden von Piesbergen & Dukat folgende Kriterien untersucht: gegenständlich versus abstrakt; Wohnlichkeit und Idylle versus andere Themen; sowie Einmaligkeit versus Vergleichbarkeit von Elementen. In allen drei Fällen verwendeten Künstler erwartungsgemäß die Dimensionen einmalig, andere Themen und abstrakt. Wohnlichkeit und Idylle traten dagegen verstärkt in der Kontrollgruppe auf. Deutlich wird, dass Ambiguitätstoleranz zur Verwendung von Licht und Schatten führt, und dazu, dass Widersprüche stehen gelassen werden können (Dukat/Piesbergen, 2009, S. 9ff). Anders als im TSD-Z selber, zogen die Autoren für die Messung von Einmaligkeit die jeweiligen Bilder in ihrer Gesamtkomposition zum Vergleich heran. Die Befunde zeigen Unklarheiten zum hinter dem TSD-Z stehenden Konzept von Kreativität auf. Urban (2004) entwickelt ein Komponentenmodell der kreativen Persönlichkeit, mit dem er auf den Aufsatz von Amabile (1983) reagiert (ebda.). Mit dem Komponentenmodell trägt Urban der Erkenntnis Rechnung, dass der kreative Prozess nicht aus einzelnen Elementen besteht, sondern dass diese als funktionales System zusammenwirken.

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Im Komponentenmodell beschreibt Urban Kreativität als Balance von Gegensätzen (Urban, 2004b, S. 36ff). Das Komponentenmodell besteht aus zwei Ebenen. Die eine Ebene enthält divergentes Denken, eine allgemeine Wissens- und Denkfähigkeitsbasis, sowie eine (bereichs)spezifische Wissens- und Fertigkeitsbasis, die den kognitiven Bereich repräsentiert. Auf der anderen Ebene werden drei personale Komponenten der Fokussierung und Anstrengungsbereitschaft, Motivation und Offenheit, sowie Ambiguitätstoleranz berücksichtigt (Urban, 2004b, S. 47f.). Die Ebenen des Modells sind so organisiert, dass eine spiralförmig sich ausweitende Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen nachvollziehbar wird. Ausgehend von der kindlichen Neugier und dem Spiel wird davon ausgegangen, dass sich Kreativität bis zum Erwachsenenalter voll entfalten kann. Außerdem enthalten die Ebenen eine Entwicklung von einer individuellen zu einer gruppenbezogenen und zu einer gesellschaftlich-historischen Dimension (ebda., S. 50). Zur weiteren Erforschung von Kreativität sind nach Joas (1992/96) Handlungsmodelle nötig, über die sowohl Emotionen als auch Dynamiken erfasst werden können (Joas, 1996). . Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Erforschung der kreativen Persönlichkeit noch zu undifferenziert bleibt. Übereinstimmung besteht darin, dass sich kreative Persönlichkeiten durch eine hohe Problemsensitivität, hohe Offenheit für neue Erfahrungen, Ambiguitätstoleranz, Flexibilität und Flüssigkeit im Denken und eine ausgesprochene intrinsische Motivation auszeichnen. Amabile schlägt vor, Kreativität als Zusammenspiel aus persönlichen Charakteristika, kognitiven Fähigkeiten und sozialen Umwelten so zu konzeptualisieren, dass Einzelelemente zu einem ineinandergreifenden Verhalten führen. Der Begriff „Verhalten“ bezeichnet nach dem Lexikon der Psychologie „jede physische Aktivität eines Individuums - z.B. Handlungen, Bewegungen, aber auch Erlebnisprozesse wie Denken.“ Die widersprüchlichen Ergebnisse zur kreativen Persönlichkeit werden im Komponentenmodell von Urban (2004) als Balance von Gegensätzen aufgegriffen. Joas (1992/96) fordert deshalb zur Erforschung von Kreativität die Entwicklung von Handlungsmodellen, die sowohl Emotionen als auch Dynamiken erfassen. Im Folgenden schlage ich hierfür das Ψ-Modell von Dörner (1999/2001/2008) vor. 2.3.1 Kreatives Verhalten im Ψ-Modell (Dörner 1999/2001) Zur Beschreibung der Dynamiken kreativen Verhaltens eignet sich das Ψ-Modell von Dörner (1999/2001/2008). Mit dem Ψ-Modell ( 1999) entwickelt Dörner ein Modell der menschlichen Handlungsregulation, mit dem sich Dynamiken im Verhalten darstellen lassen5 . Ψ ist ein künstliches Wesen, das sich in Computersimulationen übertragen lässt. Es kann Informationen aufnehmen, verarbeiten und sein Handeln regulieren. Kognitive, emotionale und motivationale Komponenten fließen ebenso in die Handlungsregulation von Ψ ein, wie Wahrnehmungen. Dörner (2008) geht im Ψ-Modell davon aus, dass die Handlungsregulation ein kompliziertes neuronales Gefüge ist, in dem sowohl die Erfüllung von Bedürfnissen, als auch Kognitionen, sowie Motivation und Emotionen eine Rolle 5

Im Rahmen dieser Arbeit ist es nicht möglich, das Modell in seiner gesamten Komplexität zu beschreiben, deshalb sei hier auf die vereinfachte Darstellung der für die spezifizierte Interpretation relevanten Inhalte an anderer Stelle, etwa Vollmer (2010); Dörner (1998), verwiesen.

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spielen. Anhand des Ψ-Modells lassen sich deshalb auch ästhetische Prozesse beschreiben (Dörner, 2008, S. 20). Neben existentiellen Bedürfnissen wie Hunger, Durst oder Schlaf spielen sexuelle Bedürfnisse eine Rolle für das körperliche Wohlbefinden. Für die vorliegende Beschreibung kreativer Prozesse sind vor allem die drei psychischen Bedürfnisse wesentlich: das Bedürfnis nach Bestimmtheit, nach Kompetenz und nach Affiliation. Das Bedürfnis nach Bestimmtheit wird in kreativen Prozessen beeinflusst, weil diese Unklarheiten enthalten, die als mangelnde Kontur oder Komplexität wahrgenommen werden. Infolge dessen kann kein passender Erwartungshorizont gebildet werden. Es entsteht das Bedürfnis, die entstandene Unbestimmtheit zu beseitigen. Die Regulation des Bedürfnisses nach Kompetenz wird beeinflusst, weil kreative Prozesse einerseits die Möglichkeit bieten, sich selbstwirksam zu erfahren, andererseits aber eine gewisse Menge an Kompetenz nötig ist, um sich darauf einzulassen. Das Bedürfnisses nach Affiliation wird durch die Anerkennung anderer Menschen gestillt. Wertschätzung und Anerkennung kann dazu ermutigen, sich auf die ungewisse Situation des kreativen Prozesses einzulassen. Die dargestellten Bedürfnisse folgen einer Heterostasefunktion. Werden Bedürfnisse nicht ausreichend erfüllt, entsteht Handlungsbereitschaft. Für die Handlungsregulation von Ψ sind drei psychische Modulatoren entscheidend: Die Aktivierung steuert die innere Bereitschaft zu handeln; der Auflösungsgrad die Differenziertheit und Schnelligkeit, mit der Entscheidungen getroffen werden. Die Selektionsschwelle schließlich beschreibt die Dringlichkeit, mit der Motive verfolgt werden. Die Ausprägung der Reaktion hängt von der Persönlichkeit und dem aktuellen Grad der Bedürfnisbefriedigung ab. Kreative Persönlichkeiten reagieren auf wachsende Unbestimmtheit mit kreativem Verhalten und erzeugen damit neue Gedächtnisund Verhaltensstrukturen. 2.3.2 Motivation und Emotion als Grundlage kreativen Handelns Starker und Dörner (1997) stellen fest, dass sich Verhalten nur dann erfolgreich vorhersagen lässt, wenn „Merkmale der ablaufenden kognitiven Prozesse mit Merkmalen des emotional-motivationalen Zustands“ verbunden werden (Starker/Dörner, 1997, S. 252). Das Wort Motivation stammt aus dem Lateinischen und bedeutet „bewegen“. Motivation bezeichnet also die Lehre über das, was Menschen in Bewegung setzt oder dazu bewegt, etwas in Angriff zu nehmen und zu tun. Motivation wird von Rheinberg (2004, S. 15) als „aktivierende Ausrichtung des momentanen Lebensvollzugs auf einen positiv bewerteten Zielzustand“ definiert. In der Motivationspsychologie wird zwischen Motivation und Motiven unterschieden. Motive entstehen nach Dörner (2008, S. 307) aufgrund von einem Bedürfnis, das zu befriedigen ist und einem Handlungsziel, das angestrebt wird. Sie können sich persönlichkeitsbezogen unterscheiden und sind durch die jeweilige Wahrnehmung und Bewertung von Umweltereignissen bestimmt (Rheinberg, 2008, S. 62ff). Motive sind vom bisherigen Erfahrungshorizont geprägt, der eben diese Wahrnehmung und Interpretation des Ereignisses beeinflusst. Unterschieden wird zwischen Zuständen, sogenannten „states“ die mit Emotionen verbunden sind und Verhalten auslösen und länger andauernden Verhaltenseigenschaften, die als „trait“ bezeichnet werden. Für die Erwartung und das Bilden einer

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Absicht ist das subjektive Erleben entscheidend. Deshalb lässt sich Motivation auch als Zug-und-Druck-Prinzip beschreiben. Während Angst davon abhalten kann, ein Ziel anzustreben, kann Begeisterung dazu motivieren, es zu erreichen (Rheinberg, 2008, S. 15). „Für die Leistungsmotivation ist das Zusammenwirken von Erwartung und Wert (Anreiz) ausschlaggebend. [...] Die Erwartung ist die subjektive Wahrscheinlichkeit, eine Aufgabe zu bewältigen. Der Anreizwert einer Leistung ist in der Hauptsache ein Effekt, nämlich Stolz über die erbrachte Leistung. Da Stolz mit dem Schwierigkeitsgrad einer bewältigten Aufgabe zunimmt, steigt der Anreizwert mit sinkender Erfolgswahrscheinlichkeit. Ebenso wächst der Misserfolgsanreiz mit sinkender Misserfolgswahrscheinlichkeit an. Auf diese Weise bewegt sich die Leistungsmotivation im Konfliktfeld zwischen Hoffnung auf Erfolg und Furcht vor Misserfolg.“ (Oerter, 1998, S. 787). Über die Definition von Emotion herrscht weitgehend Uneinigkeit. Das Wort „emotio“ stammt aus dem Lateinischen und bedeutet „das Gefühl“. Eine übliche Unterscheidung von Emotionen ist die nach Affekt, Gefühl und Stimmung. Ein Affekt bezeichnet eine kurzfristige, intensive Emotion, die mit kurzfristigem Kontrollverlust verbunden ist. Das Wort Gefühl steht dagegen für die eher subjektiv geprägte Erlebnisqualität einer Emotion. Stimmungen werden häufig als alltägliche, ‚low-level‘Emotionen behandelt. Die gestaltpsychologische Figur-Grund-Unterscheidung eignet sich zur Beschreibung von Stimmungen. Demnach gleichen Stimmungen dem Grund, der die darauf stehenden Formen und Farben beeinflusst, von diesen aber auch beeinflusst wird. Stimmungen dauern länger, sind weniger intensiv als Emotionen oder Affekte und beziehen sich weniger auf konkrete Ereignisse (Otto/Euler/Mandl, 2000, S. 12ff). Hemholtz und Poincaré beschreiben im Zusammenhang mit kreativen Prozessen ein Gefühl, dass etwas nicht passt. Ähnlich wird die ästhetische Wahrnehmung eines Problems beschrieben. Auch gibt es Befunde, nach denen das Bauchgefühl eine entscheidende Rolle für Lösungsfindungen in komplexen Settings wie auch kreativen Prozessen spielt. Diese Beschreibungen führen zu der Fragestellung, wie über implizite Wissensbestände Lösungen gefunden werden und intuitive Vorgehensweisen zum Ziel führen. Wie Rothemund & Eder feststellen, regulieren Emotionen „Kognition, Motivation und Verhalten und wirken so auf zielgerichtete Handlungen zurück“ (Rothemund/Eder, 2009, S. 677). Positive Emotionen hingen mit appetitiven Annäherungs-, negative mit Vermeidungstendenzen zusammen. So könnten aversive Reize zur Unterdrückung von appetitivem Verhalten führen und umgekehrt (ebda., S. 676). Laut Krapp & Weidemann signalisieren Emotionen dem Handelnden, ob und wie eine Situation seinen Bedürfnissen, Zielen, Motiven und Kompetenzen entspricht. Auch Scherer (1981) stellt die Vermittlung zwischen Umweltsituationen, Ereignissen und dem Individuum in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. Nach Ulich sind Emotionen „subjektive Erfahrungstatsachen bzw. Bewußtseinsinhalte, die persönliche Betroffenheit und Engagement in unseren Beziehungen zur Welt ausdrücken“ (Ulich, 1989, S. 82). Ulich fordert als Forschungsmethode Einzelfalldiagnostik über längere Zeiträume hinweg. Entwicklungsbedingungen von Emotionen müssten beschrieben werden (Ulich, 1989, S. 116). Zur Überprüfung von Zusammenhangshypothesen sei es notwendig, Methoden zu

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entwickeln, die anwendungsorientiert, alltags- und erlebnisnah sind, und Hypothesen und Theorien dazu zu entwickeln (Ulich, 1989, S. 118-120). Auch Hascher/Edlinger bemängeln (2004, S. 134), dass zu wenig über die Funktion der einzelnen Emotionen bekannt ist. Sie fordern eine Analyse [der Emotionsintensität] auf der Basis von Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen, sowie die Erfassung der wechselseitigen Zusammenhänge zwischen Emotion, Kognition und Motivation in ihrer gesamten Komplexität. Eine Schwierigkeit an der Erforschung von Gefühlen ist nach Dörner, dass sie nicht einfach punktartig sind, sondern verschiedene Gefühle beinhalten, sich verändern und eher subjektiv erkennbar sind. Dörner stellt Gefühle als Modulationen von Verhalten dar. Sie könnten auf Lösungen für Probleme hindeuten und Hinweise geben, was zu tun oder zu lassen ist. Gefühle verhalten sich demnach im Verhältnis zu „Wahrnehmungen, Planungen oder Handlungen und so fort wie Farben oder Formen zu den Gegenständen (...). Alle psychischen Prozesse sind (...) moduliert; sie laufen mit einem bestimmten Auflösungsgrad ab, mit einer bestimmten Sicherungsschwelle, einem bestimmten Konzentrationsgrad und einer bestimmten Aktivierung. Die Gefühle sind die spezifische Form der psychischen Prozesse.“ (Dörner, 2008, S. 565) Dörner (2008) unterscheidet Emotionen in 1. eine Antizipation, d.h. das Empfinden einer Erwartung, die einen unklaren Hintergrund hat und Lust oder Unlust bereiten wird; 2. ein Motiv mit noch unklarem Zielzustand; 3. Empathie oder Austausch von Legitimations-Signalen (Dörner, 2008, S. 559). Auch von Piaget (1981, S. 5) werden emotionale Prozesse als Energielieferanten für das Funktionieren kognitiver Prozesse gesehen. Zur Kognition gehörten verschiedene Phänomene der Informationsverarbeitung wie Aufmerken, Lernen, Speichern, Erinnern, Abstrahieren, und Problemlösen. Wahrnehmen, Erinnern, Vorstellung, Denken und Sprechen. So erklärt auch Ciompi Emotion, Kognition und Verhalten hängen untrennbar miteinander zusammen (Ciompi, 1997, S. 78). Thomae geht davon aus, dass „nicht nur Kognitionen Emotionen regulieren, sondern, dass Emotionen und Motivationen auch Inhalt, Form und Dynamik der kognitiven Systeme beeinflussen.“ (Thomae, 1996, S. 9). Mandl (1983, S. 2f.) fordert entgegen dem Modell des Widerstreitens von Fühlen und Handeln, dass Emotion und Kognition im wechselseitigen Beziehungsverhältnis erfasst werden. Ciompi (1997) folgert aus der Beschäftigung mit chaos-theoretischen Erkenntnissen, dass das Affektsystem grundlegend anders arbeitet, als das Kognitionssystem (Ciompi, 1997, S. 121). Während in der Kognition neuronale und sensorische Gemeinsamkeiten und Unterschiede erfasst und verarbeitet würden, beeinflussten „untergründige affektive Komponenten die Kognitionen ständig und in vielerlei Weise“ (Ciompi, 1997, S. 120). In subtiler Weise werde Denken durch Emotionen organisiert, strukturiert und

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hierarchisiert. So könne eine Flut sensorischer Informationen „hochwirksam und kontextadäquat“ in ihrer Komplexität reduziert und ökonomisch verarbeitet werden (ebda.). Ciompi belegt dies mit der alle Körperfunktionen beeinflussenden Wirkung von Furcht-Angst-Systemen (LeDoux, 1993), sowie mit der durch Elektroden hervorgerufenen Lust von Ratten (Routtenberg, 1978). An fünfzehn kreativen Prozessen von zwei Künstlern zeigt sich, wie über Emotionen Bedürfnisse reguliert und Ansätze zu Lösungen erkennbar werden. „Die Angst vor der Konfrontation mit diesen Emotionen verlangt dem Künstler zunächst Überwindung [...] ab, belohnt aber bei Erfolg mit einem Produkt, einem Lösungsansatz zu einem Problem und erfüllten Bedürfnissen“ (Vollmer, 2010, S. 79). Die von Vollmer (2010) untersuchten Künstler gehen in ihren künstlerischen Prozessen so vor, dass sie sich anhand vager Vermutungen, Stimmungen und Emotionen ausdrücken und mit Hilfe ihrer Emotionen letztlich Sachverhalte klären. Die Motivation in kreativen Prozessen wird durch unterschiedliche Emotionen, Stimmungen, Gefühle und vage Vermutungen bestimmt. Typisch ist das von Csikszentmihalyi (1975) zuerst bei Künstlern beobachtete Flow-Erleben. Kreative Persönlichkeiten zeichnen sich nicht zuletzt wegen dieses Erlebens durch besonders hohe intrinsische Motivation aus (Vollmer, 2010, S. 96ff). Ich gehe im folgenden davon aus, dass sie wie von Dörner beschrieben, das Wahrnehmen, Handeln und Denken im kreativen Prozess „wie Farben oder Formen zu Gegenständen“ beeinflussen. 2.3.3 Wahrnehmung und Aufmerksamkeit Kreative Prozesse basieren auf Wahrnehmungen, die im Wechselspiel von Rezeption und Produktion zu neuen Erkenntnissen führen (Vollmer, 2010) (s.a. Kap. 2.3.5). Während Hegel davon ausgeht, dass die Wirklichkeit durch die Wahrnehmung eins zu eins im Gehirn abgebildet wird, entwirft Kant eine Theorie, nach der die Speicherung im Gehirn in Form von Begriffen, also in mehr oder weniger abstrakten Konstruktionen erfolgt. Die Mannigfaltigkeit der Erfahrung werde nur begrenzt abgebildet und unterscheide sich je nach Konstruktion und Erfahrung des Einzelnen. Die Wahrheit einer Erfahrung werde durch die Begründung, also durch eine inter-subjektive Kommunikation darüber, validiert. Arnheim erklärt in einem Interview mit Uta Grundmann (2000):6 „Sehen und Wahrnehmen sind ja kein Prozeß, der passiv registriert oder reproduziert, was in der Realität vor sich geht. Sehen und Wahrnehmen sind aktives schöpferisches Verstehen. - Sie müssen sich das folgendermaßen vorstellen: Wenn wir etwas betrachten, dann greifen wir danach, wir bewegen uns durch den Raum, berühren Dinge, ertasten ihre Oberfläche und Umrisse. Und unsere Wahrnehmung strukturiert und ordnet die von den Dingen gegebenen Informationen zu bestimmbaren Formen. Wir verstehen, weil dieses Strukturieren und Ordnen ein Teil unserer Beziehung zur Wirklichkeit ist. Ohne Ordnung können wir gar nicht verstehen.“ (Arnheim, 1965). 6

die Literaturangabe findet sich in Kunst und Sehen im Vorwort.

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Nach Dörner (2008, S. 134) bedeutet „Wahrnehmen“ , etwas in der Außenwelt (in der Psychologie gewöhnlich„Reiz “ genannt) mit einem Gedächtnisinhalt in Beziehung zu setzen. Das Erkennen eines Stuhls besteht in erster Linie darin, ein bestimmtes Muster von physikalischen Reizen mit einem Gedächtnisinhalt zu vergleichen und zu dem Ergebnis zu kommen, dass es in das Schema passt “ . Wahrnehmungen werden nach Dörner in Form von Schemata gespeichert. Ein Schema ist eine Aneinanderreihung von Musterdetektoren, die in Einzelteile zerlegt und in ihrer Lage und Relation durch Verbindungen zueinander definiert werden.7 Eine Reihung sensorischer und motorischer Einheiten folgt z.B. einem Schema, mit dem basale Verhaltensweisen dargestellt werden können. Bei der Wahrnehmung werden Gedächtnisprotokolle abgetastet und Hypothesen über die Beschaffenheit des Gegenstandes und die Relation der einzelnen Einheiten zueinander gebildet. Anschließend wird die Hypothese überprüft; es kommt zu Abtastprozeduren und zu einer neuen Hypothese dazu. „Wenn du etwas wahrgenommen hast, bilde eine Hypothese, wovon es ein Teil sein könnte. Und dann prüfe nach, ob dies der Fall ist. Wenn ja, setze die Prüfung fort, wenn nein, wechsle die Hypothese!“ (Dörner, 2008, S. 148). Während des Abtastprozesses können räumliche und zeitliche Schemata abgefragt werden. Diese können durch die Lage im Raum, durch Entfernungen, Konturen oder Kontraste zueinander berechnet werden (Dörner, 2008, S. 172). Komplizierte Schemata werden aus mehreren Schemata gebildet, die miteinander verbunden sind. Die Entscheidung, welches Schema als nächstes abgetastet wird, verläuft hierarchisiert und iterativ (also bottom up in einen immer größer werdenden Zusammenhang einordnend) oder rekursiv (also top down, sich immer stärker verschachtelnd). Über die darin enthaltenen Informationen wird auch der Nebensinn oder mitschwingende Konnotationen gespeichert (Dörner, 2008, S. 234). Mit Zunahme der Gedächtnisspeicher zum vierbeinigen Tier können Schemata z.B. weiter differenziert werden. So kann ein Kind, das einen Hund sieht, lernen, dass es auch ein Hund ist, wenn die Beine sehr kurz sind, oder wenn die Ohren hängen, statt zu stehen. Außerdem wird etwas über die Bedeutung des Beobachteten gelernt. So lernt das Kind vielleicht, dass ein Hund bellen und das Kind bewachen kann, oder dass er beißen kann. Damit lernt es etwas darüber, wie es sich verhalten soll, wenn es einen Hund sieht. Im Anschluss an Gottlob Frege (1848-1925) unterscheidet Dörner Bedeutung von Sinn. Nach dem Basisdreieck von Ogden und Richards (1960) wird das Objekt selber durch einen Referenten dargestellt. Die damit verbundenen Gedanken werden als Referenz bezeichnet. Der Referent wäre demnach die Bedeutung, die damit verbundene Referenz der Sinn. Ogden und Richards erklären dies am Beispiel des Abend- und Morgensterns. Von der Bedeutung her handelt es sich um den gleichen Stern, die Venus. Der Sinn des Morgensterns ist aber etwas ganz anderes, als der des Abendsterns (Dörner, 2008, S. 225ff). Folgend halte ich mich an diese Terminologie. Sinn wird also durch mit dem wahrgenommenen Objekt verbundene Gedächtnis7

Dörner spricht in diesem Zusammenhang von Interknoten und Subknoten, die die Relation der Schemata zueinander definieren (Dörner, 2008, S. 109ff).

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oder Verhaltensschemata erzeugt, die in Ganzes- oder Abstrakt-Konkret-Hierarchien geordnet sind. Sie können mit unterschiedlichen Situationsschemata zusammenhängen und insofern auch mit der Befriedigung von Bedürfnissen. Die Begegnung mit einem Hund kann sehr schön sein und das Bedürfnis nach gemeinsamem Spiel und Nähe befriedigen, sie kann aber auch mit einem Biss und Schmerz enden. Entsprechend wird die Wahrnehmung eines Hundes je nach bisheriger Wahrnehmung und Erfahrung angenehme oder unangenehme Gefühle, bzw. Lust oder Unlust hervorrufen und Verhaltensschemata wie Flucht oder Streicheln aktivieren (Dörner, 2008, S. 229). Die beschriebenen Verarbeitungsprozesse können je nach Bedarf langsam oder schnell ablaufen. Je nach Zeit, die zur Verfügung steht, verändert sich der Auflösungsgrad und die Abtastschritte erfolgen häufiger oder seltener. Dies führt zu einer holzschnittartigen oder differenzierteren Wahrnehmung. Aktuelle Beobachtungen werden zunächst in einem Situationsgedächtnis gespeichert; das nächste Vorhaben wird anhand von Erwartungen gebildet, mit dem Entwurf von Absichten eingeleitet und das daraufhin erfolgende Verhalten kann über ein Protokollgedächtnis überprüft werden. Dort lässt sich rekapitulieren, ob die Handlung zielführend war (Dörner, 2008, S. 513ff). Das Arbeitsgedächtnis besteht also aus vier Bereichen: Dem Situationsbild, dem Erwartungshorizont, dem Absichtsgedächtnis und dem Protokollgedächtnis (Dörner, 2008, S. 513ff; Vollmer, 2010, S. 27ff). Auch Allesch geht davon aus, dass Wahrnehmen ein „aktives ‘Strukturieren’ des Wahrnehmungsfeldes“ ist (Allesch, 2004, S. 19). Allesch setzt sich mit Arnheims Überlegungen auseinander und schließt sich damit an die Erkenntnisse der Gestaltpsychologie an, nach der sich ein Ganzes nicht durch die Beschreibung seiner Einzelteile darstellen lässt (Allesch, 2004, S. 9f.). Demzufolge ist das Ganze etwas anderes, als die Summe seiner Teile (Allesch, 2004, S. 18). Sehen sei kein „mechanisches Aufzeichnen von Sinneseindrücken“, sondern „schöpferisches Begreifen der Wirklichkeit“8 . Er beschreibt dies am Beispiel des menschlichen Gesichtes folgendermaßen: Gewöhnlich verstehen wir unter Wahrnehmung das Erfassen von Gestalt, Entfernung, Farbe und Bewegung. Man erinnert sich eher an ein Gesicht als gespannt, aufmerksam und konzentriert, anstatt sich zu merken, es sei dreieckig, habe schräge Augenbrauen, gerade Lippen usw.“ (Arnheim, 1965, S. 388). Dörner (2001, S. 376ff) ist der Meinung, dass „die Wirkung des „Schönen“ nicht von [...] deren Gesetzen oder Ordnungsprinzipien selbst [...], sondern von deren unbestimmtheitsvermindernder Entdeckung“ abhängt. Der Wechsel vom Chaos zu einer gegen einen Widerstand gefundenen Ordnung löse Lust aus. Man versuche, eine syntaktische oder semantische Ordnung zu finden, die weder zu einfach noch zu disharmonisch sein dürfe. Eine Einheit in der Mannigfaltigkeit zu finden bietet demnach die Chance zu einer Balance zwischen Eintönigkeit und Chaos. Tatsächlich können Vollmer und Donne (2012) zeigen, dass der durch den kreativen Prozess entstehende Wechsel zwischen Unbestimmtheit und Bestimmtheit Lustgefühle und das Empfinden von Schönheit auslöst (Donne 2012, 2012, S. 259; Vollmer, 2010). Wahrnehmung kann als Aufnahme und Verarbeitung von Reizen beschrieben werden. Arnheim bezeichnet es als „schöpferisches Verstehen“ (Arnheim, 1965), das in 8

Allesch zitiert Arnheim in seiner ersten Ausgabe von „Visual Thinking“ von 1969, wo er das menschliche Denken mit einem Computer vergleicht. Der Computer löse komplexe Problemlösungen „von unten“, die „menschliche Gestaltbildung“ erfolge dagegen „ von oben“, d.h. „vom Ganzen her zu den Teilen“ (Arnheim, 2001, dt. 1969, S. 78; Allesch, 2004, S. 8).

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einem rezeptiven und produktiven Prozess abläuft. Im von Dörner (2008) vorgestellten HyPercept werden Hypothesen zu den Wahrnehmungen gebildet. Kreative Prozesse sind Antworten auf intensive Wahrnehmungen, die zu einer bestimmten Form geordnet werden. Dieser Vorgang reduziert Unbestimmtheit und ermöglicht, die subjektiv richtige Balance zwischen Eintönigkeit und Chaos zu finden. . 2.3.4 Die Bedeutung von visuellen Schemata und Sprache für den kreativen Prozess Daneben misst Arnheim Bildern eine grundlegende Bedeutung für das Weltverstehen zu. „Bilder imitieren nicht die Wirklichkeit, sie deuten sie an. Sie haben die Fähigkeit, das Wesentliche sichtbar zu machen, und sind damit ein fundamentales Prinzip, die Welt zu verstehen.“ (Arnheim, 1965)9 . Arnheim meint, dass Bilder entscheidende Inhalte sehr deutlich auf den Punkt bringen können und damit Erkenntnis über deren Bedeutung erzeugen. Bis heute ist allerdings ungeklärt, wie dies geschieht. Gedanken beinhalten also Bilder oder Töne, die sich für die Erkenntnisgewinn eignen, aber nur schwer in eine andere Gedächtnisform zu übersetzen sind. Jede dieser Gedächtnisformen besteht also aus eigenen sensorischen Schemata, die eine besondere Art der Aussage enthalten. Der Erkenntnisgewinn durch Bilder wird von Kunstpädagogen und -pädagoginnen folgendermaßen beschrieben (s.a. Kap. 2.2.1): Bilder unterscheiden sich von ihrer Umgebung durch Rahmung und Kontraste.10 Sie haben nach Brandstätter (2013, S. 37) einen metaphorischen Charakter und sind in ihrer auflösbaren Vieldeutigkeit enigmatisch. Bilder zeichneten sich durch Ähnlichkeiten und Differenzen aus, sie enthielten keine Negationen und formulierten keine Hypothesen. Vielmehr würden sie als Evidenz ohne Widersprüche wahrgenommen. Bilder erzeugen demnach durch ihre Vieldeutigkeit Unbestimmtheit, sie werden durch Vergleich entschlüsselt und ihnen wird intuitiv ein besonderer Wahrheitsgehalt zugesprochen. Es zeigt sich also zusammenfassend, dass auch Bilder Unwägbarkeiten enthalten. Gedächtnisstrukturen, die Sprache und Bilder repräsentieren, wechseln einander ab, greifen ineinander und ergänzen sich. Sie lassen sich nicht voneinander trennen. Die Ansicht, dass visuelles Denken sich von sprachlichem grundlegend unterscheidet, scheint demnach überholt. Die Konstruktion von Bedeutung besteht dagegen aus einem Wechsel zwischen sprachlichen und nichtsprachlichen Gedächtnisspeichern. Die Entwicklung von Vorstellungen beeinflusst die Erkenntnisgewinnung und künstlerisches Wollen. Welche Rolle Bilder und Sprache für das Denken spielen, soll im folgenden Absatz erläutert werden. Block und Dörner meinen ebenfalls, dass Bilder Bedeutung für das Denken haben. In von ihnen untersuchten Geschichten zeigen sie dazu die Relevanz von Bildern für Sprache auf. „Auf jeden Fall muss man betonen, dass die Erzeugung von Bildern und Bildkombinationen eine große Rolle spielt“ (Dörner/Block, 2012, S. 15). Sie beziehen sich in ihrer Argumentation auf Platon, der der Meinung war, dass „Sprache in hohem Ma9

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Wie oben schon erwähnt nach einem Interview mit Uta Grundmann (2000). Die Literaturangabe findet sich in Kunst und Sehen im Vorwort, zitiert wird nach Ingrid Scharmann - Ordnung, Ausdruck und Medien in der ästhetischen Theorie Rudolf Arnheims s.a. Gottfried Bohm, der zur Bezeichnung dieses Phänomens den Begriff der „ikonischen Differenz“ verwendet

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ße mit Bildern“ zusammenhängt: „So erkläre ich mich denn auch einverstanden damit, daß noch ein anderer Werkmann in uns auftritt. Ein Maler, der nach dem Schreibkünstler die Bilder jener Gespräche in die Seele einzeichnet“ (Plato/Frede, 1997, S. 39b). Dabei enthält Denken nach Block und Dörner ebenso sprachliche wie nichtsprachliche Gedächtnisspeicher. „... die Assoziationsflut, die durch Bilder ausgelöst wird, erscheint uns keineswegs nur sprachlicher Art“ (Dörner/Block, 2012, S. 15). Sie kommen zum Ergebnis, dass Bilder kein rein bildhaftes Geschehen sind, sondern dass Sprache Bilder erzeugt (Dörner/Block, 2012, S. 15). Nach Block und Dörners Auffassung sind Bilder und Sprache miteinander verwoben. Die Bedeutung von Worten erschließe sich häufig aus Bildern und dem damit zusammenhängenden assoziativem Umfeld. Sprache sei ein Werkzeug, mit dessen Hilfe sich neue Bilder erstellen ließen, die Bilder flexibel verwendbar mache und die Neukombinationen ermögliche (Dörner/Block, 2012, S. 7). Künz spricht von einem „Sprach-Bild-Zyklus, in dem die flexiblere Sprache und die inhaltsreicheren und plastischeren Bilder sich abwechseln und ergänzen.“ (Künzel, 2004, S. 58). Dörner stellt Denken als ein „inneres Gespräch der Seele mit sich selbst“ dar. Der Denkende befinde sich in seinen Gedanken auf einer Meta-Ebene, auf der er seine bisherigen Handlungen hinterfrage und aufarbeite. Diese Gespräche fänden in einer Art Wort-Bild-Zyklus statt. Detailreichere, plastische Bilder wechselten sich mit flexibleren sprachlichen Repräsentationen ab. Dörner und Wearing (1995) stellen dieses „Gespräch der Seele mit sich selbst“ als ARASKAM-Prozess vor. ARASKAM steht für Allgemeine, Rekursive, Analytisch-Synthetische Konzept-Amplifikation. Gemeint ist ein rekursiver Prozess, der sich in drei Schritten beschreiben lässt (Künzel, 2004, S. 57): 1. „Durch eine fehlende Information wird eine Was-Frage ausgelöst. Diese führt zu einer Konkretisierung des Gesuchten oder zu einer Abstrahierung (d.h. Rückführung auf einen Oberbegriff). 2. Über Koadjunktionen und Analogieschlüsse werden im ersten Schritt gefundene Informationen integriert. 3. Im dritten Schritt wird die Einbettung der Informationen in einen größeren Kontext eingearbeitet.“ Damit wird Denken insgesamt abstrakter, aber auch reichhaltiger. Neben die direkte Erfahrung tritt die durch Nachdenken erkannte Information. So können auch Informationsbrüche, also Lücken in der Informationsverarbeitung durch die Konstruktion von Szenarien geschlossen werden. Das Bild der Welt kann durch Sprache abstrakter gefasst werden, was die Möglichkeit zu Analogie-Schlüssen und letztlich die geistige Flexibilität verbessert. Gleichzeitig werde die in Gedanken beschriebene Welt individueller, da verschiedene Menschen verschiedene Informationslücken auch verschieden ergänzen. Die Bedeutung von Worten werde durch den Unterschied ausgelöst, den geringfügige Veränderungen in der Konnotation auslösen können. Chomsky beschreibt Sprache als Werkzeug, das unendliche Möglichkeiten enthält, um seine Gedanken auszudrücken und um in unendlich vielen Situationen angemessen reagieren zu können (Jones, 2016, S. 18): „it provides the means for expressing indefinitely many thoughts and for reacting appropriately in an indefinte range of new situations“ (Chomsky 1965, S. 6).

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Kommunikationskompetenz hänge, so Jones, zutiefst damit zusammen, zwischen den Zeilen lesen zu können und das kreative Potential, das die Ambiguität von Sprache bietet, zu nutzen. Viele Studien belegen, dass Ambiguitätstoleranz etwas ist, das Erlernen einer Sprache erleichtert. Lerner mit hoher Ambiguitätstoleranz könnten besser akzeptieren, dass das, was man sagt, unterschiedlich interpretiert und verstanden werden kann. Bedeutung entstehe im Zusammenspiel von Semantik, Syntax, Pragmatik, Morphologie und Phonologie. Sprache ermöglicht den Ausdruck und die Erzeugung von Unklarheit, Vielschichtigkeit, Unwägbarkeit, Ungenauigkeit, Undifferenziertheit und Schwammigkeit. Selbst wenn wir meinen, etwas klar auszudrücken, muss das Gegenüber Rückschlüsse daraus ziehen und eine eigene Konstruktionsleistung erbringen. In vielen Kontexten kann es sehr wichtig sein, mit der Sprache Ambiguität auszudrücken (Jones, 2016, S. 23f.). Zusammenfassend lassen sich Denken, Sprache und Bilder nicht voneinander trennen. Durch Sprache wird Denken abstrakter, aber auch reichhaltiger. Die durch Nachdenken erkannte Information ermöglicht, dass Lücken in den Informationen durch Konstruktion geschlossen werden. Das Bild der Welt kann durch Sprache abstrakter gefasst werden, dies verbessert die Möglichkeit zu Analogie-Schlüssen und letztlich die geistige Flexibilität. Zur Analyse des eigenen Handelns und zur VerhaltensVeränderung ist Sprache eine wichtige Voraussetzung und flexibel einsetzbares Mittel.

2.3.5 Kreativität als Lösung eines Problems Dörner schlägt zur Beschreibung kreativer Probleme die Unterscheidung in offene und geschlossene Probleme vor. Offene Probleme zeichnen sich durch hohe Unklarheit des Endzustands, durch Lückenhaftigkeit und durch Unklarheit der Mittel, wie diese zu erreichen sind, aus (Dörner, 1979, S. 14ff). Ein Problem wird von Dörner als innerer oder äußerer Zustand definiert, in dem sich ein Individuum befindet, den es „aus irgendwelchen Gründen nicht für wünschenswert hält, aber [bei dem es] nicht über die Mittel verfügt, um den unerwünschten Zustand in den wünschenswerten Zielzustand zu überführen.“ (Dörner, 1979, S. 10). Von Partey (2013) werden Probleme als „gedankliche Gebilde“ beschrieben, die auftreten, „wenn wir auf der Grundlage unseres bisherigen Wissens weiterführende Fragen stellen, die zwar [...] plausibel“ sind, aus dieser Grundlage heraus aber „nicht beantwortet werden können“ (Parthey, 2013, S. 13). Jedes Problem sei ein „Wissen über Situationen“, in denen das verfügbare Wissen nicht genügt, [um] Ziele erreichen zu können, und [das] deshalb zu erweitern ist“ (ebda.). Schon bei Platon und Aristoteles sei das Problem ein wichtiger Begriff, der „Wissen über ein Nichtwissen“ bezeichne (Parthey, 2013, S. 14). Der Raum, in dem die Lösung für ein Problem gesucht wird, weist demnach unbekanntes Terrain auf (ebda.). Auch von Brandstätter (2013, S. 68ff) werden Leerstellen, Lücken und Unwägbarkeiten als zentrales Element kreativer Prozesse beschrieben, bei denen Lösungswege und Lösungen häufig unbekannt sind (s.a. Ingarden, 1968; Iser, 1976). Kreative Probleme sind damit offene Probleme. Dörner grenzt Probleme von Aufgaben ab. Aufgaben bestehen nach Dörner (1979) aus „geistige[n] Anforderungen, für deren Bewältigung Methoden bekannt sind“. Während Aufgaben reproduktives Denken erfordern, „muß für ein Problem (...) Neues geschaffen“werden.

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Je nach Situation, in der das Problem zu lösen ist, braucht der oder die Problemlösende verschiedene Fähigkeiten. Um Neues zu entdecken, muss z.B. das Problem möglichst genau definiert, oder auf Widersprüchlichkeiten hin untersucht werden. Um eine Lösung zu finden, muss der oder die Problemlösende eine Barriere überwinden. Die Mittel zur Umsetzung einer Idee können entweder völlig unbekannt sein, oder durch Synthetisieren an sich bekannter Möglichkeiten umgesetzt werden. Daneben werden zur Konstruktion neuer Gedächtnis-Schemata heuristische Strukturen gebraucht; eine heuristische Struktur ist ein inneres System von Meta-Operatoren, durch die die Konstruktion von Operatoren möglich wird. Der Begriff stammt vom griechischen Wort „heureka“, „finden“ab und geht auf einen Ausruf von Archimedes zurück, dem in der Badewanne die Idee eingefallen war, wie er feststellen konnte, ob das Gold der Krone von Syrakus II. durch billiges Metall gestreckt worden war. Zur Lösung von Problemen, bei denen unbekanntes Terrain Teil der Lösung ist, sind also Entdeckungsund Umstrukturierungsheurismen notwendig (ebda., S. 77). Die primitivste Form eines Heurismus ist Versuchs-Irrtum-Verhalten, bei dem nach dem Prinzip des „trial and error“ Verhalten ausprobiert wird. Bisher gemachte Erfahrungen können zur Lösung hilfreich sein, andererseits aber auch hinderlich. Bei einem Verbotsirrtum werden mögliche Lösungen nicht einmal ausprobiert, weil sie erkennbaren Details einem bestimmten funktionalen Rahmen zugeordnet werden. Wenn wir an einen Stuhl denken, denken wir beispielsweise an Sitzen, nicht etwa daran, dass er als Blumenbeet dienen könnte. Duncker (1935, S. 102ff) spricht hier von heterogen funktionaler Gebundenheit.

Urban (2004) verweist auf die historisch gewachsene Lücke zwischen Kreativitätsund Intelligenzforschung und schlägt vor, die Kreativitätsforschung durch Theorien und Forschung zum komplexen Problemlösen, wie sie von Dörner durchgeführt wurden, zu ergänzen. Tatsächlich weisen kreative Anforderungen einige der für komplexe Probleme typischen Eigenschaften auf. Ein Sachverhalt ist komplex, wenn er eine Vielfalt an Verknüpfungen beinhaltet, die nicht mehr einfach überschaubar sind. Daraus ergibt sich Intransparenz. Die mangelnde Vorhersehbarkeit wird durch eine im Prozess sich entwickelnde Dynamik hervorgerufen. Während diese Faktoren auch auf kreative Problemlösungen zutreffen, besteht ein deutlicher Unterschied in dem Ausmaß an Zeitdruck. Kreative Problemlösungen zeichnen sich i.d.R gerade durch Muße und Vorhandensein von Zeit aus; die Vorstellung, dass Ideen sich in einem kreativen Raum entfalten, bezieht sich deshalb auch auf einen schöpferischen Zeitraum.

Zusammenfassend sind kreative Probleme offene Problemstellungen, die sich dadurch auszeichnen, dass entweder das Produkt, oder auch der Weg zum Produkt unbekannt sind. In vielen Fällen muss sogar die Aufgabenstellung selber gefunden werden. Es gibt also keine vorgefertigten Lösungen zur Bewältigung kreativer Probleme. Das Lösen kreativer Probleme erfordert deshalb heuristische Kompetenzen und metakognitive Strategien und entfaltet sich in einem Prozess, der aus einem Wechselspiel von Rezeption und Produktion besteht. Urban (2004) empfiehlt, sich zur Erforschung von Kreativität näher mit der Lösung komplexer Probleme zu beschäftigen. Folgend gehe ich von einem offenen Problemlösebegriff aus.

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2.3.6 Handeln in unbekanntem Raum Kreatives Handeln ist damit Handeln in unbekanntem Raum. Etwas zu schaffen, das vorher in dieser Form noch nicht existiert hat, bedeutet zunächst, dass man Vorstellungen entwickeln muss, die anschließend verfolgt oder verworfen werden. „Vorstellungen sind“, so Dörner, „keine Fakten, sondern gewissermaßen ‘Faktoide’, Gebilde, die der Fall waren, oder auch vielleicht einmal der Fall sein könnten“ (Dörner, 2001, S. 199). Dörner überlegt, dass die Darstellung von Vorstellungen im Grunde ein umgekehrter Ablauf des HyPercept sei, bei dem die Schemata mit ihren Verbindungen auf eine Art Mattscheibe projiziert würden. Diese könnte aus einem zweidimensionalen Feld von Neuronen bestehen, das „beschrieben“ werden könnte. Die Projektion auf eine Fläche hätte mehrere Vorteile: Erstens könnten über die Projektion Objekte neu kombiniert, verformt und erzeugt werden, und zweitens könnten implizite Merkmale, die über die Minimalstruktur von Schemata hinausgehen, erfasst werden (Dörner, 2001, S. 202). Bei der Frage, welche Vorstellungen verworfen und welche verfolgt werden, entstehen verschiedene Handlungsalternativen: Das Auswahlproblem bezeichnet die Frage, welche die Richtige ist; das Richtungsproblem, in welche Richtung man überhaupt suchen soll; mit dem Abbruchproblem ist die Frage gemeint, wann man mit einer Suche nach einer Lösung aufhören soll und das Fortsetzungsproblem stellt die Frage dar, wie oder wo eine neue Planung einsetzen könnte. Das Ziel kann dabei mit der gegenwärtigen Situation verglichen und die Verringerung der Zieldistanz als Annäherung an eine Ähnlichkeit herangenommen werden (Dörner, 2008, S. 500). Dörner schlägt vor, dass die Zielsetzung mit Hilfe einer Auswahl von Makrooperatoren geschieht. Diese könnten handlungsleitend in eine Richtung weisen und müssten durch eine Hintergrundkontrolle ergänzt werden, bei der ständig überprüft wird, ob noch das richtige Ziel angestrebt wird (Dörner, 2008, S. 493). Auch wäre es möglich, die Verminderung der Distanz zu einem Ziel als Hinweis für den richtigen Weg zu werten (Dörner, 2008, S. 500). Dazu müsste man allerdings das Ziel kennen, sich vorstellen oder erahnen können. Die Ähnlichkeit des Ziels wäre ein Kriterium, anhand dessen sich feststellen ließe, ob man einem Ziel näher kommt und ob dieser Weg der richtige ist. Hat man ein klares Ziel vor Augen, ist es nach Dörner (2008, S. 504ff) möglich, rückwärts zu vorzugehen. Möchte man schnell sein, kann man auf eine „Tiefe zuerst“Strategie setzen. Sie birgt den Nachteil, dass man vielleicht das eine oder andere übersieht, dafür ist man schnell. Gibt es keine Umwege zur Lösung des Problems bietet sich eine „Hill-Climbing-Stategie“ an, bei der die Annäherung an das Ziel durch eine Verringerung der Distanz zum Ziel gemessen werden kann. „Versuch und Irrtum“ wäre eine Strategie, die sich auch in höchstem Chaos noch anwenden lässt. Explorieren ist „jede Aktion, die zur Bildung neuer Gedächtnisschemata und Verhaltensprogramme führen kann“ (Dörner, 2008, S. 507). Durch Beobachten werden neue Gedächtnisschemata angelegt; durch Ausprobieren lernt man dazu. Um die Wirksamkeit der Strategie zu kontrollieren und nicht womöglich in die falsche Richtung zu explorieren, muss das Verhalten immer wieder in Reflexionsprozessen überwacht werden. Dörner/Drewes/Reither (1975) zeigen in einer Studie, dass Selbstreflexion einen erheblichen qualitativen Unterschied macht, der aber keinen höheren Zeitaufwand pro Lösungsschritt erfordert. Ihre Probanden lösten Probleme an einem Apparat, ohne dass ihnen bekannt war, welche Wirkung die zu bedienenden Knöpfe des Apparates hatten

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(Dörner, 1987, S. 133ff). Dörner vermutet, dass der Erfolg der Überwachung in der Zerlegung globaler Prozessuren in Einzelteile und deren Neuintegration zu heuristischen Strukturen liegen könnte. Auf diese Art könnten sich die Probanden ein reichhaltigeres Inventar an Verhaltensweisen schaffen (Dörner, 1987, S. 135). Wenn man eine Uhr auseinandernimmt, weiß man hinterher mehr darüber, wie sie funktioniert; man macht sich Gedanken darüber und kommt zu Ergebnissen, die man testet und verwirft. Dabei steigt die Kompetenz, und es entsteht ein Lustgefühl. Freud nannte Denken deshalb „internalisiertes Probehandeln“ (ebda.). Jens Rasmussen (1983) untersuchte Arbeitsverhalten in kritischen Situationen. Drei Verhaltensweisen kristallisierten sich heraus: „fähigkeitsgeleitetes“, „regelgeleitetes“ und „wissensbasiertes“ Handeln (skill-based, rule-based und knowledge-based behaviour). Fähigkeitsgeleitetes Verhalten ist automatisiertes Verhalten, bei dem auf vorgeprägte sensomotorische Koordinationen zurückgegriffen werden kann. Bei regelgeleitetem Handeln werden Regeln auf eine neue Situation übertragen und angewendet. Bevor man das richtige Verhalten konkret anwenden kann, muss die Situation diagnostiziert werden. Wissensgeleitetes Handeln besteht aus Wissen über das zu erreichende Ziel, es fehlt aber das Verhaltensprogramm. Das heißt, wie man genau zum Ziel kommt, ist unklar. Bei wissensgeleitetem Verhalten werden aus elementaren Einheiten neue Verhaltensprogramme erstellt (Dörner, 2008, S. 510). In risikoreichen Situationen, so Dörner, werden alle drei Verhaltensweisen der Reihe nach durchprobiert. Als Sinnbild für die Abfolge von Verhaltensprogrammen eignet sich der Vergleich mit einer Leiter. Die so genannte Rasmussen-Leiter dient dazu, dass man auf ihr herauf- oder herunterklettern kann, bis man eine Lösung gefunden hat oder aufgibt. Verschiedene Operationen werden also aneinandergereiht, bis das gesetzte Ziel erreicht wird. Wenn weder fähigkeitsgeleitetes noch regelgeleitetes Verhalten Erfolg hatte, wird wissensbasiertes Verhalten angewandt. Ähnlichkeiten und Differenzen können nach Brandstätter auch im mimetischen Nachvollzug von Kunst erkannt werden. Von Adorno wird das Konzept der mimetischen Rationalität vorgeschlagen, nach dem eigene Logiken das Erkennen durch Kunst ermöglichen. Durch eine „kunstinterne formale Stimmigkeit und Folgerichtigkeit erfolgt eine mimetische Annäherung an den Gegenstand der Erkenntnis“ (Brandstätter, 2013, S. 59). Friedrich Theodor Vischer beschreibt Mimesis als Nachahmung von Gefühlen, die bei der Rezeption eins Kunstwerks auftreten können. Dadurch werden die subjektiven, der Reflexion des Betrachters zugänglichen Gefühle in den Mittelpunkt gerückt. Nach Wulf (2017, S. 144) sind „mimetische Prozesse (...) keine bloßen Körperund Imitationsprozesse, sondern Prozesse der Nachbildung und des eigenständigen und produktiven Lernens “ . Mimetisches Verhalten bezeichnet die Fähigkeit, sich einer Sache, Welt oder einer Person ähnlich zu machen und sie nachzuahmen. Durch das ästhetische Wahrnehmen und Ausdrücken von inneren Bildern, Imaginationen, oder Erzählungen stellt es eine Möglichkeit dar, sich diese andere Welt anzueignen (ebda., S. 148). Vollmer (2010; Vollmer, 2012; Vollmer, 2016b; ?, , ?, ) beobachtet an Tagebucheinträgen von Künstlern und Künstlerinnen, wie diese in Abgleich-Prozessen vage Vorstellungen entwerfen und sich ihnen schrittweise annähern. Der Prozess der Problemlösung kann als Kreislauf von der Setzung eines Ziels zur immer wiederkehrenden Überprüfung und Verbesserung des bisher Erreichten dargestellt werden. Anders ausgedrückt, kann

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dieser Prozess auch als Wechsel zwischen Wahrnehmung und Gestaltung zwischen Kunstwerk und Künstler beschrieben werden (Palagyi (1925, zit.n. von Weizsäcker). Viele Künstler beschreiben, dass sich das Kunstwerk dabei ihnen gegenüber verselbstständigt und eine eigene Dynamik entwickelt (Rubinstein, 1946, dt. 1968). Kreatives Verhalten kann zusammenfassend als Handeln in ungewissen Situationen, bei denen Wege und Ziele unbekannt sind, beschrieben werden. Um Handeln zu können, müssen Vorstellungen zum Ziel gebildet werden. Dies ist möglich, indem exploriert wird, indem an das Ziel angenähert wird oder indem Makro-Operatoren gebildet werden. In sich wiederholenden Kreisläufen wird das entstehende Produkt verbessert. 2.4 Der kreative Prozess Die Erforschung des kreativen Prozesses setzt mit Graham Wallas ein, der 1926 „The Art of Thought“ veröffentlicht. Er stellt ein grundlegendes, in vier Phasen verlaufendes Modell vor, auf das bis heute in den verschiedenen Modellen zum kreativen Prozess zurück gegriffen wird.

Abbildung 2.1: Phasenkonzept nach Wallas, 1927 (s.a. Vollmer, 2010) Wallas Vorstellungen sind vor allem durch eine Rede des Physikers Hemholtz (1891) geprägt, der unterschiedliche Phasen in seiner wissenschaftlichen Arbeit beschreibt. Demzufolge bestehen kreative Prozesse aus vier Phasen. Sie beginnen mit einer Präparationsphase, durchlaufen eine Inkubations-, eine Illuminations- und schließlich eine Verifikationsphase. 1. In der Präparationsphase, die aus der bewussten und systematischen aber erfolglosen Analyse eines Problems in alle Richtungen besteht, wird auf das gesamte persönliche und soziale Wissen einer Person zurückgegriffen. 2. In der darauf folgenden Inkubationsphase werden die Ideen regelrecht ausgebrütet. Es entsteht ein beklemmendes Gefühl der Unruhe, der Frustration und der Minderwertigkeit (zit. n. Landau, 1971, S. 88), ohne dass sich eine Lösung auftut. In dieser Phase bearbeitet das Gehirn die Fragestellungen unbewusst. 3. In der Illumination entstehen unerwartet und ohne Anstrengung plötzliche Ideen. Ruhe und Zufriedenheit sind das Kennzeichen dieser Phase, die eigentlich als

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Forschungsstand zu Kreativität und Ästhetik Ablenkung empfunden wird. Typische Zitate zu Ideenfindung aus dieser Phase sind: „They came particularly during the slow ascent of wooden hills on a sunny day.“ oder „...the final idea came to him ‘with the same caracteristics of conciseness, suddenness and immediate certainty´ “ (Wallas, 1927, S. 54). Unter starker Gefühlsbeteiligung entsteht die starke Motivation zur sofortigen Realisierung und Umsetzung der Idee. Das normale Aktivitätsbewusstsein wird in diesem Moment ausgeschaltet. Viele Künstler beschreiben diese Phase mit dem Gefühl, Werkzeug einer überpersönlichen Macht zu sein und die Idee passiv zu empfangen. 4. In der Verifikationsphase, die Wallas aus Beschreibungen Poincarés schlussfolgert, wird das Ergebnis schließlich überprüft und korrigiert (Wallas, 1927, S. 80ff.).

Laut Wallas (1927, S. 81) sind die vier Phasen irreversibel, überlappen aber einander. Die Überprüfung der Idee kann sich mehrmals wiederholen. Eindoven und Vinacke (1952) lassen 13 Künstler in vier Arbeitsterminen von je einer Stunde ein Kunstwerk zu einem Gedicht erstellen. Sie kommen zum Ergebnis, dass es keine klare Trennung der vier Phasen gibt (Eindhoven/Vinacke, 1952). Weisberg (1989) argumentiert zum kreativen Prozess, es gäbe keine plötzlichen Einfälle. Kreative Produkte entstünden schrittweise und seien in jedem Punkt nachvollziehbar. Eine Inkubation gebe es nicht. Hertlein (1990) dagegen unterscheidet zwei Typen von Künstlern und Künstlerinnen (s. S. 31 und S. 32). Der Schaffensprozess apollinischer Künstler*innen verläuft demnach kontrolliert, geplant und nach rationalen und formalen Prüfprozeduren. Grundlage ist das Streben nach handwerklich vollendeter Gestaltung. Der Schaffensprozess dionysischer Künster*innen enthält jedoch spontane, unbewusste und stimmungsgeladene Momente, in denen emotionale emotional besetzte Inhalte zum Ausdruck gebracht und subjektive Prüfkriterien angewandt werden. Poincaré beobachtet und beschreibt seine eigenen kreativen Prozesse. In der Veröffentlichung in „Science and Method“ setzt er sich mit plötzlichen Einfällen auseinander. Er beobachtet, dass plötzliche Einfälle besonders häufig nach Phasen der Ruhe auftreten. Die Ursache für kreative Lösungen liege in einem „instinktive[n] Gefühl für Harmonie und Eleganz“ (Wallas, 1927, S. 75f.). Die gesammelten Assoziationen in einer Unterbrechung (der Inkubationsphase) ordneten sich, so Poincaré, zu einer Ideenfindung. Im Rückgriff auf diese Beschreibungen stellt Wallas die Idee als „flash of success“, also plötzlichen und unerwarteten Erfolg dar (Wallas, 1927, S. 95f.). Er misst dem Unbewussten als Ordnungsinstanz in der Inkubationsphase einen hohen Wert bei. Auch die Unterscheidung von Wichtigem und Unwichtigem führt er auf eine aus einer Art ästhetischem Instinkt heraus bestehende Sensibilität zurück. Wallas vermutet, dass die Plötzlichkeit der Ideenfindung daher rührt, dass Hemholtz und Poincaré sie nicht bemerkt und im Nachhinein vergessen hätten. Andererseits beschreiben beide zu Beginn einer Idee ein vages Gefühl, dass etwas nicht passt. Diese ‘Emotion´ wird „as a frequent directing force of the association process, and, as a still more frequent accompaniment of that process’"dargestellt (Wallas, 1927, S. 75). Zusammenfassend beschreibt Wallas drei Phänomene, die mit dem kreativen Prozess zusammenhängen. Erstens ein Gefühl mentaler Aktivierung: „It was a vague impression of mental activity“. Zweitens die von Poincaré berichtete Plötzlichkeit einer Idee. Und drittens ein ausgesprochenes

Der kreative Prozess

31

Vorfinden eines als interessant beurteilten Objekts

Festhalten und Gestaltungsplanung in einer Vorarbeit

Umsetzung ins Medium durch eine Reihe von Anfügeoperationen _ Ständige Prüfung der Werkzustände nach rationalen, formalen Kriterien

+

Kunstwerk

Abbildung 2.2: Der Schaffensprozess apollinischer Künstler (Hertlein, 1990) Glücksgefühl: „But when the association had risen to the surface, it expanded into an expression of joy“ (Wallas, 1927, S. 97). Weitere Forschungen bestätigten und ergänzten die Annahmen von Wallas. In der Präparationsphase wird das Problem untersucht und formuliert. Verschiedene Aspekte, die mit der Problemstellung zusammenhängen, werden betrachtet und mit anderen Aspekten verbunden. Dabei wirkt es sich günstig aus, wenn Zensur, Stereotype und starre Kategorien ausgeschaltet werden (Landau, 1971). Müller-Freienfels (1923) ordnet der Präparationsphase des Künstlers nicht nur die konkret für ein Kunstwerk nötigen Kompositions- und Entwurfsarbeiten, sondern sein komplettes vorheriges Leben zu. Haseloff (1971) unterteilt den Schaffensprozess in sechs Phasen. Besonders hervorzuheben sind folgende Punkte: In der Anfangs-Phase der Problematisierung werden nicht nur Probleme erkannt; Haseloff betont vor allem, dass Lücken und Widersprüche in Wissensbeständen eine Rolle spielen. In der darauf folgenden Exploration stehen Erklärungsversuche und Betrachtungsweisen gleichberechtigt nebeneinander. Die Inkubation wird von Haseloff weiter unterteilt in eine Phase des Vergessens und eine Regression. In der Phase des Vergessens käme es zur symbolhaften Neuorganisation von Erfahrungen. In der Regression sieht Haseloff ein Zurückgleiten auf ein kindliches Realitätsniveau, das ein spielerisches ungebundenes und anspruchsreduziertes Operieren ermögliche (Haseloff, 1971, S. 89f.; Vollmer, 2010; Edelmann, 2000). Haseloff beschreibt ein Zurückgleiten in eine gewissermaßen kindliche und dramatisierte,

32

Forschungsstand zu Kreativität und Ästhetik

Bedürfnis, eine persönliche Befindlichkeit auszudrücken

Korrektur, Subtraktion, Zerstörung

Unbewusstes oder automatisches Erstellen von Werkzuständen im Medium

_

Prüfung auf Annäherung an „echten Ausdruck“ einer Emotion/ Befindlichkeit

+

Kunstwerk

Abbildung 2.3: Der Schaffensprozess dionysischer Künstler (Hertlein, 1990

zugleich vieldeutige Realitätsbegegnung. Basadur (1994) unterscheidet den kreativen Prozess in die drei Abschnitte des Problem Finding, Problem Solving und der Solution Implementation. Bei ihm ist jede dieser drei Phasen in eine Stufe des Einfalls (Ideation) und eine Stufe der Bewertung (Solving) unterteilt (Basadur, 1995). Anders als diese Entwürfe deutet Stenger (2002) kreative Prozesse als einen grundlegenden Durchbruch, eine Veränderung in einer Dimension, die die Wahrnehmung so verändert, dass kein Zurück vor diese Erfahrung möglich ist. Diese Erfahrung, die sie anhand verschiedenster Beispiele von künstlerischen Prozessen belegt, beschreibt sie als eine existentielle Erfahrung, auf die ein radikaler Neuanfang folgt. Zur Erläuterung führt sie sowohl Prozesse an, die über eine Lebensspanne gehen, wie einzelne Ereignisse. So berichtet sie von Picasso, dass er ausgesprochen lange bestehende Kunstwerke kopierte, bevor er mit der blauen Periode einen transformierenden Durchbruch erlebte. An einem Abend habe er eine afrikanische Skulptur in die Hand genommen und noch in der gleichen Nacht mit hunderten von Skizzen den Kubismus begründet (Stenger, 2002, S. 135f). Diese Erfahrung sei jedoch nicht steuerbar, sie entziehe sich, geschehe eher, als dass man sie kontrollieren könne. Sie hänge damit zusammen, dass man bereit sei, das Alte völlig loszulassen, aufzugeben und sich, wie Matisse es beschrieben habe „zugleich als Kind und als Wilder“ zu fühlen. So habe Picasso seine Existenz immer wieder aufs Spiel gesetzt, sich Unverständnis und Einsamkeit ausgesetzt, um aus der Zerstörung überkommener und zur Gewohnheit gewordener Sichtweisen Neues zu erwecken (ebda., S. 104). Dass die Fähigkeit, sich diesem Schöpfungsprozess

Der kreative Prozess

33

immer wieder neu zu stellen, zerbrechen kann, klingt in ihrer Beschreibung von Picasso und Braque an, die gemeinsam den Kubismus entdeckten. Braque wurde in den ersten Weltkrieg eingezogen. Als er wiederkehrte, beschäftigte er sich bis zu seinem Lebensende nur noch mit dem Kubismus (ebda., S. 136). Weiter beschreibt Stenger, was Csikszentmihalyi als Flow und autotelische Tätigkeit beschreibt, als Ekstase oder Fliegen, vor allem aber als eine Leichtigkeit, die ohne vorheriges Ringen nicht zu haben ist. Für die Beschreibung dieser Erfahrung, in der „alle Kräfte ihren Sinn und ihren Einsatz haben“ (ebda., S. 138), zieht sie ein Zitat Nietsches heran: „... dass plötzlich, mit unsäglicher Sicherheit und Feinheit Etwas sichtbar und hörbar wird, Etwas, das einen im Tiefsten erschüttert und umwirft“ (Nietzsche KSA 4, S. 339f., nach Stenger, 2002, S. 138). Dabei gehe es darum, dass das Subjekt seine Wirklichkeit konstruiere. Stenger geht hier gegenüber der Entdeckung einer Sache noch einen Schritt weiter. Sie beschreibt, dass Künstler durch das Schaffen ihres Werks in einem ko-konstruktiven Prozess Veränderung erfahren, indem nicht nur sie ihr Werk, sondern auch das Werk sie in ihrem Werden beeinflusst (Stenger, 2002, S. 141): „Im Fund finden sich Finder und Werk, findet der Mensch seine eigene Identität, eine Möglichkeit, sich selbst zu verstehen, sich zu empfinden, sich in einer spezifischen Beziehung zu den Dingen und der Sache zu befinden“ (Stenger, 2002, S. 146). Die Aufgabe kreativer Prozesse bestünde in einem „Einstrukturieren in einen neuen Zusammenhang“, in dem Sachverhalte und Ereignisse einen Sinn haben (ebda., S. 147). Vollmer (2010) stellt fest, dass kreative Prozesse bei Künstlern auch bei einer Person stark variieren können. Aus der Wahrnehmung von Ambiguitäten heraus beginnen kreative Prozesse dem zu Folge mit einer Sehnsucht danach, persönliche Befindlichkeiten auszudrücken. Mit hoher Sensibilität und Offenheit für neue Erfahrungen sammeln die von ihr untersuchten Künstler widersprüchliche und ambigue Eindrücke. Die entstehende Vielzahl ungeordneter Eindrücke führt zu innerer Unruhe bis hin zu depressiven Verstimmungen. Die von Vollmer (2010) untersuchten Künstler bearbeiten diese Spannungen in ihren kreativen Prozessen. Um sich auf die Ungewissheit kreativer Prozesse einlassen zu können, ist eine gewisse Menge an Selbstbewusstsein, Mut und Kompetenzgefühl nötig. Bei Misslingen ist es gefährdet, bei Gelingen jedoch nimmt ihre Selbstwirksamkeitserwartung zu und das Kompetenzgefühl wird gestärkt. So können Kreative durch das Durchlaufen kreativer Prozesse letztlich ihre Bedürfnisse regulieren. Der emotional verlaufende Schaffensprozess bietet Künstlern die Möglichkeit, nichtsprachliche Erlebnisse, Erkenntnisse und Gefühle auszudrücken. Was nur vage empfunden wurde, kann damit in Bilder, Farben oder Formen gefasst und einer Bestimmbarkeit zugänglicher gemacht werden. Beobachtet wird auch, dass die Werke eine Eigendynamik entwickeln und Transformation der Künstler bewirken. In diesen schrittweise verlaufenden Prozessen werden Wahrnehmungen, Beobachtungen und Gedächtnisschemata miteinander abgeglichen. Im Zuge der dabei mit Unbestimmtheit wechselnden Bestimmtheit entsteht Flow-Erleben. Plötzliche Ideen hängen mit Wechseln im Auflösungsgrad zusammen. Durch die zunehmende Bestimmtheit entwickeln sich so eindeutige Vorstellungen, dass völlig klar zu sein scheint, was zu tun ist (Vollmer, 2010). Zusammenfassend gehen Modelle zum kreativen Prozess auf ein Vier-Phasen-Modell von Wallas (1926) zurück. Demnach verläuft der kreative Prozess in irreversiblen, aufeinanderfolgenden Phasen, die von einer vorbereitenden Präparation über eine In-

34

Forschungsstand zu Kreativität und Ästhetik

kubation und Illumination zur Verifikation reichen. Von anderen Autoren wird dies angezweifelt. Demnach können sich diese überlappen und rekursiv verlaufen. Weitere Kontroversen bestehen zur Ideenfindung, die als schrittweise Entwicklung, aber auch plötzlich eintretende Erfahrung beschrieben wird. Sie lässt sich in drei Phänomene unterteilen: eine vage Empfindung, dass etwas nicht stimmt, eine plötzliche Idee und ein Glücksgefühl. Von Haseloff (1971) wird eine Regression in kindliche Verhaltensweisen angenommen. Kreative Prozesse ermöglichen nach Stenger (2002) als existentielle Erfahrungen, auf die ein radikaler Neuanfang, Veränderung und Sinngebung folgen kann. Ähnlich stellt Vollmer (2010) dass kreative Prozesse psychisch stabilisieren können. In den folgenden Absätzen werden detailliertere Forschungsergebnisse zu Teilbereichen des kreativen Prozesses dargestellt. 2.4.1 Flow Bei Befragungen von Künstlern nach ihren Motiven entdeckt Csikszentmihalyi (1975) das Flow-Erlebnis als ein besonders ausgeprägtes positives Erlebnis. Dieses motiviere sie, immer wieder künstlerisch zu arbeiten. Csikszentmihalyi beobachtet folgend diese autotelische Tätigkeit auch bei anderen Aktivitäten, wie Tanzen, Bergsteigen oder dem Spielen von Rockmusik. Er definiert sie als „selbstreflexionsfreies, gänzliches Aufgehen in einer glatt laufenden Tätigkeit bei der man trotz Kapazitätsauslastung das Gefühl hat, den Ablauf des Geschehens gut unter Kontrolle zu haben.“ (Heckhausen/Heckhausen, 2006, S. 345). Im Flow-Kanal-Modell stellt Csikszentmihalyi (1975) als ausschlaggebende Bedingung die erlebte optimale Passung zwischen Anforderung und Fähigkeit fest. Später wandelt er diese im Flow-Quadanten-Modell (1991) durch die Unterscheidung von Entspannung zu Langeweile und Apathie ab. Komponenten des Flow-Erlebens sind nach Csikszentmihalyi (1975): 1. Man fühlt sich optimal beansprucht und hat trotz hoher Anforderung das Gefühl, das Geschehen noch gut unter Kontrolle zu haben (Balance zwischen Anforderung und Fähigkeit auf hohem Niveau). 2. Handlungsanforderungen und Rückmeldungen werden als klar und interpretationsfrei erlebt, so dass man jederzeit und ohne nachzudenken weiß, was jetzt als richtig zu tun ist. 3. Der Handlungsablauf wird als glatt erlebt. Ein Schritt geht flüssig in den nächsten über, als liefe das Geschehen gleitend, wie aus einer inneren Logik heraus. 4. Man muss sich nicht willentlich konzentrieren, vielmehr kommt die Konzentration wie von selbst, ganz so wie die Atmung. Es kommt zu Ausblendung aller Kognitionen, die nicht unmittelbar auf die jetzige Ausführungsregulation gerichtet sind. 5. Das Zeiterleben ist stark beeinträchtigt; man vergisst die Zeit. Stunden vergehen wie Minuten. 6. Man erlebt sich selbst nicht mehr abgehoben von der Tätigkeit, man geht vielmehr gänzlich in der eigenen Aktivität auf („Verschmelzen“ von Selbst und Tätigkeit). Es kommt zum Verlust von Reflexivität und Selbstbewusstheit (Heckhausen/ Heckhausen, 2006, S. 346; Vollmer, 2010, S. 18) .

Der kreative Prozess

35

Ganzheitliche Wahrnehmung von 

Erfahrungen

sensomotorischer Speicher

nein

Motiv a nein

Stimmig?

Werk

motorische Umsetzung a

Werk

motorische Umsetzung b

Werk

motorische Umsetzung c

Werk

motorische Umsetzung d

nein

ja!

Motiv b nein

Stimmig?

in ne

ja!

Motiv c Stimmig? nein

ja!

nein

Motiv d Stimmig? nein

nein

Annäherung bis zur totalen Übereinstimmung der Bilder

Stimmig Weltverbundenheit Glück + Sinngebung

A

+

B

+

K



Abbildung 2.4: Von spezifischer Exploration zu Flow-Erleben (Vollmer, 2010).

36

Forschungsstand zu Kreativität und Ästhetik

Csikszentmihalyi (1975) stellt fest, dass Künstler zu ihrer kreativen Tätigkeit weniger durch ihren Erfolg oder das Produkt motiviert sind, als wegen der Glücksmomente, die sie im Vollzug der Arbeit erleben. Von Csikszentmihalyi werden unterschiedliche Intensitäten von Flow-Erleben beschrieben. Sie reichen von „deep flow“ zu „Microflow“ (Csikszentmihalyi, 2010a, S. 147ff.). Micro-Flow bringt nicht so einen Antrieb und eine Freude hervor, wie „deep flow“, der zu einer Verschmelzung von Selbst und Tätigkeit führt (Engeser/Vollmeyer, 2006, S. 64). Die Erforschung von Flow-Erleben ist schwierig, weil Unterbrechungen das Flow-Erlebnis, das ja an sich reflexionsfrei verläuft, eklatant beeinflussen. Rheinberg (2008) erklärt dies mit der hierarchischen Organisation von Handeln. So legten Handlungsregulationskonzepte nahe, dass nicht alle Ebenen zugleich Bewusstheit erlangen, sondern dass die Aufmerksamkeit dahin gelenkt wird, wo sie benötigt wird. Für Reflexionen wären demnach im laufenden Handlungsvollzug, der rasch ablaufende klare Ziele und Rückmeldungen miteinander verkoppelt, keine Kapazitäten vorhanden (Rheinberg, 2008, S. 160).

Wahrnehmung Modell/Motiv a

ge füh lte

z en fer Dif

Dif fer en z

lte füh ge

sensorische Schemata

Wahrnehmung Modell/Motiv b je abstrakter, desto mehr

gefühlte Differenz

Bild/Werk

Vorstellung der emotionalen Seite des Motivs/Ziels

Abbildung 2.5: Abgleich im kreativen Prozess (Vollmer, 2010) Den Forschungen Csikszentmihalyis zufolge lässt sich ein Expertise-Effekt beobachten. So tritt Flow auf, wenn Basiskompetenzen für eine Tätigkeit beherrscht werden; bei Novizen tritt Flow nur bei einfachen Tätigkeiten auf.

Der kreative Prozess

37

Die Ergebnisse von Vollmer (2010) legen nahe, dass Flow-Erlebnisse mit AbgleichProzessen - der allmählichen Anpassung verschiedener Wahrnehmungen und Schemata aneinander (s. Abb. S. 2.5) - zusammenhängen. Das Bedürfnis nach Bestimmtheit wird demnach in einem Prozess der Annäherung des künstlerischen Werks an eine stimmige Vorstellung gestillt. Die von Vollmer untersuchten Künstler und Künstlerinnen gleichen in ihren kreativen Prozessen ihre Wahrnehmungen mit dem Werk ab. Die Differenz zwischen ihren Gedächtnisschemata und den Wahrnehmungen des Werks wird über Gefühlslagen erfasst und schrittweise modifiziert (s. Abb. S. 36). Die stetigen Versuche, Imaginationen motorisch umzusetzen, führen demnach zu schnellen Wechseln zwischen Bestimmtheit und Unbestimmtheit. Sie sind mit Hoffnung auf Erfolg und Angst vor Misserfolg verbunden. Wenn bei Erfolg die Bestimmtheit insgesamt zunimmt, liegt eine optimale Passung zwischen Anforderung und Fähigkeit vor und es kommt zum Flow-Erlebnis (s. Abb. S. 35).Häufig werden dabei Hypothesen gebildet (s. Abb. S. 38). Die in einem Kunstwerk sich ansammelnden inneren Logiken können dabei, wie auch Rubinstein anmerkt, dazu führen, dass sich das Kunstwerk gegenüber dem Künstler verselbstständigt und „als etwas von ihm Unabhängiges erscheint“ (Rubinstein, 1946, dt. 1968, S. 215). Durch den sich einengenden Bewusstseinsfokus im Abgleich würden Wollen und Handeln als Einheit erlebt. So könne das Bild eine Aussage entwickeln, an die sie selber nicht gedacht hatten. Mit Erreichen des vorher nicht antizipierten Produktes erleben KünstlerInnen deshalb nicht nur Überraschung, sondern auch eine hohe Stimmigkeit11 . Die von Künstlern in diesem Zusammenhang beschriebene mit Intensität verbundene Gefühlswelt, die letztlich eine klare Vorstellung davon, wie das Werk sein soll beinhaltet und den Künstler mit seinem Werk verbindet, lässt typische Verhaltensweisen der kreativen Persönlichkeit nachvollziehbar erscheinen (Vollmer, 2010). Von Ciompi (1997) werden Attraktoreffekte beschrieben, die ebenfalls alles Wahrnehmen und Denken in Bann ziehen. Ciompi (1997, S. 153) sieht diese als Bewusstseinsfokus, der die Aufmerksamkeit einerseits hochgradig einengt, andererseits aber zu einer maximalen Ausweitung der Aufmerksamkeit auf die ganze Welt und Einzelheiten darin führt (Ciompi, 1997, S. 195). Bewusstsein ist nach Ciompi ein „relativ scharfer psychischer und zugleich neurophysiologischer Fokus der Aufmerksamkeit, in welchen simultane multimediale Verarbeitungsprozesse aus verschiedenen Sinnesgebieten konstant einfließen und sich dort dann zu einem ernergiereichen Brennpunkt bündeln“ (Ciompi, 1982, S. s. Kap. 4). Zusammenfassend treten in kreativen Prozessen Flow-Erlebnisse auf, die eine optimale Passung zwischen Anforderung und Fähigkeit sind, beglücken und zum kreativen Schaffen motivieren. Vollmer (2010) stellt die Hypothese auf, dass sie durch AbgleichProzesse hervorgerufen werden, die mit Wechseln in der Bestimmtheit einhergehen und dabei letztlich Unbestimmtheit beseitigen. Die These stimmt mit den von Ciompi (1997) beschriebenen Attraktoreffekten überein und kann auch erklären, dass das 11

Diese These kann nicht nur erklären, weshalb Künstler und Künstlerinnen in der Lage sind, Wesentliches auf den Punkt zu bringen. Die wiederholte Erfahrung von Flow bis hin zum subjektiv empfundenen „künstlerischen Wollen“ bietet auch eine Erklärung für die in Persönlichkeitstests erhobenen hohen Werte zur Unverträglichkeit und Nonkonformität künstlerischer Persönlichkeiten. Weitere Erläuterungen hierzu würden den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Sie können bei Vollmer (2010) anhand der untersuchten Prozesse detaillierter nachvollzogen werden.

38

Forschungsstand zu Kreativität und Ästhetik



Gefühle

fokussiert

fokussiert



Hypothese 1

Hypothese 2 Hypothese 3

Werk Überblick

+

Modell Überblick

Erfolg? -

Gefühle Vorstellung Situation Gesamtsituation

aktiviere Verhaltens programm

Abbildung 2.6: Hypothesenbildung im kreativen Prozess (Vollmer, 2010). Während des Abgleichs zwischen der Vorstellung, der Wahrnehmung des Modells und des Werks werden Hypothesen gebildet.

Kunstwerk gegenüber dem Künstler verselbstständigt und „als etwas von ihm Unabhängiges erscheint“ (Rubinstein, S. 215). 2.4.2 Der plötzliche Einfall Weisberg (1989) versucht, Kreativität zu entmythisieren, indem er anhand von Beispielen darlegt, dass kreative Produkte in vielen kleinen Schritten der Veränderung und Verbesserung entstehen und ohne bereichsspezifische Wissensbasis nicht möglich sind. Dieser Prozess wurzele, so Weisberg (1989), sowohl in der Person des Schaffenden als auch in seiner Erfahrung. Weisberg geht davon aus, dass alle Menschen die gleichen Denkprozesse durchlaufen (Weisberg, 1989, S. 194). Hierbei stützt er sich auf folgende Überlegungen: Erstens gäbe es keine Beweise für unbewusste Denkprozesse. In Versuchen, so Weisberg, konnten zweitens weder eine Inkubationszeit, noch kreative Sprünge wie sie auch Wallas beschreibt, nachgewiesen werden. Auch seien kreative Sprünge im Verlaufe des Lebens von Künstlern und Erfindern nicht nachweisbar. Drittens, so folgert er, entstehe das Kunstwerk nicht aus einer Reihe von Persönlichkeitsmerkmalen und nicht durch divergentes Denken, sondern in vielen kleinen Schritten. Wie Weisberg an vielen Beispielen zu verdeutlichen versucht, basieren Ideen viertens auf Erfahrungen und einer im Laufe des eigenen Lebens entwickelten Symbolsprache. Als Beispiel für die Kleinschrittigkeit von Schaffensprozessen verweist Weisberg

Der kreative Prozess

39

(1989) auf eine Studie von Getzels & Csikszentmihalyi. Sie baten 31 Studierende der School of the Chigago Arts Institute in einer Aufgabe, eine Reihe von Gegenständen in ihr Stilleben zu integrieren. Dabei beobachteten sie diese im Herstellungsprozess. Anschließend wurden ihre Arbeiten von Kunstkritikern beurteilt. Sieben Jahre später wurden dieselben Studenten auf ihren beruflichen Werdegang hin befragt. Als Erfolgreichste erwiesen sich diejenigen Studierenden, die eine größere Menge von Objekten zur Hand genommen und genau betrachtet hatten, bevor sie mit dem Malen begonnen haben. Dabei zeigten die hoch bewerteten Bilder „mehr ausgefallene Objekte, die nicht einfach gegenständlich abgebildet“ waren. Sie hatten mehr Zeit gebraucht, um den endgültigen Aufbau für ihr Bild festzulegen und fingen eher wieder von vorn an oder änderten die Ordnung der Objekte auch im späteren Verlauf des Schaffensprozesses noch einmal. Diese Studenten waren ihrer eigenen Arbeit gegenüber sehr kritisch und waren häufiger der Meinung, ihr Bild könne noch verbessert werden und sei noch nicht fertig (Weisberg, 1989, S. 161f). Dörner (1976) hält es für möglich, dass der Zusammenhang zwischen Inkubationsphase und plötzlichem Einfall in der „Sensibilität des sublimen Ichs für Harmonie und Eleganz“ liegen kann (Poincaré, 1914, dt. 1968, S. 227f.). Dörner meint, dass „Verknüpfungen, die eine zusammenhängende Struktur bilden, nicht so leicht vergessen werden, wie isolierte Verknüpfungen“ (Dörner, 1976, S. 92ff). Er stellt fest, dass 1. „die Auseinandersetzung mit einem Thema eine relativ diffuse Vorstellung der Lösung erzeugt; 2. in der Inkubationszeit die Gesamtkonstellation der erarbeiten Sachverhalte allmählich zerfällt; 3. die Lösungskonstellation meistens in einer entspannten, durch übergeneraliserendes Denken gekennzeichneten Situation zu Tage trete. Hinzukommende Ereignisse könnten der Auslöser für das Einfügen eines vereinfachten Modells in die noch diffuse Vorstellung sein.“ (Dörner, 1976, S. 92ff; Vollmer, 2010, S. 9) Auch zehn der von Hertlein (1990) befragten Künstler (21%) berichten, eine fotoartige Vorstellung von der Idee vor sich gehabt zu haben. Zwei Künstler hätten zu Beginn ihrer Schaffensprozesse (4%) plötzliche Einfälle. Die „Ideen seien sehr klar und konkret und könnten sofort umgesetzt werden“ (Vollmer 2010, S. 10). Im Zusammenhang mit emotionalen Befindlichkeiten seien Vorstellungen vom Zielzustand dagegen häufig nur vage (35%). Nach einem Bericht Poincarés (Dörner 1976, S. 93) soll Kekulée bei der Entdeckung der ringförmigen Kopplung des Kohlenwasserstoffatome im Benzolmolekül auf ein Kaminfeuer geguckt haben. Bei der Beobachtung von bogenförmig aus dem Feuer fliegenden Funken sei ihm das Bild einer sich in den Schwanz beißenden Schlange gekommen. Dies brachte ihn auf die Idee der Struktur des Kohlenwasserstoffatome (Dörner 1976, S. 81). Die Vermutung liegt nahe, dass der plötzliche Einfall etwas mit einer Ruhephase zu tun hat; so vermuten Hemholtz und Rubinstein (nach Dörner 1976, S. 92), dass die Erholung nach einer Phase der Erschöpfung die Ursache für den plötzlichen Einfall sein könnte. Ähnlich meint auch Ciompi (1997), kreatives Denken fördere man durch Entspannung oder Ablenkung im Moment des höchsten Problembewusstseins (Ciompi, 1997,

40

Forschungsstand zu Kreativität und Ästhetik

S. 321). Unstimmigkeiten dienten dazu, Problemen auf den Grund zu gehen. Gefühle seien zentral dazu (Ciompi, 1997, S. 311). Ciompi (1997) beschreibt den plötzlichen Einfall als Lösung einer lustvollen Spannung nach einer Phase unlustvoller Anspannung. Die Attraktivität in sich stimmiger Lösungen wirke, so Ciompi, wegbahnend. Er vermutet, dass Attraktoren und Repulsoren bei der Lösungssuche unterstützend bzw. abstoßend wirken. Eingeschliffene Denkwege liefen automatisiert ab und vernetzten sich zunehmend (Ciompi, 1997, S. 107f.). Seiner Meinung nach treten intuitive Erkenntnisse oder Ideen in Phasen der Entspannung oder des Schlafs auf, weil es sich um vorgebahnte Wege handele. Die Auflösung von Widersprüchen in kreativen Prozessen sei lustvoll, weil sie mit einer Lösung affektiv-kognitiver Spannungen einhergeht (Ciompi, 1997, S. 162). Haseloff verfolgt die These einer heuristischen Regression nach der Inkubation. Ein Zurückgleiten in eine gewissermaßen kindliche und dramatisierte, zugleich vieldeutige Realitätsbegegnung ermöglicht demnach das Lösen kreativer Probleme (Haseloff, 1971, S. 89f.). Vollmer (2010) geht davon aus, dass Bedürfnislagen und psychische Modulationen den kreativen Prozess entscheidend steuern (s. Abb. S. 41). Sie nimmt an, dass der Übergang von zielorientierter Spannung zu entspannten Phasen für den kreativen Einfall entscheidend ist. Dazu beschreibt sie einen Prozess, in dem der Künstler infolge eines Fehlers wütend wird. Im Moment, in dem er sein Projekt frustriert aufgibt, hat er eine rettende Idee. Selektionsschwelle und Auflösungsgrad sind in diesem Moment niedrig, die Aktivierung ist in dem von ihr beschriebenen Fall allerdings noch relativ hoch, beginnt evt. zu sinken: „Die sinkende Selektionsschwelle öffnet seine Wahrnehmung für mehrere Motive oder deren Unterpunkte, auch für solche, an die er bisher noch nicht gedacht hat. Der grobe Auflösungsgrad führt zu seltenerem Abtasten dieser Punkte und freiem Speicherplatz. Auch aus anderen Fach-, Sinnesgebieten, oder hier Motiven, können (...) wesentliche Punkte wahrgenommen werden.“ (Vollmer, 2010, S. 104f.). Eine Entlastung nach einer spannungsreichen Phase sieht Vollmer auch bei Übergängen von Anstrengung zu Aufgeben und bei Übergängen von Zielorientierung zu spielerischen Verhaltensweisen. Sie vermutet, dass über den sinkenden Auflösungsgrad vom ursprünglichen Thema unabhängige Wissensbereiche bis zum entscheidenden Grad abstrahiert werden können. Die Abtastrate von Wahrnehmungen sinke in diesem Stadium immer weiter. Durch die sinkende Selektionsschwelle weite sich gleichzeitig das Wahrnehmungs- oder Bewusstseinsfeld, bis dahin, dass Ähnlichkeiten verschiedener Strukturen wahrgenommen und schließlich zusammengeführt werden könnten. Vorher unbekannte Zusammenhänge aus an sich verschiedenen Bereichen würden also schlagartig deutlich. Damit bestätigen sich Annahmen Dörners (1976, S. 18f.), denen zufolge dem richtigen Auflösungsgrad eine entscheidende Rolle bei der Problemlösung zukommt. Durch Erkennen von Zusammenhängen im Abgleich-Prozess können Leerstellen oder Hohlstellen reduziert werden. Das Beseitigen von Lücken in der Informationsverarbeitung wirkt befriedigend und stimmig. Vor einem kreativen Einfall findet eine Phase spezifischer Exploration statt. Erst nachdem man sich der Unordnung und Ungelöstheit von Problemen (mit allen dazugehörigen Gefühlslagen) ausgesetzt hat, werden die angefangenen Erkenntnisse unbewusst weiter bearbeitet und führen zu neuen Erkenntnissen. Scheinbar hängt der plötzliche Einfall mit einer Phase des Vergessens zusammen. So hat man an gehirnkranken Patienten festgestellt, dass sie

Der kreative Prozess

Problem

41

Arousal persönliche Befindlichkeit

1 K— B— A—

S– A– A+

Entschluss zu malen Motivsuche

vage Vorstellung  3 (Erwartungshorizont) Motiv/Material M

B B K— B+ A—

K+ B+ A—

Entspannung sensorischer Reiz

S+ A— A+

K A

S+ A-/+ A+

Ma Mb

HyPercept Ma

HyPercept Mx od.H

Mg H

Mc

4

Auswahl aus M oder H

S– A– A+

Frust Ärger Druck Aufgeben Wut

5

K+ B+ A+

S+ A— A+

K— B— A—

2

Vergleich Mf

6

Me

Modifikation Schemata

Md B A

Übertragung Differenz

Anspannung 7

K+ B+/A+

S+ A+ A+

Übertragung erkannter Differenzen H bis Mx

 A 8 Glück Freude Frieden

K+ B+ A+

S~ A~ A–

K = Kompetenz B = Bestimmtheit A = Affiliation S = Selektionsschwelle A = Auflösungsgrad A = Aktiviertheit

Abbildung 2.7: Kreativer Prozess mit plötzlichem Einfall (Vollmer, 2010).

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in den ersten Stufen ihrer Erkrankung eine äußerst kreative Phase durchlaufen. Wahrscheinlich führt undiszipliniertes Denken zu einer geringeren Rolle von Hemmungen im Denkprozess, so dass übergeneralisierendes Denken mit sehr weiten assoziativen Vorhöfen möglich wird. Dies würde den Sinn einer Inkubationszeit erklären. Zusammenfassend ist die Frage, ob es plötzliche Einfälle gibt, oder ob es sich um schrittweise Prozesse handelt, eine grundlegende Kontroverse zum kreativen Prozess. Während Weisberg (1990) anhand verschiedenster Beispiele zeigt, dass kreative Prozesse schrittweise verlaufen, untersuchen Hertlein (1990) und Vollmer (2010) bei Künstlern wie genauer plötzliche Einfälle verlaufen. Nach Vollmer (2010) bestätigt sich Dörners These, dass diese mit Veränderungen der psychischen Befindlichkeit zusammenhängen. 2.4.3 Assoziation und Analogie-Schluss Synergetisches Denken und Denken in Analogien werden als grundlegend für die kreative Ideenfindung angesehen (Urban, 2004b, S. 31; Dörner, 1976). So lassen sich viele Erfindungen auf ein „Denken in Analogien“ zurückführen. Denken in Analogien bezeichnet ein Verhalten, bei dem durch das Erkennen von Prinzipien Rückschlüsse auf andere Prinzipien gemacht werden können (Oerter, 1998, S. 600). „Hierbei wird von der Übereinstimmung in einigen Punkten auf Entsprechung auch in anderen Punkten bzw. auf die Gleichheit von Verhältnissen geschlossen.“ (Oerter, 1998, S. 592). Kekuleé soll sich beispielsweise auf der Suche nach dem Benzolmolekül im Kohlenwasserstoffatom nach einer Phase intensiver Arbeit müde und ausgelaugt vor den Kamin gesetzt haben. Durch einen schlangenförmig aus dem Kamin springenden Funken soll ihm die Idee für die Form des Benzol-Moleküls gekommen sein. Das Ausmaß der Übereinstimmung einzelner Elemente wird hier zu einer Struktur, die sich übertragen lässt. Diese Ähnlichkeit kann sich - wie beim Funken aus dem Kamin - auf eine räumlich-zeitliche Struktur beziehen, aber auch auf Teil-Ganzes-Beziehungen, auf den Gebrauch eines Elements oder auf Bestandteile. Je flexibler man in der Feststellung von Ähnlichkeiten ist, desto kreativere Lösungen lassen sich für ein Problem finden (Dörner, 2008, S. 501ff). “Den Analogieschluss kann man beschreiben als eine bestimmte Form der Abstraktion, nämlich als eine Abstraktion hinsichtlich der Relation zwischen den Elementen eines Sachverhalts, gefolgt von dem Prozess der Konkretisierung. Aus dem so gefundenen Sachverhalt werden diejenigen Merkmale herausgelöst, die sich in dem ursprünglichen Sachverhalt nicht finden und auf diesen zurückübertragen.“ (Dörner 1987, S. 114). Dörner beobachtet, dass Analogieschlüsse in folgenden Schritten ablaufen: erstens würden durch Ungenauigkeiten Fragestellungen ausgelöst, zweitens würden die sich abzeichnenden Antworten durch Koadjunktionen oder Analogieschlüsse präzisiert und drittens würden diese in einem abschließenden Schritt in einen „einhüllenden“ Gesamtzusammenhang gestellt (Dörner, 2008, S. 719). Die Untersuchungen von Vollmer (2010) bestätigen diese Annahmen. Sie sieht Zusammenhänge zwischen Emotionen mit negativer Valenz (wie Ärger oder Wut) und Analogieschlüssen. Demnach ergibt sich bei Analogieschlüssen in den von ihr erforschten Prozessen aus Emotionen, die mit

Zusammenfassung

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Frust oder Ärger zusammenhängen, ein Sinken des Auflösungsgrades und der Selektionsschwelle. Denken und der Wahrnehmung werden ungenauer und abstrakter. Die Kombination dieser Effekte mit dem sprachlichen Erfassen des Sinngehaltes ermöglicht die von Dörner beschriebene Abstraktion und Konkretisierung durch Assoziation, also durch gedankliche Verknüpfung, und Analogie-Schluss (Vollmer, 2010, S. 107ff). Bei der Ideenfindung durch Denken in Analogien werden zusammenfassend einzelne Elemente in der Struktur eines Sachverhalts auf einen anderen Sachverhalt übertragen. Auf eine Abstraktion folgt dabei eine Konkretisierung, die abschließend in einen Gesamtzusammenhang eingebettet wird. Durch in der Inkubationsphase auftretende Emotionen verändern sich die psychischen Modulatoren und das Abstraktionsniveau. Wenn die gewonnene Erkenntnis durch Sprache strukturiert wird, entstehen weitere Assoziationen. 2.5 Zusammenfassung Die Erforschung von Kreativität hat ihre Ursprünge in den schönen Künsten, in der Philosophie, der Psychologie und der Ästhetischen Forschung. Die moderne Kreativitätsforschung setzt mit dem Sputnik-Schock (1957) ein. Sowohl der Begriff der „Ästhetik“ als auch der „Kreativität“ lassen sich nur schwer begrifflich fassen. Ästhetische Erfahrungen bestehen aus Unbestimmtheit, Leerstellen und Brüchen (Kathke, 2012 Starker, 1998), die Raum für neue Erfahrungen und Erkenntnisse lassen. Sie enthalten Rätsel und haben einen enigmatischen Charakter (Adorno, 1991; Donne, 2012; Brandstätter, 2013; Baudelaire, 1975); sie enthalten aber auch Prozesse zur Erzeugung neuer Ordnungen (Arnheim, 1965) und hängen mit Lust und Unlust zusammen (Fechner, 1876/1925). Der Begriff „Kreativität“ lässt sich durch die von Rhodes begründeten Four ‚P‘ : das kreative Produkt, die Person, den Prozess und das „Press“ (englisch: die Not), also die Notwendigkeit, eine Idee zu produzieren, oder durch das kreative Feld beschreiben. Kreativität wird als Fähigkeit gesehen, etwas Neuartiges zu schaffen, das originell und als angemessen oder brauchbar bewertet wird. Übereinstimmungen bestehen, dass sich kreative Persönlichkeiten neben hoher Problemsensitivität durch hohe Offenheit für neue Erfahrungen, Ambiguitätstoleranz, Flexibilität und Flüssigkeit im Denken und eine ausgesprochene intrinsische Motivation auszeichnen. Widersprüchliche Ergebnisse zur kreativen Persönlichkeit werden im Komponentenmodell von Urban (2004) als Balance von Gegensätzen dargestellt. Insgesamt bleiben Konzepte zur kreativen Persönlichkeit dennoch zu undifferenziert. Joas (1991) schlägt zur Erforschung kreativen Verhaltens dynamische Handlungsmodelle vor. Durch das Ψ-Modell lassen sich Dynamiken im Verhalten unter Einbezug affektiver Variablen, wie dem Zusammenspiel von Motivation, Emotion und Kognition darstellen. Die Motivation in kreativen Prozessen hängt mit unterschiedlichen Emotionen zusammen, die das Wahrnehmen, Handeln und Denken im kreativen Prozess beeinflussen. Denken besteht aus psychologischer Sicht aus Gedächtnisspeichern, die Sprache und Bilder repräsentieren. Diese greifen ineinander und lassen sich nicht voneinander abgrenzen. Kreative Prozesse sind Antworten auf Wahrnehmungen, bei denen Unstimmigkeiten entdeckt und geordnet werden. Wahrnehmen ist demnach eine aktive Strukturierung und schöpferisches Begreifen der Wirklichkeit. Durch die kreative Problemlösung wird Unbestimmtheit beseitigt (Dör-

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ner, 1976). Sprache wie Bilder enthalten Unwägbarkeiten. Bei der Konstruktion von Bedeutung wechseln visuelle und sprachliche kognitive Repräsentationen einander ab. Sprache und Denken lassen sich nicht voneinander trennen. Durch Nachdenken lässt sich ein Bild der Welt konstruieren, das Analogie-Schlüsse und geistige Flexibilität ermöglicht. Kreative Probleme zeichnen sich durch Unbekanntheit von Wegen und Zielen aus. Zur Bewältigung kreativer Probleme gibt es deshalb keine vorgefertigten Lösungen. Kreatives Problemlösen erfordert also heuristische Kompetenzen und meta-kognitive Strategien, um neue Schemata zu bilden. Dazu ist es nötig, Vorstellungen vom Ziel zu entwickeln und sich an dieses Ziel anzunähern. Kreative Prozesse lassen sich als in rekursiven Phasen verlaufende Problemlösungen beschreiben. Die Frage, welche kognitiven Prozesse zu Ideen führen, ist nach wie vor ungeklärt. Diskutiert wird, ob Ideen schrittweise oder plötzlich auftreten. Die Ideenfindung kann unterschiedlich sein, mit plötzlichen Einfällen, Flow-Erleben, Motivation und Bedürfnisregulation zusammenhängen. Vollmer (2010) stellt in einer Einzelfall-Studie Dynamiken im Prozess fest, bei denen Suchprozeduren mit Sensibilität in der ästhetischen Wahrnehmung, Emotionen, wechselnder Bestimmtheit und überinklusivem Denken zusammenhängen. Kreative Prozesse können existentielle Erfahrungen beinhalten, die Transformation bewirken, aber auch innerlich stützen. In kreativen Prozessen wird von Flow-Erlebnissen berichtet, die beglücken, motivieren, mit der Beseitigung von Unbestimmtheit zusammenhängen und Attraktoreffekte beinhalten. Im Rückgriff auf den Bericht Poincarés (1914) vermutet Dörner (1976), dass das Erkennen entscheidender Strukturen im plötzlichen Einfall mit ästhetischem Empfinden zusammenhängt. In der Inkubationsphase könnten Gedächtnisstrukturen zerfallen; durch Entspannung werde übergeneralisiertes Denken möglich und eine Lösung erkennbar. Durch veränderte psychische Modulatoren können nach Vollmer (2010) unterschiedliche Gedächtnisstrukturen abstrahiert und miteinander in Einklang gebracht werden. Durch nach einer Phase intensiven Schaffens auftretende Emotionen sinkt nach Vollmer (2010) der Auflösungsgrad. Das veränderte Abstraktionsniveau ermöglicht Assoziationen und Analogie-Schlüsse.

3 Kreativität in Schule und Unterricht Robinson kritisiert mit vielen anderen Autoren eine rein auf Funktionalität hin orientierte Schule, die Kreativität hemmt (Robinson, 2011; Robinson/Aronica, 2015; von Hentig, 2000, S. 47; Heinelt, 1978, S. 83). Nach über 60 Jahren intensiver Forschung zu Kreativität sind die Befunde zu deren Hemmung in der Schule fast unverändert. Eine Ursache wird in „Teaching to the Test“ gesehen (s.a. Klieme et al., 2007, S. 229). Beghetto (2010) bemängelt, dass Schüler häufig in Frontalunterricht mit Frage-AntwortSchemata unterrichtet und damit zu konvergentem Denken erzogen würden (Beghetto, 2010, S. 450). Problematisch sei, dass sie über das Erlernen von Faktenwissen zur Reproduktion von Wissen in Tests angehalten würden. Die Form der Tests, so Beghetto (2010), bestimme den Unterricht. Lehrkräften unterrichteten, was in Tests abgefragt würde. Nötig wäre dagegen, Wissen und Kreativität miteinander zu fördern (Beghetto, 2010, S. 452f.). Auch Guilford (1950) argumentiert, durch sture, sich wiederholende Übung werde Kreativität zerstört. Beghetto stellt fest, dass viele Lehrkräfte gar nicht wissen, was Kreativität genau ist (Plucker et al., 2004; Beghetto, 2010, S. 445; Vollmer, 2016a). Wie er zeigt, empfinden viele Lehrkräfte unerwartete Ideen von Schülern als störend (Beghetto, 2007). Nach Aussage von Lehrkräften enthalten kreative Beiträge eine hohe Wahrscheinlichkeit zur Ablenkung vom Lernziel. Verschiedene Studien zeigen entsprechend, dass Lehrkräfte Nonkonformismus, Impulsivität, und störendes Verhalten mit Kreativität assoziieren (u.a. Chan/Chan, 1999). Auch Cropley (1982) zufolge werden kreative Schüler oft unter Druck gesetzt, sich konform zu verhalten (Cropley, 1982, S. 86). Runco (2007) stellt fest, dass Lehrkräfte zwar viel von Kreativität halten, sie aber in einer Klassensituation mit 30 Schülern nicht fördern (Beghetto, 2010, S. 454). Kennedy untersucht Effekte der Klassenführung auf kreativitätsfördernde Innovationen. Die untersuchten Lehrkräfte formulierten Sorgen, das Kreativität Chaos bewirken und ihren Plan durcheinanderbringen könnte oder sprachen von eigenen Bedürfnissen nach Ordnung (Kennedy, 2005, S. 264; Beghetto, 2010, S. 451). Ähnliche Bedenken äußerte Guilford (1950): „The child is under pressure to conform for the sake of economy and for the sake of satisfying prescribed standards“ (Guilford, 1950, S. 448). Die Anforderung des Lehrplans, die neben der Vermittlung von Wissen aus der Messung einer entsprechend abrufbaren Leistung besteht, erzeugt demnach Druck auf Lehrkräfte. So entsteht ein Bild von Kreativität als etwas, das von der Vermittlung des Lehrplans abhält. Dabei hätte Kreativität, das Potential, Alternativen zu Funktionieren, Leistung, Druck und Wettkampf zu eröffnen (von Hentig, 2000, S. 10f.) So geht Csikszentmihalyi davon aus, dass kreative Ideen durch eine Veränderung des Symbolsystems die Gedanken und Gefühle einer Domäne oder Kultur transformieren: „What we call creativity always involves a change in a symbolic system - a change, that in turn, will effect the thoughts and feelings of other members of the culture.“ (Csikszentmihalyi, 2014, S. 167). Die Anwendung dieses systemisch gedachten Modells auf die Institution Schule könnte Hinweise dazu geben, weshalb die Förderung von Kreativität in Schulen bisher so

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 B. Vollmer, Kreativität – Handeln in Ungewissheit, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31142-1_3

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wenig gelingt. Die Domäne entspräche einem „body of knowledge“, das Feld besteht aus Lehrkräften und das Individuum ist ein Beurteiltes, das zu Lernen hat. In diesem Fall entstünde Zwang zu Konformität, der allerdings auch immer wieder durchbrochen werde, wenn Lehrkräfte Originalität und Geist erkennen. Schule müsste sich demnach in ihrem ganzen Symbolsystem verändern, damit Kreativität auf allen Ebenen gefördert wird. Obwohl Kreativität eine Schlüsselqualifikation von Schule darstellt, lässt sich zusammenfassend konstatieren, dass Kreativität in Schulen gehemmt wird. Bemängelt wird, dass konvergentes Denken und autoritatives Lernen Kreativität, Leidenschaft und Entdeckerdrang verhindern. Unter dem Druck, gute Noten zu produzieren, wird Kreativität als Störfaktor empfunden. Auch aus der Klassenführung heraus würden Kreativität und unerwartete Ideen eher sanktioniert als gefördert, weil sie den Unterrichtsplan durcheinander bringen. Zur Förderung von Kreativität wäre statt dessen die Veränderung der Domäne Schule nötig. Diese Veränderung beträfe Schulen bis in ihre Symbolsysteme hinein. 3.0.1 Kreativität von Schüler*innen Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts äußern Guilford und Torrance ernsthafte Bedenken, was die Förderung von Kreativität in Schulen angeht. Sie kritisieren, dass Schulkinder durch die Art des Unterrichts in ihrem kreativen Potential gehemmt werden. In einer Studie an Erst- und Zweitklässlern bemängelt Torrance außerdem, dass die Fantasie der Schulkinder ausgelöscht werde (Torrance, 1959, S. 313). In einer Reihe von Studien beobachtet er einen Einbruch im divergenten Denkvermögen (Torrance, 1968). Diese Ergebnisse wurden vielfach repliziert und bis heute zeigt sich, dass die Kreativität der Schüler*innen im Laufe der Schulzeit abnimmt (u.a. Kreienbaum/Urbaniak, 2006). Dennoch wurde festgestellt, dass Schulerfahrungen nicht in jedem Fall das kreative Potential zerstören. Vielmehr können Lehrkräfte lernen, Schüler*innen in ihrer Kreativität zu unterstützen (u.a. Robinson/Aronica, 2015). Auf der Suche nach den Ursachen für die abnehmende Kreativität wurden verschiedene Hypothesen formuliert. Beghetto (2010) stellt fest, dass die Ursachen für mangelnde Kreativitätsförderung in der Schule nicht in mangelnder Wertschätzung von Kreativität liegen. Vielmehr zeigten Befragungen von Lehrkräften, dass diese fast immer für die Förderung von Kreativität sind. Ein Faktor, der zur Hemmung von Kreativität führt, liegt demnach in einem mangelnden Verständnis von Kreativität auf Seiten von Lehrkräften. Eine Spirale motivationaler Effekte entsteht durch „Teaching to the Test“ (s. Kap. 3, die Aufteilung von Kreativität in schulische und außerschulische Förderung und den Umgang mit der Motivation von Schüler*innen im Zusammenhang mit Kreativität. Torrance (1970) beobachtet, dass der Schwerpunkt kreativer Förderung hauptsächlich außerschulisch stattfindet (Torrance, 1970). Dies führt nach Renzulli (2005) zu einer Zweiteilung von Begabungskonzepten in schulische und kreativ-produktive Begabung. Letztlich wird Kreativität deshalb nicht mit dem regulären Lehrplan in Verbindung gesetzt, sondern als Gegenspieler von Disziplin gesehen. Dabei wäre es wichtig, kreative Fähigkeiten innerhalb der Schule zu fördern, weil diese mit Lernen und dem Aufbau von Erfahrungs- und Wissensbeständen zusammenhängt (Guilford, 1950, S. 446; Vygotzki, 1967/2004, S. 17) (Beghetto, 2010, S. 449). Auch Vigotzky und

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Guilford wenden den Blick auf Kreativität als grundlegende Form der Erkenntnisgewinnung (Guilford, 1950, S. 446; Vygotzki, 1967/2004, S. 17). Schließlich Kaufman/ Beghetto (2009) führt die durch die Rahmenbedingungen von Schule implizierte Bewertung von Kreativität anhand des Produktes dazu, dass das kreative Potential von Schülern häufig gerade nicht erkannt und gefördert wird. Lehrkräfte haben daneben nicht ausreichende Kenntnisse dazu, wie sich Kreativität im Verhalten von Kindern und Jugendlichen äußert. Bei einer Untersuchung von Torrance (1967) wurden 87 Lehrkräfte befragt, welche fünf Verhaltensmerkmale sie kreativen Schüler*innen zusprechen. Als typisch wurden Neugier und häufige Fragen, Originalität im Denken und Tun, Unabhängigkeit im Denken und Verhalten, Individualismus, Fantasie, Nonkonformität, Unabhängigkeit von der sozialen Norm, das Suchen von Beziehungen, Ideenflüssigkeit, Experimentierfreudigkeit, Flexibilität, Ausdauer, Konstruier-Freudigkeit, Bevorzugung von Komplexität, die Beschäftigung mit vielen Ideen und Tagträumen angesehen. Nach Heinelt (1978) zeichnen sich Kinder, die besonders kreativ sind, schon im Kindergarten durch Neuigkeitserleben, eine besondere Fragehaltung, sowie ihr Spiele-Verhalten aus. Er merkt kritisch an, dass der Begriff „kreativ“ oft dichotomisiert gebraucht würde. Zu Kreativität gäbe es kein Gegenstück, wie beispielsweise zu Introversion die Extraversion. Heinelt schlägt vor, für Übertritte auch die Kreativität der Schüler*innen zu berücksichtigen (Heinelt, 1978, S. 92). Die Interpretation von Kreativität als soziale Unangepasstheit wird von Wallach & Kogan (1965) relativiert. Sie kamen bei ihrer dichotomisierten Stichprobe zum Ergebnis, dass hochkreative und hochintelligente Schüler*innen, sowie hochintelligente, aber weniger kreative von ihren Peers anerkannt waren, wenig intelligente aber hochkreative Schüler*innen dagegen Schwierigkeiten mit ihren Peers und Lehrkräften hatten (Heinelt, 1978, S. 102). Für die Förderung kreativer Prozesse sehen Amabile (1996) wie Robinson/Aronica (2015) die Motivation als zentralen Faktor an. Der eigentliche Antrieb für Kreativität bestehe aus Hunger nach Entdeckung und Leidenschaft zu lernen. Obwohl vertiefte Kenntnisse für kreative Ergebnisse wichtig seien, zerstöre das ausschließliche Erlernen von Fakten Durchhaltevermögen und Kreativität (Robinson/Aronica, 2015). Entsprechend ergab eine viel zitierte Studie von Haddon (1970)1 , dass Schüler*innen „formaler, traditioneller“ Schulen, in denen Wert auf konvergentes Denken und autoritatives Lernen gelegt wurde, bei mittlerem IQ geringere Leistungen in Kreativitätstests zeigten, als solche, die auf Schulen waren, die selbst-initiiertes Lernen und progressive Aktivitäten förderten (s.a. Amelang/Bartussek, 1985, S. 296). Diese Ergebnisse spiegeln sich auch in aktuellen Beobachtungen von Robinson/Aronica (2015) wider. Er beschreibt, wie selbstinitiiertes oder eigenverantwortliches Lernen in Teamarbeit die Lernfreude und das Interesse von Schüler*innen stärken. Theorien zu den Faktoren, die für dafür verantwortlich sind, stehen jedoch nach wie vor aus. Hattie (2009) legt das Augenmerk darauf, dass man nicht davon ausgehen kann, dass sich Einstellungen wie Offenheit für neue Erfahrungen mit dem Lernen von selber entwickeln. Er betont die Wichtigkeit, Offenheit für neue Erfahrungen, die ein grundlegendes Merkmal kreativer Persönlichkeiten ist, auch in Schulen zu lehren: die Schüler brächten einen großen Teil an Fähigkeiten mit, könnten aber auch vieles in der Schule 1

Die Studie wurde jedoch auch kritisiert, weil die Ergebnisse nicht in Bezug zum sozialen Niveau der Schüler*innen gesetzt worden waren.

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dazulernen. Lernprozesse würden gehemmt, wenn auf den Erwerb dieser Fähigkeiten kein Augenmerk gelegt würde. Lehrkräfte brauchen also eine viel umfassendere Sichtweise auf kreative Schüler*innen, als dies bisher der Fall ist. Kaufman/Beghetto (2009) schlagen deshalb ein Four C Model of Creativity mit Big C als legendäre, Pro-C als noneminent, professionelle, little-c als alltägliche und mini-c als interpretative Kreativität vor. Weil das kreative Potential von Menschen, die noch keine herausragenden Produkte hervorgebracht haben, leicht übersehen werden können, sieht er es als kritisch an, das (Lern)produkt zur Klassifikation von Kreativität heranzuziehen (Beghetto, 2010, S. 455f.). Um Kreativität zu fördern sind also genauere Kenntnisse zu den Prozessen, die die Motivation von Lehrkräften, Schülerinnen und Schülern beeinflussen, nötig. Im Überblick lässt sich sagen, dass die Kreativität von Schüler*innen im Verlauf der Schulzeit abnimmt. Sie wird häufig mit Stören und schlechtem Sozialverhalten verknüpft. Dass Förderprogramme vor allem außerhalb der Schule stattfinden, fördert ein Bild von Kreativität als Gegenspieler zu Disziplin. Lehrkräfte wissen häufig nicht genau genug, wie sich Kreativität äußert. Sie kann nicht am Produkt, sondern muss am Verhalten erkannt werden. Kreative Kinder zeichnen sich durch besonderes Frageund Spiele-Verhalten aus. Offenheit für neue Erfahrungen sollte deshalb schon in der Schule gelehrt werden. Um die Sicht auf die kreativen Potentiale von Schülern zu ermöglichen, schlägt Beghetto (2010) ein Modell vor, nach dem es verschiedene Levels von Kreativität gibt. 3.0.2 Kreativität von Lehrkräften Aus den oben beschriebenen Befunden ergibt sich die These, dass Lehrkräfte lernen müssen, Kreativität nicht als Störfaktor, sondern als willkommene Herausforderung zu sehen (s.a. Cropley 1982, S. 86). An vielen Stellen mündet diese Feststellung in einen Hinweiskatalog, den Lehrkräfte beachten sollen (s. Urban, 2004b). Die Bildungskommission NRW rät, Lehrkräfte sollten für sich selber mehrere Lösungswege bejahen und dazu ermutigen, Fragen zu stellen (Bildungskommission NRW 1995, S. 94). Andere Ansätze beziehen sich auf die Entwicklung der Lehrer*innenpersönlichkeit. Über die einzelne Lehrperson hinausgehende Ursachen werden für die Nachhaltigkeit, mit der sich konvergentes Denken betonende Unterrichtsformen halten, verantwortlich gemacht. Lehrkräfte präge Verhalten, dem sie in ihrer Schulzeit jahrelang ausgesetzt waren, und aus der sie mit Glaubenssätzen, Vorstellungen und Orientierungen zu LehrLern-Prozessen hervorgegangen sind. Ohne Aufarbeitung dieser Erfahrungen würden junge Lehrkräfte diese Verhaltensweisen unreflektiert weiter in ihre Klassen tragen (Beghetto, 2010, S. 451). Lehrkräften müssten ihre eigenen Wissens- und Erfahrungsbestände zum Thema Kreativität aufarbeiten (Guilford, 1950, S. 446; Vygotzki, 1967/2004, S. 17). In der Lehrer- und Lehrer*innenbildung müsste die Reflexion eigener schulischer Erfahrungen bedacht werden (Beghetto, 2010, S. 452). BIP-schulen2 legen einen Schwerpunkt auf kreative Begabtenförderung, die sie in einer Zusatzausbildung stützen. Bei Lehrkräften der BIP-Mehlhornschulen konnte in der ersten Auswertung der PERLE-Studie eine höhere Selbstwirksamkeitserwartung, höhere Lernzielorientierung und eine höhere Individualisierungstendenz festgestellt 2

Hinter dem Kürzel steht die Förderung von Begabung, Intelligenz und Persönlichkeit als erklärtes Ziel der BIP-Mehlhorn-Schulen.

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werden. Im Bereich der Lernzielorientierung zeigte sich, dass Lehrkräfte von BIPMehlhornschulen stärker auf den Erwerb neuer und die Verbesserung bestehender Kompetenzen setzten als die der untersuchten Regelschulen. In der PERLE-Studie wurden in einem längsschnittlichen Mehrebenen-Design die Persönlichkeits- und Lernentwicklung von Grundschulkindern in staatlichen und BIP-Mehlhornschulen einiger neuer Bundesländer untersucht. Lehrkräfte an BIP-Mehlhornschulen orientieren sich eher an einer individuellen als an einer sozialen Bezugsnorm. Sie lehnen einen interindividuellen Leistungsvergleich stärker ab, stimmen einer differenzierenden Praxis stärker zu und scheinen diese entsprechend stärker zu bevorzugen als die Kontrollgruppe von Lehrkräften aus Regelschulen (Post/Kastens/Lipowski, 2013, S. 173). Die deskriptiven Befunde legen nahe, dass sich BIP-Lehrkräfte mehr Verantwortung für verfehlte Schüler*innenleistungen zuschreiben, als Lehrkräfte der untersuchten regulären Schulen. Resultierend ergeben sich daraus höhere Differenzierungstendenzen, als dies bei den Lehrkräften der staatlichen Schulen der Fall war. Dabei zeigen beide die gleichen Einstellungen zu konstruktivistischen Sichtweisen der Übermittlung von Lerninhalten anstelle von transmissiven Sichtweisen. Irritierend ist der Befund der höheren Selbstwirksamkeitserwartung insbesondere, weil nach Bandura eine längere Berufserfahrung (direkte Erfahrung = mastery experience) die Selbstwirksamkeit beeinflussen müsste. Die untersuchten BIP-Lehrkräfte waren allerdings im Durchschnitt jünger als die Lehrkräfte der Kontrollgruppe an staatlichen Schulen und hatten entsprechend weniger Berufserfahrung (M = 8.82 Jahre). In Bezug auf das Begabungskonzept zeigten beide Lehrkräfte die gleichen Vorstellungen. Für Robinson (2015) stellt Kreativität eine der interessantesten Herausforderungen im Lehrberuf dar. Allerdings müssten Lehrkräfte wissen, aus welchen Dynamiken kreative Prozesse bestehen können. Entscheidend sei, die Perspektive der Schüler*innen zu verstehen. Wer sich für die Leidenschaft von Schüler*innen begeistere, könne diese bei ihren individuellen Interessen abholen und zu Höchstleistungen bringen. Vor dem Hintergrund, dass die pädagogische Literatur zu Humor und Spiel in der Lehrer- und Lehrer*innenbildung selten rezipiert wird, scheint der Befund von Heinelt (1978) nach wie vor aktuell zu sein, dass Lehrkräfte das Spielinteresse von der ersten Klasse an abbauen und eine Denkdisziplin fordern, die zu zielorientierter Leistung und einer konzentrierten Arbeitshaltung führt. Der Hinweis von Urban (2004) geht darüber hinaus. Er meint, es gehe vor allem darum, dass Lehrkräfte nicht Kreativität hemmten. An sich kluge Gedanken könnten Kreativität hemmen oder verhindern, wenn sie stereotyp angewandt würden (Urban, 2004d, S. 78). Er gibt 25 Anregungen, die sich sowohl auf die Gestaltung einer angstfreien Unterrichtsatmosphäre als auch auf eine wertschätzende Lehrer*innen-SchülerInteraktion beziehen. Jean Luc Patry sieht die Ursachen dafür in der Schwierigkeit antinomischer Ziele (Patry, 2012). Er stellt fest, dass Lehrer*innen häufig dichotomisieren, z.B. in unaufmerksame und aufmerksame Schüler, was aber je nach Situation viel stärker zu differenzieren wäre. Die Antinomie einer Situation hänge von der Interpretation der Lehrkraft ab und könne nicht in jedem Fall die gleiche sein (Patry, 2012, S. 182). Im Unterricht ist es demnach notwendig, subtile Unterschiede zwischen Situationen zu erkennen und situationsbezogen kreativ darauf zu reagieren. Basierend auf den Überlegungen Mischels von 1968 und dem CAPS-Modell von Mischel und Shoda (1995, 2008) entwickelt Patry (2000) die Theorie der Situationsspezifität. Vom CAPS-

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Modell ausgehend meint Patry (2011), dass die zentrale Frage für Lehrkräfte häufig ist, Ziele möglichst geradlinig, schnell oder effektiv zu erreichen. Wichtiger sei aber, ob ein Mittel zur Erreichung des Ziels jeweils angemessen ist. Um die Theorie zu vereinfachen, geht Patry (2011) zunächst von jeweils zwei konkurrierenden Zielen aus, für mehr müsste die Theorie angereichert werden. Die unterrichtliche Realität sieht aber wesentlich komplexer aus. Im CAPS-Modell wird das Persönlichkeitssystem als Zusammensetzung mentaler Repräsentationen gesehen, die aus verschiedenen „kognitivaffektiven Einheiten“ bestehen.3 Beispiele sind mentale Repräsentationen des Selbst, anderer Menschen oder von Situationen, Gefühle, Ziele, Erwartungen, Schemata zu Selbstregulationen oder Erinnerungen an Ereignisse. Die Netzwerke aus Kognitionen und Affekten variieren je nach Person. Sie können einerseits situationsüberdauernd verfügbar sein, sich aber andererseits je nach Situation in ihrer spezifischen Zusammensetzung und der Stärke ihrer Aktivierung unterscheiden (Stemmler et al., 2011, S. 451f.). Robinson (2011) setzt drei Kernziele von Lehrkräften: Sie sollten Begeisterung für ihr Fach vermitteln, zu lebenslangem Lernen und Experimentieren inspirieren und Selbstsicherheit und originelles Denken fördern. Dazu empfiehlt er erfahrungsbasiertes Lernen in Teamarbeit. Um kreatives Denken zu schulen, wäre es nötig, Kreativität schon in der Lehrer*innenausbildung zu lehren und kreatives Verhalten einzuüben. Vor dem Hintergrund der Unwägbarkeit von Unterricht ist nachvollziehbar, dass Post, Kasten und Lipowsky (2013) als ein Ergebnis der PERLE-Studie feststellen: Der Studie zur Kreativität an BIP-Mehlhorn-Schulen zufolge „ sind Lehrkräfte, die eine hohe Selbstwirksamkeit aufweisen, weniger kritisch gegenüber SchülerInnen, die Fehler begehen, begleiten SchülerInnen mit Lernschwierigkeiten stärker [...] und lehren innovativer und reflektierter.“ (Vollmer, 2016a, S. 141). Lehrkräfte müssten, so Urban (2004), kreatives Verhalten erkennen, zulassen und akzeptieren. Es gehe darum, ein kreativitätsförderndes Klima zu entwickeln, um schöpferisches Denken und Handeln anregen zu können. Dazu sei das Aussuchen geeigneter Gegenstände und Anlässe, die kreatives Denken fördern, notwendig. Wie Urban betont auch Dubs (2009), dass die Art der Fragestellung wichtig für die kreative Antwort darauf ist. Im Kontext von Kreativitätsförderung formulieren Robinson und Aronica (2015) deshalb drei Ziele guter Lehrkräfte. Sie inspirieren ihre Schüler*innen, indem sie sie für ihre Disziplin begeistern und sie so zu ihrer höchsten Leistung motivieren; sie verhelfen Schüler*innen zu Selbstbewusstsein, so dass sie lebenslang lernen; sie bringen ihren Schüler*innen bei zu experimentieren, Fragen zu stellen und die Fähigkeit zu Originalität im Denken zu entwickeln (Robinson/Aronica, 2015, S. 127). Erfahrungsbasiertes Lernen und Teamarbeit fördern nach Robinson (2011) die Kreativität von Schüler*innen. In Teams könnten Schüler*innen lernen zu entdecken, kreativ mit Sachverhalten umzugehen und ihre Werke zu präsentieren (Robinson, 2011). „ Students work with teachers who are working in teams. You [a]re not going from subject to subject that much. You [a]re making and creating a lot of things. You are expected to have public exhibitions of your work on a fairly regular basis. You [a]re standing up and presenting quite frequently. You have to have fun.“ (Robinson/Aronica, 2015, S. 129). 3

Im Englischen werden sie als cognitive-affective units (CAU) bezeichnet.

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Robinson und Aronica (2015) beschreiben Schüler*innen, die Freude daran haben, etwas zu gestalten und ihre Ergebnisse zu präsentieren. Nach Robinson (2011 haben Schulen den Auftrag, die Potentiale von Schüler*innen aufzutun und ihnen Gelegenheit zu geben, ihre Leidenschaft zu entdecken (Robinson, 2011, S. 132f.; S. 144ff). Wenn man Schüler*innen Eigenständigkeit zutraut und sie bei deren Lösung begleitet, lösen diese demnach gestellte Herausforderungen mit Begeisterung. Der Entwicklung von Vorstellungskraft kommt dabei eine entscheidende Rolle zu (Robinson, 2011; Berner, 2013). Auch Dörner stellt fest, dass ein grundlegendes Element von Kreativität die Entwicklung von Vorstellungen ist (Dörner, 2001, S. 199). Reich (2002) erklärt auch, dass eine der Voraussetzungen für eine gute Lehrkraft deren Vorstellung sei, eine Lehrkraft zu sein, die andere mit zündenden Ideen fesselt und begeistert. Es sei die Vorstellungskraft, die „sich eben nicht an das Rationale (...) fesselt, sondern sich dem Körper, dem Gefühl, dem inneren Erleben, den Unschärfen dieses Erlebens an den Rändern zu Traum, Intuition, Ahnungen verpflichtet und ausgewiesen weiß“ (Reich, 2002, S. 59). Der Umgang mit den „Unschärfen des Erlebens“ erfordert auch die Fähigkeit, mit sich selber umzugehen. Robinson verweist über die Notwendigkeit der Kreativitätsförderung hinaus darauf, dass die heranwachsende Generation größere emotionale Schwierigkeiten, als die bisherige habe. Einsamkeit, Depression, Unruhe, Nervosität, Impulsivität und Aggressivität hätten zugenommen. Schüler*innen müssten deshalb lernen, mit ihren Emotionen umzugehen (Robinson, 2011, S. 173). Elementare zwischenmenschliche Erfahrungen, die mit Gefühlen zu tun haben, verkümmerten in der Schule (Hentig, 1998, S. 49). Ästhetische Wahrnehmung umfasst dagegen ein Verständnis für den eigenen Körper und die Fähigkeit, mit Gefühlen umzugehen. Wechsel von aktiven und ruhigen Perioden, sowie die intensive Auseinandersetzung mit einem Thema sollten möglich sein (Urban, 2004c, S. 83). Hinzu kommt, dass Lehrkräfte selber kreative Prozesse verstehen und nachvollziehen können müssten damit sie sie fördern können. So meint Cropley (1979), übergeneralisierende Denkstrategien seien besser nachvollziehbar, wenn man selber damit arbeite (Cropley, 1979, S. 72). Demzufolge müsste Kreativität schon in der Lehrer- und Lehrer*innenbildung gelehrt und eingeübt werden. Aktuelle Untersuchungen dazu stehen jedoch aus. Baloche et al. (1992) befragten über 100 Lehrende an Universitäten, die KreativitätsKurse anboten. Diese unterrichteten Techniken und Konzepte von Kreativität, lehrten ein Verständnis von Kreativität und schufen eine sichere und freie Atmosphäre. Sie hielten für wichtig, dass die Studierenden ein Tagebuch führten, kreative Erfahrungen machten, kreatives Problemlösen zeigten und ein kreatives Produkt herstellten. Einer - ebenfalls älteren - Studie von McDonough (1987) zufolge unterrichteten von 1500 angeschriebenen Instituten der Lehrer- und Lehrer*innenbildung nur sechs KreativitätsKurse zu „Methoden der Kreativitätsförderung bei Kindern“ (Urban, 2004d, S. 96f.). Die meisten Studien zu Lehrkräften beziehen sich auf deren Einschätzung von Kreativität. Neben positiven Eigenschaften schreiben Lehrkräfte kreativen Schüler*innen auch Nonkonformismus und Unangepasstheit zu. In der Lehrer- und Lehrer*innenbildung müssten Lehrkräfte mehr über Kreativität lernen. Damit sie Kreativität nicht

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als Störfaktor sehen, müssten sie eigene schulische Erfahrungen aufarbeiten. Belege für eine Verbesserung von Unterricht durch die Förderung von Kreativität bei Lehrkräften finden sich in der PERLE-Studie. Disziplin werde als Gegensatz zu Kreativität konzipiert und spielerisches Interesse abgebaut. Schüler*innen würden häufig nicht verstanden, sondern mit stereotypen Antworten konfrontiert. Nötig sei dagegen, eine angstfreie und wertschätzende Atmosphäre zu schaffen. Patry (2000) sieht Ursachen in den Antinomien pädagogischer Berufe. Die Herausforderung des Lehrberufs bestünde darin, situationsspezifisch auf Unterschiede einzugehen. Um Kreativität fördern zu können, müssten Lehrkräfte selber kreativ gearbeitet haben. Deshalb sollte Kreativität in der Lehrer*innenbildung gelehrt und eingeübt werden. 3.0.3 Förderung von Kreativität Wie Amabile und ihre Kollegen gezeigt haben, hängt Kreativität mit der Förderung intrinsischer Motivation zusammen (Amabile, 1996). Wettkampf, sozialer Vergleich und die Sorge vor Kritik durch die Klassenkameraden kann je nach Persönlichkeit der Schüler*innen die Bereitschaft und Fähigkeit zu kreativer Leistung unterbinden. Spielerische Bedingungen fördern die Bereitschaft, riskantere intellektuelle Vorschläge und Beiträge zu liefern. Lehrkräfte sollten also vorsichtig sein, was Förderung durch Wettkampf angeht und deutlich machen, wenn es keine Benotung gibt (Beghetto, 2010, S. 456). Sonst bestünde die Gefahr, dass Belohnungen einen Teil der Aufmerksamkeit vom kreativen Prozess abwenden und so die für den kreativen Ausdruck nötige Konzentration, die Bereitschaft zu Risiko und Anstrengung vermindern. Kreativitätsforschende sollten Lehrkräften demzufolge helfen, ihre motivationalen Impulse bewusst und gezielt zu steuern und sich klar über die Gefahren extrinsischer Motivation sein. Beispielsweise wurde von Hennessey (1993) ein Programm entwickelt, das Schüler gegen extrinsische Motivation stärken soll Beghetto, 2010, S. 457). Beghetto setzt kreative Wirksamkeit als Unterkategorie von Selbstwirksamkeit Bandura (1997). Er definiert kreative Wirksamkeit als Überzeugung bezüglich der eigenen Fähigkeit und Kompetenz neue, angemessene Ideen, Lösungen und Verhaltensweisen hervorbringen zu können (Beghetto, 2010, S. 457). Bandura habe, so Beghetto, gezeigt, wie wichtig kreative Selbstwirksamkeit für das Annehmen von Herausforderungen sei. Sie helfe dabei, Risiken als Herausforderung wahrzunehmen, und beeinflusse sowohl die Bereitschaft, sich auf Herausforderungen einzulassen, als auch die Anstrengungsbereitschaft bei Schwierigkeiten. Dazu sei die Bereitschaft, Kritik oder Misslingen zu riskieren wesentlich für das Teilen von Ideen und Vorstellungen, das Stellen ungewöhnlicher Fragen, sowie das Ausprobieren neuer Wege. Die Sorge vor Kompetenzverlust, davor, von Anderen ausgelacht zu werden, oder Fehler zu machen, sei Realität für viele Schüler (Beghetto, 2010, S. 458). Damit Schüler*innen ein gesundes Bild ihrer Fähigkeiten entwickeln, sollten Lehrkräfte Fehler positiv bewerten, als gewinnbringende Lerngelegenheit nutzen und konkretes und informatives Feedback zum kreativen Potential ihrer Schüler*innen geben (Beghetto, 2010, S. 458). Zentral für kreative Prozesse sind spielerische Herangehensweisen (Voigt, 2005; Cropley, 1990, S. 60; Vollmer, 2010). Zerlegen, Umkehren, Zusammensetzen und Reflektieren von Lerninhalten fördert die Offenheit für neue Perspektiven (Urban, 2004, S. 83). Auch im Dialog können Impulse gegeben werden, die neue Sichtweisen eröffnen,

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zu Fragen und zur Problemlösung herausfordern. Differenzierung und das Einbringen eigener Ideen, Entdeckungen, Besinnung und Bewertung seien, so von Hentig (1998, S. 49), für Kreativitätsförderung unerlässlich. Ähnlich argumentiert Wiater (2009), Schüler sollten mit authentischen Problemen konfrontiert werden. Schablonen und Musterlösungen widersprechen dagegen vielfältigen Lösungen, wie sie in lebensnahen Situationen üblich sind. Durchhaltevermögen wird bei authentischen, situierten Problemen mit Ernstcharakter und ohne vorgefertigte Lösungen trainiert (Cropley, 1979). Dörner plädiert darüber hinaus dafür, komplexe Situationen zu schaffen und das Verhalten darin zu reflektieren (Dörner, 1993, S. 307). Weil kreatives Denken sich durch „Erfinden und Entwickeln von neuen Ideen, Prozessen und Produkten“ (Dubs, 2009, S. 213) auszeichnet, empfiehlt Dubs (1995), Denkstrategien gezielt zu fördern. In Bezug auf kreatives Denken sollten Lehrkräfte nach Dunkin (1974) Möglichkeiten für originelles Verhalten eröffnen, die Veränderung von Dingen oder Vorstellungen unterstützen, schlecht strukturierte Probleme lösen lassen und Wahrnehmungserlebnisse, die sie dabei hätten, beschreiben lassen. Da sich kreatives Denken durch die drei Merkmale der Flüssigkeit im Denken (Entwicklung vieler Ideen), Flexibilität (flexibles Wechseln der Kategorien zu einem Problem) und Originalität (Generieren von Unerwartetem) auszeichne, sollten Lehrkräfte auf neuartige, originelle und brauchbare Leistungen für die Lernenden achten. Zu lernen sei, viele Wissenskomponenten zu einer Einheit zu kombinieren, divergente und originelle Ideen zu entwickeln, sich Pläne und Strukturen auszudenken und neuartige Verallgemeinerungen zu finden (Dubs, 2009, S. 228f.). Dubs orientiert sich an Überlegungen von Simon (1966), der davon ausgeht, dass die kognitiven Fähigkeiten beim Problemlösen aus Heuristiken bestehen, die erlernbar sind. 1. In der Präparation können Wissen und intellektuelle Fähigkeiten erworben werden. 2. In der Phase der Zielsetzung kann geübt werden, flexibler zu denken. Eine breite Wissensbasis und die Einschätzung von Problemen ist hilfreich, um neue Erklärungsansätze und Sichtweisen zu elaborieren. 3. Dubs meint, dass die Definition des Ziels wichtig sei für den kreativen Prozess. Die kognitive Repräsentation des Problems sei dafür entscheidend. 4. Zur Lösungsfindung sei ein Wechsel zwischen Einzelarbeit und BrainstormingTechniken in der Gruppe üblich. Zu Brainstorming gibt es allerdings sehr unterschiedliche Befunde. Bei Brainstorming wird von einer Hemmung ausgegangen, die die Lösung von Problemen verhindert. Eine Ursache sei, so Weisberg, dass man zu schnell urteile. Er sieht Brainstorming kritisch. Die Effektivität von Brainstorming könne in keiner Untersuchung nachgewiesen werden, so Weisberg (1989, S. 85ff). Gruppen ohne Brainstorming hatten in fast allen Untersuchungen weniger, vor allem aber nicht die besseren Ideen. Auch Gruppenarbeit sei nur unter zwei Bedingungen empirisch nachgewiesenermaßen kreativer als Einzelarbeit, nämlich um ein Gefühl der Akzeptanz zu erhöhen und wenn verschiedene Fachleute zusammenarbeiten. Weisberg berichtet von der Entdeckung der Henleschen Schleifen in den Nierentubuli. Man sei davon ausgegangen, dass sie keine Funktion hätten, bis ein Ingenieur sich

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die Schleifen ansah und sofort erkannte, dass sie etwas mit dem Gegenstromprinzip zu tun hatten. Er übertrug das Prinzip eines technischen Geräts, auf ein anderes, das auf diese Art eine Konzentrationssteigerung von Lösungen bewirkte (Weisberg, 1989, S. 96). Teamarbeit bietet also infolge der unterschiedlichen Perspektiven verschiedener Fachrichtungen kreative Potentiale. Insofern scheint Teamarbeit für Innovationen in Zukunft unerlässlich. Effektive Teamarbeit braucht disziplinierte, funktionierende Kommunikation, Dialogfähigkeit und die Bereitschaft, konfliktträchtige Themen aufzugreifen (Senge, 2006, S. 315f.). Zusammenfassend steht die Erforschung folgender Bereiche aus: Der Zusammenhang zwischen Lernen und Kreativität ist bisher zwar festgestellt (u.a. Guilford, 1950; Plucker/Beghetto/Dow, 2009) , aber noch nicht genau genug elaboriert (Beghetto, 2010, S. 459). Lehrer*innen müssten in ihrer Ausbildung besser auf das Vermitteln von Kreativität vorbereitet werden. Sie müssten ihre eigenen schulischen Erfahrungen hierzu überdenken; Kreativitätsforschende sollten in die Entwicklung, Durchführung und Untersuchung neuer pädagogischer Konzepte zur Förderung von Kreativität und akademischem Lernen integriert werden (Beghetto, 2010, S. 459). Schulen sollten die intrinsische Motivation gefördern. Sozialer Vergleich und die Sorge vor Niederlagen verhindern dagegen Kreativität. Spielerische Bedingungen fördern dagegen die Bereitschaft etwas auszuprobieren. Deshalb sollte kommuniziert werden, wenn Noten zeitweise ausgesetzt werden. Die kreative Selbstwirksamkeitserwartung der Schülerinnen und Schüler sollte gefördert werden. Humor und Fehler sollten erlaubt, offene experimentelle Unterrichtsformen und Dialoge mit komplexen Fragestellungen gefördert werden. Neben ästhetischen Erfahrungen sind Teamarbeit und der Umgang mit Gefühlen zu trainieren. Konkretes, informatives Feedback zu kreativen Potentialen sei nötig, damit Schülerinnen und Schüler ein gesundes kreatives Selbstbewusstsein entwickelten. Um die Entwicklung von Heuristiken zu üben, schlägt Dubs (2009) eine Vorgehensweise nach dem kreativen Prozess oder Brainstorming vor. Die Ergebnisse dazu sind allerdings uneindeutig. Brainstorming macht vermutlich nur deshalb Sinn, weil es im Team durchgeführt wird. Der Zusammenhang von Lernen und Kreativität müsste deshalb weiter untersucht werden. Schlussfolgerungen für die Lehrer- und Lehrer*innenbildung seien zu ziehen und pädagogische Konzepte müssten in Zusammenarbeit mit Kreativitätsforschenden entwickelt werden. 3.0.4 Situierte Kreativität Ausgehend von Debatten um die Konzeptualisierung pädagogischer Professionalität nehmen Combe & Paseka (2012) die COACTIV-Studie als Grundlage, um die praktischen Implikationen und Herausforderungen für Lehrkräfte in einem verstehensintensiven Unterricht zu untersuchen. Dabei kristallisiert sich situierte Kreativität als Herausforderung für die Professionsforschung heraus. Combe & Paseka (2012) zeigen anhand von Videoanalysen des deutschen Mathematikunterrichts, dass eine Neigung besteht, komplexe Aufgabenstellungen „engschrittig zu unterrichten“ (Klieme/Schümer/Knoll, 2001) und sie somit auf Linearität zu reduzieren. Sie verweisen darauf, dass weniger die Auswahl der Aufgaben, sondern auch die „Art und Weise ihrer Implementation im Unterricht“ untersucht werden muss (Combe/ Paseka, 2012, S. 95).

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Die COAKTIV-Studie setzt „durchgängig hermeneutische Konstruktionsfähigkeit qua Imagination“ voraus (Combe/Paseka, 2012, S. 96). Anstelle einer „transmissiven“ Vorstellung von Unterricht (bei der Inhalte einer kanonisierten Welt weitergegeben würden), tritt die Koproduktion aller Beteiligten mit der Vorstellung von Lernenden als Ko-Konstrukteuren. Das Handeln von Lehrpersonen müsse eine passive und zugleich aktive Struktur enthalten. Sie müssten nicht nur aufnahmebereit und offen sein für die Zeichenhaftigkeit und Mehrdeutigkeit von Lerngegenständen, sondern diese hervorlocken können. Entscheidend sei, dass sie selber verschiedene Lösungsmöglichkeiten kennen. Dies sei vor allem deshalb notwendig, weil damit der behandelte Gegenstand (auch und zuerst von der Lehrkraft) in seiner Tiefe besser verstanden würde. Der „hermeneutische Konstruktivismus“, so Paseka und Combe, rücke den Wert der Irritation in den Blick. Es wird davon ausgegangen, dass sich, um eingefahrene Wissens-, Erfahrungs- und Denkstrukturen zu verändern, Irritationen in Form von Umkehraufgaben eigneten. Verstehen habe auch mit „Sprachsuchen“, „Entstehen-lassen von Gedanken, Einsichten und Bildern“ zu tun. So seien Interaktionen im Unterricht auf „den Austausch von Erfahrungen, Argumenten und Hypothesen zu öffnen“ (Combe/Paseka, 2012, S. 97), um für thematische Vertiefungen zu sorgen. Schüler*innen seien mit heterogenen Sichtweisen und der fremden Problem- und Lösungsperspektive zu konfrontieren. Nach Combe/Gebhard (2012, S. 82ff.) betreten SchülerInnen „Ebenen des gedanklichen Ausprobieren, hypothetische Räume auf dem Boden ihrer Phantasie und Erfahrung“ (Combe/Paseka, 2012, S. 98). Dabei identifizierten sie Ähnlichkeiten und Differenzen, die sie inhaltlich weiter führten. Die hermeneutische Arbeit mit perspektivischen Brechungen und Praktiken könne auch in die gegenseitige Anerkennung unüberbrückbarer Differenzen führen. Die in Fallbeispielen untersuchten Lehrer*innen und Lehrer*innen erwiesen sich als bisweilen hochwandlungsfähige Mit- und Gegenspieler. „Irritationen und Konflikte“ waren „nicht nur unvermeidlich, sondern häufig die wirksamsten Lern- und Verstehensanlässe“ (Combe/Paseka, 2012, S. 99). Da Irritationen nicht vorhersehbar oder planbar sind, erfordern sie die spontane Reaktionsbereitschaft der Lehrenden. Methodologisch sei es „zwingend, die Entwicklungsimpulse dieses komplexen Lernsettings auf der Ebene personenbezogener Fallstudien und aus der Binnenperspektive der Handelnden zu beschreiben“ (ebda.). Nur so könnten die ablaufenden Prozesse des interaktiven „Mit- und Gegeneinanders“ besser verstanden werden. Im Nachgang stelle sich die Frage, ob Wissen mit Könnerschaft gleichgesetzt werden könne (Neuweg, 2006), oder ob hier nicht eine Dimension fehle, die mit Intuition und Erfahrung zusammenhänge und in der Praxis einen kreativen Zugang zu Unterricht erfordere, der situativ und lokal spezifisch zu leisten sei. Die Autoren verweisen auf praktisches Wissen in Form von der kategorialen Wahrnehmung von Handlungssituationen, sowie in Form von Skripten oder ‘knowledge in action´. Handeln von Lehrkräften müsse stärker in Beziehung zu Intuition, Körper und emotional motivationaler Bewertung von Situationen gesetzt werden. Obwohl COACTIV praktischem Wissen einen hohen Stellenwert einräumt, halten die Autoren „diese Argumentation für unterkomplex“ (Combe/Paseka, 2012, S. 100). Bei der Anwendung von Wissen auf Situationen gäbe es viele Varianten der Interpretation dieser Situation. Es handle sich um einen hermeneutischen Vorgang, bei dem Sinn gedeutet und sichtbar gemacht werden müsse und „Erfindungen“ und Kreativität erforderlich seien. Wie sie feststellen, findet

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in einigen Fällen eben gerade keine situative Anpassung an die neuen situationsbezogenen Anforderungen statt, vielmehr zeigt sich, dass die neu gedachten Strukturen in das bestehende, traditionelle System eingefügt werden (Combe/Paseka, 2012, S. 101f.). Einen qualitätsvollen, verständnisintensiven Unterricht zu erreichen, der die Beschäftigung mit inhaltsspezifischen Lern- und Verstehensprozessen in den Mittelpunkt stellt, fordert von Lehrkräften eine breite Basis an Fähigkeiten, bis in den Bereich der Überzeugungen und der Selbstregulation hinein. Die Debatte um Möglichkeiten der Umsetzung von grundsätzlichen Erkenntnissen der Bildungs- und Unterrichtsforschung zur Situationsspezifizität des Lehrer*innenhandelns (Patry, 2011) habe erst begonnen. Dieses Problem zeige sich in Forschungen wie „Transferforschung“, „Schulbegleitforschung“, „Implementationsforschung“, oder „didaktische Entwicklungsforschung“. Wie Joas (1992/1996) schreibt, ist Kreativität „als Bestandteil von Handeln und geradezu als routinemäßig aus- und fortzubildende Fähigkeit“ zu verstehen. Sie entstehe im Handlungsfluss sowohl im Rückgriff auf Erfahrungen als auch mit Orientierung auf die Zukunft. Im Feld zwischen Grundlagenforschung und Praxis sei Transferforschung zu intensivieren. Wie verschiedene Schülerpersönlichkeiten erreicht werden könnten, müsse anhand von kreativen Prozessen untersucht werden (Vollmer, 2016a). Combe & Paseka (2012) stellen zusammenfassend situierte Kreativität als praktische Anforderung des Lehrberufs in einem ko-konstruktiven, verstehensintensiven Unterricht fest. Imagination sei wichtig, um verschiedene Lösungen zu durchdringen und sowohl die Zeichenhaftigkeit, als auch die Mehrdeutigkeit des Lerngegenstandes nachvollziehen zu können. Irritationen eigneten sich, um Wissens-, Erfahrensund Denkstrukturen zu verändern. Um Ähnlichkeiten und Unterschiede zu erkennen, sei sprachlicher Austausch und gedankliches Ausprobieren sinnvoll. Neben situierter Kreativität bräuchten Lehrkräfte Selbstregulationsfähigkeiten und müssten ihre Überzeugungen hinterfragen. Sie fordern verstärkte Transferforschung, um herauszufinden, wie verschiedene Schülerpersönlichkeiten erreicht werden könnten. 3.0.5 Zusammenfassung Kreativität und Schule Auch nach 60 Jahren Forschung sind die Befunde, dass die Kreativität von Schüler*innen im Laufe der Schulzeit zurück geht. Die Ursachen werden in verschiedenen Faktoren gesehen, die von mangelnder Kenntnis zu Kreativität bis hin zu Mechanismen des Systems Schule und der Lehrer- und Lehrer*innenbildung reichen. Häufig sähen Lehrkräfte Kreativität als Störfaktor, spielerisches Interesse werde abgebaut, konformes und diszipliniertes Verhalten anstelle von Kreativität gefördert. Statt dessen sei es nötig, Begeisterung zu wecken, Selbstsicherheit und originelles Denken zu fördern. Zur Förderung von Offenheit für neue Erfahrungen böten sich authentische Erfahrungen und komplexe Lernfelder an, die die Reflexion dieser Erfahrungen ermöglichten. Weil Teamarbeit die Chance biete, kreative Potentiale zu entfalten, sei diese schon in der Schule zu fördern. Konkretes Feedback von in Kreativität erfahrenen Lehrkräften und das Entwickeln von Heuristiken sei nötig. Auch werden Ursachen in der mangelnden situierten Kreativität von Lehrkräften gesehen. So gibt es Hinweise, dass die Förderung der Kreativität von Lehrkräften den Unterricht verbessert. Pädagogische Konzepte zur Förderung von Kreativität seien deshalb sowohl für Schulen, als auch für die Lehrer- und Lehrer*innenbildung zu entwickeln.

Kreativität als pädagogische Ko-Konstruktionsleistung

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3.1 Kreativität als pädagogische Ko-Konstruktionsleistung Die Personalisationsfunktion von Schule umfasst nach Wiater (2009) in materialer Hinsicht die Entwicklung einer sachgerechten Vorstellungswelt; in formaler Hinsicht dienen Lerngegenstände der „Sinnesschulung der Schüler, ihrer emotionalen Sensibilisierung, der Steigerung ihrer ästhetischen Ausdrucksmöglichkeiten und der Reflexion über die eigene Lebenswirklichkeit“ die durch Staunen und Fragen nach dem „Sinn“ gekennzeichnet ist (Wiater, 2009, S. 142f.). In einem ko-konstruktiven Prozess entwickelt der Mensch durch Integrationsprozesse mit der ihn umgebenden menschlichen und dinglichen Umwelt ein „Bild von der Welt“. Die gemachten Erfahrungen bindet er ein in die Entwicklung seines Selbst, deutet und konstruiert auf der Grundlage seiner Erbanlagen in einem individuell geprägten Selbststeuerungsprozess für ihn wichtige Erkenntnisse. Diese Konstruktionen wirkten entscheidend auf die Entwicklung seines Selbst, seiner Handlungsweisen, Eigenschaften, Einstellungen und Teilidentitäten. Durch ein breites Fächerangebot, das möglichst weite Bereiche der Lebenspraxis einbezieht, durch die Möglichkeit, Interessen zu erkennen und durch Lernen in allen Dimensionen werden nach Wiater „ungeahnte Innovationsprozesse“ angestoßen (ebda.). Nach Sawyer (2007) und Burow (2014) ermöglicht kreative Teamarbeit Synergieeffekte, die das kreative Potential steigern. Fundierte Erkenntnisse und Theorien dazu liegen insbesondere im deutschen Sprachraum - allerdings kaum vor. Insbesondere zur KoKonstruktion in kreativen Prozessen ist wenig bekannt. Auch Vertreter des sozialen Konstruktivismus fordern, dass kooperative Lernformen in offenen Lernräumen vermehrt eingesetzt werden (u.a. Reich, 2002; Mandl, 1983). Gröschner (2007) stellt fest, dass Unterricht „als sozialer Prozess (...) eine Ko-‘Produktion’ der beteiligten Personen“ ist. Die durch das Handeln der Lehrkraft geschaffene Lernumgebung werde „von den Beteiligten gemeinsam geformt“ (Gröschner, 2007, S. 3). Nach Barron (2000, S. 403) stellen Reziprozität, also die Wechselseitigkeit des Austauschs, die Fokussierung der Aufmerksamkeit auf den gleichen Interessenpunkt und die Koordination gemeinsamer Zielsetzungen die Grundlagen gelingender Gruppeninteraktion dar. 3.1.1 Begriffsklärung Ko-Konstruktion Der Begriff der Ko-Konstruktion stammt von dem Lateinischen Wort „construere“, das „zusammenschichten“, „aufbauen“, „kunstvoll errichten“ heißt und sich sowohl auf ein Gebäude, als auch die Welt beziehen kann. Mit der Dopplung der ersten Silbe wird die im Altlateinischen als „com“ vorkommende Silbe gekürzt und bedeutet „mit“ , „gemeinsam“, „zusammen“, „von allen Seiten“ und „völlig“. In der gekürzten Form „co“ dient sie als Vorsilbe, die Gemeinsamkeit einer Sache ausdrückt. Der Begriff der Ko-Konstruktion ist abzugrenzen von den aus dem englischen Raum stammenden Begriffen der „Collaboration“ und der „Cooperation“ oder „Kooperation“ im Deutschen Sprachraum. „Collaboration“ kommt von dem Lateinischen Begriff „laborare“, der „arbeiten“, „leiden“, „sich anstrengen“ bedeutet und z.B. im Zusammenhang mit Feldarbeit benutzt wird. Der Begriff „Kooperation“ stammt von dem lateinischen reflexiven Wort „operari“, was „tätig“, oder „beschäftigt sein“, „etwas verrichten“ bedeutet. Von Barnes und Todd (1977) wird „collaboration“ zuerst im Begriff der „collaborative moves“ genutzt, um den gemeinsamen Fokus bei der Aufgabenbearbeitung in Klein-

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gruppenarbeit zu beschreiben. Im Gegensatz dazu meint der Begriff „Cooperation“ oder „Kooperation“ die Arbeitsteilung bei der gemeinsamen Bearbeitung einer Aufgabe. „Ko-Konstruktion“ bezeichnet dagegen das gemeinsame Aufbauen von Einzelteilen zu einem neuen Gebilde. Die Bedeutungen verschieben sich also. Während „Kooperation“ die Arbeitsteilung in den Blick nimmt, meint „Collaboration“ das gemeinsame Kämpfen um eine Sache. Bornemann (2012) sieht „Kooperation“ als „arbeitsteilige Wissensteilung von zwei oder mehreren Personen für die Lösung eines Problems“ bei der es zur Zusammenführung individuell bearbeiteter Teilaspekte kommt. „Kollaboration“ stelle dagegen einen „synchronisierten Prozess der konstruktiven Wissensgenerierung“ dar, der sich nicht mehr auf einzelne Beteiligte zurückschrauben ließe, sondern ein „untrennbarer ko-konstruktiver Prozess“ sei, bei dem mehr erzeugt würde, als die Summe der Einzelleistungen erbringen könnten. Bornemann (2012) schlägt den Grad der individuell erkennbaren Leistung als Merkmal für das Ausmaß an Kooperation gegenüber Kollaboration vor (Bornemann, 2012, S. 77f.). Der Begriff der Ko-Konstruktion bezieht sich auf Grundannahmen des Konstruktivismus. Mit Ko-Konstruktion sind mit der Konstruktion von Wissen verbundene soziale Aushandlungsprozesse gemeint, bei denen in der Interaktion der Beteiligten die Bedeutung von Sachverhalten konstruiert wird. Ko-Konstruktion wird nach Brandt/Hoeck (2011) verstanden „als entwicklungstheoretischer Ansatz, vor dessen Hintergrund sowohl das einzelne Kind als auch die soziale Umwelt aktiv ist und somit interaktional Neues ko-konstruiert werden kann“ (Höck, 2015, S. 98). Nach diesem Verständnis handelt das Kind als aktiver Konstrukteur seines Wissens (Fthenakis et al., 2007) über soziale Interaktionen Lernprozesse aus. Das auf Sprache basierte Klären von Symbolen und Bedeutungen wird als zentral für das gegenseitige Verstehen angesehen. Grell (2014) verweist auf unterschiedliche Traditionen, die der Begriffsverwendung zugrundeliegen. Ko-Konstruktion beziehe sich zwar auf gleichberechtigte Partner, aber auf Interaktionen, die mit wechselseitigem Feedback, Austausch und Kompromissen verbunden seien. Im Gegensatz dazu ginge es im Anschluss an Vygotzki um Aushandlungsprozesse zwischen Kompetenteren und Lernenden. Dies gelte insbesondere für kulturell verankerte Handlungsstrukturen, wo zunächst von einer Interiorisierung von Diskursen ausgegangen wird, die erst anschließend daran autonom betrieben würden. Vor allem in der Elementarpädagogik würde der Begriff als „Schlüssel zur Umformung basaler psychischer Funktionen in kulturell geprägte höhere geistige Funktionen gesehen“. Dies setzt nach Grell kompetentere Interaktionspartner voraus (Grell, 2014). Mc Gregor/Chi (2002, S. 656) betonen mit Rafal (1996) und Barron (2000) die Entwicklung von Ideen: „Co-construction has been defined as the process of the joint production of ideas (by members of a group) that no individual group member is likely to produce on their own.“ (s.a. Höck, 2015, S. 115). Brandt & Höck (2011) gehen über diese Ansicht hinaus. Auch für sie besteht eine Ko-Konstruktion im örtlichen und zeitlichen Zusammentreffen mehrerer Personen. Die gemeinsame Bearbeitung ermögliche die Entwicklung neuer Ideen, so dass es zu einem Lerneffektfür das einzelne Individuum kommt. Höck (2015) geht davon aus, dass „Ko-Konstruktion kein bloßes Zusammenfügen isolierter Ideen“ ist. Vielmehr entstehe die Idee „durch den interaktional gestalteten Problemlöseprozess, der etwas hervorbringt, das sich gerade von einem individuellen Beitrag unterscheidet“ (ebda., S. 250). Das Produkt von Ko-Konstruktion ähnelt also dem von kreativer Teamarbeit, allerdings stehen der Erkenntnisgehalt von

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Lernprozessen und die Entwicklung entsprechender kognitiver Repräsentationen im Zentrum der Überlegungen. Zusammenfassend ist der Begriff „Ko-Konstruktion“ von „Kooperation“ und „Kollaboration“ abzugrenzen. Konzepte der Ko-Konstruktion gehen auf konstruktivistische Annahmen zurück, nach denen Lernen in einer Interaktion stattfindet. Mit KoKonstruktion ist der soziale Aushandlungsprozess beim Aufbau von Wissen gemeint, der den Austausch von Ideen und das Erkennen von Bedeutungen einbezieht. Die Konstruktion von Wissen verändert die Beteiligung der Akteure von (möglicherweise) passiven Empfängern von Wissen zur aktiven Herstellung von Bedeutung. Die Interaktion kann von gleichberechtigten Partnern bis zu Beziehungen zwischen Kompetenteren und Lernenden reichen. Im Zentrum der gemeinsamen Produktion von etwas Neuem, das alleine nicht hätte erreicht werden können, stehen die Erkenntnisse, die durch den Aufbau von Wissen entstehen. Die vorliegenden Ko-Konstruktionen finden zwischen Erwachsenen und Jugendlichen statt. Deshalb wird von einem KoKonstruktionsbegriff ausgegangen, bei dem Unterschiede in der Expertise möglich, aber nicht notwendig sind. 3.1.2 Grundlegende Annahmen zur Ko-Konstruktion Seit der kognitiven Wende der 60er Jahre herrscht, so Reusser (2006) Übereinstimmung darüber, dass Objekte nach einem komplexen Konstruktionsprozess erkannt werden (Messner, 2006, S. 153f.). Reusser (2006) unterscheidet drei Formen des Konstruktivismus, erstens einen philosophisch-erkenntnistheoretischen, zweitens einen kognitionsund entwicklungspsychologischen und drittens einen soziokulturellen Konstruktivismus. Er führt die Entwicklung des erkenntnistheoretischen Konstruktivismus im 20. Jahrhundert auf die These Jean Piagets zurück, dass sich Lernen in Konstruktionsprozessen von Erkenntnis- und Denkstrukturen vollzieht (Messner, 2006, S. 152f.). Piaget (1961) beobachtet, wie sich Kinder in Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt Erkenntnisse über die Welt aneignen. Den Prozess der Anpassung neuer Erfahrungen in bisherige kognitive Strukturen nennt Piaget Assimilation. Das Kind, das ein Blaukehlchen sieht, aber bisher nur Rotkehlchen kennt, wird das Blaukehlchen vielleicht im ersten Moment als Rotkehlchen, sicher als Vogel einordnen. Damit assimiliert es das beobachtete Schema des Vogels an das Schema eines Vogels, das es kennt. Die Einordnung als Rotkehlchen trifft allerdings auf kognitiven Widerstand, wenn es sich zu fragen beginnt, weshalb dieser Vogel kein rotes, sondern ein blaues Kehlchen hat. Um diese Frage zu beantworten, muss es sein bisheriges Wissen verändern, in diesem Fall differenzieren. Fehlschläge der Assimilation lösen also Akkomodation aus und führen zur Veränderung der vorhandenen Schemata. Die „Widerständigkeit“ der Welt löst damit einen kognitiven Konflikt aus, der die Konstruktion von Wissen bewirkt. Nach Piaget streben Kinder ein Gleichgewicht zwischen ihren bisherigen Wissensbeständen und ihren aktuellen Erfahrungen an. Dieses Bestreben bezeichnet er als ÄquilibrationsPrinzip. Wenn Kinder etwas entdecken, das sich nicht in ihr bisheriges Wissen einordnen lässt, suchen sie nach einer Erklärung. Sie versuchen also, das „Disäquilibrium“ zu beseitigen und ein Gleichgewicht zwischen Assimilation und Akkomodation herzustellen. Mit den Versuchen, Erklärungen für ihre Erfahrungen zu finden, ordnen sie ihrer Erfahrung also eine Bedeutung zu. Piaget (1961) sehe vier Faktoren, die die Ent-

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wicklung von Kindern beeinflussen: Reifung, aktive Erfahrungen, soziale Interaktion und das Streben nach Gleichgewicht. Obwohl er die soziale Interaktion für die Entwicklung von Sprache berücksichtigt, spielt sie in seiner Forschung nur eine untergeordnete Rolle (Piaget, 1961; Mietzel, 2001, S. 71ff). Nach dem Persönlichkeitspsychologen Kelly (1955) dienen die gebildeten persönlichen Konstrukte der Vorhersage von Situationen. Die Erfahrung, dass die Vorhersage einer Situation falsch war, führt zur Veränderung des Wissens über die Welt und damit zur Veränderung des persönlichen Konstruktes. Dass die Vorhersage nicht möglich ist oder nicht stimmt, kann allerdings als Bedrohung empfunden werden. Es kann demnach Angst auslösen und zur Ablehnung der durch die Veränderung komplexer werdenden Weltsicht führen (Pervin, 1996, S. 490ff). Konzepte der Ko-Konstruktion lehnen sich an Überlegungen des sozialen Konstruktivismus an. Der soziale Konstruktivismus geht auf Annahmen Lev Vygotzkis zurück.4 Die Theorie Vygotzkis wird von verschiedenen Autoren als neues Paradigma des Lehrens und Lernens beschrieben (Textor, 2000). Der Frühpädagoge Textor fasst vier grundlegende Unterschiede zu bis dahin bestehenden Theorien zusammen: Erstens gewinnt neben dem Kind selber der soziale und kulturelle Kontext an Bedeutung. Neben die Betrachtung der Entwicklung des Kindes von innen her tritt zweitens die soziale (und damit auch kulturelle) Umgebung als Faktor für Entwicklung. Drittens wird die Auffassung, dass das Kind aus einem Prozess der Reifung heraus psychische und kognitive Fähigkeiten aufbaut, durch die Vorstellung abgelöst, dass kognitive Fähigkeiten in sozialen Interaktionen konstruiert und dann internalisiert werden. Dadurch verändert sich viertens die in bisherigen Konzepten geforderte Begleitung und Unterstützung durch eine andere Person. Diese bekommt eine aktive, führende Rolle, weil ihr in der Vermittlung kultureller Denkweisen und Lernprozessen in Interaktion mehr Bedeutung beigemessen wird. Nach Vygotzki besteht die kindliche Entwicklung weitgehend aus stabilen Phasen, die aber durch Krisen unterbrochen werden. In den Krisen werde das Kind als schwierig erziehbar empfunden. Nach Vygotzki durchlebt es aber gerade in diesen Krisen entscheidende Veränderungen der Persönlichkeit. Vygotzki bezeichnet diese als Entwicklungskrisen von einer Entwicklungsphase zur nächsten als „Umgestaltung der gesamten Bewusstseinsstruktur“ (Vygotski, 1987, S. 77). Sprechen und Denken sind nach Vygotzki (1987) unauflösbar miteinander verwoben. Gespräche des Kindes mit anderen Menschen dienen als „Konstruktion“ von Wissensbeständen und sind nach Vygotzki zentral für seine Entwicklung. Vigotzky meint, Sprache sei „für höhere Formen des Denkens und (...) Selbstregulierung unverzichtbar“. Kreativität werde durch die Entwicklung von Fantasie im Spiel gefördert. Unter Fantasie wird „die produktiv-schöpferische Fähigkeit des Bewusstseins verstanden, Elemente des Gedächtnisses sinnlich-anschaulich neu zu kombinieren, beziehungsweise zu neuen Vorstellungen und Gedankenverknüpfungen weiterzuentwickeln“ (Parthey, 2013, S. 9). Fantasie entsteht nach Vygotzki bspw. im Rollenspiel. Hier entwickle das Kind eine Vorstellungswelt, in der Wahrnehmung und Wort, bzw. Objekt und Handlung nicht mehr unmittelbar zusammenhängen. Der Stock wird zum Pferd oder das Holzstück zur Puppe. Die Bedeutung, die Idee, die das Kind in seinen Gedanken, Vorstellungen entwickelt, wird entscheidend. Textor erklärt, dass Kinder damit eine 4

Eine andere Schreibweise ist Lew Wygotzki, ich halte mich im Folgenden an die oben dargestellte Schreibweise.

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Grundlage für abstraktes Denken schaffen, das auf der Verwendung von Symbolen beruhe (Textor, 2000). Aus der eigenen diagnostischen Arbeit mit Kindern entwickelt Vygotzki (1934/78) die Idee einer Zone der nächsten Entwicklung. Es nütze wenig, zu erfahren, was das Kind schon könne; wichtiger sei es zu erfahren, womit sich das Kind gerade auseinandersetze und was es zu lernen im Begriff sei. Pädagogen und Pädagoginnen müssten genau an diesem Moment ansetzen, indem sie durch Fragen oder Hinweise die Aufmerksamkeit des Kindes auf entscheidende Zusammenhänge oder Sachverhalte lenken. Lägen die Impulse vor dieser „Zone der nächsten Entwicklung“, so lerne das Kind nichts dazu, sei der oder die Lehrende aber schon weiter als das Kind, so sei es überfordert. Entscheidend für die pädagogische Arbeit ist also die Kenntnis des aktuellen Standes, auf dem sich Kinder oder Jugendliche befinden. Lehrkräfte werden damit zum Dialogpartner, zum Beobachter des Lernenden, sie nehmen aktiv an Lernprozessen teil, indem sie Brücken zwischen Bekanntem und Unbekanntem bauen. Sie werden zum Gestalter von Aktivitäten und Umwelt und durch ihren eigenen Umgang mit Kultur und Wissenschaft zum Vermittler von Kenntnissen und Fertigkeiten. Damit etablieren sie durch ihr in Interaktions-Prozessen thematisiertes und gelebtes Vorbild meta-kognitive Strategien wie Wissen über sich selbst, Selbstkontrolle und Selbstregulierung. Lehren und Lernen wird dabei zu einem „kooperativen Prozess“, in dem jeder seinen Beitrag leistet. Dies ist auch möglich, indem Kinder von Kindern, die sich gerade in der nächsten Zone der Entwicklung befinden, lernen. Mit der Annahme, dass das Erleben der Wirklichkeit nicht nur ein individueller Lernprozess ist, sondern ein sozial konstruierter, erweitert Vygotzki Überlegungen zur Konstruktion von Wissen durch die soziale Perspektive: „Lernproduktive ‚kognitive Konflikte‘(...) treten nach sozial-konstruktivistischer Auffassung nicht allein im kognitiven Funktionieren autonom gedachter Lerner in der Interaktion mit der gegenständlichen Welt auf, sondern werden durch personale und soziale Impulse - Widerspruch, Meinungsverschiedenheiten, produktive Lerndialoge induziert. Viele anspruchsvolle Kulturprodukte entstammen demnach nicht der singulären Kreativität einsamer Robinsone, sondern werden in sozio-kulturellen Kontexten erschaffen und dialogisch ko-konstruiert.“ (Messner, 2006, S. 155). Bei der Ko-Konstruktion geht es auch nach Fthenakis weniger unmittelbar um den Erwerb von Fakten, als vielmehr um die Konstruktion von Bedeutung. Über die gemeinsame Erarbeitung neuer Inhalte würden Bedeutungszusammenhänge geteilt und ausgehandelt, Ideen ausgetauscht, verändert oder erweitert, verschiedene Perspektiven erarbeitet, Probleme unterschiedlich behandelt und gelöst. Die dabei auftretenden Irritationen (Siebert, 2005) regten Lernprozesse an. Reich verwendet in diesem Zusammenhang den Begriff „Perturbationen“ (Reich, 2002). Die Begriffe „Perturbation“ und „Irritation“ werden weitgehend synonym verwendet und gehen auf die oben beschriebene Annahme eines kognitiven Konfliktes von Piaget (1961) zurück. Kognitive Konflikte beruhen auf unklaren, komplexen, nicht zueinander passenden und deshalb neuen und überraschenden Reizen. Nach Bohnsack (1969) seien kognitive Konflikte als Lücken, Zweifel, Widersprüche zu verstehen, die verwirren können. Lückenhaftigkeit sei das Merkmal, das auf jedes dieser Beispiele zutreffe. Diese könne bis zu einer bestimmten Schwelle anregend sein, darüber hinaus aber auch zu Blockaden und oder Resignation führen. Über solche Initialkonflikte könne in schulischen Aufgabenstellungen intrinsische Motivation erzeugt werden. Mit der Annahme eines kognitiven

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Konfliktes, der Irritationen auslöst, sind hohe Erwartungen verknüpft. So wird immer wieder beobachtet, dass Irritationen tiefen-orientiertes Verstehen auslösen und dass Lernende infolge von Irritationen Lernen als Bereicherung erleben (Fthenakis, 2007, S. 10). Ein kognitiver Konflikt ist nach Berlyne (1966, S. 255) „ein Konflikt zwischen unvereinbaren symbolischen Reaktionsmustern, als da sind Meinungen, Einstellungen, Gedanken, Ideen“ . Sie können auch wegen inkompatibler Wahrnehmungen, Möglichkeiten, Ideen, Gedanken oder Ansichten auftreten (Scholz, 1980, S. 13f.). In der vorliegenden Arbeit verwende ich für kognitive Konflikte den von John Dewey (1969) geprägten Begriff der Irritation.

Aus den Überlegungen Vygotzkis ergeben sich Konsequenzen für das individuelle Lernen von Schülern und deren Kooperation. Während bei Fthenakis für die Frühförderung die asymmetrische Beziehung zwischen Erziehenden und Kindergartenkindern im Zentrum steht, beschäftigt sich Reich (2002) mit symmetrischen Interaktionen unter Peers. Schüler sieht Reich als aktive Konstrukteure ihres über Beziehungen konstruierten Wissens (Reich, 2002, S. 209f.). Damit verändert sich für Reich auch die Lehrer*innen-Rolle. Lehrkräfte stehen demnach in der Doppelrolle als Lernende und als Visionäre, kreative Künstler oder als Mehrwisser und Führungskräfte, für die das zu lösende Problem im Mittelpunkt des Unterrichts steht (Reich, 2002, S. 205f.). Der Konstruktivistische Ansatz hat also weitreichende Folgen für die Rollen der Lehrkraft, sowie für die Rolle der Schülerin und des Schülers. Die Rolle der Lehrkraft verändert sich zu einem Moderator von Lernprozessen und einem Lernbegleiter. Schüler werden zu Mitgestaltern von Lernprozessen und stärker in die Eigenverantwortung genommenen Lernern.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Konzepte der Ko-Konstruktion auf konstruktivistische Annahmen zurückgehen, nach denen sich Lernen im Aufbau von Erkenntnis- und Denkstrukturen vollzieht. Der soziale Konstruktivismus nach Lev Vygotzki wird als neues Paradigma des Lernens bezeichnet. Die Annahme, dass die soziale Umgebung zur vom Kind aktiv vollzogenen Entwicklung beiträgt, verändert die Rollen der beteiligten Akteure. Kinder werden zu aktiven Konstrukteuren ihres Wissens, das sie anhand von Gesprächen aufbauen. Im fantasiereichen Spiel stellt demnach das Kind gedankliche Verknüpfungen her und baut Symbolsysteme und Bedeutungen auf, die grundlegend für das abstrakte Denken sind. Für Lernprozesse ist es nach Vygotzki (1934/1978) nötig, zu wissen, womit sich ein Kind gerade auseinandersetzt. Pädagogen und Pädagoginnen müssten mit ihren Fragen und Antworten an diese „Zone der nächsten Entwicklung“ anknüpfen. Irritationen dienten als Lernanlässe. Die Rolle von Lehrkräften verändert sich dadurch zum Dialogpartner, Beobachter und zu jemandem, der aktiv am Lernprozess teilnimmt. Durch ihr Vorbild ermöglichen Lehrkräfte das Bilden metakognitiver Strategien beim Kind oder Jugendlichen. Auch verändert sich das Bild vom einsamen Lernenden zur Vorstellung dialogischen Lernens in Interaktion. Das Verstehen von Bedeutungszusammenhängen führt zur Erkenntnis, dass Lernen eine Bereicherung ist. Lehrkräfte werden deshalb nach Reich gleichzeitig zu Lernenden wie zu kreativen Visionären, Mehrwissern und Führungskräften.

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3.1.3 Forschungsstand Ko-Konstruktion Forderungen nach Ko-Konstruktion stehen im Spannungsfeld zwischen der oben skizzierten individuellen Förderung und Lernen in der Gemeinschaft (Kopp/Arendt, 2014, S. 12). Renkl und Mandl (1995) fordern, dass Gruppenarbeiten so angelegt sein müssen, dass es nicht zu einer additiven Aufteilung und anschließenden Aneinanderreihung von Aufgabenteilen kommt, sondern dass ein Austausch von Erklärungen und damit eine Ko-Konstruktion von Bedeutungen stattfindet (Renkl/Mandl, 1995, S. 295). Rafal (1996) stellt in einer Genderstudie zur Ko-Konstruktion unter Mädchen fest, dass es Gründe für Gruppen geben muss, damit sie zusammen arbeiten. Ansonsten, so Rafal, tendierten Einzelne dazu, individuell daran zu arbeiten (Rafal, 1996, S. 281; Cohen, 1994). So stellt Cohen (1994) das Teilen von Ideen, Hypothesen, Strategien und Spekulationen als grundlegenden Bestandteil effektiver Interaktion heraus. In der oben genannten Studie von Rafal hat ein Kind an der Gruppenarbeit kaum Anteil. Wie sich zeigt, vollzieht es die Gruppenarbeit im Modus des Frontalunterrichts und arbeitet nach den entsprechenden Methoden. So füllt das Mädchen ein für den Frontalunterricht vorgesehenes Arbeitsblatt aus und zeigt in der Gruppenarbeit auf, um etwas zu sagen. An der Ko-Konstruktion, bzw. Exploration zur Lösungsfindung nimmt es nicht verbal teil (Rafal, 1996, S. 285). Wie Cohen (1994) feststellt, kann die Zusammenarbeit von Personen verschieden hoher Statusgruppen zum Einsatz von Machtstrategien führen. Auch Kumpulainen & Kaartinen (2000, S. 450) berichten, dass Irritationen nicht nur Lernen erzeugen, sondern in soziale Angriffe münden können. Es ist nachvollziehbar, dass das Einbringen einer Idee bei kooperativ zu lösenden komplexen Problemen nur etwas nützt, wenn diese von den Lernpartnern aufgegriffen wird: „One member can only controll the proceedings if the others permit it“ (nach Höck, 2015, S. 104). Rafal (1996) berichtet von einer Sequenz, in der eine der Schülerinnen eine Idee ausprobieren wollte, aber von den anderen daran gehindert wurde, bevor sie ihre Idee überhaupt erklären konnte. Da nicht geklärt war, ob die Schülerinnen tatsächlich über die gleiche Idee sprachen, führte die ungeklärte Sachlage in der weiteren Bearbeitung der Problemlösung zu wiederholten Irritationen. Er kommt zum Schluss, dass drei Phänomene eine Rolle für die Ideenfindung in der Ko-Konstruktion spielen: erstens „Äußerungen, die (...) für sich alleine noch keine vollständige Idee beinhalten“, zweitens solche, die „eine Idee weiterführen oder vervollständigen“ und drittens „beide Formen in Kombination“ (Rafal, 1996, S. 286). Auch Kumpulainen & Kaartinen (2000, S. 450) berichten in einer finnischen Studie, dass die zwölf Jahre alten Schüler*innen zwar parallel arbeiteten, die Ansätze des Gegenübers aber nicht in ein gemeinsames Ergebnis integrierten (ebda., S. 105). Sie verwiesen darauf, dass Irritationen nicht als Lernanlass dienen, sondern zum Anlass für einen sozialen Angriff werden könnten. Höck erläutert, dass die Klärung des „common ground“, also die Frage, ob man über das gleiche Konzept spricht, entscheidend ist, wenn eine Lösung gefunden werden soll. Inwieweit dies bei kreativen Fragestellungen, bei denen mehrere Lösungen möglich sind, eine Rolle spielt, bleibt jedoch offen. Neben einem geteilten Verständnis der jeweils aktuellen Problemlage messen auch Kumpulainen & Kaartinen der Kommunikation eine hohe Relevanz bei. Ihnen zufolge spielt die gegenseitige Ermutigung und Wertschätzung eine entscheidende Rolle für das Gelingen der an sich als komplex ge-

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sehenen Anforderung der Ko-Konstruktion. Verbale wie nonverbale Fähigkeiten seien dabei nötig (Kumpulainen/Kaartinen, 2000, S. 450; Höck, 2015, S. 106). Der Fähigkeit, an den Beiträgen des Anderen anzuknüpfen, wird von ihnen als wesentlicher Übergang zu einer gelingenden Ko-Konstruktion hervorgehoben. Der Kompetenz, die entscheidenden Inhalte aus Aussagen zu filtern, messen sie einen besonderen Wert zu. Verbale Strategien wie Begründungen, Argumentationen, Erklärungen und Wiederholungen würden das Entstehen von Ideen und Lösungen sichtbar werden lassen. (Kumpulainen/ Kaartinen, 2000, S. 450 unterscheiden prozedurale Verhaltensweisen wie das unkritisierte Aufbringen von Ideen, von explorativen Tätigkeiten und Pausen oder Ablenkungen von der Problemstellung (Kumpulainen/Kaartinen, 2000, S. 436). Insbesondere die Entwicklung einer „joint construction“ (Howe, 2009, S. 215ff.) oder des „joint meaning making “ (Kumpulainen & Kaartinen, 2000) misst Howe Relevanz für eine gelingende Ko-Konstruktion bei. Beide Begriffe beziehen sich auf Kommunikationsprozesse, bei denen sich durch wechselseitig aufeinander bezogene Aushandlungen ein gleiches Verständnis zum Thema entwickelt. Deshalb wird vom Finden einer „gemeinsam als geteilt geltenden Idee“ gesprochen (Höck, 2015, S. 374). Mit dem englischen Begriff „meaning making“ (Baker, 2003, S. 48) wird der Aspekt der Bedeutungserfassung stärker betont. Damit geht der Begriff über das Finden eines „common ground“ hinaus, der ebenfalls die Bedeutung einer gemeinsamen Gesprächsgrundlage“ meint (Niegemann/Stadler, 2001, S. 172). Es geht also darum, ob und inwieweit über den Inhalt mit einem möglichst hohen Anteil an geteilter Bedeutung gesprochen, oder aneinander vorbei geredet wird. Die Formulierung im Deutschen macht allerdings auch deutlich, dass es sowohl unterschiedliche Niveaus als auch Grenzen des gegenseitigen Verstehens gibt. Die Betonung liegt also auf Aushandlungsprozessen, die zu einer möglichst hohen Klärung des gegenseitigen Verständnisses führen und eine sich ergänzende Zusammenarbeit ermöglichen sollen. Barnes und Todd (1977) arbeiten in ihrer Studie zu Kommunikation und Lernen in kleinen Gruppen vier Phasen heraus, eine erste „initiating“ genannte Themeneröffnung, eine der „eliciting", des Entlockens einer Positionierung, eine Phase des „extending“ , also des Aufgreifens und Weiterführens der ausgesprochenen Gedanken und eine des „qualifying“ , also der Wertschätzung der Beiträge anderer (Barnes/Todd, 1977). Höck berichtet weiter von einer Studie von Tatsis & Koleza (2006), die an Problemlösungen zusammen arbeitende Lehramtstudierende untersuchten. Sie stellten fest, dass Strategien des „face saving“ oder „threatening“ für den Aushandlungsprozess entscheidend waren. Mit Rückgriff auf Goffmans (1971) Rollentheorie und den Symbolischen Interaktionismus (Mead, engl. 1934/1968) erarbeiteten sie vier Rollentypen, die auf einer Skala dimensioniert wurden: einen „collaborative initiator“, einen „dominant initiator“, einen „collaborative evaluator“ und einen „insecure conciliator“ (Tatsis/Koleza, 2006; Höck, 2015, S. 102). Die Kombination des initiativen („collaborative initiator“) mit dem einschätzenden Typ („collaborative evaluator“) ergab die besten Ergebnisse im Hinblick auf „joint meaning making“. Die Kombination des initiativen mit dem dominanten („dominant initiator“) war dagegen schwierig, ebenso wie die mit dem unsicheren Typ („insecure conciliator“). Die Kombination des initiativen mit dem dominanten Typ scheiterte am Mangel einer evaluierenden Führung, während sich bei der Kombination des unsicheren Typ mit dem initiativen als Problem herausstellte, dass der unsichere Typ sich zu wenig exponierte. Howe (2009) stellt in einer Unter-

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suchung zu Problemlösen in Kleingruppen fest, dass die Verantwortungsübernahme der Beteiligten entscheidend für ko-konstruktive Prozesse ist. Die Studie umfasst drei Erhebungen zu naturwissenschaftlichem Unterricht in britischen Grundschulklassen. Er stellt in allen drei Erhebungen gleiche Muster fest und entwickelt daraus zwei Typen: Einen Typ 1, der gemeinsam konstruiert, und einen Typ 2, bei dem die Idee einer Person bestimmend ist. Bei Typ 1 sind die Schüler*innen in der Lage, widersprüchliche Ideen mehrerer Personen zu einem Ganzen zu koordinieren. Auf Augenhöhe findet eine Vermischung der Ideen zu einem gemeinsam erweiterten Lösungsansatz statt. Howe nennt diese Interaktion symmetrisch. Wie Howe feststellt, erfordert diese Art der Ko-Konstruktion hohe sprachliche, fachliche und soziale Kompetenzen. Bei Typ 2 können zwar mehrere Ideen vorgeschlagen werden, letztlich wird aber nur die Idee einer Person aufgegriffen und gemeinsam weiterentwickelt. Diese Form der Ko-Konstruktion besteht in einer asymmetrischen Interaktion insofern, dass ein Interaktionspartner zumindest im Hinblick auf seine Idee den anderen einen Schritt voraus ist. Anders als beim Trittbrettfahren, von dem Howe die Ko-Konstruktion nach Typ 2 deutlich abgrenzt, wird bei der Weiterentwicklung der Idee zusammengearbeitet. Trittbrettfahren ist als Überlassen der Arbeit zu Lasten anderer Teammitglieder zu verstehen. So meint Höck, dass die kompetenteren Partner dennoch von der Gruppenarbeit profitierten, weil sie ein tieferes Verständnis für das Problem entwickelten (Höck, 2015, S. 119; Howe, 2009). Dieser Typ der Ko-Konstruktion ist, wie Howe meint, einfacher zu bewältigen als der Typ 1. Zwischen den Typen kann während der Problembearbeitung gewechselt werden. Ein dritter Typ 0 wird von Brandt & Höck in einer weiteren Untersuchung hinzugefügt. Bei diesem entsteht „joint meaning making“ im Sinne von Baker (2003, S. 48). Die beiden Freundinnen entwickeln von Beginn der Aushandlungen an gemeinsam eine in sich stimmige Idee: „Josefine und Janina perfektionieren in ihren dyadischen Aushandlungen zu einem mathematischen Aspekt das wechselseitig aufeinanderbezogene „meaning making“ (Baker 2003, S. 48; Westcott/Littleton, 2004) soweit, dass es zu einer Annäherung der Interpretation der Aufgabe kommt. Brandt & Höck zeigen, wie beide Mädchen von der gleichen Idee ausgehend in den sprachbasierten Problemlöseprozess starten.“ (Höck, 2015, S. 125ff) Bei Typ 0 zeigt sich ein Effekt, der auch im Zusammenhang mit Innovationsbedarf an Firmen festgestellt wurde. Dieses Phänomen ist häufig in Firmen zu beobachten, wo Partner über Jahre hinweg eng zusammenarbeiten. Ohne die Einflussnahme einer von außen hinzukommenden Perspektive fehlt der ergänzende Input. Das Phänomen wird als Entwicklung von Divergenz zu Konvergenz beschrieben. Nach Parunak et al. (2008) wird auch von „collective cognitive convergence“ gesprochen. Nach Brandt & Höck findet hier eine Form der Ko-Konstruktion statt, die mit Typ 1 startet. Infolge der fehlenden Idee einer dritten Person wird die Problemstellung jedoch nicht gelöst. Höck (2015), die sich in ihrer Analyse zu ko-konstruktivem Problemlösen in der Mathematik auf die Ergebnisse Howe bezieht, zeigt außerdem ein Spannungsfeld auf, nach dem sowohl die Symmetrie und Asymmetrie der Interagierenden, als auch die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, Einfluss auf die Ko-Konstruktion hat. Das Kind hat demnach in asymmetrischen Interaktionen ebenso einen Anteil am ko-konstruktiven Problemlöseprozess wie der Erwachsene. Die Grenzen der Ko-

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Konstruktion seien erreicht, wo ein Interaktionspartner im Sinne von Trittbrettfahren den anderen die Konstruktion der Lösung überlässt, oder wo ein Interaktionspartner so dominant agiert, dass dem anderen „die Verantwortung für eigene Beiträge fast vollständig genommen“ wird. Dann fehlen ergänzende Beiträge der anderen Personen (Höck, 2015, S. 121). In einer weiteren Studie (Littleton/Howe, 2010), beobachtet Howe außerdem, dass unaufgelöste Widersprüche sich nach längeren Zeiträumen als weiterbearbeitet erwiesen: In einem Posttest konnten nach bis zu 18 Monaten die Lösungen individuell erläutert und erklärt werden (Howe, 2009, S. 230). Höck (2015) untersucht Lernpartnerschaften unter Schüler*innen im problemlösenden Mathematikunterricht. Folgende Ursachen kristallisieren sich für ungelöste Problemstellungen in Ko-Konstruktionen heraus: Erstens eine mangelnde Grundlage auf der Beziehungsebene. Obwohl an den Beiträgen des Lernpartners angeknüpft wird, wird dessen Idee nicht für die eigene Lösungsfindung aufgegriffen und weiterverfolgt. So kommt es weder zu einem ko-konstruktiven Problemlösegespräch, noch zu einer „als gemeinsamen geteilt geltenden“ Deutung des Problems. Die Lösung wird nicht gefunden (Höck 2015, S. 373f.). Zweitens werden zwar Verstehenssignale gesendet, die mathematischen Zusammenhänge aber nicht ausreichend sprachlich dargestellt. Insofern findet die Erklärung von Inhalten, wenn überhaupt, nur einseitig statt. Eine Vernetzung der Beiträge bleibt aus. Den aufgebrachten Beiträgen wird zugestimmt, sie werden aber nicht ergänzt. Höck (2015) fasst für gelingende Ko-Konstruktion zusammen: Die Gesprächsthemen drehen sich um das Thema, anstatt um soziale oder organisatorische Probleme. Es wird sich inhaltlich auf die Beiträge des Partners bezogen, damit wird „joint meaning making“ erzeugt, die Idee entwickelt sich nach Typ 1, 2 oder 0, die Argumente zeichnen sich durch Umfang und Tiefgang aus. Die Beziehungsebene hat auch nach Höck (2015) eine entscheidende Bedeutung für das Gelingen der Ko-Konstruktion. Die Bereitschaft, sich auf wechselseitige Konstruktionsprozesse einzulassen und die Anregungen des Lernpartners in die eigenen Überlegungen einzubeziehen, ist ausschlaggebend.Besonders hervorgehoben wird, dass Ideen in KoKonstruktionspausen generiert wurden. Sie beobachtet, dass die richtigen Ansätze zur Lösung nicht in Momenten mit stabilem Aufmerksamkeitsfokus oder argumentativer Auseinandersetzung, sondern nach unauflösbaren Widersprüchen und daraus folgenden Ko-Konstruktionspausen gefunden wurden. Aus dem sich daraus entwickelnden individuellen Erkennen von Zusammenhängen entstanden verbale Auseinandersetzungen mit den Themen. Die Lösungsfindung ging mit dem Bedürfnis, seiner Freude Luft zu machen und den anderen mitzuteilen, dass die Lösung gefunden wurde, einher (Höck, 2015, S. 381ff). Im Überblick lässt sich sagen, dass Ko-Konstruktion im Spannungsfeld individuellen und gemeinschaftlichen Lernens stattfindet. Sie kann gelingen, wenn es um den Austausch und die Weiterentwicklung von Ideen und das aktive Aufgreifen von Beiträgen aller Mitglieder geht. Unterschiedliche Statusgruppen oder Modi der Zusammenarbeit können hinderlich sein. Ein gemeinsames Ziel gibt der Gruppe dagegen Zusammenhalt. Die Klärung eines „joint meaning“ ist für den gemeinsamen Konstruktionsprozess zentral. Erforderlich sind verbale wie non-verbale Fähigkeiten und die Fähigkeit, das Entscheidende aus einer Aussage heraus zu filtern. Der Begriff des „joint meaning making“ wird eingesetzt für das Finden eines gemeinsamen Verständnisses eines Sachverhalts, den die Gruppenmitglieder miteinander teilen. Ko-Konstruktionsprozesse

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lassen sich nach Barnes & Todd (1977) in Phasen der Themeneröffnung, des Entlockens einer Position, des Aufgreifens und des Wertschätzens des Beitrags unterscheiden. Auch Höflichkeitsstile spielen eine Rolle für die Ko-Konstruktion. Tatsis & Koleza (2006) erarbeiten vier Rollentypen. Günstig wirkten sich ein einschätzender und ein initiativer Typ auf Ko-Konstruktion aus; ein unsicherer und ein dominanter Typ stellten sich als schwierige Ko-Konstrukteure heraus. Howe unterscheidet assymmetrische von symmetrischer Ko-Konstruktion und entwickelt zwei Typen. Bei Typ 1 werden mehrere Ideen ko-konstruiert, bei Typ 2 wird eine dominante Idee aufgegriffen. Brandt & Höck fügen einen dritten Typ 0 hinzu, bei dem von Anfang an eine gemeinsame Idee verfolgt wird. Infolge einer fehlenden dritten Perspektive tritt der aus Innovationsprozessen bekannte Effekt der „collective cognitive convergence“ ein (Parunak et al., 2008). Problematisch in Ko-Konstruktionen sind ungeklärte Beziehungen und einseitige, vom Lernpartner nicht nachvollzogene Erklärungen. Höck beobachtet KoKonstruktionspausen, die zwei Effekte haben: es treten weiterführende Konstruktionen auf und langanhaltende tiefen-orientierte Lernprozesse finden dabei statt.

3.1.4 Zusammenfassung Ko-Konstruktion Der Begriff der „Ko-Konstruktion“ ist abzugrenzen von „Kooperation“ und „Kollaboration“. Ko-Konstruktion basiert auf Annahmen des sozialen Konstruktivismus. Es wird davon ausgegangen, dass Lernen in sozialer Interaktion initiiert und aktiv konstruiert wird. Die in der „Zone der nächsten Entwicklung“ (Vygotzki, 1971) entstehenden Verstehensprozesse führen zu Irritationen und bewirken die Entwicklung von Ideen und die Herstellung von Bedeutungszusammenhängen. Dieses neue Paradigma des Lernens verändert die Rollen aller Beteiligten. Lehrkräfte werden zu Dialogpartnern, zu Beobachtern von Lernprozessen und zu lernenden Vorbildern. Ko-Konstruktion findet im Spannungsfeld individueller und gemeinsamer Lernprozesse statt. Kommunikationsfähigkeit und „joint meaning making“ werden als entscheidende Merkmale gelingender Ko-Konstruktion angesehen. Das Finden einer gemeinsamen Lösung wird unterstützt, wenn die Gespräche um das Thema, anstatt um soziale oder organisatorische Belange kreisen. Das Aufgreifen und inhaltliche Beziehen der eigenen Ideen auf die des Partners ist entscheidend für den Tiefgang und Umfang der Lösungsfindung. Grundlegend ist die Verantwortungsübernahme aller Beteiligten. Ko-Konstruktion kann zwischen gleichberechtigten wie zwischen unterschiedlich kompetenten Partnern stattfinden. Ideen entstehen auch in Ko-Konstruktionspausen, langanhaltende, tiefenorientierte Lerneffekte waren zu beobachten. Ungünstig ist ein dominanter und ein unsicherer Rollentyp, als günstig haben sich nach Tatsis & Koleza (2006) ein initiativer und ein einschätzender Typ erwiesen. Höck (2015) stellt zwei Möglichkeiten der Ko-Konstruktion von Ideen fest. Im einen Fall gibt es eine dominante Idee, die weiter verfolgt wird, im anderen Fall werden mehrere Ideen aufgegriffen und weiter konstruiert. In einem dritten Typ war „collective cognitive convergence“ (Parunak et al., 2008) zu beobachten.

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3.2 Zusammenfassung Obwohl Lehrkräfte Kreativität fördern möchten, replizieren sich die Befunde, dass die Kreativität von Schüler*innen im Laufe der Schulzeit abnimmt. Die Ursachen werden in einem Mangel an Forschung und der Professionalisierung von Lehrkräften gesehen, die in mangelndem Wissen und Umgang mit Kreativität resultiert, und in der Dynamik, die sich aus Anforderungen des Lehrplans, der Benotung und dem Klassenmanagement ergeben. Andere Autoren berichten, dass die Begeisterung von Lehrkräften, die Förderung der Motivation und Selbstwirksamkeit von Schüler*innen deren kreatives Potential freisetzt. Sie sehen in situierten, offenen Lernformen, die Raum für authentische Erfahrungen bieten, Möglichkeiten zur Förderung von Kreativität. Daneben legen Annahmen, dass Teamkreativität ungeahnte Potentiale freisetzt, die Förderung kooperativer und ko-konstruktiver Lernprozesse nahe. Aus diesen ergäben sich eine veränderte Rolle der Lehrkraft und des Schülers und umfassende Lernpotentiale in den Bereichen Kommunikation, sozialem Lernen und Metakognition. Die Ko-Konstruktion von Ideen gelingt jedoch nicht immer, sondern kann abhängig von der Zusammensetzung der Gruppen von enger Zusammenarbeit bis zur Dominanz eines Partners reichen.

4 Forschungsdesiderat, Forschungsfrage und Forschungsdesign Im folgenden Kapitel stelle ich die sich aus dem Forschungsstand ergebende Forschungsfrage dar und erläutere das daraus folgende Forschungsdesign. Ich beginne mit einer knappen Zusammenfassung des oben dargestellten Forschungsstandes, um daraus Aussagen zum Forschungsdesiderat zu machen und zentrale Fragestellungen zu erkennen. Anschließend werde ich das Forschungsdesign der Studie erläutern. 4.1 Zusammenfassung des Forschungsstands und der Forschungsdesiderate Kreativität kann als grundlegende Fähigkeit von Menschen betrachtet werden, die die Lösung von Problemen ermöglicht und zur Persönlichkeitsentfaltung beiträgt. Kreativität ist ein ästhetisches Phänomen, das sich nach wie vor nur schwer begrifflich fassen lässt. Über die von Rhodes (1961) vorgeschlagenen 4‘P´s of Creativity (Person, Produkt, Prozess und Press) ist eine Annäherung an den Begriff möglich. Forschende stimmen darin überein, dass kreative Produkte neuartig und originell sind. Uneinigkeit besteht in der Frage, ob die Neuartigkeit nur für das Individuum selber gilt, oder auch sozial akzeptiert sein muss. Die Entwicklung von Ideen und Vorstellungen hängt daneben mit Transformation und Verdichtung (Jackson & Messik, 1964) oder einem DimensionenSprung (Stenger, 2002) zusammen und ermöglicht die Bildung von Einheit in der Mannigfaltigkeit. Auch ist der Zusammenhang zu ästhetischen Prozessen weitgehend ungeklärt. Arnheim schreibt ästhetischen Prozessen ein Erstellen von Ordnungen zu, während von anderen Seiten auf die enigmatische Seite von Kreativität verwiesen wird (u.a. Donne, 2012; Adorno, 1973). Kreative Prozesse beinhalten Wahrnehmungsprozesse in vielfältigen Sinnesmodalitäten, und hängen mit emotionalen und motivationalen Komponenten zusammen (Amabile, 1996; Vollmer, 2010; Urban, 2004). Auch 60 Jahre nach dem Sputnik-Schock, durch den der Vorsprung in der technischen Entwicklung der UdSSR Investitionen in Kreativitätsforschung in Gang setzte, herrscht weitgehend Unklarheit darüber, was Kreativität eigentlich ist. Kreative Prozesse könnten Hinweise zur Konzeptualisierung von Kreativität geben. Auch über die sich in kreativer Zusammenarbeit ergebenden sozialen Prozesse ist noch zu wenig bekannt. Bisherige Forschungen zum kreativen Prozess stützen sich auf Untersuchungen zu kreativen Persönlichkeiten. Es wird von einem generellen Prozess ausgegangen, der für alle Individuen gilt. Inwieweit Abweichungen dazu bestehen, oder ob es verschiedene Formen kreativer Prozesse gibt, wurde bisher nicht thematisiert. Aus Ansätzen zu einer Balance von Gegensätzen entsteht das Forschungsdesiderat, intra-psychische Dynamiken im Verlauf von kreativen Prozessen zu untersuchen. Obwohl Lehrkräfte für die Förderung von Kreativität sind, gibt es viele Belege dafür, dass schulische Lernprozesse Kreativität hemmen. Verschiedene Vermutungen zu Ursachen liegen vor: Lehrkräfte wissen zu wenig über Kreativität und können sie deshalb nicht fördern; sich aus Anforderungen des Systems ergebende Dynamiken verhindern im Gegenteil Kreativität. Es besteht Mangel an Forschung zur Konzeption

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 B. Vollmer, Kreativität – Handeln in Ungewissheit, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31142-1_4

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Forschungsdesiderat, Forschungsfrage und Forschungsdesign

von Kreativität und zur Förderung von Kreativität. Empirische Belege zur Förderung von Kreativität stehen ebenso aus, wie didaktische Konzepte, die Kreativität fördern. Auch zu situierter Kreativität gibt es noch zu wenig Forschung. Konsequenzen für die Professionalisierung von Lehrkräften wären zu ziehen. Annahmen des Konstruktivismus führen zu einem neuen Paradigma des Lernens. In ko-konstruktiven Lernprozessen wird vom Lernenden als aktivem Konstrukteur seines Wissens ausgegangen. Durch soziale Aushandlungsprozesse initiierte Irritationen sollen Lernen in der „Zone der nächsten Entwicklung“ (Vygotzki, 1971) ermöglichen und die Herstellung von Bedeutungszusammenhängen auslösen. Ko-Konstruktive Lernprozesse beinhalten eine veränderte Rolle der Lehrkraft zu Dialogpartnern, zu Beobachtern von Lernprozessen, zu Mehrwissern und lernenden Vorbildern und stellen hohe Anforderungen an alle Beteiligten, bieten aber auch umfassende Lernpotentiale in den Bereichen Kommunikation, soziales Lernen und Metakognition. Im gemeinsamen Aushandlungsprozess wird „joint meaning making“ als entscheidend für die Konstruktion von Bedeutung angesehen. Das Aufgreifen und inhaltliche Beziehen der eigenen Lösungen auf die Ideen des Partners ist entscheidend für Tiefgang und Umfang der Lösungsfindung. Ko-Konstruktion kann in symmetrischen und in asymmetrischen Rollenkonstellationen vorkommen. Ungünstig ist ein dominanter und ein unsicherer Rollentyp, günstig ein initiativer und ein einschätzender Typ. Höck (2015) stellt zwei Möglichkeiten der Ko-Konstruktion von Ideen fest. Im einen Fall gibt es eine dominante Idee, im anderen Fall werden mehrere Ideen aufgegriffen. In einem dritten Typ war „collective cognitive convergence“ (Parunak et al., 2008) zu beobachten. Ideen mit langanhaltenden, tiefenorientierten Lerneffekten entstehen auch in Ko-Konstruktionspausen. Obwohl es einige Studien dazu gibt, sind ko-konstruktive Lernprozesse noch weitgehend unerforscht. Nach Höck (2015) ist beispielsweise unklar, wie welche Schüler-Persönlichkeiten am besten erreicht werden können. Zum lernseitigen und lehrseitigen Geschehen (Schratz, 2009) ist noch wenig bekannt.

Forschungsdesiderat und Forschungsfrage

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4.2 Forschungsdesiderat und Forschungsfrage Nach wie vor bestehen Forschungsmängel zur Konzeptualisierung von Kreativität und zu kreativen Prozessen. Forschungen zu Kreativität haben sich auf Persönlichkeitseigenschaften kreativer Persönlichkeiten und Phasenmodelle zum kreativen Prozess gestützt. Diese gehen von einem idealen kreativen Prozesses aus. Die Untersuchung des Verhaltens in kreativen Prozessen könnte Hinweise zur Konzeptualisierung von Kreativität und zu Dynamiken im Verhalten während des kreativen Prozesses geben. Urban (2004) verweist auf das Prinzip der Dichotomie im kreativen Prozess oder die ‚Balance der Gegensätze‘ und auch die Dialektik der kreativen Person, wie sie von Urban selber im Komponentenmodell (1995) vorgestellt wird (Urban, 2004a). Er empfiehlt deshalb, Prozesse zu untersuchen, die Personen während des kreativen Problemlöseprozesses durchlaufen (Urban, 2004b, S. 13f.). Über soziale kreative Prozesse ist noch zu wenig bekannt. So ist unklar, wie welche Schüler-Persönlichkeiten in der Ko-Konstruktion am besten erreicht werden können. Das veränderte Rollenverständnis wird bisher sehr unscharf gezeichnet. Insgesamt ist zur Lernbegleitung in konstruktivistischen Lernprozessen und zum Zusammenhang zwischen lernseitigen und lehrseitigen Geschehen (Schratz, 2009) noch zu wenig bekannt. Der Einfluss von Kreativität auf die Ko-Konstruktion von Lehrkraft und Schülerin, bzw. Schüler ist bisher kaum erforscht. Konsequenzen für Unterricht, situierte Kreativität und für die Professionalisierung von Lehrkräften sind zu ziehen. Daraus ergeben sich folgende grundlegenden fünf Fragestellungen: Welche Bandbreite an ästhetischen Reaktionen in kreativen Prozesse ist erstens überhaupt möglich? Welche Gesetzmäßigkeiten sind zweitens ableitbar und welche Schlüsse lassen sich daraus ziehen? Wie genau werden drittens kreative Prozesse von unterschiedlichen Untersuchungsteilnehmenden ko-konstruiert? Lassen sich viertens aus den Befunden bestimmte Muster oder Typen ableiten und was folgt fünftens daraus für das Unterrichten und schulische Innovationsprozesse? Im Unterschied zu Dukat & Piesbergen interessiert mich in erster Linie der Prozess, den die Untersuchungsteilnehmenden verschiedenen Alters durchlaufen, während sie mit zu Kreativität anregendem Material arbeiten. Der Mehrwert der explorativen, hypothesengenerierend angelegten Untersuchung liegt in einer Morphologie ästhetischer Prozesse. Die Studie kann klären, wie SchülerInnen und Lehrkräfte mit komplizierten ästhetischen Reizen umgehen und was daraus für den Unterricht folgt. Aus der Abbildung kognitiver und motivationaler Dynamiken lassen sich Generalisierungen zum Lehrer*innen- und Schüler*innen-Verhalten in kreativen Settings ziehen. Diese können weitere Forschung anregen und Rückschlüsse auf die Lehrer- und Lehrer*innenbildung zur Förderung von Kreativität in Schulen, zu situierter Kreativität und zu komplexen Anforderungen im Lehrberuf ermöglichen. 4.3 Forschungsdesign Die sich daraus ergebende Forschungsfrage lautet: 1. Welche Bandbreite an ästhetischen Reaktionen in kreativen Prozesse ist überhaupt möglich und welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die kreative KoKonstruktion?

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Forschungsdesiderat, Forschungsfrage und Forschungsdesign 2. Wie werden kreative Prozesse von unterschiedlichen Untersuchungsteilnehmenden ko-konstruiert? 3. Lassen sich aus den Befunden bestimmte Muster oder Typen ableiten?

Um kreatives Verhalten zu analysieren, konstruiere ich deshalb Situationen, die verschiedene Untersuchungsteilnehmende dazu auffordern sollen, sich kreativ zu verhalten. Kreative Situationen zeichnen sich zunächst dadurch aus, dass sie ein Problem enthalten, das nicht durch bekannte Verhaltensprogramme gelöst werden kann, sondern bei dem sowohl Wege als auch Ziele und Zwischenziel unbekannt sind (Dörner, 1976), und das deshalb nur durch die Produktion neuartiger Strukturen, Schemata oder Verhaltensprogramme zu lösen ist. Situationen sind nach Pervin (1978, S. 53ff) weiter durch Multidimensionalität gekennzeichnet. Sie können in Bezug auf ihre physikalische Beschaffenheit, auf die Örtlichkeiten, auf alltägliche Handlungen und Anforderungen charakterisiert werden. Wie Lewis (ebda.) feststellt, unterscheiden sich Situationen durch die Bedeutung, die sich aus dem Kontext ergibt. Die jeweilige assoziative Verknüpfung kann die gleiche Situation z.B. aus Erwachsenensicht zu einer völlig anderen werden lassen, als aus Sicht eines Kindes. Demnach zeichnen sich Situationen, so Lehr/Thomae, durch ihren Gestaltcharakter aus. Wenn eine der Variablen sich ändert, hat sich die Gesamtsituation verändert. Nach der Theorie der Kognitiven Dissonanz (Festinger, 1957) gehe ich deshalb davon aus, dass nicht die objektive Situation, sondern deren subjektive Wahrnehmung, Interpretation oder kognitive Repräsentanz das Verhalten der Untersuchungsteilnehmenden bestimmt (s.a. Lehr/Thomae, 2000, S. 149). Die im vorhandenen Fall vorliegenden kreativen Situationen zeichnen sich dadurch aus, dass sie ein Problem enthalten, das nicht durch bekannte Verhaltensprogramme gelöst werden kann, sondern bei dem sowohl Wege als auch Ziele und Zwischenziel unbekannt sein können (Dörner, 1976) und das deshalb nur durch die Produktion neuartiger Strukturen, Schemata oder Verhaltensprogramme zu lösen ist. Die Untersuchungsteilnehmenden sollten deshalb mit Situationen konfrontiert werden, die unauflösbare Widersprüche enthalten und zu kreativem Verhalten anregen. Eine der Herausforderungen der Studie bestand darin, Versuchsmaterial auszuwählen, das nicht domänen-spezifisch gebunden ist, durch die aber die in ästhetischen Prozessen vorkommenden verschiedenen Sinnesmodalitäten erfasst und voneinander abgegrenzt werden können. Die Simulationen bestanden deshalb aus drei Versuchen, die den Einsatz verschiedener Sinnesmodalitäten nötig machten, ohne domänenspezifisches Wissen abzufragen. Die Grenzen dieses Anliegens zeigten sich im dritten Versuch, wo einige Untersuchungsteilnehmende aus Sorge, nicht zeichnen zu können, Hemmungen entwickelten. Für die detaillierte Untersuchung innerer psychischer Prozesse sind qualitative Studien geeignet. Aus der Zufallsstichprobe von 21 Lehrkräften und Schülern zwischen 13 und 18 Jahren eignen sich sieben Einzelfälle für eine detaillierte Untersuchung. Drei der Untersuchungsteilnehmenden Jugendlichen und drei der Erwachsenen wurden gebeten, an einer Ko-Konstruktion in Teilstudie II teilzunehmen. Die Frage, wie sich kreatives Verhalten möglichst umfassend und doch detailliert untersuchen lässt, legt eine offene Versuchsanordnung nahe, bei der möglichst viele Komponenten des Verhaltens beobachtbar sind. Am besten würden sich dafür Feldver-

Forschungsdesign

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suche eignen. Um aber das komplexe Zusammenspiel der einzelnen Variablen, bzw. Begründung für Entscheidungen nachvollziehen zu können, ist es notwendig, ihre Kognition, Motivation und Emotion zu erfassen (s. Laux, 2008, S. 155; Starker/Dörner, 1997, S. 252). Motivationale Faktoren lassen sich in Feldstudien kaum elaborieren. Dafür eignen sich Simulationen. Anhand dem Forschungsinteresse entsprechenden Situationen kann Verhalten in seiner Dynamik und Komplexität beobachtet und analysiert werden (Pervin, 1978). Mit der Methode des Lauten Denkens ist es möglich, Kognitionen und Emotionen, sowie deren motivationale Zusammenhänge zu erfassen. Deshalb wurde in Teilstudie I die Methode des Lauten Denkens, in der Ko-Konstruktion der Teilstudie II die Methode des NLD eingesetzt. Um nach der Methode des Lauten Denkens arbeiten zu können, wurden die Untersuchungsteilnehmenden während des Versuchs auf Video aufgenommen. In Kauf genommen werden mussten damit Nebeneffekte wie, dass die Untersuchungsteilnehmenden sich unter Druck gesetzt fühlen oder sozial erwünschtes Verhalten zeigen könnten. In Teilstudie II wurde nach der Methode des NLD vorgegangen, d.h. die Untersuchungsteilnehmenden wurden nach dem Versuch gebeten, ihr Video zum Versuch zu kommentieren. Anhand der erstellten Videos und der Lautes Denken-Sequenzen wurde eine detaillierte Analyse und Interpretation der Handlungsregulation möglich, in deren Rahmen Gesetzmäßigkeiten und Abfolgen von Verhalten dargestellt wurden. Folgend wird das sich ergebende methodische Vorgehen erläutert.

5 Methodischer Ansatz der Studie Als Kunstschaffende und Kunstpädagogin hat mich im Laufe des Studiums die Frage der Inkubation fasziniert. Im Studium lenkte die damals an der Universität Bamberg habilitierende Ulrike Starker mein Augenmerk auf Emotionen im Zusammenhang mit kreativen Prozessen. Aus der eigenen Erfahrung künstlerischer Schaffensprozesse heraus konnte ich gut nachvollziehen, dass der Zusammenhang mit Emotionen für die Analyse und Interpretation von Kreativität unerlässlich ist. So entstand das Anliegen, Verhalten in kreativen Settings als dynamischen Prozess zu untersuchen, in den Bedürfnisse und Emotionen einbezogen sind. Qualitative psychologische Forschung hat zum Ziel, lebensweltliche „Phänomene, Probleme und Prozesse sowie deren Ausdruck in den Sichtweisen, Aushandlungs- und Präsentationsformen der involvierten Akteure“ (Breuer, 2010, S. 37f.) zu verstehen. Im heuristisch und explorativ angelegten Forschungsprozess werden Hypothesen generiert, aufgrund derer Theorien entwickelt werden können. Die Person des Forschenden mit seinen Vor-Annahmen wird systematisch in die Auseinandersetzung mit dem Forschungsgegenstand einbezogen. Offenheit und Transparenz sind deshalb wesentliche Merkmale qualitativer psychologischer Forschung. Im Folgenden stelle ich den Methodischen Ansatz der Studie vor. Zunächst stelle ich Annahmen dar, die der Auswertung zugrunde liegen. Anschließend erläutere und begründe ich meine Vorgehensweise. 5.1 Grundannahmen Zur Analyse des Verhaltens der Untersuchungsteilnehmenden gehe ich davon aus, dass die Persönlichkeit als komplexes Zusammenspiel von Komponenten, wie z.B. Motiven, Gefühlen, Kompetenzen etc. aufzufassen ist (Pervin, 1996, S. 414). In Anlehnung an Thomae begreife ich Persönlichkeit als dynamischen Prozess. Um die intraindividuelle Variabilität kreativen Verhaltens abzubilden, untersuche ich anhand von Einzelfällen und gehe idiografisch vor. Das Erkennen von Gesetzmäßigkeiten im Einzelfall ist nach Laux (2008) auch in komplexen Problemlösesituationen möglich, wenn die kognitiven Prozesse mit motivationalen und emotionalen Zuständen in Verbindung gebracht werden (Laux, 2008, S. 155; Starker, 2011, S. 252). Um einen möglichst unvoreingenommen Blick auf das Verhalten der Untersuchungsteilnehmenden zu haben, ist die Untersuchung explorativ und hypothesengenerierend angelegt (Mey/Mruck, 2011). Mit dem Ziel, durch das systematische Studium (lat. studere „Bemühen“ ) die intra-individuelle Variabilität zu erfassen, geht die Einstellung zu Untersuchungsteilnehmenden als Experten ihrer selbst und die wertneutrale Erfassung des Individuums einher. Entsprechend der Grounded Theory wurde die Vorgehensweise an sich im Verlauf des Versuchs ergebende Erkenntnisse angepasst. Die für die Simulationen verwendeten Materialien sind aufgrund der Annahme zusammengestellt, dass kreative Prozesse aufgrund einer Barriere oder eines Hinder-

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 B. Vollmer, Kreativität – Handeln in Ungewissheit, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31142-1_5

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Methodischer Ansatz der Studie

nisses kreatives Verhalten erzeugen (Dörner, 1976) und dass diese Barrieren durch Material, das Leerstellen und Brüche enthält, angeregt werden können (u.a. Kathke, 2012; Waldenfels, 2010; Orgass, 2007). 5.2 Datenerhebung Da es sich um eine qualitative Einzelfallanalyse handelt, wurde eine relativ kleine Stichprobe an Untersuchungsteilnehmenden ausgewählt. 21 Untersuchungsteilnehmende wurden gebeten, an ein bis zwei Simulationen teilzunehmen. Acht Lehrkräfte und 13 Schüler*innen wurden per Zufall ausgewählt. Von den 21 Fällen flossen sieben in die endgültige detaillierte Analyse und Interpretation ein. Um auszuschließen, dass die Ergebnisse mit starken Unterschieden in der Intelligenz variieren, nahmen nur Schüler*innen ab 13 Jahren am Versuch teil. Um zu verhindern, dass die Untersuchungsteilnehmenden in ihrer Ideenfindung durch Gegenstände im Raum beeinflusst werden, befinden sie sich bei Teilstudie I in einem anregungsarmen Raum. Der gleiche Raum wurde bei Teilstudie II durch zusätzliches Material angereichert. Die Messzeitpunkte zwischen Teilstudie I und Teilstudie II betrugen wegen der dazwischen liegenden Feinanalyse drei bis vier Jahre.1 Die Namen der Untersuchungsteilnehmenden wurden mit dem Ziel der Anonymisierung abgewandelt. Um zu verhindern, dass die Forschenden positive oder negative Konnotationen mit dem Namen in Verbindung bringen, wurden sie für den Forschungsprozess in eine Kombination aus Buchstaben und Zahlen verklausuliert. Erst für die Veröffentlichung wurden für die sieben untersuchten Teilnehmenden, die in die spezifizierte Untersuchung einfließen, Namen vergeben. Alle Namen dieser Studie beginnen mit dem Buchstaben „H“. Männliche und weibliche Namen wurden dem Geschlecht der Untersuchungsteilnehmenden entsprechend vergeben. 5.3 Versuchsaufbau Die Versuche sind in einem experimentellen Setting als Simulationen angelegt und sollen Verhalten unter kreativen Anforderungen sichtbar werden lassen (Mayring, 2016, S. 58f.). Es wird davon ausgegangen, dass sich kreative Situationen hochgradig durch Ungewissheit auszeichnen. Das Ziel des Versuchs ist, das Verhalten in kreativen Situationen zu beobachten, um möglichst viel über den Umgang mit Unbestimmtheit in kreativen Situationen zu erfahren. Durch die Anlage als Simulation in einem Jugendraum soll eine möglichst große Nähe zum Gegenstand erzeugt werden (Mayring, 2016, S. 147). Mit der Auswahl eines Raums, in dem Freizeitaktivitäten stattfinden, sollte die Nähe zu einem schulischen Setting vermieden werden. In der ersten Teilstudie wurden die Untersuchungsteilnehmenden mit drei Situationen konfrontiert, die eine kreative Antwort erforderlich machten. Die Untersuchungsteilnehmenden wurden darauf aufmerksam gemacht, dass sie soviel Zeit haben, wie sie möchten. Sie wurden darum gebeten, während des Versuchs 1

Die Messzeitpunkte lagen von Teilstudie I bis zu Teilstudie II jeweils exakt wie folgt. Hedwig: 7/2014 bis 7/2017; Horst: 11/2014 bis 7/2017; Hans 12/2013 bis 3/2017; Harald 11/2017 bis 3/2017; Hannah: 6/2013 bis 2/2016; Herbert 12/2013 bis 2/2016

Versuchsaufbau

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alles, was sie denken, laut auszusprechen. Die Prozesse wurden per Video aufgenommen. In der ersten Teilstudie waren die Untersuchungsteilnehmenden alleine in einem Raum, der mit Material, einem Tisch mit einem Stuhl, einer Kamera und einer offen formulierten Aufgabenstellung ausgestattet war. Um kreative Hemmungen zu verhindern, wurde versucht, die Situation für die Untersuchungsteilnehmenden möglichst angenehm zu gestalten. Deshalb konnten die Untersuchungsteilnehmenden auswählen, ob die Versuchsleitung hinter der Kamera im Raum blieb. Vor dem Betreten des Raumes wurden die Untersuchungsteilnehmenden dazu aufgefordert, laut zu denken. In der zweiten Teilstudie bearbeiteten je zwei Untersuchungsteilnehmende mit der Aufforderung, sich etwas auszudenken, das Material aus Versuch 1 der Teilstudie I. Der Versuch fand im gleichen Raum statt, der allerdings zusätzlich mit anregungsreichen Materialien ausgestattet wurde. 5.3.1 Konzeption der Simulationen Das im ersten Versuch der Teilstudie I zur Verfügung gestellte Material besteht aus einer ca. 20 x 25cm großen weißen Platte, auf der ein Text und ein Bild zu sehen sind. Daneben liegen weiße Din A4-Papiere und drei Stifte. Auf dem obersten Blatt steht die Aufforderung, sich etwas zum Material einfallen zu lassen. Die zweite Simulation besteht aus einem Tablett, auf dem sich unterschiedliche Gegenstände liegen, die nicht zueinander passen. Die Aufforderung ist, sie so zu ordnen, dass die Teilnehmenden es als schön empfinden. Im dritten Versuch bekamen die Teilnehmenden ein Blatt, auf dem sich Linien - ein Winkel und eine Schlangenlinie - befanden, die durch einen Rahmen eingegrenzt sind. Die Aufforderung ist, das Bild kreativ weiter zu zeichnen. Während im ersten und zweiten Versuch bewusst vermieden wurde, Kreativität einzufordern, wurden die Untersuchungsteilnehmenden im dritten Versuch aufgefordert, kreativ zu handeln. Der Hintergrund sind verschiedene theoretische Annahmen dazu. Die originellsten Einfälle haben Probanden nach Gerlach et al. (1964) bei der klaren Anweisung, dass es sich um einen Kreativitätstest handelt oder dass es darum geht, möglichst gute Ideen zu finden. Urban & Jellen (1993) gehen dagegen davon aus, dass Kreativität ein unscharf umrissenes Konzept ist, das mit Persönlichkeitsvariablen wie mit kognitiven Fähigkeiten verbunden ist. Daraus ergibt sich die Überlegung, dass sich Individuen mit hohen kreativen Fähigkeiten grundsätzlich anders verhalten als weniger kreative. Auch könnten die Untersuchungsteilnehmenden unter Druck geraten, falls sie zu Kreativität aufgefordert werden, oder in ihrem Verhalten einem bestimmten Konzept, das sie von Kreativität haben, folgen. Auch im TSD-Z wird deshalb nicht formuliert, dass die Untersuchungsteilnehmenden kreativ sein sollen. Mögliche Auswirkungen auf den kreativen Prozess sollten deshalb im dritten Versuch berücksichtigt werden. Versuch drei ermöglicht also auch Erkenntnisse dazu, inwiefern die Aufforderung zur Kreativität das Verhalten der Untersuchungsteilnehmenden beeinflusst. Zu den oben genannten Aufgabenstellungen begründe ich folgend die Zusammenstellung und Auswahl des Versuchsmaterials, das Unklarheiten, Leerstellen und Brüche enthält, die dazu auffordern sollen, kreativ auf das Material zu reagieren. Das Verhalten der Lehrkräfte, Schüler*innen bei der Bearbeitung der kreativen Probleme wurde per Video aufgenommen.

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Methodischer Ansatz der Studie

5.3.1.1 Simulation Teilstudie I, Versuch 1 Im ersten Versuch wurden grammatikalisch richtige, aber nach einem Zufallsprinzip zusammengesetzte und insofern sinnlose Sätze mit einem Bild kombiniert, das Unklarheiten und Ungereimtheiten enthält. Sprache beinhaltet inhärent mentale Strukturen, die das Denken beeinflussen (Vygotzki, 1971). In vorliegendem Fall stimmt die grammatische Struktur des Textes, sie wird aber mit per Zufall ausgewählten Worten gefüllt, die einem gemeinsamen Kontext entstammen. Die Worte sind semantisch falsch. Beispielsweise würde das Verb in Bezug auf seine Valenz ein animiertes und agierendes Subjekt fordern. Im Text steht aber ein nicht animiertes Subjekt, das nicht handeln kann (das T-Shirt). Darum können die Sätze nicht verstanden werden. Da die Worte einem gemeinsamen Kontext entstammen, ist gewährleistet, dass der Text nicht völlig zerfällt. Es gibt ein Subjekt und ein Prädikat, und doch ergeben die Sätze keinen Sinn. Die Syntax stellt das Regelwerk einer Sprache dar, nach dem Worte zu Sätzen formiert werden. Mit Semantik wird die Lehre von der Bedeutung u.a. von Worten und Sätzen bezeichnet. Der Text knüpft also an kognitiven Schemata an, die Erwartungen auslösen, welche dann aber nicht erfüllt werden. Dieser Vorgang erzeugt Unbestimmtheit (Starker, 1998, S. 226). Das Verb erfordert bestimmte semantische Rollen, die von bestimmten Nomen gefüllt werden. So löst das Verb „sehen“ als Subjekt die Erwartung aus, dass es Augen hat, dass es fühlen und Dinge verarbeiten kann. Dazu ergibt sich eine Erwartung an ein Objekt, das die semantische Rolle erfüllt, real und sichtbar zu sein. Wenn also das Objekt beispielsweise im Satz „Sie sahen Luftmassen kommen“ unsichtbar ist, erzeugt dies beim Leser Unbestimmtheit und löst Ideen zu den Luftmassen aus. Diese Ideen werden in Form von Vorstellungen gebildet. Sind die semantischen Leerstellen aber falsch besetzt, so dass die Inhalte nicht zueinander passen, löst dies eine Irritation aus. Auf dem verwendeten Bild ist zwar einiges erkennbar, dennoch bleibt vieles unscharf und unklar. So knüpft das Bild einerseits an vorhandenen Schemata an, andererseits ist es aber nicht so abstrakt, dass jegliches Schema interpretiert werden kann. Es entstehen Leerstellen, die unklar und rätselhaft bleiben. Aus der Kombination von Bild und Text entstehen Widersprüche, die sich nicht auflösen lassen und so Unbestimmtheit erzeugen. Die auf dem daneben liegenden Blatt formulierte Frage lautete je nach dem, ob es sich um Schüler oder Erwachsene handelte: „Was fällt Ihnen dazu ein?“ bzw. „Was fällt ˙ festzustellen, ob die marginale Reaktion der Untersuchungsteilnehdir dazu ein?“Um menden in der Fragestellung lag, wurde diese entsprechend der Grounded Theory im Verlauf der Untersuchung verändert. Die Aufforderung lautete in diesen zwei Fällen „Denkt euch etwas dazu aus!“. Aus der bei Horst und Harald veränderten Fragestellung ergaben sich allerdings ebenfalls uneinheitliche Befunde. 5.3.1.2 Simulation Teilstudie I, Versuch 2 Die zweite Simulation besteht aus einem Tablett mit Gegenständen, die nicht zueinander gehören oder passen, deshalb Brüche enthalten und insofern das Füllen von Leerstellen provozieren. Eine ähnliche Problemstellung wurde Untersuchungsteilnehmenden in einem Versuch von Starker (1998) gestellt, die die entstandenen Produkte

Versuchsaufbau

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Tyrannei hat sich ein Produkt immer ins Blickfeld gerückt. Den Provinzen sprach das Sweatshirt des Politbüros Leute zu. Rockmusik gibt zähen gemeinsamen Sachen um das Erbe seit Jahren mehr politisch einhergehende Arbeitseinheiten, um für hundert Millionen Menschen die Öffnung zu bestimmen.

Abbildung 5.1: Material, Versuch 1, Teilstudie I

auswertete. Die schriftlich auf einem Blatt formulierte Fragestellung lautete: Ordnen Sie die Gegenstände so an, dass Sie es schön finden!

5.3.1.3 Simulation Teilstudie I, Versuch 3 In der dritten Simulation wurde den Untersuchungsteilnehmenden ein DinA-5-Blatt mit Linien vorgelegt. Diese bestehen aus einem Rahmen, in dem sich ein Winkel und eine Schlangenlinie befinden. Die schriftlich auf einem Blatt formulierte Aufforderung lautete: Zeichnen Sie das Bild kreativ weiter! Ähnliches Material wird von Urban/Jellen (1995) im TSD-Z verwendet. Hier wie auch bei Starker/Dörner (1997) oder Berner (2013) - und wie bei Testverfahren üblich - werden allerdings nur Produkte ausgewertet. Das unterscheidet sie von der vorliegenden Untersuchung, in der die jeweilgen kreativen Prozesse interessieren. Als Kriterien für Kreativität werden im TSD-Z die Skalen Weiterführung, Ergänzungen, Begrenzungsüberschreitung (figurabhängig), Begrenzungsüberschreitung (figurunabhängig), Humor/Affektivität sowie Unkonventionalität, die Skalen Verbindungen (zeichnerisch), Verbindungen (thematisch), die Einführung neuer Elemente sowie Perspektive und die Unkonventionalität der Behandlung des Materials herangezogen.

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Methodischer Ansatz der Studie

5.3.1.4 Simulation Teilstudie II Um die Fragestellung „Wie werden kreative Prozesse von unterschiedlichen Untersuchungsteilnehmenden ko-konstruiert? Lassen sich aus den Befunden bestimmte Muster oder Typen ableiten?“ zu beantworten, wurden die in den Verlaufsschemata kontrastierenden Typen eingeladen, jeweils zu zweit nochmals an einem Versuch teilzunehmen. Die Simulation wurde im gleichen Raum durchgeführt wie die erste Simulation. Das Material bestand aus der schon vom ersten Versuch bekannten Text- und Bild-Platte mit weiterer Stimulation durch eine anregungsreiche Umgebung. Auf zwei Tischen liegen die Materialplatte, Blätter mit Stiften, ein roter Stoff, eine Schere. Auf an den Wänden stehenden Holzbänken und Stühlen liegen Zeitungen, eine Papiertasche mit Dosen, einem Ball und kleinen Kindertennisschlägern, das leere Tablett aus Versuch 2 mit einem Plastikmesser, spitze Gegenstände aus Holz, eine Schnur, eine karierte Plastikplane, weiße Stoffe und Sweatshirts herum, auf einem niedrigen Tisch große Papierbögen, Ölkreiden, daneben steht eine Trommel, ein altes Rad ist an die Bank gelehnt. Die dabei liegende, auf Papier formulierte Aufforderung lautete: „Denkt euch etwas dazu aus!“ Die Teilnehmenden wurden per Video aufgenommen. Um eine möglichst gute Verständlichkeit der Aufnahme im Raum zu gewährleisten, war die Versuchsleitung hinter der Kamera anwesend. Anschließend wurden die Untersuchungsteilnehmenden gebeten, das Video nach der Methode des NLD noch einmal anzusehen und ihre Gefühle und Gedanken zu äußern. In Fällen, in denen die Untersuchungsteilnehmenden dazu tendierten, nur zu beschreiben, was sie getan hatten, wurden von der Interviewerin ergänzende Fragen gestellt. 5.3.2 Methode des Lauten Denkens In den Versuchen der Teilstudie I wurde nach der Methode des Lauten Denkens vorgegangen, d.h. die Untersuchungsteilnehmenden wurden gebeten, laut zu denken (Konrad, 2014; Konrad, 2010). Um in ungewissen Situationen handlungsfähig zu sein, ist ein gewisses Maß an Kompetenz notwendig. Der Erhalt der Kompetenz ist also Aufgabe und notwendig. Wenn Teilnehmende sich entscheiden, die Situation zu verlassen, kann das im Sinne ihrer Kompetenzregulation und auch im Sinne autonomen Verhaltens richtig sein. Es geht in der Auswertung also nicht um eine Bewertung des Verhaltens, sondern die Beobachtung und Interpretation der Handlungsregulation in von Unbestimmtheit geprägten kreativen Situationen. Insofern gibt es kein „falsches“ Verhalten. Die Teilnehmenden wurden deshalb vor dem Versuch darauf hingewiesen, dass sie nichts „falsch“ machen können. In einzelnen Fällen schließen sich Sequenzen an, die anhand der Methode des NLD (Konrad, 2010, S. 481)2 aufgezeichnet und analysiert werden können. Diese Untersuchungen ergaben aber im Nachgang kaum neue Erkenntnisse, so das diese Vorgehensweise wieder aufgegeben wurde. Wenn die Untersuchungsteilnehmenden erklärt bekommen, was der Sinn des Lauten Denkens ist, verbessert sich, wie auch schon von Konrad (2014) bemerkt, die Methode des Lauten Denkens. Damit werden sie 2

Von Konrad wird sie als retrospective protocol oder Retrospektion bezeichnet.

Auswahl transkriptions- und interpretationsrelevanter Passagen

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nach der Grounded Theory zum Untersuchungshelfer und bekommen Würde und die Möglichkeit, selbstwirksam zu handeln. Um die Untersuchungsteilnehmenden zu ermutigen, beim Lauten Denken alle Gedanken zu äußern, wurde deshalb zunehmend die Strategie verfolgt, den Untersuchungsteilnehmenden zu erklären, dass sie mit ihrem Lauten Denken Erkenntnisse zur unterschiedlichen Kognition von Menschen im Zusammenhang mit Problemlösen ermöglichen. Ihnen wurde erklärt, dass es für die Untersuchung der Denkprozesse auf jede, noch so abwegige Kleinigkeit ankommt. Damit werden sie entsprechend der Grounded Theory zum Untersuchungshelfer und können selbstwirksam handeln. Dies betrifft Horst, Harald, Hedwig und 2V. In Teilstudie II wurde nach der Methode des NLD vorgegangen (ebda.). Dabei werden die Videos alle 90 Sekunden gestoppt und kommentiert. Je nach Länge des Versuchs wurde davon abgewichen. Die Untersuchungsteilnehmenden konnten in diesen Fällen selbstständig auswählen, zu welchen Passagen sie etwas sagen wollten. So wurden Sequenzen, in denen nichts Neues passierte (weil z.B. jemand saß und schrieb) von den Untersuchungsteilnehmenden nicht weiter kommentiert. Die Untersuchungsteilnehmenden wurden gebeten, in den Kommentaren ihre Gefühle und Gedanken in der Situation zu beschreiben. Da einige Untersuchungsteilnehmende dazu tendierten, die im Video sichtbaren Vorgehensweisen anstelle ihrer Gedanken und Gefühle zu beschreiben, wurde das Nachträgliche Lauten Denken je nach Fall durch aktives Zuhören oder Rückfragen ergänzt. Insofern gibt es bei manchen Sequenzen häufigere Äußerungen der Interviewenden als bei anderen. 5.4 Auswahl transkriptions- und interpretationsrelevanter Passagen Von 21 Untersuchungsteilnehmenden zwischen 13 und 50 Jahren, acht Lehrkräften und elf Schüler*innen wurden sieben Untersuchungsteilnehmende detailliert untersucht. Sechs der elf Schüler*innen besuchen zum Zeitpunkt der Erhebung die Hauptschule, die anderen ein Gymnasium. Versuch 1 wurde als Basis für die Auswertung genommen. Erst im Verlauf der Untersuchung zeigte sich, dass auch Versuch 2 und Versuch 3 in die Auswertung einbezogen werden. Als problematisch hat sich erwiesen, dass die Untersuchungsteilnehmenden nicht in allen Fällen laut dachten. Da die kognitiven Prozesse, die die Situationen auslösten, im Mittelpunkt des Forschungsinteresses lagen, ergab sich daraus eine erste Auswahl für die detaillierte Untersuchung des ersten Versuchs. Einige Fälle konnten nicht verwendet werden, weil die Aufnahme nicht verständlich war. Auch zeigte sich die mangelnde Vorhersehbarkeit kreativer Settings. So wurden im Rahmen einer Versuchsreihe zwei Schwämmchen zerstört. Ihr Fehlen wurde erst nach dieser aus mehreren Untersuchungsteilenehmenden bestehenden Versuchsreihe bemerkt. Bei manchen Untersuchungsteilnehmenden musste die Versuchsreihe aus Zeitgründen zwischen zwei Versuchen unterbrochen werden. Zwischen der ersten und der zweiten Teilstudie (KoKonstruktion) lagen ein bis vier Jahre. In ein paar Aufnahmen stand ein kleines Bongo, zweimal ein großes als anregungsreiches Material im Raum. Festzustellen ist eine Bandbreite von Verhaltensweisen. Folgende individuellen Unterschiede der Untersuchungsteilnehmenden zeigten sich im ersten Versuch der Teilstudie I.

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Methodischer Ansatz der Studie Es gab Untersuchungsteilnehmende,

- die sich nicht oder kaum äußern - die sich fragen, worum es bei dem Versuch geht - die aufgeben - die ausschließlich Elemente aus dem Bild beschreiben - die Worte aus dem Text definieren - die Assoziationen dazu aufzählen - die an Text und Bild knobeln - die subjektiv interpretieren - die etwas erfinden. Letztlich eigneten sich aufgrund der oben skizzierten Problematik nur 7 der entstandenen Videos für eine Analyse. Da es um die Erfassung der Prozesse ging, wurden diese in Teilstudie I in ihrer ganzen Länge transkribiert. In zwei Fällen traten Sättigungseffekte ein, so dass nicht die gesamte Transkription interpretiert wurde. Von einem Sättigungseffekt spricht man, wenn sich gefundene Erkenntnisse wiederholt bestätigen, ohne dass darüber hinausgehende Erkenntnisse gewonnen werden können. Dies ist bei Hannah und Harald der Fall. In Teilstudie II wurden Passagen ausgewählt, in denen zusammengearbeitet wurde, oder solche, in denen im NLD Aussagen zur Zusammenarbeit getroffen wurden. 5.5 Hypothesenbildung Die Studie ist explorativ und hypothesengenerierend angelegt. Zur Erklärung der Motiv-Struktur ist nicht die Beobachtung an sich interessant, sondern die entstehenden Zusammenhänge und Dynamiken. Das Erkenntnisinteresse liegt also in der hypothesenbildenden Exploration der Frage, wie es zu einem bestimmten Verhalten kommt. Daraus ergibt sich das Anliegen zu untersuchen, inwieweit sich Beobachtung A in einen Zusammenhang mit Aussage oder Verhalten B bringen lässt, oder ob weitere Faktoren C, D, E eine Rolle für das Verhalten spielen. 5.6 Auswertung Um die Dynamik der inter-individuellen Prozesse zu erfassen, eignen sich qualitative Verfahren. Gütekriterien qualitativer Verfahren sind Transparenz und Nachvollziehbarkeit (Breuer, 2010). Mayring (2016, S. 147) nennt sechs Gütekriterien qualitativer Forschung: Verfahrensdokumentation, argumentative Interpretationsabsicherung, Regelgeleitetheit, Nähe zum Gegenstand, kommunikative Validierung und Triangulation. Insofern liegt ein Schwerpunkt Qualitativer Verfahren in der Dokumentation der Beobachtungen. Die Studie ist explorativ und hypothesen-generierend angelegt. Der Sorge, dass Interpretationen zu einseitig ausfallen, wurde durch kommunikative Validierung in einer

Auswertung

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Interpretationsgruppe begegnet. In der Analyse werden Unterschiede der Geschlechter nicht berücksichtigt, da die Stichprobe zu klein ist, um Schlussfolgerungen zum Geschlecht zu ermöglichen. Teilstudie I

Teilstudie II: Ko-Konstruktion aus Ergebnissen der Teilstudie 1

Interpretation nach Bohnsack 1-7, V1

Interpretation Teilstudie II zur KoKonstruktion K1-3

Qualitative Inhaltsanalyse 1-2; V1

Zusammenfassung der Ergebnisse Teilstudie II

Detaillierte Interpretation nach dem ΨModell 1-2

Triangulation der Ergebnisse aus Teilstudie I: 1-2: Bewertung

Theoriebildung

Pädagogische Relevanz Qualitative Inhaltsanalyse 3-7, V1 Ausblick und kritische Bewertung der Ergebnisse Detaillierte Interpretation nach dem ΨModell 3-7, V1

Interpretation 1-7, V2-3

Zusammenfassender Vergleich der Ergebnisse aus Teilstudie I, Versuch 1

Abbildung 5.2: Vorgehen Auswertung Die Auswertung besteht aus Teilstudie I und Teilstudie II (s. Abb. 5.2, S. 83). Die Ergebnisse beider Teilstudien werden in eine Theoriebildung überführt. Teilstudie I besteht aus drei Versuchen; Teilstudie II aus drei Versuchspaaren. Die Interpretation von Versuch eins aus Teilstudie I wird in drei aufeinanderfolgenden Schritten durchgeführt: 1. Versuch 1 der Teilstudie I wird in einem ersten Schritt nach der Videoanalyse nach Bohnsack (2011) interpretiert. 2. Versuch 1 der Teilstudie I wird nach der Qualitativen Inhaltsanalyse ((Mayring, 2015)) interpretiert. 3. Anschließend erfolgt in einem dritten Schritt die Triangulation und Bewertung der Ergebnisse der Untersuchungsteilnehmenden 1-2 aus Versuch 1. Die Auswertung von Teilstudie I erfolgt zuerst in Bezug auf Versuch eins, und zwar zunächst im Hinblick auf die am stärksten kontrastierenden Untersuchungsteilnehmenden 1 und 2. Die übrigen Untersuchungsteilnehmenden 3-7 werden erst auf diese

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Methodischer Ansatz der Studie

Ergebnisse hin interpretiert. Die Versuche zwei und drei aus Teilstudie I werden in einem weiteren Schritt als Vergleichshorizont ausgewertet und interpretiert. Aus den Ergebnissen aus Teilstudie I werden Versuchspaare für Teilstudie II gebildet. Da die Komplexität der individuellen Fälle erfasst werden soll, wird die Kodierung durch eine spezifizierte Interpretation anhand des Ψ-Modells (Dörner, 1999/2008) expliziert. Der Corpus wird dabei jeweils überprüft, ergänzt und gegebenenfalls überarbeitet (Mayring, 2016, S. 133; Mayring, 2015, S. 22ff). Um das Material in seiner Prozesshaftigkeit zu verstehen, wird es dem Erkenntnisinteresse entsprechend ausgewertet. Um die Dynamiken im Verhalten zu erfassen, wird schrittweise von spezifizierten Interpretationen der Sequenzen anhand des Psi-Modells in Kapitel 5 und 6 zu einer hypothesengenerierenden Theoriebildung übergegangen (Mayring, 2015, S. 22ff). Zur Dokumentation der einzelnen Schritte wird vom empirischen Material zum Ganzen und von der Feinanalyse zur Grobstruktur vorgegangen, ohne die Dynamik der einzelnen Fälle aus dem Blick zu verlieren. Vorannahmen und vorschnelle Schlüsse in der Feinanalyse sollen insbesondere über eine kommunikative Validierung in einer Interpretationsgruppe verhindert werden. Ebenfalls wird hier die die Plausibilität der jeweiligen Feinanalyse überprüft und nach Alternativerklärungen gesucht. 5.6.1 Transkription Transkribiert werden die Sequenzen nach den Transkriptionsregeln von GAT2, wobei ich mich bis auf wenige Stellen an das Basistranskript halte. Das Minimaltranskript von GAT2 kann ohne Aufwand durch notwendige Elemente aus den ausführlichen Transkriptionsregeln von GAT2 ergänzt werden. Das Minimaltranskript wurde erstens in Bezug auf den Klicklaut ergänzt, den ich mit „t“ gekennzeichnet habe und zweitens an Stellen, an denen ich versuche, der Simultanität von Mimik, Gestik und Sprache zu begegnen (Knoblauch, 2009). So wurde die transkribierte Sprache durch die in GAT2 vorgeschlagenen Zeichen > > von der Gestik abgegrenzt. Transkribierte Sprache wird durch die entsprechenden Zeichen so eingegrenzt, dass die Länge der Überschneidung von Lautem Denken und Gestik erkennbar wird. Damit die Sprache trotz der Beschreibung der Gestik leicht erfassbar ist, ist die Sprache fett gedruckt. Die Transkriptions-Regeln im Überblick: - alles ist klein geschrieben - keine Silbentrennung, kein Bindestrich - Großbuchstaben zur Notation von Akzenten - Tilgungen, Assimilationen und Regionalismen, soweit sie für die Forschung relevant sind, werden notiert - [ ] überlappendes Gespräch, darunter neuer Partner - hörbares Atmen: °h ein- /h° ausatmen - < während > - ( ) unverständliche Passage - (aber) unverständliche Passage mit vermutetem Wortlaut

Auswertung

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- : Dehnung, geht : 0,2-0,5 sec :: 0,5-0,8 ::: 0,8-1,0 - °h / h° hörbares Ein- oder Ausatmen 0,2-0,5 - °hh / hh° hörbares Ein- oder Ausatmen 0,5-0,8 - °hhh / hhh° hörbares Ein- oder Ausatmen 0,8-1,0 - ? außergewöhnlich deutliche, hoch steigende Tonhöhenbewegung - (.) -0,2 Pause - (-) 0,2-0,5 - (–) 0,5-0,8 - (—) 0,8-1,0 - (0.4) 0,4 Sek Dauer - ((kann keinem Sprecher zugeordnet werden)) - I Interviewende Person : - VL Versuchsleitung 5.6.2 Videointerpretation Als Vorteile des Videos beschreibt Wagner-Willi die detaillierte Beobachtung und Interpretation von Situationen und Handlungen, die Möglichkeit der wiederholten Beobachtung auch symmetrisch ablaufender Geschehnisse, die Beobachtung verbaler, sowie nicht-verbaler Handlungspraxis, wie etwa Einnahme des Raumes, Kopfbewegungen etc. (Wagner-Willi, 2001, S. 142). Da „Kommunikation ohne körperliche Aspekte“ nur unzureichend abgebildet und verstanden werden kann, werden Mimik und Gestik in die Analyse einbezogen (Hietzge, 2017, S. 121). Zur Berücksichtigung des Eigensinns des Bildes werden die entstandenen Videos nach der Videointerpretation nach Bohnsack (2011) interpretiert. In der Videointerpretation wurden Mimik und Gestik der Fälle analysiert (Bohnsack 2011, 173). Dabei wurde darauf geachtet, zunächst im Medium des Bildes zu bleiben, bevor in das Medium der Sprache gewechselt und diese einer formalen Analyse unterzogen wurde. Die Bilddaten konnten so gemäß ihrer simultanen und die Textdaten gemäß ihrer sequentiellen Struktur untersucht werden (Bohnsack, 2011, S. 171). Mit dem Ziel der Anonymisierung bei gleichzeitiger Vergleichbarkeit wurden die Bilddaten einiger Untersuchungsteilnehmenden in „icons“ übertragen. Unter „icons“ ist eine vereinfachte Darstellung von Bilddaten, etwa in einer Zeichnung zu verstehen. Sie ermöglicht gegenüber der aufwändigen Beschreibung von Mimik und Gestik ein schnelles Erfassen der Totalstruktur des Bildes (Bohnsack, 2011) bei gleichzeitigem Erhalt der Anonymität der Untersuchungsteilnehmenden. Mimik und Gestik werden aufgrund ihrer Simultanität oder Ambivalenz analysiert und interpretiert. Erst bei dreifacher Wiederholung der sich andeutenden Ergebnisse wird dies als Bestätigung dieser Annahmen gedeutet. Die Standortgebundenheit der Forschenden wird über ständige komparative Analysen im Forschungsprozess aus

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Methodischer Ansatz der Studie

kontrastierenden Vergleichshorizonten oder imaginativen Vergleichshorizonten überwunden (Bohnsack 2011, S. 46; 2008; 1989; Nohl 2001). Dazu wurde sich auf kommunikative Validierungsprozesse in einer Interpretationsgruppe gestützt. In der Interpretation wird aufgrund von Simultanität oder Ambivalenz nach Homologien gesucht. Diese werden nach dreimaliger Bestätigung als valide angesehen. Nach Bohnsack ergibt sich eine Sinneinheit jeweils, wenn sich die Untersuchungsteilnehmenden der Kamera oder der Forscherin zuwenden. Die so entstehende Proclusion, Evaluation und Konklusion besteht aus der Irritation, der Bearbeitung dieser Irritation und der erneuten Kontaktaufnahme mit Kamera oder Forscherin. Für die komparative Vorgehensweise wurden zunächst zwei Fälle mit maximaler Kontrastierung analysiert und interpretiert. In der Analyse werden Homologien der Äußerungen gesucht und miteinander verglichen, um „Fälle zu finden, in denen die in der ersten Äußerung verbalisierte Problematik bzw. Thematik auf eine strukturgleiche Art und Weise bearbeitet wurde.“ (Bohnsack, 2011, S. 46). Im Verlaufe der Interpretation wurden in den nach Bohnsack interpretierten Sequenzen aus den sich für jeden Untersuchungsteilnehmenden ergebenden Strukturen eine Fokussierungsmetapher gesucht. Die beiden Fälle sind im Anhang zu finden. 5.6.3 Qualitative Inhaltsanalyse Die aus dem Lauten Denken und NLD erstellten Transkriptionen aus Teilstudie I, Versuch 1 und Versuch 2 wurden nach der Qualitativen Inhaltsanalyse interpretiert. Dazu wurden die Transkriptionen des Lauten Denkens und Nachträglichen Lauten Denken3 ab in Tabellen erfasst und kodiert. In der ersten Spalte der Tabellen ist die Nummerierung der Sequenzen aufgeführt, in der zweiten Spalte die Transkription der Sequenzen Lauten Denkens, in der dritten Spalte ihre Kodierung, in der vierten Spalte eine stichwortartige Zusammenfassung der erarbeiteten Motivation und in der fünften Spalte eine komprimierte Zusammenfassung der nach Dörner theoriegeleiteten Spezifikation, die die für diesen Abschnitt relevanten Modulationen der Handlungsregulation enthält. Kodierungen zum Bild sind mit kursiver Schrift, zum Text mit normaler Schrift verfasst. Die Unterteilung der Sequenzen erfolgt jeweils zu neuen Sinn-Abschnitten. Sie geht häufig mit einer Veränderung der Gestik - dass sich die Person umsetzt, den Stuhl nachrückt o.ä. - einher. Um dennoch die Entwicklung eines Geschehens oder Gedankengangs für den Leser nachvollziehbar zu machen, sind je nach Fall in der sukzessive erfolgenden Interpretation mehrere Sequenzen aus der Tabelle zusammengefasst. Die Nummern der Sequenzen sind jeweils am Anfang der Transkription vermerkt. Zur Explikation der Dynamiken wurde das Material anhand des Ψ-Modells von Dörner spezifiziert untersucht. Da das Ψ-Modell emotionale und motivationale Komponenten der Handlungsregulation einbezieht, eignet es sich besonders zur Analyse intrapersoneller und interpersoneller Dynamiken. So können mögliche Ursachenzusammenhänge erarbeitet werden. Aus dieser Analyse heraus wurde die Kodierung nochmals erarbeitet und einer Prüfung unterzogen (s. Abb. S. 83). Anschließend wurden die Videointerpretation nach Bohnsack (2011) und die Ergebnisse der Qualitativen 3

Nachträgliches Lautes Denken ist folgend als NLD abgekürzt

Auswertung

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Inhaltsanalyse zu den zwei am stärksten kontrastierenden Hans und Hannah in Versuch 1 der Teilstudie I trianguliert. 5.6.4 Triangulation Versuch 1, Teilstudie I Die Triangulation der Videointerpretation nach Bohnsack (2011) und der Qualitativen Inhaltsanalyse erfolgte im Anschluss an die Interpretation von Teilstudie I. Es ergaben sich ähnliche Muster, die aber aufgrund der unterschiedlichen Ziele differierten. Die Videointerpretation nach Bohnsack (2011) ist soziologisch einzuordnen als Interesse am Habitus der Untersuchungsteilnehmenden. Das Forschungsinteresse in der Qualitative Inhaltsanalyse ist jedoch psychologisch einzuordnen und liegt in den Dynamiken kreativen Verhaltens. So ergab sich für den Untersuchungsteilnehmenden Hans als Fokussierungsmetapher „Beurteilen“; aus der Qualitativen Inhaltsanalyse aber „Unbestimmtheit als Bedrohung der Kompetenz bewirkt evasives Verhalten“ als Reaktionsweise. Für Hannah ergab die Fokussierungsmetapher „Ausdruck ästhetischer Anähnelung und Distanzierung“; anhand der Qualitativen Inhaltsanalyse stellte sich aber „Lust an Unbestimmtheit als Antrieb für Kreativität“ heraus. Aus der Analyse anhand des Ψ-Modells ergibt sich für Hans die Entscheidung zur Flucht aus der Situation anstelle der ästhetischen Auseinandersetzung mit der Ungewissheit der Situation. Die Begründung verläuft ebenfalls in einem Prozess, der die Beurteilung des Gegenstandes einschließt, aber auch die Abgrenzung in der Identität als jemand, der keine Zeit für sinnlose Tätigkeiten hat. Sie dient der Kompetenzregulation und ist systemimmanent eine notwendige Lösung, damit Hans handlungsfähig bleiben kann. Aus der soziologisch orientierten Perspektive der Videointerpretation nach Bohnsack kristallisiert sich dagegen für Hans Leistungsorientierung als Horizont für die Reaktion auf die Situation heraus, die ihn letztlich davon abhält, sich der Ungewissheit der kreativen Problemstellung zu stellen. Bei Hannah dient die ästhetische Erfahrung als Möglichkeit des Abgleichs und der Aufarbeitung der eigenen Erfahrung. Hannah nutzt den lustvollen Ausdruck ihrer intensiven Wahrnehmung als Möglichkeit zur Person-Umwelt-Regulation, aus der Neues erwächst. Anähnelung und Abwehr dienen also der Fokussierung und dem Eröffnen noch nicht da gewesener Perspektiven. Der Begriff des Anähnelns wird von Wulf (2017) zur Erklärung von Mimesis verwendet und als ein „Sich-Anähneln an Andere und Anderes“ beschrieben, das über reines Nachahmen hinausgeht, weil die entstehende Differenz in die Bildung einer Brücke zwischen Innen- und Außenwelt einfließt. Mit dem Begriff der Anähnelung beziehe ich mich auf die Verwendung des Begriffs bei Wulf, deute ihn hier aber mit Betonung auf den Prozess des Aneignens und Ausdrucks mimetischen Handelns. Die Ergebnisse deuten demnach in die gleiche Richtung. Dies wurde als stützend für die Vorgehensweise gewertet. Mit den folgenden Interpretationen wurde deshalb entsprechend verfahren. 5.6.5 Auswertung Teilstudie I, Versuch 2 und Versuch 3 Die Auswertung von Versuch 2 und Versuch 3 konnte aus Zeitgründen nicht so detailliert durchgeführt werden, wie die Prozesse in Versuch 1. Außerdem fließen hier

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Methodischer Ansatz der Studie

Überlegungen zu den erstellten Produkten ein. Die Versuche 2 und 3 sind als Vergleichshorizont zu begreifen und fließen entsprechend in die Zusammenfassung der Ergebnisse von Teilstudie I ein. Ihre Auswertungen beginnen mit der Transkription, auf die jeweils eine das Laute Denken und die Handlung zusammenfassende Beschreibung folgt. Daran schließt sich eine Produktbeschreibung und die Interpretation der Prozesse an. Eine Zusammenfassung und ein Überblick werden gegeben. Darauf sind sich daraus ergebende Hypothesen dargestellt. Damit grundsätzlich alle drei Versuche dokumentiert sind, fließen auch Daten in die Dokumentation ein, bei denen kaum Sequenzen Lauten Denkens vorkommen. Die Ergebnisse aus Versuch 1 der Teilstudie I werden abschließend jeweils in Form eines Verlaufsschemas anhand kontrastierender Typen visualisiert und einzeln in ihrem Verlauf beschrieben. 5.6.6 Auswertung Teilstudie II In der Auswertung von Teilstudie II werden die ersten beiden Untersuchungsgruppen detaillierter analysiert als die letzte Untersuchungsgruppe, die aus Zeitgründen nur als Vergleichshorizont dargestellt werden konnte. Wie in den Versuchen 2 und 3 aus Teilstudie I beginnt die Darstellung jeweils mit der Transkription. Nach einer kurzen Einordnung in den Kontext, in dem die Passage stattfindet, wird das Interaktionsgeschehen beschrieben und interpretiert. Erst dann werden Passagen des NLD erarbeitet und zur Interpretation hinzugefügt. Je nach Länge des NLD werden die Transkriptionen im Ganzen oder nur vor dem Hintergrund der Versuchsvideos relevante Passagen verwandt. Als relevant werden z.B. divergierende Ansichten gewertet, oder solche, bei denen Motive unklar sind. Die Passagen NLD befinden sich im Anhang. Zur besseren Lesbarkeit werden hier die anonymisierten Namen anstelle von Buchstaben eingesetzt Die Sequenzen des NLD aus Teilstudie II werden nach dem Ψ-Modell interpretiert. Teilstudie II endet mit einem Überblick über die Ergebnisse der Teilstudie. Abschließend werden die aus den Analysen beider Teilstudien entstehenden Hypothesen zusammengefasst und diskutiert und einer Theoriebildung unterzogen. In der anschließenden Zusammenfassung werden die Ergebnisse im Hinblick auf den psychologischen Erkenntnisgewinn diskutiert. Die Studie endet mit einer kritischen Bewertung der Ergebnisse und einem Ausblick auf offene Fragestellungen. 5.7 Zusammenfassung Nach wie vor besteht Unklarheit dazu, was kreative Prozesse sind. Bisher wurde von einem idealen kreativen Prozess ausgegangen, der unabhängig vom Individuum und der Fragestellung in allen Fällen gleich verläuft. Insbesondere die Frage, wie verschiedene Persönlichkeiten kreativ zusammenarbeiten, ist bisher kaum geklärt. Um diese Fragestellung beantworten zu können, wurde nach der Grounded Theorie (Mey/Mruck, 2011) explorativ und hypothesengenerierend vorgegangen. Teilstudie I besteht aus je drei Simulationen, in denen das Verhalten einer Zufallsstichprobe aus Lehrkräften, Schüler*innen per Video aufgezeichnet wurde. Um kognitive und motivationale Komponenten erfassen zu können, wurden die Teilnehmenden aufgefordert, laut zu denken.

Zusammenfassung

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In einer zweiten, sich anschließenden Teilstudie wurden je zwei Teilnehmende, die sich unterschiedlich verhalten hatten, zu einem weiteren Versuch gebeten. Diese Simulation fand im Rahmen einer anregungsreich vorbereiteten Umgebung statt. Anschließend wurden beide Untersuchungsteilnehmenden gebeten, anhand der Methode des NLD ihre Vorgehensweise zu kommentieren. Die Videos aus Teilstudie I wurden über die Videoanalyse nach Bohnsack Bohnsack (2011) und die Qualitative Inhaltsanalyse (Mayring, 2015) interpretiert und trianguliert. Im Rahmen der qualitativen Inhaltsanalyse wurden die Prozessverläufe aus Versuch 1, Teilstudie I, anhand des Ψ-Modells nach Dörner (1999/2008) spezifiziert interpretiert. Die Versuche 2 und 3, sowie Teilstudie II sind als Vergleichshorizont zu Versuch 1, Teilstudie I zu verstehen. Die sich aus der Interpretation der kreativen Einzelsituationen und den Ko-Konstruktionen (Teilstudie II) ergebenden Hypothesen dienen einer Theoriebildung (s. Kap. 9). In Kapitel 10 werden die Ergebnisse kritisch diskutiert.

6 Teilstudie I: Darstellung der empirischen Ergebnisse Für die spezifizierte Analyse in Teilstudie I eignen sich nur sieben der 21 Untersuchungsteilnehmenden. Ein großer Teil der Untersuchungsteilnehmenden verlässt die Simulation, ohne Ideen zu generieren. Zwei der detailliert untersuchten Untersuchungsteilnehmenden sind repräsentativ für dieses Verhalten. Folgend gebe ich einen kurzen Überblick über die Versuche aller Teilnehmenden. Die ursprünglich mit einer Buchstaben-Zahl-Kombination kodierten Namen wurden für die spezifizierte Analyse in Namen umgewandelt. Da einige der 21 Untersuchungsteilnehmenden in Versuch 1 der Versuchsreihe I gar nicht oder zu wenig laut denken, ist in ihrem Fall keine Handlungsanalyse möglich. Viele beschreiben nur, was sie im Bild sehen, oder im Text lesen, äußern aber keine weiteren Gedanken oder inneren Gespräche. Manche haben zwar zusätzlich Assoziationen zum Bild oder Text, äußern aber ebenfalls keine Gedanken, Gefühle oder inneren Gespräche. Insbesondere unter den Schüler*innen der Hauptschule, die sich unerwartet bereit erklärten, am Versuch teilzunehmen, finden sich solche, die die Unverständlichkeit des Textes auf sich und ihre eigene Unfähigkeit attribuieren und deshalb nichts weiter damit unternehmen. Manche der Prozesse konnten wegen aufnahmetechnischer Schwierigkeiten nicht verwendet werden, oder weil die Untersuchungsteilnehmenden nicht ausreichend Zeit hatten, um alle Versuche durchzuführen. Interessant sind die unterschiedlichen Umgangsweisen mit dem Material. Während sich einige ärgern über die Situation ärgern oder äußern, dass sie auf so ein düsteres Thema keine Lust haben, wird von anderen Untersuchungsteilnehmenden spontan mit Humor reagiert (Hans, Hedwig, Harald). Ebenfalls zu diskutieren ist, weshalb andere nach der Intention oder Wirkung des Bildes fragen (Horst, Hedwig, Hannah) und Ideen dazu entwickeln und weshalb manche davon sehr hohes Durchhaltevermögen zeigen (Hubert, Hannah), andere aber wie oben beschrieben reagieren. Die Auswertung der Daten besteht aus einer Triangulation der Reflektierenden Video-Interpretation nach Bohnsack und der qualitativen Inhaltsanalyse. Zur theoretischen Fundierung der Kodierung wurde eine spezifizierte Interpretation der Prozesse anhand des Ψ-Modells nach Dörner (1999/2001) herangezogen. Aus Zeitgründen sind in die Triangulation nur die ersten beiden kontrastierenden Fälle eingeflossen. Aus Gründen der Übersichtlichkeit sind folgend ausschließlich die anhand des Ψ-Modells spezifizierten Interpretationen der Qualitativen Inhaltsanalyse dargestellt. Die zu den Transkriptionen gehörigen Tabellen sind im Anhang zu finden. Bilder von den Tabletts und Zeichnungen sind in die Analyse eingefügt und aus Platzgründen nicht nochmals im Anhang zu finden. Ein Abbildungsverzeichnis mit Seitenangaben verweist auf die Bilddateien. Mit dem Ziel der Vergleichbarkeit wurde zu jedem Tablett eine Skizze

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 B. Vollmer, Kreativität – Handeln in Ungewissheit, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31142-1_6

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Teilstudie I: Darstellung der empirischen Ergebnisse

angefertigt. Jeder Gegenstand ist bezeichnet und mit einer Nummer versehen, die die Reihenfolge, in der die Gegenstände gelegt wurden, markiert. Die Ränder der Gegenstände bestehen aus gestrichelten Linien für Gegenstände, die verlegt wurden und aus durchgezogenen Linien für die jeweils neue Position. Wenn die Gegenstände häufig umgelegt wurden, ergeben sich daraus mehrere Skizzen. Nicht alle Fälle eigneten sich letztlich zur differenzierten Untersuchung kreativen Verhaltens. Letztlich konnten nur sieben der entstandenen Videos für die Analyse verwendet werden. Entscheidend für die Auswahl war neben der Ideenfindung an sich die Frage, ob in Versuch eins Passagen Lauten Denkens existierten, anhand derer die ablaufenden Kognitionen erfasst werden konnten. In der Analyse wurde nach dem Prinzip des höchsten möglichen Kontrasts gearbeitet, d.h. dass sich von hohen Kontrasten ausgehend an geringere Kontraste angenähert wurde. Diese Form ist in der nun folgenden Darstellung erhalten geblieben. Dargestellt werden zunächst die erwachsenen Untersuchungsteilnehmenden Hans, Hedwig und Hannah, danach die zum Zeitpunkt der Erhebung Jugendlichen Herbert, Hubert, Horst und Harald. Die Sequenzen werden jeweils dargestellt, beschrieben und dann sukzessive einer theoriegeleiteten Interpretation zugeführt. Da das Erkenntnisinteresse in der Dynamik des Verhaltens liegt, stelle ich in den einzelnen Interpretationsschritten nicht nur Beobachtung A dar, sondern bringe diese im Sinne einer explorativen Vorgehensweise mit Verhalten B oder möglichen weiteren Faktoren in Zusammenhang. Nach jedem Versuch erfolgt eine Hypothesenbildung, schließlich zu jeder Untersuchungsperson eine zusammenfassende Hypothesenbildung. Am Ende des Kapitels führt eine Zusammenfassung aller Hypothesen zu einem abschließenden Vergleich der Ergebnisse aus Teilstudie I. 6.1 Fallanalyse Hans Hans ist nach 2.57 Minuten mit dem Versuch fertig und verlässt den Raum, ohne dass er eine Idee zu dem Material entwickelt hätte. Die Nummerierung zu Beginn der Transkriptionen zeigt die jeweiligen, aus Gründen der Überschaubarkeit für den Leser z.T. zusammengefassten Sequenzen an. Dahinter steht die jeweilige Angabe der Zeit im Video. Die darauf folgende differenzierte Interpretation spiegelt die zusammenfassende Motivation in der Tabelle wieder und dient zur Überprüfung der Kodierung. 6.1.1 Versuch 1 - Hans 1 00:00:00-0 >Nimmt Blickkontakt mit der Kamera auf, blickt aber über die Kamera hinweg nach oben; die linke Hand ist gestreckt und stützt das Kinn, die rechte Hand ruht geschlossen an der Tischkante vor den Din A4Blättern. Er dreht sich noch einmal um und schaut zur Versuchsleitung, die gerade den Raum verlässt. Die Hand löst sich vom Kinn, er wendet sich dem Material zu und greift mit beiden Händen nach den Din A4-Blättern. Der Untersuchungsteilnehmer hebt mit der rechten Hand das auf dem Blätterstapel rechts von der Bildplatte liegende Aufgabenblatt einzeln hoch und schaut darunter, legt es in die linke Hand, hebt mit der rechten Hand den

Fallanalyse Hans

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restlichen Blätterstapel hoch, schaut darunter und schaut nochmals unter das in der linken Hand befindliche Blatt. Er legt die Hand nieder, um das Blatt auf die umgedrehte vor ihm liegende Bildplatte hinzulegen, mit der rechten Hand bereitet er das Ablegen des Blätterstapels vor.< Die Versuchsleitung ist noch im Raum, als sich Hans der Kamera zuwendet. Er setzt sich in Arbeitshaltung an den Tisch und beginnt, den Blätterstapel durchzublättern. Das oberste Blatt mit dem Arbeitsauftrag legt er dazu zur Seite, schaut dann demonstrativ unter die einzeln hochgehobenen Arbeitsblätter. Mit der demonstrativen Übertreibung präsentiert er sich als Versuchsperson. Mit seinem Verhalten strukturiert Hans gleich zu Beginn die Situation. Er schlüpft außerdem in eine Rolle, die das Potential hat, ihn positiv, aber auch lustig erscheinen zu lassen. In der Versuchssituation, in der er als Untersuchungsteilnehmender nicht genau weiß, was auf ihn zukommt, kann er damit das Gefühl gewinnen, selbstwirksam zu handeln. 2-3 00:00:16-4 schaut in die Kamera, reißt die Augen auf, so dass das Weiß der Augen sichtbar wird und lächelt < das ist hier die frage(—) > fasst mit der linken Hand den Blätterstapel an, stößt ihn im Querformat auf den Tisch auf, so dass die losen Blätter geordnet aufeinander liegen < ich hab hier leere blätter(—) >blickt in die Kamera> blättert den Stapel langsam Blatt für Blatt durch, dabei setzt er den Daumen unterstützend ein, löst ein übriges Blatt nachträglich, damit es ebenfalls geblättert werden kann. Dann ordnet er den Stapel Blätter.< Mit einem Blick in die Kamera fragt er sich, wozu ihm etwas einfallen soll. Dabei lächelt er und ordnet die Blätter, indem er sie mit der Kante auf dem Tisch zusammenstößt. Das Wort „wozu“ leitet eine Frage nach einem Ziel oder Zweck ein. Er beantwortet die Frage danach, was ihm einfällt, mit einer Suchbewegung und dem Ordnen der Blätter. Bis auf das erste Blatt mit der Frage, was ihm dazu einfällt, sind diese leer. Er reagiert auf die Überlegung, was ihm zu leeren Blättern und einer weißen Platte einfallen soll, mit Humor. Weiß stellt in diesem Fall also für ihn „nichts“ dar. Er nimmt die Blätter als inhaltlos und nicht in ihrer Materialeigenschaft oder Eignung für andere Dinge als Medium für Geschriebenes oder Dargestelltes wahr. Deshalb verweist er auf die leeren Blätter, indem er sie nochmals langsam durchblättert und gerade zusammenfügt. Die damit zusammenhängende Komik wird durch eine Diskrepanz zwischen einem bestimmbaren Auftrag und dem nicht dazu passenden Material erzeugt. Damit, dass er die Blätter ordnet und zu einem ganzen Stapel zusammenlegt, strukturiert er den Arbeitsplatz. Er geht systematisch vor. Die Bestimmtheit nimmt zu. Er begegnet hier also der Unbestimmtheit durch das Erschaffen einer exakten Ordnungsstruktur, wie sie in Büros und auf ordentlichen Schreibtischen zu finden ist. Mit dieser Ordnungsstruktur lehnt er sich an einen vorgegebenen Rahmen an und grenzt Suchbewegungen zu Materialität und Organisation der auf dem Tisch liegenden Gegenstände aus. Mit dem Lachen zeigt Hans seine Irritation, aber auch die spontane Bereitschaft, der Sache mit Humor zu begegnen. Dies deutet darauf, dass er die ganze Situation in ihrer

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Teilstudie I: Darstellung der empirischen Ergebnisse

Inkongruenz als witzig sehen kann. Witze enthalten Unstimmigkeiten und eignen sich insofern als stellvertretende Unbestimmtheitsregulation (Dörner, 2008, S. 373ff). Komik zählt zu den Basiseigenschaften für Kreativität (Martin, 2007, S. 101f.). Zu Humor gibt es verschiedene Theorien. In der Arousaltheorie wird davon ausgegangen, dass Erregung Stress erzeugt, der über Lachen reduziert werden kann. Freud (1928) ging davon aus, dass Lachen der Spannungsreduktion dient. Das Einsparen unnötiger Energie führt demnach zu Lustgewinn und Stressreduktion. Scherze und Witze, nach Martin (20.6, S. 211) aber auch Ironie könnten so zur Entladung libidinöser (aggressiver oder sexueller) Energie dienen. Die Antizipation des zukünftigen Ereignisses entlädt sich demnach durch Komik, wenn das Ereignis anders eintritt. Ärger, Wut oder Zorn könnten ebenfalls durch unerwartetes Amusement kompensiert werden. Der so entstehende Perspektivwechsel befähige, so Freud, zur Bewältigung von Schwierigkeiten. In der auf Kant und Schopenhauer zurückgehenden Inkongruenztheorie wird Humor als kreative Aktivität bewertet. Dabei würden nach Koestler, 1964 in einem kreativen Akt aus zwei verschiedenen Bezugsrahmen stammende Bilder, Vorstellungen oder Begriffe zu etwas Neuem verknüpft. Zwei inkongruente Ideen, Konzepte oder Situationen erzeugen demzufolge einen kognitiven Widerspruch und Überraschungseffekt. Menschen mit Sinn für Humor seien in der Lage, sich durch schnelle Perspektivwechsel von Bedrohungen oder Stress zu distanzieren. Dies reduziere Gefühle wie Angst oder Hilflosigkeit (Lefcourt/Martin, 1986). Die Superioritätstheorie bezieht sich auf den aggressiven Charakter von Humor. Eigene Minderwertigkeit führt demzufolge zu Überlegenheitsstreben. Dabei werde die Angst davor, ausgelacht zu werden, durch Lachen über Minderwertigere kompensiert (Titze, 1988). Durch die ironische Reaktion auf die Situation schafft Hans sich einen kreativen Rahmen, der ihm seine eigene Bestimmtheitsregulation erlaubt. 4-6 00:00:25-8 >fasst die Tafel mit beiden Händen an< und dann hab ich hier eine tafel (—)> dreht die Tafel kopfüber um lächelt >neigt den kopf vor Er dreht sich zur Platte, fasst sie gleichzeitig mit beiden Händen an und dreht sie um. Indem er sein Erstaunen betont, dass auf der Platte etwas zu sehen ist, wenn man sie herumdreht, reagiert er auf die Situation mit Humor. Nach mehrmaligem Zurechtrücken der Platte und der Blätter, lehnt er sich auf die auf dem Tisch liegenden Unterarme und betrachtet die Platte. Langgedehnt sagt er „o.k.“. In dieser für jemanden, der am Schreibtisch liest, typischen Arbeitshaltung hält er eine Hand geschlossen, die andere liegt offen auf dem Unterarm. Der Untersuchungsteilnehmer hat sich eine Ordnung geschaffen, in die er sich nun einfügen und aus der heraus er sich mit dem Material beschäftigen kann. Selbstwirksam hat er also - zumindest was den Arbeitsplatz angeht - eine Ordnung und damit Bestimmtheit erzeugt. Als er nun aber in das Material blickt, sagt er zwar okay; damit, dass er es lang dehnt, stellt er seine Aussage aber wiederum in Frage. Während er Text und Bild kurz überfliegt, zeigt sich zunächst, dass er irritiert ist. Ihm fällt nicht unmittelbar etwas ein; der Aktivierungsgrad sinkt also für

Fallanalyse Hans

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einen kurzen Moment ab, er spricht langsamer. Der Untersuchungsteilnehmer muss sich zunächst orientieren. Insofern wird der Auflösungsgrad grober, er verschafft sich einen Überblick. 7 00:00:34-2 Nun wendet er sich dem Bild zu und beschreibt etwas stockend, dass es sich um ein Gebäude handelt, in dem Licht zu sehen ist. er gibt uns also einen groben Überblick, eine Art Überschrift zum Bild. Da die einfachere Aufgabe der Bildbeschreibung gelingt, gewinnt er an Kompetenz, seine Bestimmtheit nimmt zu. 8 00:00:41-2 liest leise weiter> So wendet er sich wieder dem Text zu. Er beugt sich stärker vor, liest leise murmelnd den Text, rückt dann aber mit dem Oberkörper nach hinten und richtet den Rücken auf. Dazu runzelt er mit der Stirn und macht diverse Pausen. Den semantisch nicht richtigen Text kann er nicht ohne weiteres entschlüsseln, er ist irritiert. 9 00:01:06-5 °h ein> < leicht nickend, Schlag der Augenlieder>SEHR> SCHWIERIGER> < beugt sich stärker vor zum Text, rechte Hand umfasst den Arm>SATZ> Spontan reagiert er mit betonendem Nicken. Als er auch so keinen Sinn erkennt, lacht er. Der Untersuchungsteilnehmer reagiert zunächst irritiert, dann humorvoll. Die zunehmende Unbestimmtheit wertet er als witzig. Seine Kompetenz bleibt ihm damit zunächst erhalten. An der ausweichenden Kopfbewegung, dem Einatmen und stärkeren Umfassen des Unterarms zeigt sich jedoch, dass es ihm nicht leicht fällt, mit der unklaren Gesamtsituation umzugehen. Dies drückt er aus, indem er den Satz als „schwierig“ bezeichnet. Dabei nickt er mit dem Kopf und betont die Problematik zusätzlich mit dem Schlag seiner Augenlider. „Schwierig“ ist ein Ausdruck, den man im Zusammenhang mit einer Leistung verwendet. Im Zusammenhang mit Leistung wäre aber ein inkongruenter Satz, der nicht eindeutig lösbar ist, nicht witzig. Seine Kompetenz und Bestimmtheit nehmen also ab. Mit der Bewertung als „sehr schwierig“ ordnet Hans ihn einer relativ eindeutigen Kategorie zu. Über die Einordnung in eine Kategorie hat Hans nicht nur selbstwirksam in sein Umfeld eingegriffen, sondern auch für sich selber etwas mehr Eindeutigkeit und damit Verlässlichkeit, also Bestimmtheit, gewonnen. Sein Auflösungsgrad bleibt allerdings noch niedrig, weil das Problem nicht beseitigt ist. 10 00:01:08-7 tyrannei hat sich ein produkt immer ins blickfeld gerückt> den provinzen sprach das sweatshirt (–) des politbüros leute> zu rockmusik> gibt zähen gemeinsamen sachen (—) um das erbe seit jahren mehr politisch eingehenden (—) arbeitseinheiten (—) um für hundert millionen menschen die öffnung zu bestimmen?>

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Teilstudie I: Darstellung der empirischen Ergebnisse

Nun liest er den Text laut vor. Mit seiner Mimik und Gestik drückt er aus, dass der Text mehr Fragen als Antworten erzeugt. So runzelt er nach dem ersten Absatz die Stirn, zieht nach dem zweiten die Augenbrauen hoch und intoniert das Ende als Frage. Immer wieder macht er Pausen. Daneben ist vor allem zu beobachten, dass er versucht, den Text durch Höhen und Tiefen zu rhythmisieren. Auch aus seiner Kopfhaltung lassen sich Versuche, Textbereiche zuzuordnen, ablesen. Bei dem Wort Rockmusik macht er eine seitliche Kopfbewegung, bei dem Wort „eingehenden“ verspricht er sich, beugt den Kopf vor und liest bei dem Satzteil, bei dem es um Arbeitseinheiten geht, weiter. Mit diesem Verhalten reagiert Hans auf die zunehmende Unbestimmtheit, die Leerstellen und Brüche im Text auslösen. Der Versuch der spezifischen Exploration scheitert infolge der mangelnden semantischen Richtigkeit immer wieder. Deshalb muss Hans sich wiederholt orientieren. In den so entstehenden Pausen versucht er, Verstehen zu generieren, indem er die Begriffe zuordnet. 11 00:01:29-7 t °h ein sehr interessanter satz Nach einem durch einen Klicklaut vom Lesen abgesetzten Einatmen beurteilt er den Text nun als interessant. Er distanziert sich also, gewinnt seine Fassung wieder und stellt sich in der Rolle eines kompetenten Untersuchungsteilnehmers dar, der weniger in die Lösung des Problems involviert ist, sondern eher als von außen Beurteilender fungiert. Durch die Distanzierung kann er das Problem von seiner emotionalen Befindlichkeit trennen. Er gewinnt an Kompetenz, weil es ihm gelingt, in die Rolle des Beurteilenden zu schlüpfen (vgl Kap.2.3.1). Insofern hat er auch für sich ein Stück persönliche Wahrnehmung von Unbestimmtheit beseitigt. Es gelingt ihm eine etwas differenzierte Sicht auf das Problem. 12 00:01:32-5 kurzer Blick in die Kamera< MICHrecht wenig < einmaliges Nicken> SINN> ergibt (—) Mit gewonnener Kompetenz kann er das Ergebnis seiner bisherigen Exploration nun genauer zusammenfassen. In der Rolle des kompetenten Untersuchungsteilnehmers blickt er in die Kamera. Das Problem ist für ihn, dass die Semantik des Satzes kaum Sinn macht, nicht entschlüsselbar ist. 13 00:01:35-6 < man könnte jetzt natürlich sagen (–) mhm (–) h° was kann man dreininterpretieren(—) >sehr kurzer Blick nach rechts auf das Blatt< (0.04) Nach dieser Beurteilung folgt er zunächst dem Aufforderungscharakter des Materials. Er überlegt, dass er durch Interpretation weiter kommen könnte. Indem er diesen Möglichkeitsraum eröffnet, stellt er sich als kompetent, gewandt und klug dar. Andererseits sinkt die Bestimmtheit, weil er nicht weiß, ob es das gewünschte Verhalten ist und ob es gelingt. Er müsste sich dazu mit der Unbestimmtheit auseinandersetzen, die ein Vorstoß ins Ungewisse mit sich bringt. Misslingen könnte zu Kompetenzverlust führen.

Fallanalyse Hans

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14 00:01:44-0 h° aber mal kucken (—) was fällt mir dazu ein> Hüsteln< (0,05) Er greift mit der einen Hand zu den Stiften, mit der anderen Hand hält er das Papier. Ohne sich nochmals direkt mit dem Material zu befassen, überlegt er, ob ihm etwas dazu einfällt. Er beschäftigt sich also nun mehr mit dem Arbeitsauftrag, den er erfüllen möchte, als mit dem kreativen Problem. Das darauf folgende Hüsteln könnte mehrere Bedeutungen haben. 15 00:01:50-6 °h ja (–) recht wenig im> < moment (—) Er atmet ein und sagt lachend, dass ihm in diesem Augenblick „recht wenig“ einfällt. Tatsächlich sagt er nichts, was ihm einfällt. Er zeigt keine Strategie, mit der ihm etwas einfallen könnte. Das gleichzeitige Hochziehen der Schultern deutet darauf, dass ihm unangenehm ist, dass ihm so wenig einfällt. So weicht er erneut in humorvolle Selbstdarstellung aus. Da er das Ganze humorvoll mit „recht wenig“ kommentieren kann, stellt er sich selber positiver dar, als es der Wirklichkeit entspricht. Das könnte für ihn entspannend sein und den Glauben an die eigene Kompetenz wieder stärken. Indem er mit selbstaufwertendem Humor reagiert, spielt er aber auch selber mit der entstehenden Unbestimmtheit und gewinnt so zumindest etwas an Kompetenz, obwohl er sich nicht mit der Unbestimmtheit des Textes beschäftigt. 16 00:01:55-7 und das bild dazu> nagt an der Unterlippe natürlich überlegen> und versuchen einiges hineinzuinterpretieren(0,05) Die einzige Lösung ist, dass er etwas hineininterpretieren müsste. Genau das überlegt er nun. Allerdings überlegt er es nicht auf sich bezogen, sondern bezieht dies generell auf irgendjemanden. Damit weist er die Verantwortung einer Allgemeinheit zu, er ist nicht mehr selber und alleine dafür verantwortlich, sondern eine anonyme Menge von Menschen wird angesprochen. Das ist für ihn besser auszuhalten. Sein Auflösungsgrad sinkt zunehmend, er denkt nach, bleibt aber ungenau.

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Teilstudie I: Darstellung der empirischen Ergebnisse 18 00:02:06-0 aber es macht ja INSgesamt keinen um das erbe seit jahren mehr politisch ((liest flüsternd, aber nicht verstehbar weiter)) (0,08) hmm (–) ja (–) ähm (–) was fällt mir < dazu EIN Er blickt abwechselnd auf Bild und Text - entweder er vergleicht sie, oder er sucht gezielt Zusammenhänge oder Unterschiede - und beschließt, den Text noch einmal durchzulesen. Er beginnt laut, nickt während er „zähen gemeinsamen Sachen“ liest und wiederholt den Arbeitsauftrag. Beim Lesen versucht er durch Nicken eine Struktur zu erzeugen. Dies hilft ihm aber ebenfalls nicht weiter. Auch mit dem Vergleich von Text und Bild fällt ihm nichts ein. Dass ihn das bewegt, ist an seiner angespannten Handbewegung und der Betonung des Wortes „ein“ erkennbar. 22 00:02:28-6 äm ich komm also insgesamt nicht WEIter °h> Nun schreibt er auf, dass er nicht weiter kommt. Er nickt und hebt die Augenbrauen, dann benetzt er seine Lippen. Anschließend atmet er ein. Hier agiert der Untersuchungsteilnehmer wieder vor der Kamera, indem er übertrieben nickt und damit deutlich macht, dass er sich bewusst so entschieden hat. Die Selbstdarstellung verschafft ihm wieder Kompetenz und damit auch Bestimmtheit. Er fühlt sich nun nicht mehr ausgeliefert, sondern kann sein Handeln selbstwirksam vor der Kamera steuern. 23 00:02:31-3 und da ich TECHNIKER bin> Diese Entwicklung setzt er fort, indem er bewusst in die Kamera blickt und das Setzen einer Grenze mit seiner Identität als Jemand, der mit technischen - also funktionalen und notwendigen - Geräten zu tun hat, begründet. So wird seine Kompetenz weiter gestärkt. Auch sein Bedürfnis nach Affiliation, nach Anerkennung durch andere Menschen, wird hier gestärkt. Er gehört einer Gruppe von Menschen an, die seiner Meinung sind. Damit fühlt er sich sicher.

Fallanalyse Hans

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24 00:02:38-3 ich komme mit diesem satz nicht weiter (0,04) für mich ist auch das BILD mit dem SATZ zuSAmmenhanglos> Diese Sicherheit mündet in einer weiteren Zusammenfassung, die sich in eine Beurteilung steigert. Da er das Ganze beurteilt, kann er es sachlich abhaken. Obwohl er dies subjektiv tut („für mich“), dient es dem Abschluss des Versuchs. Mit dem Stirnrunzeln und Abhaken ist ein Zurückrücken des Kopfes verbunden, das auch eine innere Distanzierung deutlich macht. 25-27 00:02:56-1 jetzt könnte man NATÜRlich noch probieren hier: über (.) MINUTten> etwas hineinzuinterpretieren (–) aber dessss> macht für mich jetzt keinen SINN drum (.) ist> der Punkt erreicht wo ich nicht weitermachen werde und auch nicht interpretieren> also ich geh jetz mal raus Hans ärgert sich über die Zeitverschwendung, die er als sinnlos empfindet. Er möchte nicht noch mehrere Minuten damit verbringen, etwas in Text und Bild zu interpretieren, die er als zusammenhanglos empfindet. Mit der sachlichen Bemerkung aus distanzierter Perspektive, dass man dies „natürlich“ könne, zeigt er seine Kompetenz, grenzt sich aber gleichzeitig ab gegen Menschen, die dies vielleicht tun, und macht damit deutlich, dass er sich aus Zeit- und Vernunftgründen dagegen entscheidet. Im Gegenteil ist eine Beschäftigung ohne den Sinn erkannt zu haben, für ihn sinnlos und deshalb für ihn aus funktionaler Sicht nicht zu rechtfertigen. Diese Abwehr geschieht also aus einer überlegenen, kompetenten Warte. Insofern kann Hans jetzt auch von sich ausgehend argumentieren, denn seine Sicht ist die einer Gruppe kompetenter, funktional denkender Menschen. Vor diesem Hintergrund ist er der Beurteilende, der sich mit betonenden Handbewegungen und in seiner Mimik mit Stirnrunzeln und Kopfschütteln selbstbewusst abgrenzt. Kopfschüttelnd schaut er dabei also auf die Platte und grenzt sich damit deutlich von der Option, weiter zu machen, ab. Deshalb kann er auch kopfschüttelnd, also abwehrend und mit offenem Blick konfrontierend in die Kamera schauen, als er seinen Entschluss deutlich macht, nicht mehr weiter an dem Problem zu bleiben. Er fällt in Dialekt1 oder auch Kindersprache. „dessss“ und „drum“ stellen eine Regression dar und machen seine Verlegenheit deutlich. Mit seinem Verhalten kann er sich abgrenzen und den Schaden im Sinne von Kompetenzverlust begrenzen. Trotz seines Ärgers wählt er keine aggressive Bewältigungsform.2 Insofern kann Hans die anfängliche Irritation hinter sich lassen und den Raum verlassen. 1 2

Es handelt sich um fränkischen Dialekt. Starker (1998) berichtet, dass in ihren Versuchen Versuchsobjekte zerstört wurden.

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Teilstudie I: Darstellung der empirischen Ergebnisse

Hans ko-konstruiert mit dem Forschenden hinter der Kamera, indem er dieses imaginierte Gegenüber für seine Argumentation zur Kompetenzregulation hinzuzieht und der Situation durch Übertreibungen humorvoll begegnet. Das Bewusstsein, Teil einer Gruppierung zu sein, die die Beschäftigung mit derartigen Dingen ebenfalls als Zeitverschwendung ansehen würde, ermöglicht ihm, die Aufgabenstellung kompetenzerhaltend ablehnen zu können. Zufrieden darüber, eine für ihn akzeptable Lösung gefunden zu haben, lächelt er also noch einmal in die Kamera und geht.

6.1.2 Zusammenfassung Versuch 1 - Hans Hans präsentiert sich als jemand, der Humor hat. Er stellt sich als Jemand dar, der das Leben von der komischen Seite sehen kann. So übertreibt er in Mimik und Gestik, hebt Blätter demonstrativ hoch und zeigt Inkongruenzen auf (1-2). Auf den Arbeitsplatz und das Material bezogen zeigt er dagegen ordnendes Verhalten. Er stößt die Arbeitsblätter auf, so dass der Stapel gerade liegt, blättert diese langsam durch, ordnet das Material auf dem Tisch geradlinig an. Auf die erste Irritation in Text und Bild reagiert er, indem er zum Bild wechselt. Er fasst die Bildinhalte in Überschriften zusammen (7). Mit gewonnener Kompetenz wendet er sich wieder dem Text zu. Obwohl er immer wieder lacht, wird er zunehmend angespannter, was sich u.a. im Heben seiner Schultern zeigt (9,11,15). Er bezeichnet den Text als schwierig (9), versucht es noch einmal, wertet den schwierigen Satz im zweiten Anlauf als interessant (11). Dadurch dass er das Material aus dieser distanzierteren, sachlich-orientierten Rolle heraus beurteilt, trennt er das Problem von seiner eigenen emotionalen Befindlichkeit. Indem er das Material beurteilt, also seine Umwelt einer subjektiv empfundenen Ordnung zuschreibt, handelt er selbstwirksam und gewinnt an Bestimmtheit. Er wendet sich dem Arbeitsauftrag (14), dann dem Bild zu (16). Er erkennt, dass er etwas hineininterpretieren müsste, entscheidet sich aber sofort dagegen (17-18). Er begründet dies damit, dass er keine Einsicht in die Bedeutung oder den Sinn des Versuchs hat. Indem er aufschreibt, dass er nicht weiter kommt, hat er ein selbstgesetztes Zwischenziel und eine schriftlich nachvollziehbare Leistung erreicht (22). Auch beim erneuten Versuch geht es ihm extrinsisch um die Erfüllung des Auftrags, nicht intrinsisch um die Sache an sich. Strategisch rhythmisiert er den Text, und greift zu den Stiften. Trotz sinkender Kompetenz und Bestimmtheit entscheidet er sich dagegen, etwas in das gegebene Material zu interpretieren. Bestimmtheit gewinnt er durch das Ordnen des Arbeitsplatzes, durch seinen humorvollen Umgang mit der Situation. Seine Kompetenz reguliert er durch die Beurteilung des Versuchs als unsinnig. Dabei distanziert Hans sich vom Arbeitsauftrag, indem er die kreative Aufgabe des Imaginierens, Hineininterpretierens als sinn-, funktions- und damit nutzlose Zeitverschwendung beurteilt. Indem er sich einer Gruppe von Menschen zurechnet, die er als ihm zugehörig antizipiert, löst er Legitimationssignale aus: Die Identität als Techniker berechtigt zu einer Position der Abwehr (23). Dazu gewinnt er mit einer scheinbar funktionalen Argumentation, die eine Art Kosten-Nutzen-Rechnung beinhaltet, an Kompetenz, so dass er den Versuch ohne Gesichtsverlust beenden kann (25-27).

Fallanalyse Hans

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6.1.3 Hypothesen Versuch 1 - Hans Hans fühlt sich durch die Unbestimmtheit in diesem Versuch in seiner Kompetenz bedroht: Er reguliert seine Bestimmtheit, indem er aus der Situation geht. Dieses Vorgehen begründet er durch mangelnden Sinn oder Zweck. Mit der Abwertung des Versuchs kann er kompetenzerhaltend gehen. Hans reguliert Unbestimmtheit, indem er sich als jemand darstellt, der Humor hat: Er sieht die komische Seite des Versuchs, und nutzt Übertreibungen, um dies sichtbar zu machen. Humor dient für Hans als Unbestimmtheits- und Kompetenzregulation. Als Untersuchungspartner gewinnt er dadurch das Recht, auch Unsinn zu machen und die Situation zu gestalten, d.h. er gewinnt an Selbstwirksamkeit. Allerdings nutzt er diesen Gestaltungsspielraum nicht zur kreativen Erfindung von etwas Neuem. In Bezug auf das Material versucht er vielmehr, seine Bestimmtheit durch Ordnungsprozesse positiv zu beeinflussen: Er ordnet das Material auf dem Tisch, stößt den Stapel Arbeitsblätter gerade oder blättert sie langsam durch. Hans Verhalten lässt sich anhand der Rasmussen-Leiter nachvollziehen (vgl. S. 28): Fähigkeitsgeleitetes Lesen führt nicht zu Verstehen. Dies irritiert ihn. Um Regeln auf die Situation übertragen zu können, versucht er die Situation zu diagnostizieren. Auf die Erkenntnis hin, dass das Material keinen Sinn ergibt, fehlt ihm nach wie vor ein Ziel. Er durchläuft die Rasmussen-Leiter bis zu diesem Punkt mehrmals und kommt schließlich zum logischen Schluss, dass er den Versuch beendet. Er weiß, dass man etwas, das keinen Zweck hat, aus Zeitgründen aufgeben sollte. Ihm scheinen Kenntnisse zu fehlen, anhand derer er aus elementaren Einheiten neue Verhaltensprogramme erstellen könnte (Dörner, 2008, S. 510). Als seine Kompetenz zunimmt, beurteilt er also den Versuch. Die Bedeutung, den Sinn hinter dem Versuch zu kennen, wären vor dem Hintergrund des Zeitaufwands so seine Argumentation - für ihn wichtig gewesen. Mit der Bewertung des Versuchs schützt Hans seine Kompetenz. In seiner Argumentation haben Effizienz, Sinnbezug, die Notwendigkeit, etwas zu tun und Funktionalität Priorität. Gegen Ende des Versuchs versichert er sich durch Gruppenzugehörigkeit. 6.1.4 Versuch 2 - Hans Das Material des zweiten Versuchs besteht aus einem Tablett, auf dem sich verschiedene Gegenstände befinden, die nicht zu einander passen. Die Problemstellung besteht darin, die Gegenstände so zu ordnen, dass man es schön findet. Wie im vorherigen Versuch sind die Teilnehmenden aufgefordert, laut zu denken. Die Transkription spiegelt den ganzen Versuch wider. Sie ist durch Zeilen nummeriert. Pausen sind ungenau behandelt. Abgebildet sind ein Foto des fertigen Tabletts und eine Skizze vom Aufbau des Tabletts. Gestrichelte Linien kennzeichnen ehemalige Positionen. Die Skizze hat den Vorteil, dass sie eine objektive Vergleichbarkeit der Tabletts ermöglicht. Das Forschungsinteresse liegt weniger im entstandenen Produkt, als in der Analyse und Interpretation des das Verhalten begleitenden Lauten Denkens. Auf die Transkription erfolgt eine Beschreibung von Denken und Handeln der Untersuchungsteilnehmenden, danach die Interpretation der Komposition.

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Teilstudie I: Darstellung der empirischen Ergebnisse

Abbildung 6.1: Tablett Hans

M

Ball2

14

3

M M

Tinte 1

Weihn13

6 -1

ubenz

0 r1 se 6 es1-1 M-1 l9

e

G

ab

-12

r 10

bel 9-M 1-e1ss 2e

Ball7 Katze8 e4 e7 KatzKatz Ball8 Ball5

ieher

Ball6

8

15

Stift

hn

Schra

W ei

Ga

Abbildung 6.2: Varianten Tablett Hans. Zahlen zeigen die Reihenfolge an, in der die Gegenstände gelegt wurden; Hilfslinien markieren Orte, an denen sie vorher lagen. 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15

eh >lacht< eine interessante aufgabe em das muss sinn machen (.) ok (.) also (-) mhm TINTE zum briefe schreiben (.) ja ein ball zum spielen in der FREIzeit °h hat nicht mit arbeit zu tun ich seh es jetzt mal in der richtung gerade eh schraubenzieher da kann man arbeit mit verbringen ehm (.) ja ist auch wieder der versuch hier SINN rein zu interpretieren ja hund und ball sind freizeit (.) stift kann man sagen arbeit zu interpretieren stift und ja messer und gabel (.) hat vielleicht mit (-) ähm den grundbedürfnissen zu tun (.) WEIhnachten (-) und ein bisschen URlaub. °h (.) ja (.) auch hier ist es wieder so (.) zeit ist ein kostbares gut (.) man kann hier VIEL rein interpretieren (.) oaber (-) iich denke °h (-) ehm ich finde es sehr schön wie ich die dinge angeordnet HABe (.) uund em (.) ffffür mich ist es eine arbeitsecke irgendwo hat dasss (.) kann man jetzt sagen ja (.) i-ich versuch das zu interpretieren in das leben hinein das hat mit arbeit zu tun erholungsphase die muscheln und der urlaub °h weihnachten die familie kommt zusammen und man nimmt sich hoffentlich zeit füreinander (-) hier die grundbedürfnisse nahrungspy-

Fallanalyse Hans 16 17 18 19 20

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ramide äh ne ( ) nahrungspyramide sondern die bedürfnissepyramide ja und hier hund und ball und freizeit (.) joa (.) das wäre für mich eine schöne ordnung und ich hätte versucht den dingen SINN zu geben (.) wie gesagt man auch hier jetz weiter ne stunde drüber reden und philosophieren aber zeit ist ein kostbares gut und es reicht jetzt

Der Untersuchungshelfer beginnt den Versuch lachend. Auch hier fragt er sofort nach dem Sinn des Ganzen und sieht Komik darin, dass er etwas tut, dass aus seiner Sicht keinen Sinn macht, oder auch dass es für Forschende Sinn machen soll, Zeit für Unsinn zu verwenden. Dennoch beginnt er relativ schnell, mit seiner Form der Ordnung Sinn in die Gegenstände zu legen. Dies geschieht, als er die Gegenstände in die Hand nimmt und sie z.T. mit beiden Händen auf dem Tablett positioniert. Obwohl er viele Gegenstände mit einem Griff an der endgültigen Stelle platziert, versetzt er manche Gegenstände wie Ball und Katze (Hund) mehrmals, bis es ihm gefällt. Die Gabel nimmt er in die andere Hand, nimmt dann erst das (Plastik-)Messer hoch und legt es hin, bevor er die Gabel darüber legen kann. Dann schiebt er sie zusammen zur Seite. Den an die Wand gelehnten Weihnachtsbaum, der umfällt, lässt er liegen und wendet sich den Muscheln3 zu. Diese ordnet er und schiebt dabei auch den darunter liegenden Sand zusammen. Während er eigentlich schon fertig ist und nur noch einmal zusammenfasst, weshalb er das so getan hat, ordnet er einzelne Gegenstände nochmals nach: Der umgefallene Weihnachtsmann wird mit der Beschreibung von Weihnachten als Familienfest sorgsam in die Ecke gelehnt; Messer und Gabel werden mit der Thematisierung der Bedürfnispyramide angehoben und wieder an ihren ursprünglichen Platz zurück gesetzt; und mit den Worten: „hund und ball und freizeit“ werden Katze und Ball angehoben und leicht versetzt wieder hingesetzt. Alle diese Gegenstände thematisieren familiäres Zusammensein und Idylle. Auf den ersten Blick fallen die in der Mitte des Tabletts liegende Gabel und der rechts daneben liegende Schraubenzieher ins Auge. Während die Gabel diagonal im Tablett liegt, öffnet der Schraubenzieher nach rechts einen Winkel, der auf den rechten Rand des Tabletts zuläuft. Beide liegen mit dem Holzgriff nach unten. Zwischen ihren Spitzen liegen die drei Muscheln im Sand. Sie sind übereinander geordnet und reihen sich damit genau zwischen die Spitzen von Gabel und Schraubenzieher ein. In der rechts des Schraubenziehers entstehenden Fläche liegt der Bleistift. Er verweist mit der Spitze auf die Ecke des darüber platzierten Tintenfasses. Etwas über der linken, unteren Ecke des Tabletts befindet sich der Ball, daneben steht der Hund, so, dass er mit dem Kopf an den Ball stößt. Die Spitze der Gabel verweist auf den in der oberen linken Ecke angelehnten Weihnachtsbaumschmuck. Direkt links unter der Gabel liegt das weiße, kaum sichtbare Plastikmesser, das aber eine schattige Kontur auf dem Tablett entstehen lässt. Diese unterstreicht nochmals den Verweis auf die in der oberen Ecke liegende Weihnachtsbaumfigur. Wie in der Grafik erkennbar, verwendete der Untersuchungsteilnehmer insbesondere für die Wahl des Balls und der Katze mehrere, nämlich fünf und drei Anläufe. Erst danach setzt er Gabel und Messer in die Mitte. Auch hier verlegt der die Gegenstände 3

M ist das Kürzel für Muschel

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Teilstudie I: Darstellung der empirischen Ergebnisse

ein weiteres Mal. Den Weihnachtsbaumschmuck positioniert er als Letztes und stellt ihn erst nach dem Legen der Muscheln in die Ecke.

6.1.5 Zusammenfassung Versuch 2 - Hans Hans steigt auch in diesen Versuch mit Humor ein: er lacht und bewertet den Arbeitsauftrag von vorne herein als sinnlos. Diese Feststellung müsste eigentlich dazu führen, dass er den Versuch beendet. Im Gegenteil steigt er aber nun in den Versuch ein. Dadurch, dass er den Versuch an sich in Frage stellt, steigt seine Kompetenz. Sein Anspruch an das Ergebnis des Versuchs dagegen sinkt. Denn wenn die Erwartung, dass das Ergebnis wertvoll ist, nicht so hoch ist, dann muss man es auch nicht unbedingt erreichen (Atkinson 1957) Mit dieser gesenkten Erwartung steigt er nun in die Untersuchung des Tabletts ein. Dazu benennt er die einzelnen Gegenstände, womit er sie in eine sprachliche Kategorie ein- und danach jeweils einem Zweck (nämlich Arbeit und später auch Freizeit) zuordnet. Es handelt sich hierbei weniger um Sinn, als um Zweck, weil Hans ihn im Zusammenhang mit einer Engführung auf zwei Möglichkeiten benutzt, aber nicht als weit gefassten, komplexen Sinn-Begriff. Anschließend reflektiert er, weshalb er dies tut. Auch diese Reflexion ist als Überlegung dazu zu werten, welchen Zweck das, was er macht, erfüllt. Sinn ist hier also so zu verstehen, dass Dinge einem Zweck zuzuordnen sind, und damit eine Sinnhaftigkeit bekommen. 4 So macht er danach auch weiter mit der Einordnung in eine sprachliche Kategorie, die mit der Zuordnung zu einem Zweck kombiniert ist. Diese Zuordnung wird nun allerdings ergänzt und mündet über die Kategorie Freizeit hinaus in eine Zuordnung zur Erfüllung von Bedürfnissen an Weihnachten und im Urlaub. Interessant ist, dass er von ein „bisschen“ Urlaub spricht. Urlaub wird definiert als „Bezahlte Freizeit, die der Wiederherstellung und Erhaltung der Arbeitskraft des Arbeitnehmers dienen soll. Während des Urlaubs darf der Arbeitnehmer deshalb keine dem Urlaubszweck widersprechende Erwerbstätigkeit leisten“ (Arentzen, 2014). Urlaub ist damit per Definitionem etwas, das nur dem Zweck dient, die Arbeitskraft wiederherzustellen und zu erhalten. Effizienz dagegen widerspricht dem Grundgedanken von Erholung. Dies könnte ein Verweis darauf sein, dass Urlaub für ihn etwas ist, das er sich nur begrenzt erlaubt. Dass er an dieser Stelle einatmet und erneut reflektierend auf die Notwendigkeit zu Effizienz verweist, stützt diese Annahme. Nun beginnt die Verifikationsphase. Hans ist zufrieden mit seinem Ergebnis, er findet es schön. Er beginnt zu erklären, was er getan hat und schreibt seinem Handeln in dieser reflexiven Phase eine Bedeutung zu: Er habe „in das Leben hinein“ interpretiert. Indem er den Gegenständen Kategorien aus dem Leben zuordnet, gibt er ihnen eine persönliche Bedeutung. Sie sprechen von dem, was ihm wichtig ist, was für ihn eine entscheidende Bedeutung hat. Damit hat er eine für ihn sinn-hafte Ordnung erstellt, die ihm Lust bereitet. Diese Lust erzeugt Zufriedenheit, die sich z.B. in der Beschreibung der damit zusammenhängenden Bedeutungen oder im darauffolgenden, langgedehnten, im Dialekt ausgesprochenen „joa“ zeigt. In der sich an diese Phase anschließenden im Konjunktiv formulierten Reflexion beginnt er, den Versuch abzuschließen. Er distanziert sich, äußert erneut Effizienz-Gedanken und beendet den Versuch. 4

Diese These bestätigt sich auch im NLD der Ko-Konstruktion, Teilstudie II.

Fallanalyse Hans

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6.1.6 Hypothesen Versuch 2 - Hans Während des Versuchs sagt Hans einerseits mehrmals, dass ihm die Zeit zu wertvoll ist, um sie sinnlos zu verschwenden. Er wendet aber andererseits an verschiedenen Stellen mehr Zeit auf, als unbedingt nötig wäre. So entsteht der Eindruck, dass er entgegen dieser Aussage an einer schönen Form und an Inhalten interessiert ist, wenn sie für ihn Sinn machen oder eine besondere Bedeutung transportieren. In dem Moment, wo er die Gegenstände vom Tablett zur Hand nimmt und eine Entscheidung treffen muss, wie er sie anordnet, generiert er diese Sinnhaftigkeit: So stellt er, laut denkend während er die Gegenstände legt, gegensätzliche Kategorien wie Arbeit und Erholung - Freizeit, Familie und Urlaub auf. Interessant ist, dass er auch den Sand sowohl inhaltlich als auch formal einbezieht. Um Schönheit zu erreichen, versucht er, eine ausgewogene Lage der Gegenstände zu finden und probiert mehrere Positionen aus. Auch dies tut er, obwohl es Zeit kostet. Mit Bedeutung und Sinnhaftigkeit verbundene individuelle Ästhetik ist ihm also die Zeit wert. Dabei spricht er über die Ausgewogenheit von Beruf und Freizeit. Die Erstellung einer ausgewogenen Ordnung, die für ihn persönlich Sinn macht, hat damit einen höheren Stellenwert, als er es formuliert. Ein entscheidender Punkt ist, welche Bedeutung Hans den Gegenständen zuordnet. Über das Generieren von Bedeutung entsteht eine Struktur. Diese wird in Gedanken sowohl sprachlich, als auch in der Ordnung der Gegenstände auf dem Tablett (ab)gebildet. In Kombination mit der Handlung fällt es dem Untersuchungsteilnehmer Hans leichter, diese Struktur zu erstellen, als im ersten Versuch, den er nur kognitiv verarbeitet. Im Fall des Tabletts geht es bei der Handlung vorrangig um das Erstellen visueller Strukturen. Dabei werden Räume und Abstände geschätzt. Schätzen bedeutet ein Abmessen und Vergleichen von Längen oder (geometrischen) Figuren. Diese werden subjektiv als richtig oder falsch empfunden. Um Schönheit wahrzunehmen, wird auf Gefühle zurückgegriffen. Er spürt also durch sein komplexes, Kognitionen, visuelle Erinnerungsspeicher, Bedeutungen und Bewertungen enthaltendes, kognitives Netz, ob etwas schön ist, oder nicht. 6.1.7 Versuch 3 - Hans Hans benötigt zwei Minuten für diesen Versuch. Das Material in Versuch 3 besteht aus einem DinA-5-Papier, auf das ein Rahmen und zwei Linien (ein Winkel und eine Schlangenlinie) gezeichnet sind. Die Aufforderung besteht darin, das Bild kreativ weiter zu zeichnen. Auch hier liegt das Erkenntnisinteresse weniger im Produkt, als in den prozessualen Dynamiken des Verhaltens, das sich durch das Laute Denken zeigt. Auf die Transkription erfolgt eine Beschreibung vom Denken und Handeln der Untersuchungsteilnehmenden, nach einem kurzen Absatz die Bildbeschreibung und Interpretation. 1 2 3 4

zeichnen (.) zeichnen sie das bild kreativ weiter (.) interessante aufführung wieder (.) mhm (.) ähm (.) auch hier könnte man wieder aufstehn und sagen hem (.) was soll das ganze (.) ja (.) aber (.) fff ich hab einen auftrag bekommen werd ihn mal kurz durchziehen (.) < malt haus < ein kurzes bild malen ja

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Teilstudie I: Darstellung der empirischen Ergebnisse

Abbildung 6.3: Zeichnung Hans 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21

eh (.) weil sich schon die frage stellt wo ist der SINN des ganzen und ist es vielleicht das ziel einfach mal zu überprüfen wie lange menschen sich mit gewissen aufgaben aufhalten °h (.)> < zeichnet katze < em aber (.) macht jetzt auch mal spaß was zu zeichnen eine katze ja (.) man kann auch wieder hier stunden lang sich mit diesem bild beschäftigen (.) aaber (.) ehm > < Hand an Kinn, Blick ins Leere< man kann übrigens hingehen und ein bild betrachten und stunden lang über dem bild sitzen ne (.) und viel hinein interpretieren (.) wenns moderne kunst ist (.) mhm (.) was ist das moderne kunst eh das ist ja praktisch sinnlos (.) em (.) auch hier wieder sagen (.) genug des ganzen (.) ich hab hier

Fallanalyse Hannah

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Sie beschreibt eine rennende oder brennende Frau. Dabei spricht sie in einer abgehackten und monotonen Stimmlage. Indem sie auf dem Bild die oben beschriebene bedrohliche Situation entdeckt, löst sie weitere Unbestimmtheits-Signale aus. Die von ihr beschriebene Situation entspricht in ihrer negativen Valenz der vorherigen Konnotation mit den Gebäuden in A., und hat einen bedrohlichen und hohen affektiven Charakter. Emotionen mit negativer Valenz, wie Angst oder Trauer, bedeuten, dass der Auflösungsgrad sinkt. Ein niedriger Auflösungsgrad beinhaltet eine grobe Wahrnehmung. Deshalb interpretiert sie die Frau auf dem Bild als rennend oder brennend. Weil die Unbestimmtheit wächst, wird sie aktiv und exploriert weiter: Noch während sie spricht, kippt sie die Bildplatte zu sich heran und schaut von oben darauf. Die Selektionsschwelle sinkt also kurzfristig, sie wechselt den Fokus. 9 #00:00:57-5# alles etwas verwackelt und verwüschscht (-) Nun beschreibt sie die Unschärfe des Bildes: Das gesamte Bild sei etwas verwackelt und verwischt. Lautsprachlich vollzieht sie dabei ihre Interpretation des Verwischens des in einer schnellen Bewegung aufgenommenen Bildes - wobei sie auch das „üscht“ lautsprachlich und empathisch nachvollziehend ausspricht. Dass sie sich überhaupt auf die Unschärfe im Bild einlässt, ist deshalb bemerkenswert, weil die Konzentration auf die Unschärfe des Bildes ja weitere Unbestimmtheits-Signale auslöst. Sie verstärkt diesen Effekt aber noch, indem sie ihn lautsprachlich nachvollzieht. Sie scheint also geradezu Lust an der vorliegenden Unbestimmheit zu haben. Damit werden Gestaltungsräume eröffnet: Die Unklarheit des Bildes wird in diesem Fall von ihr als interpretationsoffen und insofern auch gestaltbar wahrgenommen und bietet ihr gerade auch im Hinblick auf die negativen Konnotationen ihrer Erinnerungen die Möglichkeit, diese auszudrücken. Sich selbst dabei zu spüren und zu sehen, dass das, was sie empfindet greifbarer wird, löst Selbstwirksamkeitssignale aus und stärkt ihr Kompetenzgefühl. Mit der Möglichkeit, sich selber auszudrücken, sozusagen produktiv zu werden, empfängt sie Effiziensignale, die Bestimmtheit wächst. 10-11 #00:01:01-3# < leicht nach rechts geneigter Kopf, liest text laut aber immer leiser werdend vor < tyrannei hat sich ein produkt immer ins blickfeld gerückt (0.3) die tyrannei drückt sich (.) rückt sich kein kein produkt ins blickfeld < (-) > beißt sich auf die Lippen, indem sie diese einrollt> Mit gestiegener Kompetenz kann sie sich dem Text wieder zuwenden: Sie liest ihn nochmals, wird dabei allerdings immer leiser. Das Lesen des Textes ist zunächst etwas, das ihr Sicherheit gibt und die Kompetenz aufbaut: es ist etwas, das sie beherrscht. Lautes Lesen hat dazu mehrere Effekte: Sie kann über ihre Stimme eine Struktur in den Text legen, den sie zugleich strukturiert, hört und über ihr Hören überprüfen kann. Wie verschiedene Studien belegen, kommt der ordnenden Struktur von Sprache eine erhebliche Rolle zur Lösung von Problemen zu. So gab Bartl (1997) zwei Gruppen von Untersuchungsteilnehmenden ein Problem. Eine der Gruppen wurde aufgefordert, während der Problemlösung ununterbrochen „blablabla“ zu sagen. Sie schnitt signifikant schlechter ab, als die Untersuchungsteilnehmenden der Kontrollgruppe. Dann aber ist sie mit Widersprüchlichkeiten konfrontiert, die sie irritieren: Die mit dem Satzteil „in das Blickfeld rücken“ zusammengehörige Bedeutung passt nicht mit

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Teilstudie I: Darstellung der empirischen Ergebnisse

dem zusammen, was sie unter “Tyrannei“ versteht. Der Satz beschreibt einerseits ein Verhaltensschema und behandelt damit Tyrannei wie eine Person. Da ein tyrannisches Regime durchaus Geschehnisse in Gang setzen kann, kann es durchaus logisch erscheinen, dass Tyrannei „drückt“. Dies entspricht der Vorstellung, die sie zu „Tyrannei“ abruft (s.o.). Hannah agiert sehr überzeugt von ihrer Meinung: Sie bemängelt die Widersprüchlichkeiten, die sich aus den verschiedenen Wort-Bedeutungen im Text ergeben. Ihre Bestimmtheit und Kompetenz sind hoch, weil sie nach wie vor im Modus des „ Sich-Ausdrückens“ ist und sich dort wohl fühlt: Sie befindet sich zu diesem Zeitpunkt in der Anfangsphase eines kreativen Prozesses. Ihre Selektionsschwelle ist steigend, aber noch auf einer Ebene, die moderat inhibiert und auf das Lesen und Darstellen, sowie den Abruf der dazu passenden Schemata gerichtet ist. Die Selektionsschwelle ist infolge von ständig wechselndem Lesen, Abrufen von Schemata und Hören auf die entstandene Struktur niedrig. Im Modus der kreativen Arbeit denkt sie inklusiv, deshalb ist es auch selbstverständlich für sie, einfach weiter zu sprechen, als sie den Widerspruch bemerkt - sie drückt mit ihrem Versprecher unmittelbar aus, was sie empfindet: Tyrannei „drückt“. Die Untersuchungsteilnehmerin reagiert emotional betroffen. Dies zeigt sich (neben der Analyse oben) sowohl in ihrem Versprecher als auch im Einrollen oder Beißen auf die Lippen. Der sinkende Auflösungsgrad hängt mit grober Wahrnehmung und Denken, bzw. Ausführen zusammen und steht für den Ärger, den sie hier ausdrückt. Die Unbestimmtheit, die anfangs wegen des Abgleichs von Gedächtnisschemata beim Lesen im Sinne eines „Ja, das entspricht einem Schema, das auch, nein, das nicht “ schwankend war, wächst anlässlich der Widersprüchlichkeit des Textes. Hannah zeigt keine besondere Angst oder Zurückhaltung gegenüber der Beschäftigung mit negativ konnotierten Emotionen. Im Gegenteil setzt sie dagegen ihr selbstbewusstes Darstellen der eigenen Wahrnehmung von Tyrannei. Über die Fähigkeit, die Wirklichkeit so darzustellen, wie sie sie wahrnimmt, kann sie sich selbstwirksam erleben. Ungewissheit wird von ihr als Aufforderung zur Gestaltung gedeutet. Sie enthält für sie die Chance, eine mit der eigenen Biografie verknüpfte und insofern verstehbare Ordnung hineinzubringen. Dieses subjektive Erleben und Verhalten eröffnet ihr die Möglichkeit, Bestimmtheits- und Selbstwirksamkeitssignale zu erzeugen, und ihr Bedürfnis nach einem ihren Wahrnehmungen entsprechenden Verständnis zu entwickeln und damit auch ihre Kompetenzbdürfnisse zu stillen. 12-14 #00:01:17-7# provinzen sprach das sweatshirt des politbüros leute zu (-) < Nase hochziehen > da fällt mir ja ne ganze menge sachen zu ein, aber die sind ziemlich eklig < liest leise vor > um das erbe politisch einhergehender arbeitseinheiten (-) h° (-) Sie liest den Text weiter laut vor. Die von ihr vorgelesene Stelle enthält Aussagen über ein Sweatshirt im Politbüro, mit dem sie in der Folge Schwierigkeiten hat. Hier entdeckt sie also Irritationen und Lücken, mit der zunächst körperlich beobachtbaren Konsequenz, dass sie ihre Ellbogen bis auf etwa zwanzig Zentimeter aneinander rückt,

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sich vorlehnt und auf die Ellbogen stützt, so dass die Schultern etwas hoch und der Kopf leicht vor gehen. Dabei liest sie die nächste Passage („zähe gemeinsame Sachen“) und erklärt nach einem Hochziehen der Nase, dass ihr da einiges Ekliges zu einfiele. Sie liest weiter, atmet dann aber deutlich hörbar ein und aus. Wie sich an ihrer körperlichen Reaktion zeigt, konzentriert sie sich auf die erste Irritation hin noch stärker als bisher auf den nächsten Textabschnitt. Wohl hauptsächlich in Kombination mit der Begriffskombination „zähe gemeinsame Sachen“ fallen ihr mehrere, unterschiedliche Ideen ein. Die Bedeutung der einzelnen Begriffe verändert sich durch die Kombination. Während „Sachen“ ein weitgehend neutraler Begriff ist, kann das Wort „gemeinsam“ sowohl eine positive, als auch eine negative Valenz haben. Der Begriff „zäh“ könnte dagegen als etwas, das sich nur unter Druck, also mit Anstrengung verändern lässt, bezeichnet werden. Dies könnte zu einer negativen Valenz führen. Erst durch die Verbindung bekommen die drei Begriffe eine emotionale Färbung, die bei der Untersuchungsteilnehmerin zu abstoßenden Vorstellungen führen. Ekel gehört nach Ekman zu den Grundemotionen. Ekel ist eine grundlegende Fähigkeit, mit der das Überleben gesichert wird; Ekel hat Abwehr, Abkehr zur Folge. Es folgt dem Prinzip mangelnder Passung: Das, was als eklig empfunden wird, passt nicht zu dem, was normalerweise benutzt wird (z.B. bei verdorbenem Essen), gehört auch nicht dorthin und muss aus Gründen des Überlebens abgewehrt werden. Gleichzeitig beinhaltet Ekliges auch eine gewisse Faszination. Eklige Flüssigkeiten z.B. haben vielleicht eine bestimmte Konsistenz, also Abweichungen vom Annehmbaren zum Normalen, Anzunehmenden. Insofern enthalten sie etwas geheimnisvoll-unangenehmes und regen zur vorsichtigen Exploration an. Filme mit ekligen Inhalten bieten bspw. die Möglichkeit, vom sicheren Abstand aus als Zuschauer zu explorieren. Auch Witze oder Berichte aus fremden Ländern (Essen) enthalten häufig etwas, das zugleich fasziniert und abstößt. Die auf den Ekel hin entstehende Betroffenheit führt also zu Distanzierung und Abwehr; sie berichtet nicht, woran sie genau gedacht hat, sondern beendet das Thema. Diese Abfolge von Gefühlslagen beinhaltet einen Wechsel im Auflösungsgrad, der abfällt. Verbindungen zwischen den widersprüchlichen Aspekten des Textes entstehen. Die anschließenden Abwehr geht mit einer steigenden Selektionsschwelle einher und läuft auf Flucht und Abgrenzung hinaus. Selbstwirksam wurde eine Grenze gesetzt. Damit ist die zunächst sinkende Bestimmtheit wieder hergestellt. Die Gedanken an das Eklige sind ausgegrenzt und die innere Welt ist vorerst wieder in Ordnung. Sie liest den nächsten Satzteil vor. Dieser erzeugt erneut Unbestimmtheit, sie atmet deutlich ein und aus. Kaum haben sich also ihre Bestimmtheits- und Kompetenzkessel gefüllt, leeren sich diese Tanks wieder. Das tiefe Ein- und Ausatmen kann bedeuten, dass sie die Beschäftigung mit dem Text anstrengt, frustriert oder Mühe kostet. 15 #00:01:48-5# (—) (.) mhm (.) also mir ist erstmal klar, dass der text so überhaupt (-) keinen sinn ergibt (-) Sie macht eine lange Pause, in der sie weiterhin vorgebeugt und mit gerunzelter Stirn auf die Platte schaut. Sie denkt offensichtlich nach, macht "mhm“, formuliert aber zunächst nicht laut, was sie denkt. Mit dem einleitenden Wort „also“ steigt sie in ein Resümee ihrer Überlegungen ein. Dieses Resümee entspringt einem Nachdenken

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Teilstudie I: Darstellung der empirischen Ergebnisse

auf der Meta-Ebene, sie distanziert sich also weiter, um den Text zu beurteilen (die Selektionsschwelle steigt). Dabei macht sie deutlich, dass ihr die Sinnlosigkeit des Textes klar ist. Sie zeigt, dass sie die Kompetenz hat, die mangelnde semantische Richtigkeit des Textes zu erkennen. Damit stellt sie sich als Expertin auf diesem Gebiet dar, es kommt zur Ausschüttung von Legitimations-Signalen. Dies beeinflusst ihre Kompetenz- und Bestimmtheitslage positiv. 16 #00:01:49-4# allerdings ne gewissee sprachliche SCHÖNheit enthält Infolge dieser erfüllten Bedürfnislage kann sie nun souverän argumentieren, dass der Text aus ihrer Sicht „Schönheit enthält“. Das Wort „gewisse“ zieht sie in der letzten Silbe in die Länge. Sie verzögert also den Übergang zu „sprachliche Schönheit“. Sie grenzt die Schönheit des Materials also auf etwas ein, das sie zwar nur schwer in Worte fassen und insofern nicht klar bestimmen kann, das sie aber doch deutlich empfindet. Damit nimmt sie Sprache hier als sinnliches und uneindeutiges, aber auch offenes, handhabbares Medium wahr. Sie bleibt sachlich, spricht nicht von sich und ihrer subjektiven Wahrnehmung, sondern weiter vom Text, der objektiv Schönheit enthalte. Dennoch formuliert sie hier ihre eigene Sichtweise, die sie deutlich zur kompetenzorientierten, kontrollierten Sicht abgrenzt. Dies führt zur Erhöhung der Selbstwirksamkeit und Bestimmtheit, weil die Beschreibung ihrer Wahrnehmung mit der Begründung derselben zusammenpasst. 17 #00:01:52-2# °h (–) eben weil der so so so in sich verwürfelt ist und wahrscheinlich wenn man ihn umstellen WÜRDE WÜRDE er einen (–) sinnvollen text er GEben Einatmend und mit einer kurzen Pause leitet sie zur Begründung ihrer Meinung über, die sie mit der Formulierung „eben weil der“ beginnt. Diese etwas umgangssprachlich formulierte Ausdrucksweise erinnert an Kindersprache und entspringt vermutlich ihrer Unsicherheit, worin denn nun der Grund dafür liegt. Sie wirkt im Vergleich zum vorherigen Sprachgebrauch regressiv und macht den eher subjektiv orientierten Charakter ihrer Begründung deutlich. Durch die Verwendung des unpersönlichen „man“ versucht sie, auf einer sachlichen Ebene zu bleiben. Mit dem Einatmen wird deutlich, dass es um etwas geht, das die Untersuchungsteilnehmerin aufwühlt. Ihre Bestimmtheit beginnt also von diesem Moment an zu sinken. Dazu kommt, dass sie nicht sofort in der Lage ist, in Worte zu fassen, was sie fühlt. Sie beginnt den Satz mit einer regressiv kindlich anmutenden Formulierung: „eben weil“. Dies zeigt erstens ihre sinkende Kompetenz; zweitens einen sozialen Druck, um dessentwillen sie meint, eine Begründung für ihr Gefühl liefern zu müssen. Sie entwickelt also ein steigendes Bedürfnis nach Affiliation. Indem sie sich in eine kindliche Position begibt, darf sie auch weniger perfekte, verkehrte Ideen äußern. Kinder dürfen unsicher sein und Fehler machen, sich spielerisch an Dinge heranwagen und Ideen ausprobieren. Sie müssen nicht funktionieren. Dass sie aufgewühlt ist, hat außerdem die Konsequenz, dass ihre Aktiviertheit zunächst abnimmt und ihr Auflösungsgrad sinkt. Ihre an Kindern orientierten Formulierungen sind einfach. Fluchtverhalten wäre eine mögliche Konsequenz für die abnehmende Bedürfniserfüllung. Entsprechend stammelt sie also „so so so“.

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Dies könnte daran liegen, dass sie bisher nur eine diffuse Vorstellung der oben genannten "gewisse[n] Schönheit“ hat, die sie aber nicht in Worte fassen kann. Vielleicht findet sie aber auch keine passenden Worte für ihre an und für sich klare Wahrnehmung. Die Begründung in der Unordnung: „weil der so so so in sich verwürfelt ist“ zeigt, dass sie noch keine klare Vorstellung hat, woran es liegt. Das Wort „verwürfelt“ passt ebenfalls nicht zum Kontext einer Sprachanalyse, sondern entspringt wiederum einem spielerischen Kontext. Wie die Würfel fallen, kann Zufall sein. In dieser Formulierung wie in der stockenden Wiederholung des Wortes „so“ findet sich eine am kindlichen, verspielten und nicht kontrollierbaren, insofern ungewissen, aber auch spannungsreichen Leben orientierte Ausdrucksweise. Diese Vorgehensweise gibt ihr innerhalb dieser Rolle die Kompetenz und Bestimmtheit, sich auf eine Art verhalten zu dürfen, die in der Welt der Erwachsenen nicht angemessen ist. Sie könnte sich dabei an einem Bild von Kindheit orientieren, das Kindern weniger funktionales Handeln, als triebhaftes oder lustvolles Spielen zuschreibt. Dies bestätigt sich in der nächsten Sequenz. Den Gedanken, dass der Text „verwürfelt ist“ denkt sie zunächst weiter, d.h. sie wird aktiver, die Selektionsschwelle steigt an: wenn man die Sätze umstellt, ergeben sie womöglich Sinn - und an dieser Stelle merkt sie aus ihrer kindlichen Rolle heraus: Nein, das will sie gar nicht. Mit der Formulierung im Konjunktiv eröffnet sie zwar einen Möglichkeitsraum, nämlich dass der Text bei einer Umstellung Sinn ergeben könnte. Hier zeigt sie aber, dass sie eigentlich gar kein Interesse daran hat, den aufgemachten Möglichkeitsraum der ästhetischen, offenen Wahrnehmung, die mit Uneindeutigkeit gekoppelt ist, aufzugeben und damit ihre Sicht wieder einzuengen auf einen linearen, denotativen Zusammenhang. Diese bewusste Entscheidung erzeugt Selbstwirksamkeitssignale. Trotzig hebt sie in der nächsten Sequenz ihr Kinn. 18 #00:02:01-1# Stirnrunzeln wendet den Blick nach rechts, vermutlich zur Interviewerin, das Kinn nach vorne, den Blick weiter auf die Bildplatte geheftet < SINNvoll (-) im sinne von (.) ööö einem (.) wirtschaftlich (.) en text zu machen (-) >q (-) Im Gegensatz zur Möglichkeit, durch Umstellung eine semantisch richtige Bedeutung zu kreieren, sagt sie nun, dass sie keine Lust habe, den Text „sinnvoll“ und in einem „wirtschaftlichen“ Sinn brauchbar zu machen. Dabei betont sie erstens „Sinn“ und zweitens „überhaupt“, indem sie dieses im „ü“ zusätzlich dehnt. Hier wird deutlich, dass ihr die empfundene Schönheit sehr wichtig ist; sie demonstriert geradezu eine Art Eigensinn, der durch ihre Gestik unterstützt wird, indem sie das Kinn nach vorne hebt, obwohl sie den Blick nach wie vor auf die Platte geheftet hat. Sie möchte sich also vermutlich auch gegen Widerstand nicht von ihrer ästhetischen Sichtweise abbringen lassen. Vielleicht sucht sie sich auch Bestätigung bei der im Hintergrund sitzenden Forschenden. Ihre gewonnene Kompetenz nutzt sie also, um sich den Freiraum zu erkämpfen, und das zu tun, wozu sie Lust hat. Dieser ist ihr offensichtlich wichtig, weil er ihr die Möglichkeit eröffnet, Schönheit zu empfinden. Diese bietet ihr gestalterischen Freiraum und damit Bestimmtheitssignale: hier ist sie sicher davor, „nur“ sinnvoll handeln, funktionieren zu müssen.

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Teilstudie I: Darstellung der empirischen Ergebnisse

Als sinnvoll wird etwas bezeichnet, das durchdacht und zweckmäßig, vernünftig ist und insofern einen Sinn ergibt. „Wirtschaftlich“ bedeutet „der Wirtschaft entsprechend“ , „finanziell“ , „geldlich“ oder aber „dem Prinzip der Wirtschaftlichkeit entsprechend“ , „gut wirtschaften könnend“, „sparsam mit etwas umgehen könnend“. Diese Zusammenhänge behandeln in allen Fällen ein Verhalten, bei der es nicht um eine Sache an sich geht, sondern darum, etwas „um des Geldes willen“ zu tun. Damit handelt es sich ebenfalls darum, etwas für etwas anderes brauchbar, benutzbar, verwertbar zu machen, also um Funktionalität. Die Untersuchungsteilnehmerin spricht von Unlust und zeigt Eigenwilligkeit und Eigensinn in dem Moment, wo sie der Vorstellung ausgesetzt ist, den Text in letzterem Sinne einem Prinzip zu unterwerfen, das Effizienz und Nutzbarkeit verlangt, ihn also zu etwas Sinnvollem, Verwertbaren zu machen. Dies zeigt sich in Mimik und Gestik (Vorstrecken des Kinns). Sie rechtfertigt sich also gegenüber der antizipierten Vorstellung, Funktionalität vor Ästhetik setzen zu müssen und widersetzt sich an dieser Stelle einem von ihr antizipierten gesellschaftlichen Druck. Ihre Affiliationskessel dürften sich durch diesen Druck entleeren. Dies nimmt sie jedoch in Kauf, wenn sich ihr dafür Ästhetik, Schönheit als Ziel bietet. In dieser Sequenz ist ihr Aktivierungsgrad sehr hoch. Ihr Ärger und das Gefühl der Bedrohung führen zu einem niedrigen Auflösungsgrad, während sie bei steigender Selektionsschwelle danach strebt, ästhetische Lust zu erleben. 19-20 #00:02:11-8# weil (–) ich find das eigentlich(–) dass sich ein pro dass < beißt sich auf die Lippen > < lehnt Kopf nach rechts< sich ein produkt ins blickfeld rückt (.) > Die Untersuchungsteilnehmerin setzt noch einmal mit einer Begründung für ihre Wahrnehmung an, dass der Text Schönheit enthält: „weil“. Aus der Wendung „ich find das eigentlich“ lässt sich ablesen, wie schwer es ihr fällt, zu erklären, weshalb sie so empfindet. Nach Worten ringend versucht sie also - nun wieder auf der Textebene den für sie erkennbaren vagen Zusammenhang zwischen Produkt und Tyrannei zu beschreiben. Dabei verspricht sie sich bei dem Wort Produkt, wiederholt den Satz als „Tyrannei, die sich ein Produkt ins Blickfeld rückt“ (20). Insgesamt ist hier in Sprache, Mimik und Gestik wie zuvor eine hohe Unbestimmtheit erkennbar. Es könnte sein, dass sie durch ihren Versprecher vorweg nimmt, was sie eigentlich schon fühlt und anschließend auch beschreibt. Sie schreibt dem Produkt eine aktive und keine passive Rolle zu. Das Produkt tyrannisiert. An dieser Stelle benetzt sie ihre Lippen mit der Zunge. Dies könnte als typisches Zeichen gewertet werden, dass die Sache ins Laufen kommt: sie weiß jetzt, was sie sagen will. Wie schon oben beißt sie sich auch hier auf die Lippen; dies könnte als Ärger gewertet werden und mit einem sinkenden Auflösungsgrad zusammenhängen. Sie erkennt nun mit wachsender Sicherheit (Bestimmtheit), was sie als schön empfindet und ihr wird deutlicher, wie sie das kommunizieren kann (so dass es auch andere nachvollziehen können). Damit steigt ihre Selektionsschwelle an, sie kann sich genauer auf das konzentrieren, was sie fühlt: 21 #00:02:18-4# Blickrichtung hoch nach rechts < das gefällt mir eigentlich schon SEHR GUT weil es ist häufig tyrannei > stark betonende, ruckartige Kinnbewegung nach vorne < was in der WERBUNG passiert (-) >

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Sie erklärt ihre Freude darüber, dass die Zusammenhänge für sie zunehmend deutlicher werden. Die Bestimmtheit ist hier also sehr hoch. Ihr gefalle sehr gut, dass ausgedrückt werde, dass Werbung oft tyrannisiere. Das, was sie im Text entdeckt, nämlich der Bezug zur Werbung, ist eine Konstruktionsleistung ihrerseits. Im Original lautet der Text: „Tyrannei hat sich ein Produkt immer ins Blickfeld gerückt. Den Provinzen sprach das Sweatshirt des Politbüros Leute zu. Rockmusik gibt zähen gemeinsamen Sachen um das Erbe seit Jahren mehr politisch einhergehende Arbeitseinheiten, um für hundert Millionen Menschen die Öffnung zu bestimmen.“ Die Analogie zur Werbung entspringt offensichtlich aus dem „Produkt, [das] ins Blickfeld rückt“. In der Werbung wird das Produkt so platziert und beworben, dass es gesehen, wahrgenommen wird, damit es überhaupt in das Bewusstsein von Menschen rückt. Werbung versucht also, bei einer großen Menge von Rezipienten eine bestimmte Wirkung in deren Wollen zu erzeugen. Dazu spielen aus Konnotationen erwachsende Bedeutungen und verschiedene visuelle Schemata, sowie deren emotionale Konnotationen eine Rolle: Die Grundstimmung wird eingeleitet durch ihre Assoziationen zum Bild. Dieser untergeordnet dient nun Tyrannei als leitendes Prinzip: was ist tyrannisierend an einem Produkt, das ins Blickfeld rückt? Diese Vorstellung baut sie auf einer Art inneren Projektionsfläche zusammen (Dörner, 1976). Vollmer beschreibt dies als Abgleich, in dem visuelle Schemata und deren emotionale Färbungen miteinander in Verbindung gebracht werden. Gefolgt wird dabei einer vagen Vorstellung. So entsteht zunächst als Hintergrundstruktur die Stimmung, die durch die Häuser hervorgerufen wird, dazu kommt in diesem Fall die Tyrannei und die Monotonie, die für Hannah mit Vereinheitlichung in der Kleidung zusammenhängt. Weiter fällt auf, dass sie während ihrer Aussage eine stark betonende Kinnbewegung nach vorne macht und lächelt. Die Deutlichkeit, mit der sie ihre Bewegung akzentuiert, zeigt, dass ihr das , was sie sagt, sehr wichtig ist. Mehrere Elemente fließen hier also zusammen: etwas, was sie schon lange beobachtet, was sie empfindet und das, was sie im Material liest. All dies fügt sich zusammen zu einem Guss. Sie erkennt für sich bedeutsame Zusammenhänge, indem sie verschiedene Beobachtungen zusammenfügt, die den gleichen Stimmungsgehalt und Symbolwert für sie haben. Dadurch findet sie ein Abbild, eine Ausdrucksmöglichkeit für etwas, das ihr persönlich wichtig ist. Dies hat Zufriedenheit zur Folge. Ihre Bedürfniskessel füllen sich. Ihre Selektionsschwelle steigt. Der Auflösungsgrad ist in der ganzen Überlegung genau auf dem Level, auf dem die Bilder sich zusammenfügen, also relativ niedrig. 22 #00:02:23-8# > kreisend zusammenfassende Handbewegung rechts, betonende seitlich nach links sich neigende Kopfbewegung nach vorne, Lächeln < also (–) DAS find ich spannend, ähm (–) dass das dort ähm (–) < leicht kreisende Kopfbewegung > menschen eben (.) < leichtes Nicken> aufgrund der der WERbung ähm tyrannisiert werden und und äh auch UNIformiert werden

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Sie greift diesen von ihr erdachten Faden (der Tyrannei durch Werbung) auf und betont, dass es genau das ist, was sie interessant findet. Während sie dies sagt, macht sie eine kreisende Kopf- und Handbewegung, so als fasse sie eine imaginierte Wirklichkeit zusammen. Dabei nickt sie, als wollte sie noch einmal betonen, dass das, was sie sagt, richtig ist, oder als wolle sie sich selbst in dem, was sie gerade feststellt, bestätigen. In ihrem Lächeln und der Betonung drückt sich Begeisterung aus. Insofern könnte man vermuten, dass sie in einen Flow kommt: in ihrer Vorstellung verbindet sie die Tyrannei, die Werbung, die monotonen Häuser zur Vereinheitlichung der Menschen - sie verbindet die verschiedenen Aspekte, die Konnotationen, sowohl emotionaler, als auch sprachlicher und bildhafter Art miteinander. Während sie ihre Gedanken entwickelt, formuliert sie sie; deshalb fügt sie dazwischen immer wieder Verzögerungslaute ein. Aus der anfänglichen Zufriedenheit mit der Erkenntnis wird nun Begeisterung. Es entsteht also mehr, sie findet das, was sie entdeckt hat, „spannend“, etwas das interessante Spannungen, Aufregungen, Dissonanzen enthält. Dass neue Aspekte einfließen, bedeutet also zunächst eine Zunahme an Unbestimmtheit, die jedoch sogleich wieder aufgehoben wird, weil sich die weiter betrachteten Aspekte aus dem Text tatsächlich Stück für Stück zusammenfügen lassen. Dieser Prozess wiederholt sich mehrmals. Gleichzeitig steigt ihr Aktivierungsgrad an und die Konzentration nimmt zu, während der Auflösungsgrad niedrig bleibt, sich aber an die jeweiligen Erfordernisse flexibel anpasst. Sie sucht nach passenden Aspekten, geht also nach dem Prinzip der Ähnlichkeit vor, bzw. reduziert die einzelnen Elemente auf das für die Grundstimmung dahinter liegende Wesentliche. Dann sucht sie nach stimmigen Elementen, z.B. solchen, die ein ähnliches Schicksal haben Goldstein, S. 108ff (2007, S. 108ff). 23 #00:02:41-3# < Blick nach oben, mit gerunzelter Stirn und ernstem Gesicht, nickend > das gefällt mir auch gut mit diesen HÄUsern da hinten diesen vielen vielen menschen die darin wohnen und wahrscheinlich genau das gleiche (.) DENken SEhen und und äh WIssen (.) sollen oder vielleicht auch NICHT wissen sollen (-) < Blick schweift über Platte: oben links, nach rechts, nach unten > Hannah fühlt sich nun in die Lage der Bewohner dieser Häuser ein. Sie stellt sich also vor, was Vereinheitlichung für die Menschen, die dort wohnen, bedeutet: „diesen vielen vielen menschen, die darin wohnen und wahrscheinlich genau das gleiche (...) denken, sehen und (...) WIssen (.) sollen“. Ihre Selektionsschwelle steigt. Nun geht sie nach dem gestaltpsychologischen Prinzip der Ähnlichkeit vor. Die Emotionen, die durch die monotone Stimmung bei ihr hervorgerufen werden, führen zu einem sinkenden Auflösungsgrad. Sie betont, dass es viele Menschen sind, indem sie dieses Wort wiederholt; auch hier greift sie sprachlich die Monotonie und die darin liegende Trostlosigkeit auf. Diese Menschen denken nicht etwa das Gleiche oder Ähnliches, nein, sie denken „genau“ dasselbe. Auch hier betont sie die Vereinheitlichung, sie reduziert sogar so weit, dass sie plakativ darstellt, dass diese Menschen ohne Abweichung das Gleiche denken sollen. Mit dem Wort „sollen“ bringt sie eine durch die Begriffe der Manipulation oder Tyrannei transportierte Bedeutung ein. Der sinkende Auflösungsgrad könnte damit zusammenhängen, dass sie sich darüber ärgert. Vermutlich beginnt nun ihre Selektionsschwelle zu sinken, denn kaum hat sie

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formuliert, dass die Menschen alle das Gleiche denken sollen, das fällt ihr auch schon die dazugehörige Lücke im Gedankengang ein - sie sollen eben nicht wissen, was tatsächlich passiert. Auch ihr schweifender Blick verdeutlicht, dass ihre Selektionsschwelle sinkt, sie sucht auf der Platte nach weiteren Merkmalen, die diese Aussage bestätigen oder ihr widersprechen. Diese Passage zeigt sehr anschaulich, wie sich die Gestaltung von Einheit in der Mannigfaltigkeit vollziehen kann. In einem Prozess des Abgleichs der jeweils eröffneten Schemata macht sich Hannah immer wieder auf die Suche nach neuen bestätigenden Elementen. Sie folgt einem Gefühl, das sie zunehmend deutlicher konturieren kann, weil sie es abwechselnd mit verschiedenen Elementen auf verschiedenen Ebenen verbindet. Diese sind zunächst vage, werden ihr aber immer deutlicher. Die Bestimmtheit scheint sich also mit Unbestimmtheit abzuwechseln: mit jeder Suche setzt sie sich Ungewissheit aus, mit jedem passenden Element kann sie ihre vage Vermutung deutlicher konturieren. Insgesamt nimmt die Bestimmtheit also zu. Leitend scheint ein zunächst nur über Emotionen erfassbares Prinzip der Stimmigkeit zu sein. Die verschiedenen Elemente werden in Bezug auf einen oder mehrere Bereiche in aufeinanderfolgenden Schritten aneinander angeglichen und so in eine Richtung konsequent erweitert. So steigern sich Uniformierung und Passivität zur Vorstellung von Druck zu einheitlichem Denken, Wahrnehmen und Wissen. Weiter zu untersuchen wäre, ob sie nicht neben der Einheitlichkeit auch emotional gleich oder ähnlich „gefärbte“ Gedächtnisspeicher als Leitstruktur für die Hintergrundstruktur heranzieht. 24-25 #00:02:56-6# < tyrannei hat sich ein produkt immer ins blickfeld gerückt (.) mhm tyrannei der massen (.) So wendet sie sich dem Lesen des Textes zu. Im anschließenden Gedankengang fasst sie zusammen, was sie versteht und verändert dabei die Bedeutung zur Tyrannei einer großen unüberschaubaren Menge von Menschen, die sie als Massen bezeichnet. Ihre Stimmlage ist monoton und ruhig. Sie fügt „Tyrannei“ mit dem, was vorher zu Häusern und Werbung Thema war, zusammen: es handelt sich um eine Tyrannei von Massen. Gleichzeitig greift sie damit nochmals die Vorstellung von „hundert Millionen Menschen“ aus dem letzten Satz auf. Damit hat sie Kohärenz geschaffen. Ihre Bestimmtheit nimmt zu. Nach dieser Erkenntnis sinkt die Aktiviertheit zunächst. Mit zunehmender Kompetenz und Bestimmtheit kann sie wieder explorieren. 26 #00:03:18-7# provinzen sprach das sweatshirt des politbüros leute zu > zieht die Augenbrauen zusammen, lächelt, schüttelt den Kopf < is natürlich völliger unsinn aber (.) sweatshirt des politbüros > lacht > Sie wendet sich also dem nächsten Satzteil zu, wobei sie beim Lesen den Artikel vor „Provinzen“ wegfallen lässt. Dies hat zur Folge, dass sie grammatikalisch und semantisch eine Leerstelle erzeugt und damit eine größere Offenheit für ihre eigene Gestaltung ermöglicht. Nach einem Zusammenziehen der Augenbrauen, Lächeln und Kopfschütteln kommentiert sie, dass der Text absolut keinen Sinn ergibt. Die Sinnlosigkeit bringt sie keineswegs aus der Fassung. Mit hoher Kompetenz wiederholt sie die aus ihrer Sicht

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unsinnigen, weil zueinander ambivalenten Worte „sweatshirt des politbüros“, dabei lacht sie. Ihr Lachen kann als Reaktion auf Widersprüchlichkeit und Irritation verstanden werden. Sie freut sich an der Unbestimmtheit und dem Witz, die diese Bilder auslösen, weil sie nicht in den gleichen sozialen Raum passen. So entstehen Leerstellen, die Raum geben, um den Ernst der politischen Szene zu entkleiden. Der Witz löst zunächst einen Wechsel in der Bestimmtheit, dann aber - wie erkennbar an der etwas oberflächig formulierten Aussage, dass es „völliger unsinn“ sei - im Auflösungsgrad aus. Der Auflösungsgrad kann nicht weiter steigen, weil die Bilder mit ihren Konnotationen nicht zusammen passen. Es „hakt“ bei dem Versuch, diese zusammenzufügen. Der nun sinkende Auflösungsgrad beschert ihr eine Idee. 27 (..) mit der rechten Hand reibt er sich das Auge < s´is irgendwie < kippt das Handgelenk nach oben> ( ) > (4.8) In der anschließenden längeren Sprechpause nimmt er den Stift zunächst in beide Hände und dreht daran herum. Er zuckt mit den Schultern und schreibt auf, was er zuvor gesagt hatte. Obwohl ihm bewusst ist, dass ihm nichts Passendes einfällt, schreibt er also etwas auf. Er schreibt „Nichts.“ Damit erfüllt er vordergründig den Auftrag, dass er etwas aufschreiben soll. Dann lehnt er sich zurück. Diese Gestik ist typisch für jemanden, der seine Arbeit erledigt hat. Nach einer kurzen inaktiven Phase, in der er die Hand in den Schoß legt, durchsucht er dennoch den Blätterstapel, ob sich dort etwas findet. Damit zeigt er, dass er dennoch nicht ganz zufrieden mit dem Ergebnis ist. Durch die Exploration versucht er, mehr Bestimmtheit zu erhalten. Als er jedoch nichts findet, legt er das schon beschriebene Blatt oben auf den leeren Stapel und schreibt weiter. Vermutlich streicht er das, was er zuvor geschrieben hatte („Nichts.“) wieder durch (das ist auf dem Video nicht genau erkennbar, aber am Blatt sichtbar) und schreibt in der nächsten Zeile etwas zur formalen Ebene des Bildes, nämlich „grau, weiß, schwarz“ . Er beschreibt nun also die Farben des Bildes. Nun hebt er die Hand vom Arbeitsblatt, rutscht auf dem Stuhl auf die rechte Gesäßhälfte und schiebt die linke Hand unter sein Bein. Den rechten Ellbogen lehnt er auf der Tischkante auf, so dass die Hand mit Stift rechts von seinem Kopf liegt. In dieser Haltung, die typisch für jemanden ist, der nachdenkt, stellt er fest, dass er überhaupt nicht weiß, was er schreiben soll. Nach wie vor ist er auf die Erfüllung eines Auftrags konzentriert. Die Frage, was er selber möchte, oder die Möglichkeit, dass das Material etwas mit ihm macht, ergibt sich nicht. Vielmehr rückt die Ansicht, dass er etwas tun soll, also die Erfüllung einer Pflicht, in den Fokus. In fragender Haltung schüttelt er den Kopf

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Teilstudie I: Darstellung der empirischen Ergebnisse

und murmelt leise und zum Teil unverständlich, dass das „irgendwie komisch“ sei. Das Kippen seines Handgelenks unterstützt die fragende Haltung. Die zunehmende Unbestimmtheit äußert sich in Fragen. Er sucht nach Bestimmtheit, indem er sich, oder den nicht anwesenden Forscher hinter der Kamera fragt. Da er keine Antwort bekommt, ist dies erfolglos. Nun wischt er etwas unten an der Platte weg. Dieses ordnende Prinzip verleiht ihm das Gefühl selbstwirksam handeln zu können; er spürt sich, seine Kompetenz nimmt zu. 8-9 #00:01:55-8# legt die rechte Hand mit dem Stift mitten auf das Arbeitsblatt, schaut auf die Platte, lehnt sich leicht zurück und wieder vor (0.8) setzt an, zu schreiben, zuckt mit der Schulter, schreibt. Dann hat er einen Hustenanfall und hustet in die rechte Hand, während er sich auf den linken Arm stützt, hustet noch drei Mal in die linke Hand, legt die rechte Hand wieder mittig auf das Blatt, linker Unterarm liegt locker auf der Tischkante. blickt in die Kamera und sagt (0.4) blickt wieder auf die Platte < steckt den Deckel auf den Stift < ich glaub? mir fällt jetzt nix mehr ein > legt ihn rechts vom Arbeitsblatt auf den Tisch. Faltet die Hände, reibt sie, streckt sie kurz auseinander und steht auf. Die Hände legt er auf Platte und Tisch, drückt sich am Stuhl vorbei zur Seite und geht. Der Untersuchungsteilnehmer legt zunächst die Hand mit dem Stift mitten auf dem Papier ab. Aus der Körperbewegung nach hinten und dem Ablegen von Stift und Hand lässt sich eine Rücknahme der Aktivierung schließen. Nach wie vor ist er sehr unsicher, was zu tun ist. Seine Bestimmtheit ist sehr niedrig. Entsprechend artikuliert er sich so, wie man es tut, wenn man nachdenkt, aber nicht weiß, was zu tun ist. Er beginnt zu schreiben, unterbricht sich und setzt das Schreiben fort. So schreibt er das Wort „Text“, setzt seine Überlegungen aber nach dem Komma nicht fort. Kompetenz und Bestimmtheit sind niedrig, so dass er nur wenig tut. Nach einem Hustenanfall blickt er in die Kamera und vermutet, dass er keine Idee mehr bekommen wird. Diese Vermutung wiederholt er zweimal und intoniert sie so, als wolle er fragen, ob es in Ordnung ist, wenn ihm nichts einfällt. Er ist sich also entweder unsicher, ob ihm noch etwas einfällt, oder - und dies ist konsistent mit der bisherigen Interpretation - ob er seinen Auftrag erfüllt hat. Die Überlegung geht mit einer sinkenden Aktivierung einher, die sich im Falten seiner Hände zeigt; im Zuge des Entschlusses, den Versuch zu beenden, reibt er die Hände aneinander und streckt sie. Dann steht er auf. Das Reiben der Handflächen aneinander und anschließende Strecken ist eine Gestik, die üblicherweise zum erfolgreichen Beenden einer Arbeit benutzt wird. Damit schließt er den Versuch ab, spürt sich und verschafft sich Selbstwirksamkeit. Dazu kann er damit die Einstellung, die geforderte Leistung erfüllt zu haben, unterstützen und vor sich selbst rechtfertigen. Er geht. 6.4.2 Zusammenfassung Versuch 1 - Herbert Zunächst reagiert Herbert noch im Stehen, also sehr schnell, auf das Material. Seine spontane Reaktion stellt eine schnelle Einordnung in eine Struktur dar, die er - z.B. durch die Schule - gelernt hat und kennt (1). Damit kann er von Anfang an die Unbestimmtheit der Situation reduzieren und sich Selbstwirksamkeit verschaffen. Die Strategie der

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schnellen Einordnung in eine Kategorie wiederholt er nochmals in Bezug auf den Text (5,7), sowie auf den Arbeitsauftrag (6). Weiterhin versucht er sich dadurch zu orientieren, dass er sich durch Fragen versichert, ob das, was er tut, in Ordnung ist. 6.4.3 Hypothesen Versuch 1 - Herbert Durch Unbestimmtheit fühlt er sich in seiner Kompetenz bedroht: Weil es ihm primär darum geht, dem Gefühl der Inkompetenz zu begegnen, reicht es ihm, wenn die Aufgabe nur scheinbar erfüllt wurde. Die Aufmerksamkeit wird damit komplett von der inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Material abgelenkt. Durch Beurteilung erlangt Herbert Kompetenz und Bestimmtheit, setzt sich aber nicht mit dem Material auseinander (5.7). Er versucht, seine Inkompetenz in der Situation zu verbergen: Er reagiert durch schnelle Einordnung in ein bekanntes oder erlerntes System. Damit verhält er sich so, wie es in der Schule bei einer Abfrage üblich ist. Der Gedanke am Ende des Versuchs, dass ihm „jetzt“ nichts mehr einfällt, ist etwas beschönigend und insofern als Strategie zur Aufrechterhaltung der Kompetenz zu bewerten (6). Statt dessen möchte er es der Versuchsleitung recht machen. So fragt Herbert die (nicht anwesende) Versuchsleitung, ob er seinen Auftrag zur Zufriedenheit erfüllt hat (8, 6). Ohne sich mit der Unbestimmtheit, die durch das Materials erzeugt wird, auseinanderzusetzen, kann Herbert die Aufgabe nicht lösen und gibt auf (8). Statt dessen will er seine Kompetenz zeigen. Deshalb reibt er seine Hände, so als ob er etwas abschließen würde. Weil es Herbert weniger darum geht, eine Lösung zu finden, sondern seine Kompetenz darzustellen, gibt es keine innere Notwendigkeit für ihn, die Richtigkeit des Ergebnisses zu verifizieren (9). Er verhält sich an die soziale Situation angepasst: Er orientiert sich als Reaktion auf die ästhetische Situation stärker daran, sich „richtig“ zu verhalten, als am Material und den Wahrnehmungen, die dieses auslöst. Herbert kann mit der ungewissen ästhetischen Situation nichts anfangen. Er kommt von sich aus nicht auf die Idee, sich auf das Material einzulassen. Das Material führt zwar zu Irritationen, Herbert ist dadurch aber nicht intrinsisch motiviert oder in einem zur Exploration führenden Grad aufgefordert, etwas mit dem Material zu tun. 6.4.4 Versuch 2 - Herbert Wie oben schon erwähnt, äußert der Proband seine Gedanken zu wenig. Die Auswertung ist deshalb in diesem Versuch nur begrenzt möglich. 1 2 3 4 5 6 7

ich soll jetzt hie:r (.) ordnen (.) die dinge auf diesem tablett jetzt soll ma die grö (.) erst mal alle raus hier (.)> okay (0.2) fang mer mal an (.) die: katze öh (.) mhm (.) mhm (.) okay: was isn DE:S (.) okay na das ist auf jeden fall ma größer > (1.7) okay < blickt auf das Blatt>

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Teilstudie I: Darstellung der empirischen Ergebnisse

Nachdem Herbert sämtliche Gegenstände vom Tablett genommen und sich dabei gefragt hat, was der Weihnachtsschmuck sein könnte, sortiert er Schraubenzieher, Gabel und Messer von links nach rechts der Größe nach nebeneinander liegend darauf. Dann stellt er Messer und Stift auf das Tablett, misst per Augenmaß, was davon größer ist und sortiert es vom linken Rand des Tabletts ausgehend der Größe nach an. Er hustet, versucht dabei den Weihnachtsschmuck außerhalb des Tabletts aufzustellen und fragt sich, was das sein könne. Ähnlich wie bei Messer und Stift stellt er den Weihnachtsschmuck neben das Tintenfass und vergleicht beide miteinander. Danach legt er den Weihnachtsschmuck auf das Tablett, daneben die Katze. Von nun an nimmt er jeweils einen Gegenstand in die eine, dann den anderen in die andere Hand. So legt er das Tintenfass auf die eine Seite des Tabletts und dann, neben das Tintenfass mit der anderen Hand den Ball. Nun positioniert er mit beiden Händen gleichzeitig zwei Muscheln10 und zwei Schwämmchen in die Mitte des Tabletts. Zuletzt fügt er eine mittig liegende dritte Muschel hinzu. Nachdem Weihnachtsschmuck und Katze auf das Tablett gelegt sind, ordnet er die Gegenstände also beidhändig an. Für das Legen der Muscheln verwendet er beide Hände parallel.

Abbildung 6.11: Tablett Herbert

6.4.5 Zusammenfassung Versuch 2 - Herbert Herbert geht systematisch vor. Zunächst leert er das Tablett. Dabei nimmt er jeden Gegenstand in die Hand, womit er sich einen Überblick über die Gegenstände verschafft. Danach ordnet er sie der Größe nach auf dem Tablett an. An sich nimmt er jeden Gegenstand nur ein weiteres Mal in die Hand. Lediglich das Messer hebt er zum Größenvergleich noch einmal hoch. Er durchbricht die Reihung jedoch. Zunächst führt seine Strategie dazu, dass die linke Kante des Tabletts mit langen, geraden Gegenständen belegt wird. So sortiert er Schraubenzieher, Gabel und Messer von links nach rechts der Größe nach nebeneinander liegend darauf. Auch rechts ordnet der Untersuchungsteilnehmer - von außen nach innen vorgehend - wie er es selber sieht, bleibt unklar, weil er seine Gedanken dazu nicht äußert - das mit schrägen 10

M ist das Kürzel für Muschel

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M9 M8 S12 Ball 8

Tinte 7

Katze 6

Weihn 5

Stift 4

Messer 3

Schraubenzieher 1

Gabel 2

S11

M10

Abbildung 6.12: Varianten Tablett Herbert Geraden versehene Tintenfass an den Rand. Die organischeren Formen, wie der Ball, die Katze, der Weihnachtsschmuck, werden auf die Innenseite des Tabletts sortiert. Die im goldenen Schnitt befindliche Lücke findet ein Gegengewicht in Muscheln und Schwämmchen, die von Herbert oberhalb der Lücke, wiederum etwa im goldenen Schnitt angeordnet werden. Diese werden so anordnet, dass die größere Muschel in der Mitte liegt. Oberhalb liegen symmetrisch nebeneinander die beiden kleineren Muscheln, darunter zwei Schwämmchen, die etwas weiter auseinander gerückt werden als die Muscheln. So entstehen Geraden, deren Linie auf der einen Seite genau zwischen Ball und Tintenfass liegt; auf der anderen Seite verweist die Linie zwischen Katze und Weihnachtsbaumschmuck. Der Untersuchungsteilnehmer spricht nicht darüber, dass es um Schönheit geht. Im Gegenteil formuliert er zum Arbeitsauftrag ein Wort, das ausformuliert „größe“ heißen könnte. Auch an anderer Stelle erwähnt er, dass etwas größer ist (Z. 5). Beobachten lässt sich, dass Herbert von links nach rechts nach Göße ordnet. Diese Ordnung wird von ihm durch eine Lücke unterbrochen. In dem Moment, wo er die Lücke unterbricht, benutzt er die zweite Hand. Indem er eine Lücke schafft, der er weiter oben ein Gegengewicht verleiht, ordnet er die Gegenstände nach ästhetischen Gesichtspunkten an. An der gleichzeitigen Behandlung des Materials mit beiden Händen wird ein Austarieren der richtigen Position anhand von körperlich spürbaren Maßen erkennbar. Nachdem er mit einem „okay“ fertig ist, blickt er noch einmal auf das Blatt mit dem Auftrag. Danach steht er auf und geht. Schon im Gehen sagt er „fertig“. Wie im ersten Versuch zeigt er damit eine Orientierung an der Erfüllung einer (Pflicht)aufgabe. 6.4.6 Hypothesen Versuch 2 - Herbert Unbestimmtheit wird von Herbert durch Orientierung an Regeln oder an anderen Menschen reduziert. Auf die Unbestimmtheit im Tablett reagiert Herbert zunächst mit einer Orientierung am Arbeitsauftrag. Damit versucht er herauszufinden, was die Versuchsleitung von ihm möchte. Systematische Ordnung vermittelt Bestimmtheit, wird aber von ästhetischer Ordnung durchbrochen. Er räumt das Tablett systematisch leer und sortiert die Gegen-

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Teilstudie I: Darstellung der empirischen Ergebnisse

stände der Größe nach. Diese Struktur durchbricht er dann jedoch nach ästhetischen Gesichtspunkten. Räumliche Ausgewogenheit wird über körperliches Ausprobieren und darin enthaltene Wahrnehmungsprozesse erreicht. Für die Entscheidung der räumlichen Aufteilung benutzt er beide Hände. Das Benutzen beider Hände führt zum Abruf von sensomotorischen Schemata, die mit körperlicher Raumwahrnehmung zu tun haben. So können visuelle Schemata in Form von Linien oder geometrischen Formen entstehen und sich zur Abmessung von Abständen ergänzen. Über die Bewegung der Hände werden diese Richtungen und Abstände messbar. Der letzte Blick aus der Distanz ermöglicht ihm die Wahrnehmung von Einheit in der Mannigfaltigkeit. Mit dem letzten Blick kann er die gesamte Wirkung erfassen. Dann erst beendet er den Versuch. Welche Kognitionen eine Rolle für den Prozess spielen, bleibt offen, da der Untersuchungsteilnehmer nur wenig laut denkt. 6.4.7 Versuch 3 - Herbert Herbert braucht 1.48 Minuten für das Zeichnen des Bildes. Wie oben schon erwähnt, denkt der Proband während des Versuchs kaum laut. Die Auswertung ist also auch hier nur begrenzt möglich. 1 2 3 4 5 6 7 8

ah (schnieft) (setzt sich) nimmt Stift> (.) und jetzt (schnieft) (.) mal ich mal weiter (schnieft) (.) mhm (0.2) mir fällt grad nichts ein (blickt auf Blatt; 0.6) es könnte eine KISte sein (zeichnet; 1.1) aus der KISte (schiebt Blatt seitlich weg) (0.5) die mal ich jetzt mal weiter (0.6) kommt etwas rau:s (.) und zwar (0.4) eine Schlange (0.5) ich mag Schlangen eigentlich nICHT (.) ABer das ist so das einzige was mir eingefallen ist (0.4) jetzt könnt man hier noch ma verbessern (0.9) okay (.) fertig

Herbert zeichnet einen Kasten, aus dem sich eine Schlange heraus bewegt. Er hat mit dem ersten Blick auf das Material keine Idee. Dann nimmt er den Stift zur Hand. Er sitzt da, blickt auf das Blatt und denkt nach. Dann hat er die Idee zu einer Kiste und beginnt, aus dem Winkel einen Kasten zu zeichnen. Während er die Kiste zeichnet, hat er die Idee, das etwas aus ihr heraus kommen könnte. Diese Bewegung unterstützt er durch ein Zur-Seite-Schieben des Blatts. Aus dem distanzierten schrägen Blick heraus entwickelt er die Vorstellung einer Schlange, die sich aus der Kiste heraus bewegt. Der Untersuchungsteilnehmer zeichnet Ringe auf die Haut der Schlange. Er kommentiert, dass er Schlangen eigentlich nicht mag, dass ihm aber nichts anderes eingefallen ist. In einer Verifikationsphase verbessert er sein Bild noch einmal. Die von links sich in das Bild bewegende Schlange bewegt sich aus einer Kiste heraus. Ihre Zunge ist züngelnd vorgestreckt, ihre Haut mit gepunkteten Kreisen bedeckt. Mit der Linienführung nach rechts wird die Blickrichtung der Schlange und damit ihre Vorwärtsbewegung unterstützt. Die Kiste, aus der sie herauskommt, beginnt etwa einen Zentimeter neben dem linken Rahmen und endet am rechten Rand. Die Öffnung der Kiste nach oben ist erkennbar, weil die hintere Linie durch die Schlange verdeckt ist. Dass die Kiste direkt neben ihren Windungen endet eröffnet die Frage, wie ihr nach

Fallanalyse Herbert

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Abbildung 6.13: Zeichnung Herbert unten verborgener Körper noch weitergeht. Dass die nach unten dicker werdende Schlange nur die linke Hälfte der Kiste nutzt, führt dazu, dass sich der Betrachter fragt, was in dem dem Betrachter verborgenen Teil der Kiste liegen mag, bzw. wie viel von der Kiste die Schlange möglicherweise noch ausfüllt. Die Tatsache, dass die Kiste genau am Rahmen des Blattes endet, verstärkt den Eindruck, der Schlange u.U. nicht ausweichen zu können. Ihr Anblick erweckt somit nicht nur einen echten, sondern auch einen unangenehmen Eindruck. Herbert zeigt zeichnerische Fertigkeit, die einer genauen Beobachtungs- und Erinnerungsgabe entspringen. So wird die Schlange nach unten dicker gezeichnet, Zunge Nase, Kopf und Schlangenhaut sind dreidimensional dargestellt. Die Schlange wurde technisch richtig vor den hinteren Rand der Kiste eingefügt, die dreidimensional und technisch richtig gezeichnet ist. Der Rest des Blatts bleibt leer. Die Zeichnung bleibt im Rahmen. Vorhandene Linien werden fortgesetzt, aber so, dass sie an der einen Seite an den Rand grenzen, an der anderen Seite aber Platz bleibt. 6.4.8 Zusammenfassung Versuch 3 - Herbert Herbert orientiert sich an der Erfüllung der Aufgabe. Er formuliert mehrmals, dass ihm nichts einfällt. Aus dem S eine Schlange zu machen und aus dem Winkel eine Kiste ist naheliegend. Das, was er zeichnet, ist allerdings ausdifferenziert, genau beobachtet und in der Kürze der genutzten Zeit gekonnt dargestellt. Nachvollziehbar ist, dass der Proband eine gute Auge-Hand-Koordination hat und seine Ideen von Gedächtnisschemata abrufen, sich differenziert vorstellen und darstellen kann. Damit, dass die Zeichnung innerhalb des vorgegebenen Rahmens bleibt, zeigt er wiederum wenig Flüssigkeit im Denken. Der Untersuchungsteilnehmer ist stark erkältet. Dies könnte die Ergebnisse möglicherweise verfälscht haben.

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6.4.9 Hypothesen Versuch 3 - Herbert Herbert kommt durch die Aufforderung, kreativ zu sein, unter Leistungsdruck. Er formuliert mehrmals, dass ihm nichts einfällt. Er versucht, es „richtig“ zu machen oder die Aufgabe zu erfüllen. Die Orientierung an Richtigkeit hemmt seinen Einfallsreichtum. Der Proband ist zeichnerisch-technisch kompetent. Die Ausführung ist perspektivisch richtig und gut beobachtet. Auch in der Entscheidung, die Kiste - und damit auch die Schlange - perspektivisch nach rechts zu verlängern, zeigt er technischzeichnerische Kompetenz. Herbert reduziert nicht einfach auf das Wesentliche. Nach dieser These wäre es zwar möglich, dass er gerade wegen seiner ästhetischen und gestalterischen Fähigkeiten die Wirkung seines Bildes durch Vereinfachung verstärkt. Dem widerspricht aber, dass er wiederholt formuliert, ihm falle nichts Besseres ein (was allerdings kompetenzerhaltend gemeint sein kann).

6.4.10 Zusammenfassende Hypothesen - Herbert Herbert ist extrinsisch motiviert. Er fühlt sich angesichts der hohen Unbestimmtheit inkompetent und versucht, diese (gefühlte) Inkompetenz zu verbergen. Seine extrinsische Motivation mündet in Präsentation seiner Kompetenz, oder in Vermeidungsverhalten. Die hinter den Gefühlen der Inkompetenz liegende Ursache, die Unbestimmtheit, versucht er, durch Orientierung an Regeln oder Menschen zu reduzieren. In allen drei Versuchen orientiert er sich an der Erfüllung der geforderten Aufgabe oder an der Versuchsleitung. Dies könnte der Grund dafür sein, dass seine Ausdauer nur begrenzt ist. (Allerdings ist Herbert auch stark erkältet und könnte insofern einfach körperlich geschwächt sein.) Die Orientierung an „Richtigkeit“ verhindert allerdings intrinsische Motivation und Kreativität. Sie führt zu konformem Verhalten. Deshalb bleibt er im Rahmen der Vorgaben und entwickelt keine außergewöhnlichen Ideen. Herbert hat ästhetisch-gestalterische Fähigkeiten sowohl in Raum-, als auch Blattbehandlung und Ausführung. Er zeigt Kompetenzen, wie visuelles Erinnerungs- und räumliches Denkvermögen. Bei den letzten beiden Versuchen verwendet er Zeit und Mühe, um den Versuch auf eine ästhetisch ansprechende Art zu lösen. In der Raumaufteilung unterstützt die körperliche Wahrnehmung ästhetisch-räumliche Kompetenzen. Der Blick aus der Distanz ermöglicht die summative Wahrnehmung der Gesamtheit. Herbert ist durch das Material nicht aufgefordert, die entstandene Unbestimmtheit zu beseitigen. Er versucht herauszufinden, was er tun soll. Darüber hinaus exploriert er nicht. Die Orientierung auf das Erledigen der Aufgabe führt zu ihrer oberflächlichen Abhandlung und schnellen Erfüllung. Seine Bestimmtheit und Kompetenz erhält er durch Beurteilung und Abschließen der Aufgabe.

6.5 Fallanalyse Hubert Hubert zeichnet sich durch ausgesprochenes Durchhaltevermögen und hohe Frustrationstoleranz aus. Er benötigt für den ersten Versuch 6.48 Minuten.

Fallanalyse Hubert

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6.5.1 Versuch 1 - Hubert Nachdem Hubert den Raum betreten und sich gesetzt hat, nimmt er den Stift zur Hand und beugt sich über das Material. Hubert sitzt leicht vorgebeugt mit beiden Händen an der Arbeitsplatte, die er mit Daumen und Zeigefingern mit der einen Hand an der unteren rechten und mit der anderen Hand an der oberen linken Kante berührt. In der vorliegenden Szene entwickelt er die Idee, dass es um ein afrikanisches Land gehe. Mit den Fingern knibbelt er an der Platte herum. Dabei sitzt er vorgebeugt in einer konzentriert lesenden Haltung. Sein Gesicht wird von dem Käppy verdeckt, das er trägt. Die Arme sind angewinkelt. Der rechte Arm ist zurückgezogen, so dass er mit den Fingern in einer Art zeigenden Haltung auf den Text verweisen kann, während die linke Hand an der oberen Ecke des Bildes liegt. In dieser das Material umfassenden Haltung, die mit einem aktiven Muskeltonus ausgeführt wird, zeigt sich der für Hubert typische Versuch, sich auf beide Teile des Materials zu konzentrieren und diese miteinander zu verbinden.

Abbildung 6.14: Erste Idee Hubert. Der jugendliche Untersuchungsteilnehmer sitzt schon seit ca. 5 Minuten über der ersten Aufgabenstellung. Er hat sich sowohl mit dem Bild, als auch dem Text beschäftigt, einige Hypothesen entwickelt und manche davon wieder verworfen. In dieser Sequenz (45) kommt ihm die Idee, dass es sich um „irgendein afrikanisches Land“ handelt.

1 #00:00:00-0 # Hubert sitzt da mit den Fingerspitzen der beiden Hände auf der Tischkante, in der linken Hand einen Stift. Hubert blickt in die Kamera, benetzt die Unterlippe mit der Zunge und schaut nach unten. Dann blickt er nach rechts zur Forscherin, zeigt mit der rechten Hand auf die weiße Platte und sagt < ok (.) kann ich umdrehen? > < er hebt beide Hände hoch, fasst die Platte mit der linken Hand in der Mitte an und dreht sie herum, die rechte Hand berührt die Platte an der Ecke und stützt sie < so > Hubert sitzt am Tisch, mit den Fingerspitzen berührt er die Tischkante. In der linken Hand hält er einen Stift, er blickt zur Kamera. Er senkt den Blick und benetzt die Unterlippe mit der Zunge. Er zeigt mit der rechten Hand auf die Platte und fragt, ob

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Abbildung 6.15: Abschließende Idee Hubert. Parallel zu den Zeitpunkten, denen die Pictogramme entnommen sind, entwickelt Hubert eine Hypothese und die entscheidende und abschließende Idee. es ok ist, wenn er sie umdreht. Gleichzeitig hebt er schon die Platte mit beiden Händen hoch. Er beugt sich leicht nach links und beginnt vorzulesen. Hubert ist bereit zu explorieren. Das Maß an Unbestimmtheit, das er antizipiert, macht ihn also neugierig auf das, was ihn erwartet. 2 VL: mhmNeugier 3 Platte liegt an der gleichen Stelle wie zuvor, er beugt sich leicht nach links und schaut darauf. Beide Hände liegen mit Zeigefinger und Daumen an den Ecken der Platte < tyrannei hat sich ein produkt immer ins blickfeld gerückt °h provinzen sprach das sweatshirt des pol:itbüros leute zu °h rockmusik gibts zähen gemeinsamen SAchen Er beginnt mit einer spezifischen Exploration, indem er sich leicht nach links beugt und den Text vorliest. Beim Vorlesen kommt es zu Wechseln zwischen Bestimmtheit und Unbestimmtheit: Ja, das verstehe ich, ja, das kann ich einordnen, ja, das verstehe ich auch, aber nein, das kann ich nicht zuordnen und so weiter. 4 äHÄ was ist das fürn gschmarrn °h Über diese stückweise Erarbeitung des Textes kommt er zum Schluss, dass das Gelesene keinen semantischen Sinn ergibt. Daran, dass er umgangssprachlich, mit einem Verzögerungslaut und mit einer Pause reagiert, lässt sich eine Irritation ablesen, die er auch formuliert. Diese hat unmittelbar einen sinkenden Auflösungsgrad und eine Orientierungsreaktion zur Folge. Möglich ist auch, dass er emotional aufgeladen reagiert und sich ärgert. Beide Reaktionen haben einen sinkenden Auflösungsgrad und damit die Möglichkeit zu schneller Orientierung zur Folge. Für diese Interpretation spricht auch, dass er kurz mit dem Lesen aussetzt.

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5 äh seit jahren mehr politische eingehende arbeitseinheiten (.) um für hundertmillionen menschen (.) öffnung zu bestimmen °h > Er setzt bei „seit Jahren“ wieder ein und liest den Text zu Ende. Das Satzglied „um das Erbe“ , das zwischen diesem und dem letzten vorgelesenen Satzteil steht, lässt er weg, ebenso den Artikel vor „Öffnung“. Dies kann als Bestätigung für die These gewertet werden, dass er zu diesem Zeitpunkt einen eher niedrigen Auflösungsgrad hat. Möglicherweise hat Hubert leise weitergelesen, während er die Sinnlosigkeit der Sätze konstatierte. Vielleicht sagt ihm aber dieses Satzglied auch besonders wenig oder viel, so dass er es nicht ausspricht. Er exploriert also trotz der Irritation zunächst weiter. Die Exploration führt allerdings zu keiner Klärung des Sachverhalts, er atmet ein. Das deutliche Einatmen signalisiert zunehmende emotionale Anspannung. Emotionale Anspannung entsteht, wenn die Bedürfnisse, z.B. nach Bestimmtheit und Kompetenz nicht durch entsprechende Bestimmtheits- oder Selbstwirksamkeitssignale erfüllt werden. Es entsteht also Handlungsbedarf. Außerdem führt dies zu einem weiter sinkenden Auflösungsgrad. Die so entstehende grobe Wahrnehmung ermöglicht eine gute Übersicht über Handlungsmöglichkeiten. Ebenfalls sinkt die Selektionsschwelle, was einen Motiv-Wechsel nahelegt. Hubert wendet sich dem Bild zu. 6-10 #00:00:25-8 # Hand in der Mitte des Tisches, dabei bewegt er den zwischen Zeigefinger und Mittelfinger liegenden Stift zum Daumen. Mit dem kleinen Finger und dem Mittel-Finger spielt er am Stift < n junge (.) auf (.) schu:lparkplatz (.) irgendwelche folien außenrum (.) hm (.) was ist das für ein gebäude (.) wahrscheinlich eine schule wird ein schüler sein (.) es ist nacht (2.0) tyrannei hat sich ein produkt immer ins blickfeld gerückt > Bei der Exploration im Bild nimmt Hubert Zuordnungen vor. Auf dem Bild etwas zu erkennen und zuordnen zu können, löst Bestimmtheits- und Kompetenz-Signale aus und reduziert in gewissem Rahmen die Unbestimmtheit. Er wackelt mit dem Stift zwischen den Fingern. Auch sich zu spüren, körperlich agieren zu können, löst Selbstwirksamkeit aus und stabilisiiert. So kann er sich wieder dem Text zuwenden und liest den ersten Satz. Er erwartet vermutlich, dass er im Text Anhaltspunkte zu seinen Entdeckungen im Bild finden wird. 11 #00:00:52-4 # Nun beugt er sich mit kreisenden Oberkörperbewegungen nach links zur Platte vor. Er streckt den Kopf, vermutlich, um etwas genauer zu sehen < tyrannei hat sich ein blick (.) hm mh > Aus der Erinnerung wiederholt er den Satz, blickt dabei aber mit vorgestrecktem Kopf auf das Bild. Er versucht also, Zusammenhänge zwischen Text und Bild zu entdecken genauer zu sehen, wiederholt gleichzeitig den ersten Satz mit leichten kreisenden Bewegungen des Oberkörpers. Er verändert den Satz von „Tyrannei hat sich ein Produkt immer ins Blickfeld?“ zu „Tyrannei hat sich ein Blick“ . Kompetenz und Bestimmtheit nehmen ab, weil er keine Zusammenhänge entdecken kann. Die sinkende Bedürfnislage zeigt sich im unbewussten leichten Schwanken des Oberkörpers. Für den dabei

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entstehenden Versprecher gibt es zwei Erklärungsmöglichkeiten: Sowohl die gleichzeitige Konzentration auf Text und Bild (also die sinkende Selektionsschwelle), oder der sinkende Auflösungsgrad (und die damit einhergehende grobe Wahrnehmung) führen zu Auslassungen bei der Wiederholung des Satzes. Die sinkende Bedürfnislage hat eine sinkende Selektionsschwelle und einen Motivwechsel zur Folge. Das Interesse am Bild überwiegt, und er unterbricht sich. Die Suche nach Bestimmtheits-Signalen im Text hat also eher zu Bestimmtheits- und Kompetenzminderung geführt, die Selekionsschwelle sinkt, Hubert sucht also doch lieber weiter im Bild. 12-16 #00:00:54-0 # tyrannei hat sich ein produkt < blickt rechts auf das Blatt < WAs hat des damit zu tun > °h wie will man damit probleme lösen (.) hmm (.) Die ganze Zeit bewegt er mit dem Daumen den Stift. Er streckt den Kopf zur oberen linken Ecke des Bildes und sieht dort noch eine Person auf dem Bild. Dies reduziert für einen Moment die Unbestimmtheit. Dann singt er leise eine Tonfolge. Über den Gesang spürt er sich, er folgt der Tonfolge und dem Rhythmus. Das löst Selbstwirksamkeitssignale und Bestimmtheit aus. Dies gekoppelt mit zunehmender Bestimmtheit erzeugt Selbstwirksamkeit, die Kompetenz nimmt zu. Mit dieser Bedürfnislage kann er noch einmal den Text in Angriff nehmen. Er nimmt sich die ersten fünf Worte des ersten Satzes vor. Noch vor dem Verb, das zwar nicht semantisch, aber doch grammatisch einen Zusammenhang setzen würde, unterbricht er sich mit der Frage, was dies damit zu tun habe. Hier wird auch an seinen Fingerspielen deutlich, dass er irritiert ist. Die zunehmende Aktivierung macht sich Luft in einer Frage, die umgangssprachlich formuliert ist. Er reagiert auf die durch Inkompatibilität von Textinhalten und Bild entstehende Unbestimmtheit also erstens damit, dass er in Aktion tritt. Selektionsschwelle und Auflösungsgrad sinken. Zweitens reagiert er mit dem Versuch, die Sätze in einen größeren Sinn-Zusammenhang einzuordnen. Er lotet die Grenzen aus, in denen er sich bewegt, und kann mit der genaueren Konturierung der Zielrichtung eine positive Wirkung auf seine Motivation erzielen. Dörner spricht in diesem Zusammenhang von der Klärung der äußeren Zwänge (Dörner, 1976). Gleichzeitig rekurriert er aber auch seinen eigenen Standpunkt, indem er die für ihn entstehende Frage grundsätzlich und umgangssprachlich formuliert. 17-19 #00:01:05-4 # beugt den Kopf nach rechts, blickt nach links, rechte Hand liegt geschlossen und mit dem kleinen Finger auf der Tischkante auf < es könnt ein unfall draußen irwo sein hat sich ein produkt immer ins blickfeld gerückt (2.0) tyrannei (.) hat sich ein produkt immer ins blickfeld gerückt (—) hm tyrannei hat sich ein PRoDUkt immer ins blickfeld gerückt> Mit einer neigenden Kopfbewegung stellt er die Hypothese auf, dass es sich um einen Unfall handelt. Damit klärt er, welche Variablen möglicherweise mit dem Inhalt zusammenhängen können. Die These bleibt zwar noch recht unklar (er spricht davon, dass es irgendwo draußen sein könne), gibt ihm aber ein genaueres Bild von den sich daraus ergebenden äußeren und inneren Zwängen und klärt insofern ein Stück weit das Ergebnis. Thesen lassen sich bestätigen oder widerlegen. Er wiederholt also den vorher

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unterbrochenen Satz dreimal, wobei er zunehmend rhythmisiert, bis zu einer melodiös rhythmisierenden Betonung. Das erste Wort, Tyrannei, lässt er weg und fügt es nach der ersten Wiederholung wieder an. Mit den Wiederholungen bekommen die Verse einen Vortragscharakter. Gemeinsam mit der Tatsache, dass er auf dem Bild etwas identifizieren kann, führt dies zur Ausschüttung von Kompetenz-Signalen. Die Rhythmisierung der Verse vermittelt Regelmäßigkeit, Verlässlichkeit und erzeugt mit der Ausschüttung von Bestimmtheits-Signalen eine Reduktion der Unbestimmtheit. Die Hypothese, dass es sich um einen Unfall handelt, könnte aus einer holistischen Beobachtung heraus entstehen, bei der die gesamte Stimmung auf dem Bild mit Einzelbeobachtungen ins Verhältnis gesetzt und kombiniert wird. Während die Selektionsschwelle steigt, sinkt der Auflösungsgrad weiter ab, da sich Hubert mit der akustischen Struktur des Textes befasst. 20-21 #00:01:22-1 # legt den Zeigefinger kurz über die Lippe und stützt den Kopf seitlich auf die gebeugte Hand des abstützenden rechten Arms auf < °h ah (.) ein tyrann (—) konzentriert sich (.) auf eins (.) und das legt er sich zurecht (–) den provinzen sprach das sweatshirt des p(.)olitbüros leute zu (–) > Er spricht weiter, legt dabei den Finger an die Lippen und stützt den Kopf auf die Hand auf. Die Berührung der Lippe ist eine Geste, die typischerweise häufig mit Überlegungen verbunden ist. Im Zuge dessen definiert er, wie sich ein Tyrann verhält. Diese Definition kann als das Verhalten eines Menschen interpretiert werden, der seine Sichtweise favorisiert. Dabei ist der Blick allein auf die Wahrnehmung dieses Menschen gerichtet, nicht auf die sich daraus ergebenden Konsequenzen. Die Definition gibt ihm mehr Klarheit und führt zur Ausschüttung von Bestimmtheitsund Kompetenzsignalen. Insofern kann er diesen ersten Satz abhaken. Ohne Unterbrechung liest er den nächsten Satz: „Den Provinzen sprach das Sweatshirt des Politbüros Leute zu“ . Das deutet auf ein erhöhtes Aktivierungsniveau. 22-24 #00:01:40-9 # den provINZen (.) sprach des politbüros ( ) leute zu? (—) den satz (.) versteh ich nicht (.) den proVINzen sprach das SWEAtshirt des po Hubert wiederholt den Satz zweimal. Nachdem er anfangs bei dem Wort „Sweatshirt“ genickt hat, intoniert er „Politbüro“ und „zu“ als Frage und sagt schließlich, dass er diesen Satz nicht versteht. Nachdem er mit dem Satz vorher gut zurecht kam, nickt er beim Lesen. Dies verweist darauf, dass er die Erwartung hat, dass er auch weiter etwas verstehen wird. Hubert versteht einzelne Worte, kann diese aber nicht zu einem stimmigen Ganzen zusammenfügen. Er ist irritiert und fragt sich, was damit gemeint sein könnte oder was das zu bedeuten hat. Auf die Unstimmigkeit reagiert er mit der Wiederholung des Satzes. Als dies trotz der dritten Wiederholung nicht zu mehr Verständnis führt, unterbricht er sich nach der ersten Silbe des Wortes „Politbüro“. Er reagiert also mitten im Wort auf die Ausschüttung von Unbestimmtheits-Signalen, weil das wiederholte Lesen nicht zur erwünschten Zunahme an Klarheit und Verständnis führt. Die sich leerenden Bedürfniskessel führen

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zu einer erhöhten Aktivierung. Es entsteht die Bereitschaft zu handeln. Die Selektionsschwelle sinkt und führt mit relativ hoher Dringlichkeit zu einem Motivwechsel. Hubert lässt den Satz fallen und wendet sich dem nächsten zu. Die erhöhte Dringlichkeit wird auch an seinem Einatmen deutlich: 25-26 #00:01:51-5 # < legt die rechte Hand geschlossen mit der Kante auf die Tischkante rechts vor der Platte. Der Zeigefinger steht locker vor < °h h° NA jA mal den nächsten satz machen äh rockmusik gibts zählen (—) zähen gemeinsamen sachen (.) das erbe seit jahren mehr politisch eingehende arbeitseinheiten > Nach dem Einatmen leitet er den Satz mit „äh“, also einem Verzögerungslaut ein und verspricht sich. Interessant ist, dass er sich relativ schnell - mit einem „NA ja“ - der nächsten Sache zuwenden kann. Andererseits macht ihm - wie die Handhaltung, das Einatmen und der Verzögerungslaut „äh“ zeigen - das Misslingen aber auch emotional zu schaffen. Dies führt zu einem niedrigen Auflösungsgrad, wenn auch nicht zu einer grundsätzlichen Beeinträchtigung seiner Kompetenz. Infolge des niedrigen Auflösungsgrades verspricht er sich beim Lesen: „rock musik gibts zählen“. Musik hat vermutlich für ihn etwas mit zählen, z.B. des Rhythmus, zu tun. Sie kann von ihm insofern auch als etwas, das Orientierung erzeugt, verstanden werden. Als er seinen Versprecher bemerkt, verbessert er sich und liest weiter vor. Im nächsten Satzteil verspricht er sich wieder. Er spricht von eingehenden Arbeitseinheiten anstelle einhergehenden. 27-28 #00:02:02-4 # < rechte Hand wird an die Ecke der Platte gerückt, die linke Hand mittig vor die Platte gelegt < °h für hundertmillionen menschen die öffnung zu bestimmen (.) was fällt dir dazu EIN? (2.0)> Mit veränderter Handhaltung - die linke Hand in der Mitte vor der Platte atmet er ein und liest weiter. Er legt die Hand wie eine Barriere zwischen sich und Platte. Die so entstehende Distanz zum Material könnte als Entlastung dienen. Damit lässt sich auf eine Anspannung schließen, die sich noch in anderen Verhaltensweisen zeigen müsste. Tatsächlich verschluckt er beim Lesen eine Silbe. Er liest „stimmen“, anstatt „bestimmen“. Im gleichen Atemzug liest er den Arbeitsauftrag vor: „was fällt dir dazu ein?“ Hubert spricht hier immer schneller; er geht fast übergangslos zum Text über, so, als wolle er die Trennung zwischen Text und Arbeitsauftrag überbrücken; oder als würde ihm dies helfen, in das Material einzusteigen. es ist also von einem hohen Aktivierungsgrad auszugehen, der kombiniert ist mit einem niedrigen Auflösungsgrad. Obwohl - oder eben, und dies wäre konform mit seiner vorherigen Strategie, weil - er den letzten Satz nicht verstanden hat, liest er weiter. Den Kopf bewegt er dabei ständig zwischen Platte und Arbeitsauftrag hin und her. Ihm geht es also vermutlich darum, einen Zusammenhang zwischen Arbeitsauftrag und Text herzustellen. Dieses Verhalten zeigt sich auch durch den übergangslosen Wechsel zur Fragestellung am Ende des Textes. Auf die sinkende Bedürfniserfüllung (Bestimmtheit und Kompetenz) reagiert Hubert hier also mit diversiver Exploration, und zwar mit stärkerer Verknüpfung zwischen Text und Arbeitsauftrag. Dies bedeutet, dass die Selektionsschwelle sinkt. Hubert wechselt also die Strategie: Er gleicht den Text immer wieder mit dem Arbeitsauftrag ab.

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29 #00:02:11-6 # linke Hand fährt einmal an der Kante der Platte entlang < klopft dreimal an verschiedenen Stellen des Textes < hat sich ein ProDUKT IMMER ins BLICKFELD gerückt > (—) hm (.) Nun führt er die linke Hand an der unteren Kante der Arbeits-Platte entlang und klopft, während er den gleichen Satz spricht und rhythmisierend wiederholt, auf verschiedene Stellen im Text. Durch Rhythmisieren versucht Hubert, eine hintergründige Ordnung zu erkennen oder zu erstellen. Das Erstellen einer akustischen Ordnung löst Bestimmheits-Signale aus und kann damit auch zur Kompetenzsteigerung beitragen. Den Rhythmus vollzieht er sowohl körperlich, als auch durch die Betonung einzelner Worte. Das harmonische Ineinandergreifen von Körper und Sprechrhythmen unterstützt die Ausschüttung von Bestimmtheits- und Kompetenz-Signalen. Gleichzeitig denkt er nach. Trotzdem erhöht sich nicht das Verständnis für den Text. Deswegen steigt die Selektionsschwelle nur sehr kurz, beginnt danach aber wieder zu sinken. 30-35 #00:02:18-8 # < linke Finger werden links der Platte auf die Tischkante gelegt, wo Hubert auch hinsieht < irgendwelche zusammenhänge (.) sweatshirt des (.) politbüros leute zu°h rockmusiker (–) gibt zähen gemeinsamen sachen das erbe seit jahren mehr politisch eingehende arbeitseinheiten um für hundertmillionen menschen die öffnung zu bestimmen (.) um für HUNdertmillionen menschen (.) die öffnung zu beSTIMmen °h (.) > Hubert sucht weiter nach Zusammenhängen. Deshalb liest er weiter. Der Plan weiterzulesen reduziert seine Unbestimmtheit. Hubert hat nun etwas Konkretes zu tun. Deshalb nimmt auch seine Kompetenz zu. Er exploriert also diversiv und pickt sich einzelne Satzteile heraus, die er auch nur bruchstückhaft nutzt. Diese grobe Vorgehensweise, bei der z.B. aus Rockmusik Rockmusiker werden, zeigt, dass er nach wie vor mit einem relativ niedrigen Auflösungsgrad agiert. Detailliert betrachtet untersucht er dadurch immer wieder einen neuen Satzteil, hört sich diesen an und vergleicht ihn mit möglicherweise passenden Gedächtnisschemata. Dies verläuft vermutlich so, dass er z.B. „zäh“ hört, dazu ein Gedächtnisschema abruft - etwa eine zäh vom Löffel laufende Flüssigkeit. Dies erzeugt Bestimmtheit. Beim Lesen des nächsten Wortes „gemeinsam“ wird wiederum ein Gedächtnisschema abgerufen. Vielleicht das Bild eines gemeinsamen Spaziergangs oder Händehaltens. Dieses erzeugt ebenfalls Bestimmtheit. Nun lassen sich die Schemata allerdings nicht ohne weiteres zusammen fügen. Hubert müsste also entweder die Dissonanzen beseitigen und die entstandenen Lücken füllen, oder er exploriert weiter. Mit dem Lesen des nächsten Wortes, hier „Sachen“, wird also wiederum ein Gedächtnisschema abgerufen. Dazu könnten ihm verschiedene Dinge einfallen: etwa ein Stuhl ein Tisch oder eine Schüssel (das wäre immerhin der gleiche Kontext wie etwas Zähes). Das erzeugt Bestimmtheit. Allerdings lässt sich auch dieses Schema nicht lückenlos mit dem vorherigen Konstrukt „zähen gemeinsamen“ zusammenfügen. So verschärfen sich die Unstimmigkeiten. Die Unbestimmtheit nimmt zu. Hubert ist einem Wechselbad an Bestimmtheit und einem Wechselbad der Gefühle ausgesetzt. Der erhoffte Erfolg ist nicht eingetreten. Die

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Erfolglosigkeit seiner Versuche, den Text zu verstehen (Häufung von Ineffizienzsignalen) führt zu Ersatzhandlungen oder zur Änderung seiner Strategie. 36-39 #00:02:37-4 # < nimmt beide Hände zum Blatt, rechte Hand mitten auf das Blatt, betrachtet das Bild links von sich < linke Hand spielt zwischen Zeigefinger, Mittelfinger und Daumen mit dem Stift < was fällt mir dazu EI:n? Die sich ändernde Sitzhaltung markiert einen Übergang zu einer neuen Strategie (s.a. Bohnsack, 2011). Hubert ändert seine Position, indem er sich dem Arbeitsauftrag zuwendet. Er legt beide Hände auf das Blatt und blickt von dort aus auf das Material. So wiederholt er den Arbeitsauftrag, allerdings formuliert er ihn anders, auf sich selber bezogen: „Was fällt mir dazu ein?“ Die stärkere Konzentration auf sich selbst zeigt sich auch darin, dass er sehr leise vorliest. Bei der Formulierung des Arbeitsauftrags dehnt er betont das Wort „ein“. Gleichzeitig wackelt er mit dem Stift. Wahrscheinlich ist, dass sein Aktivierungsgrad sehr hoch ist. Unklar ist, woran das liegt; es könnte daran liegen, dass er sich fremdbestimmt fühlt, dass er solche Bewegungen einfach oft macht, oder dass er auf die Unbestimmtheit reagiert. Hubert fasst bei geringem Auflösungsgrad die abgerufenen Schemata zusammen und kommt zum Schluss, dass es um Menschen geht. Das erhöht seine Bestimmtheit. Die Selektionsschwelle steigt. Mit dem deshalb differenzierter werdenden Auflösungsgrad überlegt er, ob es genauer um Jugendliche geht. Das erzeugt Unbestimmtheit. Um sicherer zu werden, sucht er nach einem Merkmal, das einen Jugendlichen charakterisieren würde. Er entdeckt den Kopfhörer. Das führt zur Ausschüttung von Bestimmtheit. Dann aber fragt er sich, ob es sich tatsächlich um einen Kopfhörer handelt. Er beugt den Kopf stärker über die Platte und stellt fest, dass er keinen Kopfhörer erkennen kann. Die Bestimmtheit nimmt ab. 40-41 #00:02:48-2# äh tyrannei hat sich ein produkt immer ins blickfeld gerückt was fällt mir dazu ein? Die Erkenntnis, dass er falsch lag, lässt ihn einen kleinen Augenblick innehalten (man hört einen mit einem Kehllaut einsetzenden Verzögerungslaut) und weiter dazu, dass er sich vom Bild ab- und dem ersten Satz zuwendet: „tyrannei hat sich ein produkt immer ins blickfeld gerückt“. Der sinkenden Bedürfnislage durch die misslungene Verifikation begegnet Hubert also zunächst mit Deaktivierung. Die ganze Bedürfnislage ist bedroht, die Selektionsschwelle sinkt, bewirkt dann aber durch zunehmende Aktivierung einen Motivwechsel. Er liest den ersten Satz, in dem es um Tyrannei geht, vor. Ohne eine Pause einzufügen, fragt er sich wiederum, was ihm dazu einfällt. Den Arbeitsauftrag zu wiederholen, strukturiert sein Denken und hilft ihm, sich auf sein Ziel zu konzentrieren. Die Konzentration auf die Fragestellung führt zu einem Moment der Verunsicherung, ob ihm etwas einfällt; die Bestimmtheit sinkt also. Diesem Effekt steuert er entgegen, indem er die Frage zu seiner eigenen Sache macht. Damit konzentriert er sich stärker auf sich selbst. Die Steuerung der Aufmerksamkeit auf sich selbst führt zu einer deutlichen

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Zuschreibung von Verantwortung und einer erhöhten Selbstwahrnehmung. Er sucht nun verstärkt in Bezug auf sein eigenes Leben nach Schemata, die ihm zur Fragestellung einfallen. Noch während er die Frage stellt, beugt er sich über das Blatt, womit er sich auch von der Kamera abschirmt. Da er zuvor schon einen Tyrann als jemandem definiert hatte, der „sich (.) auf eins (.)“ konzentriere und sich etwas „zurecht“ lege, führt dies in der Kombination mit den Jugendlichen zum Einfall, dass es um Mobbing geht. Während des Aufschreibens wiederholt er laut seine Idee. Infolge des sinkenden Auflösungsgrades kümmert Hubert sich nicht um weitere Inhalte des Satzes, etwa dass es um Produkte geht; er assoziiert vielmehr vor allem zur Tyrannei, dass diese unter Jugendlichen „Mobbing“ sein kann. Dass er eine Idee hat, bewirkt die Ausschüttung von Bestimmtheits- und Kompetenz-Signalen. 43-45 #00:02:59-5 # schaut wieder auf die Platte. Die linke Hand mit dem Stift liegt links der Platte, die rechte mit dem Zeigefinger unten an der Kante der Platte. Mit der linken Hand spielt er an der oberen linken Ecke der Platte < provinzen sprach das das sweatshirt des politbüros LEUTE zu (3.0) hm °h was ist damit gemeint? (.) irgenden af (.) afrikanisches land °h dems (–) um (2.0) diktatURen geht? > Im Ablauf ähnelt diese Sequenz der letzten. Hubert liest einen Satzteil, stellt sich den Arbeitsauftrag und entwirft eine Idee dazu. Beim Lesen des Satzes betont er das, was am ehesten zu seiner vorherigen Idee passt: Leute und Mobbing haben beide mit Menschen zu tun. Obwohl man davon ausgehen kann, dass auch hier das Lesen mit einem Wechsel zwischen Bestimmtheit und Unbestimmtheit einhergeht, fällt auf, dass Hubert ruhig, langsam und konzentriert vorgeht. So fragt er sich, was gemeint ist, spricht langsam und fügt immer wieder Pausen ein. Er atmet hörbar ein und fügt einen verdoppelnden Versprecher ein. Die Verunsicherung dadurch, dass die Worte nicht zusammenpassen und Unbestimmtheitssignale erzeugen, führt zu einem sinkenden Auflösungsgrad. Hubert entwickelt die Idee, dass es ich um ein afrikanisches Land handelt. Nach Pausen fügt er hinzu, dass es um Diktaturen geht. Diese Hypothese intoniert er wie eine Frage. Er entwickelt hier also zwei weitere Ideen, eine zu dem Ort des Geschehens, die Diktatur ergibt sich aus Tyrannei. Dabei bleibt er aber unsicher, ob seine Ideen stimmen. Hubert ist also an dieser Stelle ständigen Wechseln zwischen der Erzeugung von Bestimmtheitssignalen und Wahrnehmungen, die Unbestimmtheitssignale auslösen, ausgesetzt. Infolgedessen intoniert er seine Hypothese auch als Frage. 46-50 #00:03:17.0 # dikaturen (.) < rückt kurz zurück, legt die Hand mittig gegen den Tisch gedrückt (—) stößt den Stift auf den Tisch > schaut kurz nach oben < ah dieses piepsen von der kamera °h Erbe seit JAhren (.) mehr politisch ein (.) hergehende arbeitseinheiten (.) hm (.)> Hubert wiederholt die Worte „Tyrannei“ und „Diktaturen“ und betont diese durch ein Aufstoßen des Stiftes. Diese Handlung erzeugt Selbstwirksamkeit (Hubert spürt

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den abrupt aufgestoßenen Stift), dann auch Bestimmtheit. Die Idee ist noch einmal hörbar, so kann Hubert weitere Schemata dazu abrufen und in Text und Bild nach Ähnlichkeiten oder Abweichungen suchen. Diesen Prozess vollzieht er zweimal, einmal mit der Idee der Diktatur, dann mit Tyrannei. Seine Hand liegt zwischen sich und der Arbeitsplatte, wobei er sie gegen die Tischplatte lehnt. Er befindet sich also in einer Phase der distanzierten Beobachtung und Überprüfung seiner These. Der Auflösungsgrad müsste im Hinblick auf die Suche nach Ähnlichkeiten oder Abweichungen differenzierter werden. Dass er nichts dazu sagt, deutet darauf hin, dass ihm nichts Gravierendes dazu einfällt. Als Beobachter lässt sich dies allerdings zunächst nur begrenzt erschließen: Mit der durch die Betonung entstehenden Deutlichkeit betont er die Relevanz der beiden Ideen. Wenn er - und so scheint es zu sein - nichts augenfällig Relevantes dazu findet, nimmt seine Aufmerksamkeit und Aktiviertheit ab. Er widmet sich dem nächsten Satz. Er entspannt sich und die Konzentration sinkt. Nun wird er von der Kamera abgelenkt. Der hohe Auflösungsgrad in Kombination mit der infolge der Entspannung sinkenden Selektionsschwelle führt dazu, dass er Details aus seiner Umgebung wahrnimmt und verfolgt. So nimmt er das Piepsen der Kamera (die ja schon die ganze Zeit gepiepst hat) plötzlich wahr. Als er der Ablenkung kurz nachgegeben hat, kann er sich wieder besser konzentrieren. So bemerkt er nun zum ersten Mal, dass es „einhergehenden"heißt. 51-55 #00:03:40-3 # wackelt mit dem Stift ganz schnell ein paar mal hin und her < ähmm (.) > nimmt mit der linken Hand die Käppi ab, kratzt sich am Kopf und setzt sie wieder auf > dann rechts Mehrmals macht er mit der linken Hand eine betonende Bewegung in die Luft > beginnt mit der linken Hand zu schreiben, Unterarm liegt auf der Platte, rechte Hand auf dem Blatt < afrikanisches land dik (.) ta (.) tur> (2.0) Hubert bewegt den Stift schnell zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her. Sein Aktiviertheitsgrad ist also nach wie vor hoch, d.h. es besteht ein hohes Bedürfnis, zu handeln. Er gibt einen Verzögerungslaut (ähm) von sich und lehnt sich kurz zurück, dann wieder vor. Dabei nimmt er seine Käppi ab, kratzt sich am Kopf und setzt sie wieder auf. Körperlich und gestisch lenkt er sich also für einen kurzen Moment von seiner Aufgabe ab. Dies ermöglicht ihm einen kleinen Augenblick der Entspannung. Er lässt sich ablenken und erhöht damit seine Konzentrationsfähigkeit, d.h. seine Selektionsschwelle sinkt kurz ab und steigt dann wieder. Indem er sich am Kopf kratzt, spürt er seine Hand und seine Kopfhaut, beseitigt möglicherweise einen Juckreiz und verschafft sich eine verstärkte Durchblutung an dieser Stelle. seine Selbstwirksamkeit nimmt zu. Mitten in einer weiteren Selbstberührung - er fährt mit beiden Händen über die wiederaufgesetzte Käppi nach hinten - beginnt er wieder laut zu lesen, und

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zwar den vorherigen Satz. Während des Lesens hört er, dass er auf seinem Handy eine Nachricht bekommen hat. Der Ton der eingehenden Nachricht lenkt seine Konzentration weiter ab. Die Selektionsschwelle fällt kurzzeitig, dann wendet sich Hubert wieder dem Material zu, die Selektionsschwelle steigt erneut an. Dabei legt er die Ellbogen auf den Tisch und drückt mit beiden Händen an die Kopfhinterseite, wo der Übergang zur Käppi liegt. Mit der Selbstberührung nimmt er sich selbst wahr, dehnt und massiert den Nacken, fördert die Durchblutung an dieser Stelle, entspannt sich und kann sich besser konzentrieren. Die Berührung der Käppi als Identität gebendes Kleidungsstück, dass ihn als Mitglied einer Peergroup kennzeichnet, kann zusätzlich zur Ausschüttung affiliativer Signale führen. Dies erhöht seine Kompetenz und ermutigt ihn, zu tun, was ihm als Jugendlichen, der E-Gitarre in einer Band spielt, am nächsten liegt: Er setzt nun zu einem rhythmisierten, betonenden Lesen ein, das er durch klopfende Handbewegungen zunächst in Textnähe, dann in der Luft unterstreicht. Mit den rhythmischen Betonungen der Hand strukturiert er den Text und lenkt die Aufmerksamkeit darauf. Die entstehende Struktur löst Bestimmtheitssignale aus. Daneben führt die Rhythmisierung vermutlich zu einem niedrigeren Auflösungsgrad, die einzelnen Betonungen heben einzelne Silben hervor, andere rücken in den Hintergrund. Die daraus entstehende Struktur ergibt einen zusammengehörigen, passenden Überbau. Hubert versucht, durch den Rhythmus ein Gleichgewicht zwischen den einzelnen Komponenten und dem sich daraus ergebenden Gesamtbild zu schaffen. Der Blick auf die übergeordneten Strukturen führt zu einer erhöhten Selektionsschwelle und gleichzeitig zu einem niedrigeren Auflösungsgrad. Die einzelnen Elemente werden dabei zu einer akustisch passenden und zugleich stringenten übergeordneten Struktur zusammengefasst. Von Wort zu Wort ergeben sich ständig neue Anforderungen, die mit Erfolgs- und Misserfolgserwartungen einhergehen. Schritt für Schritt wird eine Erwartung aufgebaut, wie es gelingen könnte, sowie der Versuch, die vorläufig noch grobe Vorstellung rhythmisch und lautmalerisch umzusetzen, gepaart mit der Hoffnung auf Erfolg, und dem daraus resultierenden Erfolg oder Misserfolg. Dieses Auf und Ab in der Bestimmtheitsregulation mündet in ein Mikro-Flow-Erlebnis und könnte zur Entwicklung einer Idee beitragen. Dann richtet er sich auf, die Konzentration nimmt zu. Er schreibt die Worte „afrikanisches Land“ und „diktatur“ auf. Die Schnelligkeit, mit der er dies vollzieht, könnte daher rühren, dass er die steigende Unbestimmtheit beseitigen will. Er beugt sich weit vor, legt den rechten Arm auf das Blatt und den linken mit einer weiten Ausholbewegung auf die Platte. Mit der Ausholbewegung des Arms baut er geradezu eine Burg, so als wolle er verhindern, dass ihm die Idee verloren geht. Obwohl seine Strategien insgesamt nicht viel weiter führen, gibt er nicht auf. Die Selbstberührung, verbunden mit einem Kratzen am Kopf hilft ihm, sich zu konzentrieren. Auch mit der Wiederholung der für ihn entscheidenden Ideen erhöht er die Bestimmtheit, schafft einen ordnenden Rahmen, den er durch Aufschreiben festhält. 57-62 #00:04:12-7 # < zeigt unten auf die Platte < hm Machmer doch einfach mal brainstorming (.) > stützt dann die Knöchel der linken Hand etwa 20 cm links der Platte auf dem Tisch ab und lehnt sich nach rechts < aber was (.) was hat das da (.) > beugt sich über die Platte vor < was

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Teilstudie I: Darstellung der empirischen Ergebnisse hat das mit dem bild zu tun? (–) tyrannei (3.0) menschen (.) kontrolle (— ) diktatur den provinzen sprach das sweatshirt> < schreibt wieder, in gleicher Haltung wie zuvor

Mit der in Dialekt und im Plural formulierten Selbstaufforderung, Brainstorming zu machen, verändert Hubert seine Körperhaltung. Während er sich noch halb über dem Papier liegend auf die linke Hand aufstützt, stellt er den linken Ellbogen seitlich - und damit raumeinnehmend auf. Dabei spricht er sich nicht persönlich an, sondern bezeichnet sich mit „wir“. Er stellt sich also in dem Moment als Mitglied einer Gruppe dar. Dies führt zur Ausschüttung von Legitimationssignalen. Aus dieser Warte kann er auch noch einmal Abstand zur Aufgabe entwickeln und so eine neue Perspektive auf das Material entwickeln. Entsprechend macht es auch Sinn, dass er generell überlegt, was ein Teil im Bild (es ist unklar, um welchen es sich hier handelt) mit dem Text zu tun hat. Während dieser Überlegung richtet er sich ganz auf und stützt sich mit abgewinkelten Ellbogen jeweils rechts und links der Platte auf dem Tisch auf. Er zeigt mit der rechten Hand auf eine Stelle auf dem Blatt Papier und lehnt sich auf die abgewinkelten Knöchel der linken Hand. Damit geht er in seiner Körperhaltung noch weiter auf Distanz zur Platte, auf die er nun von oben herunterblicken kann. In dieser Haltung, die in der Breite, in der er sich aufstellt, auch etwas Dominantes, Beherrschendes an sich hat, versucht er, Zusammenhänge zwischen den Worten „Tyrannei“, „Menschen“ und „Kontrolle“ und dem Bild zu finden. Er steigt in eine selbstbewusste Rolle ein, um sich mit dem sperrigen Material zu konfrontieren. Das scheint ihm Antrieb zu verleihen. In dieser Rolle weiß er, was er will und übernimmt nun - so, als sei er der Anführer einer Gruppe - selbstbewusst die Führung in einer kompetenten sozialen Rolle. Es werden Selbstwirksamkeits- und Bestimmtheitssignale ausgeschüttet. Die Antizipation einer initiierenden oder Führungsrolle führt zur Ausschüttung von Legitimations-Signalen. Das verleiht ihm Selbstbewusstsein. Während des Brainstormings sinkt die Selektionsschwelle, was zu überinklusivem Denken führt. Die Zusammenhänge von Text und Bild rücken in den Blick. Die Aktivierung ist hoch, der Auflösungsgrad wird grober, weil Hubert versucht, einen Überblick zu gewinnen. Entsprechend benennt er nun ausschließlich Nomen aus dem Text. Damit kann er den Grad der Unbestimmtheit eingrenzen. Aus ihnen ergeben sich die Hauptachsen seines Gedankengangs. Von da aus denkt er weiter. In diese Überlegungen schiebt er das Lesen des Satzteils zu „den provinzen sprach das sweatshirt“ ein und hat dann die Idee zur Politikerwahl. Der Vorteil in der Vorgehensweise des Brainstorming liegt in der spielerischen Umgangsweise mit den Wörtern, die Fehler erlaubt. Die Ansage, jetzt unzensiert nachdenken zu können, hilft Hubert also, grammatische Strukturen wegzulassen und ein Vorgangsschema dazu abzurufen, das so diffus ist, dass es sich auf einen konkreten Vorgang anwenden lässt - nämlich die Politikerwahl. Zu den Worten und Bildern im Text entwickelt er also ein Umfeld, das für ihn in der Hauptsache aus Menschen (dieses Wort kommt auch im Text vor) und Kontrolle besteht. (Letzteres Wort benutzt er selber für seine Definition von Tyrannei). Dann

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nennt er ein Wort, das sich aus seinen Wortbedeutungen und Assoziationen heraus innerhalb dieses Wortumfeldes ergibt: Diktatur. Er füllt die bestehenden Leerstellen mit Assoziationen, indem er Worte aus dem Text aufzählt und die entstehenden Bilder ergänzt mit sich ergebenden Assoziationen. Nun geht er noch einen Schritt weiter. Er ergänzt das Wort „Diktatur“ durch „Politikerwahl“, indem er das Erkannte mit einem weiteren Satz verbindet. Er schreibt das Wort auf und flüstert es dabei noch einmal. Kompetenz und Bestimmtheit nehmen in diesem Moment zu, er hat etwas Neues gefunden und schreibt es auf. 63-66 #00:04:39-4 # greift mit der linken Hand nach links < stützt die rechte Hand mit dem Ellbogen auf dem Tisch auf dem Schirm des Käppi ab < mh > < legt rechte Hand am Hinterkopf ab, linke Hand spielt mit dem Stift < mh zähen gemeinsamen sachen (—) erbe mehr politisch eingehend (.) arbeitseinheiten (.) um für hundertmillionen menschen die öffnung zu bestimmen (2.0) für hundertmillionen menschen die öffnung zu bestimmen °h rockmusik (einsatzjoa) (.) rockmusik gibt zähen gemeinsamen sachen (.) um das ERBE seit JAHREN MEHR politisch einhergehende ARBEITSeinheiten (2.0) rockmusik gibt ZÄHEN gemeinsamen sachen (.) das ERBE seit JAHREN MEHR politisch einHERgehende ARBEITseinheiten (.) > Hubert bewegt die linke Hand nach links. Den rechten Arm stützt er am Ellbogen auf und berührt mit der Hand kurz den Schirm seines Käppis. Die Handbewegung in Richtung des Kopfes steuert zunächst die Konzentration auf ihn selbst, verleiht ihm ein Gefühl für sich, seine Empfindungen und jugendliche Identität. Diese Form der Selbstberührung und Selbstwahrnehmung lässt sich als Stärkung seiner Kompetenz deuten. Die Stabilisierung seiner Bedürfnislage ermöglicht ihm, sich besser zu konzentrieren. Passend zu seiner Körperbewegung artikuliert er langgedehnt „mhm“ und legt die Hand in den Nacken. Die Berührung des Nackens ist typisch für Menschen, die über etwas nachdenken. Er liest zunächst einzelne Satzteile, indem er mitten im Satz beginnt: „zähen gemeinsamen sachen“ dann „erbe“. Er liest den Satz ruhig vor und wiederholt ihn zweimal. Die anschließende, vorgebeugte Haltung ist noch konzentrierter als bisher: Die Selektionschwelle ist durch die Ablenkung kurz abgesunken, steigt dann aber wieder an. Nun liest er Wort für Wort: „Rockmusik gibt zähen gemeinsamen Sachen um das ERBE seit JAHREN MEHR politisch eingehende ARBEITSeinheiten“. Während des Wortes „politisch“ nickt er. Der Zusammenhang zur vorher ausgesprochenen Wahl von Politikern erscheint ihm hier wohl gelungen, dies löst Bestimmtheitssignale aus. Die Erzeugung der akustischen Struktur besteht jeweils aus einer Herausforderung, die Unbestimmtheitssignale erzeugt, aber mit jedem Gelingen auch Bestimmtheitssignale auslöst. Mit steigender Bestimmtheit nimmt die Konzentration zu, die Selektionsschwelle steigt. Nach einer kurzen Pause wiederholt er den letzten Satzteil ein zweites Mal, nun Wort für Wort und ruhig. Dabei nickt er zunehmend. Dies lässt sich so interpretieren, dass er sich in seinem Verständnis des Textes bestätigt sieht. Diese Bestätigung seiner Vorstellungen löst Bestimmtheitssignale aus. Jetzt wiederholt er das erste Wort dieses langen Satzes („Rockmusik“) und stellt fest, dass es sich um einen Satz handelt. Erst mit dem Übergang zum Anfang des Satzes merkt er also, dass die

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Sätze so doch nicht Sinn ergeben. Auf diese Irritation reagiert er mit der Überlegung, dass das alles ein einziger Satz sein könnte. Die Irritation löst also die Ausschüttung von Unbestimmtheitssignalen aus, der er aber mit der Erkenntnis begegnet, dass es sich insgesamt um einen einzigen Satz handelt. Diese Feststellung erzeugt eine Zunahme an Klarheit. Analog zu seinen einzelnen Worten bewegt er den Finger an der Seite des Stiftes jeweils ein kleines Stück auf und ab. Das Fühlen des Stiftes löst Selbstwirksamkeit aus und weckt das Gefühl, selbstwirksam handeln zu können; die Selbstwirksamkeitserwartung steigt. Im Laufe der nun folgenden beiden Wiederholungen beginnt er, den Satz zu rhythmisieren. Rhythmisieren gibt den Sätzen Struktur, schafft hervorgehobene und zurückweichende Silben. Diese Ordnung ergibt ein stimmiges Muster und erhöht die Bestimmtheit. Mit dem Erfolg eines entstehenden Rhythmus werden Effizienz-Signale ausgeschüttet. Die Selbstwirksamkeit wächst. Die Selektionsschwelle ist hoch. Aus der Hand- und Körperhaltung, sowie der Lesart wird der Versuch genau zu arbeiten erkennbar. Das Bilden verschiedener Rhythmen ermöglicht ein Austarieren des Auflösungsgrades. Hubert sucht also den zur Lösung des Problems passenden Auflösungsgrad. Dabei vollzieht er mit dem Oberkörper leicht kreisende Bewegungen, beugt sich vor und zurück, und bewegt in regelmäßigen Abständen und gut hörbar mit dem Daumen die Halterung des Stiftes. In seiner Körperhaltung spiegelt sich eine Vorgehensweise, bei der er sehr konzentriert verschiedene vage Vorstellungen nebeneinander im Gedächtnis behält. 67-72 #00:05:21-6 # < legt sich stärker nach rechts, schaut auf die Platte. < ROCKmusik gibt (.) ARBEIT (.) was hat das mit dem andern zeug zu tun? (.) millionen menschen die ÖFFnung zu bestimmen> < stützt sich mit der rechten Hand zwischen Ohr und Wange ab < ARBEIT (.) MUSIK kann MENschen (–) verÄNDERN (.) beWEgen (18.0) >. Mit der Hand am Hals beugt er sich zur Seite, legt sich förmlich auf den eingeknickten Arm und schreibt. Als er auch damit nicht weiter kommt, lehnt Hubert seinen Oberkörper weiter nach rechts, legt sich mit dem Hals gegen den Arm und zugleich in seine Handbeuge und kombiniert langsam sprechend und mit tieferer Stimme als vorher die ersten zwei Worte aus dem gelesenen Satzteil „Rockmusik gibt“ mit „Arbeit“. Dabei lässt er den zweiten Teil aus und verbindet den ersten mit dem dritten Teil, der „Arbeit“. Während er dies tut, nickt er rhythmisch mit dem Kopf. Hubert unterschlägt dazwischen liegende und sich anschließenden Worte. Dies ist einerseits dem sinkenden Auflösungsgrad zuzurechnen, bedeutet andererseits aber auch, dass er die einzelnen Satzteile aus ihrer grammatischen Struktur löst. Die Fragestellung „was hat das mit dem anderen zeug zu tun?“ ist in Dialekt formuliert. Zeug ist etwas, das man benutzt, das nicht sehr wertvoll ist und eher etwas Konkretes. Hubert drückt seinen wachsenden Ärger aus. Mit dem deshalb sinkenden Auflösungsgrad geht das Sinken der Selektionsschwelle einher. Hubert beginnt, diversiv zu explorieren. und liest „für hundertmillionen menschen die ÖFFnung zu bestimmen“. Danach hebt er den Kopf und blickt kurz nach rechts auf das Blatt mit der Aufgabenstellung, dann wieder auf die Platte. Langsam wiederholt er mit monotoner Stimme das Wort „Arbeit“.

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In einer Phase diversiver Exploration auf niedrigem Auflösungsgrad vergegenwärtigt sich Hubert also Repräsentationen verschiedener Satzteile und Begriffe. Das dabei entstehende Netzwerk ermöglicht das Erkennen übereinstimmender Merkmale. So wird der Gegensatz zwischen Arbeit und Musik durch einen Moment der Dynamik, der sich in allen drei Begriffen der Öffnung, Arbeit und Musik wieder findet, aufgehoben. Diese Öffnung ist für Menschen bestimmt. Es entsteht also die Idee, dass Menschen bewegt werden, dass diese Bewegung Veränderung bedeutet, und dass Musik diese Veränderung auslöst. Im folgenden Satz konstruiert er die Ansicht, dass Musik Menschen beeinflussen, verändern und in Gang setzen kann und schreibt dies auf. Dabei legt er die Hand in die Halsbeuge. Diese Geste ist typisch für Menschen in Schlafstellung oder kleine Kinder; sie signalisiert Ruhe, Geborgenheit und Entspannung. Er ist mit seiner Idee zufrieden. Noch in dieser Phase der Ideenfindung verändert er die Art, wie er den Stift hält: in Schreibhaltung bewegt er Daumen und Zeigefinger über dem Stift rhythmisierend zueinander, so dass sie sich streichen. Damit erzeugt er sowohl Struktur und Betonung, als auch Selbstwirksamkeit. 73-75a #00:05:50-8 # Er nimmt die Hand vom Kopf, legt sie an die Tischkante und schaut mit vorgebeugter rechter Schulter wieder auf die Platte

Er nickt und kommentiert mit zurückgehaltener Stimme, dass diese Idee das Erste sei. Dabei schiebt er die Schulter etwas vor. Vielleicht ist es ihm peinlich, dass ihm noch nicht mehr eingefallen ist; vielleicht macht er sich aber auch Gedanken, weil er eine persönliche Konstruktion gezeigt hat. Die Vorstellung, dass seine Leistung nicht ausreichend gewesen ist, könnte kompetenzmindernd wirken. Nicht ungewöhnlich ist für Hubert, dass er sich schnell dem nächsten Absatz zuwendet, während er abschließend noch etwas zum erledigten Gedankengang sagt. Der oben beschriebene körperliche Ausdruck könnte also andererseits auch damit zusammenhängen, dass er sich schon dem nächsten Bereich zuwendet. Mit der nun einsetzenden Verifikationsphase hinterfragt er kritisch, ob das, was er herausgefunden hat, stimmig ist. Damit könnte seine frisch gewonnene Kompetenz wiederum gefährden. 75b woohnviertel (.) schule (.) schule (–) mit (–) fahrrädern > < beugt sich vor und bewegt den Stift leicht in Richtung der Platte < hm was ist das da im bild hm (.) erkennt man nicht (.) > Hubert wendet sich bei sinkender Selektionsschwelle dem Bild zu und beginnt, zu beschreiben, dort sei ein Wohnviertel zu sehen, eine Schule und Fahrräder. Das Wort Schule wiederholt er und fügt die Fahrräder hinzu. Dann sieht er etwas, das er nicht ausreichend erkennt, um es zu identifizieren. Offensichtlich werden hier auch keine Assoziationen geweckt und insofern tritt auch keine Interpretation ein, was das sein könnte. Anders als bei der Interpretation der Worte überlegt Hubert nicht, was das sein könnte. Vielmehr geht er beim Bild eher als beim Wort davon aus, dass das, was er aufgrund eigener Erfahrungen und abgebildeter Schemata interpretiert, auch dort ist. Insofern führt das Betrachten des Bildes zu einer Zunahme an Selbstwirksamkeitsund Bestimmtheitssignalen. Mit der Hinwendung zu etwas schlecht erkennbarem setzt sich Hubert erneut Unbestimmtheit aus, was letztlich zu sinkender Selektionsschwelle

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und nach Dörner (2008) zu einem Motivwechsel führen kann. Hubert arbeitet nun entsprechend wieder mit dem Text, und zwar mit einem Satzteil, den er schon gelesen hatte: 76-77 #00:06:06-7 # rückt kurz zurück, < guckt nach rechts auf das Blatt < ähm (.) ja tyrranei hat das produkt immer ins blickfeld gerückt (.) das könnte mit nem afrikanischen diktator (2.0) diktatur (.) ja (.) passt > zeigt kurz auf den Text, und betrachtet weiter die Platte Er liest den ersten Satz und wandelt dabei den unbestimmten Artikel in einen bestimmten Artikel um. Am Blick nach rechts auf das Arbeitsblatt und an der bestätigenden Formulierung „ja“ wird deutlich, dass es um eine Verifikation seiner vorherigen These geht. Er überlegt also mit Blick auf sein Arbeitsblatt noch einmal, ob dies mit dem, was er dazu aufgeschrieben hat, zusammen passt. Der Begriff „passen“ hat im fränkischen Dialekt auch die Bedeutung, dass man zufrieden mit einer Sache ist. Die Formulierung belegt damit das Streben nach Stimmigkeit und Erfolg, Selbstwirksamkeit und Bestimmtheit nehmen zu. 78-82 #00:06:06-7 #< Zeigefinger liegt auf der unteren rechten Ecke der Platte < mh (.) der provinzen sprach das sweatshirt des politbüros leute zu (2.0) rockmusik gibt zähen gemeinsamen SAchen um das erbe seit JAhren mehr politisch einher gehender> (.) die sätze sind irgendwie (2.0) total (.) kompliziert geschrieben (3.0) um für hundertmillionen menschen die öffnung zu bestimmen °h h° (–) für hundertmillionen menschen die öffnung zu bestimmen (–) > < dreht den Stift in der Hand dreizehnmal herum, dabei beginnt er sich auf den Ellbogen auf zu stützen. Er fasst sich mit der anderen Hand an die Käppi < mh (.) das könntee (.) musik kann menschen bewegen (.) Nun liest er den Text durch und wiederholt den letzten Satzteil. Kurz vor dem Wort „Arbeitseinheiten“ liest er flüsternd weiter und fügt ein, dass die Sätze kompliziert geschrieben seien. Diese Wahrnehmung könnte darauf zurückzuführen sein, dass er sich als Schüler nicht zutraut, zu behaupten, dass die Sätze keinen Sinn machen. Hubert drückt hier also einerseits seinen Ärger darüber aus, dass es ihm nicht gelingt, einen Sinn zu erkennen, andererseits sucht er auch nach einer Begründung dafür. Dieses Eingeständnis beeinflusst aber die Wahrnehmung seiner eigenen Kompetenz negativ. Die antizipierte Erwartung, dass er es schaffen kann, sinkt damit erheblich. Diese Veränderung seiner Haltung zeigt sich an mehreren Faktoren: Er zieht die Nase hoch, liest den letzten Satzteil und zieht die Nase nochmals hoch. Das Hochziehen der Nase ist eine Verhaltensweise, die mit einer Erkältung, mit Frust und Regression, und - hier einleuchtend - mit kindlichem Verhalten zusammenhängen kann. Dann wiederholt er den letzten Satzteil noch einmal, bevor er seine Hypothese, dass Musik Menschen bewegen kann, noch einmal formuliert. Währenddessen dreht er den Stift mit aufgestütztem Ellbogen dreizehnmal im Kreis. Es zeigt sich ein Aufgewühltsein, ein Bedürfnis danach, sich Luft zu machen und Dynamik auszulösen. Die in sich geschlossene Kreisbewegung repräsentiert außerdem Ganzheitlichkeit, Einheit oder

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Stimmigkeit, die er erzeugen will und doch nicht kann. Zugleich berührt er mit der anderen Hand sein Käppi, vermutlich eine Geste, die ihn in seiner Identität als Jugendlicher (der Musik macht) bestätigt. Indem er die ganze Dynamik seines Ärgers äußert, versucht er sich zu motivieren, den Satz noch einmal durch Kopfnicken rhythmisierend zu lesen und die nach wie vor bestehende Uneindeutigkeit zu beseitigen. Dieser vorletzte Absatz zeigt mit aller Deutlichkeit, welcher Widersprüchlichkeit Hubert hier ausgesetzt ist. Einerseits gelingt es ihm, seine Ideen zu verifizieren, andererseits bleibt ein hoher Anteil an Ungewissheit. Das Eingeständnis, dass er den Text schwierig findet, beeinflusst seine Kompenzentwicklung vermutlich negativ. Dies liegt nicht nur an der Tatsache, dass er die Sätze kaum versteht, sondern zusätzlich an der Feststellung, dass sie zu kompliziert für ihn seien. Dies setzt einen Rückkopplungseffekt in Gang: obwohl er seine Idee verifizieren konnte, glaubt er den aufkommenden Gefühlen der Inkompetenz und wird unsicher. Dies zeigt sich z.B. darin, dass er mit „könnte“ den Konjunktiv verwendet und dehnt und beeinflusst seine weitere Vorgehensweise: Im nächsten Absatz liest er den Satz noch einmal, gibt dann aber auf. 83-84 #00:06:47-8 # den provinzen sprach das sweatshirt des politbüros leuten zu (–) rockmusik gibt zähen gemeinsamen sachen um das ERBE seit JAHREn mehr politisch einhergehende ARBEITSeinheiten (.) ( ) mhm da fällt mir nichts mehr zu ein (10.0) Das rhythmisierende Lesen des Satzes dient vermutlich als Verifikation. Es bietet ihm aber auch noch einmal die Möglichkeit, eine dahinter liegende Struktur zu erkennen. Die Konzentration auf das Rhythmisieren führt zu einem sinkenden Auflösungsgrad. Damit hat er auch die Chance, dass seine Bestimmtheit und Kompetenz noch etwas ansteigen. Wie er selber feststellt, fällt ihm aber weiter nichts mehr dazu ein. Er verlässt den Raum. 6.5.2 Zusammenfassung Versuch 1 - Hubert Das Unbekannte erzeugt Neugier (1-2). Hubert exploriert spezifisch: Er liest (3). Weil der Text semantisch nicht richtig ist, ist er irritiert. Er fragt und bewertet den Text als unsinnig (4). Trotzdem exploriert er erneut (5). Er wechselt zum Bild. Zunächst beschreibt er das Bild, dabei interpretiert er die Bildinhalte sofort und erstellt eine Ordnung. Die Bestimmtheit nimmt zu (6). Er gleicht das Gebäude auf dem Bild mit vorhandenen Schemata ab (zunächst Abnahme an Bestimmtheit) (7) und ordnet das Bild entsprechend ein (dieser Vorgang erzeugt Bestimmtheit) (8). Wiederum ordnet er das, was er sieht, einem bekannten Schema zu (9). Dann wechselt er zum Text, exploriert (10). Er wiederholt das Gesagte ungenau und konzentriert sich zeitgleich (!) auf das Bild (die Selektionsschwelle sinkt also, er exploriert diversiv) (11). Hubert vergleicht das, was er sieht, mit seinen Gedächtnis-Schema (12). Er singt eine Tonfolge und erzeugt damit Ordnung (Bestimmtheit) und Selbstwirksamkeit (13). Er exploriert wieder spezifisch (14). Die entstehende Irritation führt zu einer Frage und diversiver Exploration (15-16). Hubert sucht nach übergeordneten Zusammenhängen (15-16). Nun äußert er eine zu den einzelnen Komponenten stimmige Hypothese (17). Dann

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exploriert er wieder spezifisch (18), wobei er zunehmend rhythmisiert. Dadurch entsteht sowohl eine akustische Ordnung (Bestimmtheit), als auch das Gefühl und die Erwartung, selbstwirksam handeln zu können (19). Dies mündet in eine Definition, was zusätzlich Klarheit schafft (20). Wieder liest Hubert, d.h. er exploriert spezifisch (21). Durch Betonung versucht er erneut, eine sinnhafte Struktur zu finden (22). Als dies nicht gelingt, sinken Kompetenz und Bestimmtheit (23). Er wiederholt den Satz (25). Dies führt nicht zum erwarteten Ziel. Er probiert den nächsten Satz aus (24). Die spezifische Exploration hat nicht zur Folge, dass er den Text besser versteht. Die Aktivierung geht in die Höhe, der Auflösungsgrad sinkt; er verspricht sich (26-27). Er gleicht Arbeitsauftrag und Material miteinander ab (28). Hubert sucht nach hinter der vordergründigen Bedeutung liegenden Struktur durch Rhythmisieren. Die entstehende akustische Ordnung erzeugt Bestimmtheit (29). Mit steigenden Kompetenzgefühlen fragt er nach Zusammenhängen (30). Er liest den ganzen Absatz. Dabei liest er den Text nur ungenau vor: Einzelne Satzteile fehlen, oder werden abgewandelt. So wird Rockmusik personifiziert zu Rockmusiker. Die Bestimmtheit wechselt infolge des schnellen Abgleichs mit Unbestimmtheit. Hubert wiederholt den letzten Satzteil und strukturiert durch akustische Betonung (31-35). Die sinkende Bedürfnislage führt zu einem Motivwechsel. Hubert ist hoch aktiviert. Er setzt sich so, dass er vom Arbeitsauftrag aus auf das Material blickt. Dabei bezieht er den Arbeitsauftrag auf sich (36). Er fasst die abgerufenen Schemata unter einem übergeordneten Merkmal zusammen: es gehe um Menschen. Die Bestimmtheit wächst. Die abgerufenen Schemata gleicht er mit Hinweisen und Lücken aus Text und Bild ab. Er ergänzt, dass es sich um Jugendliche handle (37). Er verifiziert die Annahme, dass es sich um Jugendliche handelt, durch etwas, dass er im Bild zu sehen meint, (38) verwirft diese Vorstellung bei genauerem Hinsehen (Auflösungsgrad, spezifische Exploration) dann wieder (39). Wieder exploriert er durch Lesen des ersten Satzteils. Er gleicht die im Text abgerufenen Schemata mit den vorherigen ab (40) und stellt sich dem Arbeitsauftrag. Dies hat zur Folge, dass er verstärkt Schemata aus dem eigenen Lebensumfeld abruft (41). Aus dem Abgleich von Jugendlichen und Tyrannei entsteht die Idee von Mobbing. Die Bestimmtheit wächst, die Selbstwirksamkeitserwartung steigt (42). Mit steigender Kompetenz exploriert er wieder. Er liest den nächsten Satzteil (43) und fragt, unterbrochen von Pausen und Versprechern, nach dessen Bedeutung. Anhand der verschiedenen eröffneten Gedächtnisschemata kann er die entstandene Unbestimmtheit durch Konstruktion einer neuen Idee beseitigen (45). Er verifiziert seine vorher gemachten Überlegungen, indem er die zentralen Worte wiederholt und die damit zusammenhängenden Schemata nochmals abruft. Die Bestimmtheit nimmt zu (46-47). Er exploriert erneut, indem er den nächsten Satzteil liest (48). Er bemängelt, dass ihn das Geräusch der Kamera stört. Die Konzentration sinkt mit den erreichten Zielen, den ersten Ideen. Während die Selektionsschwelle sinkt, ist der Auflösungsgrad noch hoch und führt zur Wahrnehmung noch unwichtiger Details (49). Nach der Ablenkung konzentriert sich Hubert wieder und liest den nächsten Textabschnitt. Ihm fällt zum ersten Mal auf, dass er das Wort „einhergehender“ bisher falsch gelesen hat (50). Noch einmal versucht er, die Konzentration durch eine Berührung am Kopf zu erhöhen (51). Statt dessen wird er durch eine Nachricht auf dem Handy noch stärker abgelenkt. Die Selektionsschwelle sinkt (52). Durch Rhythmisieren des Textes versucht er sich zu konzentrieren (53). Stichwortartig wiederholt er seine Ideen: „afrikanisches

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Land“, und „Diktatur“ (54-55) und schreibt letzteres Wort auf. Die Bestimmtheit nimmt zu, obwohl nichts Neues hinzukommt, weil er das Vorhandene sichert (56). Selbstbewusst kann er in die Rolle eines jugendlichen Moderators einsteigen und sich selbst auffordern, Brainstorming zu machen. Dabei spricht er nicht nur sich, sondern eine informelle Gruppe an. Er stellt sich hier also nicht nur als Einzelperson, sondern als Leiter einer Gruppe von Menschen dar, mit denen er gemeinsam ein Problem bewältigen will. So erreicht er die Ausschüttung von Legitimationssignalen und fühlt sich der Situation besser gewachsen. Die Erfolgserwartung steigt (57). Mit dem Ziel, die Unbestimmtheit zu beseitigen, fragt er erneut nach den Zusammenhängen (58). Durch diversive Exploration sammelt er Nomen zum Thema. Die Kompetenz und Bestimmtheit steigt (59). Flüsternd exploriert er erneut und liest den Text (60). Der Abgleich der vorhandenen und durch Brainstorming aufgekommenen Schemata mit dem Text führt zu einer stimmigen neuen Idee (61). Er schreibt die Idee auf. Das führt zur Vermehrung von Bestimmtheit und Kompetenz (62). Nun beginnt er den nächsten Textabschnitt mitten im Satz, liest ihn bis zum Ende, wiederholt ihn und fügt dann das erste Wort des Satzes an. Dann stellt er fest, dass es sich um einen einzigen Satz handelt (63-64). Er wiederholt den Textabschnitt noch zweimal von vorne bis zum vorletzten Satzglied, wobei er zunehmend rhythmisiert. Das Lesen des Textes führt zunächst zu wechselnder Bestimmtheit. Mit Erstellung einer ästhetischen Ordnung kommt es zunehmend zur Erfüllung von Bestimmtheits- und Kompetenzbedürfnissen. Der Auflösungsgrad schwankt zwischen Differenziertheit beim Abruf konkreter Schemata und der Konzentration auf den groben Überblick (65-66). Aus der gewonnenen Kompetenz heraus hat er den Mut und die Idee, das erste Wort des vorgelesenen Satzteiles mit dem letzten in Zusammenhang zu bringen (67). Er fragt nach dem Sinnzusammenhang mit den anderen Satzteilen, die Bestimmtheit sinkt wieder (68). Nun liest er den letzten Satzteil, der in der Wiederholung noch fehlte (69). Er wiederholt das letzte der beiden hinzugekommenen Worte. Damit vergegenwärtigt er sich dieses kognitive Schema noch einmal (70). Jetzt verbinden sich die verschiedenen Gedächtnisschemata zu einem stimmigen Gesamtkonzept. Aus Rockmusik wird Musik, aus der Öffnung des letzten Satzteils wird Veränderung, Bewegung (71). Zufrieden schreibt er das für ihn stimmige Konzept auf. Die Bestimmtheit ist jetzt hoch, er fühlt sich kompetent (72). So wendet er sich wieder dem Bild zu. Er beschreibt und interpretiert dabei, was er dort sieht (73). Schnell stößt er auf Dinge, die er nicht erkennt, fragt danach (74). Die Unfähigkeit zu erkennen, was dort vor sich geht, führt zu wachsender Unbestimmtheit (75). Die Selektionsschwelle sinkt, es kommt zum Motivwechsel. Er wiederholt das, was er schon gelesen hat, ändert dabei aber die grammatische Struktur (76). Das Gelesene verbindet er mit seiner zweiten Idee und kommt zum Ergebnis, dass dies stimmig sei. Damit tritt er in eine Verifikationsphase ein (77). Nun liest er weiter, beginnt dabei zunehmend zu flüstern (78) und stellt fest, dass die Sätze kompliziert sind. Er reflektiert die Unklarheit nun auf einer theoretischen Ebene. Die Erwartung, eine stimmige Lösung zu finden, sinkt. Aus Verzögerungslauten, Gestik und Mimik wird deutlich, dass er frustriert ist (79). Er liest den letzten Satzteil zweimal, unterbrochen durch hörbares Aus- und Einatmen (80-81). Noch einmal wiederholt er seine zentrale Idee und beginnt, sie in einen Zusammenhang zu setzen, unterbricht sich dann aber (82). Er liest vom zweiten Satz bis zum Schluss (83). Es kommt zum Motivwechsel. Er gibt auf (84).

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Teilstudie I: Darstellung der empirischen Ergebnisse

6.5.3 Hypothesen Versuch 1 - Hubert Hubert zeigt Ausdauer, Durchhaltevermögen und hohe Frustrationstoleranz: Neben Hannah braucht Hubert für den Versuch besonders lange. Er verfügt sowohl über ein Repertoire an Strategien, mit denen er sein inneres Gleichgewicht erhält als auch über Entdeckungs- und Modifikationsheurismen. Hubert hat als Ausgangsbasis hohe Kompetenz. Die daraus erwachsende psychische Stabilität erhöht seine Problemlösekompetenz. Unbestimmtheit macht ihn deshalb neugierig und führt zu intrinsisch motivierter Explorationstätigkeit. Die Exploration führt zur Beseitigung von Unbestimmtheit durch das Erstellen von Ordnungen. Dabei versucht er nach eigener Aussage (s. Versuch 3), strategisch vorzugehen. Erkennbar ist, dass er schrittweise von Satz zu Satz vorgeht. Dabei spielt er mit verschiedenen Herangehensweisen. Er erstellt akustische Ordnungen. Das körperliche Aufgreifen und Unterstützen von Rhythmen führt zur Ausschüttung von Selbstwirksamkeits- und Bestimmheitssignalen und trägt damit zur Kompetenzregulation bei. So findet er immer wieder neu den Mut, verschiedene Schemata miteinander abzugleichen. Als er aufgeben will, fordert er sich selber auf, Brainstorming zu machen, schlüpft dabei in eine Rolle, die ihm Pflichtgefühl vermittelt und das Zutrauen anderer in ihn beinhaltet. Aus dieser affiliativen Bedürfnisbefriedigung schöpft er Mut, durchzuhalten. Hubert äußert seinen Ärger und gibt fast auf; bei niedrigem Auflösungsgrad verbinden sich eigene Ideen und Satzteile, die vorher unverbunden waren, zu einer neuen Idee. Das Erstellen einer akustischen Ordnung unterstützt möglicherweise das Bilden von Hotspots. Durch Rhythmisieren versucht Hubert demnach, über implizite Prozesse Ordnungen zu erkennen oder zu erstellen. Das Erzeugen von Rhythmen führt dazu, dass er das, was er tut, mit positiven Emotionen verbindet. Damit unterstützen die Rhythmen seine Konzentration und steuern die Aufmerksamkeit auf das Material. Damit die Rhythmen passend ineinandergreifen, muss er Satzteile weglassen. Die rhythmischen Betonungen der Hand unterstützen diesen Prozess. So entwickelt er eine übergeordnete Struktur für den Text. Über das spielerische Erstellen einer akustischen Struktur kann ein Gleichgewicht zwischen einzelnen Komponenten und dem sich daraus ergebenden rhythmischen Gesamtbild geschaffen werden. Die Hypothese, dass es sich um einen Unfall handelt, könnte aus solch einer holistischen Beobachtung heraus entstehen, bei der die gesamte Stimmung auf dem Bild mit Einzelbeobachtungen ins Verhältnis gesetzt und kombiniert wird. 6.5.4 Versuch 2 - Hubert Hubert legt die Gegenstände auf dem Tablett nur einmal um. 1 2 3 4 5

so (.) was ham wir hier (.) besteck schrauben zieher (.) stapel (.) ein GEFÜLLTES gefüllt? (.) gefüllt (.) ja ein gefülltes tintenfass irgendwelches (.) schwamm (.) gedönse stift (.) was will diese aufgabe bezwecken? (.) Irgendwie find ichs ja lustig ordne die gegenstände so an dass dus SCHÖN findest (-) dass ichs SCHÖÖN finde (-) OKAAAY (–) mhm (.) ich könnts ORDNEN

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(.) schaun wer doch mal passt der so rein? SIEHT GUT AUS (–) ah ja ich glaub das find ich SCHÖN (0.9) mhm bestimmt geht daraus hervor, dass ich (.) die aufgabe wird nichts definitiv (.) egal ich darf hier hin mal was ich will (.) sind ja MEINE gedanken (.) was könnte man (.) struktur (.) es (.) te (.) er (.)u: (.) ka (.) te (.) u: (.) er (.) und noch ein es (.) das nehm ich als s (.) keine ahnung was ich da gemacht hab (.) aber es fällt mir immer ein wort mit s ein und dadurch dass ich ja immer ein bisschen strukturiert (.) versucht hab zu denken ähm (.) struktur (.) es wird keiner erkennen was ich gemacht hab keine ahnung (.) kartenstapelhaus (.) aber wir müssen bandprobe machen(.) ich mal ein dreiecke hin (.) ich soll das bild ergänzen (.) pff(.) malen wir doch (.) dreiecke hin (—) jetzt ist es kein dreieck geworden sogar noch ein rechtwinkliges (.) oh mann (.) so viel zum thema sinnvoll ergänzen (.) steht ja gar nicht sinnvoll (.) kreativ kreativ (.) KREATIV (.) dope (.) eL eS (.) looking (.) for what (.) todays todays todays (.) stift (.) links rechts L R okay (.) fahren wir doch da noch mal nach (.) weil ichs kann (.) aäm (.) bla bla bla bla bla bla .(.) blablabla gute Idee (.) BLABlabla (.) so ich weiß zwar nicht ob das wirklich zum ergebnis beitragen kann aber egal (.) ich (.) lacht ich hab wenigstens wie bei den andern aufgaben versucht was heißt ich habs nicht versucht ich habs ja doch versucht aber irgendwie kam so der richtige gedankenblitz nich (.) so (.) erzähl ich noch irgend ja also ich hab dreicke gemalt (–) lacht das ist total sinnlos was ich da mach (.) was also ich ha ist zwar nicht kreativ aber egal obwoh::l (.) nö (.) ist nicht kreativ

Hubert kommt durch den Auftrag, kreativ zu sein, von Anfang an unter Druck. Er reagiert darauf mit Selbstkritik, Herumspielen und Reflexion. Vor allem spielt er mit Lauten, Reimen und Worten. So schiebt er auch gleich anfangs eine kleine Melodie ein. Er beginnt damit, dass er den grünen Stift nimmt, den er dann aber gegen einen

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Teilstudie I: Darstellung der empirischen Ergebnisse

Abbildung 6.18: Zeichnung Hubert grauen austauscht. Zunächst zeichnet er aus dem Winkel ein Hexenhäuschen und ein zweites daneben. Dann sagt er den dazugehörigen Reim auf. Nun verurteilt er dieses Vorgehen. Er übertreibt mit Stimme und Worten. Die etwas ironische Selbstkritik, das sei ja unheimlich kreativ und werde nichts, mündet in die Feststellung, dass er Hunger hat. Wieder ärgert er sich, dass er schon lange nicht mehr so kreativ gewesen sei und dass das Ergebnis nichts sei. Währenddessen wendet er sich der Schlangenlinie zu und ergänzt diese mit einer parallel verlaufenden Linie zu einer Form. Dann reflektiert er, dass es nicht darauf ankomme, dass es seine Gedanken sind und dass er malen kann, was er möchte. Nun wechselt er wieder zum Hexenhaus und zeichnet die Buchstaben von dem Wort „Struktur“ hinein. Noch während er zeichnet, stellt er fest, dass diese im Nachhinein nicht mehr erkennbar sein werden. Er kommentiert, ihm falle immer ein Wort mit „S“ ein und er habe ja die ganze Zeit versucht, strukturiert zu denken. Entsprechend erfindet er das Wort „Kartenstapelhaus“. Nun fällt ihm ein, dass die Zeit drängt, weil er zu einer Bandprobe gehen muss. Er ergänzt zur Schlangenlinie Dreiecke. Auch hier stellt er während des Zeichnens fest, dass das eine Dreieck krumm geworden sei. An einer anderen Stelle passe noch eines dazwischen. Wieder mit einem anderen Dreieck ist er zufrieden. Das sei sogar rechtwinklig. Er ärgert sich „Oh Mann“, das sei nicht ausreichend zum Thema „sinnvoll ergänzen“. Dann stellt er fest, dass in der Aufgabe nicht „sinnvoll“ stand, sondern „kreativ“. Er äußert weiter rhythmische Reime und Gedanken. Daraufhin macht er sich Gedanken, ob das ein hilfreicher Beitrag zur Forschung war und stellt fest, dass ihm die Idee gefehlt habe. Er beurteilt, was er gemacht habe, sei auch nicht kreativ. 6.5.8 Zusammenfassung Versuch 3 - Hubert Hubert hat sofort beim Anschauen der Linien eine Assoziation. Aber er verfolgt sie nicht weiter und verwirft sie. Zwischen der Assoziation und dem Verwerfen liegt das Lesen des Arbeitsauftrags, die Anforderung, etwas kreativ zu zeichnen und die

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irritierte Frage, was er da malen kann. Diese Anforderung hemmt Hubert. Sie führt unmittelbar zu Kompetenzregulation (Singen und Ersatzhandlung) und Unlust. Die Unlust geht mit Ungewissheit einher - etwa der Frage, ob die Idee gut ist, oder ob er sich blamiert, wenn er malt. Die damit zusammenhängende negative Valenz beeinflusst seine Entscheidung. Der Auflösungsgrad sinkt, er denkt nicht mehr differenziert und subsummiert, dass die Idee nicht in den Zusammenhang passt (Zeichnen hat nichts mit Buchstaben zu tun). Die neuronale Hemmung wird also ausgeweitet und führt dazu, dass er sich von seiner Idee abwendet. Dann aber entscheidet er sich, die Sache mit Humor anzugehen. Er zeichnet ein vorgegebenes Muster, zu dem ein Reim gehört, behauptet, das sei eine hervorragende Leistung und erklärt lachend, dass das ungeheuer kreativ sei.

6.5.9 Hypothesen Versuch 3 - Hubert Die Anforderung, kreativ zu sein, hemmt das kreative Verhalten von Hubert. Die Sorge, dass er nicht die gewünschte Leistung erbringen kann, führt zum Leeren seiner Bedürfniskessel. Seine Bestimmtheit sinkt, weil er nicht weiß, ob er Ideen haben wird und diese umsetzen kann; die Affiliation ist niedrig, weil es Anderen gegenüber peinlich werden könnte und seine Kompetenz ist niedrig, weil er sich nicht zutraut, das Problem zu bewältigen. Es kommt zu einem Arousal. „Arousal“ ist ein psychologischer Fachbegriff, der einen Zustand äußerster Aktiviertheit beschreibt, die durch das „AuSS“ (Allgemeines unspezifisches Sympathikussyndrom) gesteuert wird (Dörner, 2008, S. 539). Das Arousal erhöht die Bereitschaft, etwas zu tun und erzeugt entweder zielgerichtetes Handeln oder Entschlusslosigkeit und Ausprobieren verschiedener Aktivitäten (Dörner, 2008, S. 536ff). Hubert versucht zuerst durch Ironie Bestimmtheit und Kompetenz zu erlangen. Damit, dass er überspitzt das Gegenteil von dem tut, was er behauptet und sein Handeln z.B. als „unheimlich kreativ“ bezeichnet, erzeugt er Unbestimmtheit, die von ihm selbstbestimmt und insofern selbstwirksam reguliert wird. Er lacht und baut damit seine Kompetenz auf. Auch zeichnet er spielerisch eine Schlangenlinie, die aber nicht fortgesetzt wird, weil er denkt, dass er den Anforderungen nicht gerecht werden wird. Er antizipiert also seinen Misserfolg noch während der Ausführung seiner Tätigkeit. Hubert kann sich hier also nicht auf die Unbestimmtheit einlassen, die er in Bezug auf Silben und Reime so spielerisch verfolgt. Durch ästhetischen Abgleich, Rhythmen, Reflexion und aggressiven Humor reguliert Hubert seine Bestimmtheit und erlangt so Selbstwirksamkeit. Hubert sieht in den Linien Buchstaben und sucht dazu Worte. Sein Denken ist hier also weniger von Bildern geprägt, als von Lauten, die sich zu Worten formen. Dies äußert sich auch darin, dass er mit einem Reim beginnt. Der Reim enthält Rhythmen, die sich auch in der Zeichnung der Häuschen wiederfinden. Auch die Buchstaben, die er in die Häuschen malt, geben einen Rhythmus wieder. Ebenso reihen sich die Dreiecke im unteren Viertel rhythmisch einander abwechselnd aneinander. Aus ihnen erwächst die zu einer Rundung erweiterten S-Form, an deren Rand er „blablabla“ schreibt. Worte, Rhythmen, Laute und Formen fließen also ineinander zu geordneten Strukturen.

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Teilstudie I: Darstellung der empirischen Ergebnisse

Damit drückt er seine Unzufriedenheit über sich aus. Aus dem Ausdruck seiner Befindlichkeit ergibt sich ein Rhythmus. Zeichnerisch stellt er verschiedene Strukturen dar. Hier wie in den anderen Versuchen zeigt Hubert, dass er sich durch Reflexion immer wieder und länger als andere Untersuchungsteilnehmenden aufraffen kann, mit dem Material herumzuspielen. So sagt er: „egal ich darf hier hin malen was ich will (.) sind ja MEINE gedanken“ (Hubert_Bild_Tab. 14). Reflexion stellt ein Instrument dar, anhand dessen er seine eigenen Bedürfnisse erkennen und die von außen kommenden in Relation dazu setzen kann. Über die Reflexion kann er den Anspruch an sich relativieren und zeichnerisch herumspielen. Hubert kann durch Reflexion sein Verhalten ändern. Zusammenfassend ergeben sich fünf Phänomene, durch die er seine Kompetenz und Bestimmtheit reguliert: erstens führt das Herumspielen mit Worten, Rhythmen und Lauten zu Entspannung; zweitens reguliert er durch die Erfahrung von Rhythmus, das Ineinandergreifen von Lauten und Worten und den Abgleich von Schemata Wechsel in der Bestimmtheit; drittens führt der Ausdruck seiner Befindlichkeit zu erhöhter Selbstwirksamkeit und viertens reagiert er mit zynischem Humor. Zynischer Humor ist dem aggressiven Humor zuzurechnen und stellt ebenfalls eine Bestimmtheitsregulation dar. Bedenkenswert ist, wie die Hemmung den Ausbau von durchaus vorhandenen Ideen verhindert. Beispielsweise ist bei der Zeichnung keine Widerfahrnis zu beobachten, weil Hubert stärker mit dem Abbau der Hemmung beschäftigt ist, als mit der kreativen Aufgabe an sich. Von Sabisch (2009) werden mit Bezug auf Waldenfels (2010) Widerfahrnisse als Bruch gesehen, der durch etwas von außen Kommendes ausgelöst wird. Die Person, der eine solche Widerfahrnis geschieht, ist zunächst passiv, an ihr geschieht etwas, das sie dann aber sinngebend einordnet und durch eine Reaktion beantwortet. Widerfahrnisse können auch Störungen sein, die z.B. aus Berührtwerden durch Fremdes entstehen können. Kennzeichnet ist, dass es sich um einen Prozess handelt, über den das Individuum nicht verfügen kann (Sabisch, 2009, S. 8ff). Bevor er zulassen kann, dass ihm etwas geschieht, muss Hubert seine Kompetenz aufbauen. Da er aber der festen Überzeugung ist, dass er nicht kreativ ist, ist seine kreative Selbstwirksamkeitserwartung dazu zu niedrig. Dies entspricht den Untersuchungen Beghettos (2010), der dazu rät, dem Aufbau kreativer Selbstwirksamkeit im Unterrichtsgeschehen Priorität einzuräumen. Der Auftrag, kreativ zu sein, bedroht Huberts Kompetenz. Hubert fühlt sich durch den Auftrag, kreativ zu zeichnen, massiv unter Druck gesetzt und in seiner Kompetenz bedroht. Auf die dadurch entstehende Unlust reagiert er mit zynischem, selbstabwertendem Humor. Ironie wirkt als Hintergrundstimmung auf den gesamten Zeichenprozess. Vorrangig wird für ihn also in dieser Situation, seine Kompetenz zu regulieren.

6.5.10 Zusammenfassende Hypothesen - Hubert Unbestimmtheit ist für Hubert grundsätzlich mit positiver Valenz verbunden. Deshalb löst sie Neugier und Exploration aus. Unbestimmtheit stellt für Hubert einen hohen Aufforderungscharakter dar.

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Hubert fühlt sich in Versuch 1 und 2 kompetent. In Versuch 3 sinkt durch den Auftrag, kreativ zu handeln, seine Kompetenz. Es kommt zu einem Arousal, Hubert reagiert mit Ironie und Kompetenzregulation. Bei hoher Kompetenz wendet Hubert viele Strategien an, um Unbestimmtheit zu beseitigen. Deshalb hält er lange durch und entwickelt eine hohe Frustrationstoleranz. Hubert beseitigt Unbestimmtheit durch ordnende Prozesse. Nach eigener Aussage versucht er in allen drei Fällen strukturiert vorzugehen. Beobachtbar ist schrittweises Vorgehen. Dies zeigt sich besonders im ersten und zweiten, aber auch im dritten Versuch. In allen drei Versuchen wird Hubert im Hinblick auf seine Stimme, auf Rhythmisieren und Wortspiele kreativ. Dabei spielt er vor allem mit Silben, Worten, Rhythmen und Lauten. Mit dem Wort Herumspielen meine ich zielloses, an der ästhetischen Wahrnehmung orientiertes Explorieren und Ausprobieren. Akustische Ordnungen integrieren einzelne Komponenten in ein Gesamtbild. so dass die holistische Betrachtung mit Einzelelementen ins Verhältnis gesetzt wird. Über Betonung und „Enttonung“ unterscheidet Hubert entscheidende von unwichtigen Wörtern. Hubert erhöht also durch Rhythmisieren, Wortspiele und Reflexionen seine Selbstwirksamkeit und Bestimmtheit. Auch Lust und Humor dienen der Unbestimmtheitsregulation. Durch das spielerische Hineinversetzen in eine Rolle erreicht Perspektivwechsel und Durchhalten. Hubert stellt fest, dass Schönheit keine funktionale Ordnung ist. Er durchbricht die einfach geregelte Ordnung, weil die Ordnung nach einer Regel nicht stimmig ist; die ästhetische Lösung ist dagegen nicht ganz erklärbar. Sie ist geheimnisvoll und enthält Spannung, die Dynamik und zugleich Wohlgefühl auslöst. Hubert findet sowohl in schrittweisen Abgleich-Prozessen mit wechselnder Bestimmtheit als auch durch Wechsel zum niedrigen Auflösungsgrad Ideen. Über die grobe Verbindung der verschiedenen Inhalte, bei der er sowohl deren Bedeutung, als auch deren grammatische Struktur abändert, kommt eine seine Sicht transformierende Idee auf. In den Versuchen eins und zwei lässt Hubert zu, dass das Material seine Sicht transformiert. In Versuch 3 ist er zu sehr mit Kompetenzregulation beschäftigt, um sich darauf einlassen zu können. Durch Reflektieren erlangt er Selbstwirksamkeit und Selbsterkenntnis und relativiert von außen kommende Ansprüche. So ermöglicht seine Reflexionsfähigkeit Verhaltensveränderung und Durchhaltevermögen: 6.6 Fallanalyse Horst Von diesem Untersuchungsteilnehmer berichtet mir die Mutter im Anschluss an die Interpretation, dass er als Kleinkind abends nicht einschlafen konnte. Die Eltern hätten ihm schließlich ein Brett mit Papier und Stiften neben das Bett gelegt, woraufhin er sich regelmäßig in den Schlaf malte. Für Versuch 1 benötigt Horst 4.02 Minuten. Er entwickelt eine Geschichte, die sich kaum in einzelne Ideen unterteilen lässt. Von Anfang an wendet er sich dem Bild zu. Dabei stellt er kurz fest, dass er den Text nicht versteht, beschäftigt sich aber sonst ausschließlich mit dem Bild. Horst hält den Rücken gerade und arbeitet konzentriert am Material. Die Gestik beschränkt sich vor allem auf die Hände, die mit dem Stift spielen.

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6.6.1 Versuch 1 - Horst 1-2 #00:00:08-6# Horst wendet sich der Arbeitsplatte zu. Er dreht sie um, indem er sie mit der linken Hand an der unteren Kante fasst. Während des Hochhebens dreht er das Bild so, dass er es betrachten kann. Er hält die Platte zwischen Daumen und Zeigefinger und legt sie mit der linken Kante zuerst nieder, die Daumen liegen oben auf der Platte > es ist verschwommen (—) < nimmt blauen Stift in die rechte Hand, linke Hand liegt zusammengefasst an der Tischkante und (–) trostlos (.)> Horst betritt den Raum, stützt sich mit den Fingerspitzen der linken Hand, dann auch der rechten, auf den Tisch und setzt sich. Er erhebt sich nochmals, rückt sich auf dem Stuhl zurecht, blickt dabei allerdings weiterhin auf die Papiere. Nun legt er mit der rechten Hand das oberste Blatt mit dem Arbeitsauftrag seitlich neben den Papierstapel, so dass sich die Papiere an ihrer Ecke überlappen. Dann erst setzt er sich. Horst sitzt gerade, während er die Platte herumdreht. Nochmals schiebt er das Aufgabenblatt zur Seite und legt damit das darunter liegende leere Blatt frei. Dabei ruht sein Blick schon auf dem Bild. Er sitzt mit geradem Rücken, seine Körperhaltung ist gespannt. Er stellt zunächst fest, dass das Bild verschwommen ist. Die Beschäftigung mit dem Bild betrifft nicht die Bildinhalte, sondern deren Form und die sich daraus ergebende Wirkung. Während er die Form des Bildes als verschwommen bezeichnet, nimmt er den daneben liegenden blauen Stift zur Hand. Nach einer kurzen Pause stellt er fest, dass es trostlos wirkt. Dabei lässt er den Stift durch die Hand gleiten und legt ihn wieder hin. Neben einem kurzen Innehalten intoniert er das Wort „und“ vor dem Aussprechen seiner Deutung als Frage. Die Szene enthält mehrere Hinweise darauf, dass er irritiert ist. Er schreibt nicht, sondern exploriert statt dessen weiter. Den Stift durch die Hand gleiten zu lassen, führt zur verstärkten Wahrnehmung des Stiftes. Dies stellt eine wenn auch sehr kleine, so doch spürbare - Erfahrung von Selbstwirksamkeit dar. Sie verleiht ihm etwas Kompetenz. 3-4 < plus durch die vielen (.) ähm < rückt mit der linken Hand seine Mütze nach hinten> Hände halboffen an der unteren Tischkante neben der Platte liegend < grauen (.) dieser person (.) zu flüchten> rollt kurz die Lippen ein Horst blickt nach rechts hinten, wo in etwa die Versuchsleitung sitzen müsste, dann zur Kamera. Dabei führt er fort, dass die Person versuche zu flüchten. Bei den Worten „sie versucht“ hält er den Stift mit der ganzen Hand fest, seine linke Augenbraue zuckt.

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Dies könnte ein Zeichen für eine Verunsicherung von Horst sein. Sie führt dazu, dass er den Blickkontakt zur Versuchsleitung sucht - etwa, um sich zu vergewissern, dass alles stimmt. Der Blick zur Kamera führt nicht zur erhofften Ausschüttung von LegitimitätsSignalen, weil die Versuchsleitung instruiert ist, so wenig wie möglich zu antworten. Auf deren marginale Reaktion reagiert Horst mit einem Zucken der Augenbrauen. Die Aktiviertheit aus der letzten Sequenz weicht damit einer Phase der Unsicherheit. Zunächst sinkt die Selektionsschwelle, die Aufmerksamkeit wird ausgeweitet, kritische Aspekte einbezogen. Es kommt zu einer Nebenhandlung, die aber nicht dazu führt, dass Horst aufgibt. Er spinnt seinen Faden weiter, rollt dann aber die Lippen ein. 22 #00:03:46-4# Kopf leicht nach links kippend Blick auf Papier > Mit einer Kopfbewegung nach links, die man einerseits als Nicken deuten kann, aber auch als Abwägen, fängt er an, verschiedene Optionen zum Zielort der Person zu beschreiben. Tatsächlich löst die sinkende Selektionsschwelle einen Motivwechsel und divergentes Denken aus, das dazu führt, dass er nun verschiedene Optionen eröffnet. Es fällt auf, dass er mit dem Wort „oder“ beginnt, obwohl er ja vorher die Ursache der Flucht beschrieben hatte, jetzt aber über ihr Ziel spricht. Vermutlich formuliert er seine Gedanken während des Sprechens. Durch die Darstellung neuer Optionen relativiert er die Idee der Flucht zugunsten der Möglichkeit, dass die Person auf dem Weg nach Hause, in ein Hotel, oder zu Besuch ist. Er reagiert also auf eine sinkende Bedürfnislage. Diese entsteht unmittelbar nach dem Moment, wo er eine Geschichte gestaltet. Zu vermuten ist, dass er auch hier die vorher angewandte Strategie benutzt: Indem er in der Lage ist, viele Optionen zu eröffnen, legt er sich nicht fest, zeigt aber selbstwirksam, dass er etwas beisteuern kann und den Überblick hat. Bei dem Wort „da“, das sich wahrscheinlich auf das Hotel bezieht - das Heim bezeichnet er danach mit „dort“ - macht er eine Handbewegung, bei der er zunächst weit ausholt, dann aber auch etwas einzubinden scheint. Es könnte aber auch sein, dass es sich um eine wegwerfende Handbewegung handelt. Vielleicht nervt ihn aber auch das Thema, es ist irgendein Hotel in irgendeiner Stadt; eben ein Ort, wo die Person vor dem Verfolger geborgen ist. Dagegen spricht, dass keine weiteren Anzeichen von Ärger beobachtbar sind. Allerdings zeigt diese recht grobe und im Vergleich zu seinen bisherigen Bewegungen weit ausholende Handbewegung, dass sein Auflösungsgrad niedrig ist. Demnach müsste der Auflösungsgrad stark abfallen. Zwischen den beiden Optionen „zu Besuch sein“ und „dort wohnen“ schaut er auf das Blatt Papier, auf das er etwas schreiben wollte. Vielleicht macht er sich Gedanken, was er von den eröffneten Optionen aufschreiben soll, denn das schien ihm ja am Anfang wichtig zu sein. Vielleicht dient dieser ablenkende Blick aber auch dem Wiedereinholen von Konzentration. 23-24#00:03:47-9# < linker Unterarm liegt vor Platte, Hand zusammengelegt, wie für Arbeitshaltung am Schreibtisch typisch; rechte Hand setzt zum

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Schreiben an Nach seiner ausholenden Armbewegung legt Horst den Arm so, wie es für eine schreibende Haltung am Schreibtisch typisch ist, vor die Platte. Die Hand ist zusammengelegt. Das neue „oder“ bezeichnet nun eine ganz neue, banale Option der Ursache für das Rennen der Person. Sie könne sich ja auch einfach im Bus verspätet haben oder noch etwas zu tun gehabt haben und sei deshalb spät dran. Mit dieser Überlegung schränkt Horst seinen vorher aufgemachten Spannungsbogen wieder ein. Unterstrichen wird diese Einschränkung durch die konforme Geste der kulturell angemessenen Arbeitshaltung. Auch die zur Faust zusammengelegte Hand deutet auf ein „Sich-Zurücknehmen“. Weil die Geschichte langsam Kontur bekommt, verbessert sich Horsts Bedürfnislage. Er exploriert spezifischer. Der Auflösungsgrad wird wieder differenzierter und die Selektionsschwelle beginnt wieder zu steigen. 25#00:04:01-9# beugt sich vor zur Platte kurzer Blick auf Papier, Arbeitsplatte, Papier, rückt Blatt mit Unterarm zurecht> setzt zweimal an zu schreiben, kippt dann den Stift zur Seite weg vom Arbeitsplatz, legt den Stift oberhalb der Ecke ab und legt die rechte Hand geschlossen auf die obere Ecke des Papiers legt die linke Hand mit Zeigefinger und Daumen an die Platte, die rechte ebenfalls, schaut Richtung anwesender Versuchsleitung, bewegt zweimal den linken Ellbogen vom Körper weg, steht auf und geht. Tatsächlich begründet Horst im darauffolgenden Satz, weshalb er überhaupt meint, dass die Person rennt. Unterbrochen durch ein kurzes Einatmen setzt er seine Erklärung von vorher fort: an den verschwommenen Beinen, die man auch hintereinander sieht, erkenne man, dass sie renne. Vermutlich um diese Behauptung zu verifizieren, lehnt er sich vor und betrachtet das Bild noch einmal genau. Die Begründung stellt zunächst einen Versuch dar, seine Kompetenz durch Selbstwirksamkeit zu erhöhen. Das genauere Untersuchen soll die Bestimmtheit erhöhen, führt aber zunächst zu mehr Verunsicherung. Er ist sich nun nicht mehr so sicher, ob sie rennt oder schnell geht. Sein Vorhaben, seine Meinung zu festigen, gelingt nicht, statt dessen exploriert er wiederum diversiv. Mehrmals unterbricht er sich, indem er „na ja“ sagt, oder Pausen zwischen seine Worte setzt. Auch formuliert er im Konjunktiv: die Beine schienen deshalb schneller zu gehen als der Rest. Bei dem Wort „verschwommen“, zu dem er zweimal ansetzt, macht er eine wegwischende Handbewegung von seinem Körper weg. Die verwischenden Handbewegungen widersprechen seiner aufrechten, disziplinierten Körperhaltung. Sein Auflösungsgrad sinkt also. Sowohl in den Unterbrechungen und Wiederholungen als auch in seiner Mimik und Gestik zeigt sich, dass sein Bedürfnis nach Bestimmtheit nur eingeschränkt erfüllt ist. Dies hat Auswirkungen auf sein Kompetenzgefühl. Mit einem Blick auf Papier und Arbeitsplatte setzt er zweimal an zu schreiben, lässt den Stift dann jedoch zur Seite fallen, so als wüsste er nicht, was er

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schreiben soll. Dann legt er den Stift ganz weg und die geschlossene Hand neben das Papier. Mit dieser Haltung erklärt er auch gestisch den Abschluss des Versuchs. Die Selektionsschwelle sinkt also und er gibt auch sein Vorhaben etwas aufzuschreiben auf. Noch einmal blickt er zur Versuchsleitung und beendet den Versuch, indem er aufsteht und geht.

6.6.2 Zusammenfassung Versuch 1 - Horst Horst beschäftigt sich vom ersten Moment an mit dem Bild. Er beginnt mit einer Beschreibung der Form und Stimmung, die das Bild in ihm auslöst: es sei „verschwommen und trostlos“. Auf die erste Irritation hin, erzeugt er Selbstwirksamkeit, indem er mit dem Stift herumspielt (1-2). Infolge der sich wieder aufbauenden Kompetenz beginnt Horst zu explorieren. Während er die Farben des Bildes beschreibt und interpretiert, hebt er Stifte mit unterschiedlichen Farben hoch und gestaltet mit der Antizipation der Stiftfarben Kontrast und Ähnlichkeit zum Bild (3). Bei der Interpretation, dass es Nacht ist, bleibt er jedoch vorsichtig, was sich verbal, an Verzögerungslauten und Pausen zeigt (4). Er nimmt sich vor, seine Ideen schriftlich festzuhalten. Erst, als er sich vom Bild abwendet und auf die Mine des Stiftes konzentriert, kann er sie herausdrücken (5). Er beugt sich vor und interpretiert das Bild auf zwei mögliche Arten (6-7). Die Beschäftigung mit dem Text führt zu Irritationen und Verzögerungslauten. Wie beim Bild fasst er seinen Eindruck zusammen: Er kann kaum etwas mit dem Text anfangen. Diese Erkenntnis führt zu Deaktivierung, die Tendenz zum Motivwechsel wächst: Nun grenzt Horst die Problematik ein. Die Bestimmtheit nimmt zu (8). Trotzdem gelingt kein Textverständnis. Es bleibt bei Ansätzen zu Ideen. (9). Die sinkende Selektionsschwelle begünstigt, dass er sich zur Ausgrenzung des Textes entscheidet, was eine Ausschüttung von Kompetenz- und Bestimmtheits-Signalen bedeutet (10). Er wiederholt seine vorherige Interpretation des Bildgeschehens (s. Seq. 5-6) (11). Er denkt wiederholt laut, dass es dunkel ist (s. Seq. 2) (12). Er wird der Vielschichtigkeit des Bildes gerecht, indem er mehrere Optionen eröffnet. Zugleich entsteht Kompetenz-Zuwachs, weil er zeigt, dass er - wie bei einer sachlichen Analyse - den Überblick hat (13-14). Erneut unternimmt er den Versuch, Ideen aufzuschreiben, gibt ihn dann aber auf. Sein Fokus richtet sich nun auf die ästhetische Dimension des Bildes (15). Nun engt Horst die gerade gemachte Behauptung auf seine eigene Wahrnehmung ein (16). Er ist irritiert und versucht herauszufinden, was komisch ist. Durch die Einordnung als „seltsam“ gewinnt er Bestimmtheit. Er schreibt seine Ideen auf (17). Die Unklarheit, ob die Idee richtig ist, verstärkt die Unbestimmtheit. Die Verwendung des Konjunktivs stellt ihn aber als kompetenten Menschen dar (18). Horst unterbricht seine Überlegungen immer wieder (19). Er beginnt, eine Geschichte mit rotem Faden zu spinnen (20). Nochmals wird Horst unsicher, die Bestimmtheit sinkt. Dennoch überlegt er weiter (21). Er eröffnet wieder mehrere Optionen (22) und bedenkt einen neuen Aspekt. Inhaltlich sind alle Varianten stimmig (23-24). Der genauere Blick auf das Bild irritiert ihn. Er begründet seine Interpretation und beendet den Versuch (25).

Fallanalyse Horst

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6.6.3 Hypothesen Versuch 1 - Horst Für Horst entsteht durch die Unschärfe des Bildes eine ästhetische Wirkung: Diese dient als Hintergrundstruktur, nach der Horst seine Ideen entwickelt. Die Wirkung des Bildes subsumiert er unter einer Aussage, die ein Rätsel um das Bild entstehen lässt. So steigert er die Unbestimmtheit. Horst begründet nun seinen Eindruck logisch, indem er nach Merkmalen sucht, die diesen Eindruck erklären könnten. Das Gefühl, dass das Bild entsprechend wirkt, lässt sich durch ein Muster an Gedächtnisschemata erklären, die für ihn mit einem Gefühl von Traurigkeit zusammenhängen können. Wie er im nächsten Satz erklärt, besteht ein solches Merkmal in grauen Farbschattierungen und Dunkelheit (4). Durch das Fassen eines Plans steigt die Bestimmtheit. So nimmt er sich vor, seine Gedanken durch Aufschreiben noch stärker zu strukturieren. Die mit diesem Plan zunehmende Selektionsschwelle zeigt sich darin, dass er so konzentriert auf die Inhalte ist, dass er sich kaum mit dem Stift beschäftigen will, dessen Mine er schließlich doch mit beiden Händen herausdrücken muss (5). Er wird der Mehrdeutigkeit des Bildes gerecht, indem er mehrere Optionen eröffnet. Dazu denkt er diversiv. Mit sprachlicher Logik kann er der Vielschichtigkeit des Bildes nur durch nacheinander gereihte Beschreibungen gerecht werden. So eröffnet er mehrere Optionen. Bei dem Abtasten und Vergleichen der Beobachtung mit seinen Gedächtnisstrukturen wird das Gedächtnis-Schema für Nacht aktiviert. Entsprechend kommt er zum Schluss, dass die Dunkelheit mit Nacht zusammenhängt (4). Auch später eröffnet er zwei Optionen für das, was er sieht: Jemand kommt zu spät oder rennt weg. Eine dieser Optionen beinhaltet eine kausale, die andere eine finale Begründung der auf dem Bild sich abspielenden Handlung (6-7). Mit zunehmender Bestimmtheit fasst er Mut, sich der nächsten Quelle für Unbestimmtheit zuzuwenden: Nachdem die Bestimmtheit in Bezug auf die Bildinhalte ansatzweise geklärt ist, wendet er sich dem Text zu und stellt fest, dass er damit nur wenig anfangen kann. Dies führt zu Unbestimmtheit und Gefühlen der Inkompetenz. Die sinkende Selektionsschwelle begünstigt einen Motivwechsel. Horst entscheidet sich zur Ausgrenzung des Textes aus der Problemlösung. Dies bedeutet eine Vereinfachung der Komplexität der Aufgabe. Damit steigt die Wahrscheinlichkeit, dass er eine Lösung für die Aufgabe findet. Dies hat eine Ausschüttung von Kompetenzund Bestimmmtheitssignalen, also Ermutigung zur Folge (8-9). Er wendet sich also wieder dem Bild zu, steigt dort ein, wo er war. Die Wiederholung zuvor gemachter Annahmen löst Bestimmtheit aus: Mit der so gewonnenen Kompetenz steigt er nun in die Ideenproduktion ein (10-12). Der Vielschichtigkeit des Bildes wird Horst gerecht, indem er mehrere Optionen eröffnet. Das Aneinanderreihen von Optionen beinhaltet eine wechselnde Bestimmtheit- und Unbestimmtheit, sowie einem wechselnden Auflösungsgrad. Weil er zeigt, dass er - wie bei einer sachlichen Analyse - den Überblick hat, nimmt seine Selbstwirksamkeitserwartung zu. (13-14). Um seine Gedanken zu strukturieren, unternimmt er einen Versuch, Ideen aufzuschreiben. Trotz seiner Versuche, das Ganze einzuordnen, kann er kein klares Ergebnis fassen, das er zu formulieren wagt. Insofern sinkt die Bestimmtheit weiter. Dass ihm aber nichts einfällt, reduziert seine Kompetenz, der Auflösungsgrad wird grober und seine Aktivierung nimmt ab. Die sinkende Selektionsschwelle begünstigt einen Motivwechsel. Sein Fokus richtet sich nun auf die ästhetische Dimension des Bildes. Die oberflächliche Sicht auf das Problem bei niedrigem Auflösungsgrad erhöht seine Bestimmtheit (15). Damit, dass er die Behaup-

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Teilstudie I: Darstellung der empirischen Ergebnisse

tung auf seine eigene Wahrnehmung eingrenzt, nimmt seine Bestimmtheit zu. Weil er selbstwirksam und kompetent agiert, erzeugt er zugleich Kompetenzgefühle (16). Er ist irritiert und versucht herauszufinden, was komisch ist. Durch die Einordnung als „seltsam“ gewinnt er Bestimmtheit. Seine Kompetenz wächst durch das Aufschreiben der Ideen zu (17). Die Unklarheit, ob die Idee richtig ist, verstärkt allerdings seine Unbestimmtheit. Darauf reagiert er, indem er deutlich macht, dass er kompetent ist: Indem er die folgende Idee im Konjunktiv formuliert, kann er zumindest deutlich machen, dass er erkennt, dass die Bilder nichts Eindeutiges darstellen (18). Die nach wie vor existierende Unklarheit führt zu einer prekären Bedürfnislage, zu Überlegungen, die er immer wieder unterbricht. Deshalb entsteht ein Motivwechsel (19). Er beginnt nun, spezifisch zu explorieren und eine Geschichte mit rotem Faden zu spinnen, die Selektionsschwelle steigt (20). Durch Differenziertheit des Denkens erhält Horst seine Kompetenz. Während er seine Idee formuliert, macht er deutlich, dass man diese auf dem Bild schlecht erkennen kann. Damit schützt er sich nicht nur vor Vorwürfen, nicht objektiv zu sein, sondern zeigt (und hebt) auch seine Kompetenz. Obwohl er also Imagination einsetzt, um sich verschiedene Interpretationen auszudenken, bleibt er in seinen Formulierungen vorsichtig, distanziert und behält den Überblick. Dies zeigt sich in Formulierungen wie: „es sieht nach...aus“; „es sieht aus wie“; „es scheint sich um“; „na ja“, oder „hätte ja sein können, dass“. Horst fühlt sich also zu Sachlichkeit und Objektivität verpflichtet. Er erfindet eine Geschichte - aber grenzt seine schon elaborierten Vorstellungen immer wieder ein. Möglicherweise hängt dies mit dem Anliegen, sachlich korrekt zu denken, zusammen. 6.6.4 Versuch 2 - Horst

Abbildung 6.19: Tablett Horst

1 2 3 4 5 6

mhm (-) ich sehe (.) ein tablett (.) voller (.) unterschiedlicher sachen die sich (.) vielleicht (.) ähm (–) in einem sinn (.) gleich (.) gleichen (.) ähm (.) auf jeden fall hier (.) gabel (.) und schraubenzieher (.) ähm (.) die zu einem haushalt gehören könnten also das sind alles gebrauchsgegenstände und (.) aber auch schmuck(.) objekte (-) ein ball (.) hier gebrauchsgegenstände wie der stift die gabel und der schrauben zieher und das m das der des

Fallanalyse Horst 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24

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messer (.) und (.) schmuck (.) mhm ok (.) also (–) ich würd mal (.) schraubenzieher und gabel nebeneinander tun (.) (legt Ball zur Seite) ähm (–) den stift und das messer (.) auch (.) also und gabel (.) stift und schraubenzieher (.) ja (.) ich tu das mal so rum hin (.) den schmuck (.) würd ich (.) gemeinsam(.) zusammentun das hier ist auch ein gebrauchsgegenstand kann man gut gebrauchen mhm(.) tinte (.) gut mhm muschel (.) tu ich an einen fleck und den ball (.) der eher (.) ein freizeit (.) objekt ist, tu ich (.) hier hin (.) so das wär jetzt geordnet (.) aber immer noch nicht SCHÖN (.) mhm also holz kommt nebeneinander (-) das plastik (.) muss ich mal andersherum legen ( .) schmuck kommt an einer stelle (.) und (.) der ball bleibt wieder alleine (–) gut (–) und ich könnt auch ein muster legen < (2.8) legt Gegenstände um> hm jetz iss es (.) schon SCHÖNER (–) > GUT (.) ja also (.) von der ordnung her (.) hätt ichs so gemacht wie ichs vorhin hatte (.) und von der schönheit her (.) hätt ich es so gemacht (.) schöner krieg ich es glaub ich nicht mehr (.) obwohl (.) es das noch ein bißchen gebrauchen könnte (.) gut (.) das (.) wärs dann .

Katze 8

7 Weihnschmuck

Messer 4

M11

Stift 3

M11 M11

Schraubenzieher 1 - 6

Gabel 2

Ball 12

Tinte 10

Abbildung 6.20: Erste Variante Tablett Horst. Ordnung als Haushaltsgegenstände.

Teilstudie I: Darstellung der empirischen Ergebnisse

Messer 4 - 15

Katze 8

7 Weihnschmuck

M16 M11 M11

Schraubenzieher 1 - 6

Stift 3 - 14

Ball 12 17

Gabel 2 - 13

218

Tinte 10

Abbildung 6.21: Zweite Variante Tablett Horst. Ordnung nach Material.

Sc

ub

en

zie

he

Sti

ft 3

-1

Tinte 10 28 r4

sse

Me

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9-

22 5-

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1 3-

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23

-1

20

21

K 26 atz

e M11 8 M16

7 s W 25 chm eih uc nk

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Ball 12 M11-2 17 - 29 4-27

be

Ga

Abbildung 6.22: Dritte Variante Tablett Horst. Ordnung nach Schönheit.

Fallanalyse Horst

219

Horst ist der Meinung, dass die Gegenstände alle aus einem Haushalt kommen könnten. Auf dieser Ebene hat er kein Problem, sie einander zu zu ordnen. Das könnte zwei Ursachen haben: Entweder, dass er sich in seiner Fantasie verschiedenste Kombinationen zu den Gegenständen vorstellen kann, oder dass er die Gegenstände unter einer übergeordneteren Kategorie einordnet. So können sich beispielsweise in einem Haus Gegenstände jeglicher Art befinden. Die anfangs noch völlig durcheinander liegenden Gegenstände bringt er zunächst alle auf der linken Hälfte des Tabletts in eine Ordnung (s. Abb. 6.20). Nur der Ball sticht heraus. Ihn legt er zunächst zur Seite, dann positioniert er ihn mit dem Gedanken, dass dies ein Freizeitobjekt sei, am unteren Rand des Tabletts. Nun ordnet er nach eigener Aussage nach Materialbeschaffenheit, d.h. er ordnet einmal das Holz, das Plastikmesser dreht er anders herum, der Schmuck besteht aus Metallen und den Muscheln14 und der Ball ist aus Gummi und kann bleiben, wo er war. Mit dem Schmuck fällt er aus seinem selbstgesetzten Rahmen. Er ordnet hier nach Gebrauch und weniger nach dem Material selber (s. Abb. 6.21). Schließlich legt er alles noch einmal um. Er stellt fest, dass es noch nicht schön ist und beschließt, ein Muster zu erstellen. Im Gegensatz zu den davor liegenden Handlungen schweigt er nun. Erst gegen Ende dieses Vorgangs, kurz bevor Tintenfass und Ball an Ort und Stelle gelegt sind, reibt er sich die Hände und beschreibt diese Form der Ordnung als schöner (s. Abb. 6.22). Während er feststellt, dass noch ein wenig Verbesserung gut wäre, verrückt er einzelne Gegenstände um wenige Zentimeter (Schraubenzieher, Gabel, Muscheln und Ball). Der Ball rollt mehrfach wieder zurück zur Seite. Nach viermaligem Korrigieren steht Horst auf und geht, obwohl der Ball wieder weg rollt. Währenddessen rollt der Ball etwas rechts vom geplanten Ort in die Mitte des Tabletts. Die langen Gegenstände bilden eine symmetrisch angeordnete Fächerform, an deren Ende die vom Horst als „Schmuck“ bezeichneten Gegenstände befinden. Diese sind rund um die sich bildende Spitze geordnet. Davor liegt der Ball, der ein Pendant im Tintenfass an der Wand auf der gegenüberliegenden Seite findet. Die Anordnung ist ausgewogen und strahlt trotz der im Fächer bestehenden Dynamik Ruhe aus. Dynamik entsteht vor allem durch das mit dem blauen Tintenfass kontrastierende Orange des Stiftes, der im Weihnachtsbaumschmuck und Ball aufgegriffen wird und damit eine dynamische Wellenlinie beschreibt, die über den Ball zurückgeleitet wird und im hellen, Leichtigkeit ausstrahlenden Plastikmesser endet. Ruhe entsteht durch den Rahmen des Fächers. Dieser wird durch die aus Holz und Metall bestehenden Schraubenzieher und Gabel begrenzt, die im Gegensatz zu den dazwischen liegenden, leicht wirkenden schmaleren und helleren Gegenständen (Messer und Stift) Ruhe ausstrahlen. Aufgegriffen wird ihre Farbe im Goldton der Katze und den Muscheln bis hin zum beigen Kragen des Weihnachtsbaumschmucks. 6.6.5 Zusammenfassung Versuch 2 - Horst Horst beschreibt zunächst sämtliche Gegenstände auf dem Tablett und ordnet sie als Gebrauchsgegenstände, Schmuck und Freizeitgegenstand ein. Horst legt die Gegenstände insgesamt drei Mal. Zunächst beginnt er, die Gegenstände sehr eng beieinander 14

M ist das Kürzel für Muschel

220

Teilstudie I: Darstellung der empirischen Ergebnisse

liegend auf der linken Seite des Tabletts zu ordnen. Dann reflektiert er sein Vorgehen und ordnet sie in eine zweiten Variante nach Material. Das findet er gut. Die Stimmigkeit nimmt also mit der Sortierung zu. Daraus ergibt sich aber auch die neue Idee, nämlich nach einem Muster vorzugehen. In einer dritten Variante ordnet er die Gegenstände nach einem Muster, woraus sich mehr Schönheit ergibt. Horst sieht demnach verschiedene Möglichkeiten, die Gegenstände zu sortieren. Er entscheidet sich dem Auftrag gemäß für die von ihm als am schönsten empfundene Ordnung nach einem Muster. Erst bei der Ordnung nach Schönheit benutzt Horst beide Hände, um immer wieder etwas zu Seite zu rücken oder Platz zu schaffen. Schon nach dem Hinlegen der Muscheln, also noch bevor er Tintenfass und Ball an ihren Ort gelegt hat, stellt er fest, dass es schön so ist. Er ist also zufrieden mit seinem Ergebnis. Schließlich setzt eine Verifikations-Phase ein. Er bemerkt, dass das Muster noch verbessert werden könnte und korrigiert geringfügig nach. So versucht er vier Mal (!) den Ball, der zur Seite rollt, wieder in die Mitte zu legen; obwohl dieser weiterhin zur Seite rollt, verlässt er schließlich den Raum. Als er gegangen ist, rollt der Ball in die Mitte.

6.6.6 Hypothesen Versuch 2 - Horst Horst nähert sich schrittweise einem vage gefassten Ziel. Weil er nur ein vages Handlungsziel hat, probiert Horst nacheinander verschiedene Optionen aus. Er verfolgt diese jeweils zu Ende, rezipiert ihre Wirkung und entwickelt neue Ideen. Damit erreicht er immer wieder einen Grad an Bestimmtheit, bei dem er über sensorische Schemata die Wirkung des Versuchs erfassen kann. Wenn das Produkt nicht stimmig mit dem Ziel der Schönheit ist, fällt ihm eine neue Variante ein. Wie aus der Tabelle ersichtlich wird, beschäftigt sich Horst über die ersten beiden Ordnungen mit dem Zusammenhang der Gegenstände. Erst danach entwickelt er die damit zusammenhängende Struktur in Form eines Musters. Horst bildet übergeordnete Kategorien, über die er die Gegenstände einordnen und miteinander in Verbindung bringen kann. Dann findet er Unterkategorien dazu. Die für eine ästhetische Raumaufteilung notwendigen Strategien lassen sich nicht durch Sprache strukturieren. Der Proband schweigt in dem Moment, wo er sich dazu entscheidet, das Tablett nach ästhetischen Gesichtspunkten zu legen. Der Abruf der zur Raumaufteilung zu ermessenden Schemata beruht auf dem Vergleich oder Abmessen von Strukturen. Dieser Vorgang lässt sich nicht leicht sprachlich darstellen: in Gedanken werden Linien gezogen, geometrische Formen an- und übereinander gelegt oder Kontrast und Ähnlichkeit von Farben verglichen. Deshalb schweigt Horst in dem Moment, in dem er eine Struktur nach ästhetischen Gesichtspunkten erstellt. Horst grenzt Ordnung von Schönheit ab. Schönheit stellt für Horst eine perfekte Ordnung dar, in der sich dynamische wie beruhigende Strukturen finden. Als er das Tablett fertig hat, äußert er die Meinung, man hätte es noch schöner machen können. Wenn Horst eine Vorstellung von seinem Handlungsziel hat, zeigt er künstlerisches Wollen. Auf der Suche nach einer schönen Ordnung, aber auch in der VerifikationsPhase zeigt Horst das Anliegen, dass die Gegenstände nicht einfach irgendwo liegen, sondern dass es einen genauen Ort und eine exakte Lage dafür gibt.

Fallanalyse Horst

221

6.6.7 Versuch 3 - Horst Horst hat nach eigener Aussage in einem anschließenden Interview von Anfang an die Assoziation eines schräg im Bild stehenden Gesichtes. Deshalb hält er den Kopf schräg, als er auf das Blatt blickt.

Abbildung 6.23: Zeichnung Horst

1 2 3 4 5

legt den Kopf schräg und blickt auf das Bild vielleicht rennt er vor (3.0) einem < knibbelt an Bündchen schiebt Bildplatte schräg zur Seite, schaut darunter, schiebt sie zurück (5.0)< legt Kinn in gebeugte Hände < was sind denn das für LINien (3.0) das sieht aus als wäre das ein GLASdach da aber ich glaub nicht dass es ein glasdach ist (3.0) da sind irgendwelche linien oben (2.5) hm >

Harald richtet seinen Fokus auf Elemente, die den Regalen in der Form ähneln. Er entdeckt Linien auf dem Bild und nimmt an, dass es sich um ein Glasdach handeln könnte, kann diese Hypothese aber nicht belegen. Dann hebt er die Platte hoch, schaut darunter und rückt sie wieder gerade. Er legt das Kinn in die Hände und atmet deutlich aus. Er ist angespannt. Er schiebt die Platte hin und her und denkt darüber nach, was das für Linien sein könnten. Dabei fragt er sich selbst, stellt Vermutungen an und kommt zur anfangs gemachten Feststellung, dass dort eine Person läuft, zurück. An dieser Stelle bewegt er sich kurz nach hinten und legt den Hals in die die Hände. Ohne eine Lösung gefunden zu haben, sagt er „schön“, und fordert sich auf, weiter zu machen. Er beschreibt nun Bäume und weitere Personen. Im Zusammenhang mit Überlegungen zur Person kratzt er sich am Auge, stellt dann fest, dass es mehrere seien, die auf die eine, laufende Person blickten. Die spezifische Exploration hat zum Ziel, Klarheit zu schaffen. Kompetenz und Bestimmtheit nehmen zu, obwohl Harald nicht alles sicher zuordnen kann. Harald lässt Leerstellen offen und reduziert seine Beschreibungen auf das, was er erkennt. Körperlich sorgt er für Selbstwirksamkeitserfahrungen. Erkennbar ist dies auch an seiner Bewertung „schön“, die signalisiert, dass er das Vorhaben als gelingend einstuft. Das führt zu Kompetenz-, Bestimmtheits- und Lustgefühlen. 26 #00:02:46-4# (3.0) < zeigt auf Text mit Zeigefinger < da liegt noch irgendwas (2.5)> Harald beugt sich auf die andere Seite der Platte. Er bewegt den Kopf hin und her. Mit dem Wort „keine“ leitet er einen Satz ein, mit dem er vermutlich ausdrücken will, dass er etwas auf dem Bild nicht findet. Dann unterbricht er sich aber und sagt, dass an einer Stelle etwas liegt. Er zeigt auf diese Stelle. Er zeigt darauf, kann es aber nicht genau identifizieren. Er entspannt sich, die Konzentration geht allmählich zurück, die Aktiviertheit nimmt ab und der Auflösungsgrad sinkt. In diesem Moment entdeckt er doch noch etwas. Die Selektionsschwelle steigt wieder an. 27 #00:02:52-7# < dann fasst er mit den Fingern die Plattenecke < vielleicht (.) hat der irgendwas geklAUt? (-) und hat es dann da liegen gelassen? Mit dem Mittel- und Zeigefinger berührt er die Ecke der Platte und fragt sich, ob der Gegenstand vielleicht dort liegt, weil die Person etwas geklaut hat, das sie anschließend dort liegen gelassen hat. Harald denkt also über Ursachen dafür nach, dass der Gegenstand dort liegt. Seine Ideen stellen eine Rätsel aufwerfende Annahme dar, die vermutlich mit weiteren, unausgesprochenen Vorstellungen verknüpft ist. Er lacht, weil die Vorstellung, dass jemand etwas klaut, das Geklaute dann aber liegen lässt, widersprüchlich ist. Vordergründig wäre es völlig unsinnig, so etwas zu tun. Der Widerspruch erzeugt einen Überraschungseffekt und das Interesse von Harald. Der unklare Gegenstand macht ihn also neugierig und regt seine Fantasie an. Harald formuliert seine Ideen im Entwurf als Option und als Frage. Deshalb steigt die Aktivierung, er konzentriert sich auf das Erfinden einer Geschichte. Die Bestimmtheit nimmt zu. Der Auflösungsgrad steigt an.

Fallanalyse Harald

227

28 #00:03:06-5# naja obwohl ne dann würde er jetzt nicht dahin rennen (4.0) hm Jetzt schwenkt er um, das Ganze erscheint ihm doch nicht logisch, denn ihm fällt auf, dass die Person auf diesen Gegenstand zuläuft. Während er dies sagt, kratzt er sich mit der rechten Hand unterhalb des Ohrs am Kopf, stützt das Kinn in die rechte Hand und überlegt erneut. Die Verknüpfung, die er vorgenommen hat, erweist sich als verkehrt. Im Zuge seiner Geschichte nimmt er die Person, die er vorher nur aus dem Gedächtnis einbezogen hat, genauer in den Blick. Jetzt stellt er also fest, dass das Schema (Person), das er in seinen Vorstellungen mit dem neuen Schema (Gegenstand) verknüpft hatte, in der Realität anders aussieht. Der Auflösungsgrad sinkt und Harald überdenkt die Konstellation erneut. 29 #00:03:13-2# wahrscheinlich hat er irgendwas gemACHt und (.) oder alle DENKen dass er irgendwas gemacht hätte deswegen schauen ihn alle AN und er und ER rennt weg (2.5) Harald vermutet, dass die Person etwas angestellt hat und deshalb davon läuft. Darin, dass die anderen Personen auf dem Bild zu der von ihm als Jungen bezeichneten Person blicken, sieht er eine Bestätigung seiner Hypothese. Er wiederholt seine Gedanken dazu. Dann atmet er hörbar aus. Harald verfolgt seine Idee weiter, indem er sie abgewandelt noch einmal formuliert: der Junge hat vielleicht nicht etwas gestohlen, sondern etwas anderes angestellt. Daneben kommt Harald auf die Idee, dass die Beobachter denken, dass er etwas Unerlaubtes getan hat und ihn deshalb anblicken. Damit, dass sie zu ihm blicken, lösen sie aus, dass der Junge wegrennt. Harald hat also schrittweise eine Vorstellung entwickelt, die zu den zusätzlich von ihm wahrgenommenen Bildinhalten passt. Dazu hat er seine anfänglichen Vorstellungen mit den Wahrnehmungen aus dem Bild abgeglichen und ergänzt. Der anfangs handelnde Junge wird dabei zu dem, dem etwas geschieht und der auf diese Wahrnehmung reagiert. Harald klärt hier Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge. Da die Geschichte stimmig wird, nimmt Haralds Bestimmtheit zu, die Konzentration steigt. 30#00:03:25-3# hm (4.0) phhh> Kopfbewegungen (2.0) juckt sich an der Nase> < legt Wangen auf Hände, beugt sich vor (Hubert, Versuch 1, Seq. 17).

Das Enigma kreativer Prozesse erzeugt Neugier

309

linke Hand fährt einmal an der Kante der Platte entlang < klopft dreimal an verschiedenen Stellen des Textes < hat sich ein ProDUKT IMMER ins BLICKFELD gerückt > (—) hm (.) (ebda., Seq. 29). Platon beschreibt Rhythmus als „Ordnung der Bewegung“, Aristoxenos, ein Schüler von Aristoteles, sieht in Rhythmen die Ordnung von Zeitteilen. Nach Metzger (1963) verfügt eine musische Gestalt über „Funktionseigenschaften und dynamische Qualitäten“ (Dahlhaus/Eggebrecht, 1979). Rhythmen folgen einem Muster, das sich gleich oder in Variationen immer wiederholt. Über Rhythmen und unterschiedliche Intonation werden Akzentuierungen geschaffen, die Unterscheidungen verdeutlichen und das einzelne Element in ein differenziertes Gesamtbild einordnen. Huberts Wechselspiel zwischen einem bestehenden Rhythmus und dessen Variation geht mit einem Wechsel der Bestimmtheit einher. Der grundlegende Rhythmus dient beispielsweise Jazzmusikern als Basis, an der sie sich orientieren und auf der sie gemeinsam aufbauen können. Ähnlich findet Hubert mit dem Rhythmisieren der Silben eine stabile Basis, die er variiert. Das funktionslose akustische Spiel mit Silben und Rhythmen vermittelt Hubert Selbstwirksamkeit, Bestimmtheit und Flexibilität zugleich. 9.7.2 Kombination von Rezeption und Produktion Hubert behandelt das Problem wie ein Rätsel, das er durch logisches Denken lösen kann. Dazu formuliert er Fragen und Hypothesen und sucht nach übergeordneten Zusammenhängen. tyrannei hat sich ein produkt < blickt rechts auf das Blatt < WAs hat des damit zu tun > °h wie will man damit probleme lösen (.) hmm (.) (ebda., Seq. 12) Um Text und Bild verständlich werden zu lassen, beschreibt Hubert das Bild. Zum Text definiert er Begriffe (Hubert, Versuch 1, Seq. 18-20; V. 7). < n junge (.) auf (.) schu:lparkplatz (.) irgendwelche folien außenrum (.) hm (.) was ist das für ein gebäude (.) wahrscheinlich eine schule wird ein schüler sein (.) es ist nacht (2.0) tyrannei hat sich ein produkt immer ins blickfeld gerückt > (ebda., Seq. 6-10) Die Rezeption beginnt mit der Entschlüsselung und Kombination einzelner Elemente zu Wörtern und Sätzen. Hubert ruft Schemata ab, die der Bedeutung des gelesenen Wortes entsprechen. Passt die Bedeutung nicht zur grammatikalischen Struktur des Satzes, muss die grammatische Struktur oder das Schema abgewandelt werden. Der Satz „Tyrannei hat sich ein Produkt ins Blickfeld gerückt“ beginnt bspw. mit einem Nomen. Das Nomen besteht aus drei Silben, von denen die ersten beiden Silben einer bestimmten Bedeutung, nämlich einem Tyrannen zugeordnet werden können. Die durch die dritte Silbe implizierte Endung „ei“ verweist auf einen Vorgang, der mit einem Tyrannen zu tun hat. Die Definition von Tyrannei führt zu einer Veränderung

310

Ansätze für eine theoretische Konzeption

der semantischen Struktur und damit dazu, dass der Satz verstehbar ist. Einem Wort wird also eine Bedeutung zugeordnet und damit ein Gedächtnisschema, das verschiedene Konnotationen hat, im Fall des Tyrannen ein böser Mensch, einer der andere Menschen unterdrückt, manipuliert, vielleicht jemand, wie man ihn aus Filmen kennt. Hubert rezipiert an dieser Stelle weniger, als dass kombinatorische, interpretierende und erste produktive Prozesse stattfinden, die die Vorstellung der Inhalte und damit das Verständnis der Sätze beeinflussen. Damit werden erstens die Zusammenhänge der Begriffe und dahinter liegenden Schemata geklärt, und zweitens verschiedene Schwerpunktsetzungen vorgenommen. >legt den Zeigefinger kurz über die Lippe und stützt den Kopf seitlich auf die gebeugte Hand des abstützenden rechten Arms auf < °h ah (.) ein tyrann (—) konzentriert sich (.) auf eins (.) und das legt er sich zurecht (–)> (ebda., Seq. 20). Anschließend fügt er das Ergebnis an einem Ort ein, der die Entstehung eines möglichst konsistenten Sinns ermöglicht. Während er formuliert, entfaltet sich die entsprechende Vorstellung im Gedächtnis. 9.7.3 Frustrationstoleranz durch Rollenwechsel und Reflexion Hubert wendet über die Stabilisation durch Rhythmen hinaus umfangreiche Strategien an, mit denen er sich immer wieder zum Durchhalten motiviert. Dabei nimmt er verschiedene Rollen ein, die ihm als Akteur in einem Team Anerkennung zollen. Etwa motiviert er sich, an der Lösungsfindung zu bleiben, indem er den Arbeitsauftrag auf sich bezieht: < was fällt mir dazu EI:n? (ebda., Seq. 36). Als sich das Problem über einen längeren Zeitraum hinweg nicht lösen lässt, sinkt seine Konzentration, er ist abgelenkt. Er motiviert sich zunächst durch Aufschreiben. Durch einen Rollenwechsel zum Moderator, der zum Brainstorming auffordert, nimmt er die Rolle eines Anführers ein und antizipiert affiliative Signale. < zeigt unten auf die Platte < hm Machmer doch einfach mal brainstorming (.) > stützt dann die Knöchel der linken Hand etwa 20 cm links der Platte auf dem Tisch ab und lehnt sich nach rechts< (ebda., Seq. 57). Auch über Reflexion steigt Huberts Durchhaltevermögen. Besonders deutlich wird dies in Versuch 3, wo er sich unter Druck fühlt, kreativ zu sein. so kreativ war ich schon lang nicht mehr (lacht)> (.)die aufgabe wird nichts definitiv (.) egal ich darf hier hin malen was ich will (.) sind ja MEINE gedanken (Hubert, Versuch 3, Z.12-14) Antizipierte von außen kommende Ansprüche werden durch Reflexion relativiert und ins Verhältnis zur eigenen Ansicht gesetzt. Dennoch gelingt es Herbert in Versuch 3 nicht, sich von der kreativen Hemmung zu lösen.

Das Enigma kreativer Prozesse erzeugt Neugier

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9.7.4 Die kreative Idee entsteht bei sinkendem Auflösungsgrad Hubert kombiniert die verschiedenen Schemata miteinander. Dabei geht er unsystematisch vor. Schritt für Schritt gleicht er seine Wahrnehmungen in Text und Bild unter dem übergeordneten Merkmal (den Menschen) mit seinen Gedächtnisschemata ab (Seq. 3648; V. 9-12), die in Hypothesen münden. Dabei fallen ihm auch Ideen ein, die nicht schrittweise nachvollziehbar sind. es geht um (2.0) jugendliche? (.) < beugt sich vor zur Platte < hört der MUSik hat der KOPFhöhrer auf (.) ne hat er nicht °h (.)> äh tyrannei hat sich ein produkt immer ins blickfeld gerückt was fällt mir dazu ein? (. . . ) schaut wieder auf die Platte. Mit der linken Hand spielt er an der oberen linken Ecke der Platte < provinzen sprach das das sweatshirt des politbüros LEUTE zu (3.0) hm °h was ist damit gemeint? (.) irgenden af (.) afrikanisches land °h dems (–) um (2.0) diktatURen geht? > (ebda., Seq. 36-41; 43-45). Obwohl seine Kompetenz zunimmt, findet er keine Lösung (Seq. 49; V. 13-15). Mit wiederholtem Misslingen sinkt sein Aktivierungsgrad und der Auflösungsgrad. Dann hat er eine Idee, bei der sich mehrere Schemata zu einer neuen übergeordneten Idee zusammenfügen (Seq. 72; V. 18). < legt sich stärker nach rechts, schaut auf die Platte. < ROCKmusik gibt (.) ARBEIT (.) was hat das mit dem andern zeug zu tun? (.) millionen menschen die ÖFFnung zu bestimmen> < stützt sich mit der rechten Hand zwischen Ohr und Wange ab < ARBEIT (.) MUSIK kann MENschen (–) verÄNDERN (.) beWEgen (18.0) > (ebda., Seq. 67-72). Erst als die systematische Vorgehensweise nicht gelingt, lässt Hubert sich auf eine von Gefühlen geleitete Vorgehensweise ein und hat damit Erfolg. Die Idee entsteht bei einem niedrigen, also groben Auflösungsgrad, der aus sinkender Aktivierung im Zuge von Ratlosigkeit, also hoher Unbestimmtheit, rührt. Infolge der groben Informationsverarbeitung lässt Hubert Satzteile aus und verändert grammatische Strukturen. 9.7.5 Kreativität als Erstellen einer ästhetischen Ordnung Hubert versucht, systematisch Ordnungen zu erstellen, die ihm eine neue Sicht auf Teilbereiche des Lebens oder der Welt ermöglichen. Durch solche über die Sinneswahrnehmungen entstehende Ordnungen können einzelne Elemente in eine übergeordnete Struktur eingebunden werden. Diese Struktur dient als Hintergrundstruktur, auf der das Handeln weiter aufgebaut werden kann. Unter Ordnung ist in diesem Fall kein festgefahrenes Regelwerk zu verstehen, sondern eine kohärente Vorstellung von der Umwelt, die in einer aktuellen oder überdauernden Situation anwendbar ist. Sie stellt eine vorläufige Konstruktion in einer dynamischen Umwelt dar, in der sie Orientierung, Zielrichtung und Ausgeglichenheit gibt. Sie dient dem Klären von Zusammenhängen, Ursachen oder Folgen und stellt eine Vereinfachung dar, die im Fall einer ästhetischen Ordnung doch komplex sein kann.

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Ansätze für eine theoretische Konzeption

Beim Tablett versucht Hubert systematisch, durch Verfolgen einer einfachen Regel etwas Schönes zu erstellen. Erst als er spürt, dass es nicht schön ist, sucht er eine ästhetische Ordnung, indem er seinen Gefühlen folgt. ich mach das mal einfach mit der länge (.) sind alle ähnlich lang das iss n bisschen größer (0.3) was würde denn DAS (.) der hund ist kleiner (.) DAS bleibt liegen lehn ich so an (.) DAS DAS DAS (.) schwamm (.) schwamm (.) muscheln muscheln (.) das bisschen zusammen rücken das das alles hin passt (-) ERST das AUSSEHEN dann die FUNKTION (.) nein anders herum (.) erst die Funktion dann das Aussehen (.) so (0.3) aber das passt mir irgendwie nich (.) auch wenn das gröößentechnisch dann verfällscht wird (.) der BALL (.) gefällt mir So besser (Hubert, Versuch 2, Z.11-20) Hubert stellt fest, dass das Aussehen nicht gleichzeitig mit der Funktion erfüllt werden kann. Er geht zuerst der Funktion nach, dann aber dem folgt er dem Aussehen und legt die Gegenstände um (Hubert, Versuch 2, Seq.15f.). Er durchbricht die durch eine Regel aufgestellte Ordnung, um einer ästhetischen Ordnung zu folgen, die Wohlgefühl, bzw. Lust auslöst. Mit der ästhetischen Ordnung wird also ein Bedürfnis erfüllt. Mit der funktionalen Ordnung gelingt dies nicht. Ästhetik beinhaltet demnach das schöpferische Entwickeln und Auflösen von Vorstellungen, Formen und Konturen. Die These Arnheims (1979), dass ästhetische Prozesse eine Form der Ordnung darstellen, bestätigt sich im Hinblick auf kreative Prozesse. Das Einbeziehen der subjektiven, ganz persönlichen Sichtweise und Einstellungen bewirkt eine entscheidende Wende in Huberts Ideenfindung. 9.7.6 Zusammenfassung Für Hubert liegt etwas Geheimnisvolles hinter der Unbestimmtheit. Rhythmen haben für ihn eine stabilisierende, aber auch eine strukturierende Funktion. Hubert hat viele Strategien, um sich zu motivieren, u.a. versucht er, strukturiert vorzugehen oder nutzt Rollenwechsel und Reflexion. Ihm fallen sowohl in schrittweisen als auch sprunghaften Prozessen Ideen ein. Hubert nahm nicht an einer Ko-Konstruktion teil. 9.8 Unbestimmtheit als lustiger, kreativer Freiraum Auch für Harald hat das Material einen hohen Aufforderungscharakter. Er nutzt die Situation, um lustige Szenarien zu erfinden. Dazu steigert er die entstehende Unbestimmtheit. Zunächst reagiert Harald mit Humor auf die Irritation. Dann sucht er nach etwas ästhetisch Ansprechendem im Material und freut sich daran. Ästhetik löst Lust aus und stellt etwas Angenehmes für ihn dar; etwas, das ihm Bestimmtheit verleiht (Seq. 3; V. 2). So exploriert er weiter und äußert sich zur Stimmung, die das Bild transportiert. Nachdem er Überlegungen zum Arbeitsauftrag angestellt hat, verbindet er einzelne Elemente mit eigenen Vorstellungen und entwickelt daraus eine Geschichte. Er versetzt

Unbestimmtheit als lustiger, kreativer Freiraum

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sich in die Lage des Jungen, um eine Geschichte aus seiner Sicht zu entwickeln. Damit nutzt er den durch die Lückenhaftigkeit des widersprüchlichen Materials entstehenden Freiraum zu kreativem Schaffen. 9.8.1 Rezeption und Produktion durch HyPercept und Abgleich Das HyPercept-Verfahren als grundlegendes Element der Wahrnehmung ist notwendig, um Lücken und Widersprüche zu identifizieren. Im HyPercept-Prozess werden die jeweils relevanten Schemata des Erwartungshorizontes mit denen der Situationsanalyse und der Hintergrundkontrolle abgeglichen. Die Schemata von Situationsanalyse, Erwartungshorizont und Hintergrundkontrolle werden auf einer inneren Projektionsfläche dargestellt, miteinander verglichen und aneinander angepasst. Die Modifikation findet in aufeinanderfolgenden kleinschrittigen Rezeptions- und Produktionsprozessen statt. Je nach Einstellung des Auflösungsgrades variiert dabei die Abtastrate und damit auch die Möglichkeit der Identifikation von Lücken in der Informationsverarbeitung. Haralds Abgleich besteht zunächst darin, dass er ein Element, nämlich einen Jungen wahrnimmt. Dann sucht er ergänzende Merkmale dazu, in diesem Fall den düsteren Hintergrund für seine Geschichte. Als neues Element wird eingefügt, dass der Junge weg läuft. Nun beginnt der Prozess von vorne, ein hell erleuchtetes Haus wird gefunden; das wird als das Zuhause des Jungen ergänzt. Dies wird so lange fortgesetzt, bis eine Unstimmigkeit zur bisherigen Idee auftritt. 9.8.2 Stimmigkeit als Kriterium Im HyPercept werden von Harald verschiedene, visuelle, kognitive, motorische oder akustische Schemata, die eine emotionale Tönung haben, abgerufen. Wenn Schemata nicht zueinander passen, werden sie korrigiert. Als ihm bewusst wird, dass der Junge dazu in die falsche Richtung läuft, begründet Harald das Verhalten des Jungen anders (Harald, Versuch 1, Seq. 27ff). naja obwohl ne dann würde er jetzt nicht dahin rennen (4.0) hm wahrscheinlich hat er irgendwas gemACHt und (.) oder alle DENKen dass er irgendwas gemacht hätte deswegen schauen ihn alle AN und er und ER rennt weg (2.5) Harald wählt Teilelemente aus, die er für bedeutsam hält, und lässt Elemente weg. Durch diese Ordnungsprozesse, bei denen er auch Ursache-Zweck-Relationen herstellt, nimmt seine Bestimmtheit zu. Durch Selbstberührungen, z.B. am Arm, verschafft er sich während des Explorierens sowohl das Gefühl, nicht alleine zu sein, als auch die Erfahrung, sich selbst zu spüren. Die Selbstwahrnehmung erzeugt Selbstwirksamkeit. Indem Harald immer wieder nach ergänzenden Elementen sucht, entsteht ein roter Faden. Ob er stimmig ist, entscheidet darüber, ob er weiter sucht, oder mit dem Ergebnis zufrieden ist. Auf Widersprüchlichkeiten reagiert Harald jeweils mit der Modifikation seiner Geschichte durch neue Ideen, bis sich ein stimmiger roter Faden ergibt.

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Ansätze für eine theoretische Konzeption

9.8.3 Humor und Spiel als Zugang zu Fantasie Harald nutzt Lücken in der Informationsverarbeitung als Anregung für seine Fantasie. Für Harald hat die Differenz von Elementen eine positive Valenz, weil sie Unbestimmtheit und damit Freiraum für Fantasie ermöglicht. Unbestimmtheit steht für interessante Geheimnisse und lustige Geschichten, die sich hinter etwas Unklarem verbergen könnten. Sie ermöglicht ihm amüsante neue Verbindungen, Konstruktionen und Ideen. So lacht Harald bei der in sich widersprüchlichen Vorstellung, dass der Junge etwas gestohlen und das Gestohlene dann liegen gelassen haben könnte. vielleicht (.) hat der irgendwas geklAUt? (-) und hat es dann da liegen gelassen? (ebda., Seq. 27). Teilelemente des Bildes werden von Harald mit visuellen Schemata verglichen; dabei werden lückenhafte Konturen (z.B. nach den Gestaltgesetzen) zusammengefügt. Die sich ergebenden Schemata werden Begriffen zugeordnet. Diese Begriffe haben nicht nur eine Bedeutung. Ihr Sinn wird durch passende erregte Gedächtnisschemata transportiert. Aus hellen und dunklen viereckigen Flecken im Bild wird beispielsweise ein Gebäude. Die hellen Vierecke im Gebäude erinnern Harald an hell erleuchtete Fenster, diese Erinnerung ruft heimelige Gefühle wach. Diese Kombination ergibt eine Aussage zum Sinn des Gebäudes als das Zuhause des Jungen. Bei sinkendem Auflösungsgrad hat Harald also eine Idee (Versuch 1; Seq. 20-21). Allerdings schleichen sich aufgrund des niedrigem Auflösungsgrades Fehler ein (ebda.; Seq. 28-29/V. 13). na ja obwohl ne dann würde er jetzt nicht dahin rennen (ebda., Seq. 28). Auch mit Misserfolgen geht Harald humorvoll um. Er deutet sie als lustvolle Möglichkeit zur Erweiterung seines Spielraums durch außergewöhnliche Ideen. So interpretiert Harald in Versuch 3 beispielsweise die misslungene Nase als komischen Schnauzbart. Entsprechend ignoriert Harald - weil dies in seiner Fantasie möglich ist - in Versuch 2 physikalische Gesetze, indem er den schweren Hund aus Messing auf den leichteren Ball stellt. könnt ich den hund hin (.) könnte hierhin (–) dann sieht er aus wie son (.) Zirkushund (.) aber das hält nicht (-) SCHA:DE h°(–) (Harald, V. 2, Z. 9-10) An Harald wird deutlich, dass der spielerische Umgang mit Anregungen und Fehlern hilfreich für die Entwicklung kreativer Ideen ist. Harald versetzt sich in einen Beobachter im Zirkus, der dem süßen Hund zuschauen will, wie er auf dem Ball balanciert. Diese Vorstellung ist nicht nur lustig, sie versetzt ihn für einen Moment in den Zirkus, wo an sich unmögliche Dinge ausprobiert werden können. Dazugehörige Schemata mit emotionalen Tönungen, wie Aufgeregtheit, Freude oder Spaß, werden aktiviert. Deshalb bedenkt Hans in diesem Moment nicht, dass der Hund nicht auf dem Ball stehen kann. Fantasiereiche humorvolle Erfahrungen haben für ihn Vorrang vor Realitätssinn Das Sammeln lustiger Beobachtungen ermöglicht ihm eine Meta-Perspektive und einen positiven Umgang mit Missgeschicken. Die Dinge lustig zu sehen, erhöht deshalb die Widerstandskraft von Harald.

Kreative Prozesse als Copingstrategie

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9.8.4 Verspielte humorvolle Fantasie unterstützt das Aufdecken von Lücken in der ko-konstruktiven Argumentation In der Ko-Konstruktion erweist sich Harald als Persönlichkeit mit hoher Kompetenz und Bestimmtheit. Da er keine Probleme im Umgang mit Unbestimmtheit hat, reagiert er auch auf Ideen in der Ko-Konstruktion humorvoll. Weil er eine hohe Kompetenz hat, lässt er sich nicht von seiner Meinung abbringen, sondern respektiert Hans. Statt sich angegriffen zu fühlen, wertet er die Differenz als Anregung. Die Lücken im gemeinsamen Verständnis nutzt er zur Entwicklung von Vorschlägen und Rückfragen. Da er flexibel auf die vorhandene Situation reagieren kann, ist er in der Lage, sich etwas für ihn nicht zu Langweiliges und doch für Hans Akzeptables auszudenken. So stößt er Reflexion in seinem Gegenüber an. 9.8.5 Zusammenfassung Harald setzt vielfältige Sinnesmodalitäten ein. Er geht humorvoll und voller Lust mit Irritationen um. Ihn motiviert die Unbestimmtheit, die das Bild auslöst. Aus den einzelnen Elementen entwickelt er einen roten Faden zu einer Geschichte, indem er verschiedene Elemente zueinander abgleicht, Teilelemente wegnimmt, diese modifiziert oder durch andere Teilelemente ergänzt. Harald geht in Text und Bild und beim Tablett inkludierend vor. So bezieht er das Element der Tyrannei in den Text ein. Logik und Stimmigkeit sind für Harald grundlegende Prinzipien, nach denen er in allen drei Versuchen Elemente zueinander ordnet. Differenzen bewertet er grundsätzlich humorvoll. In Versuch 2 behandelt er z.B. die Ränder der Gegenstände so, dass sie zueinander passen. Harald entspricht den Beobachtungen von Getzels & Jackson (1963), die besonders intelligenten und besonders kreativen Schüler*innen Bilder vorlegten. Während erstere in ihren Antworten dazu neigten, konventionelle Geschichten zu erfinden, neigten kreative Schüler*innen zu humorvollen, fantasievollen und unkonventionellen Auslegungen. Sie empfanden das Erfinden als lustvoll und verbanden es mit persönlichen Bedeutungen (Massialas & Zevin, 1969). 9.9 Kreative Prozesse als Copingstrategie Für Hannah ist die durch die Unbestimmtheit des Materials ausgelöste Irritation ebenfalls mit positiver Valenz besetzt. Deshalb beginnt sie sofort in Text und Bild zu explorieren (Hannah, Versuch 1, Seq. 1-5; V. 1). Indem sie die Elemente des Materials mit ihren Emotionen und ambivalenten Erfahrungen in Verbindung bringt, verstärkt sie dessen Unbestimmtheit (ebda., Seq. 7ff.; V. 2). 9.9.1 Lust und Unlust dienen als Orientierung Bei der Exploration folgt Hannah ihrem Interesse an Widersprüchen und Lust an Spannungen:

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Ansätze für eine theoretische Konzeption > seitlich nach links sich neigende Kopfbewegung nach vorne also (—) DAS find ich spannend, ähm (ebda., Seq. 22).

Auf diese Art entwickelt sie viele unterschiedliche Ideen. Sie begründet, dass sie manche dieser Ideen nicht verfolgt, weil sie sie unangenehm findet: da fällt mir ja ne ganze menge sachen zu ein, aber die sind ziemlich eklig (ebda., Seq. 12-14; V. 4). 9.9.2 Kreative Prozesse dienen der Bedürfnisbefriedigung Besonders einprägsam ist, wie sie ihre Lust, etwas zu tun, zu ihrer Unlust kontrastiert. Stirnrunzeln wendet den Blick nach rechts, vermutlich zur Interviewerin, das Kinn nach vorne, den Blick weiter auf die Bildplatte geheftet < SINNvoll (-) im sinne von (.) ööö einem (.) wirtschaftlich (.) en text zu machen (-) > (ebda., Seq. 15ff.) Hannah verfolgt also angesichts des ästhetischen Materials Heuristiken, die eben gerade sinnlos, nicht zielorientiert oder zweckgebunden sind. Die Funktionslosigkeit des Spiels ermöglicht ihr selbstgesteuertes, erfahrungs- und bedürfnisorientiertes Handeln. Beispielsweise spielt sie mit akustischen Rhythmen oder löst durch sensorische Erfahrungen den Auf- und Abbau von Spannung aus. 9.9.4 Emotionen steuern das Einfühlen in den kreativen Prozess Der Ausdruck ihrer Emotionen verschafft Hannah Selbstwirksamkeit. Indem sie dargestellt und damit begreifbar macht, was sie empfindet, nimmt sie sich selbst im Einklang mit der Umwelt wahr. Hannah versetzt sich in die Situation anderer Menschen, empfindet diese nach und entwickelt so neue Perspektiven auf Problematiken (s.a. Hedwig, Harald, Hubert). Über den Abruf ihrer Emotionen versetzt sie sich in die Situation der Menschen, die in bestimmten gleichförmigen Häusern wohnen. Deren Gefühlslage vollzieht sie nach und ruft Schemata ab, die für sie selbst mit solchen Gefühlen verbunden sind. > Blick nach oben, mit gerunzelter Stirn und ernstem Gesicht, nickend < das gefällt mir auch gut mit diesen HÄUsern da hinten diesen vielen vielen menschen die darin wohnen und wahrscheinlich genau das gleiche (.) DENken SEhen und und äh WIssen (.) sollen oder vielleicht auch NICHT wissen sollen (-) > Blick schweift über Platte: oben links, nach rechts, nach unten < (ebda., Seq. 23; V. 9). Emotionen geben Hannah also Hinweise bei der Suche nach der entscheidenden Lösung. Sie helfen ihr, passende Schemata und Netzwerke zu aktivieren, unterstützen damit einen Perspektivwechsel und motivieren sie. 9.9.5 Emotionen stützen die Ideenfindung Hannah vergleicht die Emotionen, die der Text in ihr entstehen lässt, mit weiteren Ausprägungen, die sie in Adjektive fasst und lautsprachlich nachvollzieht. also ich eh ich KANN in diesem TEXT nicht wirklich SINN finden ich kann nur sagen welche emoTIONen h° er in mir auslöst (.) und das sind keine guten Emotionen das ist ein sehr kalter text (-) ein sehr ein ein ein ein text der auch (.) wenn ich mir die Sprache anhöre sehr HART ist (.) tyrannei hat sich ein produkt immer ins bliKKfelT gerückt (ebda., Seq. 66-67).

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Ansätze für eine theoretische Konzeption

Hannah nutzt ihre Emotionen, um die Wirkung des Materials zu erfassen. Über das lautsprachliche Nachvollziehen bekommt sie einen körperlichen Zugang zum Text und erfasst damit seine Wirkung. Das ruft ihre Unlust hervor, sie ärgert sich über die Kälte des Textes, der ihren Gedächtnisschemata und ihrer Bedürfnisstruktur widerspricht. Die entstehenden Gefühlskonglomerate drückt sie nun aus, dabei aktiviert sie auf einem niedrigen Auflösungsgrad Schemata mit den dazu passenden Strukturen. Sie stellt als Einheit dar, was sie über den gesamten Text erarbeitet hat: dass das Ziel der Stumpfsinn der Menschen sei. Emotionen steuern die psychischen Modulatoren und haben Einfluss auf Einfälle. Sie führen zum Sinken des Auflösungsgrades, verändern die Aktivierung und die Selektionsschwelle (ebda., Seq. 12, 14, 19). Im Gegensatz dazu entwickelt sie bei der technischen Anwendung von Kreativitätsmethoden gegen Ende von Versuch 1 keine neue Vorstellung (Seq. 68; V. 21). Vielmehr führt der emotionsgeleitete Ausdruck ihrer Befindlichkeit zu Ideen. So hat sie erst in dem Moment, wo der Auflösungsgrad durch ihren Ärger sinkt, eine Idee (ebda., Seq. 69; V. 22-24) (s.a. Abb. 9.1, S. 319). Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass Emotionen handlungsleitend sind. Diese These wird schon von Starker (2011) formuliert, müsste allerdings in weiteren Studien untersucht werden. 9.9.6 Zerstörung als Steigerung von Unbestimmtheit Um die Materialien selbstbestimmt zu ordnen, zersprengt Hannah bestehende Ordnungen. Hannah entwirft im Verlauf ihres Prozesses eine Struktur, die für sie in Bezug auf etwas, das ihr vorher unsinnig erschien, Sinn macht. Damit stellt sie eine kohärente Lösung her, wo sie vorher Unklarheit empfunden hatte. In diesem Sinn schafft sie ein stimmiges Produkt und erzeugt Bestimmtheit. Indem sie immer wieder neue Widersprüchlichkeiten und Ambiguitäten eröffnet, zerlegt sie ihre gerade gemachten Konstruktionen. So unterliegt ihr Schaffensprozess dem ständigen Wandel von einer kognitiven Repräsentation von etwas und deren Zerlegung. Sie durchlebt dabei ständige Wechsel zwischen Bestimmtheit und Unbestimmtheit. Um die neu erkannten Lücken in der Wahrnehmung zu beseitigen, werden diese mit den zusammenhängenden Faktoren genauer in den Blick genommen, zueinander abgeglichen und ergänzt. Gegen Ende des Prozesses nimmt die Bestimmtheit zu. Das Produkt wird in der Vorstellung und Umsetzung klarer. Dies zeigt sich auch in rahmenüberschreitenden Handlungen beim Ordnen des Tabletts und der Zeichnung in Versuch 2 und 3. Damit, dass Hannah beim Tablett das Papier nimmt, es zerknüllt und über die Ecke des Tabletts legt, verformt sie nicht nur das Papier, sie zerstört seine glatte Oberfläche und den quadratischen Rahmen des Tabletts. Außerdem lässt sie Dinge verschwinden. Im gleichen Versuch äußert sie den Wunsch, die Gabel zu verbiegen und dass ihr die Gegenstände zu wenig flexibel, zu festgelegt sind. Sie spricht mit all diesen Äußerungen den Wunsch an, die vorhandene Gestalt der Gegenstände, aber auch die physische Struktur und in diesem Sinne „Ordnung“, die sie repräsentieren, zugunsten einer neuen Gestalt zu zerstören. Ähnlich verformt Hannah den Winkel in der Zeichnung, den sie anschließend mehrfach variiert. Durch das Zerstören bestehender Ordnungen schafft Hannah sich Freiräume, um selbstbestimmt etwas Neues enstehen zu lassen.

Kreative Prozesse als Copingstrategie

Problem

Arousal persönliche Befindlichkeit

1 K— B— A—

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S– A– A+

Entschluss zu malen Motivsuche

vage Vorstellung  3 (Erwartungshorizont) Motiv/Material M

B B K— B+ A—

K+ B+ A—

Entspannung sensorischer Reiz

S+ A— A+

K A

S+ A-/+ A+

Ma Mb

HyPercept Ma

HyPercept Mx od.H

Mg H

Mc

4

Auswahl aus M oder H

S– A– A+

Frust Ärger Druck Aufgeben Wut

5

K+ B+ A+

S+ A— A+

K— B— A—

2

Vergleich Mf

6

Me

Modifikation Schemata

Md B A

Übertragung Differenz

Anspannung 7

K+ B+/A+

S+ A+ A+

Übertragung erkannter Differenzen H bis Mx

 A 8 Glück Freude Frieden

K+ B+ A+

S~ A~ A–

K = Kompetenz B = Bestimmtheit A = Affiliation S = Selektionsschwelle A = Auflösungsgrad A = Aktiviertheit

Abbildung 9.1: Die plötzliche Idee wird durch Emotionen begünstigt (Vollmer, 2010)

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Ansätze für eine theoretische Konzeption

9.9.7 Abgleich Im Abgleich werden Wahrnehmungen mit Gedächtnisschemata abgeglichen. In einem schrittweise verlaufenden Prozess können Unterschiede zwischen Schemata abgetastet und damit Leerstellen identifiziert und beseitigt werden. Ein Schema ist eine Gedächtnisstruktur, die einem bestimmten Ablauf folgt. Es kann beispielsweise als Aktions-, Gedächtnis-, Geschehnis- oder sensorisches Schema auftreten. Ein Aktionsschema ist eine „basale Verhaltensweise“. Die Aneinanderreihung mehrerer Aktions-Schemata stellt ein Verhaltensprogramm dar. Verhalten findet es sowohl in einer räumlichen, als auch in einer zeitlichen Dimension statt (Dörner, 2001, S. 112). Mithilfe von Verhaltensprogrammen und sensorischen Schemata kann man „Objekte identifizieren, seine Vergangenheit rekonstruieren, die Zukunft nach Maßgabe seiner Geschehnis-Schemata voraussagen und mit allen diesen Fähigkeiten sein Verhalten zielgerecht organisieren“ (Dörner, 2001, S. 243). Beim kreativen Prozess wird die Lückenhaftigkeit oder Unvollständigkeit dieser Schemata aufgedeckt. Die Klärung der von Dörner als Hohlstellen, von anderen Autoren als Lücken bezeichneten Unbestimmtheitsstellen erfolgt durch Setzungen im HyPercept. Im HyPercept werden Elemente Schritt für Schritt anhand von vorhandenen Schemata abgetastet und überprüft. In Abgleich-Prozessen werden sie ergänzt und damit modifiziert. Dabei können die verschiedenen Schemata mit ihren Konnotationen, Selbstwahrnehmungen und aktuellen Wahrnehmungen zueinander abgeglichen werden. Dies geschieht zunächst auf einer - von Dörner für dieses Gedankenexperiment angenommenen - inneren Projektionsfläche, oder durch „trial and error“ . Durch stückweises Ergänzen lassen sich Differenzen in die Realität übertragen. In diesen Prozess des Abgleichs fließen Hannahs Stimmung, ihre Gefühle und persönlichen Befindlichkeiten ein. In regelmäßigen Abständen wird die Hintergrundstruktur überprüft, so dass nach einer Fokussierung das Einzelne immer wieder ins Verhältnis zu einer übergeordneten Struktur gesetzt wird (Vollmer, 2010, S. 92). Die anfängliche Ungeordnetheit weicht also einer zunehmenden Bestimmtheit und Kompetenz. Solange das antizipierte Ziel nicht erreicht ist, wird der Prozess entweder immer von vorne durchlaufen oder abgebrochen. Dabei sich zunehmend konturierende Vorstellungen führen zu Klarheit. Gefühlslagen geben Hinweise, was umzusetzen oder zu verwerfen ist und in welche Richtung exploriert werden soll. 9.9.8 Interesse führt zu Flow An den Abgleich-Prozessen von Hannah lässt sich nachvollziehen, wie die Lücken in der Informationsverarbeitung durch Selbstwahrnehmungen, aktuelle Beobachtungen und emotionsgeladene vergangene Erfahrungen gefüllt werden. Durch den im Verlauf des Prozesses bestimmter werdenden Wechsel zwischen Unbestimmtheit und Bestimmtheit kommt es zu einer Fokussierung der Aufmerksamkeit, die in Flow-Erleben gipfelt. Sie beschreibt die Anziehungskraft dieses Erlebens: leichtes Nicken